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Einführung in die germanistische Linguistik

2014

320 eine interessante Aussage, die ja dem Buchthema diametral entgegenläuft: »Birgit H. berichtet, dass sie eigentlich erst seit kurzem wieder vermehrt Grammatikunterricht und das Einüben von Strukturen mit ihren Schülerinnen und Schülern praktiziert, weil dies in den neuen Lehrwerken wieder stärker betont wird.« (171) Zum Schluß noch eine Bemerkung am Rande des Themas: Schreib-/Sprechweisen wie »Lehrerinnen und Lehrer« sind zwar heute offensichtlich Norm und unumgänglich, aber in ihrer Häufung doch leicht irritierend und in ihrer Inkonsequenz im übrigen ungeeignet. Beispiel (79): »Die Lehrerin oder der Lehrer soll durch seine (!) positive Ausstrahlung […], indem er oder sie ihren (!) Einfluss den Schülerinnen und Schülern gegenüber ehrlich und liebevoll, zum Wohl der Schülerinnen und Schüler einsetzt.« Wenn dann im nächsten Satz (ein Zitat) »jeder Lehrer« steht und auf der folgenden Seite von »Autorschaft« und »Autoren« die Rede ist, müßte man nämlich schließen, daß es sich ausschließlich um männliche Personen handelt (was hier nicht zutrifft). Fazit: Alles in allem eine reichhaltige Aufarbeitung vielfältiger Aspekte der Ganzheitlichkeit in Sprache, Unterricht und Menschsein, der man einen weiten Leserkreis wünscht. Meibauer, Jörg u. a.: Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart; Weimar: Metzler, 2002. – ISBN 3-476-01851-2. 364 Seiten, € 19,90 (Thomas Wagner, Siegen) Einführung in die germanistische Linguistik – das ist ein Buchtitel, der einem bekannt vorkommt (vgl. Spillmann 2000 und Gross 1998). Doch dieses Werk von Meibauer u. a. hat wenig mit den gleich- namigen Veröffentlichungen von Harro Gross oder Hans Otto Spillmann gemein. Was also können wir erwarten? Das Autorenteam um Jörg Meibauer hat eine Einführung geschrieben, die »während des ganzen Studiums benutzt werden kann« (Vorwort, Seite V); sie soll gleichermaßen für Anfänger, fortgeschrittene Studierende, zum Selbststudium als auch als Kurslektüre geeignet sein. Das Buch hat eine klar akademische Ausrichtung und bietet forschungsorientierte und problemorientierte Darstellungen der traditionellen Kerngebiete der Linguistik sowie der Bereiche Spracherwerb und Sprachwandel. Die Einführung möchte sich als international ausgerichtet und ohne einseitige Bevorzugung einer theoretischen Richtung verstehen. International heißt hier, daß sehr häufig englische Termini mit angegeben sind und daß englische Literatur mit in die Bibliographien aufgenommen wurde. Der Text liest sich sehr schön, und wir finden sorgfältig ausgewählte Beispielsätze. In neutraler Art und Weise werden schwieriger Sachverhalte souverän erklärt1. Die Kapitel sind autonom, was natürlich den Vorteil hat, daß man sie unabhängig voneinander durcharbeiten kann, was aber auch zwangsläufig zu Wiederholungen von grundsätzlichen Sachverhalten führt (z. B. die Erklärung des Asterisk nach Wörtern oder Sätzen). Weiterhin gibt es ein schönes Glossar und auch ein Sachregister. Jedes Kapitel wird durch zwei sehr ausführliche Literaturlisten ergänzt, eine für grundlegende und die andere für weiterführende Literatur, und in jedem Kapitel gibt es Übungen, deren Lösungen (sowie zwei Leseproben!) auf der Website www.egli-online.de zur Verfügung gestellt werden2. Das Kapitel mit den bibliographischen Angaben wurde um eine sehr hilfreiche Auflistung von wichtigen linguistischen Brought to you by | La Trobe University Authenticated Download Date | 4/25/18 3:00 PM 321 Fachzeitschriften und Internetadressen ergänzt. Dies scheint vor allem für fortgeschrittene Studierende unerläßlich. Es gibt insgesamt sieben Großkapitel, welche die klassischen Kerngebiete der Linguistik sowie den kindlichen Spracherwerb und Sprachwandel abdecken. Ein umfangreiches Einführungskapitel erläutert, wie das Autorenteam sich dem Gegenstand Sprache annähert, nämlich als soziales, historisches, biologisches und kognitives Phänomen. Weiterhin wird das »Primat der gesprochenen Sprache« (2) und die Relevanz von Gebrauchstexten und Dialekten hervorgehoben sowie eine sehr interessante Diskussion darüber geführt, ob Linguistik eine Geisteswissenschaft ist. Der Aufbau der folgenden Kapitel ist allerdings nicht einheitlich, vielleicht wegen des großen Autorenteams. Nicht alle Kapitel haben einen vergleichbaren einleitenden Abschnitt: Im Kapitel »Semantik« werden zum Beispiel 14 Seiten mit Unterkapiteln als Einleitung ausgezeichnet, im Kapitel »Lexikon und Morphologie« bekommen wir hingegen zwar einleitende Sätze, diese sind aber gleich mit inhaltlichen Kapitelangaben überschrieben (z. B. 2.1: Lexikon). Und im Kapitel »Spracherwerb« finden wir zunächst eine detaillierte Darstellung und Beschreibung verschiedenster Phänomene und danach diverse Erklärungsmodelle. Diese Vorgehensweise vermißt man zum Beispiel in den Syntax- und Phonologiekapiteln, die über eine sicherlich sehr gute und kohärente Erörterung der Phänomene nicht hinauskommen. Gerade hier kursieren aber mittlerweile so viele Schlagwörter, Theorien und Modelle, daß wenigstens ein paar kurze Ausführungen wünschenswert gewesen wären. Das Buch macht insgesamt einen sehr ansprechenden Eindruck und die Verarbeitung wirkt solide. Textsatz und Layout erscheinen allerdings sehr eng. Auf manchen Seiten finden wir extrem viel Text, und oft wurde auch an Tabellen gespart. Schlagwörter werden im Text normalerweise in Fettdruck gesetzt und dann auch meistens in das Glossar aufgenommen. Es gibt auch Hervorhebung durch andere Zeichen, zum Beispiel wie in >Gender<. Einige dieser Wörter hätten meiner Meinung nach durchaus den Status eines ›fetten‹ Wortes und einen Eintrag im Glossar verdient. Die sehr guten Definitionen in den einzelnen Kapiteln sind leider ähnlich wie die Beispiele in sehr kleinem Schriftgrad gesetzt. Man neigt dazu, diese deswegen zu überlesen. Meibauer u. a. haben ein sehr schönes neues Einführungswerk in die Linguistik geschrieben. Es liest sich gut, ist sehr informativ und bietet mit seinem forschungsorientierten Ansatz zeitgerechte Lektüre für Anfänger und Fortgeschrittene. Am besten haben mir die Kapitel »Phonologie« und »Spracherwerb« gefallen. In ersterem scheint alles wichtige gut zusammengefaßt, einziger Wermutstropfen ist vielleicht die etwas verwirrende Terminologie (im Vergleich zu anderen Büchern zu diesem Thema). Sehr anregend ist hier aber zum Beispiel, daß die klassische Versmetrik und die linguistische prosodische Phonologie in Beziehung zueinander gesetzt werden (117). Das Kapitel »Spracherwerb« bietet sehr viel Material, welches in der Platzzuteilung vielleicht nicht immer ganz ausgewogen ist. Aber trotzdem finden wir hier eine sehr schöne Darstellung des Themas, vor allem auch deswegen, weil diverse Erklärungsmodelle diskutiert werden. Das Kapitel »Syntax« ist auch sehr überzeugend, es vermittelt all das notwendige Rüstzeug, was Studierende zur Beschäftigung mit Syntax benötigen. Allerdings findet man außer der X’Theorie keine anderen Erklärungsmodelle. Das Kapitel »Pragmatik« finde ich Brought to you by | La Trobe University Authenticated Download Date | 4/25/18 3:00 PM 322 auch sehr gelungen. Die Darstellungen der Implikaturen und Sprechakte sind sehr schön und anschaulich. Schade ist jedoch, daß in dem Abschnitt Konversationsstruktur Transkriptionen völlig fehlen, zumal die klassische Technik der Transkription und damit der Verschriftlichung gesprochener Sprache ja bis heute sehr umstritten ist. Hier liegt leider kein Primat der gesprochenen Sprache vor. Insgesamt ist dieses Buch eine äußerst gelungene Einführung in die germanistische Linguistik und kann sich im Vergleich zu bestehender Literatur mehr als nur sehen lassen. Wenn ich als Unterrichtender auszuwählen hätte, dann würde ich sicherlich dieses Buch benutzen. Es ist gutes Material zu einem tollen Preis Anmerkungen 1 Zum Beispiel klassische Schwierigkeiten wie die Definition von Phon, Phonem und den berühmten Bündeln distinktiver Merkmale, oder auch die Sonoritätsskala, die konversationellen Implikaturen und Modelle des Spracherwerbs. 2 Die Einbindung der Aufgaben ist etwas uneinheitlich (6 Aufgaben im Kapitel Pragmatik, dagegen 13 im Kapitel Sprachwandel). Manche Übungen sind etwas lieblos in den Text eingefügt, so zum Beispiel auf Seite 78 im Kapitel Artikulatorische Phonetik, wenn es in Aufgabe 1 heißt: »Beschreiben sie die artikulatorischen Eigenschaften folgender Konsonanten […].« Das ist sehr trokken. Literatur Gross, Harro: Einführung in die germanistische Linguistik. 3. von Klaus Fischer überarbeitete und erweiterte Auflage. München: iudicium, 1998. Spillmann, Hans Otto: Einführung in die germanistische Linguistik. Berlin u. a.: Langenscheidt, 2000 (Fernstudienprojekt zur Fort- und Weiterbildung im Bereich Germanistik und Deutsch als Fremdsprache/Germanistische Fernstudieneinheit 5). Mergenthaler, Volker: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen: Niemeyer, 2002 (Hermaea 96). – ISBN 3-48415096-3. 438 Seiten, € 64,– (Petra Zimmermann, Braunschweig) Untersuchungen über die Zusammenhänge von Sehen und Schreiben gibt es viele.1 Der Autor der vorliegenden Studie spricht von einem »schon nahezu gesättigten akademischen Markt« (5) – und entdeckt doch eine ›Marktlücke‹, die sich aus einem seiner Ansicht nach bestehenden methodologischen Manko der bisherigen Beiträge ergibt. Zu sehr sei lediglich von einer Warte aus – entweder der Literatur oder des Wahrnehmungsdiskurses – dieses Thema angegangen worden, wobei die visuelle Wahrnehmung vor allem als Stoff des literarischen Textes betrachtet worden sei. Mergenthaler geht es stattdessen »darum, literarische Texte als am Wahrnehmungsdiskurs partizipierende, ihn konstituierende und transformierende und infolge dieser Teilhabe wiederum transformierte ›Aussagen‹ (énoncés) zu erkennen« (8). Welche unterschiedlichen Spielarten innerhalb dieses komplexen Ineinanders möglich sind, wird anhand von sechs Einzeltextanalysen gezeigt, die Schillers Geisterseher, Büchners Leonce und Lena, Raabes Chronik der Sperlingsgasse, Przybyszewskis Totenmesse, Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß und Kafkas Proceß zum Gegenstand haben. Damit wird ein Zeitraum vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert abgedeckt, der durch einen »hohen Grad wissenschaftlicher Diskursivierung des Sehens« (14) gekennzeichnet ist.2 Ausgangspunkt ist die Aufklärung mit ihrer Licht-Ideologie und Bevorzugung des Visuellen vor allen anderen Sinnen – Brought to you by | La Trobe University Authenticated Download Date | 4/25/18 3:00 PM