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Thomas Forrer und Angelika Linke (Hg.)
Wo ist Kultur ?
Perspektiven der Kulturanalyse
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Interdisziplinäre Vortragsreihe der Eidgenössischen Technischen
Hochschule Zürich und der Universität Zürich
Frühjahrssemester 2011
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Reihe Zürcher Hochschulforum, Bd. 50
© 2013
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Coverabbildung:
Jurek Zaba: Bücher 7, 2007, Öl / Leinwand, 80 × 73 cm.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen,
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und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-7281-3348-9
www.vdf.ethz.ch
[email protected]
Inhalt
7
15
37
Vorwort
Philipp Sarasin
Fast Forward.
Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
Helmut Lethen
»Schmerz hat keinerlei Bedeutung« (Paul Valéry)
Oder: Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den
Atem verschlagen?
57
Barbara König
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
Zum evolutionären Ort von Kultur
73
Gesine Krüger
Das koloniale Tier
Natur – Kultur – Geschichte
95
Jakob Tanner
Zwischen Spekulationsblase und Crash:
Die Börse als kultureller Ort
127
Ingrid Tomkowiak
Lili Marleen auf Latein
Umberto Eco und das Populäre
147
Andrea Krauß
Topos und Textstelle
Zur literarischen Verfertigung von Kultur
5
6
169
Angelika Linke
Unauffällig, aber unausweichlich
Alltagssprache als Ort von Kultur
193
Philip Ursprung
Miniaturtheorien:
Bilder von Peter Zumthors Architektur
211
Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern
Wo ist Kultur?
Im 19. Jahrhundert war der Ort von Kultur definiert: Ihr Hort war
Europa, ihre Heimat das antike Griechenland, die sie tragende Schicht
das Bürgertum. Die Bürger »hatten« Kultur und konnten von sich
zumindest mit einigem Erfolg behaupten, dank eben dieser Kultur die
verbindenden und verbindlichen Gemeinsamkeiten der Nation zu repräsentieren. Spätestens seit den Schrecken der beiden Weltkriege, der
kulturellen Revolution der 1960er-Jahre und den seit dem Ende des
20. Jahrhunderts auch in Europa unübersehbar gewordenen globalen
Migrationsbewegungen ist es mit der alten und selbstverständlichen
Verortung von Kultur vorbei.
Nicht jedoch mit der Attraktivität des Begriffs selbst. Im Gegenteil: »Kultur« hat vor allem seit den 1980er-Jahren als ein diskursives
Schlüsselkonzept sowohl die akademischen Selbstverständigungsdebatten
als auch das Feuilleton, die politische Diskussion und nicht zuletzt die
Alltagswelt erobert, hat als zeitgeistiger Leitbegriff ältere Leitbegriffe
wie »Gesellschaft«, das »Soziale« oder auch »Kunst« zunehmend konkurrenziert und hat sich schließlich in der Neudefinition der »Geisteswissenschaften« als »Kulturwissenschaften« sozusagen selbsterzeugend
vervielfältigt.
Allerdings sind im Zuge dieser diskursiven Karriere – in den Wissenschaften terminologisiert als cultural turn – Begriff wie auch Konzept
zunehmend problematisch geworden, und ihr Gebrauch wird von kritischen Debatten, von Verlagerungen und Neubestimmungen begleitet.
7
Vo r w or t
»Kultur« ist, nicht zuletzt im Kontext von Identitätsdiskursen, zu einer
flexiblen Erklärungskategorie geworden, die oft gerade dort eingesetzt
wird, wo Kohärenzen mehr vermutet bzw. erahnt werden, als dass sie
in »harten« Fakten erfassbar und beschreibbar sind: Als »kulturell«
wird sowohl das diffuse Ensemble bestimmt, welches als das »Eigene«
empfunden wird, wie auch das, was das »Fremde« zum Fremden macht,
und auch die komplexe Dynamik sozialer, wirtschaftlicher und medialer
Prozesse der Gegenwart, die sich hergebrachten sozialwissenschaftlichen
Beschreibungs- und Analysekriterien entzieht, erscheint letztlich nur
»kulturell« erklärbar.
Die Frage nach dem Ort von Kultur im Titel wie im Konzept dieses
Sammelbandes will diese Dynamik aufgreifen, indem sie nicht nach »Kultur« und deren inhaltlich-konzeptuellen Verfasstheit, sondern nach ihren
thematischen und disziplinären Verortungen, nach ihren Um-Ständen
fragt. Dieser Frage liegt also bereits ein bestimmtes Verständnis von Kultur zugrunde. Sie geht davon aus, dass es sich beim Gegenstand »Kultur«
selbst um ein kulturgeschichtlich gewordenes Konzept handelt und dass
dieses Konzept seine Prägung anhaltend dadurch erfährt, in welchen
Kontexten Kultur situiert wird, welchem Gebiet sie zugesprochen wird,
wie ihre Grenzen verhandelt werden und wer dies tut: die Medien, die
Politik, die Wirtschaft oder einzelne Wissenschaften, wie etwa Geschichte,
Biologie, Architekturtheorie oder Sprachwissenschaft. Sie alle lokalisieren
und umreißen das Gebiet von Kultur anders, sie verschieben den Begriff
aufgrund ihrer Sichtweisen und Methoden, sie verbinden ihn mit sehr
unterschiedlichen und je anders differenzierten Inhalten sowie mit unterschiedlichen ideologischen Werten und semantischen Konnotationen, und
sie siedeln den Begriff auf unterschiedlichen analytischen Ebenen an und
beziehen ihn auf andere Existenzdomänen.
Eher unabhängig von solch verschiedenen Perspektiven auf Kultur wird der Kulturbegriff selbst häufig als »Totalitätsbegriff« (Fritz
Hermanns) verwendet, dessen Definitionen das Summativ-Integrative
des Konzepts in sprachlichen Bestimmungen wie »that complex whole
which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other
capabilities and habits ...« (Edward B. Tylor) oder »whatever it is one
has to know or believe ...« (Ward Goodenough) explizit herausstellen.
Kultur erscheint damit als Ressource und Produkt all dessen, was die
Menschen und die menschliche Gesellschaft auszeichnet, als das, was ihr
Handeln motiviert, ihre Welt bzw. ihre Weltwahrnehmung strukturiert
8
Wo i s t Kul t ur ?
und sowohl Grundlage als auch Produkt ihrer Sinnzuschreibungen und
ihres Selbstverständnisses darstellt.
Kultur umfasst, so verstanden, auch sehr unterschiedliche phänomenologische Ausprägungen: Sie zeigt sich einerseits als materiales, veräußerlichtes Phänomen, konkret greifbar in den Hervorbringungen und Handlungstraditionen von Menschen, andererseits als mentale bzw. kognitive
Größe, die unsere Wahrnehmungen strukturiert und formt, und dritterseits
als zeichengebundenes und damit nur interpretativ zugängliches »Bedeutungsgewebe« (Clifford Geertz), das im kommunikativen Austausch
beständig erneuert, verstärkt oder verändert wird und werden muss.
Insgesamt lässt sich zudem ein Nebeneinander von alltagssprachlich-modischem, ideologisch-pathetischem und mehr terminologischstrukturierendem Gebrauch des Begriffs beobachten. Während etwa die
modische Alltagsrede von der »Unternehmenskultur« das Label »Kultur«
nutzt, um damit von Fall zu Fall völlig unterschiedliche Organisationsstrukturen, Produktionsweisen und Entwicklungsstrategien unter einen
positiv konnotierten Sammelbegriff zu fassen, wurde im politologischen
Theorem vom clash of civilisations (Samuel P. Huntington) »Kultur«
zum Movens globaler Auseinandersetzungen hypostasiert und damit zu
einem schwergewichtigen Konzept mit Letzterklärungspotenzial erhoben.
Der soziologische Terminus der »Subkultur« wiederum präsupponiert
eine hierarchische Strukturiertheit von Kultur innerhalb derselben Gesellschaft, wobei er im Rahmen dieser Hierarchie auf nicht hegemoniale
Gruppierungen mit geringeren wirtschaftlichen und politischen Partizipationsmöglichkeiten verweist, denen handkehrum mit diesem Label aber
auch eine markierte Identität und Attraktivität zugesprochen wird.
Gerade dieses letztere Kulturverständnis ist traditionell dem Blick auf
das »Andere« verpflichtet und in ethnologischen Kontexten zu Hause –
in der Tages- wie in der Forschungsdebatte des 20. Jahrhunderts macht
es sich zunehmend dort bemerkbar, wo es um die analytische Bestimmung und das Verständnis des »Eigenen« geht, um eine kritische Verunsicherung des als selbstverständlich und natürlich Betrachteten. Über
Jahrhunderte wurde die eigene Kultur gegenüber den kolonialisierten
und nicht industrialisierten Kulturen hervorgehoben. Aus eurozentristischer Perspektive waren diese Anderen zwar Kulturen (pluralis), wir
aber hatten Kultur (singularis). Erst seit der pluralistische Kulturbegriff
die Debatten bestimmt, hat sich auch unsere Sicht auf das Eigene und
Fremde relativiert.
9
Vo r w or t
Insgesamt erweist sich »Kultur« also als eine Art begriffliches Chamäleon. Zu konstatieren ist eine äußerst dehnbare, in höchstem Maße
kontextabhängige Semantik, eine Zwitterstellung zwischen Alltagsrede
und wissenschaftlicher Terminologie sowie ein Schillern zwischen einer
wertungsneutralen analytischen Lesart und einer nach wie vor elitär aufgeladenen Verwendungsweise. Dennoch wäre es falsch, den Begriff Kultur
aufgrund dieses Befundes als für wissenschaftliche Analysen untauglich
zu betrachten. Denn das weite Spektrum von Verwendungsweisen ist
vielleicht weniger als Zeichen einer semantisch-pragmatischen Schwäche
des Begriffs zu interpretieren, denn vielmehr als Versuch seiner Nutzer,
eine gemeinsame Charakteristik, einen gemeinsamen perspektivischen
Nenner dieser so unterschiedlichen Referenzfelder zumindest begrifflich
auszuweisen, auch wenn sich diese nur schwer oder gar nicht konkret
erfassen lassen.
Umso wichtiger ist es daher, den Begriff der Kultur, wo immer er verwendet wird, zu kontextualisieren, seine kontextbezogenen methodischen
und theoretischen Bezüge auszuweisen und die ihm zugeschriebenen
Referenzfelder explizit abzustecken. Nicht zuletzt im Vergleich solcher
unterschiedlicher Verortungen wären dann wiederum Einsichten in die
analytische Kraft des Kulturbegriffs zu gewinnen.
Wir erhoffen einen solchen Mehrwert an Einsichten auch im Nebeneinander der Beiträge im vorliegenden Sammelband. Diese Beiträge gehen aus
einer Ringvorlesung hervor, die 2011 von Vertreterinnen und Vertretern
des Kuratoriums des Studienprogramms »Kulturanalyse« der Universität
Zürich und von Gastreferierenden aus anderen Instituten gehalten worden
ist. Insofern kulturanalytische Forschung immer auch die Arbeit an den
eigenen disziplinären Grenzen bedeutet (Sigrid Weigel), verfolgen und
verhandeln die einzelnen Beiträge dieses Bandes die Demarkierungen
des Gegenstandsbereiches »Kultur« aus ihren heutigen Perspektiven,
um ihn ausgehend von den jeweiligen disziplinenbezogenen Methoden
und theoretischen Zugängen – und auch über diese hinaus – als Untersuchungsgebiet auszumessen und zu umreißen.
Die beitragenden Autorinnen und Autoren forschen und lehren in
unterschiedlichen Bereichen der Geschichtswissenschaft, in der Architekturgeschichte, der Verhaltensbiologie, in der Sprach-, der Literaturund der Kulturwissenschaft. Trotz der disziplinären Gebundenheit der
Themen und Herangehensweisen führt der Fokus auf »Kultur« in vielen
10
Wo i s t Kul t ur ?
Beiträgen gleichwohl zu letztlich transdisziplinären Problemstellungen,
deren Virulenz sich in den vorliegenden Untersuchungen, wenn auch je
anders gelagert, abzeichnet. Die Frage nach dem Ort von Kultur betrifft
dabei auch die Grundannahmen zu ihrer Verhandlung, wie sie Philipp
Sarasin in seinem Beitrag in diesem Band anhand epochaler Kulturtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts beleuchtet: Manifestiert sich Kultur
in materiellen Phänomenen bzw. wie weit wird Kultur durch materielle
Umstände bedingt? Welche Rolle spielen eingeübte Handlungsweisen,
Techniken und Apparaturen? Oder geht Kultur vorwiegend aus der symbolischen Auffassung von Welt hervor und ist an Zeichen, Bedeutungen
und Deutungskonventionen gebunden, an wandernde Konstruktionen,
die unser Verhalten und unsere Vorstellungen maßgebend bestimmen?
Auch Sprache verfügt wie andere Kultur modellierende Medien über eine
materielle Dimension: Sie zeigt sich in der diskursanalytischen Frage, wem
es an welchen Orten möglich ist, Aussagen von einer bestimmten Art
zu machen, wie auch in der Frage nach technischen Bedingungen ihrer
Übertragung und Vervielfältigung.
Ebenso grundlegend für den Erkenntnisgegenstand »Kultur« erweist
sich das Problem, inwiefern die Annahme einer präkulturellen und prädiskursiven Domäne möglich und überhaupt erforderlich ist, was Helmut
Lethen am Problem des Schmerzes und der (Un-)Möglichkeit seiner Beschreibung diskutiert: Lassen sich leibliche Schmerzen unabhängig von
kulturell ausgebildeten Artikulationsweisen untersuchen? Diese Frage
betrifft nicht nur die Grenzen des Gegenstandsbereiches »Kultur«, sondern auch das Spannungsverhältnis zur »Natur«, in welchem die unterschiedlichen Verstehensarten von Kultur auftauchen: Kultur erscheint als
menschliche, Natur als vor-menschliche bzw. als göttliche Hervorbringung, Kultur als historisch, Natur als materiell bestimmt und evolutionär
geformt. Diese Grenzziehungen sind stets von Neuem zu befragen und mit
jeder wissenschaftlichen Erneuerung zu reevaluieren (Marianne Sommer),
so wie es im vorliegenden Band besonders Gesine Krüger und Barbara
König vornehmen: Welchen Anteil haben Tiere an der Kulturgeschichte?
Und lassen sich bei Tieren Verhaltensinnovationen beobachten, die als
kulturell gelten können?
Die Grenzziehungen haben sich auch mit der Enthierarchisierung des
Kulturbegriffs seit der Mitte des letzten Jahrhunderts verschoben, womit
sich neue Perspektiven eröffnet haben: In dem Maße, wie negativ wertende
Begriffe wie »Populärkultur« oder »Trivialliteratur« ihre distanzierende
11
Vo r w or t
Wirkung verloren haben, fanden ihre Gegenstände Eingang in die Wissenschaften. Auch hierbei tritt das »Was« gegenüber anderen Fragen zurück:
Wie haben sich die Differenzen zwischen »Hochkultur« und dem »Trivialen« einst ausgebildet und welche Spuren haben sie in den gegenwärtigen
Diskussionen hinterlassen? An welchen Orten und mit welchen Verfahren
werden die einst gezogenen Grenzen umspielt? So bildet die Börse, wie
Jakob Tanner in seinem Beitrag aufzeigt, seit ihren ersten Einrichtungen
im 17. Jahrhundert nicht nur einen hochfrequenten Handelsort für Waren
und Wertpapiere, sondern auch einen Umschlagplatz für Kulturwerte, der
die Durchlässigkeit zwischen »Hoch-« und »Alltagskultur« beschleunigt.
Solche Austauschprozesse betreffen auch den cultural turn in den unter
dem Namen der Geisteswissenschaften versammelten Disziplinen: Wie
ließen bzw. wie lassen sich ihre Herangehensweisen, die sie im Rahmen
von bürgerlichen Kulturwerten ausgebildet hatten, für die Untersuchung
von einst als alltäglich und trivial befundenen, aber breit aufgenommenen
kulturellen Erzeugnissen adaptieren? Wie hat das neue Miteinander von
high und low, wie es Ingrid Tomkowiak an den Arbeiten Umberto Ecos
bespricht, die Wissenschaften und ihre Methoden revolutioniert?
Kulturanalyse, so ein Vorschlag von Angelika Linke in diesem Band,
hat nicht nur am Vielbeachteten sich zu orientieren, sondern gerade auch
die unscheinbaren Verschiebungen und Veränderungen in den Blick zu
nehmen, wie sie sich im alltäglichen Sprachgebrauch, etwa in Grußformeln oder Todesanzeigen, artikulieren. Dort, wo kleine Differenzen
entstehen und Kultur sich quasi gegen sich selbst wendet, gibt sie sich
bei all ihrer Immanenz den Forschenden besonders zu erkennen. Philip
Ursprung wiederum erprobt an der zeitgenössischen Architektur ein Verfahren, das nach »Miniaturtheorien« forscht, die in Begriffen enthalten
sind: Wenn Begriffe auf ihre ausgreifenden und instabilen Implikationen
ausgelotet werden, können sie die interdisziplinäre Analyse von kulturellen Gegenständen und Theorien befördern. Als ein solch aufgeladener
Begriff erweist sich für Ursprung derjenige des (fotografischen) Bildes.
Doch auch bei den rhetorischen Topoi, so legt Andrea Krauß dar, handelt
es sich um ein weiträumiges und wanderndes Konzept. An ihm lässt sich
nicht nur die kulturelle Arbeit der Begriffsbildungen und -umbildungen
ablesen, ebenso machen die Topoi darauf aufmerksam, inwiefern die
Beweglichkeit einzelner Konzepte den Anschluss verschiedenster Disziplinen gewähren kann. Das gilt auch für die leitende Frage dieses Bandes.
Dies umso mehr, als die Vielfältigkeit der Orte, an denen Kultur sich
12
Wo i s t Kul t ur ?
verhandeln lässt, nicht nur die unterschiedlichsten Facetten auf dieses
Forschungsobjekt erschließt, sondern zusätzlich den Blick auf Passagen
und Übergänge öffnet, denen der Erkenntnisgegenstand »Kultur« seine
Dynamik verdankt.
Thomas Forrer & Angelika Linke
13
Philipp Sarasin
Fast Forward.
Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
Der Begriff der Kultur und die Theorien, die sich in der Moderne um
diesen Begriff gebildet haben, sind komplex, obwohl das Wort eigentlich
eine klare etymologische Wurzel hat: Abgeleitet vom lateinischen Begriff
cultura, was »Pflege«, aber auch »Ackerbau« bedeutet, bezeichnet es insgesamt die Hervorbringungen, die Artefakte des Menschen. Kultur ist das
von Menschen ebenso materiell wie symbolisch Geschaffene, die Natur
hingegen erschien lange Zeit das Gegebene – bis in jüngster Zeit diese
Unterscheidung zu verschwimmen begann. Für die Ausarbeitung und die
Pflege dieser menschlichen Hervorbringungen braucht es handwerkliches
Können und Wissen, Technik, zuweilen auch Kunst, zudem aber auch
etwas, was man als diesem äußerlichen Können entsprechendes inneres
Vermögen, als eine innere »Haltung« bezeichnen kann und die man im
Deutschen »Kultiviertheit« nannte. Genauer gesagt: In Deutschland hat
sich seit dem späten 18. Jahrhundert die durchaus folgenreiche Tendenz
ausgebildet, von der angeblich bloß äußerlichen, auf reines Können und
Geschick bedachten Zivilisiertheit bzw. Zivilisation die eigentlich tiefe, »innerliche« Kultiviertheit bzw. Kultur zu unterscheiden. Immanuel
Kant hat diesen Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation – den es
im Englischen und Französischen in dieser Form und Bedeutung nicht
gab – darin gesehen, dass den rein äußerlichen Fertigkeiten, die zur
bloßen Zivilisation führen, die Moralität der Kultur fehlt: Denken und
Handeln wären demnach erst dann wahrer Kultur zuzurechnen, wenn
15
Philipp Sarasin
dieses menschliche Tun unter das moralische Gesetz des kategorischen
Imperativs gestellt wird.
Diese altehrwürdige Bestimmung und damit der Gegensatz zwischen
Zivilisation und Kultur hat in der Geschichte der Moderne eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, denn er wurde – zum Beispiel – zum Gegensatz
von französischer Zivilisiertheit gegenüber deutscher Kultur stilisiert,
als Gegensatz zwischen Oberflächlichkeit und Innerlichkeit, zwischen
»welschem Tand« und wahrer »deutscher Kunst« etc.1 – oder aber, auf
dem Feld der Kulturtheorien bis heute, zum Unterschied zwischen französischen »Modetheorien« und seriöser deutscher Geisteswissenschaft …
Diese Opposition von Zivilisation und Kultur hat, das sei doch angemerkt, seit dem 19. Jahrhundert nicht zuletzt auch dazu beigetragen, die
Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen zu prägen – bis hinein in
die Schützengräben von Verdun (vgl. Jeismann 1992; Ungern-Sternberg/
Ungern-Sternberg 1996).
Heute ist dieser Gegensatz und die spezielle moralische Aufladung
des Kulturbegriffs – bis auf Ausnahmen – nicht mehr von Bedeutung. Im
Grunde könnte man sagen: Wir sind mit dem Kulturbegriff – oder vielmehr mit dem heute globalisierten Begriff culture − wieder zum Ackerbau
zurückgekehrt, das heißt zurückgekehrt zur grundlegenden Bestimmung,
dass »Kultur« ebenso die Hervorbringungen des Menschen bezeichnet
wie auch die Techniken und die Fähigkeiten dieses Hervorbringens. Kultur ist das Nichtnatürliche und ihre Erzeugung eine Technik; sie ist, als
menschliche Hervorbringung und abhängig von Zeichensystemen, mit
»Sinn« und »Bedeutung« verbunden – als ihr Grundmodell erscheint
die Sprache. Auf der anderen Seite hat der Begriff der Kultur mit dieser
Rückkehr zu einer ebenso bodenständigen wie umfassenden Semantik
auch wieder deutlicher seinen gleichsam regionalen Ausschlag zu erkennen gegeben, der ihm immer anhaftete: So wie man Felder nicht überall
auf der Welt gleich bearbeitet, aber in einer Region jeweils in derselben
Art und Weise Ackerbau betreibt, so bedeutet der Begriff der Kultur immer auch die Kultur einer bestimmten Gruppe von Menschen, die zum
Beispiel in einem Gebiet leben oder einer bestimmten Klasse oder einer
Glaubensgemeinschaft angehören. Wir sprechen von der abendländischen
Kultur, von der Kultur des Bürgertums, von der Hip-Hop-Kultur, von der
schweizerischen politischen Kultur oder von den kulturellen Leistungen
der islamischen Welt und so weiter. Kultur, so sagen wir heute, hat etwas
mit der »Identität« einer Gruppe zu tun – oder vielleicht genauer noch,
16
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
wenn man bei der heutigen Verwendung des Kulturbegriffs seine zuweilen
recht dunkeln Untertöne mithört: Kultur ist »Identität«. Ich werde auf
diesen Punkt zurückkommen.
Doch die Frage nach der Kultur ist, wie gesagt, ziemlich kompliziert.
Denn in dem Maße, wie Kultur das Nichtnatürliche ist, und in dem Maße
auch, wie Kultur ebenfalls in einer sehr allgemeinen Weise das Denken,
Sprechen und Handeln prägt, in dem Maße eben führt dies heute zu der
sehr umstrittenen und sehr grundsätzlichen Frage, was denn »letztlich«
das Denken, Sprechen und Handeln von Menschen überhaupt bestimme.
Warum, so kann man sich fragen, denken und handeln Menschen denn
so, wie sie es tun – in alltäglichen Situationen oder auch in besonderen
Momenten? Warum richten sie ihre Beziehungen untereinander, ihre
Institutionen und Gesellschaften so ein, wie sie sind …? Und warum an
verschiedenen Orten verschieden? Ich komme nicht darum herum, auf
diese Art von Fragen und ihren Hintergrund kurz einzugehen. Denn um
solche Fragen zu beantworten, gibt es heute, wenn ich recht sehe, drei
große Erklärungsansätze – Erklärungsansätze, die sich zwar manchmal ergänzen und überschneiden mögen, die sich im Wesentlichen aber
widersprechen, ja bekämpfen, weil sie sich letztlich radikal voneinander
unterscheiden. Ich spreche von folgenden drei großen Erklärungsansätzen:
1. Man könnte sagen: Menschen denken und handeln so, wie sie es tun,
weil es ihrer evolutionär gewordenen Natur entspricht. Menschen
haben diesem Erklärungsansatz gemäß mit ihrem Körper und speziell ihrem Gehirn eine biologische Basis, die ihnen Grenzen setzt und
bestimmte Verhaltensformen erzwingt. Die Evolutionäre Psychologie
sagt in diesem Sinne ergänzend, dass die Anforderungen ans Überleben, mit denen unsere urmenschlichen Vorfahren während Hunderttausenden von Jahren konfrontiert waren, unserem Geist bestimmte
Empfindungs-, Reaktions- und Verhaltensroutinen aufgeprägt haben,
die immer noch die Grundlage unseres Sprechen und Handeln darstellen. Die Zivilisation bzw. die Kultur erscheint aus dieser Perspektive
nur als eine gleichsam dünne Haut über einem sehr alten, tierischen
Körper.2
2. Eine zweite Erklärungsstrategie liegt auf dem Feld der materiellen bzw.
der sozialen und ökonomischen Bedingungen unserer Existenz, etwa
gemäß dem berühmten Diktum des jungen Karl Marx von 1845/46:
»Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein,
17
Philipp Sarasin
und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess« (Marx/
Engels 1969, 26). Grundlegend ist hier die Idee, dass materielle Bedingungen einerseits und materielle oder ökonomische Interessen
andrerseits dem Denken und Handeln von Menschen die Richtung
vorgeben. Die moderne Wirtschaftstheorie formuliert in viel abstrakterer Weise denselben Gedanken, nämlich dass alles Handeln sich
nach einem individuellen Nutzen richtet, der zwar nicht immer und
ausschließlich, letztlich aber doch am besten als ein wirtschaftlicher
Nutzen zu beschreiben ist. Ob man nun an die bewusste und aktive
Nutzenmaximierung des homo oeconomicus glauben will oder eher
annimmt, dass wirtschaftliche und soziale Bedingungen schlicht den
Rahmen des Handelns und Denkens vorgeben, ja, dieses letztlich determinieren, ist vielleicht kein so entscheidender Unterschied. Wichtig
ist jedenfalls: Wer so argumentiert, glaubt, diese materiellen Bedingungen oder diese individuellen Nutzenfunktionen ließen sich noch vor
jeder Bedeutung und Interpretation durch die handelnden Subjekte
objektiv beschreiben und messen.
3. Die dritte Position – es ist die, die ich hier ansatzweise vorstellen
will – lehnt wichtige Annahmen der beiden ersten, eben skizzierten
Positionen ab: Es stimmt zwar, so sagen Vertreter dieser kulturalistischen Position, dass wir evolutionär entstandene biologische Wesen
sind, und es stimmt auch, das materielle Voraussetzungen und unsere
wirtschaftlichen Bedingungen und Interessen uns ziemlich stark bestimmen können, ja uns oft unüberwindliche Schranken setzen. Allein,
weil Menschen sprechende Wesen sind, weil sie Zeichen und Symbole
benutzen und damit Bedeutungen erzeugen, haben sie – so das Basisargument dieser Position – etwas in die Welt gesetzt, was weder auf
die evolutionären Anforderungen des Überlebens reduzierbar ist noch
auf die materiellen Bedingungen oder Interessen. Menschen haben im
Gegensatz zu Tieren die Fähigkeit, sich Dinge auszudenken, vorzustellen und anderen mitzuteilen, die abwesend sind, ja vielleicht sogar
Dinge, die nie jemand gesehen hat und an die man nur glauben kann.
Die kulturalistische Position sagt also: Diese Zeichen und die durch
sie ermöglichten Vorstellungen und Ideen beeinflussen, ja bestimmen
das Verhalten von Menschen entscheidend. Ohne die Zeichen zu
berücksichtigen, ist nicht nachvollziehbar, wieso Menschen sich so
verhalten und so sprechen, wie sie es tun.
18
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
Doch die Zeichen sind nicht alles. Zur Kultur gehört selbstverständlich auch, dass Menschen Werkzeuge zur Bearbeitung der Natur und
Medien zum Austausch von Zeichen entwickeln. Beides aber – Werkzeuge und Medien – vergrößert die Fremdheit gegenüber unserer
ehemals evolutionär entstandenen Natur noch weiter, ja vielleicht
sogar exponentiell.3 Die heutige Diskussion um Kulturtheorien dreht
sich, um dies vorab zu sagen, zu einem guten Teil darum, ob denn
nicht die Werkzeuge, die Zeichen und die Medien eine Eigenlogik
aufweisen, die nicht nur den Menschen gegenüber seinen evolutionären Ursprüngen und seinen ökonomischen Bedingungen auf Distanz
setzt, sondern auch den Begriff des Menschen als einer scheinbaren
anthropologischen Konstanten sich auflösen lässt.
Diese heuristische Unterscheidung zwischen drei Strategien zur Erklärung menschlichen Handelns ist zugegebenermaßen grobschlächtig, und
sie hat auch die Frage nicht berührt, wie denn Kultur im Prozess der
menschlichen Evolution überhaupt entstanden ist. Aber die skizzierte
Unterscheidung sollte immerhin andeuten, um was es letztlich geht, wenn
wir heute von Kultur sprechen: Wieso denken und handeln Menschen so,
wie sie es tun? Und warum unterscheiden sie sich – in globaler Perspektive – darin in so vielfältiger und oft tiefgreifender Weise, wenn doch
die biologischen und materiellen Bedingungen der Existenz sich letztlich
sehr ähnlich sind? Wenn wir alle – um im Bild zu bleiben – immer nur
unseren Acker bestellen, wieso gibt es dann nicht nur so viele Arten und
Weisen, dies zu tun, sondern auch schier unendlich viele Arten, dieses
Tun mit Zeichen, Erzählungen und Deutungen zu interpretieren – und
sich zuweilen auch die Köpfe einzuschlagen, weil die Deutungen des einen
nicht jenen des anderen entsprechen?
Davon erzählt, dies nicht ganz nebenbei, die alte Geschichte von Kain
und Abel: Kain erschlägt seinen Bruder, weil nach dem Ackerbau und nach
der Ernte sein Opferfeuer nicht so hell lodert wie das Tieropfer Abels, das
Gott gnädig angenommen hatte. Man sage nun nicht, der Mord Kains an
Abel sei der Inbegriff menschlicher Aggression, ja Mordlust noch vor jeder
Kultur, die gegenüber dieser angeblich ursprünglichen Rohheit nur wie
ein Firnis erscheint, der jederzeit Risse bekommen oder ganz aufplatzen
könne. Denn im Gegenteil: Der Mord von Kain an Abel geschah genau
und erst in dem Moment, als die Früchte des Feldes durch das Opferfeuer
in ein Zeichen verwandelt wurden, dass dem unsichtbaren höheren Wesen
19
Philipp Sarasin
zur Huldigung dargebracht werden sollte. Doch aus Gründen, die uns
verborgen bleiben, hat Gott das Opferzeichen Kains anders interpretiert
als jenes von Abel. Kain also ermordete Abel nicht wegen ein paar Karotten oder aus dumpfer Mordlust, von der wir mutmaßen könnten, sie sei
irgendwie evolutionär bedingt – nein, Kain mordete ausschließlich wegen einem Zeichen und dessen von ihm gedeuteten Interpretation durch
Gott, den adressierten Empfänger dieses Zeichens. Mit anderen Worten:
Kultur ist selbstverständlich nicht einfach das Reich des Wohlgefallens
und des freundlichen Zusammenlebens, Kultur hat sich von Anfang an
mit Konkurrenz und Gewalt vermischt. Auch auf diesen Punkt werde
ich zurückkommen.
Um nun alle mit diesen einleitenden Bemerkungen aufgeworfenen Fragen
auch nur ansatzweise zu diskutieren, reicht dieser kurze Text selbstredend
bei Weitem nicht aus. Daher möchte ich hier zuerst bloß einige der Ausgangspositionen der Kulturtheorie im 19. Jahrhundert skizzieren und
anschließend auf ein für alle heutigen Diskussionen zentrales Konzept
aus dem 20. Jahrhundert eingehen. Beginnen werde ich den Rückblick
mit drei kulturphilosophischen und kulturhistorischen Positionen des
19. Jahrhunderts, deren Einfluss bis heute spürbar bleibt: mit den beiden
Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Friedrich Nietzsche
sowie dem Historiker Jacob Burckhardt. Von ihnen ausgehend will ich
zumindest in groben Zügen einige der grundlegenden Fragen und Möglichkeiten von Kulturtheorie überhaupt ansprechen.
Warum mit Hegel beginnen? Man könnte mit Blick noch auf das
frühe 18. Jahrhundert und selbstredend nur schematisch argumentieren,
dass das christliche Zeitalter keinen umfassenden Begriff von Kultur
brauchte, weil an ihrer Stelle noch die Religion die Beziehung von Menschen, Werten und Handlungen steuerte, die Unterscheidung zwischen
Gut und Böse ermöglichte und den Gang der Geschichte deutete. Gegen
diese christliche Ansicht versuchte der Materialismus der Aufklärer im
18. Jahrhundert – und alle Materialisten seither –, die Geschichte und
das Handeln von Menschen mit dem Wirken von Naturgesetzen zu erklären: Hinter der Oberfläche der Kultur könne und solle nichts anderes
sich manifestieren als die Wahrheiten der Natur. Das hat etwa bedeutet,
zu postulieren, dass der Mensch von Natur aus gut sei oder dass der
menschliche Körper und seine Erhaltung der oberste Wert sei, nach dem
sich alles Handeln auszurichten habe, und dass dieses Handeln nach
20
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
den körperlichen Empfindungen von Lust und Schmerz gesteuert würde (vgl. Volney 1833). Etwas schematisch ließe sich sagen: Ein solches
Programm ist und braucht keine Kulturtheorie, sondern ist ihre direkte
Negation. Es ist der Versuch, die Täuschungen und Irrtümer der Kultur
auf die Wahrheiten der Natur zurückzuführen.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und noch während der Französischen Revolution hat Georg Friedrich Wilhelm Hegel zuerst in Jena
und dann in Berlin begonnen, diesem philosophischen Programm einen
Gegenentwurf entgegenzuhalten, den er »Philosophie des Geistes« nannte
(Hegel 1973). Man kann Hegel nicht in drei Sätzen »erklären«, dennoch
will ich drei Dinge festhalten: Erstens entwickelt Hegel ein philosophisches Programm, das durch und durch eine Geschichte des Geistes ist.
Alle Geistesgeschichte oder Geisteswissenschaft – und so heißen unsere
Fächer hier an der Universität und im deutschen Sprachraum bis heute –
geht auf diesen Anfang zurück. Der Geist hat eine Geschichte – und die
Geschichte ist laut Hegel in ihrem Wesen nichts anderes als die Geschichte
des Geistes. Zweitens: Diese Geschichte hat gemäß Hegel einen spekulativ
erkennbaren Anfang und ein klares Ziel. Der Philosoph, sofern er Hegel
heißt, kann Sinn und Richtung der weltgeschichtlichen Entwicklung als
Logik des Geistes deuten und deren Ende als verstandene Geschichte im
Medium seiner eigenen spekulativen Anschauung erkennen. Und der dritte, in unserem Zusammenhang vielleicht wesentlichste Punkt: Der Geist
manifestiert sich zwar in verschiedenen Kulturformen wie Religionen oder
Bestattungsriten, er ist aber laut Hegel in seiner Gestalt als Bewusstsein
an die Sprache gebunden und entfaltet sich, indem ein Ich sich sprechend
auf etwas anderes bezieht und so etwas Drittes, Gemeinsames entstehen
lässt. Die Sprache ist, wie Hegel sagt, das »Anundfürsichsein« des Geistes
(Hegel 1973, 28) oder, in seiner historischen Konkretion, das Bewusstsein
einer Kultur von sich selbst.
Diesem Verständnis von Kultur als historisch je spezifische Manifestation eines Weltgeistes, dessen Gang durch die Geschichte der Philosoph spekulativ erkennen kann und der in der Sprache zu sich selbst
kommt, erwuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem
vom Basler Historiker Jacob Burckhardt entschiedener Widerstand. Als
patrizischer Kleinstädter in der neutralen Schweiz reagierte Burckhardt
skeptisch, ja geradezu allergisch auf alle preußischen Prätentionen, den
Gang der Geschichte als Ganzes deuten zu können; Burckhardt entwarf
daher eine antihegelsche Kulturgeschichte, von der ich nur das Folgende
21
Philipp Sarasin
festhalten will: Zum einen gibt es bei Burckhardt keine Möglichkeit mehr,
Anfang und Ziel der Geschichte zu bestimmen. Der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler hat bemerkt, dass Burckhardt bezeichnenderweise
über die Renaissance gearbeitet hat, das heißt über eine Epoche, in der
sich die Geschichte wiederholt, statt stramm vorwärts zu schreiten: also
eine Wiederholungsschleife als Gegenentwurf zur dialektischen Entwicklungslogik Hegels (Kittler 2000, 137). Und dort, wo Burckhardt über die
Geschichte jenseits der Renaissance, das heißt vor allem über das 19. Jahrhundert spricht, sind daher die Krisen und Katastrophen ganz nahe.
Zweitens können wir bei Burckhardt erkennen, dass er die Kultur
deutlich gegen die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen stellt, die
Geschichte der Schlachten und der großen Männer – eine Geschichte
mithin, der er nur noch zutraut, das notwendigste Faktengerüst für eine
Epoche zu liefern. Geprägt wird eine Epoche hingegen von ihrer Kultur.
Dennoch ist auch die Kultur für Burckhardt nicht Ausdruck eines Weltgeistes oder der Weltgeschichte überhaupt; sie ist vielmehr empirisch
vorgefundene Kultur, das heißt Kunst und Lebensformen in ihren lokalen
Gestalten, die nicht durch eine philosophische Theorie in ein übergeordnetes Deutungsschema gezwungen werden könnte. Immerhin nennt er
zwar die Kultur eine der drei großen »Potenzen«, und zwar neben Staat
und Religion – um dann aber gleich zu sagen, dass das keinesfalls eine
Geschichtsphilosophie impliziere. Die drei »Potenzen« Staat, Religion
und Kultur sind bei Burckhardt nicht viel mehr als eine Vorrichtung
zur Sortierung von historischen Phänomenen. Wenn daher seine »weltgeschichtlichen Betrachtungen« – die aber bezeichnenderweise explizit
keine »Weltgeschichte« sein wollen − sich auf irgendetwas Allgemeines
beziehen, so ist es der »duldende, strebende und handelnde Mensch, wie
er ist und immer war und sein wird«, und Burckhardt fügte hinzu: »daher
wird unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein« – also eine
Darstellung der Beschädigungen und Verletzungen, die der Mensch im
Laufe der Geschichte erleidet (Burckhardt 1941, 45). Die burckhardtsche
Kulturgeschichte erscheint damit gleichsam als Kompensation für dieses
Leiden und als Ort, wo das menschliche Wesen sich in seiner Großartigkeit, aber auch in seinen Abgründen zeigt. Ihren Leserinnen und Lesern
verheißt diese Kulturgeschichte den Genuss großer Kunst und Kultur, ja
eine Teilnahme an den höchsten Hervorbringungen menschlicher Schaffenskraft. Dabei ist Burckhardts Kulturgeschichte nach den Worten des
Geschichtstheoretikers Hayden White »ironisch«, weil sie nicht mehr
22
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
glaubt, dass die »Potenz« der Kultur z.B. den Staat oder in späterer Zeit
auch die Industrie zähmen und in Schranken weisen könnte. Dazu war
Burckhardt, politisch gesehen, zu pessimistisch − und seine Kulturtheorie
folglich ironisch-distanziert (White 1991, 302).
Auch bei der in unserem Zusammenhang dritten relevanten Position
im 19. Jahrhundert sind zwar Basel und Burckhardt nicht fern. Dennoch ändern sich mit Nietzsche die Vorzeichen von »Kultur« noch einmal grundlegend. Für Nietzsche gibt es den ruhigen Ankerpunkt »des«
Menschen, und sei er ein leidender, nicht mehr. Nietzsche fragt vielmehr
konsequent danach, welche meist blutigen Konflikte und Machtverhältnisse all das hervorgebracht haben, was wir als das Gute und Schöne, als
Wahrheiten, Werte und Moral bewundern und zum Grundbestand sei’s
des Menschlichen, sei’s der Kultur rechnen. »Kultur« wird bei Nietzsche
mit Macht und Gewalt verschränkt, sie erscheint nicht mehr, wie noch
bei Burckhardt, als freundliche Gegen-»Potenz« gegenüber dem Staat,
und sie ist natürlich auch kein zu sich kommendes Selbstbewusstsein des
Weltgeistes. Nietzsche schreibt, um es knapp zu sagen, nicht mehr im
Lichte Hegels, sondern im Lichte Darwins – und dies bei aller Distanz
im Detail, die Nietzsche Darwin gegenüber aufrecht erhält. Denn jede
Geschichte und jede Entwicklung, aber auch jede Moral und jede Kultur
muss sich laut Nietzsche an dem messen lassen, was er »das Leben«
nennt. Und gemessen am »Leben« geraten die Kultur und namentlich
die Zivilisation der Moderne bei Nietzsche unter Dekadenzverdacht: Die
Kultur steht nicht per se für das Gute, sondern erscheint ihm vielmehr
als ein Index für Niedergang und Schwäche, ja Degeneration. Denn vor
allem die christliche Moral und Kultur habe nie eine andere Funktion
gehabt, als die Lebenskraft der Starken zu hemmen und sie auf das Niveau
der Schwachen herunterzuziehen, was sich, wie Nietzsche spottet, auch
in der »Erbärmlichkeit der Civilisation« (Nietzsche 1980 a, § 163, 146)
der Gegenwart manifestiere. Das Ziel des Moralkritikers Zarathustra ist
daher die Überwindung dieser kulturellen Degeneration und die Schaffung
eines Übermenschen, das heißt eines Menschen, der den »bescheidene[n]
Moral-Zärtling« hinter sich lässt (Nietzsche 1980 b, 254).
Ich muss nicht erläutern, dass eine bestimmte, allerdings sehr einseitige
Lesart dieser Kritik in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verheerende Auswirkungen gehabt hat (vgl. Aschheim 1996).
Wichtiger in unserem Zusammenhang ist, noch einen genaueren Blick auf
Nietzsche als Kulturtheoretiker zu werfen. Denn noch als junger Basler
23
Philipp Sarasin
Professor hat er 1873 einen kurzen Text verfasst oder vielmehr diktiert,
der seine kritische Sicht von überkommenen Werten, Moralvorstellungen
und Wahrheiten in einer spezifisch kulturtheoretischen Art und Weise
formuliert. Dieser für die heutige Kulturtheorie wichtige, erst posthum
veröffentlichte Text Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne geht von der These aus, dass das menschliche Tier, dem die Hörner
und Raubtierkrallen fehlen, sich mit Lügen und Täuschen gegen andere
behauptet. Die höchste Form der Täuschung aber sei die »Wahrheit«.
Denn was seien Wahrheiten, so Nietzsche? Wahrheiten seien nur Illusionen, die im Kampf des Lügens und Täuschens sich als nützlich erwiesen
hätten und deren Ursprung schließlich vergessen ging. Genauer noch:
Wahrheiten seien »ein bewegliches Heer von Metaphern«, die »nach
langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken:
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie
welche sind« (Nietzsche 1980 c).
Was hier erkennbar wird, ist eine kulturtheoretische Position, die
Werte und Wahrheiten erstens, wie gesagt, in eine ursächliche Beziehung
zu Kämpfen und Machtverhältnissen setzt, und zweitens, die nicht mehr
glaubt, dass Wahrheiten der adäquate Ausdruck der Dinge selbst seien.
Wahrheiten seien bestenfalls Metaphern, also bloße Sprachbilder, die im
wiederholten Gebrauch sich allmählich zu Begriffen verfestigen. Das aber
heißt auch: Jede Erkenntnis, die Menschen von der Welt zu gewinnen
glauben, ist ein Produkt ihrer Sprache − und gleichzeitig ein Einsatz im
strategischen Feld der Macht. Hingegen bleibt das, was Nietzsche »das
rätselhafte X des Dings« (Nietzsche 1980 c, 879) nennt, uns grundsätzlich
verborgen: Die Dinge in der Welt kann diese Kulturtheorie nicht mehr als
an sich erkennbar denken. Die sogenannte Wahrheit ist keine Widerspiegelung einer äußeren Realität, sondern ein Gaukelspiel von Metaphern,
das sich zu Begriffen verfestigt hat, weil sie dem »Leben« dienen.
Damit ist ein Punkt erreicht, den man rückblickend »das Erbe des 19. Jahrhunderts« nennen könnte. Obwohl natürlich längst nicht vollständig, hat
doch die kurze Liste mit Hegel, Burckhardt und Nietzsche ein Set von
Denkmöglichkeiten und Problemstellungen aufgefächert, wie sie das
19. dem 20. Jahrhundert übergeben hat. Zur Erinnerung: Hegel hat mit
seiner Philosophie des Geistes die Antithese zum naturwissenschaftlichen
Materialismus formuliert. Die Welt sei eine Hervorbringung des Geistes,
und dieser sei ganz wesentlich mit der Sprache oder der Intersubjektivität
24
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
in eins zu setzen – und der Philosoph kenne den Gang der Weltgeschichte,
weil er die dialektische Entfaltungslogik des Geistes kenne. Burckhardt
bezweifelt genau das, aber er folgt Hegel bei der Idee, dass die Geschichte
gerade dort, wo sie dem etwas melancholischen Kleinstädter eine Heimat
bieten soll, als Kulturgeschichte das offene Buch des unwandelbaren
menschlichen Geistes ist. Und Nietzsche macht sich daran, genau diesen
Trost seiner ätzenden genealogischen Kritik zu unterwerfen.
Um in seriöser Weise zu untersuchen, welche Kulturtheorien im
20. Jahrhundert sich aus diesem Erbe entwickelt haben, bräuchte es mehr
als nur ein paar weitere Skizzen. Das Feld ist auch ziemlich unübersichtlich: Immer noch sprechen wir von Geisteswissenschaften, obwohl
wir längst keine Hegelianer mehr sind; viele postmoderne Theoretiker
haben an Nietzsche angeknüpft, ohne seine Theorie des Übermenschen
zu teilen (vgl. Le Rider 1997), und Jacob Burckhardts Kulturgeschichte
wirkt zugleich veraltet wie in ihrem Insistieren auf der Eigenmächtigkeit
und Vielfalt von Kultur ganz aktuell. Vor allem fehlen in dieser Liste, um
die Dinge nicht noch verwirrender zu machen, Marx und Darwin, die
wohl einflussreichsten Ausgangspunkte jener beiden eingangs skizzierten
Deutungsmöglichkeiten des Biologismus und des Ökonomismus – Positionen mithin, die das Reden über Kultur permanent mit ihrer Skepsis
und zuweilen mit ihrer offenen Feindschaft begleiten.
Doch was geschieht im Feld der Kulturtheorien im 20. Jahrhundert?
Man könnte sagen: Zuerst − und zum Teil bis heute − wird das Erbe des
19. Jahrhunderts aufgenommen, weiterbearbeitet, neu kombiniert, verdaut oder auch ausgespuckt, ohne dass es uns ganz loslässt. Zum andern
kommen, wenn ich recht sehe, im 20. Jahrhundert im Wesentlichen noch
zwei große Innovationen hinzu, die beide weit über die Denkformen des
19. Jahrhunderts hinausweisen, auch wenn sie nicht voraussetzungslos
vom Himmel gefallen sind: die Psychoanalyse Sigmund Freuds und der
Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss. Auch diese beiden Kulturtheorien sind natürlich Erben: Freud radikalisiert den Gedanken Nietzsches,
dass der Mensch nicht durch sein Bewusstsein geleitet werde, sondern
nicht unwesentlich durch seine unbewussten Triebe. Und der Strukturalismus greift dort auf Hegel zurück, wo dieser die Welt als durch den
Geist strukturiert versteht, um aber deutlicher als Hegel und damit gegen
Hegel darauf zu beharren, dass jenseits der Sprache die Rede von einem
Geist keinen Sinn macht.
25
Philipp Sarasin
Ich kann hier nicht über beide Positionen sprechen. So wichtig Freud
war und ist, so sehr würde die Würdigung der Psychoanalyse als Kulturtheorie – und vielleicht war sie das mehr als alles andere – hier zu viel
Raum in Anspruch nehmen. Ich verzichte daher darauf, und dies auch
deshalb, weil vieles, was Freud als Kulturtheoretiker entwickelte, dann
von den Autoren des Strukturalismus und des Poststrukturalismus aufgegriffen und weiter getrieben wurde. Ich muss auch darauf verzichten,
die deutschen Kultur- und Gesellschaftstheoretiker von Max Weber über
Aby Warburg, Georg Simmel und Walter Benjamin bis zu Hans-Georg
Gadamer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann
(eine insgesamt sehr eindrückliche Reihe … !) zu diskutieren – Theoretiker, die alle in unterschiedlicher Weise von Hegel, Marx, Burckhardt
und Nietzsche geprägt wurden und von denen ich sehr forsch und ohne
weiteren Beweis behaupten möchte, dass sie nichts grundlegend Neues
ins Feld der Kulturtheorie einbrachten. Übergehen muss ich leider auch
Martin Heidegger, der auf seine Weise die philosophische Destruktionskraft Nietzsches mit einer Erneuerung der idealistischen Philosophie
verbindet.
Ich erlaube mir daher einen großen Sprung von Nietzsche am Ende
des 19. Jahrhunderts zum Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss. Das
entscheidende Datum ist dabei vielleicht das Jahr 1949: Damals veröffentlichte der noch unbekannte französische Ethnologe Lévi-Strauss
nach einem jahrelangen Forschungsaufenthalt im Amazonas-Gebiet seine »Grande Thèse«, das heißt seine Habilitationsschrift Les structures
élémentaires de la parenté (Lévi-Strauss 1981). In Paris soll man damals
gesagt haben, das Buch löse beim Leser einen ähnlichen Schock, eine ähnlich tiefgreifende Erschütterung aus wie zuvor nur das Das Kapital von
Karl Marx und Die Traumdeutung von Sigmund Freud. Tatsächlich zielt
Lévi-Strauss auch ähnlich hoch. Denn am Beispiel der Verwandtschaftssysteme der Indianer im Amazonas-Gebiet entwickelt er eine Theorie
von Kultur, die sich grundsätzlich vom Paradigma des Historischen löst.
Lévi-Strauss ist überzeugt, dass noch vor, oder wenn man so will, hinter
der menschlichen Geschichte kulturelle Strukturen bzw. symbolische Systeme liegen, die die menschliche Geschichte als solche erst ermöglichen.
Wie ist das zu verstehen? Lévi-Strauss behauptet zwar nicht, dass
diese symbolischen Systeme nicht auch irgendwann einmal entstanden
sind – so wie ja auch die Sprache entstanden ist. Aber er behauptet, dass
die Anfänge der symbolischen Systeme oder Strukturen immer vor dem
26
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
liegen, was wir als »die Geschichte« erinnern, erforschen und überblicken
können. Das hat Konsequenzen. Denn in dem Maße, wie Lévi-Strauss
sich vom Paradigma des Historischen löst und damit auch von der Geschichtswissenschaft als der Leitwissenschaft für das Verständnis des
Menschen, wie es sich im 19. Jahrhundert etabliert hat, setzt er an die
Stelle des historischen ein strukturelles Denken, das er vom neuen Vorbild
der Linguistik her entwickelt (Lévi-Strauss 1977). Von der Linguistik sagt
er, dass sie es erlaube, die menschliche Kultur nicht einfach nur nachzuerzählen und hermeneutisch zu verstehen zu versuchen – also etwa so, wie
Jacob Burckhardt das vorschwebte und wie Hans-Georg Gadamer die
Hermeneutik dann im 20. Jahrhundert kodifiziert hat (Gadamer 1975) –,
sondern, dass die Linguistik eine Wissenschaft sei, die die Sprache einem
geradezu mathematischen Kalkül unterziehe und in abstrakter bzw. formaler Weise analysierbar mache. In ähnlicher Weise nun ließen sich auch,
so Lévi-Strauss, die verschiedenen Verwandtschaftssysteme als ein Set von
formalen Regeln beschreiben, die genau festlegen, wie in einem Stamm
die Frauen ausgetauscht und die Ehen geschlossen werden.
Auf dieses ethnologische Argument müssen wir hier nicht weiter
eingehen. Wichtig ist für die Kulturtheorie vielmehr, dass Lévi-Strauss
sein Denkmodell von der Sprache her entwickelt und sich dabei auf eine
Theorie bezog, die vom Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure an
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausgearbeitet (de Saussure 1916)
und von russischen und tschechischen Linguisten seit den 1920er-Jahren
weiterentwickelt wurde. Diese bald schon »linguistischer Strukturalismus« genannte Theorie wandte sich gegen die klassische Vorstellung, dass
die Sprache dank ihrer Begriffe das Wesen der Dinge zum Ausdruck und
zum allgemeinen Verständnis bringen würde. Saussure und seine Schüler
lehrten vielmehr, dass die Sprache mit einem Netz zu vergleichen sei, in
dem die Worte oder die Zeichen wie Knoten wären. Das heißt, der »Wert«
(de Saussure) oder die Bedeutung eines solchen Knotens ergibt sich durch
die relativen Abstände und Beziehungen zu allen anderen Knoten im
Netz. In der Saussure-Rezeption nicht nur durch Lévi-Strauss, sondern
vor allem in der durch Lévi-Strauss vermittelten Aufnahme und Weiterführung saussurescher Konzepte durch den Psychoanalytiker Jacques
Lacan und den Philosophen Jacques Derrida (vgl. Lacan 1991; Derrida
1994) entstand das für den französischen Strukturalismus und dann auch
Poststrukturalismus zentrale Konzept, dass die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung ein Effekt der Kombination von Signifikanten, das heißt
27
Philipp Sarasin
von distinkten Buchstaben- oder Lautfolgen sind. (Dieses Konzept hat in
der Vermutung einer »inneren Sprachform« bei Wilhelm von Humboldt
einen fernen Vorläufer und es fand auch in der an Humboldt angelehnten
und vom Ethnologen Franz Boas inspirierten sogenannten »Sapir-WhorfHypothese« der frühen 1950er-Jahre eine überaus einflussreiche Parallele.
Sehr allgemein formuliert besagt es, dass die Sprache bzw., mit Sapir und
Whorf formuliert, die Einzelsprachen in ihrer durch die je spezifische
Syntax und Grammatik bestimmten Form die Welt immer nur in (einzel)
sprachspezifischer Weise zugänglich macht.) Die Welt erscheint, anders
gesagt, je verschieden im Licht unterschiedlicher Zeicheneffekte bzw. der
auf diese Weise generierten Bedeutungen.
Das ist auch die Sichtweise der strukturalen Anthropologie von LéviStrauss, die auch der bis damals radikalste und folgenreichste Versuch
war, sich von Hegel zu lösen. Denn erstens denkt Lévi-Strauss, wie gesagt,
nicht in Kategorien der historischen Veränderung oder gar Entwicklung,
sondern kann nur verschiedene, mehr oder weniger invariante kulturelle
Muster beschreiben. Und zweitens: Das ist erkennbar keine Philosophie
des Geistes, sondern eine Philosophie der Zeichen. Das heißt, jenseits der
beschreibbaren, konkreten sprachlichen Zeichen und damit jenseits der
Sprache kann es dem Strukturalismus gemäß keinen Geist, keinen Sinn
und keine Bedeutung geben.
Das ist eine sehr weitreichende sprachphilosophische These, die, wie
gezeigt, Wurzeln bis zurück zu Nietzsche und enge Parallelen zu anderen
Strömungen der Linguistik hat, die übrigens auch in ganz eigenständiger
Form im Zentrum von Sigmund Freuds Traumdeutung steht, und die
vom amerikanischen Philosophen Richard Rorty 1967 auf den Namen
linguistic turn getauft wurde (Rorty 1992). Ihr Dreh- und Angelpunkt,
so darf man wohl dennoch behaupten, ist aber der Strukturalismus von
Lévi-Strauss. Schon bei ihm bedeutet diese These unter anderem, dass die
Strukturen der Kultur weitgehend bestimmen, wie Menschen ihre Welt
wahrnehmen, wie sie ihre Gesellschaft organisieren, wie sie denken und
wie sie handeln. Im letzten Teil meiner Überlegungen möchte ich daher
noch auf einige Entwicklungen und Folgen des Strukturalismus zu sprechen kommen – Entwicklungen, die unser Denken über Kultur bis heute
maßgeblich bestimmen.
Ausgangspunkt soll dabei eine der unmittelbaren Folgen der strukturalen Anthropologie sein, die Lévi-Strauss selbst sehr eindringlich
28
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
dargestellt hat. Seine These, die entscheidenden, kulturbestimmenden
Strukturen lägen vor jeder Geschichte, führt bei ihm zur Behauptung,
dass die moderne, durch technische Innovation erhitzte Zivilisation mit
ihren schnellen Veränderungen auf allen Gebieten des Lebens nur noch
als Verfallsgeschichte gedeutet werden könne: Kultur findet aus dieser
Perspektive im Grunde nur dort statt, wo die Geschichte mit ihrer Kraft
zur beschleunigten Veränderung noch nicht eingesetzt hat − Kultur ist für
Lévi-Strauss de facto vorgeschichtlich. In seinem populärsten Buch, den
Tristes Tropiques, den Traurige Tropen von 1955 (Lévi-Strauss 2008 a),
berichtet Lévi-Strauss eindringlich vom zunehmenden Verlust und Verschwinden indianischer Kulturen durch das Vordringen der Zivilisation
in den Urwald des Amazonas-Gebietes. Selbstverständlich gibt es gute
Gründe, in diesem Fall einen Verlust zu beklagen – doch insgesamt muss
man auch festhalten, dass die strukturale Anthropologie Lévi-Strauss’scher
Prägung sich aus theorie-immanenten Gründen offensichtlich nicht dazu
eignet, die Dynamik der Moderne angemessen zu beschreiben. Dass neue
Kulturen entstehen können, die dem Veränderungsdruck der Moderne
gewachsen wären, ist in diesem Denken nicht vorgesehen.
Die zweite unmittelbare, durchaus noch problematischere Konsequenz
dieser Sichtweise besteht darin, dass eine Kultur anderen Kulturen gegenüber fremd bleiben muss, weil eine Verbindung oder gar Vermischung
von Kulturen laut Lévi-Strauss weder möglich noch wünschenswert ist:
Kulturen würden »Eisenbahnzügen ähneln, die mehr oder weniger schnell
verkehren, jeder auf seinem eigenen Gleis und in verschiedener Richtung«
(Lévi-Strauss 2008 b, 31). Dieses Bild von Kultur impliziert nicht nur,
dass Kulturen die Eigenart, ja die »Identität« einer Gruppe bestimmen
und fixieren, sondern vor allem, dass sie sich nur um den Preis des
Identitätsverlustes mit anderen Kulturen vermischen könnten – wenn
es nicht schlicht bedeutet, dass Kulturkontakt zu »Eisenbahnunfällen«
führen muss.
Ich verwendete eingangs die Formulierung »Kultur ist ›Identität‹«.
Das kann bedeuten: Wir sind immer nur das, was wir kulturell sind.
Das ist eine vergleichsweise harmlose These – denn was soll eine Gruppe
anders sein, als wie sie sich in ihren Geschichten darstellt, wie sie musiziert, wie sie philosophiert, wie sie glaubt etc.? Doch die Formulierung
»Kultur ist ›Identität‹« kann eben auch bedeuten – und bedeutet sie bei
Lévi-Strauss −: Weil Kulturen etwas Ursprüngliches, etwas ganz und gar
Eigenes sind, könnten wir unsere Kultur nur um den Preis des Identi29
Philipp Sarasin
tätsverlustes und damit des Untergangs als Kultur ändern. Damit aber
kommt man sehr schnell bei heutigen Theorien und politischen Haltungen an, die allen fremden kulturellen Einflüssen gegenüber skeptisch bis
feindlich eingestellt sind. Mit einer solchen Auffassung am meisten Erfolg
hat der amerikanische Politologe Samuel Huntington, der mit seiner
berühmt-berüchtigten Theorie vom Clash of Civilizations behauptet, dass
es fixe, in sich weitgehend geschlossene »Kulturkreise« gebe – er nennt
sie »Zivilisationen« –, die in einem Zeitalter der Migration nicht anders
als aneinandergeraten können, weil sie als Ganze unvereinbar seien.
Diese Unvereinbarkeiten können gar nicht anders, so Huntington, als zu
heftigen Konflikten, ja zu einem globalen clash der Kulturen zu führen
(Huntington 1993; 1997).
Allein, trotz dieser Ähnlichkeit des Denkens über Kulturen bei der
heutigen politischen Rechten mit gewissen Überlegungen von Lévi-Strauss
soll nicht der Eindruck entstehen, dass Huntington das Erbe des Strukturalismus repräsentiert. Dieser Eindruck wäre nicht nur insofern falsch,
als Huntington sich nicht auf Lévi-Strauss bezieht (man kann auch aus
anderen Gründen auf solche Ideen kommen). Vor allem aber wäre dieser
Eindruck falsch, weil die sogenannten Poststrukturalisten – also die unmittelbaren philosophischen Erben von Lévi-Strauss – sich von einigen
problematischen Seiten der strukturalen Anthropologie distanziert haben,
um aber weiterhin an ihren wichtigsten Einsichten festzuhalten. Zum
Schluss sei daher auf drei poststrukturalistische Perspektiven hingewiesen,
die uns erlauben werden, nochmals einige Grundfragen der Kulturtheorie
aufzugreifen.
Die erste poststrukturalistische Perspektive, die ich nennen will, ist
an den Namen des französischen Philosophen und Historikers Michel
Foucault geknüpft. Foucault hat sich in ganz besonderer Weise vom Strukturalismus entfernt: Er greift wieder auf die Geschichte zurück. Foucault
wurde zwar im Denken des Strukturalismus geschult, rezipierte aber auch
Marx und Freud – und er liest in der Mitte der 1950er-Jahren Nietzsche.
Von Nietzsche lernt er, dass es keine ahistorischen, der Geschichte vorgelagerten Strukturen gibt, sondern nur Werte und Wahrheiten, die in langen, oft blutigen Kämpfen sich durchgesetzt haben. Daher kann Foucault
dann vorschlagen, die Kultur der Moderne in einer Weise zu analysieren,
die gewissermaßen Lévi-Strauss und Nietzsche kombiniert: Foucault fragt
nach strukturellen Mustern – er nennt sie Diskurse −, die zum Beispiel
wissenschaftlichen Aussagen, etwa in der Psychiatrie oder der Medizin
30
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
um 1800, zugrunde liegen – und er fragt nach den Machtverhältnissen,
die mit diesen Aussagen verbunden sind (vgl. u.a. Foucault 1973; 1976;
1991). Auch für Foucault ist Kultur kein Produkt des Geistes bzw. des
Bewusstseins oder der Schöpferkraft eines Autors, sondern ein Effekt
von − nun, nicht mehr eigentlichen Strukturen à la Lévi-Strauss, aber
doch von Diskursen, in deren Rahmen es einem Autor möglich ist, eine
Wahrheit zu sagen. Diskurse sind durch und durch historisch, sie entstehen immer wieder neu – und sie entstehen auch durch den Kontakt und
die Vermischung von Kulturen (ein Wort, das Foucault übrigens kaum
verwendet), genauer gesagt, mit anderen Diskursen. Und die Wahrheiten, die die Diskurse ermöglichen, sind Wahrheiten im nietzscheanischen
Sinne: Sie sind das Endprodukt von Kämpfen um Bedeutungen, und sie
sind daher auch für Foucault nicht etwa ein Spiegel der Dinge selbst. Mit
Foucault und anderen Poststrukturalisten kann man vielmehr sagen, dass
die Dinge in der Welt, wie wir sie wahrnehmen und erkennen können,
eine »Konstruktion« sind. Sie sind als erkennbare und begreifbare Dinge
hervorgebracht worden durch unsere Diskurse, unsere Medien und unsere
Techniken, kurz: durch unsere Kultur. Wer sich in ganz anderen Diskursen
bewegt – zum Beispiel im Raum religiöser Glaubenssysteme im Gegensatz
zu wissenschaftlichen Diskursen –, lebt so gesehen in einer anderen Welt.
Das durchaus nicht ungefährliche Bild der Eisenbahnschienen, das LéviStrauss verwendet hat, ist also nicht ganz fern: Weil Kulturen oder im
engeren Sinne Diskurse die Art und Weise bestimmen, wie wir die Welt
wahrnehmen, sind mitunter fundamentale Deutungskonflikte über die
Welt unausweichlich.
Was Foucault und andere Poststrukturalisten hingegen von LéviStrauss unterscheidet, ist nicht nur die Annahme, dass Diskurse historisch veränderbar sind, sondern genauer noch, dass die dauernde Kombination und Neuformierung von verschiedenen kulturellen Elementen
− von älteren ebenso wie von fremden Elementen − überhaupt das ausmacht, was wir »Kultur« nennen. Es gibt aus dieser Perspektive keinen
reinen, ursprünglichen Diskurs, der eine anfängliche Wahrheit für immer
bewahren würde. Kultur ist immer hybrid, vermischt und sich laufend
verändernd (Bronfen et al. 1997) – auch wenn Diskurse genau darauf
angelegt sind, sicherzustellen, dass gewisse Traditionen und Wahrheiten
eine Weile lang bestehen bleiben sollen. Doch auch wenn das so ist und
eine Wahrheit jeweils eine Weile lang – 2000 Jahre wie im Fall der römischen Kirche oder eine Saison lang wie im Fall der Mode – von einem
31
Philipp Sarasin
Diskurs stabilisiert werden kann, so ist doch keine Wahrheit ewig, weil
sie auf eine ursprüngliche, letztlich göttliche Wahrheit verweisen würde.
Aus foucaultscher Perspektive gilt vielmehr: Das »ewig Wahre«, das
»Ursprüngliche« und das »Authentische« sind Fiktionen, die jeweils sehr
gegenwärtigen Interessen dienen.
Was das heißt, wird vielleicht noch etwas deutlicher, wenn man sich
die zweite poststrukturalistische Perspektive vor Augen hält, die sich
mit dem Namen Jacques Derrida verbinden lässt. Man könnte sagen,
dass Derridas Sprachphilosophie den Strukturalismus von Lévi-Strauss
nicht so sehr auf dem Feld der Geschichte angreift oder weitertreibt,
sondern auf dem Feld der Linguistik. Angeregt unter anderen vom strukturalistischen Psychoanalytiker Jacques Lacan betont Derrida, dass die
Zeichen, deren angeblich stabile Strukturen Lévi-Strauss untersuchte, in
Tat und Wahrheit sehr unstabile Gebilde sind. Daher ändere sich deren
Bedeutung ständig ein wenig, und zwar abhängig vom Kontext und den
Verwendungsweisen eines Zeichens. Oder mit anderen Worten – die wiederum an Nietzsche erinnern –: Sprache funktioniere eigentlich immer
nur metaphorisch, das heißt, sie versuche mit Worten, die im Grunde
immer nur Sprachbilder seien, »etwas« über die Welt zu sagen, ohne je
eine Bedeutung bzw. eine Wahrheit endgültig und damit abschließend
fixieren zu können (Derrida 1988).
Diese These Derridas hat eine direkte Konsequenz: Die Unmöglichkeit,
einen Sinn abschließend zu fixieren, bedeutet, dass es auch so gesehen
nichts mehr gibt, das auf ewig als fest und gewiss gelten kann – und
zwar nicht, wie gesagt, weil Aussagen historisch sind (das ist Foucaults
Position), sondern weil sie der Sprache unterworfen sind. Kulturen oder
Identitäten sind auch für Derrida und andere Vertreterinnen und Vertreter
des linguistic turn nichts Fundierendes, Sicheres, ganz und gar Eigenes
mehr, sondern bewegen sich ständig mit den sich ändernden Weisen
des Zeichengebrauchs, des Sprechens oder des Schreibens. Auch das
Subjekt selbst – also jeder Mensch − ist diesen unstabilen Sprachzeichen
unterworfen und kann nicht mehr sagen: das oder jenes bin »ganz und
gar« ich »selbst«, unveränderlich und gewiss … Auch das Subjekt muss
sprechen – und kann sich selbst dabei letztlich immer nur verfehlen, wie
die Psychoanalytiker anmerken (Lacan 1991).
Eine weitere Konsequenz aus diesem Gedanken Derridas führt direkt
zur dritten und letzten Perspektive, die ich aus dem Feld der poststrukturalistischen Kulturtheorien herausheben will und die man mit dem Namen
32
Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick
des deutschen Medientheoretikers Friedrich Kittler verbinden kann. Denn
auf dem Hintergrund der eben skizzierten Überlegungen liegt die Überlegung nahe: Wenn die Sprachzeichen, oder genauer noch die Signifikanten,
ein so großes Gewicht haben, dass sie den Sinn bestimmen und damit
überhaupt die Kultur und alles, was damit zusammenhängt, dann wird
es notwendig, diese materielle Seite der Bedeutungsproduktion genauer
zu untersuchen (Kittler 1980; 1995). Derrida selbst hat sehr betont, dass
die Schrift etwas anderes sei als die Sprache, und angeregt von ihm haben
in den letzten drei Jahrzehnten viele Kulturtheoretikerinnen und -theoretiker gezeigt, dass wir die Materialität der Medien analysieren müssen.
Denn Bedeutungen entstehen nicht einfach nur im luftleeren Raum der
symbolischen Systeme – also des Netzes der Zeichen von de Saussure bis
Lévi-Strauss −, sondern immer auf der Grundlage von spezifischen materiellen Zeichenträgern und in bestimmten Medien, die im 20. Jahrhundert
zunehmend technologisch hochgerüstet wurden.
Ich bin damit am Ende dieses Versuchs angelangt, einen Überblick über
einige Strömungen des kulturanalytischen Denkens zu skizzieren. Es ist
klar, dass vieles dabei unberücksichtigt bleiben musste. Die wichtigste
Auslassung war dabei vielleicht die Bildtheorie: Die Frage, wie Kulturanalytikerinnen und -analytiker heute über Bilder denken, wie sie Bilder analysieren und welche Funktion Bilder in unseren Gesellschaften
haben, ist gegenwärtig ein zentrales Forschungs- und Diskussionsfeld
(vgl. weiterführend Gillian 2007; Bredekamp 2007; Boehm 2007). Doch
dieses hat sich z.T. auf anderen philosophischen Linien herausgebildet
als denjenigen, die ich hier vorgestellt habe. Auf einen einzigen Punkt
hingegen möchte ich hier zurückkommen, auf die eingangs angedeutete
Entgegensetzung von Kultur und Natur. Die Wissenschaftsgeschichte,
die historische Epistemologie und die Wissenschaftssoziologie der letzten
drei Jahrzehnte hat genau diesen für unsere Kultur so grundlegenden und
selbstverständlichen Gegensatz infrage gestellt (vgl. z.B. Fleck 1993; Bloor
1976; Canguilhem 1979; Lenoir 1992; Haraway 1996; Rheinberger 2001;
Latour 2002; Hacking 2006). Denn in dem Maße, wie es menschliche
Zeichen, Werkzeuge und Medien sind, die sich der Welt bemächtigen,
kann auch »Natur« nicht mehr länger als das vor jeder menschlichen
Aktivität fraglos Gegebene erscheinen. Im Zuge der kulturtheoretischen
Veränderungen, die wir hier unter dem Titel des linguistic turn und des
Poststrukturalismus kennengelernt haben, aber auch angetrieben durch
33
Philipp Sarasin
wissenschaftssoziologische Studien, geriet »Natur« in den Sog der Kultur
und ließen sich die Naturdinge als wahrgenommene, klassifizierte und
analysierte, als bearbeitete, verwertete oder zerstörte epistemisch nicht
mehr länger als das ganz andere von Kultur denken. Das bedeutet nicht,
die »Realität« von »Natur« zu leugnen – aber es bedeutet festzustellen,
dass uns als Kulturwesen ein ursprünglicher, reiner und unverstellter
Zugang zur Natur verwehrt bleibt. Weil wir aber nicht in geschlossenen
Zeichenwelten leben, sondern als lebende Wesen mit der Biologie und der
anorganischen Chemie unserer Umwelt und unseres Körpers verflochten
sind, und unser Denken aufhört, wenn der Körper stirbt, muss auch die
Rede von »Kultur« so offen und bruchstückhaft bleiben wie jene von
»Natur«.
Anmerkungen
1
2
3
Vgl. dazu die klassische Analyse dieser Unterscheidung bei Norbert Elias (1976, Bd. 1, 1–64).
Dazu grundlegend und stellvertretend für eine sehr ausgedehnte Literatur Barkow et al.
1992.
Dies betont auch der Evolutionstheoretiker Richard Dawkins (2005, 304–322).
Literatur
Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart 1996.
Barkow, Jerome H.; Cosmides, Leda und Tooby, John (Hg.): The adapted mind.
Evolutionary psychology and the generation of culture. New York 1992.
Bloor, David: Knowledge and Social Imagery. London 1976.
Boehm, Gottfried (Hg.): Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007.
Bredekamp, Horst: Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und
Reden. Berlin 2007.
Bronfen, Elisabeth; Marius, Benjamin und Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen.
Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997.
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36
Helmut Lethen
»Schmerz hat keinerlei Bedeutung« (Paul Valéry)
Oder: Gibt es Ereignisse, die den
Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
In einem Nachtrag zu seinem Buch Einbahnstraße aus dem Jahre 1928
schreibt Walter Benjamin:
»Wäre nicht jede Krankheit heilbar, die sich auf einem genügend breiten, tiefen
Strome des Erzählens verflössen ließe? Es fällt darauf ein noch helleres Licht,
wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt, gewissermaßen als
Damm die Lebenssäfte absperrt, die als Nebenflüsse in den großen epischen Strom
des Daseins – des erzählbaren Lebens – münden wollen.« (Benjamin 2009, 208)
»Wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt« – diese
Beobachtung von Benjamin führt uns ins Zentrum einer Kontroverse
in den Kulturwissenschaften. Ich betrachte sie als einen Einwurf gegen
eine Strömung in den deutschen Kulturwissenschaften, die sich in den
letzten Jahrzehnten unter der Parole »Auch Schmerz ist eine kulturelle
Konstruktion!« durchgesetzt zu haben schien. Inzwischen gibt es einen
aufschlussreichen Richtungskampf, an dem Mediziner, Neurowissenschaftler, kognitive Psychologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler
und Philosophen beteiligt sind, um die »Evidenz« des Schmerzes zu
ergründen. Die extremen Pole dieser Auseinandersetzung könnte man
folgendermaßen bestimmen:
1. Schmerz durchschlägt alle Zeichensysteme. Er ist von keiner kulturellen Grammatik geprägt. Schmerz ist ein Indiz des vor-diskursiven
Körpers. Im Schmerz legt der Körper die Raster der Medialität ab.
37
Helmut Lethen
2. Die kulturalistische Reaktion ist ebenso entschieden. Sie lautet: Schon
die »schiere« Empfindung des Schmerzes ist kulturell gelernt, seine
Äußerungsformen stammen aus einem alten Archiv rhetorischer, bildnerischer, körpersprachlicher oder akustischer Leidensformeln. Die
Tatsache, dass der Ausdruck des Schmerzes gemeinhin als unmittelbares Signal des Körpers, das nicht durch Medien kodiert ist, verstanden wird, ist ein Effekt, der von Kunstgriffen der Medien ausgelöst
wird.
Es ist deutlich, dass hier offenbar über verschiedene Phänomene geurteilt
wird. Einmal über das physiologisch bedingte Empfinden, ein andermal
über Performanz- und Mitteilungsformen des Schmerzes. Insofern könnte
man beide Positionen nebeneinander bestehen lassen – wenn klar wäre,
in welcher Verbindung sich Kommunikationsformen des Schmerzes, das
Ereignis in der Erfahrungswelt des Betroffenen, physiologische Ursachen
und Darstellungsformen zueinander befinden und wie sich Verhaltenslehren des Schmerzes (stoische, naturwissenschaftliche, christliche u.a.) in
verschiedenen historischen und sozialen Konstellationen verändern. Die
Konzentration auf den Schmerz wirft aber auch die Frage auf, warum –
gemessen an dem großen Spektrum der Empfindungen – gerade dieser –
und nicht Hunger, Durst oder Lust – als heiß umstrittener Indikator des
»Realen« gilt und das Nachdenken über »Evidenz« um ihn kreist.1
I. Die kulturwissenschaftliche Wende
1991 erscheint das Buch Culture of Pain von David B. Morris, ehemals
Professor für Englische Literatur an der Universität von Iowa; 2003 das
Buch Schmerz des Straßburger Soziologen David Le Breton. Das 4. Kapitel
in Le Bretons Buch trägt den Titel »Die soziale Konstruktion des Schmerzes«. Beide Bücher werfen die Frage auf, inwiefern Äußerungsformen
des Schmerzes sozial konstruiert sind. Die Antwort der beiden Autoren
besteht aus Begründungen, die ich vereinfacht wiedergebe:
– Schmerz kann nicht als rein physiologische Reaktion definiert werden. Was ein Individuum empfindet, ist kein direkter »Bewusstseinsabdruck« der Verletzung. Schmerz verhält sich nicht proportional zur
Schwere einer Verletzung. Die menschliche Physiologie funktioniert
niemals im »luftleeren Raum des Biologischen«. Sie ist vielmehr vom
38
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
Raster sozialer und kultureller Symbole gezeichnet. (Le Breton 2003)
(Das leuchtet ein, wirft jedoch die Frage auf, warum ein Raum jenseits
symbolischer Konstruktionen für den Kulturalisten gleich »luftleer«
ist.)
– In jeder Schmerzempfindung durchläuft ein physiologischer Impuls
eine soziale, kulturelle und psychologische Filterung. Zwischen dem
Auslöser und der Empfindung befindet sich das Individuum in seiner
ganzen Dichte im Sinnsystem seiner Kultur. Der Schmerz hat eine
individuelle Färbung in jeder Lebensgeschichte.
– Jede Gesellschaft hat den Schmerz in ihr Weltbild integriert und ihm
einen Sinn zugesprochen, der ihm seine unmittelbare Nacktheit nimmt.
Die kollektive Bedeutung, die dem Schmerz zugesprochen, und die
ritualisierten Bekundungen, durch die er sich den anderen mitteilt,
sind zugleich symbolische Abwehrmechanismen, auf die der Mensch
zurückgreifen kann, um sein Leiden unter Kontrolle zu bekommen.
(Morris 1996, 121)
(Das leuchtet ein, wirft jedoch die Frage auf, in welchen Medien der
Schmerz in seiner »unmittelbaren Nacktheit« zu erfassen wäre.)
Beide Wissenschaftler stützen ihre Überlegungen auf zahlreiche Fallgeschichten aus Schmerzkliniken.
Ich möchte Sie auf eine kurze Reise durch die Literatur des Schmerzes
mitnehmen, die ich Ende des 19. Jahrhunderts beginnen lasse. Es geht mir
um eine Überprüfung einer These von Elaine Scarry, die in ihrem Buch
The Body in Pain (1985) ein umstrittenes Fazit ihrer Untersuchung von
Folterprotokollen zog: Schmerz sei ein »sprachresistenter Gegenstand«.
Es geht mir um einen Satz, den Paul Valéry schon Ende des 19. Jahrhunderts in seine Cahiers schrieb: »Schmerz hat keinerlei Bedeutung«
(1987–1993, Bd. 6, 591). Das ist ein Satz, der den theologisch kodierten
Schmerzdiskurs, die christliche »Heils-Maschinerie« (Friedrich Nietzsche)
mehrerer Jahrhunderte umstürzt. Er bezeichnet den vorläufigen Endpunkt
eines Prozesses, in dem die theologischen Zurechtlegungen des Schmerzes
abgeräumt wurden. Immer hatte es schon Geheimnisträger des Schmerzes
gegeben, die ihr Gefühl nicht preisgegeben hatten. Das hatte ihrem Stoizismus entsprochen oder war eine Herrschaftstechnik oder eine Verhaltenstechnik gewesen, mit dem man am Herrschaftswissen zu partizipieren
dachte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ändert sich der weltanschauliche
Rahmen, eine neue Verhaltenslehre des Schmerzes wird wissenschaftlich
39
Helmut Lethen
legitimiert. Die Leitdisziplin der Physiologie hat den Schmerz allmählich
aus seiner Überwölbung durch christliche oder stoische Sinngebung gelöst. Erst jetzt kann der Schmerz auf ein rein physiologisches Moment
reduziert werden, auf einen »elektrischen Impuls«, der durch die Nerven
schießt, und es kursieren die ersten Erzählungen, in denen der Schmerz
nur eines bedeutet, nämlich: Nichts. (Morris 1996, 390)
Das soll in einem ersten Schritt an Paul Valérys Erzählung Monsieur
Teste von 1893 erläutert werden.
II. Grau in Grau
Paul Valéry lässt sich auf den zum Ende des 19. Jahrhunderts kursierenden
Nervendiskurs der Ärzte ein, wenn er sich für das Nervensystem eine
besondere Schaltung erbittet, die es »mit Sicherungen« versieht, »die bei
zu heftiger Erregung, und wenn der Wille es wünschte, die Verbindungen
zwischen den Zentren und den Auslösern der Emotionen unterbrechen
und die Störung auf die Nulleitung umlenken« (Valéry 1987–1993, Bd. 1,
116 f.).
Diese Lösung entwirft er 1893 für seine Versuchsperson Edmont Teste.
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf den Kontext der Schmerzerfahrung dieser Gestalt.
Teste wohnt ärmlich. Wir finden ihn in einem kleinen, notdürftig
möblierten Appartement. »In dem grünlichen, nach Minze riechenden
Zimmer war rings um die Kerze bloß das trostlose abstrakte Mobiliar –
Bett, Uhr, Spiegelschrank, zwei Armstühle –, als seien es Vernunftwesen«,
kurz: eine »frostige Kammer«, rein und distinkt, ein kartesianisches Logis
(Valéry 1992, 315 f.).
Monsieur Teste geht davon aus, dass die »Intensität der Gefühle« sich
nicht zum Austausch zwischen den Menschen eignet. Spontane Äußerungen der Leidenschaften adeln den Menschen nicht. Sie demütigen ihn
vielmehr, machen ihn zu einem soziologisch erfassbaren Querschnittstyp.
Profilieren kann man sich nur über den Scharfsinn des grauen Intellekts
(ebd., 364). Teste ist ein Typ, der die Verhaltenslehren der Kälte des
20. Jahrhunderts vorweg zu nehmen scheint. Er betrachtet die Mitwelt mit
einem »Trennungsblick« und strahlt »extreme Kälte« aus. In schlimmer
Lage klagt er nicht, sondern zählt stattdessen die »Knöpfe an der Jacke
des Henkers« (ebd., 366).
40
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
Erlaubt dieser Mustertyp der reflexiven »Kälte« Schwächen? Von Zeit
zu Zeit gestattet er sich Liebe, die, wie Madame Teste berichtet, für ihn
darin bestehe, »miteinander tierisch-töricht sein zu können – mit jeder
Freiheit zu Dummheiten und Bestialität« (ebd., 338).
Teste liegt vor allem daran, die Souveränität des Denkens durch Nichts
zu Fall bringen zu lassen. Man ahnt, das böse Ende naht. Am Abend
nach einem Theaterbesuch schweigt Monsieur Teste plötzlich: »Er litt
Schmerzen«. Nun dürfen wir Monsieur Teste beim Zubettgehn beobachten: »Er zog sich in aller Ruhe aus. Sein hagerer Körper badete sich in
Betttüchern und war wie tot. Dann dreht er sich und tauchte tiefer in
das zu kurze Bett.« Teste hebt erst einmal zu einem Monolog über seine
Körperwahrnehmung als Kind an, klammert sich an die Behauptung,
sich auch physisch »in- und auswendig zu kennen«, erklärt seine Liebe
zum vertrauten Leinentuch, das ihn umschmiege »wie Sand«, wenn er
sich tot stelle. Bis – »Ah.« Seine Rede stockt, als ob er plötzlich einen
»Materialfehler« in dem ihn umhüllenden Laken spüre. Valéry markiert
die Unterbrechungen im Text mit drei Punkten … Es sei »nichts Besonderes« meint der Held …, höchstens ein Zufall, der nicht länger als eine
Zehntelsekunde … dauere, nichts Nachhaltiges also (ebd., 316 f.).
Die Wiederholungen der Auslassungspunkte, die Einbrüche des pochenden Schmerzes markieren, geben dem Text einen gewissen Taktschlag. Mehr nicht. Drei Punkte als Zeichen der Ausdrucksleere. – Schlaf
wird ersehnt.
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatte sich der Einsatz von Auslassungspunkten in der Literatur eingebürgert, um zugänglich zu machen,
was sich der direkten Vermittlung entzieht (Abbt 2012). In dieser Tradition steht auch Valérys Text. »Deutlich übernehmen die Punktspuren an
dieser Stelle eine Katalysatorfunktion, durch welche dem Lesenden eine
Differenz zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Sprechen
und Erleben offenbar gemacht wird. Während bereits die prädikative
Sprache eine Differenz zwischen Urteil und Verhalten markiert, zeigen die
Punktspuren in der Schrift Wirkungen des Erlebens des Protagonisten an,
die nicht in Bedeutung übersetzt werden können.« (Ebd., 142)2 Es sind
also durchaus Zeichen. Aber wohin und auf was zeigen sie?
Die Unterbrechungen des Textes öffnen jedenfalls kein Fenster zu existenziellen Abgründen oder verdunkelten Geschichten der Psyche. Weder
Psychoanalytiker noch andere Schmerztherapeuten können frohlocken.
»Wenn der Schmerz plötzlich einbricht, erhellt er keine Vergangenheit:
41
Helmut Lethen
er illuminiert nur die gegenwärtigen Körperzonen. Er ruft lokalen Widerhall hervor« und reduziert »das Bewußtsein auf eine kurze Gegenwart,
auf einen zusammengeschnurrten, seines künftigen Horizonts beraubten
Augenblick«.
Die beiden letzten Sätze sind Schlussfolgerungen, die Jean Starobinski
(1987, 111) in seinem Kommentar zu Monsieur Teste in Anlehnung an
Reflexionen von Valéry zieht. Er formuliert damit die Quintessenz des
Abends mit Monsieur Teste, und er schließt sich Valérys Erkenntnis an:
»Die Intensität des Schmerzes« lasse sich »umgekehrt an der Freiheit
bemessen, die sie einem läßt«, ihn auszudrücken (ebd.). Er ermahnt uns,
mit Valéry die Grenzen der Psychoanalyse zu akzeptieren. Und er zitiert
Freud, der, nachdem ihm ein Furunkel aufgeschnitten worden war, an
Fließ geschrieben habe, das Empfindungsmaterial dieses Schmerzes könne
erzählend nicht bewältigt werden: »es tat zu weh«.
Der Schmerz findet in dieser Geschichte keinen Ausdruck – außer
den drei Auslassungspunkten, die auf eine Wirklichkeit jenseits der Zeichenwelt zeigen. Er durchkreuzt sprachlos den Anspruch seines Helden,
»Herr seiner Gedanken zu sein«. Extremer physischer Schmerz wird – so
die Logik des Textes – als lokales Körperereignis vom Psychischen abgespalten. Im Gegensatz zur Neurose bildet dieser physische Schmerz beim
besten Willen zur Sinngebung keine erzählerische Ausgestaltung. Solch
ein Schmerz hat, Valéry zufolge, »keinerlei Bedeutung«.
»Schmerz hat keinerlei Bedeutung.« Der lapidare Satz bezeichnet den
historischen Endpunkt einer Entwicklung, in der der Schmerz aus seinen
traditionellen kulturellen Codierungen gelöst wurde. Schmerz erscheint
zum ersten Mal als ein bedeutungsresistenter Gegenstand (Morris 1996,
13). Die Möglichkeit, einen solchen Satz zu formulieren, setzte, wie
gesagt, gewaltige Abräumarbeiten voraus. Physiologen und Anatomen
haben im 19. Jahrhundert scheinbar endgültig die christliche Semantik aus
dem kulturellen Körper entfernt (ebd.). Valérys Satz befindet sich in der
Nachbarschaft von Nietzsches Diktum »Gott ist tot«. Mit diesen Sätzen
legt sich die Kälte des Weltalls auf unsere Knochen. Valéry spricht einen
unerträglichen Gedanken aus oder vielmehr einen Gedanken, der seine
Unerträglichkeit zum Indiz der Wahrheit macht.
Jetzt bleibt vom Schmerz nichts als ein stumpfer Widerstand, den
das Bewusstsein, wie Valéry schreibt, einer »lokalen Disposition des
Körpers entgegensetzt« (zit. nach Starobinski 1987, 98). Henri Bergson
42
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
wird beinahe zeitgleich in seiner Schrift Matière et Mémoire von 1896 zu
einer ähnlich dynamischen Beurteilung des Schmerzes kommen, wenn er
den Schmerz als »motorische Anstrengung in einem sensorischen Nerv«
bezeichnet, als ohnmächtige, lokale Anstrengung eines aus der solidarischen Bewegung des Gesamtkörpers sich isolierenden Teils (zit. nach:
Schmitz 1985, 485).
An dem hier anhand einer literarischen Szene skizzierten, spärlich
beleuchteten Nullpunkt der Sinngebung in den 80er- und 90er-Jahren des
19. Jahrhunderts werden die Weichen für verschiedene Schmerzbearbeitungen gestellt, die im 20. Jahrhundert dominieren werden.
Ich selbst habe eine Zeitlang dazu geneigt, in Valérys Satz von der Bedeutungslosigkeit des Schmerzes einen Befreiungsakt erkennen zu wollen.
Ich stelle mir aber jetzt aufgrund der Diskussionen meines Vortrags in
Greifswald, Salzburg und Zürich folgende Fragen:
– Inwiefern liegt der Nobilitierung der Bedeutungslosigkeit des Schmerzes eine Ästhetisierung zugrunde? Wird Schmerz in unserer Gegenwart
wie die bedeutungslose Faktur eines modernen Gemäldes als Moment
des Erhabenen begriffen?
– Folgt aus der Entfernung der Sinnhaftigkeit des Schmerzes nicht eine
unheimliche Konsequenz für die Therapie: keine talking cure; freie
Bahn für die rein pharmakologische Behandlung?
– Wandert die Bearbeitung des Schmerzes, der seines Sinns beraubt wird,
aus der verbalen oder mimischen Ausdruckswelt in die Stummheit
einer stoischen Haltung des Widerstands gegenüber einem Körperimpuls?
– Bieten sich nach der Herauslösung des Schmerzes aus der christlichen
»Heils-Maschinerie« nicht profan-heroische Sinngebungen jeglicher
Couleur als Ersatz an? Im Ersten Weltkrieg wird Schmerz als Kontaktstelle mit dem »Urgrund des Seins« ontologisiert werden.
Erhellend wirkt die Kombination dieser vier Einwürfe. So kann die pathetische Hinwendung zur Bedeutungslosigkeit in geheimem Bündnis mit der
Feier der Pharmakologie stehen. Schon bei Valéry haben wir die Überschätzung des naturwissenschaftlichen Blicks auf das Nervensystem in
Verbindung mit der Neigung zur stoischen Haltung beobachten können.
Und schließlich kann die Wertfreiheit einer leeren Empfindung durchaus
mit der Vorstellung eines durch keine Normen begrenzten Handlungsraums einhergehen.
43
Helmut Lethen
Allerdings scheint es mir inzwischen falsch zu sein, aufgrund eines einzigen literarischen Zeugnisses vom »Nullpunkt der Sinngebung in den
80er- und 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts« zu sprechen. Beispiele der
Hochkultur wie Monsieur Teste verführen zur Übertreibung. Sie werden
leichtfertig zu Symptomen einer allgemeinen mentalen Lage gemacht.
Neuere Forschung hat das Spannungsfeld erschlossen, auf dem Ende
des Jahrhunderts über Schmerz nachgedacht wird. Diese Jahrzehnte sind
von dem säkularen Narrativ des Wissenschaftsglaubens geprägt. Die
neuen Techniken der Anästhesie, die zunehmende Verfügbarkeit effizienter Schmerzmedizin, ändern das Verhältnis zum Schmerz. Vor allem
der Arbeit von Elisa Primavera-Lévy »An sich gibt es keinen Schmerz«.
Heroischer und physiologischer Schmerz bei Nietzsche im Kontext
des späten 19. Jahrhunderts (2011) und ihrem Buch Die Bewahrer der
Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur
und Kultur (1870–1945) (2012) verdanke ich Einsichten, die meinen
Valéry-Kommentar relativieren.
Dass Nietzsche Befürworter eines heroischen Schmerzes ist, war bekannt. In seinem Nachdenken über den Körperschmerz von Schopenhauer
als Erzieher bis zum Nachlass der späten 1880er-Jahre lässt sich aber noch
eine weitgehend unbekannte Spur verfolgen, die in das Dickicht der zeitgenössischen Physiologie führt. Einerseits revitalisiert Nietzsche in seinem
Protest gegen ein Bürgertum, das sich der »Schule körperlicher Qualen«
zu entziehen sucht, ein Motiv von Kant, der im Schmerz den »Stachel
der Tätigkeit« erkennen wollte. Nietzsches heroische Schmerzrhetorik ist
vor dem Hintergrund der Medikalisierung des Schmerzes, die für ihn mit
dem Verlust metaphysischer Leidensdeutungen einhergeht, zu begreifen.
Elisa Primavera-Lévy (2011, 137) beleuchtet diese Tendenz bei Nietzsche
mit einem lakonischen Satz: »Wenn Leiden ohne Bedeutung das Problem
ist, dann ist stimulierender Schmerz die Antwort.« In der »freiwilligen
Uebung des Schmerzes« soll die Autarkie des Einzelnen gestärkt werden.
Nicht nur die europäischen Avantgardisten haben diesen radikalen Gedanken aus Nietzsches Werk isoliert. Ihre Rezeption halbiert Nietzsches
Denken. Sie nahmen nur wahr, was ihren Handlungsoptionen von Nutzen
schien. Sie übersahen, dass Nietzsche aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Befunden der Physiologie auch zu dem
Schluss gekommen war, dass der Schmerz ein »äußerst unzuverlässiger
Indikator von Realität« sei (ebd., 133). »Das ist unser größter Irrtum, zu
meinen, die Wirklichkeit eines Vorgangs werde durch Lust und Schmerz
44
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
bewiesen, hier gehe es am realsten zu«, hatte Nietzsche 1883 geschrieben
(KSA 10, 252; zit. nach: Primavera-Lévy 2011, 133). Denn »Schmerz ist
ein Gehirnprodukt« und als solches verwoben in »eine Unsumme von
Werthschätzungen und Irrtümern« (KSA 9, 565) sowie Rückständen archaischer Menschheitsperioden (Primavera-Lévy 2011, 147). Und so war
er schon früh zu einer Ansicht von der Evidenz des Schmerzes gekommen,
die wenig mit schmerzgestählter Mannbarkeit zu tun hatte. Erstaunlich ist
vielmehr die Ähnlichkeit von Nietzsches Überlegung mit dem jetzt wieder aktuellen Konzept der Kulturalisten, die nicht gerade auf asketische
oder militante Tätigkeiten aus sind: »Ich meine: Lust und Schmerz und
Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken.
[…] Lust und Schmerz ist wie eine Kunst ausgebildet worden« (KSA 8,
431; zit. nach: Primavera-Lévy 2011, 147).
III. Schmerz und Krieg
Als der Chirurg Ferdinand Sauerbruch und der Pädagoge Hans Wenke
1936 die Schrift Wesen und Bedeutung des Schmerzes herausgeben,
können sie auf eine Zeit unermesslichen Kriegsleidens zurücksehen. Die
Weimarer Republik war ein Zeitraum gewesen, in dem man mit zwei
gegenläufigen Strebungen fertig werden musste: Im Krieg hatte die Sinngebung des Schmerzes als Element der Kampfmoral einen mächtigen
Auftrieb bekommen. Die Niederlage hatte die Menschen der unerträglichen Gewissheit ausgeliefert, dass alles Leid umsonst gewesen sein
könnte. In den Wissenschaften der Nachkriegszeit kursierten zwar sehr
unterschiedliche Konzeptionen des Schmerzes, die Republikgegner waren
sich allerdings einig, dass der »Liberalismus« gegen den Schmerz nicht
mehr aufzubieten habe als die Narkose.
Seltsamerweise wird der Krieg in Sauerbruchs und Wenkes Kapitel
»Ärztliche Erfahrungen über den Schmerz« nur in Zusammenhang mit
einem erstaunlichen Phänomen der Herabsetzung des Schmerzes erwähnt,
das die Chirurgen früher »Wundstupor« nannten:
»Wer als Arzt im Felde unsere braven Kameraden zu betreuen hatte, der weiß
aus hundertfältiger Beobachtung, daß viele unter der Last und den Strapazen
des Dienstes oder der zermürbenden Wirkung von andauernder Spannung und
Gefahr, von Erschütterung und Schreck, sich selbst verloren. Dann reichte ihr
Denken nicht einmal mehr für die primitiven vegetativen Lebensfunktionen aus.
45
Helmut Lethen
In einer solchen Verfassung war kein Raum mehr für die Schmerzempfindung,
so daß notwendige Eingriffe ohne künstliche Betäubung möglich waren.«
(Sauerbruch/Wenke 1936, 13)
Dass der »Seelische Wundstupor« nicht nur ein Zeichen der Erschöpfung,
sondern auch eine Begleiterscheinung des Heldenmuts sein konnte, erläutert Sauerbruch am Beispiel eines Leutnants. Dieser sei so erregt von der
Gefahr eines nächtlichen Sturmtrupps gewesen, dass er die Amputation
seines Arms, die ohne Betäubung durchgeführt wurde, kaum bemerkt
habe.
Dass der Chirurg sich in Erinnerung an die Materialschlachten ausgerechnet auf diese Form herabgesetzter Schmerzempfindung konzentriert,
mag symptomatisch für die zwei Jahrzehnte nach dem Krieg gewesen sein,
die vom Willen gekennzeichnet waren, sich gegen den Schmerz zu immunisieren. Die Faszination des Phänomens »Wundstupor« verknüpfen die
Autoren einerseits mit dem »altpreußischen Ideal soldatischer Erziehung«,
andererseits mit Nietzsches Gedanken vom Schmerz als »arterhaltendem
Wert«. Vor allem aber scheinen sie im Bann von Ernst Jüngers Schrift
Über den Schmerz zu stehen, die drei Jahre zuvor erschienen war. Schmerz
erscheine bei Jünger als der »eigentliche Urgrund des Lebens«. »Disziplin«
bezeichne Jünger als »die Form, durch die der Mensch die Berührung mit
dem Schmerz« und damit seinen Kontakt mit dem Elementarreich des
Lebens aufrechterhalte (ebd. 110). Jünger hatte empfohlen, die Frontlinie
des Schmerzes aufzusuchen, um an ihr die Haltung der Apathie und die
Kälte des Blicks zu stählen.
Man mag Jüngers Essay als ein Symptom für soldatische Apathie
abschätzig beurteilen. Mich interessiert eher seine hellsichtige Diagnose,
die er dem Liberalismus der Weimarer Republik – wo immer er verortet
sein mochte – stellt. Der Liberalismus ist für ihn eine Gesellschaftsform,
die den Schmerz aus den Binnenräumen der Gesellschaft an die Ränder
vertreibt, wo in Kliniken, Gefängnissen und Kasernen Spezialisten des
Schmerzes ihre Arbeit verrichten, während die Massenmedien Bilder
des Schmerzes in den Innenraum der Gesellschaft einspeisen, wo sie wie
Drogen inhaliert werden. Die Arbeit eines stoischen Bewusstseins ist dabei
kaum mehr erforderlich. Die Abspaltung des Schmerzes wird, so prognostiziert Jünger, der Flucht technischer Bilder in populären Zeitschriften
und Magazinen überantwortet. Ataraxia, Herzenskälte, stellt sich im
massenmedialen Raum automatisch her. Die neuen Medien werden von
46
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
ihm als Empathie-Entsorgungsgeräte begriffen, in der Regel abgewehrt
und nur im Fall der Fotografie zugelassen.
Liest man jetzt die 2010 veröffentlichten Originalaufzeichnungen von
Jüngers Kriegstagebüchern, so erlebt man den Apothekersohn als einen
Abenteurer mit extrem hoher motorischer Intelligenz, der im Denkstil
der harten Disziplinen des 19. Jahrhunderts erzogen wurde. Als Kämpfer
kommt er ohne pathetische Sinngebung aus. Keine Feindschaft, wenig
»Rasse«, außer der der »Krieger«, fast null Nationalismus. Jagdinstinkt –
das ist die einzige Triebkraft, die sich feststellen lässt. »Sachlichkeit«
bezeichnet die Schreibhaltung, mit der er die Kontingenzen der Schlacht
auf den kleinen Formaten seiner Notizhefte zu bannen sucht. »Stupor«
als Unfähigkeit oder Stolz, sich von der Welt affizieren zu lassen, wird
ausgestellt. Und der Schmerz? Der Blick des jungen Leutnants erfasst die
Leichen auf dem Niemandsland des Schlachtfelds in ihrer katatonischen
Erstarrung oder organischen Auflösung. Eine seiner eigenen Verwundungen beschreibt er wie folgt. Er spürt einen starken Schlag gegen den
linken Unterschenkel und besieht sich die Sache:
»Hinten war ein großes Loch in die Wickelgamasche gezackt, aus dem sich eine
Blutlache auf den Boden ergoss. Ich muß bemerken, dass ich während der ganzen
Geschichte meine Pfeife im Mund behalten und auch noch weiter geraucht hatte.
Die Leute legten mich auf eine Decke, machten die Wunde frei und gaben mir
Wasser. Hinten über dem Knöchel hatte ich eine größere Wunde, vorn lag die
Schrapnellkugel, die sich deutlich unter der dicken Haut abhob. Sie verbanden
mich und riefen den Sanitäter.« (Jünger 2010, 182)
Ist dieser Leutnant ein Stoiker, der wie ein antiker Stoiker den Affekt als
eine Art von Urteil zur Kenntnis nimmt und deshalb glaubt, den Schmerz
durch sein entschlossenes Argument, er sei kein Übel, neutralisieren zu
können? Wahrscheinlich spürt Jünger den Schmerz der frischen Wunde
nicht, weil »die Aufregung der Schlacht gleich einer großen Woge ihn
weiterträgt« (Schmitz 1985, 4810). Vielleicht verdankt sich die Haltung des Stoßtruppführers aber auch einem systematischen Schmerzkontrolltraining, das durch autosuggestive Konzentrationsübungen
Trancezustände herbeiführt. Entdeckt er im Schmerz eine biologisch
zweckmäßige Anpassung als Warn- und Abwehrreaktion, die eine Kette
pragmatischer Handlungen auslösen muss, die ihn ins Lazarett bringen?
Oder schielt der schriftstellerisch ambitionierte Junge schon auf Ver47
Helmut Lethen
öffentlichung, ahnend, dass mit Affektverweigerung starke emotionale
Wirkungen ausgelöst werden können? (Vgl. Koppenfels 2007, 18)
Das kann nicht entschieden werden. Aber Jüngers Technik, die Situationen, in denen Ausdrücke des Schmerzempfindens wahrscheinlich sind,
zu erzählen, führt uns auf eine Spur, die nachweisbar ist. Denn seine
apathische Erzählweise hat eine auffällige Ähnlichkeit mit den Aufzeichnungsformen, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zeichen der mechanischen Objektivität in Kliniken der Psychiatrie entwickelt worden
waren. Geht Apathie von einer Entkoppelung des Affektausdrucks von
ihrer möglichen psychologischen Korrelation aus, so entfernt apathische
Erzählweise alle Momente der Mimesis des Affektes. Yvonne Wübben
(2011) entdeckt die formalen Merkmale dieses Stils in parallelem Satzbau,
konstanter Blickrichtung, summarischem Aufzählen und der Monotonie
der Serienbildung und Listenaufstellung.
Kaum hatte ich von diesen Merkmalen apathischer Erzählweise gehört, wurde mir schlagartig klar, warum die Kriegstagebücher von Jünger
übersät sind von sinnlosen Listen, endlosen Aufzählungen etc. Wie gerät
z.B. die folgende Inventarliste aus dem zerschossenen Haus in das Herz
der Beschreibung der Somme-Schlacht:
»[…] vier aufgerissene Schränke, zwei Kommoden, ein Waschtisch, ein Nähtisch,
eine Nähmaschine, ein Kinderwagen. An den Wänden hängen drei zerschlagene
Spiegel, ein Bild. Auf den Kommoden und Schränken […].«
Und nun folgt die Aufzählung von 29 Gegenständen vom Korsett bis zu
Tapetenfetzen (Jünger 2010, 167).
Kaum ist die Kampfsituation verlassen, zieht die apathische Erzählweise den Kämpfer förmlich hinter sich her. So markieren die während der
Gefechtspausen akribisch geführten enthomologischen Eintragungen seiner Käferfunde in szientifische Tabellen einerseits Ruhepunkte, andererseits regeneriert sich hier die apathische Erzählweise, die zuweilen von
der Dramatik der Ereignisse außer Kraft gesetzt wird.
Als Martin Heidegger während des Zweiten Weltkriegs Jüngers Traktat Über den Schmerz liest, notiert er auf einem Handzettel: »Eine Abhandlung Über den Schmerz, die gar nie und nirgends vom Schmerz
handelt« (Heidegger 2004, 436). Zwar beschreibe Jünger den Schmerz als
Element des Willens zur Macht, er schwinge sich aber als homo militaris
auf eine Kommandohöhe – »J. redet überall in der Sprache d. Wehr48
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
machtberichtes« (ebd., 446) –, von der aus er über den Schmerz als einen
Gegenstand verfügen zu können glaube. Im Text finde sich keine Öffnung
für das Wesen des Schmerzes, sondern vielmehr eine Haltung oder ein
Ethos, das den Schmerz zum Probierstein des Heroismus mache. Könne
man dieser Art Heroismus, fragt Heidegger, nicht auch triviale Namen
geben, z.B. die der Abstumpfung, Unwissenheit und Gleichgültigkeit?
(Ebd., 452) Jünger wisse sich dem Schmerz nie ausgeliefert, wie man
dem Willen zur Macht ausgeliefert sei. Er entleere ihn vielmehr, um die
soldatische Haltung zum Schmerz zum kulturellen Wert zu machen:
»Deshalb kommt zum Schluß der Ladenhüter aller verendenden Metaphysik: die Sinn-gebung« (ebd., 437). Heidegger entdeckt, dass Jünger
im Diskurs neusachlicher Sentimentalität bleibt, insofern seine Rede von
der nötigen Härte und Kälte sich provokativ gegen die Welt bürgerlicher
Empfindsamkeit absetzt, also die Bindung an sie nie verliert. So überrascht
es nicht, dass Heidegger die Sinnsuche des Schmerz-Traktats als Form
einer Narkose bezeichnet, die der konservativen Kulturkritik bis heute als
Kennzeichen des flachen Liberalismus gilt. »J. handelt nur von einer nicht
verstandenen metaphys. Narkose. Die Bewegung gegen den Schmerz ist
die Bewegung zur Besinnungslosigkeit innerhalb der unbedingten Sinnlosigkeit.« (Ebd., 458) Für Heidegger läuft bei Jünger alles auf die Rüstung
als sichtbares Anzeichen der Besinnungslosigkeit hinaus.
IV. Schmerz als sprachresistenter Gegenstand
Am Abend des Herrn Teste im Jahre 1893 hatte der Schmerz seinen
literarischen Auftritt als sprachresistenter Gegenstand im relativ harmlosen Milieu des Gedankenexperiments und medizinisch in den Grenzen der Neuralgie. Im 20. Jahrhundert überschreiten die Arten der
Schmerzzufügung alle historisch bekannten Formen. Wer aber gegenwärtig den Schmerz, wie Paul Valéry, als sprachresistenten Gegenstand
bezeichnet, setzt sich den Einwürfen von Kulturwissenschaftlern aus.
Kommunikationswissenschaftler, analytische Philosophen, Mediziner
und Medientheoretiker wehren den Gedanken vom Schmerz als einem
sprachresistenten Gegenstand ebenso entschieden ab wie Schmerztherapeuten, die in ihren Kliniken die Bedeutung der Sprache zu schätzen gelernt haben. Eins steht offenbar fest. Als außersprachliches Ereignis kann
Schmerz kein Gegenstand der Kulturwissenschaften sein. Sie können sich
49
Helmut Lethen
nur auf Diskurse des Schmerzes konzentrieren. Wenn Schmerz mitgeteilt
wird, unterliegt die Mitteilung kulturellen Codes. Das überzeugt. Es lässt
allerdings die schon zu Beginn aufgeworfene Fragen offen, inwiefern
die Äußerungs- und Kommunikationsformen des Schmerzes auf diesen
selbst abfärben.
1985 erschien das Buch von Elaine Scarry Body in Pain – deutsch: Der
Körper im Schmerz (2009). In den Archiven von Amnesty International
fand sie eine Datenbank des Schmerzes: Protokolle des Geheimdienstes, Memoiren der Folter, ärztliche Diagnosen. Nach der Auswertung
kommt Scarry zu der Überzeugung, dass extremer Schmerz durch Nichtkommunizierbarkeit gekennzeichnet ist. Er bietet nicht nur der Sprache
Widerstand, sondern zerstört sie. Der Schmerz ist nicht von oder nach
etwas: Schmerz ist nur er selbst. Schmerz sei definitiv nicht im Medium
symbolischer Konstruktionen »in die Welt« zu holen; denn er bedeute
Weltverlust.
Scarry (2009, 52) beschreibt diesen Umstand in einer einfachen
sprachphilosophischen Skizze: Wenn man spreche, greife das Ich über
die Grenzen des Körpers hinaus und besetze einen Raum, der größer sei
als der Körper. Extremer physischer Schmerz zerstöre das Vermögen zur
symbolischen Erweiterung des Leibraums des Individuums. Er reduziere
das Subjekt auf die reine Gegenwart des Körpers. Mit dem Verlust der
Fähigkeit zur Objektivation in einem durch symbolische Praktiken ausgedehnten Personalraum falle der Betroffene aus der Sphäre des intersubjektiven Austauschs hinaus. Seines symbolischen Raumbildungsvermögens
beraubt, öffne sich der Schmerzerfüllte der auf ihn eindringenden Macht.
Für deren Agenten sei die gesamte Gefühls- und Leibwelt des Opfers
dann eine »externalisierte Landkarte«, die sie nach den Regeln ihrer
Kunst bearbeiten.
Elaine Scarry stand zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung mit dieser
Einstellung im Reich der deutschen Kulturwissenschaften auf verlorenem
Posten. Die Kritik ist auch nicht von der Hand zu weisen: Immer – so
heißt es – speichert ein Individuum die verspürten Empfindungen nicht
einfach ab, »sondern transformiert sie in seine eigenen Kategorien, die
es mit anderen Mitgliedern seiner Bezugsgruppe teilt, die zugleich aber
seine persönliche Note tragen« (Le Breton 2003, 133). Jakob Tanner
(1994) betont in seiner Rezension von Body in Pain: »Immer und nicht
nur in Zuständen extremen Schmerzes – besteht eine Kluft zwischen dem
Schweigen des realen Körpers und dem Sprechen über den symbolisch
50
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
konstruierten Körper. Durch nichts ist sie zu überbrücken. Aber die
Individuen eigneten sich im Austausch miteinander die von ihnen mit
anderen geteilte Lebenswelt an, in der sie eigene Körpererfahrungen für
andere verständlich machen.«
Wie wäre es sonst zu verstehen, dass sich Elaine Scarry mithilfe eines
Archivs von Texten ein Bild vom Weltverlust der Opfer machen könnte.
Im Augenblick seiner Schilderung ist der Schmerzausdruck sprachlich
konstruiert. Die Konstruktionen werden in Texten gespeichert, in Archiven behütet. Nachträglich können die Textspeicher von uns beliebig
animiert werden. Die Sprachformen, in denen Schmerz kommuniziert
wird, sind relativ stereotyp. Das bedeutet keineswegs, dass der Schmerz
selbst zum Stoff kultureller Archive geworden ist. Es gibt zwar ein erstaunlich stereotypes Arsenal sprachlicher Wendungen des Schmerzes; sie
zeigen aber auf eine Wirklichkeit von Empfindungen, deren schiere Präsenz nachträglich durchaus angemessen in Stereotypen aufgehoben wird,
weil den Individuen zuvor die Ausdrucksfähigkeit genommen wurde.
V. Bibliothek oder Physiologie
Die Zuspitzung des Richtungskampfs um die Evidenz des Schmerzes lässt
sich an zwei neueren Dokumenten gut erläutern.
Heiko Christians hat 1999 eine Arbeit vorgelegt, in der er mit großer
Gelehrsamkeit das Archiv der europäischen Literatur auf die Topik der
Rede vom Schmerz hin untersucht. Er überprüft, mit welchen Verfahren
der Effekt der Evidenz des Schmerzes im Lauf der Zeit erzeugt wird und
entdeckt eine erstaunlich konstante Topik der Rede mit ihrem unheimlich begrenzten rhetorischen Repertoire. Im Wortschatz der Mystiker
kristallisierte sich, was in der Erfahrungskette der Tradition gespeichert
war und bis heute fortwirken sollte. Die Archive sind angefüllt mit Texten, in denen der Schmerz »blitzartig« das Netz der Rede zerreißt, um
einen Durchblick auf unterschwellig Reales zu gewähren. In seinem Eingangskapitel hat er den Ausganspunkt seiner Forschung mit folgenden
Formulierungen überspitzt:
»Der Schmerz ist im Augenblick seiner Schilderung eine Konstruktion, ist immer
nur als Text kommunikabel. Noch der extreme, kaum durch ein Flackern oder eine
Entspannung unterbrochene Schmerz, den nach übereinstimmenden Berichten
51
Helmut Lethen
ein Knochenbruch verursacht, sperrt den Betroffenen dadurch ein. Das solcherart
geplagte, als mit aufgerissenen Augen oder als ›schrill quäkendes Schlachtferkel‹
beschriebene Opfer befindet sich [...] mitten im Meer der Fiktionen. […] Wenn
sich ein Mensch vor Schmerzen wie ein Tier am Boden windet, und damit die
ihn im Reich der Lebewesen erst konstituierenden Unterschiede des aufrechten
Gangs und der artikulierten Rede selbst nicht mehr machen kann, klappern die
Textwebstühle um so lauter.« (Christians 1999, 20 f.)
Der Ausdruck »schrill quäkendes Schlachtferkel« ist Jean Amérys Erinnerungen an die Tortur, der er im Juli 1943 bei der Gestapo in Brüssel
ausgeliefert war, entnommen. Amérys Essay Die Tortur aus dem Jahre
1964 entspricht der von Elaine Scarry zwei Jahrzehnte später theoretisch
erläuterten Sprachsituation: Der extreme Schmerz, so berichtet Améry,
zerstört das Vermögen zur symbolischen Ausweitung des Körperraums.
Nach dem Verlust des »Weltvertrauens« liegt die Gefühlswelt des Gequälten auch in seinem Fall wie eine »externalisierte Landkarte« für jeden
Zugriff offen. Améry (2008, 63) erinnert sich, am Kulminationspunkt der
Qual »wie ein schrill quäkendes Schlachtferkel« geschrien zu haben. Kein
Zweifel: Die Arbeit der sprachlichen Rekonstruktion zwingt Améry, aus
dem Archiv der Ausdrucksformeln die Tierbildkarte zu ziehen.
Was sollte daran verdächtig sein? Wird mit diesem Griff ins Archiv
der Ausdrucksformeln der Schmerz zu einer kulturellen Konstruktion? In
der Tortur haben wir es mit dem totalen Entzug der Mitwelt zu tun. Die
Tierbildkarte wird in der Rekonstruktion der Erinnerung gezogen. Sie
zeigt auf ein Ereignis, das subhuman und sprachresistent war und bleibt.
»Der Schmerz war, der er war«, sagt Améry (ebd.). Allerdings bedenkt
Améry den Zeitfaktor. Kein Zweifel, das Ereignis liegt in nebelhafter Ferne. Diesen zeitlichen Abstand reflektiert Améry mit einem Kunstgriff, mit
dem er zugleich die Ferne des Ereignisses, die allmähliche Akkumulation
des Wissens um die Archive des Schmerzausdrucks und die Unzugänglichkeit eines traumatisch eingekapselten Ereignisses zusammenführt. Die
authentische Artikulation des Schmerzausdrucks ist der Moment eines
Prozesses, den Améry selbst chronologisch ausstellt und der die Erkenntnis der Medialität des Ausdrucks einbezieht. Das gehört zum Schmerz
als Affekt, denn Extreme, die in die Glieder fahren, brauchen Zeit. »Der
psychische Apparat, der sie hervorbringt, unterliegt einer gewissen Trägheit und strebt nach einer bestimmten Verlaufskurve für den Auf- und
Abbau der Erregung.« (Koppenfels 2007, 160) Natürlich orientiert sich
der Mensch, Améry zufolge, in einer Welt der Formeln. Er führt über
52
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
zwanzig Hinweise und Anspielungen auf Kommunikationsmuster des
Schmerzes an, von der etymologischen Herleitung des Wortes »Tortur«,
den Protokollen von Gefolterten, die er in der Neuen Weltbühne in
den 1930er-Jahren vor seiner Inhaftierung las, Graham Greenes Kommentaren zu Fotografien von Folterungen in Vietnam, kriminologischen
Abhandlungen über die Folter in Algerien, Hannah Arendts Eichmann
in Jerusalem bis zu physiologischen Abhandlungen eines Professors für
Chirurgie am Collège de France. Diese Vorstellungsmuster umgeben ihn,
sie gehören zur vertrauten Textumwelt, die sich anbietet, um den fernen
Vorgang der Peinigung zu erfassen und ihn im Rückblick zu aktualisieren.
Im extremen Schmerz jedoch wird diese Zeichenwelt durchschlagen. Um
diesem Weltverlust im Schmerz Evidenz zu verschaffen, inszeniert Améry
den Ausfall der im Archiv gelagerten Formeln:
»Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu
wollen. War es ›wie glühendes Eisen in meinen Schultern‹, und war dieses ›wie
ein mit in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl?‹ – ein Vergleichsbild
würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt
im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war.
Darüber hinaus ist nichts zu sagen.« (Améry 2008, 63)
Aber er sagt eben sehr viel dazu, vergegenwärtigt das Ereignis, indem
er die Kette fehlschlagender Formeln zitiert, die versagenden Register
der Sprache vorführt, um das Ereignis als ein Widerfahrnis jenseits des
Archivs vorzustellen. Das Ereignis des Schmerzes ist eine Falltür in der
Bibliothek. Im imaginierten Sturz fand Améry die Tierbildkarte in einer
der Karteien der gespeicherten Affektkataloge. Die braucht er, um – mitten
im Archiv – auf das nicht archivierbare Erlebnis zu zeigen.
Für dieses Schmerzerleben trifft zu, was schon Valéry cartesianisch
begriff: Es illuminiert nur Körperzonen, reduziert das Bewusstsein, erhellt
keine Vergangenheit, raubt den Horizont und dampft den Menschen auf
die reine Gegenwart des Körpers ein. Améry denkt dies radikal zu Ende.
Obwohl er auf Heidegger, Bataille und Sartre anspielt, versagt er sich
jede existenzialistische Aufladung des Ereignisses. Es eignet sich einfach
nicht dazu, sich als ein Beispiel für das Gewahrwerden des »eigentlichen
Seins« des Menschen in einer existenzialistischen Erzählung aufzulösen.
Wenn Max Scheler konstatiert: »Ein Dasein ohne Schmerz verführt zu
metaphysischem Leichtsinn«, so zeigt die Geschichte, dass ein Dasein, das
53
Helmut Lethen
den Schmerz als Grenzsituation begrüßt, zum Existenzialismus verführt –
einer besonderen Spielart metaphysischen Leichtsinns.
Man hat übrigens bemerkt, dass Schmerz in den Erfahrungsberichten
von Überlebenden der Konzentrationslager keinen eigenen thematischen
Ort besetzt. Hubert Thüring hat in seiner Abhandlung Ambivalenz des
Gedächtnisses, Leere des Schmerzes. Die Spur der Scham im Schreiben Primo Levis (2004) das Fehlen der Artikulation und Reflexion des
Schmerzes in Levis Erinnerungen beobachtet. Er widerlegte die gängigen
biografischen und psychoanalytischen Kommentare und stellt fest, dass
auch in den einschlägigen wissenschaftlichen Monografien und Erzählungen über das Leben im KZ (Fränkel, Bettelheim, Kertész, Semprun,
Klüger) der Schmerz keinen prominenten Ort der Artikulation in Erinnerung und Erzählstruktur hat. Er führte dafür drei Gründe an: im KZ ist
der Schmerz überall und nirgends; aus überlebenstechnischen Gründen ist
Apathie nötig, die Empfindung des Schmerzes ist gleichsam auszulagern;
der Schmerz der Folter friert das Gedächtnis ein.
Phänomenologischer Schluss
Ich habe mich in meinen Überlegungen auf das äußerste Ende eines
weiten Spektrums von Empfindungen des Körperschmerzes konzentriert. Es gibt grenzenlos viele Schattierungen des Schmerzes, die Vielfalt
ritualisierter Bekundungen, die kulturell stark codiert sind, wie z.B. der
Geburtsschmerz, habe ich ausgelassen. Ebenfalls die Mischungsverhältnisse zwischen Schmerz und Lust – meine Beispiele konzentrieren sich auf
den »reinen« Körperschmerz, der allerdings jeweils in Kontexte anderer
Gegenwarten eingebettet ist.
Das Fazit meiner Überlegungen mag einem Wunsch zur stoischen
Haltung entsprechen:
Warum nicht länger in der frostigen Kammer des Monsieur Teste
verweilen? Denn aus dem »Nichts« an Bedeutung trat der Schmerz immerhin als »motorisches Phänomen« zutage, was sich schon den bis heute
gebräuchlichen Vokabeln des »Bohrens«, »Schneidens« und »Treibens«
ablesen lässt. Schmerz war hier nichts als ein psychisch getönter Bewegungsimpuls, der gegen einen Widerstand vordringt, da der Ausweg
versperrt ist (Schmitz 2005, 153). Ein »motorisches Phänomen«, dessen
Sinnlosigkeit in Redewendungen wie »die Wände hochgehen« nicht sym54
Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
bolisch aufgeladen, sondern nur mimetisch wiederholt wird. Man sollte
nicht so weit gehen wie Ernst Jünger, von dem Michael Klett erzählt,
er habe stets eine Nadel unter dem Revers getragen. »Und wenn eine
Schmerzwallung in ihm hochkam, hat er sich diese Nadel in den Unterarm
gestochen, durch das Jackett hindurch, um sich vom psychischen Schmerz
durch einen physischen abzulenken.« (Hettche 2010)
Eine bezeichnende motorische Äußerung des gehemmten Schmerzdrangs ist die akustische. Der Gepeinigte jammert und schreit. Seinem
Schrei gelingt es, wie Hermann Schmitz (1985, 4805) befindet, wenigstens symbolisch »was er selbst kraft seines Schmerzes wirklich, aber
vergebens möchte: aus der Haut fahren«. Ist aber der Schrei nur eine
motorische Entladung? Und kein Signal mit kommunikativem Appell?
Auch Monsieur Teste »erwartet«, wie es heißt, den Schrei, in den er sich
hineinlegen könnte, um aus der Haut zu fahren. Der Schmerz führt in
beiden Fällen nicht zu einem sinnfälligen Ausdruck, er greift auch nicht
in ein altes Archiv, er führt vielmehr zu Bewegungen, in denen sich das
Selbst in »völliger Gegenwart« verliert (ebd.). Er zerreißt das Miteinander,
isoliert den Betroffenen, der, obwohl womöglich hochgebildet, sich plötzlich an den Titel eines Romans von Johannes Mario Simmel erinnert:
Jeder ist eine Insel. Denn wer sich auf die kommunikative Funktion des
Schreis verlässt, hat noch nicht begriffen, dass es keine Instanz der Gnade gibt, deren Eingriff Schmerzlosigkeit, Therapie, Rettung oder Rache
verbürgen würde.
Der motorische Ausweg scheint als Erklärungsmodell nicht viel
zu sein. Vielleicht erklärt es aber, warum sich dem Zeitalter extremen
Schmerzes im 20. Jahrhundert die Signaturen des »Weltverlusts« und
der »Verlassenheit« als Erkennungsmerkmale aufprägen konnten. Und
warum ein so diffuser Begriff wie »Trauma« zum Inbegriff eines Schmerzes geworden ist, der nicht aus der Haut fahren lässt und durch keine
symbolische Praxis aufgehoben werden kann.
Anmerkungen
1
2
Ich danke Elisa Primavera-Lévy für den kritischen Kommentar zu der Vortragsfassung dieses
Essays.
Christine Abbts Kommentar zu Auslassungspunkten in Thomas Bernhards Text Jauregg.
55
Helmut Lethen
Literatur
Abbt, Christine: Schreibweisen des Seins? Zur Verwendung der Auslassungspunkte auf der
Suche nach einer Sprache des Erlebens, in: Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift
im Bleisatz. Hg. v. Mareike Giertler und Rea Köppel. München 2012, S. 129–160.
Améry, Jean: Die Tortur, in: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines
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Benjamin, Walter: Einbahnstraße, in: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe.
Hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin
Archiv. Bd. 8. Hg. v. Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug. Frankfurt a. M. 2009.
Christians, Heiko: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen. Berlin 1999.
Heidegger, Martin: Zu Ernst Jünger, in: Gesamtausgabe. Bd. 90. Hg. v. Peter Trawny.
Frankfurt a. M. 2004.
Hettche, Thomas: Er war nicht kalt, nur gepanzert. Ein Gespräch mit dem Verleger Michael
Klett über seinen Autor Jünger, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.09.2010, S. 28.
Jünger, Ernst: Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010.
Koppenfels, Martin von: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen
Romans. München 2007.
Le Breton, David: Schmerz. Aus dem Französischen von Maria Muhle, Timo Obergöker
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Frankfurt a. M. 1996.
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und
Mazzino Montinari. München 1999 [= KSA].
Primavera-Lévy, Elisa: »An sich gibt es keinen Schmerz«. Heroischer und physiologischer
Schmerz bei Nietzsche im Kontext des späten 19. Jahrhunderts, in: Nietzsche-Studien 40,
2011, S. 130–155.
Primavera-Lévy, Elisa: Die Bewahrer der Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in
der deutschen Literatur und Kultur (1870–1945). Berlin 2012.
Sauerbruch, Ferdinand und Wenke, Hans: Wesen und Bedeutung des Schmerzes. Berlin 1936.
Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung
der Kultur. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 2009.
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1985/42, S. 4805–4812.
Schmitz, Herrmann: Die Aufhebung der Gegenwart. Bonn 2005.
Starobinski, Jean: Kleine Geschichte des Körpergefühls. Aus dem Französischen von Inga
Pohlmann. Konstanz 1987.
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Thüring, Hubert: Ambivalenz des Gedächtnisses, Leere des Schmerzes. Die Spur der Scham
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2004, S. 195–215.
Valéry, Paul: Cahiers/Hefte. Auf der Grundlage der von Judith Robinson besorgten franz.
Ausgabe hg. v. Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt a. M. 1987–1993.
Valéry, Paul: Monsieur Teste. Übersetzt von Max Rychner, Achim Russer und Bernd Schwibs,
in: Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1992,
S. 299–372.
Wübben, Yvonne: Die Kälte des Wissens. Stoische Re-Emergenzen und psychiatrische
Affektkultur um 1900. Vortrag im Rahmen der IFK-Konferenz »Wandlungen des Stoischen«,
April 2011.
56
Barbara König
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur
»tierisch«?
Zum evolutionären Ort von Kultur
Schlagen wir eine Zeitung auf, schalten wir den Fernseher an oder gehen
wir ins Internet – was uns jeweils ins Auge sticht, ist eine immense kulturelle Vielfalt im menschlichen Verhalten, die in den unterschiedlichsten
Bereichen wie Essenszubereitung, Kleidung, Kunst, Politik oder Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Offensichtlich ist ausgeprägte Kulturfähigkeit ein charakteristischer Bestandteil unserer Verhaltensdispositionen,
über die auch schon unsere Vorfahren verfügten. Archäologisch gut belegte, 2 bis 2,5 Millionen Jahre alte Steinwerkzeuge sind unumstritten
ein Beleg früher Kultur (es gibt natürlich noch andere), für die Fähigkeit
zur Herstellung technologischer Hilfsmittel und die Weitergabe dieser
Fertigkeiten von einer Generation zur nächsten. Diese Kulturfähigkeit
wird häufig als ein entscheidendes Merkmal zur Abgrenzung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen, wie allen Tieren, diskutiert (für
Zusammenfassungen siehe Bonner 1980; Durham 1991; De Waal 2001;
Fischer 2012).
1. Frühe Hinweise aus der Verhaltensforschung für
Kulturfähigkeit bei Tieren
Bereits 1950 hat der japanische Anthropologe Kinji Imanishi diese
»Grenze« zwischen Tieren und dem Menschen infrage gestellt und vorgeschlagen, im Tierreich nach Fällen von nicht genetischem Tradieren
57
Barbara König
von Gewohnheiten oder Fertigkeiten zu suchen. Kurz darauf sind Beobachtungen von Kartoffeln waschenden Japanmakaken (auch Rotgesichtsmakaken genannt, Macaca fuscata) auf der Insel Koshima, am Südzipfel
von Japan, als erstes Beispiel für einfaches Kulturverhalten berühmt
geworden (Kawamura 1959). Was war hier beobachtet worden? Japanmakaken sind sehr lernfähig und können Verhaltensweisen von anderen
Gruppenmitgliedern erlernen. Auf der Insel Koshima hatten die Forscher
Süßkartoffeln auf den Strand gestreut, um eine Gruppe von Affen aus dem
Wald zu locken und an den Menschen zu gewöhnen. Im Jahr 1953 begann
ein Weibchen dieser Gruppe, die 18 Monate alte Imo, sandige Süßkartoffeln (die ihnen die Forscher weiterhin präsentierten) vor der Mahlzeit in
einem Bach zu spülen, später kam dann auch das Waschen im Salzwasser
hinzu. Drei Monate später wuschen Imos Mutter und zwei Spielgefährten
ebenfalls ihre Kartoffeln. Nach drei Jahren teilten 40 Prozent der Affen
derselben Population diese Gewohnheit. Die Wissenschaftler schlossen
daraus, dass das Kartoffelwaschen von den Gruppenmitgliedern sozial
gelernt wurde (anfangs nur von Imo) und dass es sich anschließend als
Tradition in der Gemeinschaft von Japanmakaken ausbreitete. Es ist
kaum vorstellbar, dass es eine genetische Mutatante war, die das Kartoffelwaschen bedingte, und somit kann diese Verhaltensinnovation als
Beispiel eines einfachen Kulturverhaltens herangezogen werden.
Ein anderes Beispiel ist das erstmals 1921 in der englischen Ortschaft
Swaythling beobachtete Verhalten von Blaumeisen, die Pappdeckel und
später die Aluminiumdeckel von Milchflaschen aufzupicken und den
Rahm von der Milch zu trinken. Diese Innovation des »Milchdiebstahls«
verbreitete sich nach einiger Zeit in ganz England, innerhalb weniger
Jahre sogar in Schottland und Irland.
2. Sind Verhaltensinnovationen bei Tieren Hinweise auf
Kultur?
Die Frage, ob Tiere Kultur haben, hat in den letzten Jahren verstärkt
das Interesse von Zoologinnen und Zoologen geweckt. Aus biologischer
Sicht ist der Mensch (die Art Homo sapiens) ein Organismus, dessen
Verhalten ebenso wie seine anderen Merkmale unter Berücksichtigung
seiner Stammesgeschichte das Produkt der Evolution ist. In dieser Sichtweise ist er ein besonderer, hoch entwickelter Primat, dessen früheste
58
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
Entwicklungsgeschichte schon untrennbar mit ausgeprägtem Sozialverhalten verknüpft ist.
Diverse Studien vor allem an nicht menschlichen Primaten haben in
den letzten Jahren gezeigt, dass Eigenschaften wie Bewusstsein, Sprache,
pädagogische Fähigkeiten und wohl auch Moral zumindest in ihren
Grundformen schon im Tierreich vorhanden sind und damit der oft
(meist in nicht biologischen Wissenschaftsgebieten) betonte Tier-MenschUnterschied in dieser Hinsicht eher quantitativer als qualitativer Natur
ist (Bonner 1980; Heyes/Galef 1996).
Um nicht falsch verstanden zu werden: Als biologische Art ist Homo
sapiens von jeder anderen Art, auch von seinen nächsten Verwandten,
dem Schimpansen (Pan troglodytes), dem Bonobo (Pan paniscus) oder
dem Gorilla (Gorilla gorilla), anhand einer Reihe von vor allem anatomischen und morphologischen Merkmalen zu unterscheiden. Hier geht es
aber um die Frage, ob es ein allgemeines Kriterium oder Merkmal gibt,
was den Menschen von der Gesamtheit aller Tiere (also allen Tierarten
außer Homo sapiens) trennt. Historisch wurden zu diesem Zweck Merkmale wie Werkzeuggebrauch oder Bewusstsein herangezogen. Freilandbeobachtungen wie auch experimentelle Studien haben jedoch gezeigt,
dass es sich hierbei um keineswegs nur auf den Menschen begrenzte
Eigenschaften handelt.
Kritisch für die Diskussion einer tierischen Kultur ist die Definition
des Begriffs. Aber selbst für den Menschen ist es nicht einfach, Kultur
als Konzept zu definieren, was sich in einer regen Debatte innerhalb der
Geisteswissenschaften über die Definition von Kultur widerspiegelt (und
auch der vorliegende Sammelband dokumentiert diese Diskussion).
Aus zoologischer Sicht stehen wir vor einem noch größeren Problem.
Hier ist es grundsätzlich nicht sinnvoll, eine anthropozentrische Perspektive in Bezug auf das Thema Kultur einzunehmen. Genau das wird aber
häufig gemacht, wenn Tierarten nur dann als kulturell charakterisiert
werden, sobald sie »Schlüsselmerkmale« menschlicher Kultur zeigen.
Solch eine Perspektive verhindert, dass wir die evolutiven Wurzeln von
Kultur verstehen können, und sie verhindert weiterhin, dass wir mögliche
Beziehungen zwischen kulturähnlichen Phänomenen in verschiedenen
Tiergruppen erkennen. Benötigt wird also eine breitere Definition.
59
Barbara König
3. Eine biologische Definition von Kultur
Kultur kann aus biologischer Sicht definiert werden als gruppentypisches
Verhalten oder Verhaltensmuster, das von Mitgliedern einer Tiergemeinschaft geteilt wird und das in gewissem Grad von sozial gelernter und
weitergegebener Information abhängt (van Schaik 2004; van Schaik et
al. 2006; Whiten/van Schaik 2007).
Kulturfähigkeit setzt folglich soziales Lernen voraus. Individuen lernen
etwas von Gruppenmitgliedern und geben diese gelernte Fähigkeit weiter,
sodass eine Kultur entsteht, die zumindest über einige Generationen stabil
ist. Folglich teilen die Mitglieder einer Gruppe eine bestimmte Innovation
untereinander, nicht notwendigerweise aber mit Artgenossen aus anderen
Gruppen. Eine solche Innovation kann eine Technologie sein oder eine
sonstige Verhaltensnorm wie ein bestimmtes Sozialverhalten oder eine
bestimmte Form der akustischen Kommunikation untereinander.
Aus verhaltensbiologischer Sicht sind demnach zwei definitorische
Merkmale wichtig, um Kulturfähigkeit bei Tieren nachweisen zu können:
1. Der Nachweis von sozialem Lernen – das Verhalten eines Individuums
ändert sich, nachdem es eine hohe Aufmerksamkeit gegenüber dem
Verhalten eines anderen Individuums gezeigt hat.
2. Der Nachweis von Unterschieden zwischen Gruppen oder Populationen einer Art (also geografischer Muster) in Bezug auf eine innovative Verhaltensweise.
Die Herausforderung für Biologinnen und Biologen besteht nun vor allem darin, auszuschließen, dass es alternative Erklärungsmöglichkeiten
für ein beobachtetes (geografisches) Muster der Verhaltensunterschiede
innerhalb einer Art gibt – wir müssen ausschließen, dass die Ökologie,
die Genetik oder individuelles (nicht soziales) Lernen als Ursache herangezogen werden können.
Um diesen Anspruch zu verstehen, müssen wir uns kurz mit den
Grundprinzipien des darwinschen Konzepts der Evolution durch natürliche Selektion beschäftigen.
4. Das Konzept der Evolution durch natürliche Selektion
Organismen haben grundsätzlich die Fähigkeit, sich exponentiell zu vermehren – der Mensch ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Die auf unserer
60
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
Erde für die Unterhaltung von Lebensprozessen zur Verfügung stehenden Energiereserven sind jedoch prinzipiell begrenzt. Deshalb muss das
Populationswachstum von Organismen spätestens dann an eine Grenze
stoßen, wenn sie lebenswichtige Ressourcen erschöpfen. Folglich kommt
es wegen der Begrenztheit von Ressourcen unter den Organismen zu Konkurrenz um diese Ressourcen. Diese Konkurrenz sollte nun am stärksten
bei solchen Organismen sein, die sich am ähnlichsten sind, und das sind
typischerweise die Vertreter derselben Art. Artgenossen sind sich sehr
ähnlich in ihrer genetischen Ausstattung und in ihrer Beeinflussung durch
und Abhängigkeit von bestimmten Umweltfaktoren, sie konkurrieren um
hauptsächlich identische Ressourcen.
Die innerartliche Konkurrenz ist damit ein wichtiger, wenn auch nicht
der alleinige Antriebsmotor für Evolution und beeinflusst die vielfältigsten
Aspekte organismischen Lebens, vom individuellen Verhalten über Interaktionen innerhalb einer Gemeinschaft bis hin zu den Mechanismen
der Aufrechterhaltung biologischer Diversität (siehe z.B. Futuyma 1990;
Ridley 2003).
Unterscheiden sich nun Individuen genetisch in ihrer Konkurrenzfähigkeit, dann werden diejenigen in der nächsten Generation mehr Nachkommen hinterlassen, die über genetische Anlagen verfügen, welche ihr
Überleben, vor allem aber ihre Fortpflanzungsfähigkeit verbessern im
Vergleich zu Artgenossen, die eine andere genetische Ausstattung haben.
Diese Nachkommen wiederum erben (mit einer berechenbaren, häufig
50-prozentigen Wahrscheinlichkeit) diese an die Umwelt gut angepasste
Eigenschaft, die nun auch ihren Fortpflanzungserfolg verbessert. Als
Folge nimmt das betreffende erbliche Merkmal in der Population an
Häufigkeit zu.
Hier wird verständlich, warum der Fortpflanzungserfolg so wichtig ist.
Er ist die Messlatte, die darüber bestimmt, ob ein Merkmal im Prozess
der Evolution erhalten bleibt. Aufgrund von erfolgreicher Fortpflanzung
werden Nachkommen mit abstammungsidentischen Kopien eigener genetischer Anlagen in die nächste Generation platziert.
Im Überlebensspiel Evolution geht es darum, im Spiel zu bleiben. Das
geht nur, solange die genetische Information von Generation zu Generation (über Nachkommen) weitergegeben wird. Die Selektion kanalisiert,
fördert, hemmt, unterbindet diesen Prozess. Ihre entscheidende Wirkung
ist, dass sie für Unterschiede im Fortpflanzungserfolg sorgt – und zwar
nicht für zufällige, sondern für voraussagbare. In einem gegebenen Augen61
Barbara König
blick mit gegebenen Randbedingungen haben verschiedene Genkombinationen unterschiedlichen Wert.
4.1 Unterschiede in Ökologie oder Genetik bewirken
Verhaltensvariation
Durch natürliche Selektion werden also im Laufe der Evolution genetische
Anlagen ausgelesen, die unter den herrschenden Umweltbedingungen vorteilhaft für den relativen Fortpflanzungserfolg eines Individuums (relativ
im Vergleich zu dem der Artgenossen) sind. Die Folgen sind umweltangepasste Verhaltensweisen oder andere körperliche Merkmale, welche die
biologische Fitness des Trägers einer Eigenschaft fördern.
Wenn wir nun beobachten, dass es geografische Variation in Bezug auf
das Verhalten einer Tierart gibt, kann dies bedeuten, dass sich die Umweltbedingungen zwischen den geografischen Regionen unterscheiden,
jede Region einen etwas anders gearteten Satz von Eigenschaften hat, die
diese Region charakterisieren (Habitatmerkmale). In wissenschaftlicher
Hinsicht würden wir vorhersagen, dass alle Individuen unabhängig voneinander in einer jeweiligen Region zur selben Verhaltensanpassung an
die lokalen Bedingungen konvergieren (durch den Prozess der natürlichen
Selektion).
Afrikanische Striemengrasmäuse (Rhabdomys pumilio) beispielsweise
kommen im südlichen Afrika in sehr unterschiedlichen Habitaten vor. Sie
leben in Grassavannen, aber auch in Feuchtgebieten, Wäldern bis hin zu
Halbwüsten und Wüsten. Langjährige Feldstudien haben ausgeprägte
Variation in der räumlichen und vor allem sozialen Strukturierung in
unterschiedlichen Regionen nachgewiesen. In der trockenen SukkulentenKaroo leben Striemengrasmäuse in sozialen Gruppen, die aus mehreren
adulten Tieren beiderlei Geschlechts bestehen, die ein gemeinsames Nest
bewohnen und ein gemeinsames Territorium verteidigen. Im feuchten
Grasland leben Tiere derselben Art dagegen solitär. Die Weibchen besetzen exklusive Territorien und diejenigen der Männchen überlappen mit
den Territorien von meist mehreren Weibchen. Hier sind Begegnungen
zwischen Männchen und Weibchen auf die Paarung begrenzt. Die lokalen
Bedingungen (im Beispiel der Striemengrasmäuse sind dies vor allem die
Nahrungsbedingungen) beeinflussen das Paarungs- und Sozialverhalten.
Werden diese Habitatmerkmale experimentell verändert, dann ändert sich
in der Folge das Sozialverhalten (Schradin et al. 2010).
62
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
Ein geografisches Muster könnte aber auch alternativ dadurch erklärt
werden, dass die Verhaltensunterschiede auf genetische Unterschiede
zurückzuführen sind. Die Individuen in einer bestimmten Region haben
eine genetische Prädisposition zur Entwicklung eines spezifischen Verhaltens. Als Folge könnte ebenso ein geografisches Muster entstehen,
wenn die Mitglieder verschiedener Populationen genetisch über lange
Zeit, vielleicht Hunderte von Generationen, voneinander isoliert waren.
Wir sehen dann, dass mit der geografischen Distanz die genetischen Unterschiede größer werden.
Schließlich ist es denkbar, dass individuelles, nicht soziales Lernen das
beobachtete Verhalten erklären kann. Kann tatsächlich ausgeschlossen
werden, dass die Japanmakaken das Kartoffelwaschen oder die Blaumeisen das Öffnen der Milchflaschendeckel nicht unabhängig voneinander gelernt haben? Der Reiz der Präsentation einer sandigen Kartoffel
(oder einer verschlossenen Milchflasche) hat bei den Tieren unabhängig
voneinander die Innovation oder Erfindung des Waschens (oder des
Deckelöffnens) ausgelöst, nicht das Beobachten des Verhaltens eines
Gruppenmitglieds (soziales Lernen).
5. Die ethnografische Methode als Nachweis für Kultur
Dennoch ist es ein berechtigtes Vorgehen, das Vorhandensein von geografischen Unterschieden im Verhaltensrepertoire als kulturell zu bezeichnen – im Sinne einer Arbeitshypothese. Dieses Vorgehen wird als
ethnografische Methode bezeichnet (Wrangham et al. 1994; für eine Zusammenfassung der Diskussion siehe: Laland/Janik 2006).
Bei dieser Vorgehensweise geht es nicht darum, ein Verhalten als entweder ökologisch oder genetisch oder kulturell in Bezug auf seine Ursache
zu bezeichnen. Eine derartige Kategorisierung macht biologisch keinen
Sinn. Zweifellos beeinflussen Umwelt, Gene und Lernen das Verhalten.
Es gibt kein Verhalten, für das die Umwelt keine Rolle spielt, und kein
Verhalten, das nicht durch Gene beeinflusst wird. Worum es hier geht, ist,
ob zur Erklärung eines geografischen Verhaltensmusters die Entstehung
und Ausbreitung von Innovationen aufgrund von sozialem Lernen herangezogen werden können oder ob das Muster überwiegend durch die zuvor
erläuterten Mechanismen der natürlichen Selektion erklärt werden kann.
63
Barbara König
5.1 Werkzeuggebrauch bei Schimpansen als Testfall für die
ethnografische Methode
Ein Beispiel soll diese Vorgehensweise erläutern. Vor 14 Jahren haben
neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die seit vielen Jahren
Verhaltensstudien an frei lebenden Schimpansen durchführen, ihre Daten
zusammengetragen. Sie analysierten schlussendlich Daten, die in zusammengerechnet 151 Beobachtungsjahren in sieben Forschungsstationen in
West- und Ostafrika erhoben wurden (Whiten et al. 1999). Die Autorinnen und Autoren haben primär nach Unterschieden im Verhaltensrepertoire zwischen den Populationen gesucht, also nach Verhaltensmustern, in
denen sich die Schimpansen-Gemeinschaften unterscheiden und die wohl
kaum genetisch determiniert sein können. Dabei schlossen sie Verhaltensweisen aus, die durch ökologische Faktoren erklärt werden können. In
Regionen, in denen es beispielsweise viele für Schimpansen gefährliche
Leoparden gibt, werden sich nur wenige Tiere abends ein Nest auf dem
Boden bauen, auch wenn es eine genetische Disposition dazu gibt. Für
das Verhaltensmuster, wie und wo eine Schimpansin oder ein Schimpanse
abends das Schlafnest baut, spielt zweifellos die Ökologie (hier, die Anoder Abwesenheit von Fressfeinden wie Leoparden) eine Rolle, und sehr
wahrscheinlich wird es so etwas wie eine genetische Disposition geben –
Kultur muss hier nicht notwendigerweise unterstellt werden.
Trotz dieser Einschränkungen entdeckten die Forscher im Endeffekt
39 Verhaltensweisen, die regional variieren, in denen sich Schimpansen
also als Gruppen beim Werkzeuggebrauch, bei der Körperpflege oder der
Partnerwerbung voneinander unterscheiden und von denen angenommen
werden konnte, dass sie auf soziales Lernen zurückzuführen sind. Die
Autorinnen und Autoren schlossen folglich, dass es sich um kulturelle
Varianten handelt.
Im Taï-Nationalpark (Westafrika, Côte d’Ivoire) knacken Schimpansen
regelmäßig Nüsse mithilfe von Stein- oder Holzhammer und Amboss, und
Kinder lernen die Technik während jahrelangen Übens von ihren Müttern; in Gombe (Ostafrika, Tansania) wurde diese Form des Werkzeuggebrauchs nie beobachtet. Dafür verwenden die Schimpansen in beiden
Gebieten Blätter, um sich zu reinigen oder um Wunden zu betupfen, was
wiederum nie in Mahale (Tansania) oder in Bossou (Westafrika, Guinea)
vorkommt. In einigen Populationen »fischen« Schimpansen nach proteinreicher Nahrung, indem sie kurze Stöckchen in einen Ameisenhaufen
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Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
halten und die sich daran festbeißenden Insekten einzeln abpflücken und
essen. In mindestens einer Population verwenden sie dagegen eine wesentlich effizientere Technik. Sie warten, bis sich viele Ameisen an einem
langen Stab angesammelt haben und befördern dann alle auf einmal mit
einer wischenden Handbewegung in den Mund. Nur die Schimpansen
von Gombe in Tansania kitzeln sich selbst regelmäßig mit Steinen oder
Stöcken. Bei heftigem Regen neigen Schimpansen-Männchen fast überall
dazu, im Regen zu tanzen. Nur die Schimpansen von Bossou in Guinea
tun das nicht.
Entscheidend war nach Aussage der Autorinnen und Autoren, dass
jede Gemeinschaft ihren eigenen, unverwechselbaren Cluster von Verhaltensweisen entwickelt hatte. Und dieses Phänomen ähnelt menschlicher
kultureller Vielfalt. Noch ist umstritten, ob die in der Studie beschriebenen
Verhaltensweisen aufgrund echter Imitation weitergegeben werden. Die
Gegenthese folgt dem schon genannten Einwand gegen die Kartoffelwasch-Kultur der Japanmakaken. Wo bestimmte Reize vorliegen, kommt
ein Individuum durch Herumprobieren alleine auf die beobachtete Verhaltensvariante. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass es Zufall sein soll,
dass Gombe-Schimpansen mit einem Stab Ameisen aus dem Loch fischen
und sie dann mit der Hand abstreifend in den Mund befördern, die Taïund Bossou-Schimpansen die Ameisen aber einzeln vom Stab fressen.
Noch ungeklärt und eine spannende Frage für künftige Forschung
ist, ob es so etwas wie einen kulturellen Fortschritt unter Affen gibt, also
ob Techniken von Generation zu Generation verfeinert werden. Mittels
Sprache können Affen den erreichten Stand der Technologie zumindest
nicht weitergeben. Doch Hinweise auf eine technische Entwicklung,
die dann wiederum sozial gelernt wird, wurden bereits gefunden. Viele
Schimpansen in Westafrika knacken Nüsse auf einem Amboss. Nur in
Bossou sind sie einen Schritt weiter gekommen. Sie platzieren Steinchen
unter den Amboss, um ihn in abschüssigem Gelände zu stabilisieren.
Es gibt folglich ernst zu nehmende Hinweise auf kulturelle Unterschiede im Gebrauch von Werkzeugen zwischen verschiedenen Schimpansenpopulationen Afrikas. Allen Varianten ist aber eigen, dass Jungtiere
dieses Verhalten lernen, meist von ihren Müttern. Für die GombeSchimpansen konnten darüber hinaus ausgeprägte Unterschiede zwischen
den beiden Geschlechtern nachgewiesen werden, wie junge Schimpansen
die Fähigkeit zum Termitenfischen entwickeln. Schimpansenmädchen
beginnen früher mit dem Termitenfischen als junge Männchen; wenn sie
65
Barbara König
gelernt haben, Termiten zu fischen, sind sie geübter, geschickter als ihre
männlichen Altersgenossen. Weibchen beobachten ihre Mutter nämlich
häufiger und länger beim Termitenfischen und verwenden später eine sehr
ähnliche Methode wie die Mutter, sie erlernen diese Technik offensichtlich
von der Mutter. Söhne zeigen diese Ähnlichkeit nicht und beobachten ihre
Mutter weniger – statt dessen spielen sie länger, während die Mutter nach
Termiten fischt (Lonsdorf et al. 2004).
6. Kulturelle Innovationen bei anderen Tierarten
Auch von anderen Säugern sind Beispiele für das »Erfinden« neuer Gewohnheiten und Fähigkeiten bekannt, die sozial und nicht genetisch
weitergegeben werden und die den beiden definitorischen Merkmalen
von Kulturfähigkeit entsprechen.
Carel van Schaik war mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der erste, der bei frei lebenden Orang-Utans den Gebrauch von Werkzeugen beobachtet und analysiert hat. Seit über 18 Jahren untersucht
die Gruppe frei lebende Orang-Utans Indonesiens, vor allem auf Sumatra, bei Suag, im Nordwesten der Insel. Aufgrund von Feldstudien ist
bekannt, dass die meisten Orang-Utans nie in ihrem Leben Werkzeuge
herstellen oder verwenden. Die in Suag lebenden Vertreter dieser Art
sind aber eine Ausnahme, sie stellen eine Vielzahl von Werkzeugen her.
Orang-Utans in geografisch getrennten Gebieten Sumatras verwenden
unterschiedliche Techniken, wenn sie Insekten oder Honig mit Stöckchen aus Astlöchern pulen oder Samen aus den mit Stacheln bewehrten
Pflanzenkapseln schälen. Hier scheint eine wichtige Rolle zu spielen, mit
wie vielen Artgenossen naher Sozialkontakt besteht, sodass Lernen möglich ist. Je geduldiger und duldsamer eine Gruppe im sozialen Umgang
ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Tradition erhalten
bleibt, sobald sie einmal erfunden wurde. Und vor allem junge OrangUtans verbringen viel Zeit damit, anderen (hauptsächlich der Mutter)
sehr intensiv dabei zuzuschauen, wie diese Werkzeuge einsetzen. Auch für
diese Menschaffenart wurde eine eindrückliche Anzahl von kulturellen
Varianten in verschiedenen geografischen Regionen zusammengetragen.
Weiterhin sind Beispiele von Kulturverhalten von Vertretern der Ordnung der Wale, der Cetaceen, bekannt, zu denen die Wale und Delfine
gehören. Wale haben häufig ein ausgeprägtes Repertoire an akustischer
66
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
Kommunikation, bei Buckelwalen werden diese Tonfolgen als Gesang
bezeichnet. Hier wurde beobachtet, dass es Traditionen im Gesang gibt,
die – aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Phänomen von sprachlichen
Dialekten beim Menschen – Dialekte genannt werden. Verschiedene
Gruppen (derselben Art) unterscheiden sich in Bezug auf erkennbare (also
innerhalb einer Gruppe gleicher), diskrete Noten, Phrasen und Motive
(Yurk et al. 2002). Bei Buckelwalen und Säugern im Allgemeinen werden
solche Gesänge oder Dialekte von Gruppenmitgliedern, mit denen ein Tier
häufig interagiert (wie typischerweise der Mutter), gelernt (Mundinger
1980; Conner 1982; Deecke et al. 2000).
Kürzlich wurden auch für Orkas (oder Schwertwale) Daten publiziert,
die kulturelles Verhalten nahe legen. Die soziale Welt von Orkas ist komplex. Die seit vielen Jahren gut untersuchten Orkas einer sogenannten
»residenten« (ortsansässigen) Population leben südlich von Alaska in
Gruppen, die auf Matrilinien, also mütterlicherseits verwandten Abstammungslinien, beruhen (Mutter mit Töchtern und/oder Söhnen und den
Kindern der Töchter). Männchen und Weibchen verbleiben lebenslang
in der Gruppe, in der sie geboren wurden. Weiterhin gibt es Assoziationen zwischen verschiedenen Matrilinien, die recht stabil sein können,
also über 50% der Beobachtungszeit der Tiere betragen können. Solche
Assoziationen unter Orka-Matrilinien werden als »Pod« bezeichnet.
Paarungen finden nur zwischen Tieren aus verschiedenen Pods statt.
Orkas haben ein recht umfangreiches akustisches Repertoire, sie produzieren Klicks, Pfiffe und Rufe. Klicks werden beim Aufspüren und beim
Verfolgen von Beute produziert, auch bei sozialen Interaktionen; die Pfiffe
werden überwiegend bei sozialen Interaktionen produziert. Am häufigsten
werden aber Rufe produziert, typischerweise in Situationen, wenn die
Wale bei der Nahrungssuche weiter weg voneinander schwimmen oder
wenn sich zwei Pods treffen. Die Rufe der Gruppen haben jeweils einzigartige Merkmale, und es konnte nachgewiesen werden, dass es sich hier um
matrilinienspezifische Rufe handelt. Eine detaillierte Studie erlaubte sogar
Aussagen über die Abstammungsverwandtschaft zwischen verschiedenen
Matrilinien. Manche Orkas teilten einen Teil ihres akustischen Repertoires und sind deshalb vermutlich auseinander hervorgegangen. Solche
Matrilinien werden als »stimmliche« (vokale) oder »akustische« Klans
bezeichnet (Yurk et al. 2002). Die Funktion dieser Dialekte beim Orka
ist möglicherweise das Identifizieren von mütterlichen Verwandten. Da
in der beschriebenen residenten Population die Tiere nie ihre mütterliche
67
Barbara König
Gruppe verlassen, ist die Änderungsrate der vokalen Dialekte sehr gering
über die Zeit. Die beobachteten Änderungen sind wohl eher das Ergebnis
von kulturellem Drift. Zufällig gehen mit der Zeit einige Elemente verloren, oder es werden kleine Fehler beim sozialen Lernen gemacht, die
dann weiter gegeben werden.
7. Experimenteller Nachweis von Kultur im Tierreich
So überzeugend die bisher präsentierten Beispiele sind, einige Fragen
bleiben dennoch offen. Grundsätzlich greifen Biologinnen und Biologen
in solchen Fällen auf Experimente zurück, um Zweifel oder offene Fragen
zu klären. Ein denkbares Experiment wäre, einen Schimpansen, OrangUtan oder Orka einer lokalen Kultur in eine andere Gruppe (mit einer
anderen kulturellen Varietät) zu translozieren und dann zu beobachten,
wie sich die Kulturmerkmale entwickeln oder verändern – wer lernt was
von wem? Eine andere Möglichkeit wäre, eine ganze Gemeinschaft zu
entfernen und mit einer Gemeinschaft aus einer anderen Region, mit einer
anderen Kulturvarietät zu ersetzen. Würde die neu eingebürgerte Gemeinschaft nach einiger Zeit dieselbe Varietät zeigen wie die ursprünglich
vorhandene, würde dies dafür sprechen, dass die Bedeutung ökologischer
Faktoren im Vordergrund steht.
Derartige Experimente sind mit den genannten Arten allerdings aus
verschiedensten Gründen nicht möglich – nicht nur aufgrund zahlreicher
Hindernisse in Bezug auf die praktische Machbarkeit, sondern auch aus
ethischen Gründen. Es wäre kaum zu rechtfertigen, diese hoch sozialen
Tiere aus ihrer sozialen Gruppe zu entnehmen und zu translozieren.
Weiterhin ist es in Hinsicht auf den Schutz der genannten hochgefährdeten Arten nicht vertretbar, eine regionale Gemeinschaft zu entfernen.
Hier bleiben die Forscherinnen und Forscher wohl darauf angewiesen,
einmal die natürlichen Bewegungen von Individuen zwischen Populationen verfolgen zu können oder einen Austausch von Individuen zwischen
verschiedenen Gefangenschaftsgruppen vorzunehmen, wie etwa einen
Austausch zwischen verschiedenen Zoos.
Bei dem Blaukopf Junker (Thalassoma bifasciatum) ist ein derartiges
Freilandexperiment jedoch gemacht worden. Diese Korallenfische bilden
Gruppen von 20–25 geschlechtsreifen Männchen, die sich während der
Fortpflanzungssaison täglich an »traditionellen« Paarungsplätzen im Riff
68
Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
einfinden. Die paarungsbereiten Weibchen kommen zu diesen Paarungsplätzen und laichen mit einem der Männchen ab. Robert Warner konnte
nun mithilfe von Translokationsexperimenten zeigen, dass der Standort
von traditionellen Paarungsplätzen nicht durch besondere ökologische
Bedingungen erklärt werden kann. Es gab keinen Hinweis auf bestimmte
ökologische Eigenschaften der Riffe oder der unmittelbaren Umgebung,
die einen Schluss darüber erlaubten, wo ein Paarungsplatz ist oder nach
experimenteller Manipulation sein wird. Folglich werden diese Paarungsorte wohl als lokale, kulturelle Traditionen aufrechterhalten, und Jungtiere oder neu eingewanderte Fische lernen von den Ortsansässigen, wo
diese Plätze sind.
8. Die besondere Bedeutung der menschlichen
Kulturfähigkeit
Im Tierreich gibt es folglich Beispiele von gruppenspezifischen Verhaltensinnovationen, die höchst wahrscheinlich auf soziales Lernen zurückzuführen sind. Somit entsprechen sie unserer zu Anfang formulierten
breiten Definition von Kultur. Dennoch hat bei uns Menschen die kulturelle Evolution einen ganz besonderen Stellenwert, ist bei uns doch die
Fähigkeit zu nicht genetischer Tradierung ungemein stark ausgeprägt.
Auch wenn wir die Wurzeln für Kultur bereits im Tierreich finden, die
menschliche Kultur unterscheidet sich von derjenigen tierischer Sozietäten um Größenordnungen in ihrer Differenziertheit, ihrem Umfang und
ihrer Bedeutung für die Existenz der Art. Dies rechtfertigt es, von einer
neuen Dimension zu sprechen, manche Autorinnen und Autoren sprechen sogar von einer neuen Qualität, die den Menschen auszeichnet und
ihn vom gesamten Rest der Organismen quantitativ und eventuell sogar
qualitativ abhebt.
Um das Besondere der kulturellen Evolution nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, sich die Unterschiede zur natürlichen Evolution – so
wie wir sie zuvor kennengelernt haben – zu veranschaulichen.
1. Mechanismus der Informationsweitergabe: Die kulturelle Evolution
bringt einen völlig neuen Mechanismus der Informationsweitergabe
ins Spiel, nämlich die Weitergabe, die soziale Verwertung individuell
erworbener Eigenschaften.
69
Barbara König
2. Geschwindigkeit: Die kulturelle Evolution kommt um viele Größenordnungen schneller voran als die natürliche Evolution. Einer der
Gründe ist leicht erkennbar. Ein biologisches Wesen hat entweder ein
oder zwei Eltern. Genetisch erbt es üblicherweise jeweils 50% seiner
Anlagen von einem Elter, im Falle der asexuellen oder parthenogenetischen Zeugung sogar 100% von einem. Die biologischen Eltern
können immer nur einen kleinen Teil aller in der Population vorhandenen genetischen Varianten besitzen (Allele). Der Nachkomme muss
deshalb immer mit einem mehr oder weniger zusammengewürfelten
Prozentsatz dieser Allele auskommen. Er kann sich nicht die am besten geeigneten Kombinationen aus dem gesamten, in der Population
vorhandenen Genmaterial herausziehen. Ganz anders bei der kulturellen Evolution. In diesem Prozess kann man beliebig viele »Eltern«
haben, und in der Regel sind es wesentlich mehr als zwei. Weiterhin
kann man sich (zumindest theoretisch) das jeweils am besten Zusammenpassende und für die momentane Situation Günstigste aussuchen
und von unterschiedlichen »Eltern« erlernen. Man muss nicht auf das
Lotteriespiel von Mutation und vor allem Rekombination warten,
um ein gutes Los ziehen zu können. Kulturelle Evolution beinhaltet
somit, dass nicht alle Probleme mit einer Ausstattung gelöst werden
müssen, wie dies bei der natürlichen Evolution der Fall ist, bei welcher
der Genotyp eines Individuums ja nach der Zeugung feststeht. Zwar
gibt es auch auf der Ebene der genetischen Information verschiedene Lösungsmöglichkeiten für verschiedene durch die unbelebte und
belebte (auch soziale) Umwelt gebotene Situationen, die potenzielle
Flexibilität der kulturellen Evolution erreicht die genetische aber nicht.
Die Folgen dieser Unterschiede zur natürlichen Selektion für den Prozess
der kulturellen Evolution zu verstehen und zu analysieren, ist Thema
eines vergleichsweise jungen Forschungsgebiets, mit vielversprechenden
Ansätzen für die Modellentwicklung (Feldman & Laland 1996).
9. Fördert Kultur die Intelligenz?
Den Menschen als die intelligenteste Art anzusehen, die auf unserem
Planeten lebt, ist kaum umstritten. Zahlreiche andere Tierarten haben
spezifische kognitive Fähigkeiten, die in ihrer jeweiligen Umwelt einen
Anpassungswert haben, sie lösen aber nur selten neue Probleme, wenn
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Haben Tiere eine Kultur – ist unsere Kultur »tierisch«?
sie beispielsweise plötzlich mit einer neuen Umweltsituation konfrontiert
werden. Diejenigen Arten, die das tun, können wir aus zoologischer Sicht
als intelligent bezeichnen, hierzu gehören Elefanten, Delfine, Papageien
oder Krähen, dennoch erreicht keine Art das Ausmaß der intellektuellen
Fähigkeiten des Menschen. Was könnte der Grund für die Evolution eines
derart leistungsfähigen Gehirns bei unseren Vorfahren, den ersten Hominiden, wie auch bei einigen anderen hoch sozialen Tierarten gewesen sein?
Nach Meinung von van Schaik ist das soziale Lernen, das Lernen von
Artgenossen, die Voraussetzung für Intelligenz. Beim heranwachsenden
Kind entwickelt sich Intelligenz mit der Zeit. Kinder lernen vor allem
aufgrund der Anleitung durch – meist zumindest – geduldige Erwachsene. Dieser soziale oder kulturelle Einfluss ist von wichtiger Bedeutung
für die Entwicklung von zahlreichen Kompetenzen. Es mehren sich nun
die Hinweise und Belege, dass auch bei unseren nächsten Verwandten,
den Menschenaffen, dieser Prozess des sozialen Lernens eine wichtige
Rolle spielt. Aufgrund seiner langjährigen Verhaltensstudien von OrangUtans kam Carel van Schaik zu folgender These: »… by and large, the
animals that are intelligent are the ones that are cultural: they learn from
one another innovative solutions to ecological or social problems« (van
Schaik 2006).
Auf den Punkt gebracht bedeutet die van schaiksche These: Kulturfähigkeit fördert Intelligenz. Soziales Lernen macht clever, man lernt
Dinge schneller, wenn man Rollenmodelle oder Vorbilder hat, man kann
sich neue Techniken oder Fertigkeiten aneignen, ohne erst aufwendige
Innovationen generieren zu müssen. Zukünftige Studien werden zeigen,
ob diese These Bestand hat.
Neben den aus biologischer Sicht weitreichenden Auswirkungen von
Kulturfähigkeit auf sehr unterschiedliche Bereiche des Sozialverhaltens,
der sozialen Flexibilität und der Evolution von kognitiven Fähigkeiten,
erwähnt van Schaik aber auch, dass soziales Lernen exploratives oder
innovatives Verhalten hemmen kann, da es ja – wie geschildert – zum
Einhalten von Regeln oder Normen führt. Die Frage nach einem Zusammenhang zwischen sozialem Lernen und einer Prädisposition für
konservatives Verhalten stellt wohl nicht nur für an Kultur interessierte
Biologinnen und Biologen eine Herausforderung dar.
71
Barbara König
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72
Gesine Krüger
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
»Einem ausgewachsenen Nashorn über die warme, relativ weiche Haut
zwischen seinem Maul und dem Ansatz des Horns zu streicheln gehört
sicher nicht zu den Methoden der historischen Forschung.« Dies schrieb
Glynis Ridley (2008, 13) ein wenig selbstironisch in ihrem Buch Clara’s
Grand Tour, das mit dem renommierten Preis des Londoner Institute
of Historical Research ausgezeichnet worden ist. Es handelt sich um die
Beschreibung der Reise einer Rhinozerosdame, eines indischen Panzernashorns, im 18. Jahrhundert quer durch Europa. Sie kam auf dem Schiff
Knabenhoe unter Kapitän Douwe Mout van der Meer am 22. Juli 1741
im Hafen von Rotterdam an. Der Kapitän hatte Clara von Jan Albert
Sichterman, dem Direktor der Holländischen Ostindischen Kompanie, in
Assam gekauft und wollte in Europa ein Geschäft mit ihrer Vorführung
machen. Siebzehn Jahre lang reisten die beiden in einem eigens für Clara
konstruierten Wagen unermüdlich von Stadt zu Stadt: von Leiden über
Hannover, Berlin und Wien nach Zürich, zurück nach Leiden und dann
über Paris, Neapel und Rom nach Venedig, wieder nach Leiden und
schließlich nach London, wo Clara im Alter von zwanzig Jahren starb,
obwohl ihr Besitzer nach damaligem Kenntnisstand davon ausgegangen
war, dass sie wohl mehr als hundert Jahre lang leben würde. Mit dem
Beginn der europäischen Expansion haben Menschen in Europa erstmals
wieder Nashörner gesehen, die in der Antike bereits bekannt waren. Doch
zwischen »dem 3. und dem 16. Jahrhundert waren keine Nashörner nach
Europa gebracht worden. Die Kenntnisse römischer Tierhändler, denen
73
Gesine Krüger
das früher gelungen war, waren in Vergessenheit geraten. Gelehrte hatten
Zweifel an der Existenz dieser wundersamen Kreatur, die von klassischen
Schriftstellern als Erzfeind des Elefanten bezeichnet und dessen Horn
wundersame medizinische Kräfte zugeschrieben wurden.« (Ebd., 18 f.)
Tierbiografie – Tiergeschichte/n
Die Geschichte von Clara bezeichnet einen doppelten Neubeginn: das
Wiederanknüpfen an fast vergessenes (natur)historisches Wissen und eine
neue Form der Auseinandersetzung mit der Anwesenheit von Tieren in
der Geschichte, nicht nur als Wirtschaftsfaktor oder »Teil der Szenerie«.1
Was Glynis Ridley in ihrem Buch unternimmt, ist der Versuch, eine Kulturgeschichte dieses in Europa in der frühen Neuzeit wieder entdeckten
Tieres am Beispiel eines einzelnen Exemplars zu schreiben, das unter
dem Namen Clara bekannt wurde und vielfältige visuelle und schriftliche
Spuren in den Archiven hinterlassen hat. Ein solch kulturgeschichtlicher
und dabei dezidiert biografischer Zugang zu Tieren kennzeichnet eine
wichtige Perspektive der Human-Animal Studies und der neuen Tiergeschichte, die sich auch im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren
zu etablieren beginnt.2
Die archäologischen und historischen Archive sind ebenso wie die
Kunst und die mündliche wie schriftliche Literatur von tierischen »Spuren« und »Fährten« durchzogen. Menschliche Kultur wäre, so lässt sich
generalisierend sagen, evolutionär und historisch ohne Tiere gar nicht
zu denken und insofern gehören Tiere fraglos, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, zur Kultur und Kulturgeschichte. Doch besitzen Tiere
selbst Kultur im Sinne einer eigenen agency, also einer individuellen und/
oder kollektiven Handlungs- und Wirkungsmacht, die historische Prozesse beeinflusst und wiederum selbst historischen Prozessen unterliegt? 3
Oder verspeisen wir, etwas zugespitzt gesagt, immer das gleiche Schwein?
Wo wäre Kultur bei Tieren zu lokalisieren und wo findet Kultur im Austausch mit Tieren statt? Diese Fragen sollen im Folgenden aus historischer
und geschichtswissenschaftlicher Perspektive weiter entfaltet werden.
Dabei wird kein biologischer oder anthropologischer Kulturbegriff zugrunde gelegt, der zunächst ermitteln möchte, in welcher Weise von Kultur
bei nicht menschlichen Tieren zu sprechen ist, sondern es soll der Versuch unternommen werden, den Ort von Tieren innerhalb menschlicher
74
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
Kulturen – verstanden als soziale Praxis und als Repräsentationssysteme –
genauer zu bestimmen. Grundprämisse ist dabei, dass Tiere etwas tun
und dieses Tun menschliches Handeln beeinflusst, so wie auch umgekehrt
menschliches Handeln tierliches Leben beeinflusst. Im Mittelpunkt steht
also die Beziehung zwischen Menschen und Tieren und nicht die Frage
danach, was Menschen und Tiere voneinander unterscheidet oder was
das Wesen von Mensch und Tier sei.
Der Kapitän und Clara teilten anfänglich einen sehr begrenzten
Lebensraum miteinander: »Während Van der Meer sein Schiff nach Hause
segelte, konnte er Clara täglich beobachten und sie an seine Gesellschaft
gewöhnen. So begann eine Beziehung, die achtzehn Jahre halten und Van
der Meer in die Nähe von Königen bringen sollte. Und dabei prägte er das
zukünftige Bild der Europäer von einem Rhinozeros.« (Ridley 2008, 27)
In diesem Zitat ist zweierlei angesprochen: die reale Beziehung zwischen
Mensch und Tier, die auf Beobachtung, Gewöhnung und gegenseitiger
Gesellschaft beruht, und zugleich die Ebene von Bildern, Repräsentationen und Wissensordnungen, denn Clara entzündete die Fantasie von
Publikum, Künstlern und Wissenschaftlern, verschaffte Van der Meer
Zugang zum höchsten Adel und prägte ein neues Bild vom Rhinozeros
in Europa, das ältere Bilder und Vorstellungen überlagerte. Schon seit der
Antike rankten sich so manche Geschichten um dieses seltsame Tier, um
sein Verhalten und sein Aussehen. Elefanten galten ihm als besonderer
Feind, dem es mit angespitztem Horn von unten den Bauch aufschlitzte,
wie bei Plinius dem Älteren im achten Band seiner Naturgeschichte aus
dem Jahr 77 n. Chr. zu lesen ist. Und noch Albrecht Dürer wusste von
diesen erbitterten Kämpfen, wie der Text auf seinem 1515 angefertigten
Holzschnitt Rhinocerus bezeugt: »Der Helffandt furcht es fast ubel/ dann
wo es In ankumbt/ so laufft Im das Thier mit dem kopff zwischen dye
fordern payn/ und reyst den Helffant vnden am pauch auff und erwůrgt
In/ des mag er sich nit erwern.« Dürer hatte das Tier nach Berichten und
Skizzen aus zweiter Hand dargestellt. Es handelte sich um ein Geschenk
von Alfonso de Albuquerque, Vertreter der portugiesischen Krone in
Indien, an König Manuel I. von Portugal. Der bis heute populäre Holzschnitt wurde vielfach kopiert und gedruckt und diente 200 Jahre lang,
inklusive eines fälschlich auf dem Rücken platzierten zweiten Horns, als
Vorlage für weitere Abbildungen.
Acht indische Nashörner kamen zwischen der Renaissance und dem
18. Jahrhundert nach Europa, überlebten jedoch jeweils nur für eine kurze
75
Gesine Krüger
Zeit, wie auch König Manuels Exemplar, das prächtig geschmückt auf
dem Weg zu Papst Leo X. bei einem Schiffbruch ertrank und erst später
als ausgestopftes Exponat und damit wesentlich weniger spektakuläres
Geschenk nach Rom gelangte (Bedini 2006). Clara war mit ihrer Grand
Tour eine Ausnahme und ein großer kommerzieller, künstlerischer und
wissenschaftlicher Erfolg. Sie wurde gemalt und gezeichnet, in Porzellan
und Bronze modelliert, als Souvenir und naturhistorische Sensation vermarktet, und nach ihrem Vorbild wurden ältere Abbildungen, etwa aus
der Porzellanmanufaktur, revidiert. Der Hofmaler von Ludwig XV., JeanBaptiste Oudry, führte 1749 ein Porträt in Lebensgröße aus (Abb. 1),4 und
das in Versailles gemalte Bild wurde Vorlage für zahlreiche Abbildungen,
unter anderem (in einem Doppelporträt mit einem Elefanten!) in Diderots und D’Alemberts Encyclopédie sowie in der Histoire naturelle von
Buffon (1767, 110 f.).
Abb. 1: Jean-Baptiste Oudry: Clara das Rhinozeros, 1749.
Öl auf Leinwand, 310 × 456 cm. Staatliches Museum Schwerin.
76
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
Es kann als einer der vielen bezeichnenden Paradoxien in der MenschTier-Geschichte gelten, dass dieses seltene Tier nur deshalb einem zutiefst
verblüfften Publikum präsentiert werden konnte, weil es sich bei der
»wilden Bestie« tatsächlich um eine zahme Handaufzucht handelte, die
seit der frühsten Kindheit an Menschen gewöhnt war und wohl aus diesem Grund auch die lange Reise über das Meer und quer durch Europa
überlebte. Erst wenige Wochen alt, kam Clara in den Haushalt von Direktor Sichtermann in Assam und lernte dort, sich zwischen den Möbeln im
Salon einer Kolonialresidenz zu bewegen, bis sie zu groß geworden war
und vom Kapitän, immer noch als Jungtier, gekauft wurde. Wild – zahm,
Bestie – Haustier, die Kategorien müssen hier durcheinandergeraten.
Gerade solch außergewöhnliche Tierbiografien schärfen jedoch das Bewusstsein dafür, dass Tiere gleichzeitig ganz sie selbst und für sich sind
und ebenso zu den Menschen und zur menschlichen Geschichte gehören.
Dieser Gedankengang kommt auch in folgendem Zitat aus der Thierseelenkunde von Reverend William Bingley wunderbar zum Ausdruck.5
Das Buch erschien fünfzig Jahre nach Claras Tod, und der Übersetzer
Dr. Bergk schrieb in seiner Vorrede zur deutschen Ausgabe nach einer
Bemerkung zur Nützlichkeit des Studiums der Tiere für die Menschen
unmittelbar im Anschluss:
»Wenn diese [die Thierseelenkunde] aber auch ohne Werth für Menschenkenntnis
wäre, so sind doch die Thiere schon an und für sich selbst ein zu interessanter
Gegenstand, als dass nicht eine innigere Bekanntschaft mit ihrem geistigen
Zustande dem Beobachter das größte Vergnügen gewähren sollte. Was ist, das
soll der Mensch kennen lernen, weil alles mehr oder weniger Einfluss auf seinen
Körper oder seinen Geist hat, und wie vielen Nutzen, wie vieles Vergnügen
gewähren nicht die Thiere dem Menschen?« (Bingley 1804–1810, Bd. 2, V f.)
Was ist, das soll der Mensch kennenlernen, doch Tiere streicheln als historische Methode? Das bezweifelt auch Claras Biografin Glynis Ridley
mit dem netten Kunstgriff, etwas aufzurufen, indem man es in Abrede
stellt. Das Berühren von Tieren, sie anzuschauen und mit den Sinnen
wahrzunehmen ist zwar ein wichtiger Aspekt des Begreifens von Tieren,
entzieht sich historischer Forschung allerdings weitgehend (Berger 1991).
Die Frage nach dem Tier in der Geschichte und nach der Geschichtlichkeit von Tieren beginnt sich jedoch als ein Zweig in der Geschichtswissenschaft zu etablieren, denn ausgehend von alten Problemstellungen – wer
sind die Akteure im historischen Prozess? – und neuen, von der Soziolo77
Gesine Krüger
gie und der Wissenschaftsforschung angeregten Fragen – man denke an
Donna Haraways Figur des Cyborg (1995) oder Bruno Latours Parlament
der Dinge (2001) – findet ein Nachdenken über die Handlungsmacht
von Dingen und Maschinen statt, über die Möglichkeit einer symmetrischen Anthropologie und damit auch über die Bedeutung von Tieren
in historischen und aktuellen Konstellationen. Menschen und Tiere sind
intrinsisch und untrennbar miteinander verbunden. Seit Menschen zu
Menschen geworden sind, haben sie sich von den Tieren entfernt und mit
ihnen gemeinsam gelebt – sie gezähmt, gejagt, gefürchtet und verehrt. Es
handelt sich daher um eine Beziehungsgeschichte, die Produktion und
Reproduktion, Religion und Kunst, Alltag und Traumwelten sowie ein
weites Spektrum von Emotionen betrifft.6
Tiere und Kultur – vier Verhältnisse
Es mag so scheinen, dass wir heute weniger mit Tieren zu tun hätten als
in früheren, agrarisch geprägten Zeiten, in denen etwa Van der Meer,
Bingley und Bergk lebten. Tatsächlich sind die meisten Tiere, welche die
westliche, postindustrielle und globalisierte Lebenswelt bevölkern, dem
Blick entzogen, abgesehen von Haustieren als Familienmitgliedern sowie
Zoo- und Zirkustieren und manchmal auch den Stadttieren, die sich als
Kulturfolger in urbanen Nischen angesiedelt haben. Tiere sind vor allem
medial präsent und kein Tag vergeht ohne Tiersendungen oder Dokumentarfilme im Fernsehen. Dabei werden raffinierte Techniken eingesetzt,
um menschliche Präsenz als störendes Element zu vermeiden, also genau
den Beziehungsaspekt zu verleugnen, der überhaupt Voraussetzung der
Möglichkeit einer solchen Betrachtung von Tieren ist, von Tieren, die
normalerweise weglaufen würden oder umgekehrt den Beobachter zum
Weglaufen brächten.7 Stationäre Kameras mit Bewegungsmeldern sind
längst Vergangenheit, heute spielt die Eisbärfamilie mit der als Schneeball
getarnten Kamera, und die Elefanten filmen sich scheinbar selbst mit der
zuvor am Stoßzahn angebrachten Kamera im robusten Holzgehäuse.
Niemals konnten Tiere so eingehend aus der Nähe betrachtet werden
und doch sehen wir die meisten Tiere nicht, die uns etwas angehen. Sie
werden in ungeheuren Mengen als Ware für die Nahrungsmittelindustrie
produziert, sie dienen allein der Fleischproduktion und sind gleichsam
unsichtbar, nur als Karikatur oder Symbol präsent.8 Viele Schlachtereien
78
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
oder Metzgereien in Deutschland, Österreich und der Schweiz werben
mit properen Schweinen oder glücklichen Rindern, die sich selbst zum
Verzehr anbieten, manchmal Messer und Gabel in der Seite oder im Rücken stecken haben oder einen Teller mit Braten und Würsten servieren.
Insofern Tiere der Ernährung dienen, durchqueren sie buchstäblich unsere
Körper und schon deshalb sollten uns ihre Lebensbedingungen nicht egal
sein.9 Die Produktionsbedingungen in der Fleischindustrie sind im Prinzip
kein Geheimnis. Schon Bernhard Grzimek hat 1971 in seiner Sendung Ein
Platz für Tiere die Haltung von Käfighühnern angeprangert und damit
großes, wenn auch nur kurzzeitiges Entsetzen beim Publikum ausgelöst.
Warum dann diese merkwürdigen Bilder? Das Bild vom Schweinchen,
das sich selbst die Koteletts von den Rippen schneidet, dient m.E. nicht
der Verschleierungen von Tatsachen, nicht der Irreführung über die oft
elenden Produktionsbedingungen in der Schweinemast, sondern sein
Bild ist eher als magische Operation zu verstehen. Wir wissen, dass wir
Tieren – Geschöpfen, die in Fabeln zu uns sprechen, in der Mythologie
Göttern zugeordnet und im Alltag geliebte Gefährten sind – Unrecht
tun, und daher brauchen wir das Einverständnis, oder zumindest diese
Simulation von Zustimmung, um das Tier essen zu können. Hinter diesen
Darstellungen verbirgt sich ein Wissen darum, dass es heikel ist, Tiere –
egal wie sie gelebt haben – zu essen.
Tiere kommen uns also in gewisser Weise näher als andere Menschen,
und zugleich sind sie als Gegenüber anders, fremd und gerade durch
ihr Nichtmenschsein gekennzeichnet. Aus geschichtswissenschaftlicher
Perspektive stellt sich daher die Frage, wie Tiere theoretisch und konzeptionell in die Geschichtsschreibung integriert werden können, ohne sie
einerseits anthropozentrisch »einzuverleiben« oder sie andererseits erneut
zur Bestimmung der eigenen Subjektivität als anderes auszugrenzen.
Wie lassen sich dabei Tiere und Kultur in einer historischen Perspektive
zusammen denken, ohne Tiere ausschließlich als Symbole und Repräsentationen zu verstehen?
Ich möchte zunächst in Stichworten vier Verhältnisse skizzieren, die
zwar analytisch getrennt werden können, sich in der Praxis aber überschneiden. Dabei sind andere kulturelle Wissenssysteme und Praktiken
mitzudenken, denn zu oft erscheint auch in den Human-Animal Studies
der größte Teil der Welt – Asien, Afrika und Lateinamerika – allein als
Abweichung oder Sonderfall, während »wir« jeweils für die ganze Welt
stehen.
79
Gesine Krüger
1. Die longue durée der Kulturgeschichte
von Mensch-Tier-Beziehungen
Das erste Verhältnis betrifft Strukturen von langer Dauer im Sinne von
Fernand Braudels Konzept unterschiedlicher historischer Zeiten (1977).
Hier ist an die Koevolution von Menschen und Tieren zu denken,10 an Beziehungen, die beide Seiten dauerhaft veränderten aufgrund von Kooperationen, Domestikation, Züchtung und Zähmung.11 Dazu gehören
ebenfalls die Jagd und die mit ihr verbundenen Kenntnisse, Fähigkeiten
und Rituale, die allerdings von der systematischen Ausrottung ganzer
Tierpopulationen zu unterscheiden ist. Ein bekanntes Beispiel dafür ist
der amerikanische Bison, der einem klassischen kolonialen Bündnis von
Farmern, Militär und Eisenbahngesellschaften zum Opfer fiel. Mit seiner
Ausrottung sollte den indigenen Völkern die Lebensgrundlage entzogen,
das Land für die kapitalistische Landwirtschaft »frei« gemacht und ein
ungehinderter Eisenbahnverkehr gewährleistet werden. Der Hinweis
auf solch »rationale« Strategien erklärt jedoch nicht hinreichend die
z.T. exzessive Mordlust in den Kolonien und kolonisierten Gebieten,
bei der nicht einmal mehr der Anschein waidgerechten Vorgehens aufrechterhalten wurde.12 Die hochgerüstete Jagd bewirkte Veränderungen
im Verhalten und Aussehen von Tieren. Offenbar besitzen inzwischen
immer mehr Elefanten im südlichen Afrika aufgrund der starken Bejagung keine Stoßzähne mehr, da dies einen Überlebensvorteil darstellt,
und Tiger sind ebenfalls aufgrund starker Bejagung während und nach
der britischen Kolonialzeit aggressiver geworden und begannen damit,
Menschen anzugreifen.13 Die Kolonisierungsprozesse gingen umgekehrt
mit der Einführung neuer Tierarten einher, der Verbreitung europäischer
Nutztiere auf allen Kontinenten, und in Australien gelten heute nicht nur
Hunde, Aga-Kröten und Kaninchen, sondern auch die ab 1840 eingeführten Kamele als »Plagen« und werden mit drastischen Maßnahmen
bekämpft. Anhand von Tieren lässt sich eine globale Verflechtungsgeschichte rekonstruieren, die ihre Vorläufer in den frühen, sogenannten
Hochkulturen hat, wo Tiere bereits für Menagerien und als Herrschergeschenke über weite Entfernungen hin transportiert und getauscht worden sind. Als dann mit der europäischen Expansion die Ausstellung von
Exoten wie Clara Schaulust und Fantasie des europäischen Publikums
beflügelten, bunte Vögel aus aller Herren Länder und kleine Äffchen
als erste »nutzlose« Haustiere adelige und bürgerliche Familien erfreu80
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
ten und die Tier- und Pflanzenwelt noch einmal neu geordnet werden
musste, setzte zugleich ein radikaler Transformationsprozess ein: »Seit
der Entdeckung Amerikas und des Auffinden des Seewegs nach Indien
öffnete und veränderte sich die Welt in den folgenden Jahrhunderten
nicht nur aus geografischer Sicht. Der Transfer von Tieren und Pflanzen
zwischen alter und neuer Welt – und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts
auch nach und von Ozeanien aus – führte weltweit zu einem grundlegenden Wandel der Natur- und Kulturlandschaften.«14 Zugleich fand auch
eine Neuordnung des botanischen und zoologischen Wissens statt, denn
»animals in the New World did not fit personal knowledge or ancient
authority; worse, they had no names. How were they to be explained?«
(Asúa/French 2005, XV)
2. Tiere innerhalb kultureller Produktionen
Das zweite Verhältnis betrifft Tiere, die als Allegorien, Symbole, Embleme und Zeichen medial produziert und reproduziert werden, die z.B.
in Tierhorrorfilm, Oper, Comic und Fabeln, als Wappen- und Totemtier,
Bestien und Monster, als Kirchen- und Häuserschmuck, in der Werbung
und Popkultur, in Literatur, Mode und Kunst, in Kinderzimmern und
Museen anzutreffen und somit fast allgegenwärtig sind. Dazu kommen
mythische Wesen wie Einhörner und Wolpertinger oder Tiere, die sich in
Menschen verwandeln können und umgekehrt; außerdem Problembären15
und prominente Tiere wie Knut der Eisbär und Heidi, das schielende
Opossum, sowie Zoo- und Showstars – die Beispiele sind ungezählt.
Besonders prägnant, langlebig und zugleich wechselhaft ist die Figur des
Affenmenschen, die Teil uralter Verwandtschafts- und Differenzdebatten
über Mensch und Tier ist (Münch 2011). Bereits in antiken Quellen wird
Spott über die Affenähnlichkeit von Menschen überliefert und umgekehrt die Menschenähnlichkeit von Affen anhand ihrer Lernfähigkeit und
Nachahmungslust konstatiert. So wie der Name Menschenaffen laut Paul
Münch bereits auf deren »prekäre Zwischenstellung« verweist, handelt
es sich bei den Affenmenschen um »Grenzfiguren«, anhand derer sowohl
das Menschliche im Tier als auch das Tierische im Menschen verhandelt
wird (Krüger/Mayer/Sommer 2008). Sie gehören nicht zu den Chimären,
die sich aus erkennbar unterschiedlichen Lebewesen zusammensetzen,
sondern es geht bei den verschiedenen Figuren von Affenmenschen um die
Sichtbarmachung eines inneren Verhältnisses, d.h., der Affe steckt hier im
81
Gesine Krüger
Menschen, in Abstammung und Genen und auch im Begehren und Verhalten.16 Exemplarisch sei der vielleicht berühmteste Affenmensch, Tarzan
von Edgar Rice Burroughs, genannt, der seit 1912 Kinder und Erwachsene
auf der ganzen Welt fasziniert.17 Es gibt Adaptionen in Japan und Israel,
Tarzan im chinesischen Kino und in afrikanischen Kochbüchern, und er ist
zudem zu einer fast universell einsetzbaren Metapher geworden,18 sei es in
der Hirnforschung oder bei Alphabetisierungskampagnen. Selbst die wie
eine Ikone verehrte Primatologin Jane Goodall sagte einst über sich selbst:
»I would have been the better Jane« (Hediger 2008, 52), und imaginierte
sich an die Seite des Dschungelhelden mit äffischer Verwandtschaft und
Erziehung. Eine Ursache für die anhaltende Popularität von Tarzan liegt
vielleicht darin begründet, dass die Grundfrage, die Burroughs bewegte,
immer noch äußerst aktuell ist: Was beeinflusst die Menschwerdung
stärker, die Natur bzw. Gene oder die Kultur bzw. Sozialisation?
3. Orte und Räume
Das dritte Verhältnis bezeichnet Orte von Tier-Mensch-Kulturen, bei
denen wie im ersten Verhältnis der langen Dauer, Handlungsoptionen
auf beiden Seiten zum Tragen kommen. Um Tiere weder in die evolutionäre Vergangenheit noch in die historische Vorgeschichte menschlicher
Zivilisationen zu verbannen, sondern sie als stete, sozial und kulturell
prägende Begleiter wahrzunehmen, sind die konkreten Orte der MenschTier-Begegnung ein wichtiges Untersuchungsfeld. Diese Orte sind einerseits als Wildnis konstruierte, vorgefundene Gebiete jenseits der eigenen
Siedlungsgrenze sowie fremde Länder, Landschaften und Kontinente,
deren Eroberung mit der Namensgebung von Pflanzen und Tieren einherging. Andererseits handelt es sich um Orte wie städtische und ländliche
Haushalte, in denen Tiere leben, der Zirkus und der Zoo,19 Zuchtbetriebe
und Gestüte, Sportstätten für den Hunde- und Pferdesport sowie temporäre Orte, wie Schiffe und andere Transportmittel. Hier können nicht
nur spezifische Mensch-Tier-Beziehungen, sondern auch ganz neue TierTier-Konstellationen entstehen, wie z.B. die von Glynis Ridley (2008, 24)
beschriebene Beziehung vom Nashorn Clara zu einer Ziege auf dem
Schiffsdeck der Knabenhoe, die außerhalb der menschlichen Einflusssphäre vermutlich nicht vorgekommen wäre. Mit Nigel Rothfels (2000, 6)
lässt sich konstatieren, dass Tiergeschichte insofern keine Naturgeschichte
ist, als Tiere »in such human environments as museums, books, circuses,
82
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
and zoos [...] are as much a part of human culture as humans are«. Die
räumliche Dimension ist in der Tiergeschichte auch deshalb wichtig und
eine methodische wie konzeptionelle Erweiterung, weil ein großer Teil
von Tieren in den postmodernen Gesellschaften emotional und geografisch »exterritorialisiert« ist, so die industriell hergestellten Schlachttiere,
Labortiere, ausrangierte Versuchs- und Filmtiere, aber auch sogenannte
Schädlinge. Der Doppelcharakter der Mensch-Tier-Beziehung, gekennzeichnet durch Kooperation und Tötung, durch Verehrung und Vernichtung, reicht bis zur heutigen Aufspaltung von Vögeln und Säugetieren
in geliebte companion animals als Familienmitglieder im eigenen Heim
einerseits und massenhaft produzierte Tierware an »ausgelagerten Orten«
andererseits.20
4. Die kulturelle Praxis von Tieren
Ein Forschungsgebiet von Ethologie und Primatologie, das vom Feuilleton
immer wieder dankbar aufgegriffen wird, befasst sich mit der Frage, ob
Tiere Kultur besitzen, d.h. ob man das, was sie tun, als Kultur bezeichnen
kann und ob sich kulturelle Unterschiede innerhalb derselben Gattung,
Art oder Familie ermitteln lassen. Ein berühmtes Beispiel sind die sogenannten Schneeaffen in Japan, Rotgesichtsmakaken (Macaca fuscata),
von denen drei Gruppen im Jigokudani-Yaen-Koen-Nationalpark regelmäßig heiße Bäder nehmen und tauchen gelernt haben, während andere
Makaken das Wasser meiden. Ein anderes Beispiel findet sich im Anthropologischen Museum der Universität Zürich. Auf einem Video ist ein
Orang-Utan-Weibchen zu sehen, das Socken wäscht. Sie ist nicht dressiert
worden, sondern hat sich das Waschen offenbar in Gefangenschaft abgeschaut und wiederholt diese Tätigkeit nun aus eigenem Antrieb (Däniken
2008). Ein ebenfalls beliebtes Beispiel sind Makaken auf der Insel Kōjima,
die an den Strand gestreute Süßkartoffeln im Meer waschen, um sie zu
säubern und zu salzen. Gemeinsam ist diesen Beispielen allerdings, dass,
abgesehen von der beeindruckenden Lernfähigkeit der Affen, in allen
drei Fällen Menschen die Tiere beeinflusst haben. Es handelt sich also
um kulturelle Praktiken innerhalb menschlicher Sphären. Allerdings gibt
es inzwischen viele eindrucksvolle Beweise für sozial erlernte und über
Generationen hinweg weitergegebene Praktiken und Techniken bei den
großen Menschenaffen, die geografisch variieren und sich nicht im Werkzeuggebrauch erschöpfen.21 Aber was bedeutet das für Menschen? Und
83
Gesine Krüger
warum wird die (scheinbare) genetische Nähe von Menschenaffen und
Affen herangezogen, um eine kulturelle Nähe zu konstruieren? 22 Ich denke, die Ausweitung des Kulturbegriffs auf Tiere, seine Neufassung oder
zumindest erweiterte Anwendung hängt auch damit zusammen, dass sich
zugleich die Vorstellung dessen verändert, was »naturgegeben« ist. Die
Grenze zwischen angeborenen und erworbenen Eigenschaften, zwischen
Natur und Sozialisation wird mit inzwischen popularisierten Erkenntnissen über Gene, die aufgrund von Ernährungsweisen und Umwelteinflüssen
»an- und ausgeschaltet« werden, oder über die lebenslange Plastizität des
Hirns, durchlässiger. Wenn »Natur« und »Kultur« so eng miteinander
verflochten sind, dass sie sich gegenseitig bedingen, ist die Definition,
dass es die Kultur ist, die Menschen von Tieren unterscheidet, im Grunde
sinnlos geworden. Letztlich jedoch liefert die vorgängige Definition von
Kultur bereits die Antwort auf die Frage, ob Tiere Kultur haben: Handelt
es sich um erworbene Fähigkeiten und Praktiken, die zwischen den Generationen weitergegeben werden, haben zweifellos viele Tiere, und nicht
nur Affen, Kultur; handelt es sich jedoch um die Fähigkeit, über Kultur
nachzudenken, besitzen Tiere vermutlich keine Kultur.23 Unabhängig aber
davon, wie die Frage nach der Kultur von Tieren beantwortet wird, ist es
sicher, dass ohne Tiere keine Kultur existieren würde.
Koloniale Tiere – für ein globale Tiergeschichte
Zur Jahrtausendwende fanden eine Reihe internationaler und interdisziplinärer Konferenzen in Grossbritannien und den USA zum Thema »nonhuman animals in culture« statt, die laut des zusammenfassenden Konferenzberichts von Julie Ann Smith (2001) die Hoffnung weckten, dies
sei »the beginning of a new interdisciplinary field of animal studies in the
humanities«. Es handelte sich um die Konferenzen »Animals in History
and Culture« am Bath Spa University College, »Representing Animals« an
der Universität Wisconsin-Milwaukee, »Thresholds of Identity in HumanAnimal Relations« an der Universität von Kalifornien und »Millennial
Animals: Theorising and Understanding the Importance of Animals« an
der Universität Sheffield.24 Auch in der Geschichtswissenschaft gibt es
dazu inzwischen zahlreiche Konferenzen (mit immer spezielleren thematischen Beiträgen), Veröffentlichungen und Forschungsprojekte sowie mit
H -Animal ein wichtiges Diskussionsnetzwerk.25
84
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
Auch für die neue Kolonialgeschichte und die Area Studies spielt das
Thema eine zunehmend wichtige Rolle. Es lässt sich kaum ignorieren,
dass die weltweiten kulturellen und wirtschaftlichen Verflechtungen und
Vernetzungen, die mit dem Beginn der europäischen Expansion eine neue
Dynamik erhielten, ganz wesentlich auch mit der Nutzung, dem Transfer
und der Veränderung von Tieren einherging sowie umgekehrt mit den
durch sie ausgelösten Transformationen. Schon bei den ersten sogenannten Entdeckungsfahrten waren Tiere in unterschiedlichster Weise und in
unterschiedlicher Funktion beteiligt. Heinrich Zimmermann beschrieb
etwa in seinem Bericht von der Reise mit Captain Cook eine Reihe von
Tieren im Mikrokosmos des Schiffes: sie waren ein lebendiger Nahrungsvorrat – zunächst die eigenen, von zu Hause mitgebrachten Tiere, dann
Exoten wie Riesenschildkröten –, Pferde dienten als Herrschergeschenke
für die Fürsten der fremden Länder sowie dem Transport und der militärischen Machtdemonstration, Hunde waren »Haustiere« für die Matrosen, die sich auch Äffchen und Vögel hielten, die sie im Heimathafen
verkauften, Rinder und Ziegen wurden ebenfalls verschenkt oder auf
unbewohnten Inseln für die Ernähung späterer Schiffsmannschaften
ausgesetzt. Dabei kam es teilweise zu dramatischen Ereignissen: »Die
Einwohner erzählten uns, dass wegen des von Herrn Cook dem König
der Yamsinsel geschenkten Ziegenpaares unter beiden Inseln inzwischen
Krieg entstanden, der König von Nihau dabei getötet und die Ziegen in
Stücke gerissen worden seien.« (Zimmermann 2001, 124)
Koloniale Tiere sind auf der einen Seite die wilden, die exotischen
Tiere, die mit der europäischen Expansion, mit Imperialismus und
Kolonialismus in unterschiedlicher Weise – lebendig oder tot – in die
europäische Ökonomie, den europäischen Gefühlshaushalt und die Wissensregime eingingen. Man konnte ein Geschäft mit ihnen machen, sie
dienten der Belehrung und dem Vergnügen, und sie spielten eine prägende
Rolle bei der Repräsentation europäischer Macht in Afrika, aber auch
zu Hause. Ein Beispiel sind die Jagttrophäen, die z.T. so zahlreich waren,
dass ihnen eigene Schauhäuser gewidmet worden sind. Bernhard Gissibl
(2010, 19) weist zu Recht darauf hin, dass die koloniale Jagd nicht nur
als symbolische Herrschaftsinszenierung zu begreifen ist: »Wenn die Kolonialherren mit der Elfenbeinjagd ein zentrales Element vorkolonialer
Machtfülle kolonial überformten, deutsche Jagdreisende über ihrem Lager
die schwarz-weiß-rote Flagge hissten, ein Kolonialoffizier paternalistisch
seine afrikanischen Träger und Soldaten mit Fleisch versorgte oder die
85
Gesine Krüger
Felder eines Dorfes gegen Ernteschädlinge verteidigte – dann war Jagd
nichts weniger als eine Form und Praxis kolonialer Herrschaft selbst.« Es
gab, wie Gissibl beschreibt, viele Formen, Tiere zu töten, z.B. in Fallen,
die weniger heroisch und waidmännisch waren als die in der Kolonialund Memoirenliteratur beschriebene Jagd. Der Trophäe und nicht allein
dem getöteten Tier an sich kam jedoch eine ganz besondere Bedeutung
zu. Ausgestopfte Tiere waren als koloniale Objekte »manifestations of a
desire to possess and control nature«. (Ryan 2000, 209) Diese Inbesitznahme und Kontrolle der Natur gingen allerdings mit ihrer Zerstörung
einher, und es ist kein Zufall, dass am Beginn der Naturschutzbewegung
Großwildjäger standen, die genau wussten, dass mit der ungeregelten
Jagd und der kolonialen Vernichtung von Tieren bald keine Trophäen
mehr zu erringen waren. Der Topos der aussterbenden Tiere ging Hand
in Hand mit dem Topos von den aussterbenden Menschen (»vanishing
races«) – beide lebten in einem zeitlosen Abseits der Moderne, einer als
außergeschichtlich konzipierten Natur, zu der die Tiere gehörten und auch
die selbst vom Aussterben bedrohten Menschen, die allerdings zugleich
eine Bedrohung für die Tiere darstellten.
Der zweite Aspekt kolonialer Tiere betrifft Tiere, die Teil des Kolonisationsprozesses waren und wie Rinder und andere domestic animals
einen wichtigen Anteil an der Besiedlung und Kolonisierung Amerikas,
des britischen Empire und anderer überseeischer Gebiete hatten.26 Pferde
spielten in Amerika und im südlichen Afrika eine völlig unterschiedliche
Rolle, und hier zeigt sich, dass Kulturgeschichte sinnvoll sowohl mit einem semiotischen als auch einem pragmatischen Kulturbegriff operieren
kann.27 In den USA war und ist das Pferd ein Symbol für Freiheit und
Ungebundenheit, für die Weite der Landschaft und männliches Abenteurertum. In Südafrika hingegen war das Pferd eher ein Symbol für Zivilisation, Kultiviertheit und Domestikation. In beiden Fällen ist die Analyse
von Pferdediskursen in Kunst, Literatur sowie der politischen Sphäre und
medialen Referenzsystemen ausgesprochen fruchtbar. Gründe für diese
unterschiedlichen Besetzungen lassen sich jedoch auch anhand klimatischer, historischer und biologischer Faktoren erklären, die bestimmte
Handlungsoptionen vorgaben. Pferde (equus caballus) sind in Afrika
nicht einheimisch, seit dem 6. Jahrhundert wurden sie zwar in Nord- und
Westafrika gezüchtet und verwendet, doch im südlichen Afrika verhinderten die African Horse Sickness und die Schlafkrankheit ihre Verbreitung.
In Südafrika gibt es zudem wenig natürliches Futter, die Weiden sind karg,
86
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
und Pferde zu halten war lange Zeit ein Privileg der oberen Gesellschaft,
der hohen Beamten der Holländischen Ostindischen Kompanie, welche
die Versorgungsstation am Kap verwalteten. Der frühe südafrikanische
Kolonialstaat im 19. Jahrhundert hingegen »was based, at least in part,
on the power of the horse in the realm of agriculture, the military and
communication«, allerdings blieben Pferde ein Symbol kolonialer Überlegenheit und konnten dazu beitragen, den sozialen Status zu erhöhen:
»Settlers who could not afford a horse in England, got a boost in status
as they could afford one at the Cape.« (Swart 2003, 47) Dabei markierte
nicht nur der Besitz von Pferden, sondern auch der von Kutschen und
Wagen Statusunterschiede. In Amerika war die Situation anders, weil hier
das Klima für Pferde geeignet ist, und sie mussten nicht auf dem Seeweg
importiert werden – eine gefährliche und kostspielige Angelegenheit –,
sondern die Siedler stießen auf ihrem Weg nach Westen auf verwilderte
Pferde der Spanier, und das Zähmen von Mustangs, das Rodeo, wurde
Teil der amerikanischen Mythen über Naturgewalt und Männlichkeit.
Für beide Kontinente gilt bei allen Unterschieden: »History was made
with horse power and equally the horses were shaped by human history,
incorporating the environmental and shifting anthropogenetic needs into
their genetic makeup.« (Ebd., 63)
Der Blick auf die koloniale und postkoloniale Geschichte zeigt, dass
Tiere in ihrem Verhältnis zu den Menschen in unterschiedlicher Weise
soziale Akteure waren. Vielleicht sollte man daher nicht fragen, »ob Tiere
Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung (Agency) haben. Vielmehr sollte
man in einer gegebenen Situation fragen: Wer sind die sozialen Akteure?«
(Pearson/Weismantel 2010, 393) Handlungsfreiheit muss als Kategorie
der Geschichtswissenschaft selbst historisiert werden, als Errungenschaft
von Emanzipationsprozessen, und Selbstbestimmung wurde vielen Menschengruppen verweigert, die dennoch als soziale Akteure in der Geschichte zu fassen sind. Virginia DeJohn Anderson unternimmt in ihrem
Buch Creatures of Empire den Versuch, Rinder als soziale Akteure der
kolonialen Besiedlung Amerikas zu analysieren, und stellt zunächst fest:
»Livestock seldom figure at all in narratives of colonization, and when
they do they usually serve as part of the scenery rather than as historical
actors.«28 Sie kritisiert ferner, dass bisher eine wesentliche Dynamik der
Kolonialgeschichte als Geschichte mit Tieren ausgeblendet wurde, und
holt die Tiere – die kolonialen und kolonisierenden Rinder – zurück in
das historische Narrativ. Sie betrachtet Rinder als Akteure neben den
87
Gesine Krüger
Siedlern und den indigenen Gemeinschaften und ermöglicht damit eine
neue Perspektive auf die Grenzgesellschaft. So wurden anhand streunender Rinder Fragen von Wildheit und Domestifikation, von Territorium
und Grenzen, von Zivilisation und Natur verhandelt. »Tiere haben die
Gesellschaften, in denen sie lebten, beeinflusst durch ihre individuelle
Anwesenheit innerhalb der sozialen Geographie sowie durch ihre kollektiven Bedürfnisse und Fähigkeiten als Angehörige bestimmter Spezies.«
(Pearson/Weismantel 2010, 394) Sie sind als eigene Akteursgruppe, die
mit anderen Akteursgruppen vernetzt ist, sinnvoll zu untersuchen.
Überlegungen darüber, das wäre der nächste Schritt, ob und in welcher
Weise Tiere zu unserer Gesellschaft gehören, ob man nicht menschliche
Akteure in der Geschichtsschreibung ignorieren kann, soll vor allem auch
als »definierende Eigenschaft wahrgenommen werden, die eine Gesellschaft von einer anderen unterscheidet« (ebd.). Dies gilt in historischer
wie kultureller Hinsicht, denn zu anderen Zeiten und in anderen Zivilisationen stellte sich die Frage nach den Tieren als Akteuren gar nicht, weil
sie als aktive, individuell agierende Wesen innerhalb sozialer Beziehungen
in einer gemeinsam geteilten Welt galten. Auch aus diesem Grunde sind
Studien wie die von Sandra Swarts und Virginia DeJohn Anderson ein
wertvoller Beitrag zu einer global gedachten Tiergeschichte.
Tiere machen Geschichte – mit Tieren Geschichte machen
Harriet Ritvo verstand in einem Forschungsüberblick von 2004 das
zunehmende Interesse an Tieren als Resultat einer Demokratisierung
der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen. Zunächst vor allem in der
Umweltgeschichte situiert, rückten Tiere zunehmend in den Horizont
einer Geschichtsschreibung, die bis anhin höchstens Lieblingstiere von
Herrschern, Tiere als Geschenke oder auch als Wirtschaftsfaktor erwähnte. Im Sammelband Tierische Geschichte schreiben Dorothee Brantz
und Christoph Mauch (2010, 8) in der Einleitung: »Wenn Tiere also
eine solch vielschichtige Rolle in unserer materiellen, kulturellen und
geistigen Lebenswelt spielen, wenn Künstler, Philosophen, Psychologen
und Religionswissenschaftler sich mit dem Thema beschäftigen, warum
tauchen sie so selten in den Geschichtsbüchern auf?« Die Antwort hat,
so Brantz und Mauch, sowohl mit der Genese der Geschichtswissenschaft
im deutschsprachigen Raum zu tun, mit Rankes Postulat etwa, dass
88
Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte
nicht realitätsorientierte Darstellung, sondern objektive Quellenkritik
Geschichte begründe, als auch mit der Abgrenzung der Geschichte als
geisteswissenschaftlicher Disziplin von der Naturgeschichte. Doch Menschen waren zu allen Zeiten von Tieren umgeben, haben sich bewusst
oder unbewusst in ein Verhältnis zu Tieren gesetzt. Tiere sind als Produktionsmittel, Nahrung und companion animals geradezu ein Motor
(oder Treibstoff?) der Geschichte. Und weil Mensch-Tier-Beziehungen oft
ausgesprochen gewalttätig waren und sind – kein Otter wurde gefragt,
ob er mit seinem Pelz Alaska mit China in einem globalen Handelsnetz
miteinander verbinden wollte (Gibson 1992) –, ist die Beschäftigung mit
Tieren auch eine Beschäftigung mit der Logik von Ausbeutungs- und
Machtverhältnissen, die Tiere und Menschen umfassen.
Dass eine Geschichte der Tier-Mensch-Beziehungen zu schreiben ist,
kann kaum bezweifelt werden. Tiere haben überall ihre Spuren und Fährten hinterlassen, in den historischen Archiven, auf Bildern, in Kunst und
Literatur, in der Landschaft, in und an den Körpern von Menschen, in
ihrem Gemüt. Obwohl die Spuren von Tieren – »sinnlich wahrnehmbare
Zeichen, die ein selbst nicht mehr fassbares Phänomen hinterlassen hat«
(Bloch 2002, 64) – überall in der Geschichte zu entdecken sind, wurden
sie mit ihrer systematischen Verzeichnung und Ordnung zugleich aus der
Geschichte herausgeschrieben. So schreibt etwa Hartmut Böhme (2001,
236) über Carl von Linné: »Als zweiter Adam benannte und ordnete der
Zoologe das Universum der Tiere, das weder mit der geschichtlichen
Welt der Menschen noch mit der imaginären Welt des metaphysischen
Bestiariums im Austausch stand. […] Was wir jetzt an Tieren beobachten,
wurzelt in der Tiefenzeit der Naturgeschichte – und nur darin.« Tiere in
die geschichtliche Zeit zurückzuholen und Geschichte von Tieren her
zu denken, kann äußerst produktiv sein, und ich möchte Paul Münch
(2001, 20) zustimmen, wenn er schreibt: »Ein umfassendes Verständnis
menschlicher Geschichte kann nur gelingen, wenn wir neben der stolzen
Saga der kulturellen Evolution unsere mit den anderen Tieren gemeinsame biologische Entwicklung in die historiographische Rekonstruktion
miteinbeziehen.« Diese Perspektive erscheint mir aus zweierlei Gründen
wichtig: Das Bewusstsein für die eigene Biologie kann das Konzept der
modernen Geschichtswissenschaft, der historischen Anthropologie wieder hin zu den Naturwissenschaften und zur Wissenschaftsforschung
öffnen, und zweitens kann durch die Historisierung des Verhältnisses von
kultureller Evolution und biologischer Entwicklung auch das in anderen
89
Gesine Krüger
Gesellschaften völlig andere Verständnis von Natur/Kultur, Mensch/
Tier Platz bekommen. Die Vorstellung oder sogar Programmatik, Tiere
als letzte marginalisierte Akteure in das Feld der Geschichte zu holen,
verfehlt m.E. das Potenzial der Tiergeschichte, das gerade nicht in der
Addition eines weiteren Akteurs in dieser Weise besteht, sondern darin,
dass wir uns im Tier und mit den Tieren selbst erkennen können, ohne
das Ziel der menschlichen Emanzipation aufzugeben.
Tiere und Geschichte lassen sich in dreierlei Hinsicht denken: Tiere
werden erstens durch die Geschichte verändert, heutige Tiere sind Resultat historischer Prozesse, sie verändern zweitens Geschichte durch ihre
konkrete Anwesenheit, sie sind Träger von Geschichte, und ohne die
Anwesenheit spezifischer Tiere wäre die Geschichte anders verlaufen.
Und drittens wirken Tiere in der Geschichte und den Quellen als Teil
menschlichen Selbstverständnisses, sie sind Teil historischer Überlieferung, Akteure in Geschichte und Selbstverständnis von Menschen. Und
sie sind letztlich in ihrem lebendigen Anderssein etwas Ununterworfenes
und nicht restlos Analysierbares. Über Tiere nachzudenken, bedeutet über
Menschen nachzudenken. Dabei gilt es nicht, die Unterschiede zwischen
Menschen und Tieren zu bestreiten, sondern die Unterschiede zwischen
Menschen und Tieren in philosophischer Hinsicht »unselbstverständlich«
zu machen.29
Anmerkungen
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2
3
4
Dies kritisiert z.B. DeJohn Anderson 2004, 1 f.
Zu einem ersten Überblick siehe die Zeitschriften Traverse 3, 2008: Tiere – eine andere
Geschichte?; Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS) 2, 2009: Tiere in der Stadt;
Historische Anthropologie 19, 2011: Tierische (Ge)Fährten; WerkstattGeschichte 56, 2011:
Tiere.
Diese Fragen sind auch zentral in gemeinsamen Projekten mit Aline Steinbrecher, die mir
das Tierthema nahe gelegt hat und der dieser Text in Freundschaft gewidmet ist. Zu ihren
Arbeiten siehe z.B. Steinbrecher 2010: Zur Kulturgeschichte der Hundehaltung in der
Vormoderne. Eine (Re)Lektüre von Tollwut Traktaten; dies. 2009: »In der Geschichte ist
viel zu wenig von Tieren die Rede«. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung
mit den Tieren.
Das Gemälde misst 310 × 456 cm und wurde in fünfjähriger Arbeit am Getty Museum in
den USA restauriert, nachdem es fast 150 Jahre lang aufgerollt in Schwerin gelagert hatte.
Herzog Christian Ludwig II . (1683–1756) hatte es mit zahlreichen anderen Gemälden und
Zeichnungen von Oudry erworben. 2008 kehrte das Gemälde aus den USA zurück nach
Schwerin.
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Bingley, 1804–1810. In den drei Bänden wird über die einheimische und überseeische
Tierwelt, naturkundliches Wissen sowie »merkwürdige Anekdoten« berichtet, so z.B.
über eine Truppe tanzender Schweine, die mit Kleidern angetan den kranken Ludwig XI .
erfreuten (Bd. 2, 339). Zu dieser Zeit erschienen einige »Thierseelenkunden«, die auch zur
Behandlung im Schulunterricht empfohlen worden sind.
Zu einem Überblick, der allerdings dezidiert die Repräsentation von Tieren in der Geschichte
in den Blick nimmt, siehe Kalof 2007.
Mit dem Kommentar findet jedoch gleichzeitig eine totale Ermächtigung über die scheinbar
ungestörte, paradiesische Tierwelt statt – erst mit den Erläuterungen erscheint das tierliche
Tun und Treiben »sinnvoll«, ist erkennbar und deutbar.
Als jüngst das Zeitmagazin (2012/26) seine Leserschaft über die Themen des Heftes
abstimmen ließ, war das – ebenfalls aus dem Kreis der Leserschaft vorgeschlagene – Thema
»Schlachthof« dasjenige mit den meisten Ja- und Neinstimmen.
Zur Möglichkeit und Problematik des gegenseitigen Verdauens von Menschen und Tieren
siehe Malinar 1998.
Das Konzept der Koevolution hat Donna Haraway in den Human-Animal Studies populär
gemacht, sie bezieht sich auf Vilà/Maldonado/Wayne 1999.
Jared Diamond stellt in seinem Buch Guns, Germs, and Steel (1997) die Hypothese vor, das
Vorhandensein oder Nichtvorhandensein domestizierbarer Tiere hätte die wirtschaftliche
und soziokulturelle Entwicklung ganzer Kontinente beeinflusst, d.h. Tiere stellten Weichen
für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften und Geschichte. Dazu auch Crosby 1986.
Vgl. z.B. Gissibl 2010; zur Jagd in afrikanischen Kolonien siehe Steinhart 2006.
Zu Elefanten siehe Coltman et al. 2006; zu Tigern siehe Green 2006.
Pelzer-Reith 2011, 112. Das Zitat selbst zeigt im Grunde, dass die Unterscheidung von Naturund Kulturlandschaften kritisch betrachtet werden müsste, wenn »Naturlandschaften«
bereits durch menschliche Eingriffe verändert worden sind. Als Nachschlagewerke: Long
2003 sowie Chaline 2011.
Fischer/Neukirch 2010. Das Pedant zu Wildtieren, die in die Zivilisation einbrechen, sind
z.B. »Problem-Kühe«, die in die Wildnis entlaufen, wie Yvonne, die im Sommer 2011 für
Schlagzeilen sorgte, oder Ausbrecher, die zurück in die Wildnis wollen, wie Kaiman Sammy.
Der Primatologe Volker Sommer (2000) antwortet zum Beispiel im Interview auf die Frage,
was er bei seiner Forschung über sich selbst gelernt habe: »Dass ich ein Affenmensch bin
und damit lediglich eine besondere Art von Tier. Ich finde es faszinierend, mit allen anderen
heute lebenden Wesen verbunden zu sein, durch einen äonenalten Strom von Generationen.«
Korrespondierend könnte man King Kong (1933) als Auseinandersetzung mit dem Menschen
im Affen verstehen.
Angeblich hat der ägyptische Präsident Gamal Abd el-Nasser Che Guevara mit den folgenden
Worten vor dessen geplanten Aktivitäten im Kongo gewarnt: »Sie wollen ein neuer Tarzan
werden, ein Weißer unter Schwarzen, der die Afrikaner leitet und beschützt – das ist
unmöglich.« Der Spiegel, 8.10.1995.
Der Zoo ist eines der bevorzugten Forschungsfelder der Human-Animal Studies. Siehe z.B.
Ash/Dittrich 2002, Rothfels 2002 und Wessely 2008.
Zur Konzeption von Orten, Räumen und Klassifikationen siehe Philo/Wilbert 2000. In der
Einleitung findet sich auch eine ausführliche Diskussion von »animal agency«.
Krützen / Willems / van Schaik 2011. Es ist auffällig, dass soziales Verhalten unter Menschenaffen immer öfter als Kultur bezeichnet wird.
Marks 2002, 43: »If we are similar but distinguishable from a gorilla ecologically,
demographically, anatomically, mentally indeed every way except genetically does it follow
that all the other standards of comparison are irrelevant, and the genetic comparison is
transcendent?«
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Dass sich nach der Jahrtausendwende die Frage nach der Kultur von Tieren und den Tieren in
der Kultur in den westlichen Gesellschaften so vehement stellt, lässt vielleicht Rückschlüsse
auf ein zunehmendes Misstrauen in die Erklärungskraft der Geschichtswissenschaft bzw. von
historischen Gesetzmäßigkeiten zu. Vielleicht liegt hier eine Erklärung für die Hinwendung
zur Biologie, zur Evolution und den bis anhin aus historischem Bewusstsein und politischen
Debatten ausgeschlossenen, wenn nicht verdrängten, Wesen zur Erklärung von Kriegen und
Konflikten, Geschlechterfragen und allgemeiner menschlicher Verfasstheit.
Auch das Annual Meeting of the American Anthropological Association in San Francisco
war dem Thema Tiere gewidmet. Seither haben unzählige Konferenzen aus dem Feld der
Human-Animal Studies stattgefunden.
Zu einem Überblick siehe Roscher 2012.
Am Kap der guten Hoffnung kamen die europäischen Tiere sogar den Menschen zuvor:
Noch bevor Jan van Riebeck mit seinen Schiffen 1652 am Kap landete, um hier eine
Versorgungsstation für Schiffe der Vereinigten Ostindischen Kompanie zu gründen, war
ein Pferd – vermutlich von einem schiffbrüchigen Segler – an Land gekommen. Bevor die
neuen Siedler an Land gingen, trabte das Pferd mit einem verrotteten Halfter um den Hals
am Strand entlang und ließ sich niemals einfangen.
Siehe den Artikel von Philipp Sarasin in diesem Band.
DeJohn Anderson 2004, 1 f. – Tiere sind Besitz, aber »living property – agents as well as
objects« (89).
So Uwe Justus Wenzel in einer Rezension zu Jacques Derridas Das Tier also bin ich in der
NZZ vom 19.1.2011. Wo verlaufen eigentlich die permanent postulierten Grenzen, wenn
etwa utilitaristische Philosophen wie Peter Singer Rechte für Tiere mit deren Interessen und
ihrem Schmerzempfinden begründen, und sich zugleich Menschen bzw. ihre Körperteile und
reproduktiven Fähigkeiten (erneut) als global vertriebene Ware denken lassen – Eizellen
und Embryonen werden ebenso gehandelt wie Organe und Leihmutterschaft.
Literatur
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250 Jahre Tiergarten Schönbrunn. Wien 2002.
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Thierreiche und Schilderung des geistigen Zustandes der Thiere nach dem Englischen bearbeitet
und mit einer Einleitung über die Psychologie der Thiere von J. Ad. Bergk versehen. 3 Bände.
Leipzig 1804–1810.
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Zimmermann, Heinrich: Reise um die Welt mit Captain Cook. Düsseldorf 2001.
94
Jakob Tanner
Zwischen Spekulationsblase und Crash:
Die Börse als kultureller Ort
»Wo ist Kultur?« – Die Frage begreift Kultur als Raumphänomen und
sucht nach ihrem Ort in der Gesellschaft. Das hat auch Rückwirkungen
auf die Definition dessen, was Kultur ist – womit eine Doppelbewegung
vorliegt: Zum einen soll der Kulturbegriff im Spiegelsaal von Theorieangeboten verortet werden, zum andern geht es darum, Kultur in architektonischen Ensembles, in urbanen Landschaften, in unterschiedlichsten
räumlichen Konstellationen zu lokalisieren und sie überdies in imaginären
Topografien, in Vorstellungsräumen und an Wunschorten aufzuspüren.
Auf diese Weise lässt sich der cultural turn als spatial turn verstehen:
Kultur wird ins Räumliche projiziert und an den Orten ihrer Entfaltung
analysiert.1
1. Kleine und große Börsen
Im Folgenden wird gezeigt, wie die »Wende zum Raum« ein analytisches
Drehmoment auch in einer Geschichte der Börse freizusetzen vermag. Der
Begriff »Börse« bezeichnet Unterschiedliches. Die »kleine Börse« lässt sich
in die anonyme Geschichte des trivialen Geldgebrauchs einrücken. Der
Blick richtet sich dann auf den Geldbeutel oder eben die Geldbörse, auf
ein omnipräsentes Portable, das in einer kommerzialisierten Alltagskultur
jederzeit zur Hand sein muss. Menschen tragen dauernd Geld auf sich herum. Im Helvetismus »Portemonnaie« kommt dies zum Ausdruck. Diese
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Jakob Tanner
Börsen werden an unterschiedlichen, vor Zugriffen anderer möglichst gut
geschützten Körperstellen oder in speziellen, ästhetisch anspruchsvollen
Trageinrichtungen transportiert. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive ist interessant, dass Männer eher auf einen unappetitlich krumm- und
plattgesessenen Geldbeutel in der Hosenhintertasche zugreifen, während
Frauen mit oft kunstvollen Börsen stilsicherer auftreten.
Tatsächlich leitet sich das deutsche Wort »Börse« ab aus dem griechischen býrsa, was im Lateinischen zu bursa wurde und »Fell« oder
»abgezogene Haut« bedeutet. Seit dem 9. Jahrhundert steht das althochdeutsche bursa für »Geldsäckchen« oder »Geldbeutel«. Im Folgenden
geht es allerdings nicht um das kleine Bargeld, sondern um große Gelder,
um Geldanlagen. Nicht die Liquidität, sondern die Investition, d.h. die
längerfristige Bindung finanzieller Mittel zwecks Erzielung einer Rendite, rückt ins Zentrum des Interesses. Thematisiert wird die »große
Börse« als der Ort, wo Geld zum Zweck seiner Vermehrung angelegt
wird und wo deshalb materielle wie immaterielle Werte, Dinge und Titel,
marktförmig im großen Stil gehandelt werden. Die Rede ist von Warenbörsen, Terminbörsen, Wertpapierbörsen, Devisenbörsen oder eben – als
singularetantum – von der Börse als einer zentralen Institution nicht nur
des industriellen Kapitalismus, vielmehr der Moderne überhaupt.
Diese Börse entstand an der Wende zur Frühneuzeit: Seit dem 15. Jahrhundert sind Nachrichten über belgische Börsen überliefert; in Brügge
bildete sich die Gewohnheit heraus, spekulativen Warenfernhandel als
»Börsenhandel« zu bezeichnen; seit 1531 nennt sich ein in Antwerpen
errichtetes Handelshaus so, und im Verlaufe des 16. Jahrhunderts wurde
das niederländische Wort borse ins Deutsche zurückimportiert und stand
fortan für Handelszusammenkünfte sowie für die Gebäude, in denen diese
vonstattengingen. In den gerade erst entstandenen USA wurde 1790 in
New York an der Wall Street jener Handelsplatz gegründet, der später
als New York Stock Exchange oder als »Wall Street« bekannt wurde.
Während das Börsengeschäft schon in seinen Anfängen global war, wurde
seit den 1830er-Jahren auch die Börse als Einrichtung zu einer weltweiten
Erscheinung. Mit Börsengründungen in Indien, Süd- und Mitteleuropa
und dann in weiteren Erdregionen entstand, unterstützt durch die Entwicklung der Telegrafie, ein weltweites Netz von Börsenplätzen.
Finanztechnisch ist die Börse ein Markt, auf dem fungible Werte
oder vertretbare Sachen gehandelt werden. Es lassen sich Warenbörsen
(oder Produktbörsen) von Wertpapierbörsen (oder Effektenbörsen) unter96
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
scheiden. Auch auf Ersteren ist die physische Sache, welche Gegenstand
der Transaktion ist, abwesend. Es werden nicht direkt Waren getauscht,
sondern man handelt mit »papiernen« Ansprüchen bzw. Verfügungsrechten auf Waren (z.B. Öl, Metalle oder Nahrungsmittel wie Getreide,
Kakao und Kaffee). Auf Wertpapierbörsen stehen unterschiedlichste vertretbare Werte und verbriefte Verpflichtungen aller Art zum Verkauf. Es
werden Aktien, Anleihen, Kuxe, Devisen (Währungen) oder sogenannte
Finanzinstrumente, Derivate und »strukturierte Produkte« gehandelt.2
Finanzmärkte erscheinen als Spiel mit Zeichen. Wie jedes Spiel gehorcht
dieser Markt bestimmten (gesetzlichen und informellen) Regeln und
unterliegt Kontrollen. Und er entwickelt sich nicht stetig, sondern als
Aufeinanderfolge von bubbles und crashs. Krisen treten im Börsengeschäft mit einer gewissen Regelmäßigkeit ein und verlaufen nach einem
bestimmten Muster, auch wenn die Akteure in jedem Crash etwas noch
nie Dagewesenes zu sehen glauben.3
Der Börsenhandel wird in der Gegenwart getätigt, der Inhalt des
Geschäfts bezieht sich aber auf die Zukunft. Die Preisbildung folgt den
Erwartungen. Auf den Terminbörsen werden explizit Verträge abgeschlossen, die erst später ausgeführt werden. Damit sollen künftige Risiken
reduziert werden. »Futures« ist ein einprägsamer Name für diese Art
von Geschäften, die auf Beherrschung, auf Kolonialisierung der Zukunft
angelegt sind. Dennoch bleibt das, was kommt, opak und unsicher. Wer
sich deshalb nicht festlegen will, zieht »Optionen«, also künftige Wahlmöglichkeiten, vor. So können Investoren sich Alternativen oder eben
Optionen offenhalten, indem sie heute das Recht kaufen, erst später zu
entscheiden, ob sie eine Ware oder einen Wert kaufen wollen oder nicht.
Eng damit verbunden ist der Derivathandel. Derivate sind abgeleitete
Finanzinstrumente, d.h., ihr Preis bzw. Kurswert hängt vom Wert eines
zugrunde liegenden Handelsobjekts, dem Basiswert, ab. Diese Wertkaskaden sind seit den 1970er-Jahren parallel zum Aufstieg der elektronischen Datenverarbeitung immer wichtiger geworden. Im großen
historischen Überblick zeigt sich, dass sich das Börsengeschäft seit dem
ausgehenden 19. Jahrhundert im Zuge des Durchbruchs des modernen
Industriekapitalismus gewaltig entwickelt und ausdifferenziert hat. Mit
der forcierten Computerisierung des Börsenhandels kam es seit den beginnenden 1970er-Jahren zu einem weiteren Sprung und einer rasanten
Komplexitätssteigerung, mit der die Regulierungsbehörden nicht Schritt
zu halten vermochten und vor der die Politik geradezu kapituliert hat.
97
Jakob Tanner
Zu all dem wäre mehr zu sagen. Hier geht es allerdings um kulturelle
Dimensionen der Börse und um den Ort dieses kommerziellen Geschehens. Diesbezüglich zeigt sich eine markant gegenläufige Entwicklung.
Die Börse ist ein Ort und zugleich eine ortlose Einrichtung. Auf der
einen Seite stellt sie einen imaginären Topos von geradezu magischer
Qualität dar. Die Geldzauberei der Börse lässt Vermögen aus dem Nichts
auftauchen und andere rückstandslos verschwinden. Die Börse ist jener
Ort, an dem das große Glücksspiel der Gegenwart stattfindet. Sie ist eine
Maschine wunderbarer Geldvermehrung und Vermögensvernichtung. Auf
der andern Seite lässt sich die real existierende Börse im explodierenden
Möglichkeitsraum des Cyberspace gar nicht mehr verorten. Sie ist als Ort
prekär geworden. Mittlerweile läuft ein großer Teil des ganzen Börsenhandels über das sogenannte Program Trading und den Hochfrequenzhandel. Dieser computergestützte Programmhandel, der auch kleinste
Zeitintervalle nutzt, basiert auf Algorithmen und wird automatisch von
programmierten Rechnern durchgeführt. Auch der gut informierte Investor, der sich an längeren Zeiträumen orientiert und immer noch auf
sein Wissen (und nicht auf ein Programm) verlässt, kauft und verkauft
von zu Hause oder seinen Geschäftsräumen aus. Wer die Zürcher Börse
besucht, wird deshalb nichts mehr von der geradezu haptischen Qualität
des hektisch-dramatischen Handels à la criée, der früher am sogenannten »Ring« herrschte, bemerken. Es ist leise geworden im Börsenraum,
man trifft vor allem auf Büros und Geschäfte. Unter anderem arbeiten
hier die Programmierer, welche dafür sorgen, dass Börsengeschäfte auf
elektronischen Kanälen zuverlässig und störungsfrei abgewickelt werden
können (vgl. Meier/Sigrist 2006, v.a. Kapitel 5, S. 133–146; Meier 2005).
Der Zentralort des Börsenhandels ist im gesellschaftlichen Raum dissipiert
und durch dezentralisierte remote control abgelöst worden. Mit der
computergestützten Echtzeitverbindung der Teilnehmer wird die Börse
zum Netzwerk, das sich im gesellschaftlichen Raum formlos ausdehnt
(vgl. Tanner 2009).
Im Folgenden werden nicht ökonomische Zusammenhänge vertieft,
sondern die Börse wird als kulturelle Einrichtung betrachtet. Damit wird
sie zum Vexierbild. Im vertrauten Bild verstecken sich ungewohnte Einsichten, die es aufzuspüren gilt. Aus kulturanalytischer Perspektive sind
vor allem drei Themenkomplexe interessant. Zunächst geht es um die
Börse als einen materiellen Ort, als eine architektonische Vergegenständlichung, einen städtebaulichen Akzent und visuellen Marker, als Pres98
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
tige- und Prunkbau. Zweitens wird die Börse als imaginärer Ort der
Aushandlung moralischer Prinzipien betrachtet. Die Börse erweist sich als
Kampfplatz, auf dem um gutes Wirtschaften, um moralisch gerechtfertigte
Gewinne (und um ihre Gegenstücke: schlechte, krisenhafte Ökonomie
und verwerflichen Profit) gestritten und auf dem um normative Lufthoheit in einer Gesellschaft gerungen wird. Und drittens soll, ausgehend
von einem aktuellen, theoretisch aufgeklärten Kulturbegriff, das Börsengeschehen alltagsgeschichtlich gefasst werden. Dabei spielen körper- und
mediengeschichtliche Fragestellungen eine wichtige Rolle. Diese drei
Themenkomplexe sind vielfach aufeinander bezogen und miteinander
verwoben. »Kulturanalyse« ist ein Verfahren, das darauf angelegt ist,
solche facettenreichen, komplexen und vertrackten Phänomene zu entschlüsseln.4
2. Börsenarchitektur
Kultur ist kein machtfreier Bereich. Vielmehr wird Macht auch immer
kulturell repräsentiert und diese Formen visueller Inszenierung und materieller Präsenz vergrößern wiederum die Machtwirkung. Gesellschaftliche
Machtstrukturen finden zudem stets in der Frage ihren Niederschlag, was
legitime »Kultur« ist. Heutige Kulturtheorien haben hierarchische, von
oben herab wertende Vorstellungen der Kultur hinter sich gelassen (vgl.
die Beiträge von Philipp Sarasin und Ingrid Tomkowiak in diesem Band).
Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein beanspruchte die »Hochkultur«
jedoch eine hohe Geltungsmacht und war als produktive Fiktion maßgeblich an der kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit mit beteiligt.
Sie hat Spuren, auch materielle Spuren hinterlassen. Das lässt sich eindrücklich am Beispiel der Börsen zeigen. Denn die Eliten der bürgerlichen
Gesellschaft, die an ihre kulturelle Überlegenheit und ihre zivilisatorische
Mission glaubten, waren zugleich von einem tiefen Selbstzweifel verfolgt.
Die hehre Trias des Schönen, Wahren und Guten entfaltete ihre gesellschaftliche Wirkung nämlich mit Hilfe der weit weniger noblen Trias von
Eigentum, Geld und Reichtum.
Die Situation war durch eine spannungsgeladene Symbiose gekennzeichnet: Dem banalen Geld fehlte die Aura des kulturell Erhabenen und
dennoch war Letzteres auf Ersteres angewiesen. Die Dichotomie zwischen
schnödem Mammon und den höchsten Manifestationen menschlicher
99
Jakob Tanner
Kulturbefähigung wurde überwunden, indem Geld in den Dienst der
Kultur gestellt wurde. Die Hochkultur war auch deshalb herausragend,
weil sie von den vermögenden Schichten der Gesellschaft unterhalten
wurde. Finanzen fungierten als Motor kultureller Wertproduktion. Diese
Nobilitierung des Reichtums durch Kultur finden wir besonders eindrücklich bei der Börse. Das profane Geldgeschäft und die Aktienspekulation
gewannen an Renommee, wenn sie sich in sakralen Räumen, in prunkvollen Ensembles oder prestigeträchtigen Bauten abspielten. Heinrich
Heine hat die Börse mit dem römischen Forum verglichen (Heine 1976,
290; vgl. auch Glaser 1908). So wurden Börsenbauten in bildungsbürgerliche und religiöse Traditionen eingefügt und der Ästhetik von Foren,
Tempeln, Theatern, Palästen, Kathedralen und Museen unterworfen.
Der Spekulation mit materiellen Werten wurde damit die Signatur der
Hochkultur aufgedrückt. Bei vielen dieser Bauten handelte es sich um
Einschüchterungs- und zugleich um Erbauungsarchitektur: Wer auf der
Schwelle eines solchen Gebäudes steht, sollte die Sphäre erhabener Kräfte
verspüren (vgl. Meseure 1987, 99–174). Dazu einige Beispiele:
Abb. 1 und 2 [–› S. 103] zeigen die alte und neue Börse in Amsterdam. Die
zu Beginn des 17. Jahrhunderts errichtete alte Börse ist ein repräsentativer
Bau im Stil der Hofhallenbörse, nach dem Vorbild von Antwerpen (1531).
Sie war ein Ort geschäftigen Treibens und der Begegnung von Geschäftsleuten, die sich meistens gut kannten. 1845 wurde die Amsterdamer Börse
als griechischer Tempel neu errichtet.
Abb. 3 und 4 [–› S. 104] zeigen die Börse in Frankfurt am Main am Paulsplatz. Auf den beiden Illustrationen von Jakob Fürchtegott Dielmann aus
dem Jahre 1845 tritt vor allem die filigrane Innenarchitektur hervor. Mit
den Lotusblumen-Säulen und der geradezu orientalischen Prachtentfaltung erweist sich das Interieur als Stilhybrid.
Abb. 5 und 6 [–› S. 105] geben zwei Börsenansichten aus London wieder.
Die fantasievolle Darstellung der Börse in der Sweeting’s Alley (Abb. 5)
stellt einen Zusammenhang zwischen Börse und bubble her. Die Legende lautet: »An historical, emblematical, patriotical and political print
representing the English Balloon or National Dept in the year 1782.«
Auf Abb. 6 ist das Innere der Londoner Hall of Commerce an der
Threadneedle Street zu sehen, die in den Jahren 1853/54 auch die Stock
Exchange beherbergte.
100
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
Abb. 7 [–› S. 105] zeigt eine kolorierte Postkarte aus dem Jahre 1890, auf
der die Berliner Börse zu erkennen ist; sie ist 1863 an der Burgstraße am
Spreeufer in einem im Stil der Neoklassik erbauten repräsentativen Bau
untergebracht worden. Die beiden Börsensäle sind damals die größten in
ganz Berlin. Das nationalsakrale Gebäude stellt einen markanten architektonischen Stützpunkt der deutschen Hauptstadt dar.
Bei Abb. 8 [–› S. 106] handelt es sich um eine Skizze des Börsen- und
Verwaltungsgebäudes in Leipzig. Der prachtvolle an der Theaterarchitektur angelehnte Bau wurde zwischen 1884 und 1886 am Tröndlinring
für die dortige Handelskammer errichtet. 1943 wurde er durch einen
alliierten Luftangriff zerstört.
Auf Abb. 9 und 10 [–› S. 106] sehen wir die Alte Börse in Zürich. Der
imposante Bau erstreckte sich an der Talstraße gegen den See hin und
war ein städtebaulicher Akzent. Das Interieur dieser Börse (hier nach
einem Holzstich von Antonio Bonamore) war ebenfalls sehr großzügig
und aufwendig gestaltet, was einen Kontrast zur ansonsten geradezu
repräsentationsfeindlichen politischen Kultur des liberalen Republikanismus der Schweiz darstellte. Der Stich wurde 1883 in der Zeitung der
ersten schweizerischen Landesausstellung auf dem Zürcher Platzspitzareal
abgedruckt.
Abb. 11 und 12 [–› S. 107] stellen Börsen in Chicago dar. Abb. 11 stammt
aus dem Jahre 1909 und zeigt das Board-of-Trade-Gebäude, 141 West
Jackson Street in der Loop Community Area. Der Handelsraum ist mit
Flaggen und Banner zu Ehren von Präsident Lincoln dekoriert. Abb. 12
zeigt den Neubau, der 1930 im Art-Deco-Stil erbaut wurde und der bis
1965 der höchste Wolkenkratzer der Stadt war. Auf dem Dach befindet
sich eine 9,5 Meter hohe Statue der Göttin Ceres. Diese hat kein Gesicht;
der Architekt ging davon aus, dass niemand je in die Lage käme, dieses
zu betrachten.
Abb. 13 bis 15 [–› S. 108] zeigen globale Börsen des 21. Jahrhunderts in
aufstrebenden Industriestaaten als funktional entleerte Prestigebauten
und global sichtbare Marker geschäftlichen Erfolgs: Schanghai 2008,
Shezhen 2005, Mexiko-Stadt 2006.
Zusammengefasst zeigen diese Bilder, dass die Börsen als Orte gerade
in ihrer materiellen Manifestation auf Prachtentfaltung und Prestige abzielten. Ihre Erbauer lehnten sich an tradierte oder dominierende Modelle
religiöser oder gesellschaftlicher Repräsentationsarchitektur an. Das
Geldgeschäft bediente sich der Distinktionsstrategien der bürgerlichen
101
Jakob Tanner
Hochkultur (wie sie sich damals selber verstand), bevor dann Börsen
im ausgehenden 20. Jahrhundert zu Monumenten moderner Bauweise
oder avantgardistischer Experimentalkunst wurden. Als architektonische
Artefakte waren und sind Börsenbauten massiv von den kulturellen
Strömungen und Aspirationen ihrer Zeit durchwirkt. Sie stellen damit
symptomatische Orte der modernen Gesellschaft dar – und sie sind
an der Mobilisierung der finanziellen Ressourcen beteiligt, welche das
wilde Wuchern kommerzieller und urbaner Architektur überhaupt erst
ermöglicht.
3. Die Börse als imaginärer Ort von
Deutungskontroversen
Ein weiterer kulturanalytischer Zugang eröffnet die Börse als imaginären
Ort der Aushandlung moralischer Prinzipien und der regulativen Ideen
von Gesellschaft, an dem, ganz entgegen der wertneutralisierten Sprache
des Markt-Preis-Bildungsmechanismus, darüber gestritten wird, was als
ehrenwerte Arbeit zu gelten hat, welche Einkommen oder Gewinne rechtens sind und worum es im menschlichen Leben und Streben »letztlich«
geht. Wir können die Börse als einen diskursiven Generator der Moderne bezeichnen. Sie generiert einen Strom an Diskursen, in denen neue
Deutungsmuster konfliktiv ausgetestet und die Grenzen des Sagbaren
verschoben werden.
Bereits im Jahr 1688 erschien in Amsterdam die erste und eine der
einflussreichsten Abhandlungen über die Börse, Joseph de la Vegas Confusion de Confusiones, zu deutsch: Verwirrung der Verwirrungen, oder
merkwürdige Gespräche zwischen einem scharfsinnigen Philosophen,
einem umsichtigen Kaufmann und einem belesenen Aktionär über den
Aktienhandel, seinen Ursprung, seine Entwicklung, seine Wirklichkeit,
sein Spiel und seine Verwicklungen. De la Vega, von dem man nicht genau weiß, ob er in Andalusien oder in Holland geboren wurde, war ein
Marrane. Sein Vater, ein Jude, konvertierte in Spanien unter Zwang zum
Christentum und floh dann, bedroht durch die Inquisition, nach Holland,
das damals als Ort der Konsumentfaltung und Hort liberaler Toleranz
galt. Hier absolvierte Joseph de la Vega seine Karriere, wo er in der sefardischen Gemeinde Amsterdams wieder zum Judentum zurückkehrte
und auch hebräische Bühnenstücke verfasste.
102
Abbildungen
Abb. 1: Alte Börse von Amsterdam, gebaut 1611.
Abb. 2: »Zocher-Börse« in Amsterdam von 1845.
103
Abbildungen
Abb. 3 und 4:
Alte Frankfurter Börse am
Paulsplatz von 1843.
104
Abbildungen
Abb. 5:
Londoner Börse an der Sweeting’s Alley
von 1773 in einer Darstellung
mit fantasievollem bubble.
Abb. 6.:
Londoner Hall of Commerce an der
Threadneedle Street, gebaut 1843.
Abb. 7: Berliner Börse an der Burgstraße von 1863.
105
Abbildungen
Abb. 8: Börsen- und Verwaltungsgebäude in Leipzig von 1846.
Abb. 9 und 10:
Alte Börse in Zürich von 1880.
106
Abbildungen
Abb. 11:
Handelsraum im Board
of Trade-Gebäude,
Chicago, fertiggestellt
um 1885.
Abb. 12:
Neubau der Börse von Chicago,
1930.
107
Abbildungen
Abb. 13:
Shanghai Stock Exchange.
Abb. 14: Shenzhen Stock Exchange.
108
Abb. 15: Mexican Stock Exchange, Mexico City.
Abbildungen
Abb. 16:
Edison Gold & Stock
Telegraph Ticker
Abb. 17: Verlegung eines Tiefseekabels, 1865.
109
Abbildungen
Abb. 18:
Waldorf Hotel, New York:
Operateurinnen stellen
Börseninformation bereit.
Abb. 19: Ticker-tape parade für den Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon, 1960.
110
Abbildungen
Abb. 20 und 21: Ticker-tape parades für die Apollo 11-Besatzung in
New York und Chicago, 1969.
111
Jakob Tanner
Das auf Spanisch veröffentlichte Buch Confusion de Confusiones befasst
sich – in sokratischer Tradition – in vier Dialogen mit der Börse, die von
allen drei Gesprächspartnern immer wieder mit einem Meer in Verbindung gebracht wird5 und als ein »rätselhaftes Geschäft« erscheint, wie der
Aktionär dem Philosophen und Kaufmann einleitend erklärt. Es sei »das
reellste und falscheste in Europa, das edelste und infamste der Welt, das
feinste und gewöhnlichste auf dem Erdball«, nämlich: »Eine Quintessenz
der Wissenschaften und ein Inbegriff von Schwindeleien, ein Prüfstein für
die Vernünftigen und ein Grabstein für die Tollkühnen, eine Schatzkammer des Nutzens und ein Herd des Unheils, schließlich ein Abbild des
Sisyphus, der niemals ausruht und ein Gleichnis des Ixion, der immer an
ein sich unaufhörlich gedrehtes Rad gefesselt ist« (De la Vega 1994, 3).
In diesen Aussagen wird nicht nur die fundamentale normative Ambivalenz der Börse in spielerischen Bildern zum Ausdruck gebracht, sondern die unterschiedlichen Positionsbezüge definieren das Geschäft mit
Wertpapieren und Waren als Ort pluraler Wahrnehmungsweisen und
Interessenausrichtung. Der Aktionär – bei Weitem die interessanteste
Figur in diesen Konversationen – unterscheidet dann »drei Klassen« von
Börsenteilnehmern: erstens die »Fürsten des Geschäfts«, die so reich sind,
dass sie ihre Aktien nie verkaufen müssen und für die Kurssteigerungen
einen »imaginären Genuss« darstellen. Zweitens die »Kaufleute«, welche
nach einem rationalen Kalkül Aktien kaufen und verkaufen, um ihren
Gewinn zu maximieren, und schließlich die »Spieler und Spekulanten«,
die sich an ihren »Glücksrädern« ergötzen und sich im »Labyrinth ihrer
Pläne« verlieren (ebd., 8 f.). Weiter erläutert er – über den Begriff der
Wahl – eingehend das Optionsgeschäft (ebd., 30), um anschließend zu
einer kulturanalytisch hochinteressanten Erklärung über den Ursprung
der Börse auszuholen, indem er eine lange Liste von möglichen Erzählungen vorführt, welche diese Entstehungsgeschichte ganz unterschiedlich
perspektivieren und deuten (ebd., 31 ff.):
– »Bibelfeste Leute versichern, dass Hiob die Börse erfunden haben
kann, da er seinen Anhängern lehrte, die Beleidigungen von Verleumdern […] mit Geduld zu ertragen.«
– »Die Schriftgelehrten behaupten, dass Absalon die Börse erfunden hat
[…]; denn an der Börse gibt es Leute, die von ihm gelernt haben, die
Gelegenheit bei den Haaren herbeizuziehen, während andere wie er
das Unglück aus der Luft greifen.«
112
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
– »Argwöhnische Menschen geben an, dass Lucifer die Börse erfand,
da er die Spekulanten durch sein Versprechen täuschte, dass sie wie
Gott Etwas aus Nichts schaffen könnten.«
– »Die Prediger halten Bileam für den Erfinder der Börse, weil dieser
krumm war und an der Börse vielfach keine geraden Sachen gemacht
werden, oder weil auch an der Börse Esel zu reden anfangen.«
– »Die Don Quixottes verteidigen den Satz, dass Sancho Pansa die Börse
erfunden habe, weil viele Börsenleute, wenn sie zwei Dukaten besitzen,
sofort glauben, dass sie zwei Inseln regieren.«
– »Wissbegierige Forscher schreiben, dass Pallas die Börse erfand, weil
dieses Geschäft ganz verschieden von den übrigen entstand, denn es
ist ein ausschweifendes Spiel, ein unerhörtes Spiel, ein ungeheuerliches
Spiel«, das »mit seinen Betriebsamkeiten, seinen Spitzfindigkeiten und
seiner Unruhe […] wie Pallas aus dem Kopfe [entsprang], während die
übrigen durch die Notwendigkeit des Nahrungsunterhalts eingeführten Erwerbszweige gewöhnlich den Bauch beschäftigen.«
– »Verzweifelte Spieler verkündigen, dass ein rasender König die Börse
erfand, weil alles an ihr Raserei und mehr als Raserei, Ekel und mehr
als Ekel, Sorge und mehr als Sorge ist […]. Ein unausstehliches Treiben
liegt immer mit dem Glück im Kampfe, ungebändigte Leidenschaft
mit der Ruhe und Raserei mit dem Vergnügen.«
– »Seekundige Leute stellen fest, dass Neptun die Börse erfand«. Hier
wird ausgeführt, »dass wenn das Meer milchweiß ist, sogar die Wellenschäume der Spekulation silbern glänzen und, dass in den Wellen
der Börse der Verstand und das Vermögen vieler Menschen untergegangen ist.« Weiter säßen »im Zentrum der Börse viele Sirenen […],
deren Gesang tötet und viele Schwäne, die noch im Sterben singen.«
– »Schließlich nehmen die Mythologen an, dass Merkur die Börse erfand, denn Merkur ist der Name des Quecksilbers und quecksilbern
ist das Wesen der Spekulanten.«
Wir haben hier ein Panoptikum starker Bilder und die geradezu perfekte
imaginäre Heterogenese der Börse vor uns. De la Vega spricht unterschiedliche narrative Traditionen an und bringt nahezu alle Stereotypen
und Klischees in Anschlag, die durch spätere Jahrhunderte geistern und
auch in heutigen Krisen wiederum präsent sind. So etwa die, dass sich
die Börse im Gegensatz zu allen anderen Erwerbsverrichtungen durch
fehlende Bodenständigkeit auszeichne oder dass sie als Fatum mit der
Irrationalität der Menschen ihr brutales Spiel treibe, dass sie ein Illusions113
Jakob Tanner
theater und eine Arena hochfliegender Hoffnungen und darauffolgender
herber Enttäuschungen sei.
Im 17. und frühen 18. Jahrhundert versuchten Autoren zu ergründen,
wie sich wirtschaftliche Wertvorstellungen bilden und welche Zusammenhänge zwischen »imaginierten Reichtümern« und effektiv verfügbaren
Ressourcen existierten. Ein historischer Moment, in dem diese Reflexionen gut fassbar werden, ist das Jahr 1720. In diesem Jahr spielten sich in
Paris und London, in engster Parallelführung zwei dramatische KreditCrashs ab: Zum einen kollabierte das ganze Papiergeld- und Aktien»System«, das John Law in enger Kooperation mit der französischen
Staatsführung aufgebaut hatte und das unter dem Namen »MississippiSpekulation« in die Geschichte einging. Zum andern platzte in London
etwa gleichzeitig der South-Sea-Bubble bzw. der »Südsee-Schwindel«. In
beiden Fällen hatten aufmerksame Beobachter davor gewarnt, das Land
könnte durch den »Handel mit imaginären Reichtümern ruiniert« werden
(so Lord North and Grey im britischen Parlament).
Im März 1720 veröffentlichte »Cato« – das Pseudonym für Thomas
Gordon und John Trenchard – eine Theorie darüber, wie die Dynamik
der Imagination zuerst zur Aktienblase und dann zum Crash führte.
Cato schreibt: »We often take the Appearance of Things for Things
themselves, and mistake our own Imagination for Realities« (Trenchard/
Gordon 1737, 124). Er stellt damit nicht »Einbildung« und »Realität«
gegenüber, sondern geht davon aus, dass auch unser Sinn für das Reale
aus der Einbildungskraft, aus dem Vorstellungsvermögen entspringt. Es
folgt dann ein interessanter Passus, in dem Trenchard und Gordon zu
zeigen versuchen, wie menschliche Einbildungen durch ihre Übertragung
auf andere sehr wirksam werden können und sich in Organisationen und
sozialen Räumen ausbreiten. Dabei stellen sie eine Analogie zwischen
dem Arzt und dem Patienten, dem General und dem Soldaten sowie den
Spekulanten und dem an Börsengeschäften interessierten Publikum an.
Überall stellen sie dieselben Resonanz- und Verstärkereffekte für autorisierte, autoritative Meinungen fest. Diese ansteckende Qualität mentaler
Repräsentationen wurde nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch
sozial reflektiert.
Eine anregende Satire stammt von Sir John Midriff. Sie wurde 1721 in
London unter dem schönen Titel publiziert: Observations on the Spleen
and Vapours; containing remarkable cases of persons of both sexes, and
all ranks, from the aspiring Director to the humble Bubbler, who have
114
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
been miserably afflicted with those melancholy disorders since the fall
of South Sea, and other Publick Stocks, with the proper Method taken
for their recovery, according to the new and uncommon Circumstances
of each Case. Im Untertitel wird angeführt: The Whole Digested by way
of Journal, and accomodated to publick Use. Midriff stellt sein Werk
unter das Motto, der Arzt sei der Inspektor der Natur und referiert eine
ganze Reihe von ärztlich diagnostizierten Leiden – von den üblen Launen und Depressionen. Spleen and Vapours sind humoral-pathologisch
zu lesen; die Analyse geht vom Patienten aus und bringt dessen Leiden
in einen systematischen Zusammenhang mit einer gestörten, aus dem
Gleichgewicht geratenen Vorstellungskraft, wie sie sich in der obsessiven
Beschäftigung mit Aktienkursen und einem verrückten oder gestörten
Kaufverhalten ausdrückt. Für Midriff löste die Imagination innerhalb
einer sprachlichen Kommunikationsgemeinschaft einen ansteckenden
Fluss von Repräsentationen aus. Zudem geht er davon aus, dass es keine kognitiven Sperren gibt, welche die affektive Ausbreitungsdynamik
stoppen könnten, jedenfalls sieht er keine Unterschiede zwischen den
sozialen Klassen und individuellen Temperamenten. Die Börse ist in dieser Hinsicht hierarchie- und betriebsblind, ihre psychologischen Effekte
sind gesellschaftsübergreifend, Prosperität und Krisen treffen alle (vgl.
Midriff 1721).
Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts versuchten dann verschiedene Beobachter, die Börsenakteure zu typisieren. Sie identifizierten zum einen
solche, die über längere Zeiträume hinweg einem robusten Optimismus
verpflichtet sind und immerzu nach Aufwärtsbewegung Ausschau halten – und die dann mit ihrem unverdrossenen Aufkaufen auch einen
Beitrag zu Kurssteigerungen leisten können. Zum andern gibt es den
inversen Typus, nämlich Börsenteilnehmer, deren Skeptizismus immer
wieder in einen Pessimismus umschlägt, und die dann vor allem auf
bereits darniederliegende Werte stoßen. »Die Börsensprache pflegt«, so
Friedrich Glaser in einer informationsreichen Studie zur Börse aus dem
Jahre 1908, »die Spekulanten der erstgenannten Art als Haussiers oder
Bulls zu bezeichnen, weil sie […] gleich den Stieren alles in die Höhe zu
stoßen lieben, während die Baissiers oder Bears nach der Art der Bären
mit gesenktem Kopfe einhergehen, um alles aufzufressen, was ihnen vor
die Schnauze kommt« (Glaser 1908). Es ist bemerkenswert, dass die
Aufklärung, welche die spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier
am vernunftbegründeten moralischen Imperativ festmachte, bei der Be115
Jakob Tanner
schreibung menschlichen Verhaltens auf Börsen wiederum auf tierische
Trieb- und Instinkt-Konzepte zurückgriff. Diese animalischen Triebe haben, wie etwa die Ausführungen von John Maynard Keynes (vgl. Barens
2011) und wie vor Kurzem, semantisch direkt an Keynes anknüpfend,
George A. Akerlof und Robert J. Shiller mit ihrer viel diskutierten Studie
Animal spirits (2009) zeigen, bis heute eine Erklärungskonjunktur.
Aktuell geblieben ist eine weitere Debatte, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem Zeitpunkt aufkam, in dem die Börse zum finanziellen
Verdichtungspunkt des Industriekapitalismus aufstieg. Glaser hielt fest,
»mancher Spekulant« repräsentiere »die Beschleunigung, Steigerung und
Intensivierung des ganzen Daseins, die der kapitalistischen Kultur eigen
ist, in seinem eigenen Wesen aufs ausgesprochenste« (Glaser 1908, 102).
Die Figur des Börsianers konnte so zum Kristallisationskern eines diskursiven Klassenkampfes aufsteigen. Die Bewertung der Börse folgte einer
dichotomisierenden Logik. Dabei sind zwei Leitdifferenzen auszumachen.
Einerseits wird die Börse als dubiose Veranstaltung gewinnsüchtiger Kapitalisten der soliden Schwer- und Handarbeit des Proletariats gegenübergestellt. Dies befeuert die Auseinandersetzung um die Legitimität des Spiels
in einer Arbeitsgesellschaft oder allgemeiner um das Verhältnis zwischen
homo ludens und homo faber. Andererseits wird das Kapital nach ethischnormativen Gesichtspunkten sortiert. Es gibt eine nachhaltig wirkende,
im deutschen Nationalsozialismus ihre destruktive Potenz offenbarende
Differenzbehauptung zwischen einem guten und einem schlechten, zwischen einem »schaffenden« und einem »raffenden« Kapital, die sich in
zivilisierter Form auch in bestimmten Varianten der Gegenüberstellung
von »Kasino-Kapitalismus« und »Realwirtschaft« wiederfindet.
Literaturwissenschaftler/innen sind den Spuren dieser Skandalisierung
der Spekulation und der Charakterisierung der Börse als eines Ortes
nachgegangen, an dem sich Charakterlumpen in halsbrecherische Risiken
stürzen und dann zu jeder Schandtat bereit sind, wenn sich die Schlinge
um ihren Hals zusammenzieht. Dabei wird häufig auf Theodor W. Adorno
Bezug genommen, der in seiner Balzac-Lektüre auf diese Börsenbilder
zu sprechen kommt: »Wo die paranoide Phantasie überwuchert, ist er
[Balzac] denen verwandt, welche die Formel des über den Menschen
waltenden gesellschaftlichen Schicksals in Machenschaft und Verschwörung von Bankiers und Finanzmagnaten in Händen zu halten wähnen.
Balzac ist Glied einer langen Reihe von Schriftstellern, die von Sade […]
bis Zola und dem frühen Heinrich Mann reicht. Im Ernst reaktionär an
116
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
ihm ist nicht die konservative Grundhaltung, sondern seine Komplizität
mit der Legende vom raffenden Kapital. In Tuchfühlung mit den Opfern
des Kapitalismus, vergrößert er zu Monstren die Exekutoren des Urteils,
die Geldleute, die den Wechsel präsentieren« (Adorno 1974, 153; vgl.
dazu auch Tanner 2010).
Adornos Analyse bleibt aktuell. Auch Historiker müssen sich vor der
Falle einer ideologisch aufgeladenen Börsenkritik hüten. Klärungsbedürftig ist auch die Vorstellung einer »Demokratisierung der Spekulation«,
die Glaser zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt. Die Tatsache, dass
sich immer wieder auch Leute, die nur über geringe finanzielle Mittel verfügten, am Börsengeschäft beteiligten, hat keineswegs zu einer
Demokratisierung des Reichtums geführt; im Gegenteil lief gerade die
Ausweitung der Partizipationschancen an den Finanzmärkten im Zuge
ihrer Elektronisierung seit den 1980er-Jahren mit einer stärkeren Ungleichheit in der Vermögensverteilung einher. Zum einen wurde eben die
Inklusionstendenz der Börse nie breitenwirksam, zum andern war die
Vermögensperformance bei kleinen Anlegern noch nie besonders gut.6
Umso interessanter ist vor diesem Hintergrund die Geschichte der
Erwartungen, »das Volk« könnte die politische Demokratie mithilfe von
»Volksaktien« auf die Wirtschaft ausweiten. Schon in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts propagierten die saint-simonistischen Sozialisten
eine Breitenstreuung des Aktienbesitzes als Vehikel für eine Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktivkräfte. Seit den 1960er-Jahren
lancierten Bankunternehmen breitenwirksame Promotionsprogramme
für mass investment, und die prominente Präsenz von Börsenindizes in
täglichen Nachrichtensendungen vor allem im Fernsehen unterstützt die
These, dass sich heutige Gesellschaften über ihre Krisenzustände und ihre
Gesamtbefindlichkeit vor allem über die Entwicklung auf den Finanzmärkten unterrichten, die damit auch im mentalen Haushalt ganzer
Bevölkerungen einen zentralen Stellenwert bekommen haben. Analytisch
bietet zwischen der Skylla einer Börsendämonie und der Charybdis einer
Aktieneuphorie die These einer Finanzialisierung der Wirtschaft einen
gangbaren Weg, um ein angemessenes Verständnis des Globalisierungstrends seit den 1980er-Jahren zu entwickeln. Aufgrund von empirisch gut
ausgewiesenen Forschungsergebnissen wird hier davon ausgegangen, dass
die Finanzmärkte im Verlaufe der letzten drei Jahrzehnte zu zentralen
Steuerungszentren und Strukturierungskräften von Unternehmen in allen
Bereichen der Wirtschaft geworden sind (vgl. Epstein 2006; Palley 2008;
117
Jakob Tanner
Foster/Magdoff 2009; Chwieroth 2010). Dass die Börse der Zentralort
des Kapitalismus ist: diese These bekommt so eine neue Aktualität.
4. Börsenkommunikation und Alltagskultur
Kulturhistorisch weist die Inklusionstendenz von Börsen und Finanzmärkten viele Facetten auf, die über die finanzielle Beteiligung am Wertpapierhandel hinausweisen (Stäheli 2007). Das »Gespenst des Kapitals«
schreckte und faszinierte Akteure auch deshalb, weil die Börse nicht
erst heute eine mediale Performance darstellt.7 Sie war deshalb ein Ort
öffentlicher Attraktion, weil hier das pulsierende Leben der modernen
kapitalistischen Wirtschaft auf geradezu haptische Weise erlebbar wurde.
Glaser beschreibt die Börse treffend als den »Punkt der größten konstitutionellen Aufgeregtheit des Wirtschaftslebens« und Ort extremer
»ökonomischer Nervosität«, wo »Geschrei und Getümmel« den Eindruck eines Treibens mit »tumultarischem Charakter« provozieren. Er
berichtete von der Antwerpener Börse mit ihrem »verworrenen Geräusch
aller Sprachen« (Glaser 1908, 31, 34, 69, 20). Bevor der Börsenhandel
von den stummen, computergestützten Netzwerken gleichsam geschluckt
wurde, war er eine lärmige, aufgeregte, körperlich geradezu verausgabende Angelegenheit. Man sprach vom Börsenhandel à la criée. Dessen
Verlaufsform war diskontinuierlich. Es gab die gelassene Routine, wobei,
so Glaser, »eine ruhige Börse sich auch durch eine gewisse Gleichmäßigkeit des Stimmengewirrs« auszeichnet. Je nach Handelsrhythmus und
Marktlage ging dieser Zustand unvermittelt in gesteigerte Aktivität, in
geradezu physische Aushandlungen über, mit Gedränge, Gesten, Rufen,
Blicken. Glaser schildert die emotionale Aufladung und Übersteuerung,
die in dieser Phase zu beobachten sind, wodurch auch die »Delirien«
und die »Fieberprozesse des wirtschaftlichen Lebens« gesteigert werden.
Die Börse war so der Ort, an dem sich Erzählungen über den globalen
Kapitalismus festmachen konnten. Die Geldgeschäfte schienen in einem
Turm zu Babel stattzufinden, an dem weltumspannend weiter gebaut
werden konnte, weil die harte Logik finanzieller Transaktionen letztlich
mit rudimentären, restringierten, kaum redundanten Transaktionscodes
auskommt, die dann doch alle verstehen (und verstehen müssen), so
unterschiedlich die Sprachen sein mögen, die sie sonst sprechen. Schon
in ihren Anfängen galt die Börse als das Nonplusultra eines agilen, hoch
118
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
reagiblen, in kürzesten Zeiträumen auf neue Informationen reagierenden
Marktes: Nirgends herrscht eine höhere Volatilität, nirgends reagiert der
Marktmechanismus prompter, nirgends ist die Preisbildung schneller.
Börse steht hierdurch prototypisch für eine gewinnorientierte kapitalistische Marktwirtschaft. In dieser Mischung von präziser Exekution und
aufwühlender Emotion war die Börse außergewöhnlich. Es gab kein
Zusammensein einer größeren Menge von Menschen, das in solcher
Kontinuität und solcher Vielgestaltigkeit die stärksten Affekte und die
dramatischsten Stimmungsumschwünge zur Darstellung bringt. In Analogie zu Karl Marx, der die Religion als das Opium des Volkes beschrieb,
könnte man die Börse als die Oper für das Volk bezeichnen. Die Oper als
Kraftwerk der Gefühle brachte die hintergründigsten und erhabensten
Emotionen von Menschen im Kompaktpaket auf die Bühne – die Börse
veranstaltete diese über lange Arbeitstage hinweg rund ums Jahr.
Die Breitenwirksamkeit der Börse basiert primär auf Medien, auf
technischen Übertragungs- wie auch auf massenwirksamen Nachrichtenmedien. Der wichtigste technische Treiber für institutionellen Wandel
der Börsen und Finanzmärkte war die Elektrizität, welche die moderne Börsenkommunikation revolutionierte. Zu nennen sind der in den
1830er-Jahren aufkommende Telegraf, dann das Telefon, das seit den
1870er-Jahren eingesetzt wurde. Im Übergang von den 1960er- zu den
70er-Jahren ergaben sich mit der elektronischen Datenverarbeitung neue
Expansionsmöglichkeiten für das Börsengeschäft, das mit den Computernetzwerken und dem Internet seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert
nochmals auf eine neue Grundlage gestellt wurde.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Ticker zur Ikone des
Börsenhandels. Auf der Basis des Telegrafen wurde 1867 an der Wall
Street erstmals ein solches elektromechanisches Gerät verwendet, das
Zahlen auf ein Papierband schreibt. Der Ticker (Abb. 16 [‹– S. 109]) verband
Telegrafie und Drucktechnik; er taktete während des ganzen Börsentages
und schrieb dabei fortlaufend die über Telegrafenkabel übermittelten
alphanumerischen Informationen auf einen Papierstreifen. Durch seine
technische Effizienz animierte er den Börsenhandel, und die anfänglich
beklagte Störanfälligkeit vermochte seine Karriere nicht zu bremsen.
Denn nun konnten die Aktienkurse auf andern Plätzen und viele andere
relevante Ereignisse in (Fast-)Echtzeit in die Handelsräume für Wertpapiere übermittelt werden. Bereits um 1900 war die Welt stark verkabelt – allerdings stark asymmetrisch, was sich durch die Geografie der
119
Jakob Tanner
Industrialisierung und des Imperialismus erklären lässt. Der Telegraf als
Medium, das eng mit der Geschichte der Börse verbunden ist, hat auch
Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen, die einerseits sehr weit von den
Finanzmärkten weg, andererseits direkt auf sie bezogen waren, wie die
folgenden bildlichen Darstellungen exemplarisch illustrieren: Am Anfang
des ganzen Geschäfts mit den Daten stand die Verlegung von Tiefseekabeln. Abb. 17 [‹– S. 109] stammt aus dem Jahre 1865, d.h. aus der Boomzeit
der internationalen Kabelverlegung. Die Plackerei beim Anlandziehen des
schweren Materials wird eindrücklich dargestellt, wobei die weite Ferne,
welche durch diese neuen Verbindungslinien für direkte Datentransfers
erschlossen wird, durch exotisierende Details zum Ausdruck gebracht
wird. Am anderen Ende der ganzen Übermittlungsaktivitäten stehen die
Papierstreifen, auf denen die permanent eingehenden Daten abgedruckt
werden. Abb. 18 [‹– S. 110] zeigt Operateurinnen, die im Ersten Weltkrieg im
New Yorker Waldorf Hotel aktuelle Börseninformation für interessierte
Investoren bereitstellen.
Diese Ticker-Daten waren die »heißeste Information«; kaum rezipiert,
hatte sich ihr Informationswert aufgelöst und wurde durch die auf dem
laufenden Band neu erscheinenden Daten ersetzt. Diese systematische
Novelty-Orientierung machte den Ticker auch zu einem advertising
medium, welches ein breites Publikum ansprach und faszinierte. Für
besorgte Beobachter der Szene stellte der Ticker hingegen ein Symbol
für die sozialen Übel der Zeit dar, insbesondere für die um sich greifende Nervosität und Kurzlebigkeit. Sie diagnostizierten ein regelrechtes
»Tickerfieber« und assoziierten die Pathologien der Börsenspekulation
mit einem Krankheitszustand der ganzen Gesellschaft. Auf diese Weise
verschränkten sich Veränderungen in der Börsenorganisation, im Verhalten der Broker und im Zugang zum Handel mit der Wahrnehmung des
Börsengeschehens und der Bewertung der Finanzmärkte ganz allgemein
(vgl. Stäheli 2004; Preda 2006). Zur verstärkten öffentlichen Sichtbarkeit
der Börse trug auch die Konstruktion von Aktienkursindices bei, wie
sie seit den 1880er-Jahren durch die zunehmende Datenmenge möglich wurde. Die vielen parallel laufenden und hintereinandergeschalteten Geschäftstransaktionen wurden hier zu einem einheitlichen Index
aggregiert, was es ermöglichte, den Gesamtverlauf des Börsenhandels zu
visualisieren. Der berühmteste von ihnen, der Dow-Jones-Index, wurde –
damals noch Dow Jones Average genannt – erstmals 1884 veröffentlicht.
Seit der Wende zum 20. Jahrhundert wurden Börsencharts zu wichtigen
120
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
Orientierungsinstrumenten für Investoren, wobei die Diskussion um
die Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit dieser Kurvendarstellungen für
Finanzmarktgeschäfte bis heute anhält.
Etwa gleichzeitig mit den Börsenindices wurde erstmals eine weitere Form öffentlichkeitswirksamer Visualisierung des Börsengeschehens
praktiziert. Im Oktober 1886 kamen Angestellte der Börse anlässlich der
Feier zur Schenkung der Freiheitsstatue an die USA durch Frankreich
auf die Idee, die eingelagerten Ticker-Papierstreifen aus höhergelegenen
Stockwerken von Börsen und Geschäftshäusern in die Straßenschlucht zu
werfen, in welcher die Feierparade stattfand – damit begründeten sie die
Tradition der ticker-tape parades, die in amerikanischen Städten während
des 20. Jahrhunderts florieren sollte. Von der »Erfindung einer Tradition«
kann deshalb gesprochen werden, weil bis zum Ersten Weltkrieg nur zwei
weitere solche Paraden in New York stattfanden, eine für den aus den Philippinen triumphal heimkehrenden Admiral George Dewey, den »Helden
der Schlacht bei Manila« (1899), und eine für Präsident Roosevelt nach
seiner Rückkehr von seiner Afrika-Safari (1910). Ab 1919, beginnend mit
der Riesenfeier zur Ankunft von General John J. »Black Jack« Pershing,
dem Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte an der Westfront
in Europa, häuften sich dann die Ereignisse. 1921 wurde mit Albert Einstein der erste und bisher einzige Wissenschaftler mit einer ticker-tape
parade geehrt. Während der 1920er-Jahre gab es gegen dreißig solche Anlässe, die sich allesamt auf jenen Abschnitt des Broadway konzentrierten,
der den Namen Canyon of Heroes trägt. Insgesamt hat die Alliance for
Downtown New York City über 200 solcher Paraden aufgelistet.8 Nach
dem Zweiten Weltkrieg fanden solche auch in vielen andern US-amerikanischen Städten statt, die über Wolkenkratzerschluchten verfügten. Mit
einer eindrücklichen Tape-Präsenz für den Präsidentschaftskandidaten
Richard Nixon drückte die Finanzwelt ihre Präferenz für den republikanischen Kandidaten aus (Abb. 19 [‹– S. 110]). Ein Höhepunkt der New Yorker
Tradition war die Parade für die Apollo 11-Astronauten Neil Armstrong,
Edwin Aldrin und Michael Collins nach ihrer Rückkehr vom Mond am
13. August 1969 (Abb. 20 und 21 [‹– S. 111] zeigen die Parade in Chicago).
In den 1960er-Jahren inszenierten die ticker-tape parades mit dem
Aufstieg des Computers eine Ästhetik des Verschwindens. Es gab sie
noch, das Erscheinungsbild blieb erhalten, doch der Vorgang veränderte
sich. Bisher konnten diese Paraden als eine Art von Resteverwertung der
Börse gesehen werden. Je stärker die Finanzmarkttransaktionen expan121
Jakob Tanner
dierten, desto mehr ticker-tapes landeten in Entsorgungskisten. Das, was
bei politisch oder gesellschaftlich signifikanten Ereignissen als Stoff für
Straßenpräsenz und public entertainment Verwendung fand, war Resultat
des hektischen, stets auf die neuesten Nachrichten fixierten Börsengeschäfts. Durch die Transformation von Kauf-Verkauf-Entscheidungen
in Konfetti konnten Börsianer post festum die materialisierten Resultate
ihres Jobs aus den Fenstern von Hochhäusern und Wolkenkratzern auf
die begeisterte Menge niederrieseln lassen – und mit dieser symbolischen
Handlung die inkludierende Logik des Börsengeschäfts ebenso sinnträchtig zum Ausdruck bringen wie ihre Exklusionstendenz –: Wer Streifen aus
den Fenstern warf, war eben doch nicht mittendrin dabei. Diese Weiterverwertungspraxis des papierenen Börsen-Outputs kam in der Zeit der
Mondlandung an ihr Ende. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie das
Börsengeschäft seit den 1970er-Jahren durch Computer und Cyberspace
grundlegend reorganisiert wurde. Die alten Ticker verschwanden in den
Museen. Dass dieses Gerät vollends ausgedient hatte, tat der Tradition der
ticker-tape parades indessen keinen Abbruch. Solche Rituale finden auch
in der Gegenwart statt. Die Bänder werden nun eigens dafür hergestellt.
Der Papierregen entspricht einer festen Erwartungshaltung des Publikums
und der Medien. Und diese kann ohne Probleme befriedigt werden.
Es zeigt sich an den drei Bildbeispielen aus den 1960er-Jahren, wie die
Geschichte der Börse mit der Entfaltung populärer Formen der Unterhaltung und des Vergnügens in der Gesellschaft verflochten war. Wir sind damit auch wieder bei der kleinen Börse angelangt, in welche die Teilnehmer
solcher Veranstaltungen griffen, um anzureisen, sich zu verpflegen und
sich etwas zu leisten. Wenn sie dann von dem herunterwirbelnden und
-zwirbelnden Papier gestreift wurden, hob das ihre Karnevalsstimmung.
Gleichzeitig kamen hier auf spielerische Weise Leute mit einer Einrichtung
in Berührung, die sie auch sonst – aber auf ganz andere Weise – betraf.
In konjunkturellen Auf- und Abschwüngen schlug die Performance des
Börsengeschäfts auf den gesamten Wirtschaftsprozess und die Beschäftigung durch. In Prosperitätsphasen stabilisierten die Kurszuwächse der
Finanzmärkte den Optimismus in breiten Bevölkerungskreisen. In krisenhaften Einbrüchen werden Börsen und Finanzmärkte regelmäßig zu jenen
Orten, an denen sich politische Kritik kristallisiert. Die Börsen haben
sich allerdings, im Zuge derselben Entwicklung, die zum Verschwinden
der Ticker führte, dezentralisiert und sind zu elektronischen Kommunikationsnetzwerken geworden, auf denen im Weltmaßstab gigantische
122
Zwischen Spekulationsblase und Crash: Die Börse als kultureller Ort
Datenmengen verarbeitet werden. In der Skandalisierung der Spekulation
bleiben sie jedoch als imaginäre Orte bestehen, auf denen um Grundfragen
der Gesellschaft und ihrer Normen gestritten wird. Damit erfüllt die Börse
eine kulturelle Funktion, die weit über die Wirtschaft hinausreicht.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
Zum spatial turn vgl. Döring 2007; Cresswell 2004; Withers 2009; Jureit 2012 und
Weigel 2002. Es geht bei diesen Analysen gerade nicht mehr um die Ineinssetzung von
politischer Macht, nationaler Identität und Territorialität, welche dem Paradigma des
Nationalstaates zugrunde lag, sondern um einen neuen Zugang zur nicht kontinuierlichen
räumlichen Verteilung und Streuung kultureller Handlungen und Effekte. Der fulminante
Aufstieg der Finanzmärkte seit den 1970er-Jahren lief parallel zu einer Krise des nationalen
Territoralitätsprinzips. Vgl. dazu Maier 2000.
Einen instruktiven Einblick in Funktionsweise und Aufgabe der Börse im Kapitalismus
vermittelt Weber 1988; zur Interpretation vgl. Tilly 2002 und Borchardt 2000.
Vgl. dazu Reinhart/Rogoff 2009; zur Kritik an der Spielmetapher Stäheli 2007.
Nicht eingegangen wird auf Versuche, Unterschiede auf Finanzmärkten mithilfe
kultureller Eigenschaften von Nationen zu erklären. Diese Vorgehensweise kippt häufig in
Nationalstereotypen um. Vgl. z.B. Kwok/Tadesse 2006.
So spricht der Kaufmann davon, das »Meer der Börse zu befahren« (De la Vega 1994, 17);
der Aktionär erwähnt die »Operationen auf dem gefährlichen und tiefen Meer der Börse«
(ebd., 18).
Noch kurz vor der Finanzmarktkrise von 2008 erschienen Beiträge von Ökonomen, die das
sog. Participation puzzle lösen wollten, das darin bestand, dass vor allem weniger begüterte
Bevölkerungskreise sich beharrlich einer Investition ihrer kargen Mittel in die florierenden
Aktienmärkte widersetzten. Vgl. Guiso/Sapienza/Zingales 2008.
Explizit aufgegriffen wird die Metapher von Joseph Vogl (2010).
Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_ticker_tape_parades_in_New_York_City
Abbildungen
Abb. 1: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Old_Bourse_of_Amsterdam.jpg
Abb. 2: http://members.casema.nl/a.tiggeler/dam.html
Abb. 3 und 4 aus: Bernd Baehring: Börsenzeiten. Frankfurter Wertpapierbörse 1585–1985.
Frankfurt a. M. 1985, S. 84 und 86.
Abb. 5 und 6 aus: Elizabeth Hennessy: Coffee House to Cyber Market. 200 Years of the London
Stock Exchange. London 2001, S. 17 und 59.
Abb. 7: Photoglob AG , Zürich; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_Börse_mit_
Friedrichsbrücke_um_1900.jpg
123
Jakob Tanner
Abb. 8: B. Strassberg, Allgemeine Illustrierte Zeitung (1884); http://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Alte_Handelsbörse_Leipzig.jpg
Abb. 9 und 10 aus: Hans-Rudolf Schmid und Richard T. Meier: Die Geschichte der Zürcher
Börse. Zum hundertjährigen Bestehen der Zürcher Börse. Zürich 1977, S. 132.
Abb. 11: Chicago Daily News negatives collection, DN-0007737A . Courtesy of Chicago
History Museum.
Abb. 12: Daniel Schwen; http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Cbot-close-night.jpg
&filetimestamp=20100726185501
Abb. 13: © Baycrest Wikipedia user; CC-BY-SA-2.5; http://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Shanghai_Stock_Exchange_Building.jpg
Abb. 14: Axel Gaodd; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Shenzhen_walk_01.JPG
Abb. 15: Pedro Cuevas; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mexico_stock_exchange_1.jpg
Abb. 16: H. Zimmer; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edison_Stock_Telegraph_
Ticker.jpg
Abb. 17: Museum für Kommunikation, Bern
Abb. 18: Underwood & Underwood; http://en.wikipedia.org/wiki/File:Women_in_WaldorfAstoria.jpg
Abb. 19: Toni Frissell; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:NixonTickerTapeParade
NYC1960.jpg
Abb. 20: NASA ; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chicago_Welcomes_the_Apollo_11_
Astronauts_-_GPN-2002-000035.jpg
Abb. 21: NASA ; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nasa_tickertape_apollo_19700915.jpg
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125
Ingrid Tomkowiak
Lili Marleen auf Latein*
Umberto Eco und das Populäre
Umberto Eco hat sich in seinem literarischen, wissenschaftlichen wie
publizistischen Werk immer wieder mit populären Literaturen auseinandergesetzt. Ostentativ tut er dies in seinem Buch Die geheimnisvolle
Flamme der Königin Loana (2004), das den Untertitel Illustrierter
Roman trägt und von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als »Rekonstruktion einer Enzyklopädie des Trivialen« (Hintermeier 2004), vom
Zürcher Tages-Anzeiger als »erschöpfendes Kompendium der italienischen Trivialliteratur« (Halter 2004) und von der Neuen Zürcher
Zeitung als »vergnügliches Museum der Trivialmythen« (Albath 2004)
bezeichnet wurde. Weiter liest man, Eco habe mit diesem Roman ein
»Bilderbuch« vorgelegt, »die Autobiografie seiner Generation, gespickt
mit Abbildungen von Comics, Schallplattenhüllen, Buchumschlägen,
Zeitschriften und anderen Produkten der Unterhaltungskultur. Buffalo
Bill, Mickymaus, der Graf von Monte Cristo, Fantomas und die Königin Loana geben sich ein bizarres Stelldichein.« (Ebd.) Und Eco selbst
charakterisiert den illustrierten Roman als eine gebräuchliche Gattung
des 19. Jahrhunderts und nennt die Abenteuerromane von Jules Verne,
Emilio Salgari und Karl May als Beispiele (ORF Spielräume Spezial
2004).
Auch in den anderen Romanen Ecos spielen populäre Literaturen
eine Rolle, wenn er sich beispielsweise ihrer Figuren, Stoffe, Motive und
* Umberto Eco zu seinem 80. Geburtstag.
127
Ingrid Tomkowiak
Erzählstrukturen (insbesondere derer der Abenteuerliteratur) bedient,
diese dabei gleichzeitig analysiert und kommentiert und damit selbst
zum Autor populärer Literatur geworden ist – seine Romane sind internationale Bestseller.
Wie also lässt sich Umberto Ecos Verhältnis zum Populären bestimmen? Und wo ist für ihn Kultur? Der Beantwortung dieser Fragen möchte
ich mich aus unterschiedlichen Richtungen nähern und beginne mit einem
kleinen Exkurs.
Wo ist Kultur? Teil I
In seinem Film Cinema Paradiso (1988) führt der Regisseur Giuseppe
Tornatore die Zuschauer in ein sizilianisches Dorf der 1940er-Jahre. Auf
Geheiß des Dorfpfarrers muss der Filmvorführer bestimmte Szenen aus
den Filmen herausschneiden, bevor sie gezeigt werden dürfen – Szenen mit
Küssen, Flüchen, Beschimpfungen und Gewalt. Die kirchliche Autorität
verordnet, was der Bevölkerung zuträglich ist, und greift mit Verbot und
Zensur regelnd ein. Für den kleinen Jungen Toto jedoch, der die herausgeschnittenen Filmstreifen in einer Kiste sammelt und wie einen Schatz
hütet, sind diese Szenen die Quintessenz seiner Liebe zum Film. Er kann
sie auswendig und spielt sie mit Hingabe nach.
Der Film veranschaulicht in den skizzierten Episoden unterschiedliche
Sichtweisen auf Kultur, welche die populären Literaturen und Medien
seit dem Aufkommen der unterhaltenden Massenliteratur ab der Mitte
des 19. Jahrhunderts begleitet haben. Was für die einen zu bekämpfender »Schmutz und Schund« war, bedeutete den anderen den ersten freiwilligen, vergnüglichen Zugang zu Kultur. Es sind die selbstbestimmte,
widerständige Aneignung des Verbotenen durch das Kind, die liebevolle
Inbesitznahme und das Sammeln und Aufbewahren für die Zukunft,
die der Film zeigt und damit für eine Sicht auf Kultur Partei ergreift, die
dem Populären einen Platz im Alltag einräumt und für Partizipation und
Demokratisierung steht. Ähnlich wie Umberto Eco in allen seinen Romanen arbeitet auch Giuseppe Tornatore in Cinema Paradiso mit Zitaten
und Referenzen an Klassiker der Filmgeschichte von Jean Renoir, Federico
Fellini, Charlie Chaplin und Luchino Visconti, wobei er die immer wieder
postulierten Grenzen zwischen legitimierter Hochkultur und diffamierter
Populärkultur verwischt.
128
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
In dem Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana geht es um
den Mailänder Antiquar Giambattista Bodini, genannt Yambo, der nach
einem Unfall aus dem Koma erwacht. Über sein Bildungswissen verfügt
er zwar noch, doch sein persönliches, autobiografisches Gedächtnis hat
er verloren. Mithilfe von Büchern, Heften, Bildern, Werbeanzeigen und
Schlagerschallplatten, die seine Kindheit in den 1930er- und 1940erJahren begleitet hatten und die er gesammelt auf dem Dachboden im
Landhaus seines Großvaters wieder findet, tastet er sich in seine Vergangenheit zurück. Auch dieser Großvater handelte mit alten Büchern:
»dazu allerlei Krimskrams aus dem neunzehnten Jahrhundert [...], dann
Ware von den Bouquinisten, nicht nur Bücher, auch Filmplakate, kleine
Figuren, Postkarten, alte Zeitschriften und Illustrierte.« (Eco 2004 a, 38 f.)
Dass Ecos Protagonist sich in diese Dachbodenschätze vertieft, gibt
dessen Frau Paola zu denken:
»›... ich fürchte, daß du dich mit dem, was du liest, zu sehr identifizierst, denn
dann leihst du dir das Gedächtnis von anderen aus. Bist du dir über den Abstand
zwischen dir und diesen Geschichten im klaren? [...] du fühltest dich unterdrückt
von einer Enzyklopädie, die aus Homer, Manzoni, Proust und Flaubert bestand,
und jetzt hast du dich in die Enzyklopädie der Trivialliteratur begeben. Das ist
doch kein Gewinn.‹ – ›O doch, das ist einer‹, antwortete ich, ›denn erstens ist
Stevenson keine Trivialliteratur, und zweitens ist es nicht meine Schuld, wenn
der Typ, den ich wiederfinden will, Trivialliteratur verschlungen hat [...].‹ – ›[...]
Wenn du das Gefühl hast, daß es dir hilft, dann mach weiter. Aber vorsichtig,
laß dich von dem, was du liest, nicht vergiften.‹« (Ebd., 180)
Dieser kleine Dialog zeigt das Spannungsfeld auf, in dem Populärkultur
steht. Zum einen wird durch Paola ein Gegensatz zwischen Hochliteratur
und Trivialliteratur beschworen; sie meint auch genau zu wissen, wo
die Grenze zwischen beidem verläuft. (Auffällig war die Häufung des
Wortes »trivial« auch schon in den Rezensionen zu diesem Roman.) Doch
Yambos Reaktion zeigt, dass die abwertende Zuschreibung »trivial«
nicht eindeutig ist. Weil zuerst als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift
erschienen – wie viele andere heute berühmte Abenteuerromane übrigens auch –, gehörte der als Beispiel genannte Roman von Robert Louis
Stevenson, Treasure Island (1881/82), für Repräsentanten eines bildungsbeflissenen Bürgertums schon durch die Art seiner Erscheinungsweise zu
den einer schlechten Qualität verdächtigen Schriften. Für andere dagegen
hat er kanonische Bedeutung und zählt zusammen mit den Romanen von
Alexandre Dumas, Eugène Sue und Jules Verne zu den großen Vertretern
129
Ingrid Tomkowiak
des Genres Abenteuerroman, zur Weltliteratur bzw. zu den Klassikern
der Kinder- und Jugendliteratur.
Zum anderen verweisen Paolas Ängste, dass Yambo sich zu sehr mit
den Geschichten identifiziere, den Abstand zu ihnen verliere und sich
durch sie vergiften lasse, auf die lange Tradition der Kritik des Trivialen.
Paolas Vorbehalte gehören zu jenen Argumenten, welche man im pädagogischen und kulturkritischen Kampf schon immer gern angeführt hat,
zunächst – bis ins frühe 19. Jahrhundert – gegen das Lesen fiktionaler
Literatur allgemein und schließlich gegen das, was als schlechte Literatur bzw. schädliche Lektüre gebrandmarkt werden sollte (vgl. für den
deutschsprachigen Raum Schenda 1986; ders. 1988, 53–135; Steinlein
1987, 62–115; Maase 2001; 2002; 2010): Die Leser seien wahllos in
ihrem Lektürekonsum, würden alles durcheinander lesen, nur flüchtig
wahrnehmen, über das Gelesene nicht nachdenken und nicht überlegen,
ob es auch wahr sei. Lesen halte von der Arbeit ab, mindere den Hang
zu nützlicher Beschäftigung, ersticke das Streben nach Höherem, führe
zu Sinnlichkeit, Weichlichkeit und sittlicher Verrohung, der Leser gerate durch ständige Erhitzung der Einbildungskraft gar in gefährliche
Schwärmerei, werde schließlich untauglich für die Realitäten des Lebens,
die Verbrechensdarstellung in der Massenliteratur wirke auf Jugendliche
ansteckend. »Als wesentliche Wirkungen des Sch.[und]s ergeben sich: der
Jugendl.[iche] folgt einem falschen Leitbild, übernimmt eine verzerrte
Welt- und Wertvorstellung, gewinnt ein unechtes Lebensgefühl und gerät
sogar in Gefahr, die dargestellten kriminellen Vorgänge nachzuahmen«,
heißt es noch 1955 im Lexikon der Pädagogik (Ott 1955, 217). Die
»Flucht in die ›Spannung‹ und falsche Phantasiewelt« beeinflusse die
geistigen Vorstellungen negativ, wirke enthemmend auf die Willenssphäre
und verarmend auf das Seelenleben, der Zugang zu echter Kultur werde
dadurch verbaut. (Ebd., 216 f.)
Das, was Yambo als Jugendlicher verschlungen hat, zählt nach dieser
Definition zum Schund – ein im Vergleich zu »Trivialliteratur« noch
stärker abwertender Begriff für populäre Literatur – und ist nach dieser
Lesart keine echte Kultur (vgl. Maase 2012). Und vor diesem Hintergrund spiegelt allein schon die Umschlaggestaltung der bei Bompioni
2006 erschienenen italienischen Taschenbuchausgabe von Ecos Königin
Loana die vom Populären ausgehende Provokation – den Umschlag
zieren ein aus einem Westernheft stammender Cowboy auf seinem Pferd
130
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
und die spärlich bekleidete Josephine Baker auf einem Foto des frühen
20. Jahrhunderts.
Das Wissen des Protagonisten um diese Provokation bzw. der Reiz des
Verbotenen wird im Roman in Szenen wie der folgenden zum Ausdruck
gebracht:
»War es in jenem Jahr oder im folgenden, daß der erste Comic für Erwachsene,
Grand Hotel, herauskam? Das erste Bild des ersten Fotoromans verlockt mich
und treibt mich zugleich in die Flucht. Nichts jedoch im Vergleich zu dem,
was ich dann in Großvaters Laden entdeckte, eine französische Illustrierte, die
mich, als ich sie aufschlug, vor Scham erglühen ließ. Ich entwendete sie kurz
entschlossen, schob sie mir unters Hemd und machte mich aus dem Staub. Zu
Hause liege ich dann bäuchlings auf dem Bett, genau in der Haltung, von der
die frommen Traktätchen abraten, und blättere in der Illustrierten. Auf einer
Seite, ziemlich klein, aber aufregend deutlich, ein Foto von Josephine Baker mit
nacktem Busen. [...] Es muß meine erste Ejakulation gewesen sein: Sie kommt
mir vor wie etwas Verbotenes, noch verbotener, als einem Deutschen die Kehle
durchzuschneiden.« (Eco 2004 a, 427 f.)
Unter den Dachbodenschätzen in des Großvaters Haus findet sich auch
das Heft, dem der Titel des Romans entliehen wurde: La misteriosa
fiamma della regina Loana, aus der Reihe mit »Abenteuern von Cino und
Franco« von Lyman Young, 1935 in Italien erschienen. Yambo erzählt:
»Ich schlug das Heft auf und vertiefte mich in die fadeste, dümmste Geschichte,
die je ein menschliches Hirn sich hatte ausdenken können. Es war eine roh
zusammengehauene Erzählung, die in allen Scharnieren klapperte, die Geschehnisse waren repetitiv, die Leute entbrannten grundlos in plötzlicher Liebe, Cino
und Franco waren von der Königin Loana mal fasziniert, mal sahen sie in ihr
ein bösartiges Wesen. [...] Kurzum, eine saublöde Geschichte. [...] Du liest
als kleiner Junge eine beliebige Geschichte, dann läßt du sie im Gedächtnis
wachsen und reifen, transformierst sie, überhöhst sie, steigerst sie ins Erhabene,
und so kommt es vor, daß du dir eine völlig sinnlose Geschichte zum Mythos
erwählst. Tatsächlich war das, was mein eingenicktes Gedächtnis befruchtet
hatte, nicht die Geschichte an sich gewesen, sondern der Titel. Ein Ausdruck wie
fiamma misteriosa hatte mich in Entzücken versetzt, zu schweigen von dem süß
klingenden Namen Loana [...]. Während der ganzen Jahre meiner Kindheit –
und vielleicht auch noch später – hatte ich nicht ein Bildnis, sondern einen Laut
angeschwärmt. [...] Und Jahrzehnte später, als mein Gedächtnis blockiert war,
hatte ich den Namen einer in Kindertagen verehrten Flamme reaktiviert, um den
Widerschein vergessener Wonnen zu bezeichnen.« (Ebd., 278–280)
131
Ingrid Tomkowiak
Der Autor Eco erzählt hier nicht nur von individuellem Erinnern auf
einer Spurensuche im Alltag. Er nimmt mit seinem Roman Stellung zur
Bedeutung des Populären in der Kultur. Wenn er dabei seinen Ich-Erzähler
seitenlang über literarische Qualität parlieren lässt und diesen sich (als Resultat von Selbstdisziplinierung?) von offenbar allzu trivialen (und deshalb
peinlichen?) Vorlieben seiner Kindheit distanzieren lässt, tritt dessen Wissen um die »kulturelle Unwürdigkeit« (Bourdieu) seines Lesestoffs offen
zutage. Das Oszillieren zwischen Faszination und Abwehr, wie es nicht
nur an dieser Stelle des Romans deutlich wird, ließe sich vielleicht mit
Hans-Otto Hügels Begriff der »ästhetischen Zweideutigkeit der Unterhaltung« fassen (Hügel 1993; vgl. ders. 2007; Göttlich/Porombka 2009). Die
Rezeption von populären Lesestoffen ist stets ambivalent: Wer kennt nicht
das Lesen verbotener Hefte auf der Toilette oder unter der Bettdecke? Bei
dem man genau weiß, dass dieser Lesestoff als minderwertig gilt, dessen
literarische Schwächen als solche erkennt und gerade deshalb lustvoll
erlebt – und sich gleichzeitig dafür schämt (vgl. Maase 2001; 2011). Das
Spielen mit dieser Zweideutigkeit gehört seit dem 20. Jahrhundert auch
zum Kalkül der Produktion kultureller Artefakte. Kult-Phänomene wie
Trash und Camp sind hierfür prominente Beispiele. Auch Umberto Eco
spielt mit dieser Zweideutigkeit, wie er in der Nachschrift zum »Namen
der Rose« deutlich macht:
»Du glaubst, du willst Sex und Crime und viel Action, eine spannende Krimistory,
bei der am Ende herauskommt, wer der Schuldige ist, aber du würdest dich
schämen, einen ehrwürdigen Schauerschinken mit schwarzen Händen des Todes
und finsteren Ränkeschmieden im Klostergemäuer zu akzeptieren. Na schön,
ich gebe dir einen Haufen Latein und wenig Frauen und Theologie in Hülle und
Fülle und Blut in Strömen wie weiland im Grand Guignol, bis du protestierst:
›Nein. Alles falsch, da mach ich nicht mit!‹ Und an diesem Punkt mußt du soweit
sein, daß ich dich habe, daß du den Schauder der unendlichen Allmacht Gottes
verspürst, die jede Ordnung der Welt zunichte macht. Und wenn du dann gut
bist, erkennst du sogar, wie ich dich in die Falle gelockt habe, schließlich hatte ich
dir’s bei jedem Schritt deutlich gesagt, ich hatte dich unüberhörbar gewarnt, daß
ich dabei war, dich ins Verderben zu ziehen! Aber das Schöne an Teufelspakten
ist ja gerade, daß man sie klarsichtig unterschreibt, wissend, mit wem man sich
einlässt.« (Eco 1986 a, 59 f.)
Ein Pakt zwischen Autor und Leser also – bei dem der Autor dem Leser
stets voraus ist und dieser sich ihm wohlig schaudernd anvertraut. Das
ist etwas grundsätzlich anderes als der autobiografische Pakt, wie ihn
132
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
Philippe Lejeune für Autobiografien beschrieb: als Identität von Autor,
Erzähler und Protagonisten, auf die der Leser sich verlassen könne und die
ihm (im Gegensatz zur Fiktionalität) die Faktualität des Textes garantiere
(Lejeune 1975). Auch Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana
von Umberto Eco ist kein solcher autobiografischer Text, auch wenn
Rezensenten ihm gern eine hohe autobiografische Qualität attestieren.
Anhand seiner zusammengetragenen Sammlung populärkultureller Artefakte lässt der Autor Umberto Eco den Ich-Erzähler Yambo Umstände
und Ereignisse schildern, wie sie ihm auch in seiner eigenen Kindheit
und Jugend begegnet sind, dennoch ist er mit seinem etwa gleichaltrigen
Protagonisten nicht gleichzusetzen. Dieser steht stellvertretend für eine
ganze Generation, der Roman ruft das kulturelle Gedächtnis einer Epoche
auf. Doch dazu später mehr.
Apokalyptiker und Integrierte
In seiner Nachschrift zum »Namen der Rose« kommt Umberto Eco auch
auf den Faktor »Unterhaltung« zu sprechen und damit zum einen auf
das Missverständnis, Unterhaltung des Publikums heiße Zerstreuung,
also Ablenkung von Problemen, und zum anderen auf die bis weit in die
1970er-Jahre den Diskurs zum Populären beherrschende Annahme, dass
auf Unterhaltsamkeit beruhender »Anklang beim Publikum (also Konsens
und damit ›Erfolg‹) ein Zeichen für Minderwertigkeit sei«. (Eco 1986 a,
70; vgl. zum Bestseller Tomkowiak 2003, 52 f., 55 f.) Schließlich geht Eco
auf den US -amerikanischen Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler ein.
Dieser opponierte Ende der 1960er-Jahre gegen die ästhetische Wertehierarchie des »Establishments«. Mit seinem programmatischen Aufsatz
Cross the Border. Close the Gap (1969 im Playboy [!] publiziert) plädierte
er für eine Literaturkritik, die populäre Phänomene wie den Western oder
Science Fiction, aber auch Pornografie nicht einfach verdammt, sondern
analysiert und die Gräben zwischen vermeintlich hoher und vermeintlich
niederer Kultur überbrückt. Hier bezieht sich Eco auf eine 1983 in Italien
veröffentlichte Diskussion zwischen Fiedler und anderen amerikanischen
Autoren und bemerkt dazu:
»Fiedler will provozieren, das ist evident: Er lobt den Letzten der Mohikaner, die
populären Abenteuerromane, die Gothic Novel, den ganzen von den Kritikern
133
Ingrid Tomkowiak
stets verachteten Plunder, der es gleichwohl verstanden hat, Mythen zu schaffen
und die Bilderwelten von mehr als einer Generation zu bevölkern. Er fragt sich,
ob je noch einmal so etwas erscheinen werde wie Onkel Toms Hütte, ein Buch,
das mit gleicher Leidenschaft in Küche, Salon und Kinderzimmer gelesen werden
kann. Er tut Shakespeare auf die Seite der guten Entertainer, zusammen mit Vom
Winde verweht ... Wir wissen, daß er ein viel zu subtiler Kritiker ist, um das alles
wirklich zu glauben. Er will ganz einfach die Schranke niederreißen, die zwischen
Kunst und Vergnügen errichtet worden ist. Er ahnt, daß ein breites Publikum
zu erreichen und seine Träume zu bevölkern heute womöglich heißen kann,
Avantgarde zu bilden; und er lässt uns dabei noch die Freiheit zu sagen, daß die
Träume der Leser zu bevölkern nicht unbedingt heißen muss, sie zu besänftigen,
mit versöhnlichen Bildern zu trösten. Es kann auch heißen, sie aufzuschrecken:
mit Alpträumen, Obsessionen.« (Eco 1986 a, 81 f.)
Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre hatte sich Umberto Eco mit der »kritischen Kritik der Massenkultur«, wie es im Untertitel zu seinem Buch
Apokalyptiker und Integrierte (1964, deutsche Übersetzung 1984 [!])
heißt, auseinandergesetzt. Es bietet eine für Ecos weiteren Umgang mit
dem Populären wegweisende Reflexion über gegensätzliche Positionen zur
»Massenkultur«, ergänzt um eigene Überlegungen zu »Kultur-Niveaus«,
zu Kitsch, zur Ästhetik des Typischen und zur »Struktur des schlechten
Geschmacks« sowie um Analysen zum Comic Steve Canyon, zum Mythos
von Superman, zur Welt der Peanuts, zu den erzählerischen Strukturen
in den James Bond-Romanen von Ian Fleming und zum Verhältnis von
Sozialismus und Trost bei Eugène Sue.
In der Einleitung zu diesem Band stellt Eco Vorwürfe der von ihm so
bezeichneten »apokalyptischen Tugendhaften« (Eco 1986 b, 19) gegen die
Massenmedien zusammen – kulturpessimistische Positionen, vor allem im
Gefolge der Kritik der Kulturindustrie als Massenbetrug durch Theodor
W. Adorno und Max Horckheimer in ihrer Essaysammlung Dialektik
der Aufklärung (1944 erstmals im US -amerikanischen Exil erschienen):
Die Massenmedien würden eine homogene Kultur verbreiten und damit
kulturelle Eigentümlichkeiten zerstören. Die Hochkultur werde durch
Kondensation, Simplifizierung und Verabreichung in kleinen Dosen –
im Verbund mit Unterhaltungsprodukten – nivelliert. Massenmedien
würden den herrschenden Geschmack stützen und seien resistent gegen
Erneuerungen. Das Publikum habe kein Bewusstsein von sich selbst, sei
passiv, die Massenmedien würden bei ihm lebhafte und unvermittelte
Emotionen evozieren. Sie richteten sich nach dem Gesetz von Angebot
und Nachfrage, das Publikum erhalte, was es verlange, doch werde ihm
134
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
zuvor suggeriert, was es wünschen solle. Gefördert werde eine unkritische
und passive Wahrnehmung der Welt, das Interesse an individueller Erfahrung werde entmutigt, die Neugier schablonisiert, eine bloß sekundäre
Aufmerksamkeit befestigt und die Urteilskraft geschwächt. Die Bevorzugung von Informationen über die Gegenwart führe zur Trübung des
Geschichtsbewusstseins, die Durchsetzung von Symbolen und Mythen
schlichtester Allgemeinheit zur Verflüchtigung der Individualität und Konkretheit eigener Erfahrung und Vorstellung. Das Phantom der öffentlichen
Meinung sei nichts als eine Bestätigung dessen, was wir ohnehin schon
denken, und damit konservativ. Die Massenmedien zeichneten sich durch
intakten Konformismus aus, indem sie Vorurteile im Bereich der Gewohnheiten, kulturelle Werte, gesellschaftliche und religiöse Grundsätze
und politische Tendenzen verbreiteten und die Projektion auf »offizielle«
Vorbilder förderten. Mit all dem seien sie Markenzeichen und Erziehungsmittel einer im Grunde paternalistischen Gesellschaft, nur dem Anschein
nach individualistisch und demokratisch, eigentlich jedoch auf Steuerung
und Beeinflussung aus, auf Gleichförmigkeit und Zwangsplanung des
Bewusstseins aller und damit legitimierte Nachfolger religiöser Ideologien im täuschend freundlichen Gewand einer Wohlstandsgesellschaft
vollständiger Chancengleichheit (Eco 1986 b, 15–44, bes. 42–44).
Eco kommentiert: »Dem Apokalyptiker ist vorzuwerfen, daß er niemals eine konkrete Analyse der Produkte und der Formen, in denen ihr
Gebrauch und Verbrauch sich abspielen, versucht.« (Ebd., 25) Aber er
schreibt auch: »Jeden einzelnen dieser Anklagepunkte kann man unterschreiben und dokumentieren. Zu fragen ist, ob das Panorama der Massenkultur und ihrer Problematik sich in dieser Liste von Anschuldigungen
erschöpft.« (Ebd., 44) Und so folgt bei ihm eine Zusammenstellung von
Argumenten der »Integrierten«, der »Verteidiger der Massenkultur«, die
er vor allem unter US -amerikanischen Intellektuellen findet (ebd., 44–47):
Die Massenkultur sei nicht typisch für die kapitalistische Herrschaftsform,
aber unvermeidlich in Industriegesellschaften, sie habe nicht den Platz
der Hochkultur okkupiert, sondern sei unter den Bevölkerungsschichten
verbreitet, die zuvor keinen Zugang zu kulturellen Ausdrucksweisen
gehabt hätten und deren Kenntnis der Geschichte zuvor ausschließlich
von religiösen Ideologien und traditionellen Mythen geprägt gewesen sei.
Niedere Unterhaltung sei kein Zeichen des Sittenverfalls, sondern Unterhaltung sei schon immer auch Appell an die sadistischen Instinkte des
Publikums gewesen: Die circenses der Gegenwart seien Boxkämpfe oder
135
Ingrid Tomkowiak
Quizsendungen im Fernsehen. Eine Homogenisierung des Geschmacks
sei gutzuheißen, trage sie doch zur Beseitigung von sozialen Unterschieden und Vereinigung nationaler Sensibilitäten bei und habe die Funktion
antikolonialistischer Entspannung. Die Menschen würden sensibilisiert
für die Auseinandersetzungen in der Welt. Auch kulturell hochstehende
Werke würden durch die Massenmedien massenhaft verbreitet. Durch
neue Redeweisen, Stilelemente und Wahrnehmungsmuster befördere die
Massenkultur kulturelle Umbrüche und setze Wandlungs- und Erneuerungsprozesse mit Rückwirkungen auf die Hochkultur in Gang.
Zusammenfassend attestiert Eco den »Apokalyptikern« eine pessimistische, ja gegnerische Haltung gegenüber der Massenkultur, die diese
als Antikultur, als Zeichen unwiderruflichen Zerfalls deute. Der Fehler
dieser Argumentation sei, dass sie die Verwerflichkeit der Massenkultur
aus deren industrieller Provenienz ableite (ebd., 48). Die »Integrierten«
zeichneten sich dagegen durch eine optimistische, affirmative Haltung aus,
die die allgemeine Verfügbarkeit der Massenkultur schätze und davon
ausgehe, dass sich populäre Kunst und Kultur durchsetze – unabhängig
davon, ob sie »von unten« entwickelt oder »von oben« für wehrlose
Konsumenten zubereitet worden sei. Der Fehler dieser Argumentation sei,
dass sie die Vervielfachung der Industrieprodukte auf einem vermeintlich
freien Markt an sich für gut erachte (ebd.).
Ecos eigene Position geht von den Gegebenheiten aus: »Ob wir es
anerkennen oder nicht, das Universum der Massenkommunikation ist
unser Universum.« (Ebd., 18) Man müsse sie deshalb zum Gegenstand
der Forschung machen, und diese dürfe sich nicht nur nicht scheuen,
»edle Werkzeuge an verpönten Objekten zu gebrauchen«, sondern müsse
sich auch von dem Vorbehalt verabschieden, dass »ein Erkenntnisinteresse, das sich dem Verderblichen zuwendet, anstößig, gar minderwertig
erscheint.« (Ebd., 34)
Im Jahr 1984, als nach zwanzig Jahren die erste deutsche Übersetzung
seines Buches erscheint, schreibt Eco eigens ein Vorwort zur deutschen
Ausgabe, in dem er unter anderem die selbst gestellte Frage beantwortet, weshalb er sich seit Ende der Fünfzigerjahre für die Phänomene der
Massenkommunikation interessiere:
»Ich las Comics und Kriminalromane, ich liebte die Filme von Fred Astaire und
das Musiktheater des Broadway. Vielleicht schämte ich mich heimlich dafür, da
viele berühmte Schriftsteller mir sagten, daß dies alles nichts tauge. [...] Später
136
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
bewunderte ich Walter Benjamin, weil er, im Unterschied zu seinen Freunden der
›Frankfurter Schule‹, die Massenkultur mit großer und wacher Neugier und ohne
Vorverurteilung studierte. [...] Heute könnte ich dieselben Themen viel lockerer
erörtern, doch damals mußte ich – mir selbst und den anderen – beweisen, daß
man über sie auch in ›akademischer‹ Manier schreiben konnte. So habe ich
wohl bei den ›Bildungszitaten‹ und in der ›wissenschaftlichen‹ Formulierung
übertrieben (ich ging sogar so weit, dem Text über Steve Canyon ein lateinisches
Zitat von Roger Bacon voranzustellen). [...] Als das Buch erschien, meinte ein
italienischer Rezensent (ein äußerst gebildeter Humanist), ich hätte ungebührlich
›feine‹ Mittel zur Untersuchung frivoler Gegenstände benutzt. Als ob man bei der
Erforschung von Affen wie Affen gestikulieren und nicht wie Darwin sprechen
sollte ...« (Ebd., 9 f.)
Eco begründet sein damaliges »Übertreiben« mit der Zeit, in der das Buch
entstand. Doch auch im 21. Jahrhundert greift Eco auf die Wirkung des
Lateinischen zurück. Auf den letzten Seiten seines illustrierten Romans
Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, beim halluzinierten
großen Finale vor Yambos Tod, einer Nummernrevue der populären
Figuren auf der Treppe von Yambos Gymnasium (allerdings der Showtreppe in Vincente Minnellis Musicalfilm An American in Paris, 1951,
nachgebildet), lässt er den Schatten des Geistlichen Don Renato mit dem
des Heiligen Don Bosco verschmelzen. Don Renato intoniert hinter dessen Rücken, »mystisch und großzügig in seinen Ansichten, duae umbrae
nobis una facta sunt, infra laternam stabimus, olim Lili Marleen, olim
Lili Marleen«. (Eco, 2004a, 490) Auf der Mailänder Buch-Vernissage am
28. Juni 2004 liest Eco aus seinem Roman, die Abbildungen flimmern über
eine große Leinwand hinter ihm, er rezitiert, tanzt und singt die Schlager
an, von denen er spricht. Den Höhepunkt des Abends bildet für Besucher
und Rezensenten jedoch genau dieser Moment – Lili Marleen auf Latein,
von Eco selbst gesungen (vgl. Klüver/Löffler 2004). Denn hier verschmilzt
der Autor mit seiner Figur, hier wird Ecos Verhältnis zum Populären
überdeutlich: Er weiß um dessen Präsenz und Bedeutung, hegt auch
eine gewisse Liebe zur populären Kultur, markiert jedoch akademische
Distanz, verbunden mit dem Plädoyer für wissenschaftliche Analyse.
Zum Anerkennen des Universums der Massenkultur gehört auch die
Akzeptanz der gleichzeitigen Präsenz und des Miteinanders von high und
low. In seiner Geschichte der Schönheit (2004), im selben Jahr erschienen
wie der Loana-Roman, beschäftigt sich Eco mit dieser Gleichzeitigkeit,
zum einen, indem er dort avantgardistische und populäre Kunst im Wortsinn nebeneinander stellt und auf wechselseitige Einflüsse verweist:
137
Ingrid Tomkowiak
»Alles in allem berufen sich die Schönheitsideale, auf die die Massenmedien der
ersten sechzig Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgreifen, auf die Angebote der
›großen‹ Künste. [...] Die Werbung für verschiedene Produkte läßt futuristische,
kubistische und später surrealistische Einflüsse erkennen. Vom Art Nouveau
angeregt sind die Comics von Little Nemo; der Städtebau anderer Welten, der
in Flash Gordon erscheint, erinnert an die Utopien modernistischer Architekten
wie Sant’Elia und nimmt selbst die Formen der späteren Raketen vorweg.
Die Comics von Dick Tracy drücken sogar eine langsame Gewöhnung an die
avantgardistische Malerei aus. [...] Wenn sich aber einerseits die Pop Art auf
der Ebene experimenteller Kunst und Provokation der Bilder aus der Welt
des Handels, der Industrie und der Massenmedien bemächtigt und auf der
anderen Seite die Beatles mit großer Klugheit auch der Tradition entstammende
musikalische Formen neu erkunden, wird der Raum zwischen Provokationskunst
und Konsumkunst eng.« (Eco 2004 b, 425 f.)
Das Nebeneinander von Avantgarde und Populärem beobachtet Eco
zum anderen im Rezeptions- und Konsumverhalten des Publikums von
»Kultur«: Besucher einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst, Käufer
»unverständlicher« Skulpturen oder Teilnehmer an einem Happening
seien gleichzeitig nach den Vorgaben der Mode gekleidet, trügen Jeans
oder Markenkleidung, frisierten oder schminkten sich nach Schönheitsmodellen, das die Illustrierten, das Kino und das Fernsehen, also die
Massenmedien, propagierten. Sie folgten genau den Schönheitsidealen
aus der Welt des Warenkonsums, gegen die die Kunst der Avantgardisten
seit vielen Jahrzehnten ankämpfe. »Wie soll man das deuten?«, fragt
Eco und antwortet selbst darauf: »Dies ist der typische Widerspruch des
20. Jahrhunderts.« (Ebd., 418)
Wo ist Kultur? Teil II
Der erste Mensch, den Yambo nach dem Aufwachen aus dem Koma sieht,
ist ein Arzt, der ihn nach seinem Namen fragt. »Ich heiße Arthur Gordon
Pym«, antwortet Yambo und weiß sogleich, dass dies nicht stimmen kann.
(Eco 2004 a, 10) Er hat sich verloren, in seinem Kopf gibt es nur mehr
Zitate. Sie sind seine »einzigen Leuchten im Nebel«. (Ebd., 74)
Der Bezug auf Edgar Allan Poes Roman The Narrative of Arthur
Gordon Pym of Nantucket (1838) ist Programm. Mit einer Handlung,
die abläuft wie in einer Nummernrevue, und einem Verwirrspiel um
die Autorschaft, in dem der Erzähler zu Beginn mit den Augen Pyms
138
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
auf den schreibenden Poe blickt und am Ende mit den Augen Poes auf
den inzwischen verstorbenen Pym, gibt es deutliche Übereinstimmungen
zwischen beiden Romanen. Wie Ecos Roman wird auch Poes fiktiver
Erlebnisbericht als Autobiografie gedeutet. Doch darum geht es hier
nicht; vielmehr schildert Poes Text das Erlebnis einer inneren Reise, die
Geschichte der Entwicklung der Weltanschauung des Protagonisten. Und
eben dies ist auch Ecos Thema.
Wie alle Romane Ecos lässt sich Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana auf unterschiedliche Weise lesen:
Als Reise in die individuelle Biografie des Helden.
Als theoretische Aussage über das Funktionieren des Gedächtnisses.
Als Kommentar zur Macht der Medien über das Individuum.
Als Rekonstruktion der Bewusstseinsbildung einer Generation.
Als Thesenroman über die Bedeutung des Populären, für die Bewusstseinsbildung des einzelnen, der Bevölkerung – für das kulturelle Gedächtnis.
»Vor allem in der Massenkultur liegt, so Ecos Überzeugung, jede Menge
Welt«, heißt es in der Sendung Umberto Eco. Der Bestseller-Professor,
dann lässt sie ihn selbst zu Wort kommen:
»Die Geschichtsschreibung hat lange versucht, Geschichte anhand der Erklärungen von Staatsmännern, anhand von Schlachten und großen Ereignissen
zu beschreiben. Dagegen wird die Kultur einer bestimmten Zeit eben auch von
den kleinen Dingen beeinflusst. Wir haben mit dem Lesen der Comics von Walt
Disney gelernt, was Freiheit und Demokratie sind. Dieser Aspekt der Kultur
ist sehr wichtig und an diesem Punkt kann man nicht mehr von hoher und
niedriger Kultur sprechen. Welches ist die niedrige Kultur? Die des Schulbuchs,
das uns lehrte, all jene zu töten, die keine Italiener waren? Oder die von Mickey
Mouse, die anhand der Figur eines Journalisten von der Freiheit erzählt?« (3sat,
9.7.2005)
Mit Rocambole, Nick Carter, Mickey Mouse, Flash Gordon, Fantomas
und all den anderen Heroen aus Groschenheften und Pulp Fiction hatte
sich der kleine Yambo im faschistischen Italien Mussolinis eine Parallelwelt geschaffen. Im Wissen um die konstituierende Bedeutung dieses trivialen Universums für sein Bewusstsein und mit einer Flut entsprechender
Reminiszenzen in seinem Kopf begibt er sich nach seinem Koma auf die
Suche nach seinem Ich. »Ein Gedächtnis aus Papier« heißt denn auch der
zweite Teil des Romans.
139
Ingrid Tomkowiak
Umberto Eco konstruiert in seinem Roman den Rückblick auf eine Zeit, in
der – wie in der Massenkultur üblich – vieles nebeneinander stand: faschistische Propaganda und amerikanische Comics, Schlagerschnulzen über
den süßen Zauber der Liebe und lustfeindliche Unterweisungsbüchlein
aus dem Religionsunterricht, militaristische Märsche und Befreiungslieder
der Partisanen. Dieses Nebeneinander interessiert ihn, und so stellt er im
Interview heraus, wie die Tatsache, dass Lili Marleen unter der Nazidiktatur entstehen konnte, viel aussage über den Charakter einer solchen
Kultur. Lili Marleen habe nichts Glorifizierendes, es sei im Gegenteil ein
trauriges Lied. Weil die Soldaten es trotzdem sangen, wurde es ein Stück
Volkskultur. Mithilfe eines solchen scheinbar unwichtigen Dokumentes
könne man Geschichte verstehen:
»Waren alle bei der SS? Nein. Sie sangen Lili Marleen, sie waren traurig, und sie
hatten keine Lust in den Krieg zu ziehen. Darum ist das Lied weltweit bekannt
geworden. Auch die Briten sangen es, so wie die Deutschen Rosamunde gesungen
haben. Das waren Lieder, die von beiden Seiten gesungen wurden. Sie wurden
damit zu wichtigen Dokumenten, die uns sagen, dass sich unter der großen
Geschichte Bewegungen, Dinge, ja Ablagerungen befinden, die man mit bedenken
muss.« (3sat, 9.7.2005)
Es geht Eco um die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit der
Massenkultur: »Plunder, der es gleichwohl verstanden hat, Mythen zu
schaffen und die Bilderwelten von mehr als einer Generation zu bevölkern«, hatte er in anderem Zusammenhang formuliert (Eco 1986a, 81)
– hierin steckt eine These, die er in seinem Roman Die geheimnisvolle
Flamme der Königin Loana anschaulich ausführt. Aber nicht nur dort
setzt er sich mit der Mythenbildung durch populäre Literaturen auseinander: Sein Roman Baudolino (2000, deutsche Übersetzung 2001)
handelt von der Kraft verbreiteter Lügen, in seinem Roman Das Foucaultsche Pendel (1988, deutsche Übersetzung 1989) zeigt Eco anhand
der bewussten Konstruktion einer fiktiven Verschwörung auf, wie die
Mechanismen von Verschwörungstheorien funktionieren. Dabei greifen
die Hauptfiguren, drei Intellektuelle im Umfeld eines Verlages, auf bestehende Verschwörungstheorien zurück und kombinieren sie zu einem
»großen Plan«. Auch wenn dieser nur eine Erfindung ist, wird er von Anhängern der ursprünglichen Verschwörungstheorien geglaubt. Eco geht es
hier nicht wie beispielsweise Dan Brown, dem Autor von Sakrileg (2003,
deutsche Übersetzung 2004; vgl. Tomkowiak 2012), um das Verwischen
140
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
der Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen zum Zweck der Bestätigung
der Existenz von Verschwörungen, sondern um das genaue Gegenteil: Er
möchte aufzeigen, was passiert, wenn Fiktionen und bewusste Fälschungen durch Menschen, die an sie glauben, Realität werden. Eco spricht an
anderer Stelle auch von der »Kraft des Falschen« (Eco 2003), dort geht er
unter anderem auf die antisemitische Verschwörungstheorie auf der Basis
der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion und ihre mörderischen
Konsequenzen ein. Sein neuester Roman Der Friedhof in Prag (2010,
deutsche Übersetzung 2011) setzt sich mit der Entstehung der »Protokolle« auseinander. Diese aus fiktionalen Versatzstücken (unter anderem
wurde auf Abenteuerromane von Alexandre Dumas und Eugène Sue
zurückgegriffen) zusammengeschusterte angebliche Dokumentation einer
jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft avancierte, obwohl bereits in den frühen 1920er-Jahren als Fälschung entlarvt, zu einer
zentralen Argumentationsquelle für die Diskriminierung und Verfolgung
der Juden vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft (vgl.
Sammons 2003; Benz 2007).
Doch zurück zu Loana: Dieser Roman sei ein Memorial-Projekt, das
den Allerweltsprodukten der Massenkultur verpflichtet sei, schreiben
Sigrid Löffler und Henning Klüver – eine Art Anti-Proust, und sie zitieren
den Autor: »›Wenn man über die verlorene Zeit schreiben möchte, dann
starrt einen natürlich Prousts Geist an. Deshalb muss man konträr zu
Proust vorgehen – keine privaten, nur objektive, unpersönliche Erinnerungen. Da mein Held sein persönliches Gedächtnis verloren hat, muss
er versuchen, es anhand objektiver Materialien zu rekonstruieren – und
die hat er mit seiner ganzen Generation gemein.‹« (Klüver/Löffler 2004)
Umberto Eco betrachtet seine Bücher als historische Revisitationen.
Und eine solche sei auch der Loana-Roman, allerdings ganz eigenen
Charakters: »nicht eine hochnotpeinliche Rekonstruktion von Dokumenten, sondern eine Art Live-Show«. Dafür habe er die Erscheinungen
der faschistischen und postfaschistischen Alltagskultur mit politischen
Materialien, etwa Mussolini-Reden oder Propaganda-Liedern, verschnitten: »Es herrscht ein ständiger Austausch zwischen Geschichte,
groß geschrieben, und den Geschichten der kleinen Leute, ein zivilisatorischer clash. Die Zeitungen berichteten von der Schlacht um El
Alamein oder vom Bombenabwurf auf Hiroshima, aber das Radio
dudelte dazu seichte Schlager.« (Eco, zitiert nach Klüver/Löffler 2004;
vgl. 3sat, 9.7.2005)
141
Ingrid Tomkowiak
Ein gänzlich anders geartetes, aber dennoch vergleichbares MemorialProjekt verfolgt der Historiker Gerhard Paul mit dem von ihm herausgegebenen Bildatlas Das Jahrhundert der Bilder, der die visuelle Geschichte
des 20. Jahrhunderts und den entsprechenden Bildkanon des kulturellen
Gedächtnisses nachzuzeichnen versucht. Er geht dabei – in Anlehnung
an Siegfried Kracauers Diktum aus den 1920er-Jahren vom »Fotografiergesicht« der Welt – von einer durch die Bilderwelt geschaffenen zweiten
Realität aus, die genauso handlungsbestimmend geworden sei wie die
erste (Paul 2008/09, 25). Bilder seien aber nicht nur das Medium, mit
und in dem Politik, Kultur und Werbung gemacht würden, sondern auch
der Stoff, in dem sich unser Bild von der Vergangenheit forme, Geschichte
entstehe. Paul kommt hier auch auf die Unzuverlässigkeit dieser Bilderzählung zu sprechen:
»Allerdings: wir erinnern uns in Bildern, oft genug, ohne zu wissen, woher
wir sie beziehen, wer sie gemacht hat oder was sie ausblenden. Gerade die
Ungebundenheit und Unverbundenheit der Bilder, ihre Mehrdeutigkeit und
Ambivalenz macht sie offen für Assoziationen, Umdeutungen und Projektionen jedweder Art [...]. Je nach Zeitläufen und individuellen Befindlichkeiten
werden die Bilder unseres Gedächtnisses neu montiert und mit persönlichen
Bedeutungen und Legenden versehen. Das 20. Jahrhundert ist in unseren Köpfen
als eine assoziative Montage von Einzelbildern, Bildsequenzen und Bildclustern
unterschiedlichster Gattungen präsent, deren ›Sprache‹ wir in aller Regel nicht
kennen.« (Ebd., 27)
Bilder seien immer auch Quellen für Einstellungen, Ängste und Hoffnungen, die Hinweise auf vergangene Mentalitäten und Deutungskonjunkturen oder schnappschussartige Einblicke in untergegangene
Welten liefern. (Ebd., 28)
Nur als Bilder sei uns die Vergangenheit präsent, hatte schon der von
Eco geschätzte Philosoph und Kulturanalytiker Walter Benjamin geschrieben (vgl. ebd., 27), und es verwundert nicht, dass Eco den Weg Yambos in
seine Erinnerung bzw. die Rekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses
seiner Generation eng entlang Überlegungen Benjamins gestaltet. Dem
Autor Eco dient die »mysteriöse Flamme« als Metapher Yambos für das
Aufscheinen seiner Erinnerung. Yambo beschreibt dies seiner Frau Paola
so: »Es ist eher so, daß ich etwas in mir gespürt habe. Etwas wie einen
Schauder. Nein, keinen Schauder. [...] So, wie wenn uns jemand aus der
vierten Dimension berühren würde [...]. Ich würde sagen ... eine mysteriöse Flamme.« (Eco 2004 a, 79)
142
Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre
Was Ecos Helden hier durchzuckt, ließe sich mit Benjamin als »blitzhafte
Erkenntnis« fassen, wie er sie in seinem Passagen-Werk umschrieben hat:
»Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige
oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild
ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.« (Benjamin 1972–1999, Bd. 5, 576) Es geht um
jene »blitzartig aufleuchtende Erkenntnis, bei der das Vergangene mit dem
Gegenwärtigen in unmittelbaren Bezug tritt, die Träume und Wunschbilder eines Kollektivs erfasst sowie die Trugbilder und Phantasmagorien
aufgedeckt werden« (Nerdinger 2011, 12).
Benjamin selbst arbeitete mit einem komplexen System von Verweisen, Archivierung und Indexikalisierung, ihn inspirierte der unvollendet
gebliebene Bilderatlas Mnemosyne des Kunst- und Kulturhistorikers Aby
Warburg. Für diesen waren die gesammelten Bilder unterschiedlichster
Herkunft »Engramme«, materielle Zeichen des kollektiven kulturellen
Gedächtnisses. Benjamin stellte in seinem Werk Verbindungen zwischen
seinen eigenen Texten, Zitaten anderer oder allgemeinen Begriffen her,
die sich über die traditionelle Argumentation legten. Aus bestimmten Reihungen autonomer Materialien, aus der dialektischen Entgegensetzung
von Gegenständen, deren Einzelbedeutung unmöglich zu versprachlichen
sei, entstehe eine neue Bedeutungskonstellation – ein Erkenntnisvorgang,
den Benjamin (in Anlehnung an André Breton in dessen Roman Nadja
von 1928) als »profane Erleuchtung« bezeichnete. Mit dem Aufreißen der
Oberfläche durch Montage, verknüpft mit der Rationalität der Konstruktion, verbindet sich bei Benjamin ein neuer Blick auf die Geschichte bzw.
die Geschichtsschreibung: Entscheidende politische Ereignisse lassen sich
in scheinbar unbedeutenden Momenten, Anekdoten und trivialen Gesten
entdecken, »in Situationen also, die bescheiden mit der totalisierenden
Empathie brechen, die uns die etablierte Realität als die einzig historisch
mögliche sehen lässt« (vgl. Rendueles/Useros 2011, 56–63, Zitat S. 63).
Wie später Eco denkt Benjamin Geschichte als Ansammlung von scheinbar bedeutungslosen Dingen, denen wir von der Gegenwart aus Sinn
verleihen: »Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große
und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß
nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben
ist.« (Benjamin 1972–1999, Bd. 1, 696)
Was der Autor Umberto Eco in seinem kulturanalytischen Roman Die
geheimnisvolle Flamme der Königin Loana praktiziert, ist eine Konstruk143
Ingrid Tomkowiak
tion im Sinne von Benjamins »profaner Erleuchtung«: Es geht ihm darum,
»›durch den Blutnebel‹ [Walter Benjamin] der Geschichte hindurch zu
blicken« (Nerdinger 2011, 13) und durch die Kombination vermeintlich
trivialer populärer Text-, Bild- und Musikprodukte unter der Oberfläche
liegende gesellschaftliche Zusammenhänge und Bedeutungen freizulegen.
Literatur
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145
Andrea Krauß
Topos und Textstelle
Zur literarischen Verfertigung von Kultur
Die Fragestellung dieses Bandes Wo ist Kultur? regt Überlegungen an,
die aus der Sicht einer Literaturwissenschaftlerin zunächst dem Wortlaut
dieser Frage gelten. »Wo ist Kultur?« – wer so fragt, der sucht Kultur,
sucht ihren Ort und benennt damit das Problem der Verortung. Kultur
könnte – zur gleichen Zeit oder zu unterschiedlichen Zeiten – an verschiedenen Orten sein, dort oder anderswo. Vielleicht auch »hier«, am Ort des
Fragenden selbst, der auf der Suche nach Kultur und im Moment seiner
Frage Kultur bereits zur Geltung bringt. Dieses »hier« am Ort des Fragenden trägt dann einer grundlegenden Einsicht der Kulturanalyse Rechnung;
der Einsicht, dass Kultur allerorten und immerwährend produktiv ist,
weil in ihr und durch sie jede lebensweltliche Praxis entsteht, weil Kultur
als Produktionsstätte von Bedeutung jede menschliche Handlung, auch
jene des Kultursuchenden und -erfragenden, in ihrer spezifischen Gestalt
hervorbringt.
Wenn Kultur die Frage ihrer Verortung aufwirft, wenn sie gesucht
wird, weil ihr Ort infrage steht, so wird, was Kultur bedeutet, davon nicht
unberührt bleiben. Die Frage »Wo ist Kultur?« erkundet mit anderen
Worten kulturelle Territorien und zugleich dasjenige, was wir meinen,
wenn wir »Kultur« sagen. Die Frage »Wo ist Kultur?« stellt mithin den
Gegenstand Kultur grundlegend zur Diskussion, und zwar auf eine Weise,
die Kultur nicht definitorisch fixiert, sondern als Problem ihrer je spezifischen Situierung in Bewegung hält: Kultur bezeichnet Unterschiedliches,
je nachdem, wer den Ort von Kultur wann zu bestimmen sucht – sie
147
Andrea Krauß
bezeichnet Unterschiedliches, je nachdem, ob ein Historiker, Soziologe,
Jurist oder Literaturwissenschaftler heutzutage oder etwa um 1900 Kultur
zu verorten sucht. Das Wo in der Frage nach Kultur liefert mit anderen
Worten jene Flexibilität, die einen historisch gerahmten Ortswechsel
von Kultur denkbar macht: Kultur wäre da, wo sie je spezifisch durch
einen komplexen kulturellen Raum wandert und zugleich diesen Raum
dynamisch erzeugt.
I.
Man könnte demzufolge sagen, die Frage Wo ist Kultur? funktioniere
wie eine analytische Suchformel, die ihren Gegenstand »Kultur« auf
komplexe Weise erschließen will. Eine solche Suchformel hat aber selbst
einen bestimmten kulturellen Ort, sie stammt aus der philosophischen
Dialektik und Rhetorik der Antike, namentlich von Aristoteles, der
solche analytischen Suchformeln Topoi, auf Deutsch: Orte bzw. Örter,
nannte und ihnen eine ganze Schrift unter dem Titel Topik (Aristoteles
2004) widmete. Ein Topos oder Topoi sind Aristoteles zufolge Fundorte,
die mögliche Argumentationsschemata zur umfassenden Erörterung eines
Problems bereithalten. Sie spielen eine Rolle im dialektischen Streitgespräch, wenn es darum geht, ein gültiges Argumentationsverfahren
zu entwickeln und den Gegner zur Annahme bestimmter Schlussfolgerungen zu zwingen. Sie spielen ferner eine Rolle, wenn mit Mitteln der
Rhetorik eine Rede zu halten ist und die thematische Ausarbeitung und
Beweisführung dieser Rede möglichst facettenreich und variabel entfaltet
werden soll. Topoi sind mit anderen Worten heuristische Instrumente
der Problemerschließung. Sie offerieren höchst flexible Argumentationshilfen, die sich auf jedes denkbare Thema beziehen lassen, weil sie keinen
konkreten Inhalt, sondern lediglich analytische Strategien, das heißt eine
Methode der Befragung und Gegenstandskonstitution, bereitstellen. So
lehrt die Topik nicht, was man konkret erwidern soll, wenn jemand eine
bestimmte Behauptung aufstellt. Sie ist vielmehr »daran interessiert,
welche formalen Kriterien zum Beispiel eine Definition erfüllen muss
und wie man jemanden widerlegen kann, der eine formal unzureichende Definition aufstellt. Bei spezifischen Aussagen untersucht sie, ob es
allgemeine Sätze gibt, die der aufgestellten Behauptung widersprechen,
und bei allgemeinen Behauptungen untersucht sie umgekehrt, ob das all148
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
gemein Behauptete auch auf alle spezifischen Fälle zutrifft […]« (Wagner/
Rapp 2004, 8).
Die formalen Schemata oder Topoi, mit deren Hilfe Schlussfolgerungen aufgestellt oder die Schlussfolgerungen anderer widerlegt werden
können, »sind sehr unterschiedlicher Natur: Manchmal handelt es sich
um genuin logische Verhältnisse wie Kontradiktionen, Implikationen
oder die klassenlogische Unterordnung von Arten unter eine allgemeinere Gattung, manchmal handelt es sich aber auch nur um sprachliche
Abhängigkeitsverhältnisse oder um sachliche Ähnlichkeiten« (ebd.). In
seiner Rhetorik zählt Aristoteles eine Reihe von Topoi auf, darunter
beispielsweise die topische Relationskategorie des »Mehr und Minder«
(Aristoteles 1995, 146 [1397 b]). Dieser Topos kann sich anlässlich verschiedener Probleme unterschiedlich konkretisieren. Ginge es etwa aus
philosophischer Perspektive um die Erkenntniskräfte des Menschen, so
könnte das entsprechende Argument lauten: »›Wenn sogar die Götter‹« –
als Repräsentanten des Mehr – »›nicht alles wissen, um wie viel weniger
die Menschen.‹« Ginge es anderseits um eine Rechtsproblematik, so kann
der gleiche Topos einem Ankläger zu dem Argument verhelfen, »dass der,
der sogar seinen Vater schlägt, auch seine Mitmenschen schlägt« (ebd.),
dass also derjenige, der das nahezu Unfassbare tut, auch das weniger
Anstößige zu tun imstande sei. Der Topos selbst, die Relation von Mehr
und Minder, liefert hier lediglich eine offene Verhältnisbestimmung, die
in jedem neuen Fall, bei jedem neuen Gegenstand andere konkrete Argumente ermöglicht.
Ein anderer topischer Gesichtspunkt resultiert aus der Berücksichtigung der Zeitverhältnisse. Mithilfe dieses Topos könnte ein Redner
im Falle eines nicht eingehaltenen Versprechens folgendes Argument
entwickeln:
»Hätte ich vor meiner Unternehmung eine Bildsäule [als Ehrenmal] verlangt für
den Fall, daß ich sie durchführe, so hättet ihr sie mir gegeben; jetzt aber nach
vollbrachter Tat wollt ihr sie mir nicht geben? So gebt doch keine Versprechen,
wenn ihr etwas erwartet, zumal ihr sie rückgängig macht, wenn euch das Erhoffte
geleistet wurde.« (Ebd., 147)
In einem weiteren Fall verweist Aristoteles auf die vielfach bestätigte
Erfahrung, dass »die Menschen nicht ein und dasselbe öffentlich und im
geheimen loben, sondern öffentlich nur das Gerechte und das Treffliche
am meisten loben, privat aber eher den Vorteil erstreben […]« (ebd., 151
149
Andrea Krauß
[1399 a]). Daraus ergibt sich Aristoteles zufolge ein weiterer topischer
Gesichtspunkt der ungünstigen Folgerung, indem man nämlich aufgrund
dieser menschlichen Schwäche versucht, einer bestimmten Person auch
dann eigennützige Motive zu unterstellen, wenn sie öffentlich stets das
Gerechte und Uneigennützige postuliert.
Aristoteles zufolge bildet die Topik ein »Verfahren […], aufgrund
dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus
anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen« (Aristoteles 2004,
45). Entscheidend ist hier der Hinweis auf anerkannte Meinungen. Anders nämlich als der streng formal-logische und darin wahrheitsfähige
Beweis bewährt sich die topische Argumentation in »alltäglichen Lebenssituationen« (Jost 2007, 175) und setzt solche Prämissen voraus, die
lediglich als wahrscheinlich gelten. Sie liefert also keine philosophische
oder wissenschaftliche Gewissheit, sondern mobilisiert Meinungen, die
innerhalb einer bestimmten Gruppe glaubhaft erscheinen, weil sie sich
dort als common sense eingebürgert haben und für richtig gehalten werden. Die kulturelle Dimension der Topik wird hier augenfällig: Das topische »Argumentieren [gründet] auf dem, was wahrscheinlich ist und
was der herrschenden Meinung (der Allgemeinheit) […] entspricht«. Zur
herrschenden Meinung kann es indes Gegenmeinungen geben, die unter
bestimmten Bedingungen ihrerseits zur Herrschaft gelangen können.
Die »herrschende Meinung (der Allgemeinheit)« ist mit anderen Worten
»kulturell und sozial verankert« (ebd). Sie gründet auf den »Normen
des gesamtgesellschaftlichen Meinungsgefüges« (Bornscheuer 1976, 27).
Der französische Philosoph und Literaturwissenschaftler Roland
Barthes bezeichnet das umfangreiche Repertoire der Topoi als »Raster
von Leerformen« und betont damit die strukturelle Gestalt der Topoi,
die noch diesseits aller Inhalte die Befragung und Prüfung des Themas
organisiert: »Man muß sich die Dinge so vorstellen: Dem Redner wird
ein Gegenstand (quaestio) aufgegeben; um Argumente zu finden, läßt der
Redner seinen Gegenstand über einen Raster von Leerformen ›gleiten‹:
aus dem Kontakt zwischen dem Gegenstand und jedem einzelnen Feld
(jedem ›Platz‹) des Rasters (der Topik) entspringt eine mögliche Idee« zur
konkreten Ausgestaltung der Argumentation. Roland Barthes erwähnt
eine »pädagogische Version dieses Verfahrens«, nämlich das in der Antike
den »Schülern abverlangte[ ] Glanzstück, das darin bestand, ein Thema
durch eine Reihe von Plätzen durchzuziehen: quis? quid? ubi? quibus
150
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
auxiliis? cur? quomodo? quando?« (Barthes 1988, 68). Wer hat was
wo und womit getan, warum hat er dies getan, wie und wann? – Solche
Erschließungsfragen, die bestimmte topische Gesichtspunkte oder Argumentationsschemata zugrunde legen, führen uns zurück zur Frage der
Kultur: »Wo ist Kultur?« erschließt den Gegenstand der Kultur unter dem
Gesichtspunkt des »ubi«, des Wo. Die Frage geht also davon aus, dass sich
unter dem Gesichtspunkt der Verortung eine schlüssige Argumentation
zum Problem der »Kultur« entfalten lässt; eine schlüssige Argumentation,
insofern diese Frage des Wo allgemein anerkannte Meinungen mobilisiert.
Es gehört mit anderen Worten zu unserem common sense, dass Kultur
relativ zu ihrer Verortung diskutiert werden muss; dass sie relativ zu
ihrer Verortung etwas je Spezifisches und anderes werden könnte; dass
wir glaubhaft nur argumentieren können, wenn wir Kultur im wandlungsfähigen hier und jetzt unterschiedlicher Perspektiven begreifen und
diese verschiedenen Perspektiven hinsichtlich ihrer jeweiligen Kontexte
kenntlich machen.
II.
Mein kultureller Kontext (lat. contexo, zusammenflechten) ist das Gewebe des Geschriebenen, ist genauer die Literatur und zugleich die Literaturwissenschaft. Hier, am Ort der Literaturwissenschaft, hat der Topos
vor allen Dingen in den 1950er- und 1960er-Jahren eine erstaunliche
fachgeschichtliche Karriere erfahren, deren Ausläufer bis heute bemerkbar sind. Gründungsvater dieser Karriere ist der Romanist Ernst Robert
Curtius, dessen vieldiskutiertes Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges erschien
und weitreichenden Einfluss gewann. Curtius prägt in diesem Buch eine
literaturwissenschaftliche Toposforschung, die zugleich Traditions- und
Überlieferungsforschung ist. Seine Definition des Topos unterscheidet sich
deutlich von derjenigen Aristoteles, weil sie nicht zunächst formale Gesichtspunkte zur Erschließung möglicher Argumente, sondern konkret gestaltete und semantisch aufgeladene Ausdrucksschemata bezeichnet. Mit
Curtius ist »Topos« ein anderes Wort für Gemeinplatz, eine sprachlich
verfestigte Formel als »Bestandteil[ ] von Stoffkomplexen« (Wagner 2009,
Sp. 623). In seiner Rekonstruktion von Überlieferungsprozessen zwischen
Homer und Goethe »suchte«, so Otto Pöggeler, »Curtius in dem, was er
151
Andrea Krauß
Topos nannte, die atomaren Elemente der Literatur zu finden. Ein Topos
war für ihn ein vielfach verwendbares, immer neu tradierbares, dabei aber
relativ konstant bleibendes ›Argument‹, das sich in der Rede verwenden
ließ und […] zum festen literarischen ›Klischee‹ werden konnte. Curtius
konnte Topik deshalb als ›Vorratsmagazin‹ ansehen, das Argumente
für Rhetoren und Klischees für Schriftsteller stapelte« (Pöggeler 1972,
160). Curtius zufolge repräsentieren Topoi »kristallisierte Tradition«
(ebd., 170), die sich im Prozess der Kanonbildung stabilisiert. Im Topos
offenbart sich demnach die einheitliche Tradierung symbolischer Formen
zusammen mit ihrer geschichtlichen Variation und Erneuerung, offenbart
sich mit anderen Worten das beständige Fortleben der abendländischen
Kultur in Gestalt ihrer gleichermaßen modifizierten wie nachhaltig wieder
erkennbaren Stoffe und Formen.
Curtius diskutiert in seinem Buch eine Fülle höchst unterschiedlicher
Topoi. Zu ihnen gehören beispielsweise Schemata der Trostrede, der
Personenbeschreibung oder Naturschilderung. Ein Topos der Trostrede
etwa besteht aus der stereotypen Formel, dass »alle Kreaturen sterben
müssen«. Curtius rekonstruiert entsprechend eine literarische Tradition,
in der von Homer über Horaz, Ovid und bis in die Neuzeit hinein Trostgedichte, Totenklagen und Grabesreden den jeweiligen Todesfall mit dem
Topos »alle müssen sterben« in Zusammenhang bringen (vgl. Curtius
1948, 88–90). Personenbeschreibungen greifen vielfach auf ein antikes
»Menschenideal« zurück, »in dem die Polarität zwischen Jugend und
Alter zu einem Ausgleich strebt« (ebd., 106). Solche Personenbeschreibungen verwenden dann die Topoi des greisen Knaben oder der jugendlichen Greisin. Auch hier entdeckt Curtius eine kontinuierliche Tradition, die von der Spätantike bis zu Balzac reicht. Naturschilderungen
schließlich greifen wiederholt auf »Ideallandschaft[en] mit ihrer typischen
Ausstattung« zurück oder mobilisieren antike Versatzstücke wie das
»Elysium (mit ewigem Frühling […]), das irdische Paradies, das goldene
Zeitalter« (ebd., 90). So dient zur Verklärung der Welt seit der Antike die
idyllische Hirtendichtung, die mit Vergils Schriften ein »fester Bestandteil
der abendländischen Tradition« (ebd., 195) wurde. Ein wiederkehrendes
Element dieser verklärten Natur ist der sogenannte »Lustort« oder locus
amoenus. »Er ist«, so schreibt Curtius, »ein schöner, beschatteter Naturausschnitt. Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder
mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten
können Vogelgesang oder Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch
152
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
Windhauch hinzu.« (Ebd., 200) Roland Barthes beschreibt diese Art
von Topik als »ausgefüllte[n] Speicher«, der »wiederholte, verdinglichte
Inhalte« bereithält. Die darin gespeicherten Topoi unterscheiden sich von
den strukturellen »Leerformen« der aristotelischen Topik, weil sie nicht
allein formale Hilfsmittel zur analytischen Erschließung liefern, sondern materiale Gemeinplätze, die »allen Argumentationen gemein sind«
und diese Leerformen mit »Stereotypen« und »eingebürgerten Themen«
gleichsam ausfüllen (Barthes 1988, 69).
Im Gefolge von Curtius’ Toposforschung entstand eine Fülle von
Studien, die die Überlieferungs- und Einflussverhältnisse europäischer
Literaturen akribisch rekonstruierten. Gleichzeitig entbrannte eine heftige Diskussion über Curtius’ methodisches Verfahren und begriffliche
Prämissen. Curtius und mehr noch seine Epigonen hätten die Literaturwissenschaft zu einer mechanisch »operierende[n] Stoff- und Motivgeschichte« (Hebekus 1995, 84) absinken lassen und zumal die europäische
Literatur auf einen bildungsbürgerlichen Kanon verengt. Dieser elitäre
Kulturkonservatismus diskutiere die abendländische literarische Tradition als kontinuierlich weitergetragene Einheit und lasse damit jedes
»historische[ ] Bewußtsein« (Gumbrecht 2002, 51) vermissen. Wer nämlich Überlieferung als überzeitliche Stoffgeschichte denke, ignoriere die
»Asymmetrie zwischen (Vergangenheits-)Erfahrungen und (Zukunfts-)
Erwartungen« (ebd., 50), die das moderne Geschichtsverständnis kennzeichne. Die schärfsten Einwände betrafen den von Curtius in Anwendung
gebrachten Toposbegriff. Auch dieser sei, so wieder die Kritiker, gänzlich
ahistorisch. Gemessen nämlich am strikt heuristischen Toposbegriff, wie
er seit Aristoteles die philosophische Topik beherrsche, betreibe Curtius’
Auffassung des Topos eine unzulässige und ungenaue Erweiterung des
Begriffs. Vom richtigen Topos, der lediglich formale Anleitungen zur
Bildung von Argumenten liefere, sei der falsche Topos, der das inhaltlich
gefüllte Versatzstück oder Material selbst liefere, unbedingt zu unterscheiden (vgl. Jehn 1972, vii–lxiv; Mertner 1972, 20–68; Hess 1991,
75–78). Bei aller Berechtigung der verschiedenen Einwände übersieht insbesondere die Kritik am »falschen« Toposbegriff den spezifischen Ertrag
der literaturwissenschaftlichen Toposforschung nach Curtius. Die weite,
vorgeblich falsche Fassung des Topos entwarf nämlich ein Modell literarischer Produktion, das den individuellen Verfügungswillen des autonomen
schöpferischen Subjekts infrage stellte und dadurch den Weg ebnete für
ein eher strukturelles Denken in übergeordneten kulturellen, historischen
153
Andrea Krauß
und diskursiven Zusammenhängen. »Ein Topos ist etwas Anonymes«,
heißt es bei Curtius. »Er fließt dem Autor in die Feder als literarische
Reminiszenz. Er hat eine zeitliche und räumliche Allgegenwart wie ein
bildnerisches Motiv. Die Toposforschung gleicht der ›Kunstgeschichte
ohne Namen‹ im Gegensatz zur Geschichte der einzelnen Meister. Sie
kann bis zu den unpersönlichsten Stilformen vordringen. In diesen unpersönlichen Stilelementen aber berühren wir eine Schicht historischen
Lebens, die tiefer gelagert ist als die des individuellen Erfindens« (Curtius
1972, 9). Tiefer gelagert als die Schicht des individuellen Empfindens ist
die unpersönliche literarische Reminiszenz, die »dem Autor in die Feder
[fließt]«. Ein Autor bezieht diese Reminiszenz aus dem Fundus topischer
Formen, die er wiederholt und zitiert als vorgegebene Bauteile der literarischen Tradition. Topoi gehören damit ins kulturelle Gedächtnis einer
Gesellschaft, sie bilden dieses Gedächtnis und bringen so das kulturelle
Wissen dieser Gesellschaft zur Darstellung.
Der Literaturwissenschaftler Lothar Bornscheuer hat Curtius’ Anregungen aufgenommen und Ende der 1970er-Jahre ein übergreifendes
Kulturmodell der Topik entwickelt, das Aufschluss darüber zu geben
sucht, wie »soziales und kulturelles Wissen zirkuliert« (Hebekus 1995,
83). »Ein Topos ist«, Bornscheuer zufolge, »ein Standard des von einer
Gesellschaft jeweils internalisierten Bewußtseins-, Sprach- und […] Verhaltenshabitus, ein Strukturelement des sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges [und] eine Determinante des in einer Gesellschaft jeweils
herrschenden Selbstverständnisses« (Bornscheuer 1975, 96). Der Toposbegriff erfährt hier eine zusätzliche Erweiterung. Er bezeichnet im umfassenden Sinne sämtliche symbolische Formen, in denen sich die »allgemeinen gesellschaftlichen Meinungs-, Sprach- und Verhaltensnormen« (ebd.,
94) zur Geltung bringen, und er kann Sentenzen, Sprichworte und Zitate
genauso umfassen wie »weltbildprägende[ ] Überzeugungen und Wissensinhalte«. Auf dem Hintergrund dieser historisch und kulturell spezifischen
Normen oder allgemein anerkannten Denkgewohnheiten gewinnt das
topisch organisierte »Kommunikationsgefüge[ ]« Überzeugungskraft und
Stabilität, und zwar eine Stabilität, die durch »Bildungssystem[e]« abgesichert wird (ebd., 96). Denn Bildungsinstitutionen implementieren mit
dem Bildungskanon zugleich die topischen Schemata eines bestimmten
kulturellen Wissens.
In diesem Kommunikations- und Wissensgefüge hat auch die Literatur ihren Ort. Das einzelne literarische Werk »stellt sich«, so heißt es
154
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
bei Bornscheuer, »mittels seiner Topik«, indem es also auf überlieferte
symbolische Formen und Wissensbestände Bezug nimmt, »gleichzeitig in
einen gesellschaftlichen wie ästhetischen Bedeutungs- und Rezeptionszusammenhang« (ebd., 20) ein. »[M]ittels seiner Topik« übernimmt es eine
gedächtnisökonomische Funktion und trägt zur kulturellen Verwaltung
von Wissensfülle bei. Hier kommt die spezifische Gestalt des Literarischen ins Spiel. Wie sich nämlich diese Verwaltung von Wissensfülle
gestaltet, ob sie topische Vorprägungen zum formelhaften Gemeinplatz
erhärtet oder spezifisch umarbeitet, wird zum Ausweis eigentümlicher
literarischer Ausdrucksmodalitäten. Bornscheuer hat deutlicher noch als
Curtius darauf hingewiesen, dass Topoi wandelbar sind, dass sie, um ihre
ordnungs- und traditionsstiftende Rolle in komplexen Gesellschaften zu
erfüllen, flexibel sein müssen und unterschiedlich auslegbar in je unterschiedlichen Situationen. Zum Topos gehört also neben seiner habituellen
Vorprägung zugleich seine »polyvalente Interpretierbarkeit« (ebd., 105).
Er ist zugleich erinnertes wie verändertes kulturelles Medium. Er wandelt
sich situationsbezogen, das heißt gemäß des Ortes, den er im kommunikativen und diskursiven Gefüge einer Kultur einnimmt. Am Ort des Topos
materialisiert sich also das Selbstverständnis einer Kultur und interpretiert
es sich zugleich. Der Ort des Topos gewinnt seine kulturelle Wirksamkeit
nur durch fortwährende Verschiebung und neuerliche Verortung.
III.
Wie funktioniert diese spezifische Verortung kultureller Topoi, wenn Literatur, wenn ein bestimmter literarischer Text sich »mittels seiner Topik« in
die kulturelle Überlieferung einschreibt und diese Überlieferung zugleich
reformuliert? Sie funktioniert, so möchte ich vorschlagen, am Ort der
Textstelle, an jenem spezifischen Ort des Literarischen, ohne den keine
Lektüre auskommt, wenn sie genauer untersuchen will, was Literatur
im Vollzug ihrer eigentümlichen Darstellung tut. Topos und Textstelle
hängen auf spezifische Weise zusammen, sie verweisen aufeinander. Hat
man nämlich die Textstelle »aus dem Textfluß isoliert« (Geulen 2001,
476) und beispielsweise für schön oder besonders sinnreich befunden,
dann kann die singuläre Textstelle zum formelhaften Klischee werden
und damit ihrerseits ein Gemeinplatz oder Topos der sozialen Kommunikation. Weit verbreitet sind Georg Büchmanns Geflügelte Worte, ein
155
Andrea Krauß
Zitatenschatz voller geläufiger Redewendungen, Sprichwörter und Zitate
vornehmlich aus der Bibel, aus griechischen und römischen Quellen, der
deutschen und europäischen Literatur. Erstmals publiziert im Jahre 1864
und seither vielfach neu aufgelegt, erweitert und fortgesetzt, reflektiert
dieser Zitatenschatz den bildungsbürgerlichen Katalog der Gemeinplätze
bis in die Gegenwart hinein. Die singuläre Textstelle, die wir unter bestimmten Gesichtspunkten auswählen und auf diese Weise zur Textstelle
erst machen, kann sich also in ihrer Eigentümlichkeit zugleich verallgemeinern, kann zum zitierfähigen Gemeinplatz werden. Gleichzeitig kann
diese Textstelle ihre Eigentümlichkeit ausspielen in dem, was sie ihrerseits
zitiert und auf spezifische Weise darstellt. Das einzelne literarische Werk,
so heißt es bei Bornscheuer, »stellt sich […] mittels seiner Topik«, indem
es auf überlieferte symbolische Formen und Wissensbestände referiert, in
eine kulturelle Tradition ein. Die Textstelle steht mithin am Schnittpunkt
von etabliertem Topos und neuerlicher Verortung, sie ist ihren Möglichkeiten nach zugleich singulär und allgemein.
Ich werde im Folgenden zwei literarische Textstellen untersuchen und
der Frage nachgehen, was dort, am Ort der Textstelle, geschieht, wenn
diese Textstelle topische Strukturen aufnimmt und sich auf diese Weise in
die kulturelle Überlieferung einstellt. Mich interessiert, genauer noch, jene
Dynamik, die sich am Ort der Textstelle einstellt, indem diese ein überliefertes kulturelles Muster zitiert und umarbeitet; indem sie dergestalt
die topische Stabilität verändert, das scheinbar Fertige und Beständige
neuerlich verfertigt und Kultur auf ihre Weise erzeugt.
Ich beginne mit einer Textstelle aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten von Johann Georg Hamann. Hamann ist ein Autor aus der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sich nicht leicht situieren lässt. Wie so
viele seiner schreibenden Zeitgenossen studierte er zunächst Theologe,
beschäftigte sich aber auch mit Rechtswissenschaft, Sprachen, Philosophie
und Literatur. Er selbst nannte sich einen Philologen und schrieb Texte,
die im dichten Geflecht zwischen Philosophie, Theologie und Literatur
entstanden. Philologie, die »Liebe zum Wort«, präsentiert sich im Falle
Hamanns als Produktionsstätte, an der offenbleibt, welcher Disziplin
oder Gattung eine Schreibweise zuzuordnen wäre.
Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten erschienen im Jahr 1759
und provozierten seine Leser nachhaltig. Diese vermissten eine »Lehre«,
wie sie im aufklärenden 18. Jahrhundert vielerorts erwartet wurde. Sie
monierten grundsätzlicher noch die Schwierigkeit, eine bestimmte Mit156
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
teilung, einen Gehalt überhaupt auszumachen, und quittierten dieses
Problem mit dem Vorwurf des Dunklen. Dunkelheit als Metapher des
Unverständlichen gehört seitdem zu den weithin bekannten Topoi der
Hamann-Forschung (vgl. Schumacher 2000, 89–102).
Tatsächlich sind die Sokratischen Denkwürdigkeiten ein merkwürdiger Text. In einer äußerst komplexen Komposition verknüpft Hamann
zwei Vorreden, eine Einleitung, einen dreifach gestaffelten Hauptteil
und eine Schlussrede. Die Vorreden adressieren das Publikum bzw. die
Leser und diskutieren Fragen der Rezeption. Sie legen ferner dar, was die
Sokratischen Denkwürdigkeiten sein wollen: eine Schrift, die über das
sokratische Leben und Philosophieren berichtet. Die Einleitung skizziert
anschließend das Modell einer lebendigen Philosophiegeschichtsschreibung, der Hauptteil erörtert neben biografischen Aspekten die sokratische
Haltung des Nichtwissens und situiert dieses Nichtwissen in verschiedenen Kontexten. Mit Sokrates aber und dem geflügelten Wort Ich weiß,
dass ich nichts weiß bearbeitet Hamann einen veritablen Topos der Philosophiegeschichte, der zumal im aufklärenden 18. Jahrhundert hohe
Konjunktur hat, diente doch die sokratische Einsicht in die Grenzen des
Wissens gerade zum Ansporn, diese Grenzen durch stetig fortschreitende
Erkenntnis zu überwinden.
Die in Rede stehende Textstelle findet sich in der 2. Vorrede, und
sie handelt vom Lesen. Hamann stellt hier den Leser Sokrates vor, der
sich als »Kunstrichter« mit den Schriften von Heraklit befasst. Dies ist
bemerkenswert, weil der griechische Philosoph Heraklit, ähnlich wie Hamann selbst, als schwer verständlich galt. Wenn Hamann also den Leser
Sokrates ins Spiel bringt und ihn die ›dunklen‹ Schriften von Heraklit
beurteilen lässt, so liefert Hamann zugleich Hinweise, wie man ihn selbst
lesen könnte, wie man also seinen eigenen Umgang mit Sokrates, diesem
Topos der Philosophiegeschichte, zu verstehen habe. Die Textstelle lautet
wie folgt:
»Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunstrichter. Er unterschied in
den Schriften des Heraklitus, dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er
darin verstand, und that eine sehr billige und bescheidene Vermuthung von dem
Verständlichen auf das Unverständliche. Bey dieser Gelegenheit redete Sokrates
von Lesern, welche schwimmen könnten. Ein Zusammenfluß von Ideen und
Empfindungen in jener lebendigen Elegie vom Philosophen machte desselben
Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken
und Fähren der Methode fehlten.« (Hamann 1987, 15)
157
Andrea Krauß
Was genau geschieht in dieser Passage? Zunächst beschreibt Hamanns
Erzähler ein bestimmtes Verfahren, nämlich Sokrates’ Methode zur Beurteilung von Heraklits schwer verständlichen Schriften. Diese Methode
vollzieht sich als Bewegung des Verstehens, die gleichermaßen unterscheidet wie in Beziehung setzt. Die verständlichen Stellen werden von
den unverständlichen gesondert, dann wird vom Verständlichen auf das
Unverständliche geschlossen, und zwar in Form einer »sehr billige[n]
und bescheidene[n] Vermuthung«. Diese Methode trägt integrative Züge.
Auch wenn sie nur bescheiden vermutet, so stellt sie doch eine Verbindung, einen Zusammenhang her. Dieses vom Ich-Erzähler beschriebene
Verfahren trifft im nächsten Satz auf Sokrates ›selbst‹, der diese Methode
indirekt zu kommentieren scheint. »Bey dieser Gelegenheit«, heißt es,
»redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten«. Der bescheidene Kunstrichter, der eine Beziehung zwischen dem Verständlichen
und Unverständlichen vermutet, tritt solcherart in die Nähe des schwimmenden Lesers. Sokrates’ indirekter Kommentar bringt also »bey dieser
Gelegenheit« – das heißt auch: in dieser aneinander gelegten Satzfolge
der ›hier‹ gerade entstehenden Textpassage – zusätzlich zur beschriebenen
Methode des Verstehens eine Analogie ins Spiel, die den urteilenden
»Kunstrichter« durch den »Leser« ersetzt; durch einen schwimmenden
Leser, der zur Lektüre des ›dunklen‹ Heraklit offenbar besonders geeignet erscheint. Im darauffolgenden Satz scheint Hamanns Erzähler nun
diese im Kursivdruck herausgehobene Formel vom schwimmenden Leser
seinerseits zu deuten, und zwar genau so, wie es Sokrates’ Methode des
Verstehens vorsieht. Unter dem Vorbehalt des »vielleicht« stellt er eine
bescheidene Vermutung an, wie diese Metapher vom ›schwimmenden
Leser‹ zu verstehen wäre. Mit anderen Worten: Während das unterscheidende Verstehen zu Beginn der Passage offenbar verständlich war und
vom Erzähler ohne Schwierigkeiten dargelegt wird, ist ein schwimmendes
Lesen komplizierter und muss durch Vermutung erschlossen werden.
Was diese Vermutung dann tut, ist bemerkenswert, weil sie die zunächst
beschriebene Methode des Unterscheidens subtil in Bewegung setzt. Sie
schließt nämlich nicht von der verständlichen Methode des Unterscheidens aufs unverständliche Schwimmen, sondern artikuliert unterschiedliche Aspekte des Flüssigen. In diesem neuen Kontext des Flüssigen wird
nicht mehr trennscharf unterschieden, Unterschiedenes wird vielmehr
ineinander übertragen. Diese Synthese betrifft zunächst den Philosophen
zusammen mit seinem Werk. Denn im »Zusammenfluß von Ideen und
158
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
Empfindungen in jener lebenden Elegie vom Philosophen« sind weder
Ideen von Empfindungen klar zu unterscheiden noch der Philosoph von
seiner Elegie. So ist ja gleichermaßen denkbar, dass der Philosoph Heraklit
diese lebendige Elegie geschrieben hat, dass diese Elegie von ihm handelt
oder dass er diese lebendige Elegie buchstäblich verkörpert. »Empfindungen« bahnen den Weg zur »Elegie«, die als Trauerlied in Empfindungen
gründet. Darüber hinaus verweist »Elegie« auf eine andere Quelle, einen
anderen Zufluss: den schon in antiken Quellen überlieferten Topos von
Heraklit als weinendem Philosophen, der weint, weil er die Torheiten
der Menschen beklagt.
Wenn Hamanns Erzähler die Formel vom ›schwimmenden Leser‹
deutet, vollzieht er also selber einen Zusammenfluss verschiedener
Quellen und erzeugt eine Deutung, die ihrerseits alles andere als klar
ist. Mehr noch: Mit dieser Deutung hätte sich Sokrates’ Methode des
Unterscheidens und Verbindens seltsam verkehrt. Wenn nämlich dieser
Zusammenfluss Sätze zu Inseln macht, wie es ja weiter heißt, dann geht
die Synthese dem Unterscheiden voraus, dann erzeugt Zusammenfließen
unversehens Unterschiede. Solche Unterschiede allerdings, die nicht
mehr das Verständliche vom Unverständlichen hierarchisch scheiden,
sondern eine »Menge kleiner Inseln« gleichsam nebeneinander stehen
lassen. Damit geht die Defiguration der Methode einher, denn das, was
sie im sokratischen Modus auszeichnet, erst die Unterscheidung, dann
die »billige« Vermutung eines Zusammenhangs, fehlt: Es fehlen die
billigen Übergange zwischen den Inseln. Hamanns Versuch, die Formel
vom schwimmenden Leser zu verstehen, mobilisiert auf diese Weise eine
Lesebewegung, die den ›schwimmenden Leser‹, diese metaphorische
Fügung, nicht in Verständliches und Unverständliches auflöst, um Unverständliches zu integrieren. Sie macht diese Komposition nicht verständlich, etwa durch die Unterscheidung von eigentlicher und metaphorischer Bedeutung, sondern radikalisiert Unverständlichkeit, indem
sie neuerliche metaphorische Übergänge schafft und damit den Leser
haltlos ins Schwimmen bringt. Sie erzeugt einen »Zusammenfluß«, in
dem Philosoph und Werk ununterscheidbar werden, und potenziert
die semantischen Bezüge, wenn der Text vom schwimmenden Leser
zu geschriebenen Sätzen als einer »Menge kleiner Inseln« und dann zu
»Brücken und Fähren der Methode« weiter gleitet. Die einhergehende
Ungewissheit wäre in diesem Fall ein Nichtwissen, das im ganz bestimmten metaphorischen Wortlaut gründet und deshalb nicht methodisch
159
Andrea Krauß
aufgeklärt, sondern vielleicht ›lesend erschwommen‹ jeweils neu und
einmalig entfaltet werden kann.
Doch damit ist die ›Liquidität‹ dieser Textstelle noch nicht erschöpft.
Hamanns fließende Lektüre, die den sokratischen Topos aufnimmt, um
das starre Schema vom ›sokratischen Nichtwissen‹ in schwimmendes
Lesen zu übertragen, unterspült einen weiteren, die Frage des Lesens
und Verstehens noch direkter betreffenden Topos. Wenn Hamann eine
»sehr billige und bescheidene Vermuthung« erwähnt, so wählt er mit
dem Wort »billig« eine Formel, die in der zeitgenössischen, vom Rationalismus geprägten Philosophie und Auslegungslehre etwa von Christian
Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann Heinrich Lambert und
Georg Friedrich Meier eine markante Rolle spielt. So ist »hermeneutische
Billigkeit« das zentrale Prinzip in Georg Friedrich Meiers methodischem
Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst aus dem Jahre 1757. Wer
»billig« auslegt, geht davon aus, dass Zeichenbenutzer Zeichen als Mittel
verwenden, um einen bestimmten kommunikativen Zweck, eine vernünftige Ordnung und einen vernünftigen Sinn zu realisieren (vgl. Scholz 1992,
286–309). Hermeneutische Billigkeit ist die Grundhaltung eines Lesers,
der wohlwollend geneigt ist, diesen vernünftigen Gebrauch der Zeichen
als Regel vorauszusetzen. Dazu wird er diejenigen Bedeutungen eines
Zeichens für richtig halten, die mit den sogenannten »Vollkommenheiten
des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmen« (Meier 1996, 17).
Vollkommen ist der Urheber der Zeichen, wenn alle Bestandteile seines
Denkens zu einem in sich geordneten Gesamtzweck beitragen. Zu dieser
Vollkommenheit oder »Klugheit des Urhebers« (ebd., 35) zählt unter anderem die Verständlichkeit seines Denkens (vgl. ebd., 38 f.). Wenn Meier
wohlwollend oder »billig« Verständlichkeit erwartet, so geht er davon
aus, dass ein vollkommener Autor klare Zeichen verwendet. Klar sind
Zeichen dann, wenn sie sich von anderen Zeichen eindeutig unterscheiden lassen und damit die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen
gewährleisten. Zeichen hingegen, die solche Unterscheidungen und damit
Verständlichkeit erschweren, heißen dunkle Zeichen. Zu diesen gehören
insbesondere zweideutige Zeichen, deren Bedeutungen sich nicht hierarchisieren lassen, weil sie widersprüchlich interagieren (vgl. ebd., 21–23).
Da Meier Verständlichkeit billig voraussetzt, gerät solche Zweideutigkeit
und insbesondere der metaphorische Gebrauch von Worten ins Zwielicht. Um Verständlichkeit zu gewährleisten, hat der Ausleger vielmehr
billig davon auszugehen, dass ein vollkommener Autor dem allgemeinen
160
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
Sprachgebrauch folgt, dass er diejenige Bedeutung vermitteln will, die
von den meisten gebraucht werden, die also konventionell geregelt sind
(vgl. ebd., 39; 65–68).
Dieses Vollkommenheitsideal der Verständlichkeit führt zu Hamann
und seiner Diskussion methodischen Verstehens zurück. Wenn Hamann
von Verständlichkeit und Unverständlichkeit spricht und wenn er die
»billige« Annahme eines Zusammenhangs zwischen beidem ins Feld
führt, so klingt darin das topische Prinzip hermeneutischer Billigkeit an.
Was Hamanns Textstelle dann aber mit diesem Prinzip anstellt, wie diese
Textstelle Wort für Wort mit diesem Topos verfährt, entfernt sich weit
vom zweckrationalen Kalkül hermeneutischer Billigkeit. Denn Hamanns
Versuch, die dunkle Metapher des schwimmenden Lesers ›aufzuklären‹,
sein Versuch, diese Metapher einer bescheidenen Sinn-Vermutung zu
unterziehen, hat mit der billigen Annahme eines instrumentellen Zeichengebrauchs nichts mehr zu tun, sondern potenziert ja die Metapher
und überführt die Zeichen insgesamt in eine ›flüssige‹ Bewegung des
Bedeutens. Das aber hat Folgen für die scheinbar so zuverlässige Methode des Unterscheidens und das einhergehende Konzept klarer Zeichen.
Wenn Hamann eine Vermutung anstellt, wie die dunkle Wendung vom
schwimmenden Leser zu verstehen sei, und wenn er von dort her die
Unverständlichkeit eher potenziert, so löst er die Frage des Unterscheidens vom Gesetz des Verständlichen ab. Im Feld der metaphorischen
Übertragungen, im Feld des Flüssigen und des Schwimmens begegnet
vielmehr eine »Menge kleiner Inseln«, die an die Stelle methodischer
Unterscheidungen rückt. Diese neue, aufklärungskritische Struktur geht
nicht mehr bipolar vom Verständlichen aus und bestimmt von dort das
Unverständliche, um es aufzuheben. Sie entfaltet vielmehr Unterscheidung
als abgründige Differenz im Ähnlichen, als Unterscheidung inmitten einer
»Menge kleiner Inseln«.
Die zweite Textstelle stammt aus einem Prosatext von Jean Paul, der
den Titel trägt Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in
Auenthal und als Teil eines längeren Romans im Jahre 1793 erstmals
erschienen ist. In unserem Zusammenhang ist der Untertitel des Schulmeisterlein Wutz besonders bemerkenswert, denn er liefert eine ungewöhnliche Gattungsbezeichnung. Diese lautet: »Eine Art Idylle«. Das
Schulmeisterlein Wutz steht damit in einer historisch weit zurückreichenden literarischen Tradition und hebt sich zugleich als »eine Art«
161
Andrea Krauß
oder anders geartete Umarbeitung von dieser Tradition ab. Die Tradition
der Idylle hat ihre Wurzeln in der römischen Antike, ihre wesentlichen
Formelemente wurden überliefert bis hinein in die Literatur des Barock,
eine neuerliche Blütezeit erlebt sie im 18. Jahrhundert, etwa in den vielgelesenen und äußerst populären Idyllendichtungen Salomon Gessners
(1730–1788). Die traditionelle Idylle, so informiert die literaturwissenschaftliche Gattungstheorie, mobilisiert Vorstellungen vom friedlichen
Hirten- oder idealen Landleben, sie zehrt von der Idee des goldenen Zeitalters und dem Mythos Arkadien. Zu ihren wiederkehrenden Bestandteilen gehört u.a. der Topos des schönen »Lustorts« oder locus amoenus, den
ich im Zusammenhang von Curtius’ literarischer Topossammlung bereits
erwähnt habe. Dieser Lust- und Wunschort einer seligen Landschaft
versammelt wenige und wiederkehrende Elemente. Er repräsentiert, so
noch einmal Curtius, »ein[en] schöne[n], beschattete[n] Naturausschnitt.
Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren
Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können
Vogelgesang oder Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch
hinzu« (Curtius 1948, 200). Die Idylle in ihrer konventionellen Form
konzentriert sich demzufolge auf den Raum und entwirft darin einen
statischen Zustand, der von konflikthaften Spannungen zwar angefochten, nicht jedoch ernsthaft gefährdet wird. Liebeständeleien, erotische
Anziehung, mitunter auch Eifersucht gehören zum festen Inventar, werden
aber gerade im 18. Jahrhundert durch moralische und religiöse Gefühle
subtil ausbalanciert (vgl. Böschenstein-Schäfer 1977, 73–94).
Im Schulmeisterlein Wutz schlägt die Stunde der Idylle oder besser
einer Art Idylle, hier schlägt noch einmal die Stunde von Topos und
Textstelle. Denn ausgerechnet der idyllische Topos des schönen »Lustortes« oder locus amoenus taucht in der wutzschen Lebensgeschichte auf,
zusammen mit der zugehörigen Liebe. Der vergnügte Wutz, so informiert
uns der Erzähler seiner Lebensgeschichte, war immer mit der »Kunst«
beschäftigt, »fröhlich zu sein«, und im Zuge dessen »wurde [er] verliebt«
(Jean Paul 2000, 431). Die erste Naturschilderung, die mit diesem Ereignis
korrespondiert, liest sich folgendermaßen:
»– Er ging da sonntags nach der Abendkirche heim nach Auenthal und hatte mit
den Leuten in allen Gassen Mitleiden, daß sie dableiben mußten. Draußen dehnte
sich seine Brust mit dem aufgebaueten Himmel vor ihm aus, und halbtrunken
im Konzertsaal aller Vögel horcht’ er doppelseelig bald auf die gefiederten
162
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
Sopranisten, bald auf seine Phantasien. […] Da er immer kurz vor und nach
Sonnen-Untergang ein gewisses wollüstiges trunknes Sehnen empfunden hatte
[…]: so zauderte er mit seiner Landung in Auenthal so lang’, bis die zerfließende
Sonne durch die letzten Kornfelder vor dem Dorfe mit Goldfäden, die sie gerade
über die Ähren zog, sein blaues Röckchen stickte und bis sein Schatten an den
Berg über den Fluß wie ein Riese wandelte. Dann schwankte er unter dem wie
aus der Vergangenheit herüberklingenden Abendläuten ins Dorf hinein und war
allen Menschen gut, selbst dem Präfektus.« (Ebd., 433 f.)
Mit dieser Textstelle schildert Jean Pauls Erzähler nicht einfach eine
Idylle, vielmehr setzt er die literarische Verfertigung einer Idylle in Szene.
Der Name des idyllischen Ortes ist »Auenthal« und damit selbst schon
ein Klischee. Dieses »Auenthal« ist im Text noch nicht erreicht, sondern
muss erst Schritt für Schritt bzw. Textzeile für Textzeile durch Wutz
erschlossen werden. Die »Abendkirche« hingegen, Ausgangspunkt der
wutzschen Wanderung, steht fest gemauert in der »Stadt Scheerau« (ebd.,
428), wo der junge Wutz die Schule besucht. Von dort bricht er auf, um
ins Auenthaler Dorfleben einzutreten. Die für Idyllen markante Schwelle
zwischen Stadt und Land ist deutlich markiert: »mit den Leuten in allen
Gassen«, mit jenen, die »da«, in der Stadt, »bleiben mußten«, empfindet Wutz »Mitleiden«. Jenseits der beschränkten Stadt ist prompt ein
»Draußen«, in dem sich die wutzsche Brust zusammen mit dem Himmel
dehnt. Unterm freien »Himmel«, der sich in die Höhe und Weite aufbaut,
errichtet sich zugleich die kunstvolle Kulisse der idyllischen Initiation.
Wutz wandelt »halbtrunken« im Gesang der Vögel, bis er das ländliche
Auenthal erreicht. Dort angekommen, liegt die Stadt in der Ferne und
zieht Kirchenläuten »wie aus der Vergangenheit« heran. Von einem Ort
zum anderen ist Wutz gelaufen, unterwegs indes hat sich Spektakuläres
zugetragen. Der trunkene Wutz ist »doppelseelig«, er leiht sein Ohr den
»gefiederten« Vögeln und seiner Fantasie. Auch diese ist gleichsam gefiedert, mit Schreibfedern bestückt, wenn sie sich als Stimmung der fantasierenden Schöpfungskraft entpuppt. Trunkenheit und sinnlicher Rausch
sind dafür die geeigneten, topisch verbürgten Indikatoren. Bedeutsam ist
der bestimmte Moment des fantastischen Geschehens: »[K]urz vor und
nach Sonnenuntergang« ereilt Wutz ein »wollüstiges, trunknes Sehnen«
und genau »[so lang’] zaudert er mit seiner Landung in Auenthal«, wie
dieser Übergang zwischen Tag und Nacht anhält. Tatsächlich muss er so
lange zaudern, weil die Idylle »Auenthal« erst im Vollzug des Sonnenuntergangs als fantastisch begehbares Land entsteht. Denn mit diesem
163
Andrea Krauß
Sonnenuntergang eröffnet sich erst die Geburtsszene der Idylle als Szene
der metaphorischen Transformation: Die Sonne wird zur »zerfließende[n]
Sonne«, sie wird zur Metapher. In dieser Gestalt zieht sie »Goldfäden
[…] über die Ähren« und »stickte« Wutzens »blaues Röckchen« bis
»sein Schatten an den Berg über den Fluß wie ein Riese wandelte«. Die
Landschaftsrequisiten der Idylle – Kornfelder, Berg und Fluss – tauchen
im Dämmerlicht der Metaphorisierung, sie tauchen im Lichtkegel der
»zerfließende[n] Sonne« auf, und Wutz, dessen blaues himmelhaftes
Röckchen im stickenden Schriftzug der Sonne, im Schriftzug der Metapher, entsteht, verdoppelt sich zum Riesen in der kleinen idyllischen Welt.
Der wandelnde Wutz wird dergestalt zum Verwandelten, der zusammen
mit »Auenthal« im Vollzug einer fantastischen Schriftbewegung entsteht.
Diese Textstelle schildert nicht eine Idylle als schon etabliertes Gefüge
paradiesischer Verhältnisse, sondern sie liefert deren Genese im Schriftraum metaphorischer Übertragungen.
In diesem Schriftraum der Idylle kreuzen sich weitere literarische
Fäden. Wenn im Vorfeld der Passage der Erzähler darauf hinweist, dass
er diese idyllische Szene aus der von Wutz hinterlassenen Schrift Werthers
Freuden (ebd., 433) nahezu abgeschrieben habe, so schließt sich hier der
Kreis einer kaum noch überschaubaren literarischen Produktivität: Im
Jahr 1774 hat Goethe Die Leiden des jungen Werthers veröffentlicht, ein
Jahr danach publiziert der scharfzüngige Aufklärer Friedrich Nicolai seine
Parodie Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des
Mannes. Der vergnügte Wutz hat offensichtlich im Gefolge von beiden
Texten seine eigene Version von Werthers Freuden vorgelegt. Im Schmelztigel der »zerfließenden Sonne« laufen all diese Texte ineinander und
entsteht die schattenhafte wutzsche Existenz im Schnittpunkt von himmelblauer Idylle und jenem »blauen […] Frak«, den bekanntlich schon
Goethes Werther als topisches Erkennungszeichen getragen hat (Goethe
1994, 166). Wutz im blauen Röckchen wird zum textilen Requisit einer
intertextuellen Schriftlandschaft. Eine Art Idylle ist das Schulmeisterlein
Wutz, weil es zusammen mit der Idylle und ihren Protagonisten zugleich
die Art und Weise, das heißt den Vorgang ihrer Verfertigung, darstellt.
164
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
IV.
Angesichts von Jean Pauls zerfließender Sonne könnten einem Hamanns
schwimmende Leser einfallen. Umsetzung, Umordnung, Verflüssigung
oder radikale Mobilisierung wären demnach Verfahren, die den hier
diskutierten Textstellen eigentümlich sind. Sie arbeiten mit topischen
Strukturen: mit der Formel vom sokratischen Nichtwissen, dem Topos
der hermeneutischen Billigkeit, dem »Lustort« der Idylle. Zugleich perspektivieren sie solche Topoi auf spezifische Weise: Das sokratische Nichtwissen wird zum Problem des Lesens, hermeneutische Billigkeit zum
Grenzfall des Verstehens, die Idylle ein Produkt ästhetischer Verfahren.
Man könnte demnach sagen: Diese Textstellen verwenden topische Strukturen, sie erzeugen sich aus solchen Strukturen, aber sie transformieren
und beobachten diese Strukturen zugleich. Im Verhältnis von Topos und
Textstelle vollzieht sich eine fortwährende Umgestaltung, in der sich kulturelle Überlieferungsprozesse und ihre spezifischen Darstellungsmuster
anhaltend reflektieren. Am Ort der Textstelle werden Topoi ›flüssig‹,
indem sie nicht beständig erhalten, sondern je spezifisch gerahmt und
in ihrer Genese und Inkonsistenz exponiert werden. Diese literarische
Verfertigung von Kultur produziert Kultur, indem sie kulturelle Topoi
an deren Entstehungs- und Umbildungsprozesse, das heißt anders denkbare Lesarten und Gestaltungen, zurückbindet. Vom Literarischen her
und gegen Curtius gesprochen gibt es also topische Strukturen nicht als
solche, nicht als in sich beständige und stabile kulturelle Versatzstücke.
Literarisch gesehen wären Topoi vielmehr symbolische Formen, die Anlass geben, kulturelle Überlieferungs- und Kanonisierungsprozesse zu
reflektieren, indem sie diese Prozesse als grundsätzlich offene, jederzeit
reformulierbare Prozesse in Szene setzen.
Vom Literarischen her bieten sich dann aber Anhalte, auch literaturwissenschaftliche Kategorisierungen zur Diskussion zu stellen. Wenn
nämlich Textstellen topische Strukturen zitieren, indem sie diese immer
schon umgestaltet und anders erzeugt haben, so rufen sie damit eine Dynamik und Flexibilität in Erinnerung, die den Topos auch auf der Ebene
seiner eigenen Begriffsgeschichte kennzeichnet. Zwischen der formalen
Topik des Aristoteles, die zunächst abstrakte Argumentationsstrukturen
liefert, und der materialen Topik von Curtius, die inhaltlich konkretisierte
Schemata und Klischees bereithält, haben sich historisch die unterschiedlichsten Topoikataloge und Toposkonzepte herausgebildet und erhalten
165
Andrea Krauß
(vgl. Wagner 2009; Ostheeren 2009). Nicht die Frage, welcher Toposbegriff der richtige ist und welcher der falsche, hilft angesichts der vielfältigen Ausprägung kultureller Topiken weiter. Bemerkenswert ist vielmehr
die Beobachtung, dass sich der Toposbegriff über Jahrhunderte hinweg auf
unterschiedlichste Weisen konkretisiert und umgestaltet hat. Die Kritik an
Curtius, wonach dieser einen falschen, material gesättigten Toposbegriff
zugrunde lege, der mit dem richtigen, formalen von Aristoteles nichts
mehr zu tun habe, übersieht, dass schon zu Zeiten von Aristoteles dieser
materiale Toposbegriff geläufig und sehr wohl in Gebrauch war. Die von
Aristoteles vielfach kritisierten Sophisten propagierten einen materialen
Toposgebrauch und integrierten klischeehafte Gemeinplätze und inhaltliche Versatzstücke in ihre Argumentationslehre, und sogar Aristoteles
selbst erwähnt in bestimmten Passagen seiner Rhetorik sogenannte spezielle Topoi, die mit bestimmten Wissensgebieten und bestimmten Themen,
das heißt mit materialen Bereichen, enggeführt werden. Klassifikatorische
Ambivalenzen, Inkohärenzen und Mischformen zwischen formalen und
materialen Topoi prägen die Argumentationslehren schon zu Zeiten von
Aristoteles. Im Toposbegriff, dies vielleicht ließe sich allgemein sagen,
zeichnet sich eine Tendenz zur flexiblen Überlagerung verschiedener
Prinzipien ab. Der Topos funktioniert als Fundort, an dem strukturelle
Gesichtspunkte zur Organisation von Wissen, aber auch das Wissen
selbst gesammelt werden kann. Er funktioniert wie ein formales Gefäß,
das zugleich seinen Inhalt parat halten kann, er funktioniert mit anderen
Worten wie eine Metonymie, eine rhetorische Trope, und nähert sich damit einer Lieblingsform des Literarischen. Textstellen können an solche
Ambivalenzen anschließen, indem sie die Flexibilität des Topos auf ihre
Weise in Szene setzen und radikalisieren.
Vielleicht könnte man sagen, literarische Textstellen und ihre dynamische Arbeit an topischen Strukturen erinnern daran, dass Topoi,
jene vermeintlich stabilen kulturellen Denkmuster, ihrerseits eine höchst
instabile Begriffsgeschichte des Topos überliefern. Sie erinnern daran,
dass gerade die Unbestimmtheit des Topos eine Stärke des analytischen
Instruments sein könnte; dass nicht der richtige vom falschen Toposbegriff
unterschieden (Hamann), sondern die kulturelle Arbeit an Begriffsbildungen und -umbildungen in Szene zu setzen wäre. Topik und Topos wären
dann Konzepte ganz nach dem Geschmack der Kulturwissenschaften:
Sie bieten interdisziplinäre Anschlüsse in verschiedene Richtungen, sie
spielen bspw. eine Rolle in den Rechtswissenschaften, der Philosophie, den
166
To pos und Te xt s t e l l e . Zur l i t e r a r i s c he n Ve r f e r t i g ung v on Kul t ur
Sozialwissenschaften, der Literatur- und Sprachwissenschaft. Sie finden
Eingang in Theorien des kulturellen Gedächtnisses oder in die Diskussion
kultureller Diskurs- und Wissensfelder, und sie tun dies, weil sie als Konzepte flexibel sind und die Möglichkeit kultureller Umbildungsprozesse
an sich selbst in Szene setzten. Topik und Topoi eignen sich dergestalt
als Reflexionsfiguren kultureller Überlieferung und zugleich als Figuren,
deren flexible Gestalt auf Bedingungen der wissenschaftlichen Begriffsbildung und Begriffsüberlieferung selbst hindeuten. Aus der Sicht des
Literarischen wäre mit anderen Worten der Topos als komplexe Textstelle
zu lesen, die er in seiner instabilen begrifflichen Konfiguration immer
schon gewesen sein könnte.
Literatur
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Curtius, Ernst Robert: Zum Begriff einer historischen Topik, in: Toposforschung. Eine
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168
Angelika Linke
Unauffällig, aber unausweichlich
Alltagssprache als Ort von Kultur 1
1. Unauffälligkeit als mediale Qualität
Unauffälligkeit scheint in Zeiten, in denen Hochwertbegriffe aus dem
Marketingbereich wie Alleinstellungsmerkmal, Werbewirksamkeit oder
mediale Sichtbarkeit auch unsere alltäglichen Wertmaßstäbe prägen,
nicht mehr viel zu gelten. In medientheoretischer Hinsicht allerdings ist
Unauffälligkeit eine wesentliche Eigenschaft. Denn gerade die spektakulären Erlebnisse, die Medien vermitteln können, leben davon, dass das
Medium selbst als Medium nicht auffällig ist. Wenn das Licht ausgeht im
Kino, man im Sessel versinkt, den Saal und die Menschen um sich herum
vergisst und die Projektion auf der Leinwand zur Erlebenswelt wird, dann
hat das Medium Film seine Eigentlichkeit und seinen maximalen Effekt
erreicht. Ähnliches gilt, auf einer noch deutlicher technischen Ebene,
etwa für Telefonverbindungen: Wir loben sie, wenn sie uns die Technik
vergessen lassen und uns das Gefühl ermöglichen, der Gesprächspartner
»stehe nebendran«. Rauschen und Knacken und kurzzeitiger Signalausfall
dagegen rücken das Medium ins Bewusstsein und den Gesprächspartner
in die Ferne.
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Angelika Linke
2. Sprache als Medium
Dass es in unserem Alltagsbewusstsein in erster Linie die technischen
Medien sind, die unseren Medienbegriff prägen, dürfte unter anderem
damit zu tun haben, dass sie uns äußerlich sind und uns deshalb leichter
ins Bewusstsein treten. Für das zentrale Medium unseres Geistes, die
Sprache, gilt dies nun gerade nicht. Sprache ist nicht ein dem Menschen
äußerliches, ist kein von ihm unabhängiges Drittes, wie es die Semantik
der Bezeichnung »Medium« eigentlich erwarten ließe und wie es unsere
latent instrumentelle Vorstellung von technischen Medien wie »Telefon«
oder »Computer« zunächst nahelegt.2 Im Gegenteil: Das Medium Sprache
ist an den Menschen gebunden und nicht von ihm ablösbar. Sprache ist
menschliche Hervorbringung und Medium menschlichen Welt-, Selbstund Sozialerlebens in einem, sie ist zugleich Ausdrucksmittel und Lebensform (Wittgenstein). Wilhelm von Humboldt fasst diese Doppelnatur in
der folgenden, anschaulichen Metapher: »Durch denselben Act, vermöge
dessen er [der Mensch] die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich
in dieselbe ein« (1907, Bd. 7, 60).
Sprache ist dieser Grundbestimmung zufolge auch ein Medium, das
sich erst und nur in seinem Gebrauch, im Sprechen und Hören, im Schreiben und Lesen als Medium bildet, verfestigt und auch wieder verändert,
wobei diese Prozesse nicht intentional vom einzelnen Sprecher gesteuert
sind, sondern komplexe soziale Phänomene darstellen. Denn auch wenn
Sprache (in ihrer gesprochenen wie geschriebenen wie auch gebärdensprachlichen Ausprägung) immer nur als an das Individuum gebunden
fassbar wird, ist sie – um Ferdinand de Saussures Formulierung zu nutzen – zugleich ein »fait social«. Sie ist »kein freies Erzeugnis des einzelnen
Menschen« (so Wilhelm von Humboldt 1820/1994, 26, § 19), sondern
historisch geprägte, in stetiger Aktualgenese befindliche Hervorbringung
einer Sprachgemeinschaft.
Immer dann, wenn wir reden und verstehen, ohne uns gleichzeitig
bewusst zu sein, dass wir gerade dabei sind, ein in sich bereits komplexes
Zeichensystem produktiv wie rezeptiv in komplexer Weise zu nutzen –
und das ist der kommunikative Normalfall –, funktioniert das Medium
Sprache als Medium optimal. Nur in Ausnahme- und Störfällen wird uns
der mediale Charakter von Sprache bewusst. So etwa, wenn man sich in
einer Fremdsprache unterhält, die man nicht besonders gut beherrscht.
Das ist anstrengend und man wird mit der Zeit müde.3
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Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
Die grundlegende Medialität von Sprache als semiotisches System wird
zudem in unserer Wahrnehmung meist von der Medialität ihrer »technischen« Materialisierung – Laut, Schrift und Gebärde – überdeckt. Wenn
überhaupt, sind es meist diese ihrerseits wieder medialen Materialisierungen von Sprache (an welche Sprache zudem existenziell gebunden ist),
die uns ins Bewusstsein treten.4 Ein Beispiel aus dem Bereich der Schrift
wäre hier etwa die Frakturschrift, die heutigen Lesern und Leserinnen oft
nicht mehr vertraut ist und das Lesen entsprechend mühsam und damit
bemerkbar macht: die Selbstverständlichkeit des Lesens wird gestört, und
das Medium der Schrift drängt sich in den Wahrnehmungsvordergrund.
Sofern in solchen Fällen derselbe Text in modernerer Typografie zugänglich ist, ziehen viele Leserinnen und Leser diese Variante vor. Allerdings
zeigt gerade dieses Beispiel, dass Medien – auch – Gewohnheitssache sind:
Wer viel Fraktur liest, der merkt es schließlich gar nicht mehr, und das
medial Vermittelte tritt einem erneut scheinbar unvermittelt entgegen.
So wenig es also wünschbar ist, dass uns der mediale Charakter von
Sprache in unserer alltäglichen Kommunikation permanent ins Bewusstsein tritt, so wichtig ist es, dass wir uns diesen medialen Charakter von
Sprache bewusst machen, wenn es darum geht, zu verstehen, was Sprache
mit Kultur zu tun hat.
3. Sprache und Kultur
Die Behauptung der Interdependenz von Sprache und Kultur ist kein
neuer Gedanke. Er hat das Nachdenken über den Menschen als sowohl
kulturschaffendes wie auch durch die von ihm selbst geschaffene Kultur
wiederum geformtes Wesen in vielfacher und unterschiedlicher Form
geprägt. Unter sprachwissenschaftsgeschichtlicher Perspektive lässt sich
die Vorstellung der Interdependenz von Sprache und Kultur vor allem in
der idealistischen Sprachauffassung verankern, in deren »heißer Phase«
im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert er wesentliche Impulse erhält.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist er zudem in den als linguistic turn und »cultural turn« apostrophierten kulturwissenschaftlichen
Paradigmendiskussionen in neuer und intensivierter Weise aufgegriffen
worden.5 Metaphorisch zugespitzt finden wir die Verbindung von Sprache
und Kultur in Formulierungen wie derjenigen von der »Lesbarkeit der
Welt« des Philosophien Hans Blumenberg (1983) oder von »Kultur als
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Angelika Linke
Text«6 der Literaturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick (1996).
Auch die semiotisch-semantische Bestimmung des Ethnologen Clifford Geertz (1991, 9) von Kultur als dem »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe«, in das der Mensch verstrickt ist (eine Bestimmung, die
vermutlich nicht ganz zufällig an die oben bereits zitierte humboldtsche
Formulierung erinnert, auch wenn Geertz Humboldt nicht explizit als
Quelle für seine eigene Formulierung benennt), wurde nicht nur in der
Ethnologie selbst, sondern auch in ihren kulturwissenschaftlich orientierten Nachbardisziplinen rasch aufgegriffen und zu einem wichtigen
Katalysator in der kulturwissenschaftlichen Diskussion.
Die kulturprägende Potenz von Sprache als dem Medium unseres Geistes
wie unseres Seins und Handelns in der Welt lässt sich nun aus sprach- bzw.
kommunikationstheoretischer Sicht in zwei – wenn auch interdependente – Domänen aufgliedern: die Domänen von Sozialität einerseits und
Erkenntnis andererseits. Als Medium menschlicher Sozialität vermittelt
Sprache in sehr spezifischer, komplexer Weise das Ich mit dem Du, wobei
diese Vermittlung durch Sprache allerdings nur um den Preis ermöglicht
wird, dass die Sprache zugleich zwischen das Ich und das Du tritt. Der
schillersche Seufzer – »Spricht die Seele so spricht ach! die Seele nicht
mehr.«7 – verdankt sich eben dieser Unausweichlichkeit.
Als Medium menschlicher Erkenntnis tritt die Sprache in analoger
Weise zwischen das Ich und die Welt.8 Allerdings ist gerade diese Vorstellung, das heißt die Vorstellung einer immer schon sprachlich und damit
medial vermittelten Welt, auf der Basis unseres Alltagserlebens nicht
von vornherein plausibel. Zumindest die Welt konkreter Gegenstände
erscheint in ihrer Materialität als unabhängig von Sprache gegeben und
als unseren Sinnen direkt zugänglich. Es ist nicht zuletzt diese Diskrepanz
zwischen unserer Alltagswahrnehmung der Welt als einer vorsprachlich gegebener und der sprachtheoretischen Relativierung genau dieser
Wahrnehmung, die dazu geführt hat, dass in der sprachphilosophischen
wie auch in der neueren kulturwissenschaftlichen Diskussion die Frage
nach dem Verhältnis von Sprache und Kognition im Vordergrund steht,
während das Verhältnis von Sprache und Kommunikation (bzw. Sprache
und Sozialität) als unproblematischer erscheint. Ich gehe im Folgenden
auf beide Verhältnissetzungen näher ein, jeweils aus kulturbezogener
Perspektive.
172
Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
3.1 Sprache – Kognition – Kultur
Auch dort, wo in der Geschichte der Sprachwissenschaft die Frage nach
dem Verhältnis von Sprache und Kultur gestellt wurde, war im Normalfall
die Rolle von Sprache als Medium der Erkenntnis der Welt angesprochen,
oder, um eine in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion gebräuchliche Ausdrucksweise zu verwenden, die Rolle von Sprache als
Medium menschlicher Kognition.9 So in der Diskussion um die »sprachliche Relativität« unserer Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten, wie
sie vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Wilhelm von Humboldt
(1767–1835) prägnant entworfen wurde. Im frühen 20. Jahrhundert wurde diese Diskussion dann in der sogenannten »Sapir-Whorf-Hypothese«
vom amerikanischen Linguisten Edward Sapir (1884–1939) und seinem
Schüler Benjamin Lee Whorf (1897–1941) in der Beschäftigung mit den
Sprachen amerikanischer Ureinwohner – und hier vor allem der HopiSprache10 – aufgegriffen und in die sprachtheoretische Diskussion zurückgeführt. Es ist bezeichnend, dass die Frage nach der sprachlichen Relativität bei Humboldt wie bei Sapir und Whorf im Kontext der vergleichenden
Sprachwissenschaft auftaucht, das heißt als Effekt der Kontrasterfahrung,
die sich aus dem Studium gerade nicht verwandter Sprachen ergibt. Die
berühmte Formulierung Humboldts in seiner Akademierede Ueber das
vergleichende Sprachstudium fasst den Grundgedanken der sprachlichen
Relativität nach wie vor in besonders prägnanter Weise. Sie sei deshalb
hier ausführlicher zitiert:
»Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes voneinander, leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon
erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu
entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, son dern
eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte
Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten.« (Humboldt 1994 [1820], 28, § 27)
Sein konstruktivistisches Verständnis von Sprache fasst Humboldt hier
im Begriff der Weltansicht zusammen, die jeder einzelnen Sprache in
»eigentümlicher« Weise eigne (vgl. Humboldt 1973 [1836], 53). Daraus folgt für ihn nun allerdings nicht etwa Unverständnis zwischen
den Angehörigen verschiedener Sprachgemeinschaften und auch nicht
Unübersetzbarkeit11 von einer Sprache in die andere, wohl aber, dass
unterschiedliche Sprachen zu unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen
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Angelika Linke
und Erkenntnissen »einladen und begeistern« (Humboldt 1994 [1820],
21, § 13) und dass folglich »die Erlernung einer fremden Sprache […]
die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht«
(Humboldt 1973 [1836], 53 f.) ermöglicht.
Unsere Wahrnehmung der Welt und in jedem Fall unser verstehender
Umgang mit ihr erscheinen im Verständnis Humboldts also immer schon
sprachlich geprägt, sie schließt immer schon ein Gestalten der Welt im
Medium der Sprache ein. Unter Rückgriff auf eine Formulierung Ernst
Cassirers – der in seinen kultursemiotischen Untersuchungen zur »Philosophie der symbolischen Formen« (1923) vielfach auf Überlegungen
Humboldts zurückgreift – lässt sich diese Betrachtungsweise sogar noch
konstruktivistisch radikalisieren: Sprache ist mit Cassirer nicht mehr nur
zu verstehen als Medium einer (modifizierenden) Gestaltung der Welt,
sondern einer (schöpferischen) Gestaltung zur Welt. Diese grammatisch
schräge Formulierung Ernst Cassirers – Cassirer spricht tatsächlich von
der »Gestaltung zur Welt« (Cassirer 1994, 11) – macht im Übrigen gerade
im Medium ihrer grammatischen Schräglage selbstreflexiv auf die Sprache
und deren erkenntnisformende Kraft aufmerksam.
In kognitivistisch orientierten Bestimmungen von Kultur, wie sie
etwa der amerikanische Anthropologe Ward Goodenough vorgelegt hat,
schwingt entsprechend auch dort ein enger Bezug von Sprache und Kultur
mit, wo dieses in den Formulierungen selbst nicht explizit benannt ist.
Wenn Goodenough schreibt:
»A society’s culture […] is not a material phenomenon; it does not consist of
things, peoples, behavior, or emotions. It is rather an organization of these
things. It is the form of things that people have in mind, their models for perceiving, reacting and otherwise interpreting them«, (Goodenough 1964 [1957],
36, Hervorhebung AL; hier zitiert nach Foley 1997, 19)
so ist es aus linguistischer Perspektive recht naheliegend, in der »organization of things« und in den »models of perceiving« – das heißt in den
kognitiven Strukturen, die unsere Wahrnehmung der »Dinge« dieser Welt
prägen und die auch steuern, wie wir auf diese »Dinge« reagieren und sie
interpretieren – die Strukturen von Sprache zu sehen.12
Folgen wir den vorgebrachten Überlegungen, so wären zwar sicherlich nicht alle der unter einen weiten Kulturbegriff zu fassenden Lebensphänomene in gleicher unmittelbarer Weise als sprachlich bestimmt zu
verstehen. Was allerdings aus den Überlegungen folgt, ist die Notwendig174
Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
keit, in jeglicher Form von Kulturanalyse die Medialität und erkenntnisprägende Kraft von Sprache kritisch zu berücksichtigen. Handkehrum
bedeutet das zudem, dass Sprachanalyse – und vor allem die Analyse von
in einer Kommunikationsgemeinschaft typischen Weisen und Mustern des
Sprachgebrauchs – immer auch eine mögliche Form von Kulturanalyse ist.
3.2 Sprache – Kommunikation – Kultur
Dem hier notwendig sehr knapp skizzierten Verhältnis von Sprache und
Kognition und der damit angesprochenen Funktion von Sprache als
Medium unserer Erkenntnis ist in der Geschichte des Nachdenkens über
Sprache insgesamt mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht worden als
der Funktion von Sprache als Medium menschlicher Kommunikation und
Sozialität, als Medium der Gestaltung des Verhältnisses von Ich und Du
und des kommunikativen Miteinanders im weitesten Sinne.
Zu den Theoretikern, die auf die letztgenannte Funktion von Sprache
explizit hingewiesen haben, gehört u.a. der Sprachpsychologe und Sprachtheoretiker Karl Bühler (1879–1963), auf dessen Schriften und Entwürfe
gerade in der neueren sprachtheoretischen Diskussion wieder vermehrt
zurückgegriffen wird.13 Bühler hat in seiner Bestimmung des sprachlichen
Zeichens die drei Funktionen von Darstellung, Ausdruck und Appell
als die mit jedem sprachlichen Zeichen bzw. mit jeder sprachlichen Äußerung gegebenen Funktionen benannt. Die Funktion der Darstellung
(der Darstellung von »Welt«, von Objekten und Ereignissen im weitesten Sinne) lässt sich schwerpunktmäßig den bisherigen Ausführungen
zum Verhältnis von Sprache/Sprachzeichen und Kognition zuordnen.
Die Funktionen von Ausdruck und Appell – also Ausdruck des Ichs bzw.
seiner Befindlichkeit einerseits und Hinwendung zum Du bzw. Anrufung
des anderen andererseits – akzentuieren dagegen die Bedeutsamkeit von
Sprache in der Konstitution, Prägung und Aufrechterhaltung sozialer
Beziehungen und damit der Soziokulturalität der betreffenden Sprachund Kommunikationsgemeinschaften.
Nun ist diese letztgenannte Funktion von Sprache durchaus nicht an
die Verwendung von Sprache in Situationen raumzeitlicher Kopräsenz der
Interaktionspartner und also auch nicht an Sprache in ihrer gesprochenen
Form, an Sprache im Gespräch gebunden.14 Dennoch hat die Funktion
von Sprache als Medium der Kommunikation und damit auch der Handlungsaspekt von Sprache in den letzten 25 Jahren vor allem im Kontext
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Angelika Linke
der Beschäftigung mit gesprochener Sprache und der linguistischen Gesprächsforschung neue, zunächst vor allem empirische Aufmerksamkeit
erfahren. Dagegen steckt die sprachtheoretische und sprachphilosophische
Verarbeitung der vielfältigen empirischen Erkenntnisse auf diesen Gebieten noch weitgehend in den Anfängen.15 Es ist also weniger die Sprache,
im Sinne eines als statisches Gefüge verstandenen Sprachsystems, als
vielmehr das Sprechen, das heißt Sprache als eine dynamische Größe, die
unter dieser Perspektive zum prototypischen Gegenstand linguistischer
Analyse wird. Der englische Terminus »talk in interaction«, der den
Untersuchungsgegenstand linguistischer Gesprächsforschung benennt,
lässt besonders deutlich hervortreten, wie das Erkenntnisobjekt »Sprache« in diesem Forschungszusammenhang konturiert wird. Es geht um
Sprache als Medium des dynamischen Miteinanders von Menschen im
interaktiven Austausch. Damit tritt dann auch die enge Verschränkung
von Sprache mit körperkommunikativen Zeichensystemen, mit situativen und sozialen Kontexten vielfältiger Art in den Vordergrund, und
es wird deutlich, dass Sprache als »talk in interaction« immer schon ein
gemeinsames Erzeugnis von Sprecher und Hörer, dass Sprechen immer ein
Miteinander-Sprechen ist. So etwa, wenn sich in umfangreichen Studien
an Gesprächstranskripten zeigt, dass die Übernahme von Satzkonstruktionen, die Ergänzung einer vom Gesprächspartner begonnenen Äußerung
oder auch paralleles Sprechen, also das sprichwörtliche »dem anderen
das Wort aus dem Mund nehmen«, nicht Sonderfälle sind, sondern zur
Systematik unseres Gesprächsverhaltens gehören. So wird deutlich, dass
die Ausbildung von Bedeutungen, von gedanklichen Konzepten, die wir
mit anderen teilen, ihren Ort im konkreten sprachlichen Austausch hat,
dass sie im Abgleich von Reden und Verstehen, im Abgleich unseres
Zeichengebrauchs mit demjenigen anderer geschieht.
Die Beschäftigung mit Sprache als Medium der Face-to-face-Kommunikation macht zudem den dynamischen und grundlegend performativen Charakter verbaler Kommunikation augenfällig: Sobald wir
miteinander sprechen, handeln wir auch, affizieren unser Gegenüber,
uns selbst und die Welt. Das bedeutet im Übrigen nicht, dass – soll die
sozialkommunikative Funktion von Sprache zu ihrer vollen Entfaltung
kommen – die Zuwendung zum Gegenüber notwendigerweise im Fokus
des jeweiligen kommunikativen Austausches stehen muss. Im Gegenteil,
die sprachliche Konstruktion sozialer Ordnungen zieht gerade aus ihrer
Beiläufigkeit und Unauffälligkeit ihr performatives Potenzial. Es sind die
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Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
kleinen sprachlichen Gesten, es ist das sprachliche »Wie« oft mehr als
das sprachliche »Was«, das für die kommunikative Konstruktion von
sozialen Beziehungen konstitutiv ist.
3.3 Sprache als kulturell multifunktionales Medium
In den beiden bis hierher skizzierten Perspektiven auf das Verhältnis
von Sprache und Kultur, die unterschiedlich lange sowie unterschiedlich hegemoniale Traditionen in der Geschichte der Sprachwissenschaft
haben, zeigt sich Sprache als Ort von Kultur in zwei verschiedenen Ausprägungen: einerseits kraft der weltsichtprägenden Funktion grammatischer, semantischer und pragmatischer Strukturen, andererseits kraft der
beziehungsprägenden Funktion von Sprache als Medium des kommunikativen Austauschs der Menschen untereinander. Die Trennung dieser
zwei Perspektiven ist im Übrigen eine analytische und dem Medium
Sprache letztlich nicht adäquat – es ist viel eher ein Zusammendenken
von Sprache, Kommunikation und Kognition nötig, um der komplexen
kulturellen Leistung von Sprache gerecht zu werden.
Dies soll im Folgenden anhand von zwei knappen Analysebeispielen
illustriert werden. Gegenstand dieser Analysen ist einerseits die sprachliche Alltagspraktik des Grüßens und andererseits die ebenfalls zur Alltagswelt gehörende Textsorte der Todesanzeige, die im deutschsprachigen
Raum seit gut 150 Jahren zum Textsortenspektrum gehört. In diesen Analysen verschmelzen die beiden bisher getrennt behandelten Perspektiven,
und es zeigt sich, dass in der kulturanalytischen Betrachtung konkreten
Sprachgebrauchs semantische Effekte grammatischer Strukturen mit den
stilistischen Effekten von Wortwahlen verrechnet werden müssen, dass
kommunikative Rituale nicht nur soziale Beziehungen, sondern auch die
sie rahmenden Ordnungskonzepte herstellen, und dass Wahrnehmungsmuster mit Sprachhandlungsmustern verschränkt sind.
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Angelika Linke
4. Sprach(gebrauchs)analyse als Kulturanalyse
4.1 Begrüßungen und die kommunikative Konstruktion
soziokultureller Ordnungen
Mit meinem ersten Beispiel wende ich mich dem alltäglichen Austausch
von Grüßen zu, das heißt Formeln und Floskeln wie Guten Morgen,
Guten Tag, Salü, Grüß Gott, Uf Widerluege etc.
Grüße gehören zu den besonders unauffälligen, für die alltägliche
Herstellung und Aufrechterhaltung soziokultureller Ordnungen jedoch
gleichzeitig besonders wichtigen kommunikativen Praktiken, in die wir
täglich – im Normalfall mehrmals täglich und mit wechselnder »Besetzung« – eingebunden sind und die zudem deutlichen Ritualcharakter
haben. Dieser zeigt sich einerseits in der kommunikativen Paarigkeit von
Grüßen: Gruß und (Gegen-)Gruß sind oft vom Wortmaterial her identisch, zudem muss ein Gruß mit einem (Gegen-)Gruß beantwortet werden.
Tut man es nicht, hat dies gravierende soziale Folgen. Der Ritualcharakter
zeigt sich andererseits aber auch am Wortmaterial selbst, und zwar an der
semantischen Undurchsichtigkeit vieler Grußausdrücke, die durch regen
Gebrauch sozusagen »abgenützt« bzw. lautlich abgeschliffen werden,
ohne dass dies allerdings ihrer Funktion als Gruß Abbruch täte. Man
denke etwa an das norddeutsche Tschüss oder das alemannische Ade,
die wir verwenden, ohne uns dabei klarzumachen, dass beide auf denselben religiösen Segenswunsch zurückgehen, nämlich das französische à
dieu.16 Mit anderen Worten: Für Grüße gilt, wie auch für andere sprachliche Rituale, dass nicht ihre Semantizität, sondern ihre Funktionalität
und ihre Performativität relevant sind. Das heißt, es ist nicht so wichtig,
was eine Grußformel im lexikalischen Sinne »bedeutet«, sondern in welchen Situationen sie wem gegenüber normalerweise verwendet wird. Begrüßungen und Verabschiedungen lassen sich deshalb zum Teil auch rein
körperkommunikativ durchführen, also durch mimische (ein Lächeln)
und gestische Elemente (Winken, Umarmen). In jedem Fall aber bilden
Grußakte eine komplexe interaktive Praxis, über welche die Beziehung der
sich Grüßenden sowie deren Verständnis der kommunikativen Situation
von diesen selbst in sehr differenzierter Weise ausgedrückt bzw. hergestellt werden kann. Relevant in diesem Kontext sind vor allem soziale
Hierarchie, emotionale Nähe oder Distanz, Formalität bzw. Informalität
der Situation, soziale Selbst- und Fremdzuordnung der Beteiligten, deren
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Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
Einschätzung der sozialen Gewichtung der Begegnung etc. Das Spektrum
dieser Praktiken bzw. Rituale ist jeweils historisch-kulturell vorgegeben,
individuelle Variation ist möglich, aber nicht beliebig. Veränderungen in
diesem Spektrum lassen sich entsprechend kulturanalytisch »lesen«, das
heißt, sie können als Ausdruck wie als Katalysator, allenfalls auch als
unbewusster kommunikativer Vorgriff auf soziokulturelle Veränderungen
in der entsprechenden Kommunikationsgemeinschaft gewertet werden.17
Letzteres lässt sich derzeit und damit kulturell in situ an der Karriere
von dt. hallo als Begrüßungsformel beobachten. Ursprünglich vor allem
als Zuruf und Appell wie auch als Ruf des Auf-sich-aufmerksam-Machens
üblich (hallo Sie da!; hallo, ist da jemand?), findet sich hallo seit der Mitte
des 20. Jahrhunderts auch als »(flüchtiger) Gruß zwischen Bekannten
(zumeist mit Namensnennung), insb. in der heutigen Jugendspr., wohl
unter dem Einfluss von eng. hallo«.
So zumindest die Auskunft des Duden (2002) zum Stichwort hallo.
Die gegenwärtige Sprachwirklichkeit hat die im Duden festgehaltene
Gebrauchsbestimmung allerdings bereits überholt. Denn wenn ich heute
von Studierenden beim Vorübergehen in den Gängen der Universität
Zürich mit einem freundlichen hallo gegrüßt werde, so trifft in diesem
Fall zwar noch die Charakterisierung als »flüchtiger« Gruß zu, nicht
jedoch die Einschränkung auf die Begegnung unter Bekannten bzw. auf
einen »jugendsprachlichen« Kontext.18 Zudem findet sich hallo zunehmend häufiger auch als Anredevariante im schriftlichen Verkehr, v.a. in
E-Mails, dabei durchaus in der Kombination mit der Nachnamenanrede,
also etwa Hallo, Frau Linke.
Ich muss zugeben, dass mich dieses allgemeiner werdende hallo –
noch – stört bzw. irritiert. Ich finde es unangemessen und kann mich –
noch – nicht überwinden, auch mit hallo zu antworten, auch nicht, wenn
die so Grüßende eine Kollegin ist.
Linguistisch betrachtet ist diese Reaktion interessant. Denn solche
verunsicherten Reaktionen auf ein sich erkennbar in einem Habitualisierungsprozess befindliches, zum Teil sogar bereits faktisch habitualisiertes sprachliches Verhalten anderer sind meist ein untrügliches Anzeichen, dass man darin nicht einfach eine neue Ausdrucksvariante sieht,
sondern dass man – und meist richtigerweise – darin auch eine soziale
oder kulturelle Veränderungen erkennt, die man (noch) nicht richtig
einschätzen kann oder die einem missfällt. Dies umso mehr, wenn diese
Veränderung von einer Sprechergruppe ausgeht, der man selbst nicht
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Angelika Linke
(mehr) angehört – also etwa von Sprechern und Sprecherinnen einer jüngeren Generation. Es sind im Übrigen genau solche Momente, in denen
für den individuellen Sprecher, die individuelle Sprecherin die Medialität von Sprache in ihrer weltsicht- und beziehungsprägenden Funktion
auffällig wird.
Unter Einbezug pragmalinguistischer und soziolinguistischer Überlegungen lässt sich der mit der Verbreitung der Grußformel hallo einhergehende soziokulturelle Wandel folgendermaßen rekonstruieren bzw.
interpretieren: Wie bereits gesagt, kommt in der Wahl von Grußformeln
meist auch die soziale Hierarchisierung und das emotionale Nähe-DistanzVerhältnis zwischen den sich Grüßenden zum Ausdruck sowie allenfalls
die Einordnung der Interaktionssituation auf einer Skala von formell bis
informell. So korrelieren etwa im Schweizerdeutschen die Begrüßung salü
und hoi sowie der Abschiedsgruß tschau mit der Verwendung des Anredepronomens du, als Namenszusatz ist entsprechend der Vorname üblich.
Grüezi und uf wiederluege korrelieren dagegen mit dem Anredepronomen
Sie und entsprechend dem Nachnamen als Namenszusatz.19 Die Verallgemeinerung des ursprünglich auf den ersteren Bereich beschränkten
Grußwortes hallo lässt sich entsprechend als eine Entdifferenzierung in
der Markierung sozialer Beziehungen beschreiben: Wo ein hallo sowohl
gegenüber Fremden wie Freunden, gegenüber Personen, die ich sieze, wie
gegenüber solchen, die ich duze, am Platze ist, entfällt die ansonsten mit
Grußformeln ebenso unauffällig wie notwendig verbundene Markierung
des je besonderen sozial-emotionalen Verhältnisses. Dieser kulturelle
Wandel ist nun umso interessanter, als er bereits im Kielwasser einer
älteren Veränderung erfolgt und diese funktional doppelt, nämlich der
Verbreitung von tschüss als allgemeinem Abschiedsgruß. Auch tschüss
war ursprünglich für den Verkehr unter sich Duzenden sowie für eher
informelle Interaktionssituationen reserviert, hat sich aber in den letzten
30 Jahren – zunächst im Norden, dann auch im Süden Deutschlands
und schließlich auch in der Deutschschweiz – zu einer mit Blick auf
solche Differenzierungen neutralen Verabschiedungsfloskel entwickelt.
So ist es zum Beispiel bereits seit einigen Jahren üblich, dass sich sogar
Fernsehmoderatoren und -moderatorinnen mit einem »Tschüss und einen
schönen Abend« von ihren Zuschauerinnen und Zuschauern verabschieden (vgl. zu dieser Entwicklung ausführlicher Linke 2000).
Auf diese Weise wird in den kommunikativen Ritualen von Begrüßung
und Verabschiedung eine neue kommunikative Sphäre mittlerer Distanz
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Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
bzw. eines mittleren Formalisierungsgrades geschaffen, ohne dass die
für das Deutsche charakteristische Du-Sie-Differenzierung grundsätzlich
infrage gestellt wird. Da die »neuen« Grußformeln – hallo und tschüss –
jedoch ursprünglich mit der Du-Anrede gekoppelt waren und also der
Sphäre von Informalität und sozialer Nähe entstammen, kann ihre Verallgemeinerung dennoch als Signal einer latenten Informalisierung und
Ent-Distanzierung gelesen werden. Damit rückt die Veränderung in den
Alltagspraktiken des Grüßens in die Nähe einer Veränderung, wie sie im
Höflichkeitsverhalten (zu dem Begrüßungen wie Anredeformen ja ebenfalls gehören) generell zu beobachten ist, nämlich eine zunehmende Präferenz von Praktiken einer Höflichkeit der Nähe gegenüber solchen einer
Höflichkeit der Distanz, wie sie etwa auch von Schröter (2011) als lange
Entwicklung, die bereits im 19. Jahrhundert einsetzt, aufgezeigt wird.20
Dieser weiterreichende Kontext, in welchem die Generalisierung der
Grußfloskeln hallo und tschüss steht, kann an dieser Stelle nicht genauer
ausgeleuchtet werden. Dass und wie aber gerade in den Mikropraktiken
unserer Alltagskommunikation soziokulturelle Strukturen sprachlich
konstituiert und auch verändert werden, sollte durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein.
4.2 Todesanzeigen und die sprachliche Konstruktion kultureller
Konzepte
Das zweite Beispiel von Sprachgebrauchsanalyse als Kulturanalyse entstammt einem ganz anderen linguistischen Bereich – dem der Textsortenanalyse – und betrifft auch einen ganz anderen Bereich der Konstruktion
kultureller Konzepte im Medium von Sprache und Sprachgebrauch, nämlich den der sprachlichen Konstruktion des lebensweltlichen Konzeptes
von Tod und Sterben.21 Dass auch bei diesem Beispiel Grußformeln eine
Rolle spielen, ist Zufall, unterstreicht aber nochmals die soziokulturelle
Signifikanz von Grußhandlungen und Grußformeln.
Die in Abb. 1 wiedergegebene Todesanzeige, die 2011 in der Neuen
Zürcher Zeitung erschienen ist, ist im Spektrum der Textsorte Todesanzeige eher ungewöhnlich.
181
Angelika Linke
Abb. 1
Grundsätzlich sind Todesanzeigen ein Teil unserer Alltagskultur, sie bilden
in unserer Kommunikationsgemeinschaft den alltäglichen und zugleich
öffentlichen Ort der verbalen Thematisierung von Sterben und Tod.
Sie erscheinen in erster Linie in der Tagespresse und werden auch von
vielen Menschen täglich – und oft als Erstes bei der Zeitungslektüre
(vgl. Grümer/ Helmrich 1994, 80, insbesondere Anm. 17) – gelesen.
Dass nun, wie in Abbildung 1, der Verstorbene in einer Todesanzeige
seinen eigenen Tod kundtut, ist zweifellos ungewöhnlich, auch wenn uns
in den letzten Jahren immer wieder solche Anzeigen begegnen. Zudem
mag der Wechsel der Sprecherinstanz innerhalb derselben Anzeige (erst
spricht der Verstorbene, dann sprechen die Hinterbliebenen) besonders
irritieren.
Generell ist es jedoch nicht mehr ungewöhnlich, dass – wie in diesem
Fall im letzten Absatz der Anzeige – in Todesanzeigen die Hinterbliebenen
sich unter Verwendung der Du-Anrede an den Verstorbenen wenden und
ihn ihrer Liebe, ihrer Trauer und ihrer Verlustgefühle versichern. Diese
Form der dialogischen Zuwendung zum Verstorbenen, die in manchen
Fällen die Form eines offenen Briefes annimmt, ersetzt dann die traditionelle Form der Rede über den Verstorbenen. Todesanzeigen, die sich
ganz oder teilweise in Du-Form an den Verstorbenen wenden, finden
sich in deutschen und Deutschschweizer Tageszeitungen seit den 1970erJahren – vorher nicht –, und sie machen gegenwärtig, wenn auch regional
(und mit Blick auf das Lesepublikum auch sozial) stark variierend, etwa
20 Prozent aller Anzeigen aus. Das heißt, wir haben es mit einem nicht
sehr massiven, aber dennoch empirisch deutlichen Wandel im Muster
182
Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
der Textsorte zu tun. Genauer: mit einer teilweisen Ersetzung des alten
Musters durch ein neues.
Abb. 2
Abb. 3
183
Angelika Linke
Abb. 4
Abb. 5
184
Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
In der »neuen« Form der Todesanzeige – die Anzeigen (2) bis (5) sind
weitere Beipiele dafür – wird der Tod zunehmend weniger als ein Geschehen dargestellt, das unser Alltagsleben transzendiert und dort sozusagen »einbricht«, sondern er wird sprachlich zu einem Moment des
Abschieds stilisiert.
Besonders plakativ kommt dies in Beispiel (5) zum Ausdruck. Dabei
handelt es sich um eine Todesanzeige, welche Freunde des deutschen
Schauspielers und Regisseurs Ulrich Schamoni bei dessen Tod in der
Süddeutschen Zeitung veröffentlich haben und in der das »tschüß« –
und damit der Abschiedsgruß der hinterbliebenen Freunde – die zentrale
Aussage bildet. Das »tschau« des Verstorbenen im Beispiel (1) bildet
dazu den kommunikativen Gegenpart. Dass mit tschau und tschüss zudem latent informelle Abschiedsformeln verwendet werden, trägt dazu
bei, die Einzigartigkeit und Schwere der endgültigen Trennung verbal
auszublenden und sie in die Nähe alltäglicher Abschiedssituationen zu
rücken. Die Formulierungen in den Beispielen (3) und (4) suggerieren
zudem, dass auch die Sterbenden selbst weniger einen Tod als vielmehr
einen Abschied erlebt haben.
Nun ist die Metapher des Abschieds schon lange und auch außerhalb
der Textsorte »Todesanzeige« mit dem Tod verbunden. Die zitierten
Beispiele lassen allerdings eine Tendenz erkennen, den Tod durch die
sprachliche Gestaltung der Todesanzeigen weitgehend einem alltäglichen Abschied anzugleichen. In den Beispielen (1) bis (5) erfolgt diese
Neukonturierung in sehr deutlicher, noch ungewohnter Form. Dieselbe
Entwicklung zeigt sich aber auch im Kontext der »klassischen« Todesanzeige im Rahmen eines sehr unauffälligen Formulierungswechsels,
der vermutlich nicht einmal den Produzenten selbst bewusst geworden
ist. Auch den meisten Leserinnen und Lesern dürfte diese Entwicklung
entgangen sein, obwohl sie quantitativ durchschlagend ist. In gut 60
Prozent aller Todesanzeigen22 lautet das zentrale Formulierungsmuster
heute nicht mehr: Unser[e] liebe[r] Mutter/Ehemann/Bruder/Schwägerin
ist gestorben / hat uns verlassen / ist von uns gegangen sondern: Traurig nehmen wir Abschied von … / In grossem Schmerz haben wir uns
verabschiedet von … Diese unauffällige Veränderung in der zentralen
Formulierung, die sich erst seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts
regelmäßiger beobachten lässt und seit dann kontinuierlich häufiger wird,
ist in doppelter Hinsicht kommunikativ bemerkenswert:
185
Angelika Linke
Erstens sprechen die Angehörigen nicht mehr über den Verstorbenen,
sondern über sich selbst. Entsprechend sind sie auch in die grammatische
Subjektposition der Aussage gerückt (»wir nehmen Abschied von …«).
Hier ist es also unter anderem die Syntax, die direkt mit der kulturellen
Neukonzeptionalisierung des Todes korreliert.
Zweitens sind mit der Veränderung der Kernformulierung der Todesanzeige die Geste wie auch die Semantik des Abschieds zur zentralen
Geste im öffentlichen Umgang mit dem Tod geworden und das zentral
thematisierte Faktum ist nicht mehr der Tod des Betrauerten, sondern
die Trauer der Hinterbliebenen. Dass die Redaktion der Neuen Zürcher
Zeitung die Benennung der entsprechenden Anzeigenrubrik im Herbst
2009 von »Todesanzeigen« zu »Trauer« geändert hat, ergänzt dieses Bild
einer semantischen Verschiebung.
Der thematisierte Abschied wird in den meisten Todesanzeigen noch
vorwiegend als ein einseitiger Abschied der Hinterbliebenen vom Verstorbenen konzipiert. Todesanzeigen wie diejenige in Abb. 1, in denen
ein zum Zeitpunkt des Erscheinens der Anzeige bereits Verstorbener sich
seinerseits von Familie, Freunden und Bekannten verabschiedet, sind noch
sehr selten. Aber sie kommen vor.
Im Spiegel (und im Medium) der Todesanzeigen erscheint der gesellschaftliche Umgang mit Tod und Sterben ganz offensichtlich in Bewegung
geraten zu sein. Neue Formulierungsmuster verweisen auf eine Veränderung
bestehender kultureller Konzepte bzw. auf die sprachlich-kommunikative
Suche nach solchen. In welche Richtung der sich abzeichnende Wandel
in der kulturellen Konturierung von Tod und Sterben geht, ist aus den
konstatierten Veränderungen der Textmuster allerdings nicht einfach abzulesen, sondern erfordert zusätzliche Interpretationsschritte unter Einbezug
weiterer sprachlicher wie außersprachlicher Kontexte.
So könnte man mit Blick auf die lebensweltlichen Veränderungen seit
den 1970er-Jahren die Neuerungen in den Formulierungsmustern von
Todesanzeigen im Zusammenhang mit der zunehmend offener und auch
offensiver geführten gesellschaftlichen Diskussion über Freitod und Sterbehilfe sehen. ln dieser Diskussion wird die Verfügungsmacht des Menschen
über sein Leben akzentuiert und der Tod als Akt der intentionalen Beendigung dieses Lebens in den Verstehenshorizont gerückt. Die im Wandel der
Todesanzeigen manifeste sprachliche Konturierung von Sterben und Tod als
Abschied und nicht mehr als radikales, den Menschen unterwertendes Geschehen, lässt sich als unauffällige Doppelung dieser Diskussion verstehen.
186
Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
Interessant ist allerdings, dass sich die Muster von Todesanzeigen bereits
geändert haben, als die öffentliche Diskussion dieser Thematiken noch
ganz in den Anfängen steckte. Daraus ließe sich die Frage ableiten, inwieweit ein sich veränderndes kulturelles Konzept von Sterben und Tod eher
die Bedingung der Möglichkeit solcher Diskussionen war und nicht – wie
man zunächst annehmen würde – deren Folge.
5. Sprache und Sprachgebrauch als Ort von Kultur
Anhand zweier sehr unterschiedlicher sprachlicher Entwicklungen der
letzten 50 Jahre – nämlich am Wandel von Grußformeln bzw. Grußpraktiken sowie am Wandel von Todesanzeigen – habe ich zu zeigen
versucht, dass und wie kulturelle Veränderungen im Medium der Sprache
geleistet werden – und dies häufig, ohne dass wir als an diesen Prozessen beteiligte Sprecherinnen und Sprecher uns dieser Tatsache bewusst
sind. Im Fall der Karriere von hallo als neuem »Allgemeingruß«, der ein
ganzes Spektrum von Grüßen wie guten Morgen, guten Tag, grüß’ Gott
oder auch nur Tag oder grüß’ dich zumindest zum Teil ersetzt, betrifft
diese Veränderung die Beziehungsstrukturen unserer Kommunikationsgemeinschaft und hier vor allem die traditionelle Unterscheidung von
Formalität und Informalität. Hier wird die beziehungsprägende Kraft von
Sprache deutlich. Im zweiten Beispiel, das heißt im Falle des Wandels in
den Formulierungs- und Textmustern von Todesanzeigen, tritt vor allem
die weltsichtprägende Kraft von Sprache zutage. Sie betrifft hier das
kulturelle Konzept von Sterben und Tod und damit unser Verhältnis zu
den fundamentalen Bedingungen unseres Daseins.
Bei beiden Beispielen dürfte zudem deutlich geworden sein, dass die
kulturanalytische Betrachtung von Sprache und Sprachgebrauch ihre Erkenntnisse nicht in einem einfachen »Ableseverfahren« gewinnt, sondern
Schlussverfahren impliziert, die weitere sprachliche und außersprachliche
Kontexte berücksichtigen. Kulturanalytische Interpretationen von Mustern in Sprache und Sprachgebrauch sowie von deren historischen Veränderungen sind deshalb als Abduktionen im Sinne Peirces zu verstehen,
das heißt als Operationen, die nicht Beweisführung betreiben, sondern die
dazu dienen, plausible Hypothesen aufzustellen. Charles Sanders Peirce
formuliert dieses Kalkül folgendermaßen: »Die überraschende Tatsache C
wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständ187
Angelika Linke
lichkeit sein: folglich besteht Grund zu vermuten, dass A wahr ist« (hier
zit. nach Wirth, Kulturwissenschaft, S. 21).
Die kulturanalytische Interpretation sprachlicher Veränderungen ist
ein solches Kalkül. Der Schluss von sprachlichen Daten auf sich in ihnen
abzeichnende bzw. auf im Medium der Sprache erfolgende kulturelle
Prozesse ist deshalb zunächst nicht mehr als eben dieses: ein Schluss –
und dazu noch einer, der nicht im logischen Sinne zwingend ist, sondern
zunächst nur den Status einer Hypothese haben kann. Die in Abduktionen
gewonnenen Erkenntnisse erfordern deshalb immer kritische Evaluation. Da aber gerade die alltäglichen, oft unauffälligen und selbstverständlichen Weisen der sprachlichen Kommunikation und des Redens
über die Welt der Ort sind, wo Kommunikationsgemeinschaften ihr
Selbst- und Weltverständnis herstellen, sicherstellen, aber auch verändern,
sind sprachliche Veränderungen ein vielversprechender Ausgangspunkt
für kulturanalytische Untersuchungen und Erkenntnisse.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
Mit diesem Untertitel lehne ich mich bewusst an den Titel einer Arbeit von Susanne Tienken
(2008): »Alltagsgattungen und der Ort von Kultur« an, in welcher Tienken kulturanalytische
Studien zum Text- und Bildmaterial auf Milchverpackungen in Deutschland und Schweden
vorlegt. Für kritische Rückmeldungen zu einer Erstfassung des vorliegenden Textes danke
ich Thomas Forrer und Juliane Schröter.
Ein uns zwar ebenfalls äußerliches, aber dennoch meist nicht wahrgenommenes, unauffälliges
Medium ist das Licht (das Marshall McLuhan geradezu als prototypisches Medium betrachtet, vgl. McLuhan 2008, 417 f.).
Umgekehrt gilt natürlich auch, dass die demonstrativ-selbstreflexive Ausstellung von Medialität eigenständige semiotische Möglichkeiten eröffnet. Mit Blick auf Sprache gilt dies für
deren poetische Funktion (Jakobson). Besonders deutlich wird diese Funktion in metrisch
bzw. rhetorisch auffällig gemachter Sprache in Dichtung oder auch – gegenwartsbezogen –
in der Werbung sowie – sozusagen ex negativo – in der bewussten Zerstörung sprachlicher
Strukturen in dadaistischer Lyrik.
In der linguistischen Diskussion wird mit Blick auf die unterschiedlichen Materialisierungsformen von Sprache häufig auch von »Modalitäten« gesprochen, um zwischen der Medialität
von Sprache selbst und den Medien ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit zu unterscheiden.
Die sprachtheoretische Modellierung dieses komplexen Verhältnisses ist kontrovers. Vgl.
hierzu etwa Jäger 2000.
Allerdings hat ausgerechnet die Sprachwissenschaft seit dem späteren 19. Jahrhundert
im Zuge einer selbstbeschränkenden, von lebensweltlichen Gebrauchskontexten völlig
abstrahierenden Fokussierung auf die phonetisch-phonologischen und morphosyntaktischen
Aspekte von Sprache die kulturanalytische Perspektive auf Sprache und Sprachgebrauch
weitgehend vernachlässigt. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch
188
Unauffällig, aber unausweichlich. Alltagssprache als Ort von Kultur
6
7
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18
eine zunehmend breit gefächerte kulturanalytische Linguistik etabliert. Zu den zentralen
Forschungsfeldern gehören etwa – hier unter Angabe von lediglich exemplarischen Literaturverweisen – die Historische Semantik (Busse 1987, Schröter 2011), die linguistische Diskursanalyse (Warnke 2004), die Historische Pragmatik (Scharloth 2011), die Textmuster- und
Gattungsanalyse (Linke 2011, Tienken 2008), die linguistische Hermeneutik (Hermanns/
Holly 2007) sowie auch – methodisch relevant – die Korpuslinguistik (Bubenhofer 2009,
Bubenhofer/Schröter 2012). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung allgemein vergleiche exemplarisch Maas 1987, Gardt et al. 1999, Gardt 2003, Hornscheidt 2003, Ehlich
2006, Jäger 2006, Günthner/Linke 2006, Kämper 2007 und Schröter i.Dr.
Bachmann-Medick stützt sich mit diesem Titel des von ihr herausgegebenen Sammelbandes
auf das Kulturverständnis von Clifford Geertz und macht es für die Literaturwissenschaft
fruchtbar.
So Friedrich Schiller in seinem Distichon »Sprache« (Schiller 1943, Bd. 1, 322).
Vgl. hierzu auch den Beitrag von Philipp Sarasin in diesem Band.
Dass in einem konstruktivistischen Verständnis von Sprache der terminologische Wechsel
von »Geist« bzw. »Erkenntnis« zu »Kognition« (der sicher auch, aber nicht nur einer
Anlehnung ans Englische geschuldet ist) nicht inhaltlich neutral zu verstehen ist, sondern
durchaus semantische und pragmatische Implikationen hat, sei hier zumindest erwähnt,
wenn auch nicht weiter ausgeführt.
Whorf untersuchte u.a. die grammatischen Formen des Zeitbezugs und kam zum Schluss,
dass Hopi-Indianer aufgrund ihrer Sprache über andere Zeitvorstellungen verfügten als z.B.
Sprecher des Englischen – vgl. u.a. die unter dem Titel »Language, Thought and Reality«
publizierten einschlägigen Beiträge Whorfs (1956; Übersetzungen ins Deutsche 1963 und
1984). Diese These wurde in ihrer starken Form durch spätere Forschung verworfen,
Whorfs Untersuchungen haben aber dazu beigetragen, die Frage nach der Sprachgeprägtheit
unseres Denkens erneut auf die linguistische Agenda zu setzen.
Auch wenn, so Humboldt, Übersetzungen unter der Bedingung einer »großen Verschiedenheit
des Gelingens« stehen (Humboldt 1994 [1820], 21, § 13).
Vgl. zu dieser Überlegung auch Günthner/Linke 2006, 7 f.
Weitere wichtige Forscher unterschiedlicher Disziplinen, die sich in erster Linie für die
vergemeinschaftende Funktion von Sprache interessierten und für die Möglichkeiten, die
sich den Menschen mit Sprache als Medium der Mit-Teilung eröffneten, sind etwa der
Psychologe George Herbert Mead, der Religionsphilosoph Martin Buber, der Soziologe
Erving Goffman sowie der Literaturwissenschaftler und Semiotiker Mikhail Bakhtin.
Ebenso gilt, dass die Erkenntnisfunktion von Sprache durchaus nicht an schrift sprachliche Zusammenhänge gebunden ist. Dennoch zeigt sich in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine deutliche Allianz von einer eher schriftbasierten Perspektive auf Sprache
mit Überlegungen zur erkenntnistheoretischen Funktion von Sprache und von einer eher
mündlichkeitsorientierten Perspektive auf Sprache mit der sozialisierenden bzw. kooperativen Funktion von Sprache.
Wichtig sind in diesem Kontext die Arbeiten von Per Linell (1998 und 2009) und Ivana
Marková (2003; 2006).
Während diese Herkunft bei ade noch relativ durchsichtig ist, gilt dies für tschüss weniger:
Hier wird ein Weg über ein wallonisches adjuus und dessen Verkürzung im Nord- und
Mitteldeutschen angenommen, allenfalls auch unter Einfluss des in der Seemannssprache
gebräuchlichen, ursprünglich span. adiós (vgl. Paul 1992; Kluge 1995).
Vgl. auch Schröter (2012) zur Geschichte des Abschiedsgrußes Auf Wiedersehen, ebenso
Allert (2005) zum Deutschen Gruß.
Ähnlich wie bei tschüss hinkt auch bei der Implementierung von hallo als einer »neutralen«
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Angelika Linke
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Grußformel ohne deutlich informelle oder eine auf Duz-Beziehungen einschränkende NäheMarkierung die deutschsprachige Schweiz den nördlicheren deutschsprachigen Gebieten
hinterher: Das mir im Gedächtnis gebliebene Erlebnis, dass ein mit mir durch die langen
Gänge einer Universität in Deutschland schreitender Kollege sowohl begegnende KollegInnen
als auch Studierende durchgehend selbstverständlich mit einem freundlichen hallo bedachte
und auch ein solches zurückerhielt, dürfte ca. 10 Jahre zurückliegen. Zu diesem Zeitpunkt,
also etwa um 2002, war hallo als allgemeine Grußformel im deutschschweizerischen Kontext
noch nicht in derselben selbstverständlichen Weise gebräuchlich.
Die Verwendung der Mischform grüezi + Vorname kann in der Deutschschweiz von einer
älteren gegenüber einer jüngeren Person etwa dazu eingesetzt werden, um trotz Du-Anrede
eine gewisse emotionale Distanz bzw. die Egalität der Beziehung zu signalisieren, dies vor
allem, wenn die Du-Anrede eine einseitige ist, also etwa gegenüber einer ebenfalls schon
erwachsenen, aber seit deren Kindertagen geduzten Freundin der Tochter.
Schröter diagnostiziert im Rahmen ihrer Untersuchung zur Geschichte des kommunikativen
Ideals der Offenheit u.a. »dass Herzlichkeit und Freundlichkeit im 19. Jahrhundert zu
Bestandteilen eines neuen zentralen Höflichkeitskonzepts werden, zu einer Art von Höfl ichkeit, die […] vor allem auf der Bekundung positiver Gefühle gegenüber dem Interaktionspartner basiert« (Schröter 2011, 218).
Mit diesem Analysebeispiel beziehe ich mich auf eine von mir vor 15 Jahren durchgeführte
empirische Studie anhand eines Korpusses von 1000 Todesanzeigen in überregionalen
deutschen und Deutschschweizer Tageszeitungen (Süddeutschen Zeitung, Tagesanzeiger,
Neue Zürcher Zeitung), vgl. Linke 2001. Die Ergebnisse dieser Untersuchung habe ich
zudem vor zwei Jahren im Rahmen einer kleinen Follow-up-Sondierung anhand derselben
Presseerzeugisse überprüft, wobei sich die in der ersten Studie konstatierten Entwicklungen
nach wie vor bestätigt haben.
Auch mit diesen Zahlen beziehe ich mich auf Linke 2001 und auch sie wurden durch die
bereits erwähnte Follow-up-Untersuchung bestätigt.
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192
Philip Ursprung
Miniaturtheorien:
Bilder von Peter Zumthors Architektur
Mieke Bal, eine der Protagonistinnen der Kulturanalyse, gibt in ihrem
Buch Travelling Concepts in the Humanities eine anregende Erläuterung
dessen, was sie unter »Begriff« versteht:
»Concepts are the tools of intersubjectivity: they facilitate discussion on the basis
of a common language. Generally, they are considered abstract representations
of an object. But, like all representations, they are neither simple nor adequate
in themselves. They distort, unfix and inflect the object. To say something of
an image, metaphor, story or what have you – that is, to use concepts to label
something – is not a very useful act. Nor can the language of equation – ›is‹ – hide
the interpretative choices being made. In fact, concepts are, or rather do, much
more. If well thought through, they offer miniature theories, and in that guise,
help in the analysis of objects, situations, states and other theories.«
(Bal 2002, 22)
Bals Vorstellung, dass Begriffe »Miniaturtheorien« bieten können, ist
ein guter Anlass, um der Frage nachzugehen, wozu die Kulturanalyse im
Bereich der Architektur dienen kann.1 Denn die Tatsache, dass die Architektur heute eine breite Öffentlichkeit interessiert und manche Architekten als Stararchitekten verehrt werden, täuscht darüber hinweg, dass es
seit bald einem halben Jahrhundert keine tragfähige Architekturtheorie
gibt. Die globale Blüte der Architektur, also die Fülle und Vielfalt von
neuen Bauten und das breite Spektrum an technischen Möglichkeiten,
welches den Spielraum der Architekten fast unbegrenzt erweitert, fällt
paradoxerweise zusammen mit einer theoretischen Flaute. Das Fehlen
193
Phi l i p Ur s pr ung
einer umfassenden Theorie ruft gleichsam danach, Miniaturtheorien zum
Einsatz kommen zu lassen. Unter den zahlreichen Begriffen, die sich dafür
eignen, möchte ich im Folgenden den Begriff des Bildes näher beleuchten.
Ich wähle diesen Begriff gerade deshalb, weil er in der architektonischen Diskussion meistens vermieden wird (vgl. Ruby et al. 2004). Dies,
obwohl die architektonische Praxis seit gut drei Jahrzehnten immer wieder um das Phänomen des Bildes kreist. Ab ca. 1980 bewegten sich Architekten wie Rem Koolhaas, Steven Holl, Zaha Hadid, Peter Eisenman,
Daniel Libeskind, Aldo Rossi, Michael Graves, Rob and Léon Krier sowie
Herzog & de Meuron sehr nahe an der bildenden Kunst. Mit ikonisch
wirkenden Repräsentationsformen, welche für die Betrachter leichter
zugänglich waren als die abstrakten Diagramme und axionometrischen
Darstellungen der 1960er- und 1970er-Jahre, wurden sie bekannt. In ihren
Büros entstanden Aquarelle, Kohlezeichnungen, Grafiken und mit diesen
ein eigener Markt für Architekturdarstellungen. Während einiger Jahre
wurde die Darstellung von Architektur fast so wichtig wie die gebaute
Architektur. In den Worten von Jacques Herzog und Pierre de Meuron
in ihrer Ausstellung Architektur Denkform in Basel 1988:
»Die Wirklichkeit der Architektur ist nicht die gebaute Architektur. Eine
Architektur bildet ausserhalb dieser Zustandsform von gebaut/nicht gebaut
eine eigene Wirklichkeit, vergleichbar der autonomen Wirklichkeit eines Bildes
oder einer Skulptur. Die Wirklichkeit, die wir meinen, ist also nicht das real
Gebaute, das Taktile, das Materielle. Wir lieben zwar dieses Greifbare, aber
nur in einem Zusammenhang innerhalb des ganzen (Architektur-) Werkes. Wir
lieben seine geistige Qualität, seinen immateriellen Wert.« (Herzog/de Meuron
1988, Rückseite des Buchumschlages; in der Ausstellung war der Text auf eine
der Fensterscheiben des Museums angebracht)
Die Verschiebung von einer konzeptuellen zu einer ikonischen Darstellungsart, die um 1980 in der Architektur beobachtet werden kann, ist
Teil eines allgemeinen kulturellen Trends, welcher als iconic turn oder
pictorial turn bezeichnet wird. Der Begriff des iconic turn bezieht sich
darauf, dass die Phänomene in erster Linie als Bilder wahrgenommen werden (vgl. Mitchell 1986; Friedberg 1989; Didi-Huberman 1990; Bryson
1994; Boehm 1994). Er hebt sich ab vom früheren linguistic turn, welcher
davon ausgeht, dass die Phänomene in erster Linie als Text »gelesen«
werden können (vgl. Rorty 1967). Die meisten Theoretiker sind sich einig,
dass diese Veränderung eng mit den technischen Veränderungen zusam194
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
menhängt, also der Reproduktion und Verbreitung von Bildern durch
Fotografie, Film, Kino, Fernsehen und dem Internet. Nicholas Mirzoeff
beispielsweise versteht unter dem iconic turn eine epochale Veränderung,
die uns seit den 1960er Jahren betrifft. Für ihn ist das, was er »visuelle
Kultur« nennt, »nicht nur ein Teil unseres Alltagslebens, es ist unser
Alltagsleben« (Mirzoeff 1998, 3).
Während der iconic turn etablierten akademischen Disziplinen wie
der Kunstgeschichte neue Impulse verlieh und den Anstoss für neue Disziplinen wie die visual culture im englischen oder die Bildwissenschaft
im deutschen Sprachraum gab, hat er die Architekturdiskussion bisher
kaum berührt. In der tonangebenden Anthologie zur Architekturtheorie
seit den 1960er-Jahren kommt der Begriff des Bildes nicht einmal im
Index vor (vgl. Hays 1998). Ebenso wie verwandte Begriffe »Oberfläche«, »Illusion«, »Theatralik« oder »Effekt« ist auch »Bild« unter
Architekten meistens negativ konnotiert. Dies hängt sicherlich damit
zusammen, dass sie unter einem Bild ein zweidimensionales, gerahmtes
Artefakt verstehen, also etwas, das der dreidimensionalen Natur der
Architektur widerspricht. Der schiere Bildbegriff evoziert die latente
Angst vieler Architekten, dass die Autonomie ihrer Praxis in Gefahr ist,
wenn sie sich auf benachbarte Disziplinen stützt. Es ist deshalb hilfreich,
sich mit Mieke Bal den Bildbegriff als »wandernden Begriff« vorzustellen, der im Lauf der Zeit neue Bedeutungen annehmen kann. Gerade
im Hinblick auf die Architektur scheint es mir angemessen, die stark
durch die idealistische Philosophie geprägten Vorstellungen des Bildes
als »Abbild«, wie sie in der deutschsprachigen Bildwissenschaft gepflegt
wird, durch einen dynamischeren und pragmatischeren Bildbegriff zu
ersetzen, wie er durch den französischen Philosophen Henri Bergson
Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Buch Materie und Gedächtnis
(1898) formuliert wurde:
»Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von ›Bildern‹. Und unter ›Bild‹ verstehen
wir eine Art von Existenz die mehr ist als was der Idealist ›Vorstellung‹ nennt,
aber weniger als was der Realist ›Ding‹ nennt – eine Existenz, die halbwegs
zwischen dem ›Ding‹ und der ›Vorstellung‹ liegt.« (Bergson 1991, 1)
195
Phi l i p Ur s pr ung
Bergson reduziert den Begriff des Bildes nicht auf ein flaches, objekthaftes
Gemälde. Seiner Ansicht nach sind Bilder nicht isoliert, sondern ständig
in Bewegung und im gegenseitigen Austausch. In seinen Worten:
»Da sehe ich mich denn umgeben von Bildern – das Wort im unbestimmtesten
Sinne verstanden –, Bildern, die ich wahrnehme, wenn ich meine Sinne öffne,
und nicht wahrnehme, wenn ich sie schließe. All diese Bilder stehen mit allen
ihren elementaren Bestandteilen in Wechselwirkung, nach konstanten Gesetzen,
die wir die Naturgesetze nennen.« (Bergson 1991, 1)
Peter Zumthor und Hans Danuser
Meine eigene, im Lauf der Zeit veränderte Rezeption des Werkes von
Peter Zumthor bietet sich an, um das Potenzial eines kulturanalytischen
Zugangs zu zeigen. Ich fasse sie als »wandernd« auf im Sinne von Mieke
Bals Idee der travelling concepts. Sie hat sich von anfänglicher Skepsis,
ja Ablehnung, zu einer großen Affinität verändert. Der Begriff des Bildes
spielte – und spielt – in diesem Prozess eine wichtige Rolle, weil er mir
erlaubt, über Fotografie, mentale Bilder, Erinnerungsbilder, Räumlichkeit,
Klischees und (meine eigenen) Projektionen gleichermaßen zu sprechen.
Das Bild, das viele Beobachter – ich selber eingeschlossen – lange Zeit
von Zumthor hatten, beruhte zu einem großen Teil auf einer Fotografie,
nämlich der Aufnahme, welche der Künstler Hans Danuser 1987 von
Zumthors eben fertiggestellten Kapelle Sogn Benedetg in Sumvitg, in
Graubünden, gemacht hatte.
Jene Schwarz-Weiß-Aufnahme, welche die sozusagen im Nebel aufgelöste Kapelle zeigt, hatte sich in meiner eigenen Imagination untrennbar
mit dem Namen Zumthor verwoben. Vermittelt durch Danuser fügte
sich Zumthors Kapelle in eine jahrhundertelange Kette von trotzigen
Burgruinen ein, welche die Hänge der Gegend prägen. Die Assoziation
des Romantischen, des Weltflüchtigen, des Antimodernen stellte sich
zwangsläufig ein, wenn ich an Zumthors Architektur dachte. Das Werk
ließ sich für mich nicht an den zeitgenössischen Diskurs anschließen.
Als Kunsthistoriker an den Umgang mit Reproduktionen gewöhnt, ließ
ich mir lange Zeit, bis ich endlich die Kapelle selber besuchte. Erst 2004
reiste ich in den kleinen Weiler Sogn Benedetg oberhalb von Sumvitg.
Schlagartig musste ich mein Bild von Zumthor revidieren. Anstelle des
erwarteten melancholisch wirkenden Gebäudes, das in der Abgeschiedenheit der Alpen mit der Natur verschwimmt, stand ich vor einem der
196
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
Abb. 1: Hans Danuser,
CAPLUTTA SOGN BENEDETG SUMVITG , Bild I
Fotografien auf Barytpapier, 6-teilig, I, II 1–II 2, III, IV 1–IV 2,
je auf Papierformat 50 × 40 cm, 1988
elegantesten und fragilsten Gebäude, die ich je gesehen hatte. Alles kam
mir zeitgemäß vor, so als ob die Kapelle gerade eben gebaut worden wäre
und nicht vor damals fast 20 Jahren. Der Bau, so meine Wahrnehmung,
bestand ausschließlich aus Oberflächen, die sich übereinanderlegten.
Raum im herkömmlichen Sinne, das heißt als dreidimensional erfahrbare
körperliche Entität, kam gar nicht vor. Fenster, welche den Übergang
zwischen Innen und Außen artikulierten – und ein Indiz für die Vor197
Phi l i p Ur s pr ung
stellung einer räumlichen Kontinuität sind, weil sie als »Ausschnitte«
innerhalb eines kohärenten Raums fungieren –, gab es nicht. Stattdessen
war das Dach ein wenig abgehoben, um Licht einzulassen. Und die Wand
beziehungsweise die äußerste, mit Schindeln überzogene Schicht, die sich
wie eine textile Membran um den Baukörper zog, war gerade soweit
aufgespreizt, dass sich eine Öffnung anbot, die aber wiederum kaum
als »Tür« bezeichnet werden konnte. Zudem war der Bau alles andere
als erdverbunden. Im Gegenteil, die wenigen Stufen vor dem Eingang
schienen vor dem Kontakt mit der Kapelle zu zögern, als ob der direkte
Übergang zwischen dem Terrain und dem Gebäude unmöglich wäre. Die
Topografie der alpinen Landschaft und die Topologie der Architektur
waren unvereinbar, diskontinuierlich.
Zumthors Kapelle, so eine erste Folgerung meines Augenscheins,
nahm vieles vorweg, was in der architektonischen Diskussion der
1990er-Jahre dann unter dem Begriff der »topologischen Architektur«
verhandelt wurde. Die Entwürfe von Architekten wie Ben van Berkel,
Foreign Office Architects oder Diller + Scofidio, die um das Thema des
Möbiusbandes kreisen und die Wände, Böden, Decken miteinander
verschmolzen, wirkten im Vergleich zu Zumthors ein Jahrzehnt früherer
Lösung wie Illustrationen zu einem theoretischen Programm. Zudem verwies Zumthors Kapelle nicht, wie ich anhand der Fotografien vermutet
hatte, nur auf sich selber. Vielmehr veränderte sie die Art, wie ich die
Umgebung wahrnahm und versetzte sozusagen das ganze Tal in Bewegung. Der Bau entsprang keiner idiosynkratischen oder eskapistischen,
sondern einer analytischen und kritischen Haltung. Er verbrämte nicht
die Zusammenhänge zwischen Architektur und Umgebung, sondern
schärfte meinen Blick dafür. Unter Zusammenhang verstehe ich dabei
einerseits die institutionelle Verbundenheit der Kapelle mit dem nahen
Kloster Disentis und dem globalen Katholizismus, andererseits die Einbindung des Weilers in das Netzwerk der Energieindustrie. Ich stand
nicht nur in einer alpinen Landschaft, sondern auch in einer klerikalen
Landschaft und in einer Industrielandschaft. Ich spürte keinen Widerspruch zum Urbanen. Die Architektur machte deutlich, dass es gar keine
Alternative zum Urbanen geben konnte, indem sie die Aufmerksamkeit
gewissermaßen darauf lenkte, dass auch die Landschaft ganz und gar
vom Menschen gemacht ist.
Die Revision des Bildes von Zumthors Architektur, die sich durch die
Begegnung mit dem Gebäude aufdrängte, war Anlass, auch die Fotografie
198
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
von Danuser genauer zu betrachten. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass
es sich nicht um eine einzelne Fotografie handelte, sondern um eine Serie,
die allerdings in meiner Erinnerung zu einem Bild geronnen war. Danuser
hatte im Auftrag von Zumthor die eben fertiggestellte, im September
1988 geweihte Kapelle 1987 und 1988 mit einer Mittelformatkamera
und Schwarz-Weiß-Film fotografiert. Das Resultat war eine Serie von
sechs schwarz-weißen, quadratischen Fotografien. Sie wurden zuerst,
zusammen mit Aufnahmen von Zumthors Schutzbauten für römische
Ruinen in Chur und seinem eigenen Atelierbau in Haldenstein, in der
Ausstellung Partituren und Bilder: Architektonische Arbeiten aus dem
Atelier Peter Zumthor 1985–1988 in der Architekturgalerie Luzern und
der Architekturgalerie Graz 1988 gezeigt. Danach wurden sie in den
Zeitschriften Du, Ottagono und Domus publiziert und prägten damit
die Wahrnehmung einer ganzen Generation von Architekturfreunden, wie
gesagt auch meine eigene (vgl. Wang 1990, Meier 1992).
Danuser hatte verschiedene Aspekte des Inneren und des Äußeren
aufgenommen, als ob ein einzelnes Bild dem Bau gar nicht gerecht werden könne. Sein Thema war also nicht nur, wie ich geglaubt hatte, die
Wiedergabe von atmosphärischen Stimmungen, sondern durchaus auch
die Analyse von Zusammenhängen. Erst jetzt, das heißt, nachdem ich
selber den Bau besucht hatte, fiel mir auf, dass die Fotografie nicht deren
Verschmelzung mit der Umgebung, sondern vielmehr deren Trennung
artikulierte. Danuser verzichtete darauf, die spektakuläre Aussicht auf
die Surselva abzubilden. Indem er sich bewusst mit dem Rücken zur
Aussicht stellte, entkam er dem Klischee »Graubünden« – und prägte
zugleich jene für die Identität der neuen Bündner Architektur seither
zentrale Fokussierung auf Oberflächen und Texturen. Der Bau verband
sich nicht harmonisch mit der Umgebung, sondern stand darin wie ein
Fremdkörper, der brutal eingeschlagen hat, so wie die Felsbrocken auf
der Wiese neben der Kapelle, die von der rohen Gewalt der Natur erzählen. Ende der 1980er-Jahre war die Erinnerung an die verheerende
Staublawine noch wach, welche im Februar 1984 gut 200 Meter davon
entfernt den mittelalterlichen Vorgängerbau zerstört hatte. So gesehen,
wirkte auch der Glockenturm befremdlich. In meiner Erinnerung verband
er sich organisch, wie ein Baum, mit der alpinen Landschaft. Aber nun
mutete er an wie ein Mast der Stromleitungen und Bergbahnen, welche die
Gegend durchziehen, ein Artefakt, das sowohl verbindet wie auch durchtrennt. Kurz, das romantische Bild der Architektur, welche in der Natur
199
Phi l i p Ur s pr ung
Abb. 2: Hans Danuser,
CAPLUTTA SOGN BENEDETG SUMVITG , Bild III
Fotografien auf Barytpapier, 6-teilig, I, II 1–II 2, III, IV 1–IV 2 ,
je auf Papierformat 50 × 40 cm, 1988
aufgeht, das ich, durch Danusers Fotografien inspiriert, in mir trug, traf
weder auf Zumthors Architektur noch auf Danusers Interpretation zu.
Mein neuer Blick auf Danusers Fotografie zeigte mir, dass es nicht
um Naturverbundenheit oder Regionalismus ging, sondern dass die Fotografie etwas sichtbar machte, was gewöhnlich übersehen wird, nämlich
den ökonomischen Zusammenhang. So ist die Aufnahme, welche den an
die Kapelle angrenzenden Zaun zeigt (Abb. 2), nur auf den ersten Blick
200
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
Abb. 3: Hans Danuser,
CAPLUTTA SOGN BENEDETG SUMVITG , Bild IV 1
Fotografien auf Barytpapier, 6-teilig, I, II 1–II 2, III, IV 1–IV 2,
je auf Papierformat 50 × 40 cm, 1988
malerisch. Interessanter als die formale Wirkung ist, dass sie von dem für
die Bergregion typischen Kostendruck und den pragmatischen Antworten
der Bergbewohner darauf zeugt. Indem Danuser neben dem Zaun einen
Ausschnitt des Neubaus zeigt und dessen Betonsockel sichtbar belässt,
verhindert er jede nostalgische Evokation einer vermeintlich heilen, vorindustriellen Welt. Er rückt stattdessen den Aspekt der menschlichen
Arbeit ins Licht – sei diese nun industriell oder vorindustriell organisiert.
201
Phi l i p Ur s pr ung
Er zeigt, wie diese Artefakte, der Zaun ebenso wie die Kapelle, hergestellt
wurden. Die eingerammten, unbearbeiteten Äste und die dazwischen eingefügten Rindenstücke sind Abfallprodukte aus dem Holzgewerbe, welches die teureren Balken und die haltbaren Schindeln produziert. Indem
Danuser quasi mit den Augen der Bauern, Zimmerleute und Schreiner
auf die Kapelle blickt, macht er den Arbeitsprozess deutlich – und sagt
gleichzeitig mit einigen Fotografien mehr über Zumthors Methode als
Architekt aus als jeder architekturhistorische Text, der dessen Ausbildung
zum Schreiner erwähnt.
Einen ähnlich subtilen Blick auf die Herstellung geben auch die beiden
Aufnahmen, welche den Holzboden zeigen, eines vor, das andere nach
Einbau der Holzbänke. Sie zeigen, dass zwar kleine, also preiswerte Bretter eingesetzt wurden, die aber durch ihre ornamentale Maserung und
Variation das Interieur formal aufwerten. Eine Detailaufnahme (Abb. 3)
wirkt auf den ersten Blick fast wie ein technischer Kommentar zur Konstruktion, die zeigt, wie die tragenden Balken mit der Hülle verbunden
sind. Aber sie ist für mich vor allem aus der Perspektive der Raumtheorie
brisant. Sie belegt, dass es für Zumthor gar nicht möglich war, den Raum
anders zu denken denn als Resultat von textilen Begrenzungen, wie ein
Zelt beziehungsweise wie eine Bühne, die durch Vorhänge und Kulissen –
lauter Oberflächen – ihre Wirkung entfaltet.
Danuser änderte mit den Aufnahmen von Sogn Benedetg die Konvention der Architekturfotografie radikal. Statt für neutrale Dokumentation
interessierte er sich für eine persönliche Interpretation. Und anstatt das
Phänomen auf eine Aufnahme zu reduzieren, zerlegte er den Bau quasi
in Einzelteile, welche die Betrachter wie die Fragmente eines Films in
der Fantasie wieder zusammensetzen können. Heute würde man dieses
Vorgehen »performativ« nennen.
Das Zusammentreffen der Fotografie von Hans Danuser mit der Architektur von Peter Zumthor steht am Beginn einer Wende der Architekturdarstellung, welche weit über den Rahmen der Schweizer Architektur
hinaus Folgen hatte. Es war eine Phase von etwas mehr als einem Jahrzehnt, in der sowohl die Fotografie als auch die Architektur ihr Terrain
neu definierten, und innerhalb der die Architekten den Fotografen größte
Freiheit überließen. Zur selben Zeit, als Danusers Fotografien in Luzern
zu sehen waren, umkreisten Jacques Herzog und Pierre de Meuron in
ihrer Ausstellung Architektur Denkform im Architekturmuseum Basel
202
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
das Problem der angemessenen Darstellung von Architektur, indem sie
die modernistischen Scheiben des Museums ganz mit transparenten
Fotografien ihrer Bauten bedeckten. Und kurz darauf wählten auch
sie den Weg über die künstlerische Fotografie und stellten anlässlich
der Architekturbiennale Venedig 1991 Fotografien ihrer Bauten durch
verschiedene Künstler aus (Vischer et al. 1991). Seit den 1990er-Jahren
haben sich vor allem Thomas Ruff sowie einmal Jeff Wall mit ihrem
Werk auseinandergesetzt (vgl. Herzog et al. 2004). Diese Phase nimmt
innerhalb der langen Geschichte des Verhältnisses zwischen Fotografie
und Architektur eine besondere Stellung ein und ist allenfalls mit der Zeit
der späten 1920er-Jahre vergleichbar. Berühmt sind die Aufnahmen von
Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon für die Weltausstellung 1929, der
ja, nach der Ausstellung abgebrochen, sozusagen für die Kamera gebaut
und erst durch die Fotografie zu einer Ikone der modernen Architektur
geworden war. Mit der Etablierung der Signature Architecture nach
2000 ging die Zeit der fruchtbaren Begegnung zwischen Architektur und
Kunst wieder zu Ende. Viele Künstler haben sich zwar dem Gegenstand
Architektur angenommen. Aber die Architekturfotografie steht, mit
wenigen Ausnahmen wie Helene Binet, wieder fest im Dienst der Architekten als Mittel der Werbung, nicht der kritischen Auseinandersetzung
und der Analyse.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen Zumthor und Danuser?
Danuser bewegte sich Anfang der 1980er-Jahre von der Fotografie als
angewandter Kunst hin zur künstlerischen Fotografie. 1985 hatte er im
Kunstmuseum Chur eine seiner ersten Fotoausstellungen. Sie gehörte
zu dem 1979 oder 1980 begonnenen Projekt, das in Chur noch den
Titel Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Forschung trug, 1989, um
weitere Serien erweitert, unter dem Titel In Vivo ausgestellt wurde und
parallel als Bildband und, in Form einer Auswahl, als Ausstellungskatalog
erschien (Danuser 1985; 1989). In Chur waren Aufnahmen der Serien
A-Energie, Gold und Medizin zu sehen. Danuser hatte an unterschiedlichen Orten fotografiert, beispielsweise in Atomenergieanlagen in der
Schweiz, Deutschland, den USA und Frankreich. Er zeigte, wie die Menschen ins Innere der Materie, ins Innere der Mechanismen des Lebens
eingedrungen waren, wie sie die Kräfte der Natur zu kontrollieren und
manipulieren suchten und zugleich an die Grenzen des sinnlich und begrifflich Fassbaren stießen. Es handelte sich um Orte der Macht, die sich
der Repräsentation entzogen. Orte, die einerseits den meisten Menschen
203
Phi l i p Ur s pr ung
unzugänglich waren, die andererseits die kollektive Imagination damals
beschäftigten, also die Kontrolle von Naturkräften, vom menschlichen
Leben, von natürlichen Ressourcen. Seine Perspektive verband die Methoden der Reportagefotografie mit dem künstlerischen Anspruch allgemeiner Gültigkeit. Der Titel, »In Vivo«, also das, was in der Wissenschaft
einen im lebendigen Organismus ablaufenden Prozess bezeichnet – im
Gegensatz zu Prozessen, die außerhalb von lebendigen Organismen ablaufen und »In Vitro« genannt werden –, deutet auf diese Unmöglichkeit der
Distanzierung hin. Heute würde man wohl den Begriff der »Biopolitik«
oder den von Michael Foucault in den 1970er-Jahren geprägten Begriff
der »Bio-Macht« wählen, um den Aspekt der Machtausübung und institutionellen Kontrolle noch stärker zu betonen.
Zumthor sah Danusers Ausstellung in Chur und entschied sich später,
Danuser mit den Aufnahmen von Sogn Benedetg zu beauftragen und ihm
bei der Arbeit freie Hand zu lassen (vgl. Kübler 1995). Angesichts der
sehr konventionellen Architekturfotografie, die damals in der Schweiz
dominierte, ist es gut verständlich, dass Zumthor jemanden im noch
jungen Feld der künstlerischen Fotografie suchte, um eine angemessene
Darstellung jenes Gebäudes zu schaffen, von dem er sich den Durchbruch erhoffte. Es ist außerdem leicht nachvollziehbar, warum Zumthor
sich damals für Danusers Ansatz interessierte. Einerseits ist sein eigener
Entwurf stark von Bildern motiviert, das heißt, er zielt darauf, mentale
Bilder räumlich umzusetzen. Danusers Fokussierung auf Innenräume
dürfte seiner Entwurfspraxis entsprochen haben, die stets vom Inneren
aus gedacht ist und von der Diskontinuität des Raums ausgeht, also von
der Unmöglichkeit, dass das Innen und das Außen sich entsprechen. Ein
weiterer Grund dürfte gewesen sein, dass sein eigenes Werk wie das von
Danuser um die Artikulation von latenten Prozessen beziehungsweise um
die Visualisierung des Unsichtbaren kreist. Deutlich wird dies beispielsweise in den Schutzbauten für Ausgrabungen römischer Funde in Chur
(1986), wo, was wiederum in der fotografischen Interpretation Danusers
noch unterstrichen wird, die architektonische Hülle einerseits die Konturen der verschwundenen römischen Häuser nachzeichnet, andererseits
den Blick auf die kaum mehr sichtbaren Reste einer verschwundenen
Kultur lenkt (Abb. 4). In Sogn Benedetg ist das Unsichtbare einerseits
der religiöse Glaube, dessen Visualisierung seit der Antike ein Thema
von Architektur, Malerei und Skulptur ist. Andererseits, so meine bereits
ausgeführte Interpretation, die komplexe historische, ökonomische und
204
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
Abb. 4: SCHUTZBAUTEN ÜBER RÖMISCHEN
FUNDEN , Bild II 2
Fotografien auf Barytpapier, 7-teilig, I, II 1–II 3, III,
IV 1–IV 2 , je auf Papierformat 50 × 40 cm, 1988
soziale Struktur der Surselva, also ein Thema, welches durch das Klischee
der heilen Bergwelt verdrängt und seinerseits unsichtbar gemacht wurde.
Beim Vergleich zwischen den Aufnahmen von Sogn Benedetg und
denjenigen im Band In Vivo fällt auf, wie ähnlich sich das erste Bild der
Kapelle und das Bild der A-Kraftwerke sind (Abb. 5). In Vivo beginnt mit
der Aufnahme aus dem Inneren eines Kühlturmes. Während die Silhouetten der Kühltürme als visuelle Zeichen allgegenwärtig sind, entzieht sich
deren Inneres der Darstellbarkeit. Wären die schrägen Betonpfeiler nicht
zu sehen – und wäre da nicht der Titel Kühlturmtasse –, könnte man sich
genau so gut in einer Kathedrale wähnen. Die Aufnahme vom dunklen
Inneren korrespondiert mit den Aufnahmen vom hellen oberen Rand des
Kühlturms, welche die dünne Betonwand im Nebel zeigen. Auch hier
könnte man sich ebenso gut auf einer Aussichtsplattform in den Alpen
oder auf der Krone einer Staumauer wähnen. Das natürliche Phänomen
des Wetters verschwimmt mit dem industriell produzierten Dampf.
Abb. 5: Hans Danuser,
KÜHLTURM
Aus »A-Energie«, 16 Fotografien
auf Barytpapier, je auf
Papierformat 50 × 40 cm, 1983
205
Phi l i p Ur s pr ung
Im Netzwerk der Energieindustrie
Es drängt sich auf, die formale Betrachtung in einen historischen Kontext
zu stellen. Denn die von der Technologie ausgehende unsichtbare Bedrohung war den Menschen Mitte der 1980er-Jahre schlagartig bewusst
geworden. Die Explosion des Reaktors im sowjetischen Tschernobyl am
26. April 1986 hatte die tödliche Gefahr damals der Weltöffentlichkeit
drastisch vor Augen geführt. Diese Katastrophe markierte denn auch
den vorläufigen Höhepunkt der Anti-Atomkraft-Bewegung und, damit
gekoppelt, eines weit verbreiteten Misstrauens gegenüber der Energieindustrie. Die Gegend zwischen Chur und Disentis, in welcher Zumthors
frühere Bauten stehen, bildete in dieser Debatte eines der Zentren. Denn
sie erfuhr ab den 1950er-Jahren eine rasante Entwicklung durch den
Bau von Wasserkraftwerken. Zusammen mit dem Tourismus war die
Energiewirtschaft der Motor der Entwicklung, und viele Berggemeinden,
darunter beispielsweise Vals, verdanken ihren Wohlstand den Kraftwerken, das heißt, dem Bau der großen Anlagen und dem durch die Nutzung
des Wassers fälligen Wasserzins.
Die Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK) war seit den 1950erJahren die treibende Kraft dieser Entwicklung. Ab 1950 entstand der
Plan, in der Region Surselva eines der größten Kraftwerkssysteme der
Schweiz zu realisieren, mit sieben großen Speicherseen, 140 km Stollen,
acht Zentralen und einer Jahresproduktion von 2000 GWh, also fast
einem Viertel derjenigen eines Kernkraftwerks (Gredig/Willi 2006, 326).
Auch wenn nur Teile des Projekts realisiert wurden, veränderte es die
Region nachhaltig. Die Wasserkraftwerke, etwa die 1962 bis 1968 in der
oberen Surselva entstandenen Kraftwerke Vorderrhein oder die 1984 bis
1992 entstandenen Kraftwerke Ilanz mit ihren verzweigten Systemen von
Stauseen, Stollen und Kraftwerksbauten, pflügten die Berglandschaft in
der Region, in der Sumvitg liegt, buchstäblich um. Die Gegend ist mit
den Fabriken und Verkehrslinien in den Ballungszentren des Mittellandes
untrennbar verbunden. Die von der NOK kontrollierten Kernkraftwerke
Gösgen (ab 1979) und Leibstadt (ab 1984) sind mit vielen Pumpspeicherkraftwerken in den Alpen verbunden, das heißt, mit deren billiger Energie
wird Wasser in Stauseen hochgepumpt und so in teure Energie verwandelt.
Allerdings ist, im Unterschied zu den weithin sichtbaren Kühltürmen der
Atomkraftwerke, der größte Teil der Infrastruktur in den Alpen kaum
sichtbar und in der Wahrnehmung der Touristen gänzlich verdrängt.
206
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
Sichtbar wurde das Dilemma Ende der 1970er-Jahre, als erstmals eine
breite Öffentlichkeit gegen den Plan der NOK , die Greina-Ebene für einen
Stausee unter Wasser zu setzen, mobilisiert wurde (vgl. Maeder 1997). Die
Auseinandersetzung zog sich über mehr als ein Jahrzehnt hin. 1986 gab
die NOK das Projekt unter dem Druck des öffentlichen Widerstandes und
der Politik schließlich auf. Um die dadurch, also durch den Verzicht auf
die Einnahmen aus den Wasserrechten, benachteiligten Gemeinden Vrin
und Sumvitg, auf deren Gebiet die Greina liegt, zu entschädigen, erhielten diese 1986 erstmals einen symbolischen Betrag aus Spendengeldern.
Nach einer nationalen Volksabstimmung 1992 und der Umsetzung der
Gesetze im Parlament 1995, bekannt unter dem Begriff »Landschaftsrappen«, konnte der finanzielle Ausgleich für den Landschaftsschutz
auf nationaler Ebene durchgesetzt werden. Seither erhält beispielsweise
die Gemeinde Sumvitg eine jährliche Entschädigung von über 500 000
Franken (vgl. Maissen 2000, 218).
Aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive besteht somit ein Zusammenhang zwischen Danusers im Atomkraftwerk Gösgen 1981 entstandenen Aufnahmen und seinen 1988 entstandenen Aufnahmen von Sogn
Benedetg.2 Beides sind Brennpunkte der energiepolitischen Diskussion
jenes Jahrzehnts. Die fragile Kapelle in den Bergen in ihrer potenziell
zerstörerischen – aber durch die Industrie auch teilweise zerstörten –
Landschaft kontrastiert zur Rohheit des Kraftwerks im Mittelland. Und
zugleich hängt sie von dessen Betrieb ab. Denn ohne die Wertschöpfung
der Energieindustrie und ohne die Leistung der Kernkraftwerke wäre die
Politik damals nicht in der Lage gewesen, den Bau weiterer Wasserkraftwerke im Gebirge zu bremsen und damit die für die Tourismusindustrie
wichtige Illusion einer intakten Landschaft und einer domestizierten
Natur zu erhalten. Weder Zumthor noch Danuser erwähnen den Zusammenhang zwischen der Kapelle in den Bergen und der Energiediskussion,
das heißt die Ausbeutung der Berglandschaft durch die Energiekonzerne
explizit, obwohl beide ihn zweifellos kannten. Sie waren der Region
durch ihre Herkunft im Fall von Danuser beziehungsweise im Fall von
Zumthor durch die berufliche Praxis eng verbunden. Zumthor war während der 1970er-Jahre als Mitarbeiter der kantonalen Denkmalpflege mit
der Dialektik von Modernisierung und Zerstörung vertraut und kannte
die Umwälzungen durch die beispiellose Bautätigkeit jener Jahre aus der
täglichen Praxis. Er wusste daher viel über die Kräfte, die der Baukultur
des Kantons Graubünden zusetzten.
207
Phi l i p Ur s pr ung
Der Zusammenhang zwischen der neuesten Architektur in einer scheinbar intakten Berglandschaft und der Atomenergie konnte im Medium der
Fotografie, genauer gesagt mittels einer Fotografie, die sich als künstlerisch verstand, besonders überzeugend artikuliert werden. Danuser ging
weit über die Reportagefotografie hinaus, indem er sich statt auf das Klischee des Kühlturms auf die Problematik des Unsichtbaren konzentrierte.
Und er ging über die Konventionen der Architekturfotografie hinaus,
indem er seinen Gegenstand nicht abbildete, sondern interpretierte, ja
künstlerisch übersetzte. Möglich war diese Verbindung, weil sich damals
für kurze Zeit die Gattungsgrenzen gelockert hatten und die Bilder gleichsam der gemeinsame Nenner waren: Die Architektur, verunsichert über
ihren Ort in der Gesellschaft, bestrebt, um aus der Isolation der Fachwelt
herauszukommen, vertraute die Vermittlung für einen kurzen Moment
der Fotografie an. Und die Fotografie, auf dem Weg zur künstlerischen
Autonomie, befand sich in einer ganz neuen, freien Situation, welche es ihr
ermöglichte, Zusammenhänge, die sich begrifflich gar nicht fassen ließen,
als Bilder zu artikulieren. Zumthor, bestrebt, sich vom Denkmalpfleger
zum Architekten zu wandeln, legte die Verantwortung vorübergehend
in die Hände eines Künstlers. Danuser wiederum, bestrebt, sich vom
Fotografen zum Künstler zu wandeln, ließ sich vorübergehend auf eine
Auftragsarbeit ein.
Das Produkt dieser Konstellation, die Fotografien, die der Künstler Danuser schuf, aber auch die Bilder, die ich als Erinnerung an die
Fotografien im Kopf trug, und die neuen Bilder, die ich mir bei meinem
Augenschein vor Ort machte, erlauben es mir aus zeitlicher Distanz, die
disparaten Elemente meines Falles kohärent darzustellen. Die Gesamtheit
dieser Bilder enthält durchaus innere Widersprüche – sie bewirkten zuerst
meine Ablehnung von Zumthors Architektur und öffneten mir danach
einen Zugang zu ihrer historischen Verortung. Sie prägen meine Perspektive, beziehungsweise meine »Miniaturtheorie«, so wie diese sich wiederum auf die Gegenstände auswirkt, auf welche ich meine eigenen Fragen
und Antworten projiziere. Meine »Miniaturtheorie« ist natürlich keine
Theorie im Sinne eines kohärenten Gebäudes von Prämissen, sondern
vielmehr ein Analyseverfahren, eine Methode, die es erlaubt, im Sinne der
Kulturanalyse Zusammenhänge aufzuspüren und darzustellen. Sie erlaubt
mir einerseits, den Mangel an architekturtheoretischen Begriffen, den ich
für die Zeit seit den 1970er-Jahre festgestellt habe, zu umgehen und einen
in meiner Perspektive architekturhistorisch bedeutsamen Gegenstand in
208
Mi ni at ur t he or i e n: Bi l de r von Pe t e r Zumt hor s Ar c hi t ekt ur
den ökonomischen und politischen Kontext seiner Zeit zu rücken. Und
sie erlaubt mir gleichzeitig, die im Feld der Architektur nach wie vor
dominierende Beschränkung auf das eigene Fach zu durchbrechen und
Methoden zu entwickeln, die sich durchaus auch auf andere Fälle und
andere Epochen anwenden ließen. Indem ich zusätzlich zur Architektur
auch die Fotografie ins Spiel springe, versuche ich mit meinem Fall auch
die visuelle Kultur in den 1980er-Jahren besser zu verstehen. Die Methode
ist deshalb nicht nur, aber auch, eine gattungsgeschichtliche, welche die
Veränderung der Beziehung zwischen Fotografie und Architektur nachzeichnen will. Sie will allgemeine Zusammenhänge darstellen und zugleich
auf der Diskontinuität und Singularität der Phänomene insistieren. Sie
will den Rahmen für eine schlüssige Darstellung bieten, aber ihrerseits
revidierbar bleiben und zukünftiger Kritik gegenüber zugänglich bleiben.
Sie will Bedeutung nicht reduzieren, sondern vermehren. Sie will den Fall
lösen, aber zugleich verhindern, dass er abgeschlossen wird.
Anmerkungen
1
2
Frühere Versionen dieses Textes erschienen unter dem Titel Die Visualisierung des
Unsichtbaren: Hans Danuser und Peter Zumthor, eine Revision (Ursprung 2009) und
Limits to Representation: Peter Zumthor and Hans Danuser (Ursprung 2011).
Die Aufnahmen im Inneren und auf dem Kühlturm des Atomkraftwerkes standen am Beginn
des Zyklus. Laut Danuser entstanden sie 1981 in Gösgen. Mündliche Mitteilung von Hans
Danuser an Philip Ursprung. Vgl. auch Krell 2007.
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209
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Herzog, Jacques; Wall, Jeff und Ursprung, Philip: Pictures of Architecture, Architecture
of Pictures. Conversation between Jacques Herzog and Jeff Wall, moderated by Philip Ursprung.
Wien 2004.
Krell, Cornelius: Formale Elemente der fotografischen Bildsprache bei Hans Danuser.
Lizentiatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, Kunsthistorisches Institut.
Zürich 2007.
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Ruby, Ilka; Ruby, Andreas und Ursprung, Philip: Images: A Picture Book of Architecture.
München 2004.
Ursprung, Philip: Die Visualisierung des Unsichtbaren. Hans Danuser und Peter Zumthor,
eine Revision, in: Zumthor sehen: Bilder von Hans Danuser. Hg. v. Hans Danuser u.a. Zürich
2009, S. 61–79.
Ursprung, Philip: Limits to Representation. Peter Zumthor and Hans Danuser, in: Visual
Resources. An International Journal of Documentation 27/2, 2011 (Special Issue: Intersection
of Photography & Architecture. Hg. v. Antonella Pelizzari und Paolo Scrivano), S. 172–184.
Vischer, Theodora et al.: Architektur von Herzog & de Meuron fotografiert von Margherita
Krischanitz, Balthasar Burkhard, Hannah Villiger und Thomas Ruff, mit einem Text von
Theodora Vischer. Hg. v. Bundesamt für Kultur. Baden 1991.
Wang, Wilfried: Un’ architettura die silenziose articolazioni. Sull’opera di Peter Zumthor /
An architecture of silent articulations. On the work of Peter Zumthor, in: Ottagono 97, 1990
(Domestico/Antidomestico), S. 48–80.
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Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern
Thomas Forrer ist seit 2011 Oberassistent am Seminar für Kulturwissenschaften und Wissen-
schaftsforschung der Universität Luzern. Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, der Philosophie und der Politikwissenschaft in Zürich, Leipzig und Berlin. 2005–2011
wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich, wo er promoviert
wurde mit der Arbeit: Schauplatz/Landschaft – Orte der Genese von Wissenschaften und
Künsten um 1750. Lehraufträge an der Zürcher Hochschule der Künste und im MA-Studienprogramm Kulturanalyse an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte bilden die
Literatur- und Wissensgeschichte des 18. Jahrhunderts sowie Kulturtheorie und Literatur um
1900, besonders die Konstellation von moderner Lyrik und Lebensreformbewegungen.
Barbara König ist Ordinaria und Institutsdirektorin am Institut für Evolutionsbiologie und Um-
weltwissenschaften an der Universität Zürich. Sie hat 1985 an der Universität Konstanz dissertiert, war bis 1988 als Postdoc an der Universität Basel und anschließend als Hochschulassistentin
an der Universität Würzburg tätig, wo sie sich 1996 habilitierte. Seit 1996 forscht und arbeitet
sie an der Universität Zürich, bis 2012 als Extraordinaria. Königs Forschungsschwerpunkte sind
die Evolution und die genetischen Grundlagen von Kooperation und Sozialpartnerwahl. Für
neuere Zusammenfassungen siehe: Non-offspring nursing in mammals. General implications
from a case study on house mice, in: Cooperation in Primates and Humans. Mechanisms and
Evolution. Hg. von Peter M. Kappeler u.a. Berlin 2006; gemeinsam mit Anna K. Lindholm: The
complex social environment of female house mice (Mus domesticus), in: Evolution in Our
Neighbourhood. The House Mouse as a Model in Evolutionary Research. Hg. von Milos
Macholan u.a. Cambridge 2012.
Andrea Krauß ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Johns Hopkins University
Baltimore, USA . Nach der Promotion an der Freien Universität Berlin war sie u.a. wissenschaftliche Assistentin in Erfurt und Zürich, wo sie sich 2010 mit einer Arbeit über Jakob Michael
Reinhold Lenz habilitierte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Literatur und
Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Literaturtheorie und Methodologie. Ihr aktuelles Buchprojekt
befasst sich mit Schnittstellen zwischen Literatur und Hermeneutik um 1800. Als Buchpublikationen liegen vor: Zerbrechende Tradierung. Zu Kontexten des Schauspiels »IchundIch« von
Else Lasker-Schüler (2002); Lenz unter anderem. Aspekte einer Theorie der Konstellation (2011).
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Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern
Gesine Krüger ist seit 2003 Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Sie
studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Hannover und Kapstadt, wo sie auch die literaturwissenschaftlichen Seminare von Peter Horn besuchte. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift
Historische Anthropologie und war langjähriges Redaktionsmitglied der WerkstattGeschichte.
Ihre besonderen Interessen gelten der Kolonialfotografie, der Restitution von Knochen und der
Tiergeschichte sowie der Katastrophenmedizin. Sie hat ein Buch über Tarzan gemeinsam mit
Marianne Sommer und Ruth Mayer veröffentlicht. 2008/09 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und hat dort über die Themen Fotografie, Schrift und Trauer gearbeitet.
Helmut Lethen, Studium in Bonn, Amsterdam und Berlin, Promotion an der FU Berlin 1970,
Redakteur der ALTERNATIVE 1966 bis 1969, 1977 bis 1995 Associate Professor an der
Universiteit Utrecht, 1995 bis 2004 Professur an der Universität Rostock, ab 2007 Direktor
des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Forschungsschwerpunkte: Historische Avantgarden, Philosophische Anthropologie. Wichtige Publikationen:
Verhaltenslehren der Kälte, Frankfurt a. M. 1994; Sound der Väter, Berlin 2006; Suche nach
dem Handorakel, Göttingen 2012.
Angelika Linke ist seit 2000 Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Uni-
versität Zürich sowie ständige Gastprofessorin an der Universität Linköping, Schweden. 2005
hat sie eine Gastprofessur an der Washington University in St. Louis wahrgenommen, 2009/10
war sie als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die
Kommunikationsgeschichte der Neuzeit, kulturanalytische Linguistik, Kulturgeschichte der
Körpersemiotik sowie historische Sozio- und Textlinguistik. Neuere Publikationen: Körperkonfigurationen: Die Sitzgruppe. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Gespräch, Körpern
und Raum, in: Historische Pragmatik. Hg. von Peter Ernst. Berlin 2012; Signifikante Muster –
Perspektiven einer kulturanalytischen Linguistik, in: Begegnungen. Hg. von Elisabeth Wåghäll
Nivre u.a. Stockholm 2011.
Philipp Sarasin, geb. 1956, ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der
Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, und Gründungsmitglied des Zentrums »Geschichte des Wissens« der ETH und der Universität Zürich. Arbeitsgebiete: Geschichte des Wissens, Geschichte des Kalten Krieges, Theorie der Geschichtswissenschaft, Stadtgeschichte, Körper- und Sexualitätsgeschichte. Wichtigste Publikationen: Evolution.
Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010 (hg., zusammen mit Marianne Sommer);
Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M.
2009; Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920, Frankfurt a. M. 2007 (hg., zusammen mit S. Berger et al.); Michel Foucault zur Einführung, Hamburg
2005; »Anthrax«. Bioterror als Phantasma, Frankfurt a. M. 2004; Geschichtswissenschaft
und Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2003; Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers
1765–1914, Frankfurt a. M. 2001.
Jakob Tanner, seit 1997 Professor für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der
Universität Zürich. Forschungsaufenthalte in Paris (MSH, EHESS) und London (LSE ); 2001/02
Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2004–2009 Fellow am Collegium Helveticum (ETH
Zürich / Universität Zürich); 2004 Gründungsmitglied des »Zentrums für Geschichte des Wissens« (ETH Zürich / Universität Zürich); 2011 Fellow am FRIAS Freiburg i. B. Arbeitsschwerpunkte: international vergleichende Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Geschichte der Schweiz,
Wissenschafts-, Medizin- und Körpergeschichte. (Mit-)Herausgeber der Zeitschriften Historische
Anthropologie und Gesnerus. Veröffentlichungen und Forschungsprojekte unter: http://www.
fsw.uzh.ch/personenaz/lehrstuhltanner/tanner/publikationen.html
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Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern
Ingrid Tomkowiak studierte Germanistik, Anglistik und Volkskunde in Freiburg i. Br., Stirling
und Göttingen. 1987 erfolgte die Promotion an der Universität Hamburg, 2001 die Habilitation
an der Universität Zürich, wo sie seit 1997 am Institut für Populäre Kulturen lehrt und forscht,
seit 2012 als Professorin für Populäre Literaturen und Medien mit dem Schwerpunkt Kinder- und
Jugendmedien. Seit 2010 ist sie Vorsitzende der Geschäftsleitung am Schweizerischen Institut für
Kinder- und Jugendmedien SIKJM , Assoziiertes Institut der Universität Zürich. Ihr Forschungsinteresse gilt der Analyse populär-kultureller Phänomene, darunter Bestseller und Blockbuster
im All-Age-Segment, z.B. »You will not like me«. Zur Feststellung ästhetischer Mehrdeutigkeit
bei Johnny Depp, in: Die Zweideutigkeit der Unterhaltung. Zugangsweisen zur Populären
Kultur. Hg. von Udo Göttlich u.a. Köln 2009; »Wenn Dan Brown eine Sekte wäre – würde ich
beitreten!« Zur politischen Relevanz von Verschwörungsromanen, in: Unterhaltungsrepublik
Deutschland. Medien, Politik und Entertainment. Hg. von Andreas Dörner u.a. Bonn 2012.
Philip Ursprung, geb. 1963 in Baltimore, MD, ist seit 2011 Professor für Kunst- und Architek-
turgeschichte an der ETH Zürich. Er studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik
in Genf, Wien und Berlin, wurde an der FU Berlin promoviert und habilitierte sich an der ETH
Zürich. Er lehrte u.a. an der HdK Berlin, der Universität Zürich, der Columbia University New
York und dem Barcelona Institute of Architecture und war Gastkurator am Museum für Gegenwartskunst in Basel und dem Canadian Center for Architecture in Montreal. Er ist Herausgeber
von Herzog & de Meuron: Naturgeschichte (2002) und Autor von Grenzen der Kunst: Allan
Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art (2003). Zuletzt erschien Die
Kunst der Gegenwart: 1960 bis heute (2010).
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