Gerrit von Jorck (Technische Universität Berlin), Katharina Bohnenberger (Wuppertal
Institut), Jana Flemming (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Viola Muster (Technische
Universität Berlin), Ulf Schrader (Technische Universität Berlin), Helen Sharp (Institut für
ökologische Wirtschaftsforschung) von der Arbeitsgemeinschaft sozial-ökologische Arbeits- und Zeitforschung der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung.
Sozial-ökologische
Arbeitspolitik
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Gerrit von Jorck (Technische Universität Berlin)1, Katharina Bohnenberger (Wuppertal Institut), Jana Flemming (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Viola Muster (Technische Universität Berlin), Ulf Schrader
(Technische Universität Berlin), Helen Sharp (Institut für ökologische Wirtschaftsforschung) von der Arbeitsgemeinschaft sozial-ökologische Arbeits- und Zeitforschung der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung2.
Sozial-ökologische Arbeitspolitik
Diskussionspapier der VÖW 2018-1
Berlin, 10. September 2018
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Corresponding author; Technische Universität Berlin, Institute of Vocational Education and Work Studies, Marchstraße 23,
10587 Berlin, Germany; Phone: +49 (0) 30 314 73466;
[email protected].
2
Die Autor/innen danken den Diskussionen innerhalb der AG sozial-ökologische Arbeits- und Zeitforschung sowie insbesondere Elke Großer, David Hofmann, Steffen Liebig, Irmi Seidl und Angelika Zahrnt für ihre wertvollen Kommentare.
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| G. VON JORCK ET AL.
Impressum
Herausgeberin:
Vereinigung für ökologische
Wirtschaftsforschung e.V.
Potsdamer Straße 105
D-10785 Berlin
E-mail:
[email protected]
www.voew.de
Verfasst im Rahmen der
Arbeitsgemeinschaft sozial-ökologische Arbeits- und Zeitforschung.
SOZIAL-ÖKLOGISCHE ARBEITSPOLITIK |
5
Zusammenfassung
Die sozial-ökologische Forschung (SÖF) ist seit fast 20 Jahren ein Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Weiterentwicklung dieses Förderschwerpunktes
wurde bereits in der Vergangenheit ein Austausch mit relevanten Akteuren organisiert, um gemeinsam die Inhalte und Themenschwerpunkte der SÖF zu diskutieren. Ein neuer Agendaprozess ist
nun 2018 gestartet. In einem ersten Schritt konnten bis Juni 2018 Themenvorschläge, sogenannte
Agendapapiere, auf einer Plattform hochgeladen und kommentiert werden. Der vorliegende Beitrag
ist im Rahmen dieses Prozesses entstanden.
Aus Sicht der Autor/innen stellt die Erforschung von Arbeit – insbesondere in Bezug zur sozial-ökologischen Forschung in den Feldern Mobilität, Ernährung und Energie – eine eklatante Forschungslücke innerhalb der sozial-ökologischen Forschung dar. Dabei sind etliche Bedarfsfelder
geradezu auf unsere Arbeitsgesellschaft hin ausgerichtet. Wenn die Realität der Arbeitsgesellschaft thematisiert wird, geschieht dies jedoch meist ohne Berücksichtigung der damit einhergehenden ökologischen Effekte.
Doch in kaum einem anderen Forschungsfeld sind soziale und ökologische Fragen so eng miteinander verzahnt wie in der Arbeitspolitik. Daher wollen wir uns in diesem Papier für eine sozialökologische Ausrichtung der Arbeitsforschung stark machen und plädieren für eine eigenständige
Forschungsagenda zu sozial-ökologischer Arbeitspolitik. Dazu werden wir zunächst die sozial-ökologischen Problemlagen bestehender Arbeitsgesellschaften darstellen und den aktuellen Forschungsstand sowie insbesondere die Forschungslücken in diesem Forschungsfeld beschreiben.
Abschließend werden wir mögliche Forschungsfragen skizzieren, die in einem Forschungsfeld sozial-ökologische Arbeitspolitik zentral zu bearbeiten wären.
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| G. VON JORCK ET AL.
Die Autorinnen und Autoren
Gerrit von Jorck Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre
Kontakt:
[email protected]
Tel.
+49 – 30 – 314-73466
Katharina Bohnenberger Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Wuppertal Institut
Kontakt:
[email protected]
Tel.
+49 – 202 – 2492-217
Jana Flemming Doktorandin, Friedrich-Schiller-Universität Jena,
Institut für Soziologie
Kontakt:
[email protected]
Dr. Viola Muster Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Technische
Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre
Kontakt:
[email protected]
Tel.
+49 – 30 – 314-73465
Prof. Ulf Schrader Professor, Technische Universität Berlin,
Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre
Kontakt:
[email protected]
Tel.
+49 – 30 – 314-28769
Helen Sharp Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für ökologische Wirtschaftsforschung
Kontakt:
[email protected]
Tel.
+49 – 30 – 884 594-65
SOZIAL-ÖKLOGISCHE ARBEITSPOLITIK |
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ........................................................................................................ 8
2
Sozial-ökologische Problemlagen der Arbeitsgesellschaft ........................ 8
3
Darstellung des Wissensstandes und Forschungslücken .......................... 9
3.1
3.2
3.3
3.4
Arbeitsorganisation & nachhaltige Lebensführung ......................................................................9
Arbeit, soziale Sicherung & ökologischer Fußabdruck ..............................................................10
Arbeitspolitische Transformationsakteure & ökologischer Strukturwandel ................................11
Erwerbsarbeitszeitregime & Umweltverbrauch ..........................................................................11
4
Beschreibung möglicher Forschungsfragen.............................................. 12
4.1
4.2
4.3
4.4
Arbeitsorganisation & nachhaltige Lebensführung ....................................................................12
Arbeit, soziale Sicherung & ökologischer Fußabdruck ..............................................................13
Arbeitspolitische Transformationsakteure & ökologischer Strukturwandel ................................13
Erwerbsarbeitszeitregime & Umweltverbrauch ..........................................................................13
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Einleitung
Die sozial-ökologische Forschung (SÖF) ist seit fast 20 Jahren ein Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Weiterentwicklung dieses Förderschwerpunktes wurde
bereits in der Vergangenheit ein Austausch mit relevanten Akteuren organisiert, um gemeinsam die
Inhalte und Themenschwerpunkte der SÖF zu diskutieren. Ein neuer Agendaprozess ist nun 2018
gestartet. In einem ersten Schritt konnten bis Juni 2018 Themenvorschläge, sogenannte Agendapapiere, auf einer Plattform hochgeladen und kommentiert werden. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen dieses Prozesses entstanden.
Aus Sicht der Autor/innen stellt die Erforschung von Arbeit – insbesondere in Bezug zur sozial-ökologischen Forschung in den Feldern Mobilität, Ernährung und Energie – eine eklatante Forschungslücke innerhalb der sozial-ökologischen Forschung dar. Dabei sind etliche Bedarfsfelder geradezu
auf unsere Arbeitsgesellschaft hin ausgerichtet. Wenn die Realität der Arbeitsgesellschaft thematisiert wird, geschieht dies jedoch meist ohne Berücksichtigung der damit einhergehenden ökologischen Effekte.
Doch in kaum einem anderen Forschungsfeld sind soziale und ökologische Fragen so eng miteinander verzahnt wie in der Arbeitspolitik. Daher wollen wir uns in diesem Papier für eine sozial-ökologische Ausrichtung der Arbeitsforschung stark machen und plädieren für eine eigenständige Forschungsagenda zu sozial-ökologischer Arbeitspolitik. Dazu werden wir zunächst die sozial-ökologischen Problemlagen bestehender Arbeitsgesellschaften darstellen und den aktuellen Forschungsstand sowie insbesondere die Forschungslücken in diesem Forschungsfeld beschreiben. Abschließend werden wir mögliche Forschungsfragen skizzieren, die in einem Forschungsfeld sozial-ökologische Arbeitspolitik zentral zu bearbeiten wären.
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Sozial-ökologische Problemlagen der
Arbeitsgesellschaft
Gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen der Arbeitsgesellschaft rücken wieder zunehmend in
den Blick wissenschaftlicher und politischer Akteure. In der Diskussion um die „Zukunft der Arbeit”
waren Alternativen zum „Normalarbeitsverhältnis“ jahrzehntelang ein zentraler Bestandteil der Debatte. Aktuell wird die Diskussion um die Gestaltung der Arbeitswelt vor allem vor dem Hintergrund
neuer Technologien und zunehmender Digitalisierungsprozesse („Arbeit 4.0“) geführt.
Zusammenhänge mit sozial-ökologischen Krisen und damit verbundene politische Handlungserfordernisse bezüglich des Wandels von Arbeitswelten werden dabei vergleichsweise wenig erfasst,
obgleich diese bereits heute vielfältig sichtbar werden. Die Entstehung neuer Branchen, wie etwa
der Erneuerbaren Energien, aber auch Arbeitsplatzverluste, etwa im Bereich der Braunkohleverstromung, sind Beispiele, die mit jeweils spezifischen Herausforderungen einhergehen und deutlich machen, dass Arbeitswelten angesichts sozial-ökologischer Transformationsprozesse besonderem
Veränderungsdruck ausgesetzt sind.
Gleichzeitig bergen die Veränderungen von Arbeitsverhältnissen selbst enormes Gestaltungspotenzial für sozial-ökologische Transformationsprozesse. So identifiziert der UNDP-Report zur menschlichen Entwicklung aus dem Jahre 2015 „nachhaltige Arbeit“ als zentrale Voraussetzung für eine
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nachhaltige Entwicklung. Nachhaltige Arbeit wird dabei als menschenwürdige Arbeit definiert, die
gleichzeitig die ökologische Nachhaltigkeit stärkt.
Über Arbeit vermittelt sich das Verhältnis von Gesellschaft und äußerer Natur, sowie auch das Verhältnis des Menschen zu seiner inneren Natur, wobei angesichts sozial-ökologischer Krisenerscheinungen offensichtlich ist, dass die gegenwärtige gesellschaftliche Organisation von Arbeit nicht
nachhaltig gestaltet ist: So verbrauchen die „Prozesse” und „Produkte” der Arbeit in zu hohem Maße
Energie und Ressourcen und belasten damit die Reproduktionsfähigkeit der äußeren Natur. Gleichzeitig führen die sich verändernden Strukturen von Erwerbsarbeit auch zu einer wachsenden Belastung der psychischen Gesundheit und inneren Natur der Arbeitnehmer/innen und gefährden damit
die Regeneration. Dies kann sowohl zu Überforderungen im Beruf (Burn-Out) als auch in der Lebensführung insgesamt - also im Zusammenwirken von verschiedenen Lebensbereichen wie Beruf
und Familie bzw. bezahlter Arbeit und unbezahlter Sorgearbeit führen. Erwerbsarbeit hat deshalb in
hohem Maße Einfluss auf die sozial-ökologische Gestaltung bzw. Gestaltbarkeit der Lebensführung.
Soll die große Transformation gelingen und „nachhaltige Arbeit“ dabei ein relevantes Leitbild sein,
so müssen die konkreten Zusammenhänge und Wirkmechanismen zwischen den verschiedenen
Formen von Arbeit und die sozialen und ökologischen Dimensionen einer sich verändernden Arbeitsgesellschaft in ihrer Komplexität betrachtet und besser verstanden werden. Entscheidend ist es,
die Problemlagen der unterschiedlichen Dimensionen von Arbeitspolitik - im erweiterten Sinn sowohl
Erwerbs- wie Nicht-Erwerbsarbeit betreffend - unter sozial-ökologischen Gesichtspunkten miteinander in Verbindung zu setzen. Hierzu gehören sowohl das erodierende Normalarbeitsverhältnis als
auch die Krise in der Sorgearbeit, insbesondere der Pflege. Nachhaltige Arbeit ist dabei zentral für
ein sozial und ökologisch verträgliches, sowie geschlechtergerechtes Wirtschaften. Vielfältige Wirkmechanismen bestimmen dabei die sozial-ökologische Problemlage und dienen als Einstiegspunkte
für eine integrierte Betrachtung.
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Darstellung des Wissensstandes und
Forschungslücken
Grundlegende Forschungsarbeiten zum Themenfeld Arbeit und Ökologie wurden bereits Ende der
1990er Jahre vorgelegt. Allerdings ist die wissenschaftliche Diskussion trotz wachsender Relevanz
in den folgenden Jahren weder national noch international mit der gebotenen Prominenz und Intensität weitergeführt worden. Die Neuauflage einer Forschungsagenda „sozial-ökologische Arbeitspolitik”, die an genannte Vorarbeiten anschließt und mit aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen wie der Digitalisierung verbindet, sollte sich vor allem auf folgende Themenbereiche und die
darin liegenden Forschungslücken fokussieren:
3.1 Arbeitsorganisation & nachhaltige Lebensführung
Die Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse führt nicht nur zu einer Prekarisierung von
Teilen des Arbeitsmarktes, sondern kann sich auch negativ auf eine nachhaltige Lebensführung auswirken, wenn es dadurch zu zusätzlicher Ressourcennutzung kommt. So kann es beispielsweise
sein, dass angesichts befristeter Beschäftigung weite(re) Pendelwege in Kauf genommen oder Arbeitszeiten akzeptiert werden, die konträr zu familiären Versorgungszeiten und Wegen liegen. Auch
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ist anzunehmen, dass unsichere Beschäftigungsverhältnisse einen negativen Einfluss auf die individuellen (psychischen, physischen und sozialen) Ressourcen für einen nachhaltigen Lebensstil haben.
Zudem fordern neue Wertvorstellungen gewohnte Organisations- und Anforderungsmuster heraus.
Erste Studien zeigen bereits, dass nachhaltigkeitsorientierte Mitarbeiter/innen ein hohes Interesse
daran haben, diese Werte auch am Arbeitsplatz einzubringen. Doch bislang ist noch nicht ausreichend klar, was Unternehmen genau tun können und müssen, um den unterschiedlichen Nachhaltigkeitsorientierungen bzw. Werten ihrer Mitarbeiter/innen passend zu begegnen bzw. diese auch
erstmals für Nachhaltigkeit zu sensibilisieren. Zunehmend werden Erfahrungen aus „Experimentierräumen” wie Transition Towns, Gemeinschaftsgärten, Wohn-, Haus- und Dorfprojekten auch in Erwerbsarbeitskontexte eingebracht und fördern „alternative Arbeitsformen”. Unklar ist bisher sowohl
das Diffusionspotenzial solcher alternativen kollektiven Arbeitsformen jenseits der Nische, als auch
die Auswirkungen dieser Entwicklung auf Geschlechterverhältnisse und weitere Diversitätsdimensionen (Alter, Herkunft, soziale Schicht etc.) sowie die konkret messbaren Nachhaltigkeitswirkungen.
Unternehmen stehen darüber hinaus in der Verantwortung für nachhaltige Produktionsweisen und
nachhaltigen Konsum. Dafür braucht es Nachhaltigkeitsinnovationen. Um Nachhaltigkeitsinnovationen – also Produkte und Dienstleistungen, die nachhaltigen Konsum ermöglichen – erfolgreich entwickeln und voranbringen zu können, spielen die Mitarbeiter/innen eines Unternehmens eine zentrale Rolle. Sie sind es, die Ideen entwickeln (oder nicht), diese am Arbeitsplatz einbringen (oder auch
nicht), Ideen vorantreiben und umsetzen (oder auch nicht). Nachhaltigkeitsinnovationen sind deshalb
eng verknüpft mit Fragen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen. Nur wenn es gelingt,
Innovationen sowohl im Hinblick auf das Ergebnis, als auch im Hinblick auf den Prozess konsequent
mit sozial-ökologischen Anforderungen zu verbinden, kann eine zukunftsfähige Basis für Nachhaltigkeitsinnovationen geschaffen werden.
3.2 Arbeit, soziale Sicherung & ökologischer Fußabdruck
Die Digitalisierung geht mit veränderten Anforderungen an und Möglichkeiten für die Arbeitswelt einher. Obwohl sich Arbeit bereits seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend durch Flexibilisierung,
Dynamisierung und Subjektivierung auszeichnet, intensiviert und beschleunigt die Digitalisierung
diese bereits stattfindenden Veränderungsprozesse auf ganz neue Weise. Sie treibt damit eine organisatorische Revolution der Arbeitswelt an, in deren Folge die Arbeitsproduktivität weiter steigen
dürfte. Arbeitskraft wird hierbei jedoch teilweise durch ressourcenintensives Kapital ersetzt, was mit
verschiedenen Risiken und Chancen für die Beschäftigung und die Umwelt einhergehen könnte.
Verstärkt durch eine möglicherweise säkulare Stagnation im globalen Norden steht die Arbeitsgesellschaft unter anderem vor der Herausforderung Arbeit neu zu verteilen und die Verteilung zwischen Lohn- und Kapitaleinkommen neu zu organisieren. Zu untersuchen wäre, wie sich die sozialen
Sicherungssysteme von Erwerbsarbeit und Erwerbseinkommen von Wachstum nachhaltig entkoppeln ließen. Dabei ist auch zu erkunden, wie sowohl Sorge- und Pflegearbeit, als auch die Arbeit,
die zum Schutz und zur Regeneration der Umwelt beiträgt, stärker als bisher durch entsprechende
Rahmenbedingungen und ökonomische Instrumente gestützt werden kann.
Eng mit diesen Fragen ist die Frage der Typologie von Wohlfahrtsstaaten und deren ökologischer
Auswirkung verbunden. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es hierzu bisher keine systematischen Vergleiche, wobei Sozialpolitik eine wichtige Erklärungsvariable für umweltpolitische Entscheidungen
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sowohl international, national als auch regional darstellen dürfte. Gelänge es die Ausgaben für Sozialleistungen ähnlich einer ökologischen Beschaffungspolitik ökologisch nachhaltiger zu gestalten,
könnte ein großer Hebel nachhaltiger Transformation bedient werden, beispielsweise indem die ökologischen Folgen verschiedener Formen der Leistungsversorgung (Sach- bzw. Geldleistungen) beachtet werden. Anstatt die sozialen und ökologischen Kosten eines teilweise nicht-nachhaltigen Arbeitslebens zu kompensieren, wäre zu untersuchen, inwiefern sich diese Kosten durch einen vorsorgenden Sozialstaat minimieren ließen. Ungeklärt ist darüber hinaus die Rolle sozialer Sicherung
(umlagefinanziert, kapitalmarktabhängig) als Wachstumstreiber oder Ursache eines wirtschaftlichen
Wachstumszwangs. Die Bedeutung von Familien, Unternehmen und dem Staat für soziale Sicherung unterscheiden sich im internationalen Vergleich. Die Konsequenzen dieser Unterschiede hinsichtlich nachhaltiger Produktions- und Konsumstrukturen sind bisher kaum untersucht.
3.3 Arbeitspolitische Transformationsakteure &
ökologischer Strukturwandel
Während im Zuge des ökologischen Strukturwandels viele sichere und gut bezahlte Jobs insbesondere in alten Industriezweigen wegfallen, entstehen in ökologischen Pionierunternehmen der Erneuerbaren Energien, der Sharing Economy etc. vielfach prekäre Jobs, aber ebenso auch neue innovative Arbeitsformen. Die Ideen einer nachhaltigen Arbeitswelt, sowohl in sozialer als auch ökologischer Hinsicht bedürfen einer Revitalisierung. Hier wäre eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften
dringend geboten, die prädestinierte Akteure für transdisziplinäre Projekte wären, um das sozialpolitisch orientierte Konzept „guter Arbeit“ mit Arbeitsverhältnissen zusammen zu bringen, die auch
unter ökologischen Bedingungen nachhaltig sind. Diese soziale und ökologische Transformation der
Arbeitswelt sollte dabei über die Gestaltung der betrieblichen Arbeitsbedingungen hinausgehen und
die gesamtgesellschaftliche Arbeit der Reproduktion von Mensch und Natur mit einschließen. In welchem Maße sich die unternehmerische Nachhaltigkeitsorientierung auch auf die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden auswirkt, ist bisher nicht ausreichend erforscht.
Neben den derzeit virulenten Debatten um den Kohleausstieg steht insbesondere die Automobilindustrie vor einem entscheidenden Strukturwandel, in welchem die Gewerkschaften in höchstem
Maße als Akteure gefordert sind. Hierbei gestalten einige gewerkschaftliche Akteure bereits einen
Wandel, der sowohl die sozialen Bedingungen des Arbeitsplatzerhalts, als auch die ökologische
Frage des Klimaschutzes im Rahmen einer ökologischen Modernisierung der Automobilindustrie in
den Blick nimmt. Dieser Strukturwandel ist ein entscheidender Einstiegspunkt, um Politiken für nachhaltige Arbeit mit der Gestaltung nachhaltiger Mobilität zu verbinden und somit Potentiale für sozialökologische Transformationsprozesse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auszuloten.
3.4 Erwerbsarbeitszeitregime & Umweltverbrauch
Zeitwohlstand – nicht nur verstanden als ausreichend Zeit pro Zeiteinheit, sondern auch als zeitliche
Lebensqualität – als Alternative zu einem rein materiellen (Güter-)Wohlstand kommt bei der Frage
nach dem Zusammenhang zwischen Arbeit und sozial-ökologischem Wandel eine zentrale Bedeutung zu. Fehlende freie Zeit gilt als relevantes Hindernis für nachhaltige Konsumweisen (Nutzung
von Fahrrad und Bahn statt Nutzung von Auto und Flugzeug, Nutzung der Wäscheleine statt des
Wäschetrockners, Durchführung von Reparaturen statt Neukauf etc.). Dabei zeigen erste Studien,
dass sich frei zur Verfügung stehende Zeit in mehrfacher Hinsicht positiv auf nachhaltige Konsumweisen und Lebensstile auswirken kann: freie Zeit kann mit mehr Eigenversorgung, weniger Conve-
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nience-Produkten, Nutzung von Sharing-Initiativen und weniger Statuskonsum verbunden sein. Allerdings unterscheiden sich die Konsumweisen in der Freizeit in Bezug auf z.B. Gender oder Lebensstile deutlich voneinander. Es sind sogenannte Zeit-Rebound-Effekte messbar: frei gewordene
Zeit wird dann zum Beispiel für häufigere Urlaubsreisen verwendet, die ökologisch negative Effekte
aufweisen.
In neuerer Zeit wird im sozial-ökologischen Diskurs zwar die besondere Bedeutung zeitlicher Aspekte bei der Transformation der Arbeitswelt hervorgehoben. Die Arbeiten konzentrieren sich bisher
jedoch auf ökologische Effekte einer Verkürzung der Arbeitszeit. So zeigen vergleichende Länderstudien der OECD-Staaten auf, dass der Umfang der Arbeitszeit mit dem ökologischen Impact korreliert. Allerdings sind die meisten Analysen nicht darauf angelegt, tatsächlich den dynamischen Effekt einer freiwilligen Arbeitszeitverkürzung zu erfassen. Zudem gibt es nur wenige empirische Studien, die direkt am Zeitwohlstand ansetzen, für den die Arbeitszeit ja nur ein Faktor unter anderen
ist. Zeitwohlstand im Arbeitskontext lässt sich zudem nicht nur durch Arbeitszeitreduktion, sondern
eventuell auch durch bestimmte Formen der Flexibilisierung oder der Rückführung von Arbeitsverdichtung fördern. Die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arbeitszeitregimen und einer
nachhaltigen Lebensführung sind bisher jedoch kaum untersucht. Hier können sozial-ökologische
Fragestellungen zu einer Befruchtung traditioneller Forschungslinien in der Arbeitssoziologie und ökonomie beitragen.
Zeitwohlstand kann auch ein Weg sein, eine größere Bereitschaft zur Reflexion über Gründe und
Lösungsmöglichkeiten der sozial-ökologischen Krise zu stimulieren. So kann Zeitwohlstand individuell zu einer Verminderung der Lücke zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverhalten beitragen
– aber ggf. auch die Akzeptanz „harter“ umweltpolitischer Instrumente (z.B. Ge- und Verbote oder
sozial-ökologische Steuerreform) erhöhen.
4
Beschreibung möglicher Forschungsfragen
4.1 Arbeitsorganisation & nachhaltige Lebensführung
-
Welche Auswirkungen haben atypische Beschäftigungsverhältnisse auf eine nachhaltige individuelle Lebensführung?
-
Wie wirken sich Unternehmensverfassungen auf Arbeitsorganisation und ökologische Nachhaltigkeit aus?
-
Inwiefern können Arbeitnehmer/innen als Innovator/innen für Nachhaltigkeit gestärkt werden?
Welche Rollen spielen hierbei Beteiligungsformate für Mitarbeiter/innen?
-
Welche alternativen Arbeitsformen und Kombinationen von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit entwickeln sich innerhalb der ökologischen Nischen? Was kann daraus über die Gestaltung
der Arbeitswelt gelernt werden und welche Strukturen informeller Arbeit eignen sich, um Mischarbeit (formelle und informelle Arbeit) zu stärken?
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4.2 Arbeit, soziale Sicherung & ökologischer Fußabdruck
-
Wie kann eine Steigerung der Arbeitsproduktivität im Zuge der Digitalisierung zu ökologischer
Nachhaltigkeit beitragen ohne dabei angesichts sinkender Wachstumsraten Arbeitsplätze zu gefährden? Wie kann die Digitalisierung darüber hinaus für eine ökologisch nachhaltige Gestaltung
des Wohlfahrtsstaates genutzt werden?
-
Welche Formen der Gesundheits-, Unfall-, Arbeitslosen- und Altenversicherung sind denkbar für
eine Entkopplung von Erwerbsarbeit und Wirtschaftswachstum? Welche Anreize und Konsequenzen haben verschiedene Formen sozialer Sicherung hinsichtlich des Umweltverbrauchs
und welche Rolle spielt ökonomische und soziale Ungleichheit dabei?
-
Sind ein Bedingungsloses Grundeinkommen, Grundrenten oder Teilhabegutscheine sozial und
ökologisch sinnvoll? Welche Rolle spielt dabei der Ausbau sozial-ökologischer Infrastrukturen
(Commons)? Ermöglichen Bottom-up Organisationen der sozialen Sicherung (z.B. Zeitvorsorge
und Zeitbanken) eine ökologisch nachhaltigere Form sozialer Teilhabe?
-
Welches Niveau und welche Form sozialer Absicherung ist nötig, um einen ökologisch nachhaltigen Lebensstil zu führen?
4.3 Arbeitspolitische Transformationsakteure &
ökologischer Strukturwandel
-
Welche Rolle können klassische arbeitspolitische Akteure wie Gewerkschaften und soziale
Wohlfahrtsverbände bei einem ökologischen Strukturwandel spielen? Was sind hemmende und
fördernde Faktoren für progressive Gewerkschaftspolitik im Sinne einer sozial-ökologischen
Transformation?
-
Wie lässt sich das Konzept guter Arbeit mit der Idee sozial-ökologisch nachhaltiger Arbeit verbinden und implementieren?
-
Wie lässt sich der Strukturwandel industrieller Schlüsselbranchen wie der Automobilindustrie
nutzen, um die ökologische Modernisierung der Produktionsweise mit sozial nachhaltigen Arbeitsbedingungen zu verbinden?
-
Auf Grund welcher Synergien und Konflikte sind neue gesellschaftliche Allianzen, die soziale
und ökologische Themen gemeinsam bearbeiten, denkbar und was sind dafür notwendige Narrative?
4.4 Erwerbsarbeitszeitregime & Umweltverbrauch
-
Unter welchen Bedingungen kann das Streben nach Zeitwohlstand das Streben nach materiellem Wohlstand ersetzen? Steigt mit Zeitwohlstand die Akzeptanz „harter“ umweltpolitischer Instrumente, die nachhaltige Lebensführung vereinfachen?
-
Welchen Einfluss kann Arbeitszeitpolitik auf eine Senkung des Umweltverbrauchs nehmen?
Wie unterscheiden sich Umwelteffekte unterschiedlicher Arbeitszeitregime?
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-
Wie können Arbeitszeitregime Zeitwohlstand auch jenseits einer Arbeitszeitreduktion beeinflussen? Welche (arbeits-)zeitpolitischen Innovationen fördern dabei eine nachhaltige Lebensführung?
-
Welche Zeit-Rebound-Effekte ergeben sich im Zuge der Flexibilisierung und Digitalisierung der
Arbeitswelt?
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Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (VÖW)
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