S C H LU S S B E ME R K U N G
Die Untersuchung der Arbeiten Empty Heaven von Paul Graham und Future
World von Elisabeth Neudörfl verdeutlicht, dass es möglich ist, mit Mitteln
der künstlerischen Dokumentarfotografie eine über die üblichen Klischees
und Stereotype hinausweisende Darstellung einer fremden Gesellschaft oder
Kultur zu erzielen. Die Reaktionen der befragten japanischen FotografieExperten geben darüber letzte Sicherheit, denn sie bestätigen, dass Grahams
und Neudörfls Arbeiten sich von dem abheben, was gemeinhin von europäischen Fotografen, die in Japan fotografieren, erwartet wird. Es wird deutlich,
dass es den beiden Fotografen gelingt, kulturelle Eigenheiten in ihrer alltäglichen Ausprägung ins Bild zu setzen und die japanische Kultur damit nicht
allein als different und anders zu präsentieren. So zeigen beide im Detail untersuchten Arbeiten selbst für Japaner interessante und überraschende Aspekte
des eigenen Landes. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, mit denen
die Fotografie konfrontiert ist, wenn sie sich um authentische oder objektive
Darstellungen bemüht, ist dies eine umso höher zu bewertende Leistung.
Graham und Neudörfl fragen nicht, was das Fremde ist oder worin die
Fremdheit besteht, mit der wir in Japan notwendigerweise konfrontiert sind.
Vielmehr nehmen sie das Fremde als Herausforderung an, als das, »worauf
wir antworten,« um mit Waldenfels zu sprechen (Waldenfels 1997: 109; Hervorhebung im Original). Sie suchen gerade nicht nach dem was oder wozu
von Fremdheit, sondern sie wenden sich der Fremdheit zu, ohne sie benennen
oder fixieren zu wollen. Ihre Fotografien geben keine Antworten, die das
Publikum nur aufzunehmen braucht, um etwas über Japan zu erfahren. Vielmehr geben sie Fragen an die Betrachter weiter, die mit Assoziationen und
eigenem Vorwissen selbst aktiv werden müssen, um Bedeutung zu finden.
Bedeutung ist in den Bildern zwar angelegt, aber nicht festgelegt. Die Fotografien sind vielschichtig und fordern – so wie das Fremde selbst – zu okkasionell abweichender Rezeption heraus: sie beginnen zu schillern.
Es zeigt sich auch, dass die Fotografie für eine solch differenzierte
Sichtweise auf das Fremde nicht neu erfunden werden muss. Sowohl Graham
als auch Neudörfl entwickeln vorhandene Linien der Dokumentarfotografie
weiter. Sie spitzen sie zu und nutzen sie für eine konzeptionelle Form der
künstlerischen Dokumentarfotografie. Finden diese Arbeiten Interesse und
Verständnis des Publikums, kann es ihnen im besten Fall gelingen, neue Einsichten zu bewirken. Diese bestehen in dem Verständnis, dass das Fremde
nicht ausschließlich das vom Eigenen Abweichende ist, sondern dass im
Fremden selbst auch Parallelen zum Eigenen und Elemente von Alltäglichem
entdeckt werden können.
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Besonders geeignet, Japan darzustellen, scheinen Grahams und Neudörfls
Ansätze auch deshalb, weil sie Parallelen zur japanischen Fotografie aufweisen. Im Jahr 1974 schreibt der japanische Kurator Yamagishi Shoji:
»Japanische Fotografen vervollständigen ein Projekt normalerweise in Buchform, sie
stellen eine Anzahl Fotografien in Serien zusammen, die durch einen gemeinsamen
Gegenstand, ein Thema oder eine Idee verbunden sind. Der ganze Wert oder die
vollständige Auswirkung solcher Arbeiten kann nicht verstanden werden, wenn einzelne Bilder für eine Ausstellung an der Museumswand aus der Serie herausgelöst
werden. Dies zu tun, beraubt die Fotografien der ihnen zugedachten Verbindung zu
den vorhergehenden oder nachfolgenden Bildern in der Serie« (Yamagishi 1974: o.S.).
Diese Aussage lässt sich ebenfalls auf Grahams und Neudörfls Japanprojekte
anwenden. Denn auch ihre Arbeiten überzeugen im Zusammenspiel der Fotografien. In den Einzelausstellungen, anlässlich derer die beiden Künstlerbücher erschienen sind, waren die vollständigen Arbeiten zu sehen. Die Buchform erweist sich dementsprechend nicht nur für die beiden Arbeiten als
adäquat, sondern für das Japanthema insgesamt.
Bewusst oder unbewusst haben sich beide Fotografen für eine Annäherung an Japan entschieden, die der britische Kurator Mark Holborn 1986 in
einem Ausstellungskatalog über japanische Fotografie beschreibt:
»Zwei Herausforderungen sind vorherrschend. Der Fotograf kann das visuelle Chaos
der urbanen Dichte wie der von Shinjuku konfrontieren und eine durchsetzungsfähige
Strategie entwickeln, um es in der Ausgestaltung seiner Fotografien zu verwenden.
Alternativ kann der Fotograf daran arbeiten, die Fassade zu durchdringen, um einen
Themenbereich zu finden, der das Chaos transzendiert. Diese Arbeit beinhaltet eine
metaphorische Reise zum flüchtigen Herzstück der japanischen Erfahrung, auf der
einen Seite begrenzt von einer mythischen Geschichte sowie einem nationalen traumatischen Erlebnis und auf der anderen Seite von einem verstärkten Bewusstsein für
die Zukunft« (Holborn 1986: 9).
Mit der urbanen Dichte und Schichtung, die Holborn nicht nur in Shinjuku,
sondern in jeder japanischen Großstadt von Hokkaido bis Okinawa wiederholt sieht, setzt sich Neudörfl intensiv auseinander. Diese Art der Beobachtung des urbanen Raums markiert einen konstitutiven Aspekt ihrer Arbeit
Future World, in der sie die Idee des wrapping aufgreift und sinnfällig in ihren
Fotografien des urbanen Raums umsetzt. Paul Graham zeichnet einerseits die
Oberflächen auf, die Holborn als entscheidendes Element in der japanischen
Kultur beschreibt (vgl. ebd.: 6), durchdringt sie aber mittels metaphorischer
Betrachtungen und Bildkombinationen und bezieht auch Historisches mit ein.
Oberflächen und ihre Durchdringung stellen ein wichtiges Element in Grahams Arbeit dar. Zudem kann seine Arbeit auf einer metaphorischen Ebene
gelesen werden, wodurch sie ihre komplexe Wirkung entfaltet. Schichtung
(wrapping), Oberflächen (veneer) und das Durchdringen der Oberflächen
markieren wesentliche Bestandteile der japanischen Erfahrung, die in Neudörfls und Grahams Arbeiten zum Tragen kommt. Somit treffen die beiden
Fotografen Bereiche, die maßgeblich sind für eine Fremdheitserfahrung, die
den japanischen Alltag und die japanische Gegenwart berücksichtigt.
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Die Dokumentarfotografie beschäftigt sich mit der Wiedergabe von Sichtbarem, im vorliegenden Fall handelt es sich dabei um Japanisches, das aus europäischer Perspektive fremd anmutet. Für das abbildende Medium Fotografie sind die Oberflächen der Dinge von großer Bedeutung, denn ihnen kann
man sich mit der Kamera nähern. Weil Fremdheit jedoch keine kategoriale
Eigenschaft ist, lässt sich das, was an den Gegenständen fremd ist, nicht auf
eindeutig festlegende Weise darstellen. Versuche, sich dem Fremden abbildend beziehungsweise bestimmend zu nähern, können das Fremde als Fremdes kaum treffen, weil das Fremde als das, was uns herausfordert, nicht objektivierend beschreibbar ist. Die Fotografie, die sich mit dem Fremden
beschäftigt, kann versuchen, es zu erklären. Doch dabei besteht die Gefahr,
dass objektiviert, festgeschrieben oder stereotypisiert wird.
Die Arbeiten von Graham und Neudörfl versuchen deshalb, Fremdheit zu
transzendieren und die Erfahrung des Fremden an die Betrachter weiterzuleiten. Dem Publikum wird in den untersuchten Fotografien Fremdheit gerade
nicht als Klischee vermittelt, das die Behauptung eines: so ist es! aufstellt.
Vielmehr macht die thematische Fülle und Offenheit der Bilder den Betrachtern das Angebot, Aspekte der japanischen Gegenwart jenseits von Klischees
zu erfahren. Die Arbeiten ermöglichen den Betrachtern selbst ein Stück
Fremderfahrung, denn in den Fotografien tritt die Herausforderung des
Fremden in Form von unbeantworteten Fragen und gezielt eingesetzten Irritationen hervor. Irritationen und Unbestimmtheitsstellen, die auf etwas verweisen, was die Fotografien selbst nicht eindeutig beantworten können, lassen die Arbeiten zu Projektionsflächen werden, auf die das Publikum
individuelle und subjektive Assoziationen projizieren kann. Die Rezeption ist
dementsprechend individualisiert. Es besteht zwar eine Grundlage des Verständnisses, doch in der individuellen Ausprägung wird es variieren. Auch
damit unterscheidet sich eine künstlerische Dokumentarfotografie von anderen dokumentarfotografischen Gebrauchsweisen. In der Reise- oder der journalistischen Fotografie wird generell eher auf die Erzielung eines Konsenses
in der Rezeption gesetzt. Deshalb sind deren Bilder mitunter leichter zugänglich und einfacher zu verstehen.
Ein Grund hierfür ist in der Art der Repräsentation der Bilder zu suchen.
Grahams und Neudörfls Fotografien sind Abbilder von etwas, sie zeigen beispielsweise eine Person, eine architektonische Konstellation, ein kleines Ensemble im Innenraum. Doch es geht nicht ausschließlich darum, ein Verständnis für das Abgebildete zu erzeugen. Die Fotografien von Graham und
Neudörfl gehen über den repräsentierten Gegenstand hinaus. Sie agieren als
Bilder im Kontext der Zusammenstellung im Buch und entfalten nur so ihre
volle Wirkung. Das Abgebildete steht nicht allein für die Fotografie. Die Art
der Abbildung, die Intention des Fotografierenden und der Kontext lassen die
einzelne Fotografie über den repräsentierten Gegenstand hinausweisen. Diese
Art des Umgangs mit dokumentarfotografischen Mitteln lässt sich als künstlerische Repräsentation beschreiben, die über die objektive Repräsentation,
die in ihrer konstruktiven Form tendenziell fixiert, hinausgeht.
Elemente der Konstruktion sind insbesondere in Grahams Arbeit Empty
Heaven zu beobachten, die in der Umsetzung wesentlich radikaler und
ausschnitthafter ist als Neudörfls Future World. Nicht von ungefähr richten
sich daher die von japanischer Seite vereinzelt geäußerten Vorwürfe der
Konstruktion einer spezifisch gesuchten Sichtweise auch gegen Grahams,
nicht aber gegen Neudörfls Arbeit. Grahams konstruierender Ansatz stellt ein
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Mittel dar, seine Aussagen zu präzisieren und zu verstärken. Er ist einerseits
Teil einzelner Bilder, was beispielsweise in den Frauen- und Bürokratenporträts sehr deutlich zum Ausdruck kommt, aber auch Teil des Gesamtkomplexes der Arbeit in Form von Bildpaarungen und Tableaus. Auch wenn seine
Arbeit insgesamt wesentlich festgelegter ist als Neudörfls und die Aussage
wesentlich präziser auf den Punkt gebracht wird, bleibt dennoch ein großer
Bereich an Offenheit in der Arbeit bestehen. So kann hier die Konstruktion
als fotografisches Mittel gesehen werden, das den Gegenstand zu präzisieren,
jedoch nicht im Sinne einer objektiven Repräsentation festzulegen sucht.
Beide Arbeiten zeigen, dass künstlerische Repräsentationen das Fremde
als Fremdes erfahrbar machen können. Damit sind Empty Heaven und Future
World Kunstwerke, die der von Jamme geäußerten Idee positiver Repräsentationen des Fremden entsprechen: »Deutlicher als Philosophie und Ethnologie offenbart die Kunst die politischen und pädagogischen Dimensionen jedes Fremdverstehens, weil sie das existentiell-praktische Gefordertsein in der
Begegnung mit dem Fremden unübersehbar in den Mittelpunkt rückt« (Jamme 2002: 207).
Die künstlerische Dokumentarfotografie ist offensichtlich besonders geeignet, sich Aspekten des Fremden zuzuwenden und diese zu vermitteln. Als
Dokumentarfotografie ist sie dem Gegenstand verpflichtet; die Fotografen
wissen aber um die Unmöglichkeit, Wahrheit oder Authentizität über Fotografien auszudrücken. Weil es unmöglich ist, die fremde Kultur als Ganzes in
objektiver Weise darzustellen, rücken sie mittels einer Konzeption einen
Teilaspekt der fremden Kultur ins Zentrum des Interesses. Die einzelnen Fotografien sind nicht abhängig von der Ästhetik der zu fotografierenden Objekte. Denn alles ist abbildungswürdig, was mit dem zugrunde liegenden
Konzept in Einklang gebracht werden kann und dieses unterstützt. Es geht
gerade nicht darum, besonders ästhetische oder aus exotischen Gründen interessant scheinende Gegenstände zu fotografieren. Es zeigt sich, dass eine gewisse Alltäglichkeit, die das Eigene und Vertraute in den Fotografien des
Fremden mit thematisiert, dem Fremden besonders gerecht wird. Denn das
Fremde als Fremdes verweigert sich einer trennscharfen Abgrenzung vom
Eigenen, weil es immer nur vor dem Hintergrund und in Abhängigkeit zum
Eigenen rezipiert werden kann. Ansonsten wird es lediglich zum Anderen,
das als Anderes eine Differenz markiert, die festschreibt. Die Repräsentation
des Fremden als Anderes – nach der in der vorliegenden Arbeit entwickelten
Begrifflichkeit – bewegt sich in stereotypen Kategorien und lässt damit keine
Flexibilität in der Darstellung des Fremden zu. Auf diese Weise werden Stereotypen perpetuiert.
Die Absage an das Einzelbild ist ein entscheidender Faktor, mit dem innerhalb der künstlerischen Dokumentarfotografie gearbeitet wird. In der Anordnung von Serien, Sequenzen und Tableaus entfaltet sich die volle Wirkung der Fotografien – in denen einzelne Aussagen bereits angelegt sind –
erst im Zusammenspiel der Bilder. Auf diese Weise können Aussagen verstärkt, zurückgenommen, modifiziert oder präzisiert werden. In der linearen
Folge einer großen Anzahl von Bildern stellen Graham und Neudörfl einen
Kontext her. Der Verzicht auf eine textliche Einordnung der Fotografien, die
Richtungen der Rezeption vorgibt und damit die Wirkung der Bilder als Bilder
einschränkt, ermöglicht eine weitergehende Offenheit. Denn im Unterschied
zu beschreibenden Annäherungen an einen Gegenstand, die schnell Bedeutungen festschreiben, beinhalten die Fotografien im Stil einer künstlerischen
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Dokumentarfotografie eine Unvoreingenommenheit, die auf individuelle
Weise unter Einbeziehung der Assoziationen der Betrachter gelesen werden
kann. Die künstlerische Dokumentarfotografie spielt mit der Vielschichtigkeit von Bedeutungsebenen im Bild, ein Hinzufügen von Text wäre geradezu
kontraproduktiv. Gleichzeitig ist damit das Risiko eines möglichen Missverständnisses verbunden, wie mitunter in den Gesprächen mit japanischen Fotografie-Experten aufscheint.1 Dennoch ist die in den Fotografien angelegte
Offenheit nicht zu groß, dass sie zu vieldeutig und damit nichtssagend werden könnte. Die thematische Konzentration sowie die Anordnung der Fotografien im Buch eröffnen den Betrachtern Interpretationsmöglichkeiten, die
abhängig vom eigenen Wissen variieren mögen. Damit binden die Fotografen
die Betrachter aktiv in den Prozess der Bedeutungskonstitution mit ein.
Je mehr über den Hintergrund des Fotografierten bekannt ist, desto größer
wird der Rahmen der Interpretationsmöglichkeiten, die sich aus dem Zusammenspiel von eingebrachtem Wissen und den Fotografien selbst entwickeln.
Mit dem Wissen um den Hintergrund der langjährigen Beziehungen zwischen Japan und Europa und der daraus resultierenden Bewertungen Japans
lassen sich manche Vor-Urteile und Einschätzungen leichter einordnen. Zudem ermöglicht dieses Wissen eine differenzierte Betrachtung der in den
Fotografien thematisierten stereotypen Vorstellungen und der Kritik daran.
So eröffnet beispielsweise die genaue Analyse japanischen Gruppenverhaltens
einen vielschichtigen Blick auf dieses Thema, der auch positive Deutungen
zulässt und nicht auf einer im Stereotyp eher negativen Bewertung verharrt.
Das Wissen um die Funktionsweisen und Methoden der Dokumentarfotografie kann das Verständnis weiterhin vertiefen. Die Untersuchung der
Darstellungsmöglichkeiten innerhalb der Dokumentarfotografie zeigt, dass
verschiedene Intentionen und Ansätze zu unterschiedlichen Bildwelten führen. Der Begriff des Dokumentarischen fasst zahlreiche Unterbereiche zusammen, die – wie dargelegt – sehr differente Ziele verfolgen. Wo mitunter
ästhetisierend oder illustrativ gearbeitet wird, ist die Entwicklung eines tiefgehenden Verständnisses für den Gegenstand – die fremde Kultur – kaum zu
erreichen, weil hier oft das Fremde als Anderes dargestellt wird.
Die künstlerische Dokumentarfotografie besitzt den weitesten Spielraum.
Sie ist – wie alle Dokumentarfotografie – ihrem Gegenstand verpflichtet.
Aber weil sie weder etwas illustrieren, noch auf redaktionell gewünschte Erkenntnisse eingehen oder das Schöne und Besondere zeigen muss, können
sich künstlerische Dokumentarfotografen im eigenen Auftrag Themen suchen, Ideen umreißen, sich Ziele setzen. Die fotografische Arbeit entwickelt
sich also entlang der subjektiven Ideen und Annahmen der Künstler, die damit im Zentrum stehen.2 Die Ideen, nicht aber die Künstler stehen im Mittelpunkt: In einer gelungenen Umsetzung wird nicht das persönliche Erleben
oder die Befindlichkeit der Künstler im Fokus der Arbeit stehen, sondern de1
2
Beispielsweise wird die historische Dimension in Grahams Arbeit nicht erkannt
(vgl. Kasahara 2006) oder Neudörfls Arbeit stößt auf Verständnislosigkeit (vgl.
Iizawa 2006).
Mit dem Konflikt zwischen seiner Rolle als Auftrags- oder künstlerischer Fotograf ist beispielsweise Walker Evans’ frühzeitiges Aussteigen aus der FSA zu
erklären. Seine Rolle als Auftragsfotograf kollidierte mit seiner unabhängigen
Haltung, wodurch der ständig schwelende Konflikt mit Koordinator Roy Stryker 1937 schließlich zum Bruch führte (vgl. Trachtenberg 1990: Kap. 5; Hurley
1977: 60ff.; 74f.).
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ren Rezeption der Welt. Wie die Untersuchung zeigt, kann jedoch auch eine
subjektiv geprägte Sichtweise zu einer interessanten und gültigen Darstellung
von Welt führen, die ihrem Gegenstand gerecht wird und ihn nicht im Sinne
eines subjektivistischen und damit eines allzu konstruktiven Ansatzes verbiegt.
Die Krise der ethnografischen Repräsentation ist nach Christoph Jamme
mitunter durch die Erkenntnis ausgelöst, dass eine Trennung von Selbst- und
Fremderfahrung als Grundvoraussetzung zur objektiven Beschreibung des
Fremden nicht leistbar ist. Denn der Beobachter ist immer selbst – auch emotional – von der Fremdheit betroffen. Grahams und Neudörfls Arbeiten transportieren einen Eindruck davon, dass sich die Fotografen selbst vor Ort mit
der Fremdheitserfahrung konfrontiert haben, um diese in Fotografien umzusetzen, sie in Bilder zu übersetzen. Denn um die Erfahrung der Fremdheit
auch für andere erfahrbar zu machen, bedarf es einer Übersetzung. »Jedes
Verstehen […] ist ein Prozeß einer solchen Über-Setzung, der Übersetzung
nämlich eines Symbolsystems in ein anderes. […] Kunst macht Ernst mit der
Einsicht, daß Fremd- und Selbsterfahrung nicht zu trennen sind« (Jamme
2002: 200). Hier wird deutlich, dass Subjektivität gerade im künstlerischen
Umgang mit Fremdheit und der Vermittlung des Fremden ein entscheidender
Faktor ist.
Erst seit Walker Evans’ Gebrauch der Dokumentarfotografie wird dieser
fotografischen Form ebenfalls ein subjektives Potential zuerkannt. Der Fotograf wird zum Autor, der in seiner individuellen Sicht gerade die Differenz
zwischen Welt und Bildwirklichkeit betont. Der Autor greift die Herausforderungen unserer Zeit auf und positioniert sich zu ihnen, indem er – thematisch konzentriert – eine Haltung entwickelt. Mögliche Antworten auf die
Herausforderung des Fremden sind die Arbeiten von Paul Graham und Elisabeth Neudörfl. Hier scheint Japans Fremdheit auf, ohne in eine subjektive
Weltsicht abzugleiten.
Weil die künstlerische Dokumentarfotografie als Kunstform einen großen
Freiraum genießt, muss sie nicht bestimmte Vorgaben beherzigen, um sich
ihrem Gegenstand zu nähern. Sie muss einzig und allein die von den Künstlern ersonnene Konzeption transportieren, mit der die Künstler sich selbst ein
Terrain abstecken, auf dem sie arbeiten möchten. Dieser konzeptionelle
Rahmen ist sehr entscheidend für die Entwicklung von Arbeiten einer künstlerischen Dokumentarfotografie. Denn er ermöglicht eine Konzentration auf
das, was den Künstlern wichtig ist, was sie in ihren Fotografien transportieren möchten. Die Konzeption lenkt die Wahrnehmung während des Prozesses
des Fotografierens und soll verhindern, dass sich der Fotograf ausschließlich
dem Differenten und Besonderen widmet. Gleichzeitig ermöglicht eine Konzeption dem Fotografierenden aber, sich auf das zu konzentrieren, was er finden und fotografieren möchte. Sie dient also dazu, die Aufmerksamkeit zu
lenken: weg vom vordergründig Unbekannten hin zu den mithin unauffälligen Details, die die vielschichtigen Unterschiede von Fremdem und Eigenem
konstituieren. Die Konzeption soll eine Offenheit gegenüber dem Fremden
ermöglichen.
In unserer globalisierten Welt werden kulturelle oder nationale Unterschiede tendenziell nivelliert, um Grundlagen für ein Handeln auf internationaler Ebene zu schaffen. Dennoch bedeutet das nicht, dass kulturelle Differenzen verschwinden. Vielmehr scheint es notwendig, ein neues Bewusstsein
sowohl für kulturelle Abweichungen als auch für Parallelen zu entwickeln;
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dafür ist es nötig, ein Verständnis für Fremdes herauszubilden, das nicht im
Stereotyp festlegt und dauerhaft trennt, sondern das Verbindungen schafft
und Klischees zu überwinden vermag. Dazu kann auch eine Fotografie beitragen, die das Fremde nicht in Form eines Anderen vom Eigenen abgrenzt,
sondern Fremdes als Fremdes sichtbar macht – als Hintergrund des Eigenen
und Alltäglichen. Die Untersuchung von Grahams und Neudörfls Japanarbeiten zeigt, dass innerhalb einer differenzierten Auseinandersetzung mit der
fremden Kultur sowie einem selbstreflexiven Gebrauch des Mediums ein
Bild entstehen kann, das Wahrnehmungen verändert und Klischees überwindet. Dies kann aber nur in einer Zusammenarbeit zwischen Künstlern und
Betrachtern geschehen, denn letztere müssen sich auf diese anspruchsvolle
Form von Bildlichkeit einlassen. Obwohl wir in einer Welt leben, die auf unendlich vielen visuellen Reizen gründet, in der mediale Bildproduktion ein
wichtiger Faktor unserer alltäglichen Lebenswelt ist, scheint das Interesse an
Bildern, die mit Offenheit arbeiten und den Betrachter herausfordern, nach
wie vor begrenzt. Es ist ja auch viel bequemer, sich mit Bildern zu konfrontieren, die einem mitteilen, wie etwas zu sehen ist, die Antworten geben. Viel
schwieriger ist es, Differenzierungen vorzunehmen und solche auch zu akzeptieren beziehungsweise ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass fremde
Kulturen nicht nur aus Differentem bestehen, sondern auch dort eine Alltäglichkeit herrscht, die Schnittstellen zum Eigenen aufweist.
Für die zukünftige Betrachtung des Fremden weisen Grahams und Neudörfls Arbeiten den Weg in eine Richtung, die Fremdes differenziert zu sehen
und darzustellen vermag. Trotz ihrer mitunter problematischen Beziehung zur
Realität ist die Fotografie, insbesondere die künstlerische Dokumentarfotografie, durchaus in der Lage, sich der Welt als Spannungsfeld von Fremdheit
in vermeintlich Bekanntem, Alltäglichem und Vertrautheit, die im Fremden
zu entdecken ist, auf verständnisvolle, differenzierte und offene Art zu nähern.