Ferne Himmel
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Buchvorschau
Ferne Himmel - Markus Hellebrandt
sind.
Kurzinhalt
Markus Hellebrandt arbeitet im deutschen Auswärtigen Dienst und wechselt alle drei bis vier Jahre das Land, in das er entsendet wird. Bei seinen Reisen durch die Welt hat er bemerkenswerte Dinge erlebt. Lustiges und Trauriges, Seltsames und Aufregendes ist ihm widerfahren und es wäre schade, wenn diese Episoden nicht erzählt werden würden (bebildert mit vielen Originalfotos von den einzelnen Aufenthaltsorten).
Vorwort
Erinnerungen - manchmal geschieht etwas Seltsames mit mir. Das Glitzern eines Sonnenstrahls im Wasser, der Duft einer wilden Blume am Ackerrand oder auch nur die Stille bei einem Spaziergang an einem Sommerabend rufen längst vergessene Ereignisse in mir wach. Oft geht das Erinnern zurück bis in die früheste Kindheit. Und es sind keine großen, prägenden Erlebnisse, die mir einfallen. Ich erlebe noch einmal das Quietschen eines Rades an einem Spielzeug oder den Geruch von Pappeln an dem Bach damals.
Wegen dieser Erinnerungen, die ich seit vierzig Jahren nicht mehr vor Augen hatte, bin ich mir sicher, dass unser gesamtes Leben, jede Kleinigkeit eines jeden Tages, noch im Gehirn gespeichert ist. Man kann sie nur nicht abrufen. Unsere Hard Disk „Gehirn" ist riesengroß, aber unser Arbeitsspeicher zu gering.
Ich arbeite auf der mittleren Ebene des deutschen Auswärtigen Dienstes und wechsle alle drei bis vier Jahre das Land, in das ich entsendet werde.
Bei meinen Reisen durch die Welt habe ich bemerkenswerte Dinge erlebt. Lustiges und Trauriges, Seltsames und Aufregendes ist mir widerfahren und es wäre schade, wenn diese Episoden in die dunklen Ecken meines Bewusstseins verschwinden würden.
Als ich mit dem Schreiben begann, zweifelte ich erst, ob ich überhaupt genug Seiten füllen könne. Wunderbarerweise ergab ein Wort das andere und immer mehr Erinnerungen kamen aus dem Dunkel der Zeit zurück. Ich habe nun die wichtigsten und interessantesten Erlebnisse aus meinen Reisen gebündelt und kann auch in zwanzig Jahren noch auf den Schatz dieser bewahrten Gedanken zurückgreifen.
Dies soll vor Allem meiner Tochter Isabella zu Gute kommen. Ich hoffe, dass sie einmal mit Interesse liest, wie es mir in meinem Leben ergangen ist. Ich selbst habe sechsundzwanzig Jahre mit meinem Vater gelebt und weiß doch zu wenig über ihn. Er hat nie viel über seine Vergangenheit erzählt und ich habe nie viel gefragt. Heute bereue ich es und wünschte, ich hätte noch eine Stunde mit ihm. Der Tod ist zu endgültig.
Ein weiterer Grund für die Aufzeichnungen ergibt sich aus meiner Liebe zum Lesen von Reiseberichten und Biographien. Für mich gibt es nichts Spannenderes als Berichte aus anderen Zeiten an anderen Stätten der Erde und wie es den Erzählern dort ergangen ist. Es müssen nicht immer dramatische Ereignisse sein. Das alltägliche Leben und die einfachen Menschen sind genauso faszinierend.
Wie sah das Leben vor 150 Jahren für einen nepalesischen Sherpa aus? Wie verbringen Indianer im brasilianischen Regenwald ihren Tag? Darüber erfahre ich viel lieber etwas als über das Leben von Königen und Feldherren.Daher glaube ich, dass für Menschen mit ähnlichen Interessen meine Erzählungen über den Alltag in verschiedenen Ländern der Erde nicht uninteressant sind.
Ich sehe davon ab, zu viele Details über Stätten, Gebäude und dergleichen zu beschreiben. Wie zum Beispiel die Geschichte der Tempel von Angkor Wat oder die Grundlagen der Voodoo Religion. Bei Interesse kann der Leser sich diese leicht im Internet selbst aneignen. In dem vorliegenden Buch versuche ich eher, Interesse zu wecken. Ich will beschreiben, wie ich die Welt sah. Was ich zu der Zeit empfand, Stimmungen, Begegnungen und Erlebnisse.
Für dich, Isabella!
Sowjet-Union
Lingerie und Kakerlaken (1988 - 1989)
Es war ein Abenteuer, in das ich frohen Mutes startete. Ich hatte damals noch nichts von der Welt gesehen. Mein einziger Auslandsaufenthalt war ein Jahr in Paris. Aber Frankreich würde ich eher nicht als exotisch und abenteuerlich bezeichnen. Nun jedoch trug mich eine Lufthansa-Maschine direkt in das pulsierende Herz des Feindes. 1988 war die Sowjetunion zwar im Niedergang begriffen, aber für uns Kinder des kalten Krieges immer noch das Zentrum des Bösen. Dieses Reich war verschlagen und gefährlich. KGB-Spione in jedem Hauseingang, unter jedem Torbogen. Jedes lächelnde Mädchen eine Agentin. Diese Zustände glaubte ich zu erwarten, als ich in Moskau eintraf. Wie konnte ich auch ahnen, dass die Realität noch extremer war? Bewohner der Stadt aus nicht-kommunistischen Ländern wurden in Ghettos aus hohen Plattenbauten untergebracht. So wurde die Überwachung vereinfacht und ein Kontakt zur Bevölkerung erschwert. Vor jedem Hauseingang waren Polizisten postiert, Tag und Nacht. Offiziell waren sie dort zu unserem Schutz. Aber wir alle wussten, dass jedes Verlassen des Hauses aufgezeichnet wurde. Dann setzte die weitere Überwachung ein. Wir konnten sicher sein, bei jedem Schritt unsichtbar beobachtet zu werden. Das war keine Einbildung auf Grund der Geschichten, die man uns erzählte. Von Zeit zu Zeit machte zum Beispiel der Polizist vor unserem Haus mit einem Augenzwinkern eine kurze Bemerkung. Etwa zu einem Kollegen über die Anzahl der Wodkas, die dieser am Vorabend in einer zwielichtigen Bar konsumiert hatte. Wir waren dann ziemlich perplex und überlegten, woher er das wissen konnte. Jedes kleine Vergehen gegen die zahlreichen Regeln und Verbote wurde irgendwo registriert. Brachte Jemand eine Russin mit nach Hause, tauschte man Schwarzgeld oder kaufte man antike Samoware oder Ikonen, schwebte man in Gefahr. Bekam die deutsche Seite Wind davon, wurde man mit dem nächsten Flug nach Hause geschickt. Denn etwas Verbotenes tun bedeutete, erpressbar zu sein. Die Russen hingegen wussten, dass wir bei einer Ablösung viel Geld und die Chance auf weitere Auslandseinsätze verspielen würden und erbaten sich Gefälligkeiten, wenn sie von einer Meldung der Verfehlung absahen. Sagte man bei einer solchen unbedeutenden Informationsbeschaffung erst einmal zu, steckte man ganz tief im Schlamassel. Denn dann gingen die Erpressungen erst richtig los. Der Kraken-Arm des Geheimdienstes schlang sich um den Hals und drückte zu. Man wurde in immer zwielichtigere Aktionen gedrängt. Und ehe man sich darüber bewusst wurde, war man in Fälle verwickelt, die das deutsche Strafgesetz als Landesverrat mit bis zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe ahndet.
Man belehrte uns, auch in den eigenen vier Wänden nicht über dienstliches Geschehen zu reden und überhaupt auf jedes Wort zu achten. Es war eine Tatsache, dass die uns zugewiesenen Dienstwohnungen in allen Räumen mit Abhörgeräten gespickt waren. Selbst auf der Straße sollten wir auf unsere Worte achten, da wir mit Richtmikrofonen aus der Ferne belauscht werden konnten. Dass natürlich alle Telefonate aufgezeichnet wurden, braucht hier kaum noch der Erwähnung. Selbst im Botschaftsgebäude war das gesprochene Wort nicht sicher. Für vertrauliche Gespräche, die die russische Seite auf keinen Fall mitbekommen sollte, existierte eine abhörsichere Kabine, die hermetisch verschlossen wurde. Aus diesem Raum, mit einem Tisch und einigen Stühlen, drang kein Geräusch nach außen. Auch Richtmikrofone versagten hier. Man kann nun, glaube ich, nachvollziehen, dass wir nach einiger Zeit eine regelrechte Paranoia aufbauten. Ironischer Weise war es meine Aufgabe, dieser Paranoia entgegenzuwirken.
Zu der Zeit wurde ein neues Botschaftsgebäude errichtet. Die Arbeiten wurden natürlich von russischen Handwerkern ausgeführt und wir fragten uns erst gar nicht, wie viele KGB-Angehörige unter den Arbeitern eingeschleust wurden. Ich war damals noch nicht beim Auswärtigen Amt tätig, sondern gehörte zum Bundesgrenzschutz, der heutigen Bundespolizei.
Wir landeten in Dunkelheit und Kälte. Gerade so, wie es meine naive Vorstellung vorausgesehen hatte. Zusammen mit meinen beiden mitreisenden Kollegen bahnte ich mir den Weg durch die Einreisekontrollen, bis wir schließlich unseren Abholer fanden. Die Fahrt durch die Stadt drückte meine Stimmung etwas. Alles sah irgendwie fremd und abweisend aus. Ich überlegte, was das Stadtbild in Köln, Hamburg oder München anders erscheinen ließ und plötzlich fiel es mir ein: Es gab keine Reklamen. Die bunten Poster, die uns mit lachenden Gesichtern um unser Geld betrügen sollen, fehlten. Es gab keine fluoreszierenden Buchstaben aus Neon-Röhren, die den Schnee in kräftigen Farben schillern ließen. An Bushaltestellen fehlten die leuchtenden Kästen. Ich konnte es kaum glauben, aber ich vermisste die westliche Werbung.
Ich wurde mit mehreren Kollegen in einer Wohnung untergebracht. Jeder hatte sein Zimmer. Es gab einen Aufenthaltsraum und eine Gemeinschafts-Küche. Die Wohnungsausstattung war karg, aber erträglich. Unerträglich fand ich die Kakerlaken. Sie waren überall. Das Hauptquartier befand sich in der Küche, von wo aus sie auf Erkundung in alle Zimmer liefen. Ich kaufte das teuflischste Gift, das ich für Rubel erstehen konnte und legte mehrere Sperrgürtel des weißen Todes in den Flur vor meine Zimmertür. Es diente eher meiner persönlichen Beruhigung, denn Kakerlaken sind nicht so sehr an die Horizontale gebunden wie wir. Sie konnten auch über die Decke in meinen Raum eindringen.
Wir überwachten die Bauarbeiter in Schichten. Einer der daheim Gebliebenen kochte das Essen für die zurückkehrende Schicht. Ich erinnere mich noch gut an die Vorfreude auf eine Gans, die wir einmal auf einem Markt fanden. Ein solcher Festschmaus war selten. Meist gab es, wie im folgenden Kapitel über Usbekistan noch ausführlicher erläutert, Schaschlik. Unser bester Koch, Birger, blieb daheim. Ein Kollege schob eine Doppelschicht für ihn, damit er sich voll auf die Gans konzentrieren konnte. Als wir von der Arbeit kamen, roch die ganze Wohnung nach köstlichem Braten. Wir brachten schnell noch eine Schüssel Kartoffeln auf den Tisch, dann trug Birger das goldgelbe Geflügel auf einer Platte herein. Wir schauten mit großen Augen wie Kinder auf die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Die Platte wurde wie ein Ornament in die Mitte des Tisches gestellt und von allen bewundert. Birger nahm ein Messer und eine Gabel, um das köstliche Fleisch anzuschneiden. Es knirschte knusprig als das Messer die Haut anritzte. Da lief aus dem Braten eine Kakerlake hervor, rannte zum Tischrand und verschwand. Die andächtige Stille wurde nicht unterbrochen. Wortlos legte Birger das Besteck wieder zur Seite, nahm die Platte auf und kippte den Braten in den Abfalleimer. Der kurze Moment, als die Gans aus dem Ofen geholt und in der Küche abgestellt wurde, hatte der Schabe gereicht, um in das Schlaraffenland einzudringen und uns ein weiteres Abendmahl mit Brot und knorpeldurchsetzter Wurst zu bescheren. Jeder von uns musste noch einige Male an dem Abfalleimer vorbei laufen und warf verstohlen einen wehmütigen Blick auf die Überreste der Gans, die uns mit ihrem köstlichen Duft lockte wie der Ruf der Sirenen den Odysseus. Bevor es jedoch soweit kam, dass wir mit schwarzer Krawatte und Blumen in der Hand unseren Abschied an dem Eimer zelebrierten, erbarmte sich einer von uns und trug den Abfall hinaus.
In der Nacht gehörte die Küche den Schaben. Wenn man die Tür öffnete und das Licht anschaltete, bewegte sich der ganze Raum. In alle Richtungen rannte dieses lichtscheue Getier. Sie schienen auch unzerstörbar zu sein. Manchmal musste man zwei- oder dreimal auf eine Schabe treten, bis endlich der Chitin-Panzer mit einem lauten Knacken zerbrach und sie sich nicht mehr bewegte. Mich schaudert noch der Gedanke an die Nacht, als ich mit einem Kollegen die Küche betrat und wieder einmal alles um uns herum wimmelte. Eine Kakerlake saß auf dem Rand einer der zwei Pfannen, die auf dem Herd standen. Ich wollte eigentlich den Raum schnell wieder verlassen, bevor ich den Schaben die Tür zu meinen Träumen öffnete. Doch als mein Kollege den Herd einschaltete, verfolgte ich das Experiment gebannt. Die Pfanne wurde warm und die Kakerlake setzte sich langsam in Bewegung, den Metallrand umrundend. Je mehr die Hitze stieg, desto schneller bewegte sich das Tier, immer im Kreis rennend. Wohin sollte sie auch? Das Fett in der Pfanne brutzelte schon und am Außenrand der Pfanne leckten die Gasflammen. Wir schauten ungläubig und erstaunt auf den Lauf in irrsinniger Geschwindigkeit, den das Insekt aufführte. Dann schossen unter dem Panzer zwei Flügel hervor und mit einem großen Satz sprang die Kakerlake vom heißen Rand der Pfanne, nur um in der zweiten Pfanne zischend zu verbrutzeln. Das Ganze war so eklig anzusehen, dass ich anstelle befürchteter Alpträume erst gar nicht einschlafen konnte. Bis zu diesem Tag war mir nicht einmal bewusst, dass Kakerlaken fliegen können. Vom ethischen Standpunkt war diese Aktion sicher zu verurteilen. Aber wir befanden uns in ständigem Krieg mit diesen kleinen Ungeheuern. Und im Krieg geschehen Scheußlichkeiten.
Hatte man im Mittelalter den Hexenhammer gegen Zauberinnen, so benutzte Birger den Schabenhammer. Der war aber kein Buch, sondern ein metallener, massiver Fleischklopfer. So manches Mal sauste er in der Küche auf eine vorwitzige Kakerlake herab und übertönte mit seinem Donner gnädig das Knacken des Insekten-Panzers. Mich packte oft der Ekel, wenn ich den Kühlschrank öffnen wollte. Aus der Spalte zwischen Tür und Gefrierfach ragten zwei- oder drei Fühlerpaare hervor und sondierten die Umgebung. War man unaufmerksam und öffnete die Tür, liefen die Schaben pfeilschnell und unaufhaltsam in den Innenraum zwischen die Lebensmittel. Immer wieder fand man erfrorene Tiere hinter der Butter.
Wenn wir in Moskau unterwegs waren, bereitete es oft Schwierigkeiten, ein Taxi nach Hause zu finden. Die Fahrer waren sehr wählerisch. Immer musste man erst fragen, ob es dem Chauffeur recht war, in die gewünschte Richtung zu fahren. Das war es oft nicht und er ließ den Bittsteller am Straßenrand stehen. Vor Allem bei eisiger Kälte im Winter oder in strömendem Regen wirkte sich das sehr unangenehm aus. Und je später die Stunde, desto weniger Chancen hatte man, überhaupt auf ein Taxi zu treffen. Da es so auch allen anderen Bewohnern der Stadt erging, hatte sich ein allgemeiner Service entwickelt. Einfach jeder, der sich ein paar Rubel verdienen wollte, sammelte die Leute am Straßenrand ein und brachte sie nach Hause. Das beschränkte sich nicht nur auf Privatfahrer in ihren kleinen Ladas und Wolgas. Während meiner Zeit sind Kollegen mit Tanklastern vorgefahren oder aus einem Krankenwagen ausgestiegen. Geld konnte halt jeder gebrauchen.
Das Essen in Moskau war ideal für Menschen, die erheblichen Gewichtsverlust beabsichtigten. In den Supermärkten musste man kaufen, was gerade vorhanden war. Ich habe erlebt, dass ein ganzes Geschäft fast ausschließlich Fischkonserven anbot.
Schon eine Stunde in einem lokalen Supermarkt gewährt tiefe Einblicke in die Gewohnheiten, Hierarchien und Abläufe einer Gesellschaft. Meine Beobachtungen über die Einkaufsgepflogenheiten der Russen will ich im folgenden Abschnitt erzählen. Unter der Lupe der Ironie blähen sich die Ereignisse etwas auf, aber die meisten meiner Einkaufstouren verliefen tatsächlich so oder ähnlich: Ich erinnere aber daran, dass die nachfolgend beschriebenen Erfahrungen im Moskau des Jahres 1988 gemacht wurden. Ob der Einkauf heute noch so abläuft, entzieht sich meiner Kenntnis.
Shopping in Moskau. Der grundlegendste Unterschied zwischen Einkaufen in Moskau und anderen Ländern, in denen ich mich aufgehalten habe, ist wohl folgende: In Moskau geht man nicht zum Einkauf, wenn man etwas braucht, sondern wenn es etwas gibt. Erwägt man, längere Zeit in dieser Stadt zu verbringen, sollte man schon seine Wohnung nach taktischen Gesichtspunkten in Bezug auf die Einkaufslage auswählen. Ideal ist eine etwas erhöhte Unterkunft, vielleicht im dritten Stock, mit Sicht auf die Eingangstüre eines Supermarkts. Das hat in etwa den Effekt eines Hochsitzes am Waldrand, den der Jäger nutzt, um sich einen Hasenbraten zu organisieren.
Supermarkt
Man sollte jede Stunde einmal einen Kontrollblick tun. Bemerkt man dabei, dass sich eine Menschenmenge vor der Tür auf der Straße staut, darf man keine Zeit verlieren. Man sollte sofort das am Wohnungseingang deponierte Geld und das Einkaufsnetz greifen und die Haustreppe hinunter stürzen. Um den Zeitverlust zu minimieren, darf man daher auch nicht höher wohnen als im vierten Stock. Die Zeit, die man braucht, um noch ein weiteres Stockwerk zurückzulegen, kann schon über Erhalt der Ware oder totaler Enttäuschung entscheiden. Die Schlange vergrößert sich derweil in der gleichen Geschwindigkeit wie die Lippen von Rihanna nach zärtlicher Berührung der Fäuste von Chris Brown. Schafft man es in kopfloser Panik über die Straße, ohne von einem Lada überrollt zu werden, hat man seinen Platz gesichert. Aus dem gegriffenen Einkaufsnetz mit Notausrüstung holt man dann Tolstoi’s Krieg und Frieden und liest es zur Hälfte durch, bis man an der Reihe ist. Manchmal spricht sich sogar herum, worauf man eigentlich wartet. Wer aber, wie ich, nur die russischen Worte für Automobil und Strip Club kennt, wird wohl noch lange Zeit nicht wissen, warum er hier steht. Denn, dass im Supermarkt gerade Automobile im Angebot sind, ist eher unwahrscheinlich. Und meine Erfahrungen mit russischen Supermarkt-Kassiererinnen lässt mich nicht auf einen Striptease hoffen. Irgendwann kann es dann passieren, dass man vor einem leeren Regal steht und nach Hause geschickt wird. Die Hälfte der russischen Supermarkt-Kunden wissen nicht einmal, was sie nicht bekommen haben. Es bleibt nur die Leere, dass etwas wirklich Wichtiges verpasst wurde. Und der Entschluss, sich nächsten Dienstag, nachts um drei Uhr, prophylaktisch vor die Ladentür zu stellen. Vielleicht hat man Glück. War man weit genug vorne in der Reihe, kann man seine Beute greifen. Meist hofft man auf Lebensmittel. Hat man zwei Paprikaschoten erbeutet, macht man sich noch im Laden die ersten Gedanken darüber, wie man diesen seltenen Schatz so zubereitet, dass man am längsten davon hat. Oft aber stehen die Menschen nicht um Lebensmittel an. Dann kommt man an ein Regal, in dem Schachteln gestapelt liegen. Da es sich meist um einen grauen Pappkarton mit kyrillischen Schriftzeichen handelt, der rundum so verklebt ist wie der Mund meiner Tochter nach einem Honigbrot, weiß man immer noch nicht, wofür man seine Rubel ausgibt. Erst wenn man zu Hause mit dem Messer den Karton aufritzt, weiß man, ob sich der Tag gelohnt hat. Hm, ein Wecker aus Baku. Den stelle ich gleich neben die Wecker aus Sotchi und Irkutsk. Ich betrachte so etwas eher sportlich als die russische Variante eines Überraschungseis für Erwachsene. Der Check-Out an der Kasse verläuft in der Regel unspektakulär und emotionslos. Man sucht sich eine von zwei geöffneten Kassen aus und stellt sich ans Ende der Menschenmenge, die sich auch dort gebildet hat. Sein Paket haltend, liest man den Rest von Krieg und Frieden. Nachdem der Kunde vor einem bezahlt hat, starrt man auf das Schild, dass von der Kassiererin auf das Warenband gestellt wird. Pause, Urlaub oder Todesfall in der Familie - ganz egal was dort in kyrillisch als Grund für den überstürzten Aufbruch der Kassiererin genannt wird: Das Ereignis trat so plötzlich auf, dass es unmöglich war, die anstehenden Kunden vorher über die Schließung der Kasse zu warnen. Man läuft also wieder in den rückwärtigen Teil des Supermarktes, um sich an der zweiten Kasse hinten anzustellen und hofft, dass man diese erreicht, bevor der Laden geschlossen wird, während man sich noch überlegt, für den nächsten Einkauf die drei Bände des Herrn der Ringe in das Einkaufsnetz zu stecken. Und hier gelangen wir an eine weitere Besonderheit in der Prozedur des russischen Einkaufs. Will man beispielsweise einen Zirkelkasten für sein Kind kaufen, läuft das folgendermaßen ab: Man tritt vor die Verkaufs-Theke, unter deren Glas man das Objekt der Begierde entdeckt hat und versucht, eine Verkäuferin auf sich aufmerksam zu machen. Dies ist nicht ganz einfach. Ich hatte oftmals den Eindruck, in solchen Läden würden nur Taubstumme mit erheblicher Sehbehinderung eingesetzt. Da auch viele andere Personen dort stehen und ebenfalls hoffen, die Gunst einer Verkäuferin zu erlangen, geht es zu wie im Zirkus. Es wird gerufen, gepfiffen und Taschentücher geschwenkt. Hat die Verkäuferin lange genug durch die Kunden hindurchgesehen, um dann doch jemanden zu erwählen, deutet dieser auf das gewünschte Objekt, das vor ihn zur Begutachtung auf den Tresen gestellt wird. Möchte man trotz der Möglichkeit der Prüfung das kommunistische Qualitätsprodukt erwerben, gibt man es wieder zurück. Die Verkäuferin verstaut es wieder an den Ort, von dem es kam. Dann dauert es eine Weile, aber schließlich bekommt man einen Bon in die Hand gedrückt. Mit diesem Bon stellt man sich in eine weitere Schlange, diesmal an der Kasse. Hat man endlich gezahlt, geht man mit dem gestempelten Gutschein wieder an den Tresen und der Balztanz um die Verkäuferin beginnt von Neuem. Der Bon wird dann gegen die Ware getauscht und mit etwas Glück schafft man es vor Einbruch der Nacht nach Hause.
Die Arbeit auf der Baustelle war für mich damals wie das Herumtollen auf einem Abenteuer-Spielplatz. Ob in den Kellern oder auf den Dächern der Rohbauten, überall konnte man kriechen, klettern und