Am 9. und 10. Januar 2025 findet das Symposium "Doing Time – Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit" der Dokumentarfilminitiative (dfi) im Filmhaus Köln statt.
Das dfi-Symposium widmet sich dokumentarischen Verfahren, die in ihrem Umgang mit Zeit die Konventionen von Kino, Fernsehen und Streaming herausfordern, aufbrechen, erweitern und damit einzigartige Erfahrungsräume eröffnen. Dokumentarfilme sind immer auch die Aushandlung zweier Zeitlichkeiten — die der materiellen Welt vor der Kamera und die der ästhetischen Erfahrung in der Projektion: Die Zeitlichkeit der Welt muss für den Dokumentarfilm eingefangen werden und in eine filmische Form übersetzt werden, die wiederum durch eine bestimmte Dauer geprägt ist.
Das Programm thematisiert und präsentiert Filme von Chantal Akerman, René Frölke, Larry Gottheim, Thomas Heise, Volker Koepp, Marie Menken, Ann Carolin Renninger, Edgar Reitz, Viktoria Schmid, Anna Spanlang, Helena Třeštíková, Jasco Viefhues.
Filme, die Zeit dehnen, bisweilen die Geduld strapazieren sind unter dem Label Slow Cinema zu neuem Ruhm gelangt. “Aus einem Jahr der Nichtereignisse“ von Ann Carolin Renninger und René Frölke beobachtet den repetitiven, schwerfälligen Alltag eines 90-jährigen Bauern, der pragmatisch-sturen Widerstand gegen das eigene Absterben und Verschwinden übt. “Hotel Monterey“ ist Chantal Akermans entschleunigte Vermessung eines in die Jahre gekommenen New Yorker Hotels. Das 'home away from home' als Ort der Einsamkeit, des Wartens, der Isolation und Depression, als Lebensform des inneren wie äußeren Exils.
“Soukromý Vesmír“ / “Private Universe“ ist ein zentrales Beispiel der genuin dokumentarischen Methode der Langzeitbeobachtung. 1974 ursprünglich als 15-minütige Doku angedacht, entwickelte sich das Homevideo zu einer Langzeitstudie über 37 Jahre. Helena Třeštíková komprimiert in 83 Filmminuten fast vier Dekaden aus dem Familienleben ihrer Freundin und erzählt neben den privaten Entwicklungen auch gesellschaftliche Umbrüche – rollende Panzer in Prag und das Schlüsselklingeln am Wenzelsplatz. Die Filmwissenschaftlerin Marion Biet stellt Třeštíkovás Arbeitsweise vor, die die Dokumentarfilmerin selbst als “zeitsammelnde Methode“ beschreibt.
Durch Auswahl, Verdichtung und Raffung von über Jahrzehnten gesammelten Momentaufnahmen offenbaren sich auch in Volker Koepps siebenteiligem “Wittstock"-Zyklus (DDR 1975 – DE 1997) persönliche, gesellschaftliche und landschaftliche Veränderungen in sonst nicht wahrnehmbaren Dimensionen. Entlang von Ausschnitten spricht Koepp über in Wittstock verbrachte Lebens- und Arbeitszeit, dokumentarische Ansätze, außergewöhnliche Filmemacher-Protagonistinnen-Verhältnisse und eigene Umbruchserfahrungen.
Fragen nach ihrem persönlichen, gesellschaftlichen und historischen Wert sind im Nachdenken über Langzeitbeobachtungen ebenso relevant wie die Frage nach einer künstlerisch-moralischen Haltung oder den energetischen, narrativen, technischen, ökonomischen oder distributiven Herausforderungen, die mit dieser dokumentarischen Form einhergehen.
Mit seinem Film “Rettet das Feuer“ hat Jasco Viefhues das Vermächtnis des Berliner Fotografen, Künstlers und AIDS-Chronisten Jürgen Baldiga aus dem Archiv gehoben. Er blickt gemeinsam mit dessen Weggefährt*innen aus dem Jetzt in die Vergangenheit und bringt sie mit der Gegenwart und der Zukunft in einen Dialog. Die Medienwissenschaftlerin Natascha Frankenberg wird im Gespräch mit Jasco Viefhues queere Perspektiven nach ihrem Potenzial für die Zerschlagung heteronormativer Zeitlichkeiten, Narrative und Identitätskonstruktionen befragen.
Die Editoren René Frölke und Chris Wright thematisieren den überlangen Dokumentarfilm anhand von Ausschnitten aus “Material“ (DE 2009) und “Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (DE/AT 2019) von Thomas Heise. Sie reflektieren im Dialog über die Zusammenarbeit mit dem 2024 verstorbenen Dokumentarfilmemacher und über die Frage, wie das Heisesche Verständnis von Zeitlichkeit und Geschichte in der Montage von unzähligem Material in eine Form und einen Rhythmus gefunden hat, die die Komplexität und Vielschichtigkeit von Zeit-(Ge)Schichten, Zeit-Räumen und Erinnerungen als existenzielle Erfahrung vermitteln.
Das Symposium richtet sich an Filmschaffende aller Gewerke, Studierende, Wissenschaftler*innen und generell Dokumentarfilminteressierte. Anmeldungen sind ab sofort möglich.
Die Mitwirkenden des Symposiums:
Alejandro Bachmann (Professor für Filmgeschichte und Filmtheorie / Kunsthochschule für Medien Köln), Mirjam Baumert (Filmbildung und Atelier / Filmhaus Köln), Marion Biet (wissenschaftliche Mitarbeiterin der Filmwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft / Goethe-Universität Frankfurt), Helan Darwish (Studierende der Medizin, Mentee im Filmhaus 2022), Natascha Frankenberg (Medienwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin / Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig), René Frölke (Editor, Kameramann und Regisseur), Michelle Koch (dfi-Leitung), Volker Koepp (Dokumentarfilmregisseur), Birgit Kohler (Leitung Kinoprogrammbereich / Arsenal – Institut für Film und Videokunst Berlin), Franca Pape (Studierende Mediale Künste / Kunsthochschule für Medien Köln), Ann Carolin Renninger (Filmemacherin, Dokumentarfilm-produzentin, Künstlerin im Bereich Buchkunst), Elena Ubrig (Studierende Dokumentarfilm, Bildgestaltung und literarisches Schreiben / Kunsthochschule für Medien Köln), Jasco Viefhues (Filmemacher und Dramaturg am Schauspiel Dortmund), Sven von Reden (Filmjournalist und Redakteur), Marja Suna Vormann (Dokumentarfilmerin, Kamerafrau und Studierende Mediale Künste / Kunsthochschule für Medien Köln), Chris Wright (freier Dokumentarfilmer, Editor und Schnittberater)
Die Filme des Symposiums:
“Aus einem Jahr der Nichtereignisse“ (Ann Carolin Renninger, René Frölke, DE 2017, 83’, Deutsch)
“Cereal“ / “Soy Claudia, soy Esther y soy Teresa. Soy Ingrid, soy Fabiola y soy Valeria.“ (Anna Spanlang, AT 2022, 35’, Deutsch, Chinesisch, Englisch, Polnisch, Spanisch mit engl. Untertiteln)
“Fog Line“ (Larry Gottheim, US 1970, 11’, stumm)
“Geschwindigkeit. Kino 1“ (Edgar Reitz, DE 1963, 13’, kein Dialog)
“Go Go Go“ (Marie Menken, US 1964, 12’, stumm)
“Hotel Monterey“ (Chantal Akerman, BE 1972, 63’, stumm)
“NYC RGB“ (Viktoria Schmid, AT/US 2023, 7’, kein Dialog)
“Rettet das Feuer“ (Jasco Viefhues, DE 2019, 82’, Deutsch mit engl. Untertiteln)
“Soukromý Vesmír“ / “Private Universe“ (Helena Třeštíková, CZ [1974-]2012, 83’, Tschechisch mit engl. Untertiteln)
“W O W Kodak“ (Viktoria Schmid, AT 2018, 3’, kein Dialog)
Ausschnitte aus:
“Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (DE/AT 2019, 218’)
“Material“ (DE 2009, 166’)
“Wittstock"-Zyklus (DDR 1975 – DE 1997)
Thomas Heises überlange Dokumentarfilme “Material“ und “Heimat ist ein Raum aus Zeit“ laufen im Vorfeld des Symposiums im Filmhaus Kino Köln – für angemeldete Symposiumsteilnehmende ist der Eintritt frei:
“Material“ (DE 2009, 166’) – Freitag, 03.01.2025, 17 Uhr
“Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (DE/AT 2019, 218’) – Sonntag, 05.01.2025, 11 Uhr
Teilnahmegebühr (zahlbar durch Überweisung vorab)
2 Tage € 55 / € 35*
1 Tag € 35 / € 20*
1/2 Tag € 20 / € 12*
*Ermäßigung für Mitglieder Filmbüro NW, AG DOK und kooperierende Institutionen, Studierende und sonstige Ermäßigungsberechtigung
Veranstalterin
dfi-Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW e.V.
Konzept & Programm
Michelle Koch
Veranstaltungsort
Filmhaus Köln • Maybachstraße 111 • 50670 Köln
Förderer
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen • Kulturamt der Stadt Köln • VFF – Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten
In Kooperation mit
AG DOK Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm • Filmhaus Köln • Kunsthochschule für Medien Köln • Netzwerk Filmkultur NRW
Quelle: www.dokumentarfilminitiative.de