Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte
Band
Seite
Stuttgart 1996
NNU
65(1)
195-222
Konrad Theiss Verlag
V. Kazakevicius/R. Sidrys, Archaeologica Baltica. - Institute of Lithuanian History; Vilnius, Lithuania. Vilni
us: Alma littera 1995. 198 Seiten mit 62 Abbildungen, 9 Tabellen und 13 Karten. Ganzleinen. ISBN 9986-02116-2.
Die archäologischen Kulturen des Baltikums erscheinen uns fremd und exotisch. Nur gelegentlich werden diese
Materialien für übergeordnete Untersuchungen genutzt und interpretiert (z. B. Kazanski, Germania 70, 1992,
70-122). Hierfür lassen sich verschiedene Gründe finden: So ist die deutsche Archäologie in diesem Raum tra
ditionell auf das ehemalige Ostpreußen konzentriert. Wichtiger ist jedoch die Tatsache, daß über viele Jahre hin
Neufunde aus dem Bereich des Baltikums in baltischen oder russischen Publikationen vorgelegt wurden, die nur
von ganz wenigen sprachlich bewältigt werden konnten.
Dieses Manko wollen die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes bewußt ausgleichen: Alle Beiträge sind
auf deutsch oder englisch verfaßt. So wird für Interessierte ein archäologisches Fundmaterial in Ausschnitten er
schlossen, daß in seiner Bedeutung für die mitteleuropäische Vor- und Frühgeschichte vielfach unterschätzt wird.
Die insgesamt 15 Beiträge des Bandes erstrecken sich vom Neolithikum und der Bronzezeit (sechs Beiträge) bis
hin zur römischen Kaiserzeit und dem Mittelalter (acht Beiträge). Mit dem letzten Abschnitt wird ein litauisch
englisches Glossarium zu archäologischen Fachausdrücken vorgelegt. Im folgenden soll nur eine Auswahl von
Beiträgen kurz besprochen werden.
R. Rimantiene eröffnet die Reihe der Beiträge mit einem Aufsatz über den frühneolithischen Aalstecher aus
Sventoji. Das interessante Stück, das durch l4C-Datierung in das 4. Jahrtausend vor Chr. datiert werden kann,
gehört zu den ganz wenigen annähernd vollständig erhaltenen Exemplaren (vgl. auch Meurers-Balke, Offa 38,
1981, S. 131-151). Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß entsprechende Fanggeräte aus mitteleuropäischem
Zusammenhang vor einigen Jahren als Wurfhölzer interpretiert wurden (Capelle, Bonner Jahrbücher 182, 1982,
277 ff.).
Für die anthroplogische Forschung war das Baltikum schon immer ein besonders interessantes Feld, scheinen die
ethnischen Verhältnisse in diesem Raum doch über viele Jahrtausende stabil. Auf einen Einzelaspekt dieses For
schungszweigs geht R. Jankauskas in einem Beitrag über traumatische Läsionen bei dem relativ begrenzten neolithischem Skelettmaterial ein. Sog. „Parierfrakturen“, aber auch andere Verletzungstypen zeigen, daß die neolithischen Gemeinschaften Litauens, wie auch die Mitteleuropas (z. B. Talheim, Kr. Heilbronn; Wahl/König,
Fundberichte aus Baden-Württemberg 12, 1987, 65-193), häufigen Konfliktsituationen ausgesetzt waren.
J. Stankus stellt in seinem Beitrag das Pectoral aus dem Grab 74 von Banduziai (Distr. Klaipeda) vor, das sich
durch Nadeln mit blauen Glaseinlagen, in opus interasile gearbeitete Zierplatten und feingliedrige Zwischenket
ten auszeichnet. Das reiche Ensemble wird in Bild und Zeichnung vorgelegt, dazu kommt eine Skizze mit der ex
akten Fundlage. Entsprechende Brustgehänge müssen sicher als Beigaben reicher Frauenbestattungen interpre
tiert werden. Die Nadeln (Beckmann Gruppe O; B. Beckmann, Saalburg-Jahrbuch 26, 1969, 109) bestehen aus
einer runden Grundplatte mit außen angesetzten Rundein sowie einem zentralen tutulusförmigen Aufsatz, in des
sen Mitte sich eine blaue Glaseinlage befindet. Es ist bemerkenswert, daß auch die Tutulusfibeln aus Haßleben
Grab 8 (W. Schulz, Das Fürstengrab von Hassleben. Berlin/Leipzig 1933, Taf. 6) eine ganz ähnliche Anord
nung der einzelnen Konstruktionselemente aufweisen. Ob sich hier Beziehungen zwischen dem baltischen Kul
turkreis und den mitteldeutschen Skelettgräbern vom Typ Haßleben/Leuna nachweisen lassen, muß zunächst of
fenbleiben.
L. Vaitkunskiene beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Entwicklung militärischer Eliten im 5. und 6. Jahr
hundert n. Chr. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung sind die Kriegergräber aus Pagrybis, einem Gräberfeld mit
insgesamt 217 ausgegrabenen Bestattungen. Bemerkenswert ist zunächst die Tatsache, daß Frauen und Männer
auf diesem Platz jeweils in unterschiedlicher Orientierung beigesetzt wurden: die Frauen mit dem Kopf in südli
cher Richtung, die Männer in nördlicher Richtung. Bei den Waffengräbern können unterschiedliche Ausstattungs
muster erkannt werden. Dabei heben sich die Gruppen 1 und 2 nach L. Vaitkunskiene mit reicheren Waffenaus
rüstungen und der Beigabe von Pferden oder Pferdegeschirren deutlich von ärmeren Waffengräbern ab. Sicherlich
sind hier Rangunterschiede erkennbar, die auf ein differenziertes hierarchisches System schließen lassen. Die in
einzelnen litauischen Kriegergräbern beigegebenen Trinkhörner mit zoomorphen Ornamenten, die deutliche Be
züge zu skandinavischen Stücken aufweisen, werden von L. Vaitkunskiene als einheimische Produkte interpre
tiert. Nach Auffassung des Rez. könnten diese Stücke auf intensive Kontakte zwischen den skandinavischen und
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baltischen Kriegereliten hindeuten (zu den Kontaktlinien im Bereich der südlichen Ostsee im 5. und 6. Jahrh. vgl.
A. Bitner-Wröblewska, Fornvännen 86, 1991, 225 ff.).
Eine besondere Gräbergruppe stellen die estnischen Tarand- und Steinkistengräber dar, die von V. Lang unter
dem Gesichtspunkt sozialhistorischer Interpretationsmodelle diskutiert werden. Es handelt sich dabei um Nekro
polen, die aus Steingebäuden bzw. unterirdischen Steinkisten bestanden, von denen gelegentlich mehrere neben
einander aufgereiht waren (z. B. Jäbara). In diesen Anlagen wurde kollektiv insbesondere in der römischen Kai
serzeit bestattet (Brand- und Körpergräber), so daß hier geschlossene Inventare nicht eindeutig identifiziert wer
den können. Bislang wurden die Tarand- und Steinkistengräber als die Grabstätten von Großfamilien interpre
tiert, wobei in den einzelnen Anlagen jeweils eine Kleinfamilie beisetzte. Anhand eines quantitativen Vergleichs
versucht V. Lang eine Neuinterpretation. Er zeigt anhand einiger Tabellen, daß das Bild hier sicherlich weiter dif
ferenziert werden muß. So sind im Tarand von Viimisi, für den eine anthropologische Untersuchung vorliegt, nur
zwei Kinder gegenüber 30 Erwachsenen bestimmbar. Damit wurden sicherlich nicht alle Angehörigen der hier be
stattenden Gemeinschaft auch in diesem Tarand beigesetzt. Zudem kann V. Lang zeigen, daß nur die Anzahl aller
in den nebeneinander hegenden Tarand- oder Steinkistengräber bestatteten Toten auf ein stabiles überlebensfä
higes Kollektiv schließen läßt. Der Autor kommt so zu dem Ergebnis, daß eine Rekonstruktion der Gesellschafts
struktur auf der Basis der methodisch problematischen Tarand- und Steinkistengräber nur eingeschränkt möglich
ist. Es deutet sich an, daß diese Nekropolen nur von einer einzigen Hausgenossenschaft oder einem Gehöft, nicht
aber von Großfamilien, belegt wurden.
Eine etwas ausführlichere Bearbeitung (evtl, mit einer Übersichtstabelle) wäre den römischen Münzen in den Grä
berfeldern Litauens zu wünschen gewesen, die von M. Michelbertas in einem kurz, teilweise widersprüchlichen
Beitrag zusammen gefaßt werden. Römische Münzen hegen aus insgesamt 150 litauischen Gräbern vor; wie auch
in Ostpreußen (vgl. W. Nowakowski, Das Samland in der römischen Kaiserzeit und seine Verbindungen mit dem
römischen Reich und der barbarischen Welt. Marburg 1996) sind dies überwiegend bronzene Stücke. Bei den äl
testen handelt es sich um Prägungen des Nero (54-68), zu den jüngsten zählen solche des Trebonianus Gallus
(251-253). M. Michelbertas konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Lage der Münzen in den Gräbern und
versucht so, deren Charakter (Geldmünze, Gebrauchsgegenstand, Schmuck, Charonspfennig) zu beschreiben.
Den Ursprung dieser Beigabensitte leitet M. Michelbertas aus dem Mitteldonauraum ab, mit dem die baltischen
Kulturen schon seit dem 1. nachchristlichen Jahrhundert in engem Kontakt gestanden hätten.
Mit der Archaeologia Baltica ist den Autoren und den Herausgebern ein interessanter Einblick in die aktuellen
Forschungstendenzen der baltischen Archäologie gelungen, der sicherlich nicht vollständig sein konnte. Zugleich
dokumentiert dieser Band aber auch die Probleme, mit denen die baltischen Kollegen konfrontiert sind. So fehlen
umfassende monographische Bearbeitungen wichtiger Gräberfelder (z. B. Dauglaukis oder aber die Tarandgräber
von Jäbara; eine Ausnahme V. Kazakevicius, Plinkaigalio Kapinynas. Lietuvos Arch. 10. Vilnius 1993). Zum an
deren zeigen die Verbreitungskarten dieses Bandes aber auch eine gewisse Beschränkung auf die heutigen Gren
zen der baltischen Staaten. Ein umfassendes Bild von der Archäologie dieser so wichtigen Region und deren In
tegration in ein gesamteuropäisches Modell vorgeschichtlicher Entwicklung wird aber nur in überregional ausge
richteten Vergleichsstudien möglich sein.
Anschrift des Rezensenten:
Dr. Claus von Carnap-Bornheim
Vorgeschichtliches Seminar der Philipps-Universität Marburg
Biegenstr. 11
D-35032 Marburg
Festschrift für Otto-Herman Frey zum 65. Geburtstag. Hrsg, von Claus Dobiat. Red.: Dirk Vorlauf. Marburger Studien zur Vor- und Frühgeschichte, Bd. 16. Marburg: Hitzeroth, 1994 und Marburg: Joh. Aug. Koch
1994. 715 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Gebunden 260,- DM. ISBN 3-89398-159-4 und 3-89616-157-1.
Mit der Festschrift für O.-H. Frey liegt ein umfangreiches Opus vor. Die Liste der 143 Gratulanten, die große
Zahl der abgeschlossenen Hochschularbeiten, für die der Jubilar als Mentor zeichnet, dessen vielfältiges Schrif
tenverzeichnis und die Aufzählung seiner Mitgliedschaften in unterschiedlichen wissenschaftlichen Gremien legen
Zeugnis davon ab, daß mit dem Jubilar eine Persönlichkeit geehrt wird, die in der Forschung einen festen Platz
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