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Unheimliche Identitätsverstümmelungen

Ich-Eklipsen

4. Unheimliche Identitätsverstümmelungen Erotische Entgrenzung und Automatenmensch in Amims "Melück Maria Blainville" • Weggezaubertes Herz, weggetauschter Schatten, verschenktes Spiegelbild: Identität ohne 'solide' Konsistenz in Amims "Melück Maria Blainville", Chamissos "Schlemihl", Hoffmanns "Verlomem Spiegelbilde" Eine der häufigsten Situationen, in denen es in der Literatur zu Doppelgängerbegegnungen kommt, ist die Reise. Wenn in den "Elixieren" erstmals der Doppelgänger auftritt, hat Medardus das Kloster schon verlassen und wandert durch eine fremde Felsenlandschaft. Deodatus Schwendy in den "Doppeltgängern" ist gerade erst in der ihm unbekannten Kleinstadt Hohenflüh angekommen, als schon die Doppelgänger- verwirrungen einsetzen. Schoppe bildet seine Doppelgängerphobie auf seinen unsteten Reisen aus. Es besteht offensichtlich ein psychologischer Zusammenhang zwischen dem Abenteuer des Reisens und der Doppelgängererfahrung. Unter fremden Menschen, in einer unvertrauten Landschaft, in einem anonymen Hotelzimmer, dann also, wenn "alle Fäden, die mich sonst an bestimmte Lebensverhältnisse banden, [... ] zerschnitten [sind] und daher kein Halt für mich zu finden"l ist (Medardus in einer Reflexion über seine Befindlichkeit als Reisender), in solcher Situation öffnen sich die scheinbar festen Grenzen des Ich. Medardus empfindet das spontan; sobald er die heimatlichen Klostermauern hinter sich gelassen hat, scheint er sich "selbst ein andrer,,2. Noch fühlt er sich dabei nur von "neuerweckten Kräften beseelt und begeistert"; im ersten Freiheitsrausch des Reisens ahnt er nicht, daß ihm die mit dem Ortswechsel verbundene Lockerung von Identität gefährlich werden kann. Aber schon wenige Tage später trifft er auf den Doppelgänger, der so verstörend eine fremde Identität lHoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 86. 2Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 43. 77 C. Forderer, Ich-Eklipsen © Springer-Verlag GmbH Deutschland 1999 in sein Ich mischen wird. Es wird Medardus ergehen wie auch anderen Reisenden der Literatur: derselbe Prozeß, der als Entgrenzung begann, ändert plötzlich die Richtung und zieht eine neue Grenze, die nun durch das Ich selbst geht: das Ich spaltet sich. Die Reiseerfahrung bildet so die modeme Emanzipationsgeschichte ab: das neuzeitliche Ich, aus dem engen Kreis, den die feudalistische und theologische Ordnung zog, herausgetreten, bezahlt die neuerrungene Freiheit mit Fragilität. Auch in Ludwig Achim von Arnims Erzählung "Melück Maria Blainville, Die Hausprophetin aus Arabien" (1812) ist der Protagonist Graf Saintree ein Reisender: vom Hof verbannt und so der "Glanzatmosphäre" seines Lebens beraubt, reist er zu seiner Zerstreuung nach Marseille. Während Medardus von Anfang an den Vorsatz hat, auf seiner Reise die Mönchskleidung abzulegen, beginnt Saintree sein Leben als Reisender damit, daß er sein Zivilkostüm zu einer Art Kutte umwidmet: er trägt immer denselben Seidenrock, auf den beim Abschied die Tränen seiner Braut Mathilde gefallen waren, und wappnet sich so wie mit einem Fetisch gegen die Risiken des ungebundenen Reisens. Die Zwanghaftigkeit solchen Verhaltens läßt auf innere Unstabilität schließen und so passiert es auch bald, daß er sich von der rätselhaften Araberin Melück in ein Liebesabenteuer ziehen läßt. Die Untreue, gerade erst sich anbahnend, führt zur unheimlichen Belebung einer harmlos scheinenden Kleiderpuppe, der Saintree den fetischisierten Rock übergezogen hat: sie verschränkt augenblicklich so fest ihre Arme, daß es unmöglich ist, den Rock wieder abzunehmen. Saintree muß sich in Melücks Schlafzimmer verstecken, bis Ersatz beschafft ist, was mit seiner Verführung endet. Bald darauf nimmt die Puppe, die auch später den Rock nicht mehr herausgibt, die Gesichtszüge des Grafen an: sie ist zu seinem Doppelgänger geworden. Wie schon in Hoffmanns "Elixieren" verweist der Doppelgänger auf die begrenzte Reichweite der Fähigkeit, sich selbst zu steuern. Das eigene Willenszentrum scheint im entscheidenden Moment nicht die wichtigste Triebfeder des eigenen Verhaltens zu sein: das andere Ich, der Doppel78 gänger, auf den Saintree keinen Einfluß haben kann, ist längst schon ergriffen vom verführerischen Bann, der von Melück ausgeht, und stößt gewissermaßen mit der mechanischen Kraft seiner Gliederarme den zurückhaltenden Saintree über die tabuisierte Schlafzimmerschwelle. Der Doppelgänger in Arnims kurzer Erzählung hat einen Aspekt, der prägnant die Löschung von Selbstbestimmung, die über Saintree gekommen zu scheint, markiert: er erinnert an solche 'Automatenmenschen', wie sie durch den erwähnten 'schachspielenden Türken' des Wolfgang von Kernpelen und ähnliche mechanische Simulakren allgemein bekannt waren. Sowohl als Metapher als auch in realer Gestalt war der 'Automatenmensch' ein wichtiges literarisches Motiv in der Romantik: er fungierte als Gegenbild zum freien, autonomen Menschen, der sich durch die Spontaneität des Geistes selber lenkt. Wenn Medardus beispielsweise erkennt, daß sein Freiheitsgefühl eine Illusion ist und er in Wirklichkeit 'dunklen Mächten' unterworfen ist, beschreibt er sich in der Metapher des "Spielwerks"3. Naheliegenderweise verbindet sich das Automatenmotiv häufig mit der GeHihrdung durch eine neue rationalistische Ordnung, in der - wie es in der von Brentano und Görres gemeinsam geschriebenen Erzählung "Wunderbare Geschichte von Bogs dem Uhrmacher" (1807) heißt - das Leben die "Gestalt einer wohleingerichteten Uhr" angenommen zu haben scheint und jeder, "der ihren Ketten und Rädern sich nicht drehend anschließt, gekettet und gerädert wird,,4. Auf modeme Entfremdungserfahrungen vorausverweisend beschreibt Hoffmann in der Erzählung "Die Automate", warum Automaten wie die damals beliebten künstlichen Flötenspieler etwas Irritierendes haben können: das Streben der Mechaniker, so bemerkt einer der Protagonisten der Erzählung, Menschliches durch mechanische Mittel zu ersetzen, sei ein "erklärter Krieg gegen das geistige Prinzip"s. Am eindrucksvollsten hat Hoffmann das Thema des Automaten3Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 123. 4Brentano / Görres, Wunderbare Geschichte von Bogs dem Uhrmacher, S. 877. 5Hoffmann, Die Automate, S. 104. 79 menschen im "Sandmann" behandelt. Der Automatenmensch steht in dieser Erzählung nicht einfach für eine Gefährdung des "geistigen Prinzips" durch eine neue, rationalistische Ordnung, sondern wird zur Metapher für einen Zustand psychischer Erkrankung. Er repräsentiert die schizoide Verfassung einer Subjektivität, die in ihrer übertriebenen Selbstbezogenheit nur noch ihren Obsessionen folgt und so erstarrt ist. Wenn Nathanael mit der Puppe Olimpia tanzt, läßt er sich von seiner eigenen Imaginationsfähigkeit, die er nicht mehr kontrolliert, im Kreis drehen. Arnims Erzählung ist weniger komplex als Hoffmanns Geschichte von der Selbstgefangennahme des Ich und vom schizoiden Umschlag von 'Autonomie in Automatie,6. Aber auch in seiner Erzählung akzentuiert das Automatenmotiv, daß Saintree in gewisser Hinsicht ein selbsttätig laufendes Uhrwerk geworden ist: Saintree, vom Zauber morgenländisch-erotischer Reize in seiner Triebhaftigkeit erregt, scheint psychisch nur noch wie ein Mechanismus zu funktionieren. Gerade bei einer Persönlichkeit, die wie Saintree sich durch einen ostentativen Kult um die feme Geliebte sicher in ihrer Treue befestigt glaubt, kann der Durchbruch sexueller Regungen leicht den Anschein eines fremden Einflusses haben. Saintree versteht wie so viele Protagonisten der Literatur des 19. Jahrhunderts Identität selektiv: Sexualität gehört nur zur Peripherie, nicht zur engeren Zone des Selbst. Er bereitet selbst vor, daß seine Triebnatur ihm in der Gestalt eines unheimlichen Anderen entgegentritt, wenn er seine sexuellen Impulse einer niedrigen Bodenlage zuordnet, von der kein Einfluß in sein eigentliches Leben, das er auf hoher Kammlage mit Mathilde zu führen plant, heraufdringen kann: "Er behauptete, die ganze Welt sei von zweierlei Liebe besessen, unbeschadet der höheren, glaubte er sich der Araberin in dem niederen Sinne ergeben zu können, wenn es Mathilde nur verschwiegen bliebe, und dies wurde seine einzige Sorge.,,7 Im Gesamtkontext der Erzählung ist es aber nicht eigentlich die Sexualität, die Saintree sich selbst entführt und auf ein Terrain geraten läßt, 6Schmidt, Die Krise der romantischen Subjektivität, S. 365. 7Arnim, Melück Maria Blainville, S. 640. 80 wo er nicht er selbst zu sein scheint. Der Doppelgänger, der nur anfangs, wenn Saintree im Innern der Gliederpuppe einen Mechanismus vermutet, ein Automat zu sein scheint, in Wirklichkeit aber der Sagenwelt der belebten Statuen angehört, ist hauptsächlich ein Element, durch das der Bereich des Magischen in Saintrees Leben einbricht. Wie in den "Elixieren" ist auch in Amims Erzählung der Mensch nicht freies Subjekt, das souverän sein Schicksal bestimmt, sondern ein Wesen im Fadenkreuz dämonischer Mächte, die direkt in ihn hineinregieren und seine Existenz manipulieren. Nicht zufällig spielt die Erzählung zur Zeit der französischen Revolution. Bei der Darstellung der Revolutionswirren suggeriert sie, daß der Glaube an die Möglichkeit, durch eine kollektive Willensanstrengung die Vernunft an die Macht zu bringen, eine törichte lllusion sei, die zu Gewalt und Zerstörung führe. Ein anderes Menschenbild als das der Aufklärung und der französischen Revolution wird evoziert. Saintrees Schicksal dient als Beispiel dafür, daß es Kräfte gibt, die unsteuerbar sind und stärker als das Vermögen, selbst sein Leben zu bestimmen. Arnim greift dabei auf ein volkstümliches Motiv zurück, wie es vielfach in Volkskunde und Ethnologie beschrieben wurde und das auf archaische Weise eine Angst um die Stabilitität der eigenen Identität bezeugt: auf die Vorstellungen, daß der Besitz eines Abbildes - als Repräsentant der Seele - Macht über die betroffene Person gibt. Saintrees Doppelgängerpuppe ist ein solches Simulakrum, dank dessen ihn die Zauberin Melück in ihrer Gewalt hat. Vermittels Bildniszauber kann sie ihm sein Herz entziehen und es in ihren Körper verpflanzen. Die Doppelgängerpuppe ermöglicht ihr, sich an Saintree, der sich von ihr gelöst hat, zu rächen: sie läßt ihn an einer mysteriösen Schwäche dahinsiechen. 8 Sein Leben kann nur gerettet werden, wenn Mathilde einwilligt, daß Melück zu ihnen zieht und als spituelle Partnerin ihre Ehe ergänzt. Saintree wird bis zum Ende keine von Melück 8psychologisch deutet das an, wie sich sehr Saintree getäuscht hat, wenn er glaubte, die Bedeutung der "niederen" Liebe bagatellisieren zu können: der Verzicht auf Melück und die Heirat mit Mathilde hat ihn im Zentrum seiner Vitalität erkranken lassen. 81 unabhängige Identität mehr zurückgewinnen. Sein Leben bleibt in magischer Symbiose mit Melücks Leben verbunden: die Kinder, die er mit Mathilde hat, tragen Melücks Gesichtszüge; er selbst stirbt gewissermaßen telepathisch im sei ben Moment, in dem Melück bei einem antiaristokratischen Progrom erstochen wird. Saintree ist sich gleich zweifach in Doppelgängerfiguren abhanden gekommen: nicht nur die Gliederpuppe, auch Melück - die Saintrees Herz und damit das Zentrum seiner Lebensfunktionen in ihrem Körper trägt - sind Figurationen, in denen er außerhalb seiner selbst existiert. In der antiaufklärerischen Tendenz der Erzählung erscheint dabei der Verlust an Eigenständigkeit des Selbst nicht nur negativ. Melück entwickelt sich, nachdem sie erst einmal in die Familie integriert ist, zur W ohltäterin Saintrees und seiner Frau: "[ ... ] das Unbegreifliche, was ihn zerstörte, hielt ihn des Lebens noch wert, es erhielt ihn,,9. Durch die Symbiose mit Melück reicht Saintree in eine 'höhere Welt' und kann sogar noch nach seinem Tod seine Frau vor einem Revolutionsgreuel beschützen. Noch einmal, wie zu Beginn von Saintrees Identitätsentgrenzung, handelt die Doppelgängerpuppe an seiner statt: sie schließt schützend die vor Panik ohnmächtige Gräfin in ihre Holzarme. Zeigte die erste Klammerbewegung des Doppelgängers an, daß Saintrees Wille von 'mechanisch' wirkenden sexuellen Impulsen okkupiert ist, so offenbart sich bei dem letzten Doppelgängerauftritt, daß Saintrees Selbst an die Gesetze der Realität nicht gebunden ist und in eine märchenhafte Wunderwelt verflochten ist. 1O Doch trotz der Verbindung mit der höheren Welt des "Unbegreiflichen", die den Figuren zuwächst, handelt die Erzählung in erster Linie von dem Arnim, Melück Maria Blainville, S. 649. JOlndem die Gliederpuppe so nicht nur die Entmächtigung Saintrees, sondern auch seine Verbundenheit mit einer höheren Wirklichkeit symbolisiert, nimmt das Puppenmotiv eine Richtung wie in Kleists Aufsatz "Über das Marionettentheater" (1810): anders als beispielsweise bei Hoffmann repräsentiert die Puppe bei Kleist nicht Entfremdung, sondern die Harmonie eines Zustandes, der vom zerstörerischen Einfluß des Bewußtseins ungestört bleibt. 9 82 Schock "gänzlicher Vernichtung" 11, der über den Grafen zunächst psychisch durch die "herzzerfressende" Zauberin und dann physisch durch das Chaos der französischen Revolution hereinbricht. Zerstörerisches dominiert. Der Doppelgänger der Erzählung ist der typische Doppelgänger von Texten, die ein gefahrdetes Selbst darstellen: ein Doppelgänger, der nicht nur verdoppelnd sich dazugesellt, sondern auch abspaltend sich davonmacht. In Arnims Erzählung gehen die beiden Grundoperationen, mit denen Doppelgänger - mal stärker auf die andere, mal stärker auf die andere Weise - dem Betroffenen zusetzen, ineinander über: da die Gliederpuppe einerseits Saintrees Züge trägt, verzweifacht sie ihn, da sie andererseits das Instrument ist, durch das ein spaltender Eingriff an ihm vorgenommen wird (ihm das Herz entrissen wird), halbiert sie ihn. Saintree erweitert sich über seinen Körper hinaus in einen Doppelgänger und er wird durch eben diesen Doppelgänger im Zentrum seines eigenen Körpers ausgehöhlt: er fühlt "eine Lücke an der Stelle [... ], wo ihm sonst ein mächtig Herz geschlagen hatte,,12. Dieses Amputationswiderfahrnis verbindet ihn mit anderen Protagonisten von Doppelgängererzählungen des Zeitraums. Das Thema der Fragilität des Ich, das die romantische Generation so stark beschäftigte, hat mehrfach in dem Phantasma Ausdruck gefunden, daß einem Menschen etwas, was zu seiner physischen Existenz fest dazu gehört, abhanden kommt. Das populärste Beispiel für dieses Phantasma gibt Adalbert von Chamissos Erzählung "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" (1814). Erneut ist es dort ein Reisender, der die Ungeschütztheit seiner Identität erfahrt: Peter Schlemihl kommt zu Beginn der Erzählung in einer ihm unbekannten Stadt an und wird sich bald in einem Zustand befinden, wo einzig ein Reisetempo, das vermittels Siebenmeilenstiefel sich weit über die technischen Möglichkeiten der Zeit hinaus beschleunigt hat, ihm das Leben erträglich macht. Chamissos Erzählung repräsentiert das Abtrennungsphantasma auf besonders eindringliche Weise: die Amputation, die 11 Arnim, 12Arnim, Melück Maria Blainville, S. 660. Melück Maria Blainville, S. 648. 83 Schlemihl widerfährt, ist trotz der scheinbaren Bedeutungslosigkeit des Verlustes so total, daß Schlemihl von nun an in der Gesamtheit seiner eigentlich intakten Körperoberfläche nur noch die bloßliegende Schnittstelle einer Verstümmelung zu sein scheint. Die Begebenheit ist bekannt: Schlemihl hat sich leichtfertig auf ein Tauschgeschäft mit dem Teufel eingelassen, der ihm gegen seinen Schatten einen unerschöpflichen Geldbeutel aushändigt. Seit Veröffentlichung der Erzählung wurde viel gerätselt, welcher Verlust mit dem Schatten symbolisch gemeint sei. Trotz des Motivs des Teufelspaktes ist es offensichtlich, daß der Schatten nicht wie mehrfach im volkstümlichen Aberglauben die Seele repräsentiert: um die Seele geht es erst später, wenn der Teufel vergeblich Schlemihl verführen will, in einem zweiten Handel den Schatten gegen die Seele zurückzutauschen. Wichtig ist nicht die Bedeutung, die sich im Schatten verbirgt, sondern die Tatsache, daß Schlemihl durch seinen Verlust das Mal eines unheimlichen Verlustes von Ganzheit trägt. Seine Schattenlosigkeit ist die Nacktheit, in der sich der modeme Mensch befindet, wenn Fremdheits- und Verlorenheitserfahrungen ihn aus seiner Eingebundenheit in eine vertraute Lebenswelt herausgedrängt haben. Chamissos Erzählung repräsentiert das Abtrennungsmotiv in Reinform: anders als in vergleichbaren Texten spielt das Abgetrennte selber im Verlauf der Erzählung praktisch keine Rolle mehr. In anderen Geschichten, die vom Trauma einer Amputation handeln, tritt das Abgetrennte als eigenständige Person auf. So macht in Gogols Erzählung "Die Nase" (1836) die verloren gegangene Nase des Beamten Kowalew als Staatsrat Karriere, und es kommt zu einer Begegnung mit dem selbständig gewordenen Organ. Chamisso konzentriert sich ganz auf die Folgen der Division, klammert die komplementären Ereignisse aus, die sich aus einer gleichzeitigen Multiplikation des Selbst ergeben könnten, und verzichtet so auf die Möglichkeit, seine Schatten-Geschichte - wie später etwa Hans Christian Andersen in "Der Schatten" (1847) - 84 zu einer Doppelgänger- erzählung· zu entwickeln. Aber auch wenn es in Chamissos Geschichte keinen Doppelgänger gibt13 , hat Schlemihl den Status eines Menschen, der vom Doppelgängertum betroffen ist 14 • Der Doppelgänger ist wie in einem Negativbild anwesend in dem fehlenden Schatten an Schlemihls Seite. Die lückenlose Helligkeit um Schlemihl macht fast noch unheimlicher als die Silhouette eines konkreten Doppelgängers sichtbar, daß ein Teil von Schlemihl anderswo ist. Schlemihl befindet sich in der paradoxen Lage, das Original eines (nahezu) niemals erscheinenden Doppelgängers zu sein. In offen einbekannter Anknüpfung an Chamissos "Peter Schlemihl" hat E.T.A. Hoffmann mit seiner "Geschichte vom verlornen Spiegelbilde" (1815) eine Erzählung geschrieben, in der ebenfalls ein Mensch das Mal einer unheimlichen Identitätsverstümmelung trägt: er reflektiert sich in keinem Spiegel. Spiegelbild und Schatten sind einander verwandte Phänomene. Auch ohne solche unheimlichen Ausfalle, wie sie Chamisso und Hoffmann beschreiben, haben beide Phänomene oft etwas Irritierendes. Sie 'verfremden': das Subjekt, gewohnt, sich von der Welt um es herum insofern zu unterscheiden, als es Kenntnis von sich nicht von außen, sondern von innen nimmt, erblickt sich plötzlich genauso wie alles Übrige als fremdes Gegenüber. Es erlebt sich in einem Aggregatzustand, der ihm wesenfremd scheint: nicht als pulsierendes Existieren, sondern als Vorhandenheit, vermischt mit der Welt der Dinge, eingelassen in eine gläserne oder wässerne Oberfläche, aufgetragen auf Stein oder Erde. Zudem scheint seine Gestalt zum Spiel unsichtbarer Kräfte geworden: der Schatten verzerrt - je nach Position der Lichtquelle - seine Proportionen grotesk, der Spiegel verdreht mit unheimlicher Präzision den gesamten Körper in die Seitenverkehrtheit. Aufgrund ihres unheimlichen Charakters haben beide Phänomene in vielen Kulturen eine magische Bedeutung und spielen in Mythen, in Sagen und in religiösen Vorstellungen eine wichtige Rolle. In 13Nur in einer Szene sieht Schlemihl den abgetrennten Schatten, Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 54f. 14Troubetzkoy, L'ombre et la difference, S. 124f. 85 einigen Religionen und im volkstümlichen Aberglauben verbinden sie sich insbesondere mit dem Glauben, daß dem Menschen eine 'Seele' innewohne, die den Tod überdauere 15 • Wegen ihrer engen Beziehung zur Seele gelten sie häufig als besonders schutzbedürftig und sind von komplizierten Tabus ('nicht auf den Schatten eines anderen treten', 'nicht um Mitternacht in den Spiegel blicken') umgeben. Das was dem Spiegel- oder Schattenbild geschieht, so glaubt man, hat Auswirkungen auf die Person selbst. In diesem Zusammenhang taucht auch schon das Motiv des Verlustes des Schattens bzw. des Spiegelbildes auf, das Chamisso und Hoffmann verwenden. Es ist ein Mythos, in dem sich die Angst vor einer totalen Deprivation äußert: derjenige, der keinen Schatten oder kein Spiegelbild hat, so setzt man voraus, hat seine Seeeie an dämonische Mächte oder an den Teufel verloren. Indem Hoffmann anders als Chamisso die Identitätserkrankung seines Protagonisten nicht im Schatten-, sondern im Spiegelbildverlust ins Bild setzt, klingt neben dem volkstümlichen Mythos für die Gefährdetheit der menschlichen Seele noch ein weiterer kultureller Bedeutungszusammenhang an. Spiegel wurden seit alters nicht nur naheliegenderweise mit Eitelkeit, sondern insbesondere auch mit Erkenntnis in Zusammenhang gebracht. In vormoderner Zeit war der Spiegel häufig eine Metapher für die Erkenntnis der Wahrheit; vom Mittelalter bis zum Pietismus beispielsweise wurde die Seele, wenn sie sich Gott zuwendet, als 'Spiegel Gottes' aufgefaßt 16• Ende des 18. Jahrhunderts vollzog sich eine Umwertung der Spiegelbedeutung. Einerseits schien nun im Kontext der idealistischen Philosophie, die sich vom Objekt weg- und auf die Erfassungsweisen des Objekts hinwandte, das Spiegeln ein zentrales Vermögen und letztlich konstitutiv für Wirklichkeit überhaupt. Es verband sich mit Freiheit: die Philosophie glaubte, das Absolute erreichen zu können, wenn sie ihrer eigenen Tätigkeit zuschaut und so nie an einem fremden Objekt eine Grenze hat. Andererseits wurde 15Rank, Der Doppelgänger, S. 135ff. 16Zum Spiegelmotiv von der Antike bis zur Romantik vgl. Ziolkowski, Disenchanted Images, S. 149ff. 86 aber der Spiegel zum Symbol einer endlosen Spiralbewegung, die niemals etwas zu greifen bekommt. Er hörte auf, für ein Rezeptorium von Wahrheit zu stehen, und symbolisiert nun eher einen Zustand, in dem der Zugang zur Wahrheit durch ein unendliches Labyrinth des Scheins verstellt ist. Wie schon die Wasserfläche im Narzißmythos bedeutet der Spiegel nun häufig trügerische Vorgaukelung eines Pseudoobjekts, die keinen Halt bietet und in der sich das Ich verliert 17 • So steht in Jean Pauls "Hesperus" der Vergleich mit dem Spiegel dafür, daß das selbstreflexive Ich niemals bei sich ankommt: "'Ich! Ich! der Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft Schauder!",18. Ich! du Spiegel im Spiegel - du Schauder im Wenn Hoffmann zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Geschichte schreibt, in der der Spiegel ein unheimliches Element ist, knüpft er auf allgemeine Weise an das verlorene Zutrauen vieler seiner Zeitgenossen an die Spiegelrelation an. Konkret geht es bei Hoffmann erneut - wie schon in Arnims und Chamissos Texten - um das Trauma, nicht 'ganz' zu sein. Der Ich-Erzähler der Erzählfolge "Die Abenteuer der Sylvesternacht" (1815), der "Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde" als Teilstück angehört, faßt das dominante Gefühl zusammen, daß das Selbst in seiner Unversehrtheit bedroht und sein Zusammenhalt nicht geWährleistet ist: "[ ... ] 'wieviel Haken hat der Teufel überall für uns eingeschlagen, [... ] woran vorbeistreifend wir etwas von unserm teuern Selbst hängen lassen".I9. Wie schon die "Elixiere" legt auch Hoffmanns Spiegelgeschichte nahe, daß im Untergrund der dämonischen Ereignisse sich ein tiefenpsychologisches Drama abspielt und so die eigene pathologische Psyche schuld daran ist, wenn sich das "teure Selbst" teilweise verloren geht und zu einem Anderen wird. In den 17Schon Ovid faßte in seiner Version der Narziß-Sage Erkenntnis, wenn sie sich auf das eigene Selbst bezieht, als gefahrlich auf: der Seher Teireisias antwortet bei ihm auf die Frage der Nymphe Liriope, ob ihr Sohn Narziß lange lebe, daß er nur dann keines frühen Todes sterbe, "wenn er sich nicht kennet" (Ovid, Metamorphosen, S. 77). 18Jean Paul, Hesperus, S. 939. '9Hoffmann, Die Abenteuer der Sylvesternacht, S. 316. 87 "Elixieren" waren es die "heimlichsten Gedanken" des Protagonisten, die als 'unheimliche' Gedanken wiederkehrten, aber nun nicht mehr ihm selbst, sondern dem Doppelgänger angehörten: die eigene Triebnatur stellte sich als fremde, also unkontoIIierbare Kraft dar, die von außen ("dämonisch") Medardus verfolgte. Eine ähnliche Depotenzierungserfahrung gestaltet die "Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde"; aber noch entmächtigender, noch verstümmelnder wirkt sich hier Gespaltenheit aus. Beschrieben die "Elixiere" die Unheimlichkeit, daß scheinbar Fremdes, nämlich auf einen Doppelgänger Projiziertes, sich in das Ich zurückzumischen versucht, so erzählt Hoffmann hier den noch trostloseren Vorgang, daß Bereiche des Ich hinter eine Wand entschwinden, die von nun an auf immer undurchlässig ist. In den "Elixieren" war der Doppelgänger zwar das aus dem Ich Verbannte, aber auch dasjenige, was zurückdrängte; in einer Szene des Romans sprang er Medardus auf den Rücken, klammerte sich hartnäckig an ihn mit den Worten: "'Hi ... Hi ... hi ... Brüderlein ... Brüderlein ... , immer, immer bin ich bei dir ... lasse dich nicht .,. lasse ... dich nicht ... Kann nicht lau ... laufen ... wie du ... mußt mich tra ... tragen (... )",.20 In der "Geschichte vom verlornen Spiegelbilde" ist die Triebnatur nicht nur fremd, sie ist jenseitig, fast tot für das eigene Selbst. Nicht mehr ein immerhin noch leiblicher Doppelgänger hält sie umschlossen, sondern ein substanzlose Schattenwesen: das eigene Spiegelbild. Die Erzählung handelt von den fatalen Folgen einer kurzzeitigen "erotischen Entgrenzung,,21. Der Protagonist Spikher ist ein Mensch, der bisher in seinem Leben erotischen Erlebnissen nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Er ist verheiratet mit einer "lieben frommen Hausfrau" und ist ihr offensichtlich mehr in der Rolle des treuen "Familienvaters" als des Liebhabers verbunden. Auch bei seiner Italienreise hält er sich inmitten des "Landes der Liebe" und umgeben von Gefährten, die sich mit "lieblichen Donnas" vergnügen, zunächst dem "losen Spiel" fern. Als "kalter, kalter Die Elixiere des Teufels, S. 226. E.T.A. Hoffmann, S. 39. 20Hoffmann, 2l Kaiser, 88 Teutscher" verfällt er erst dann der Liebe, als Guilietta, die schönste aller Kurtisanen, ihre Verführungskünste entfaltet. Damit ist eine Psychodynamik ausgelöst, die ihn aus seinem bisherigen Ich hinausdrängt: er "schien ein anderer worden,t22. Die Gefährlichkeit einer solchen Verwandlung in einen Anderen stellt sich bald heraus: solange er in Italien bleibt, ist er noch selber dieser 'Andere', aber als er dann die Heimreise antreten muß und damit die Rückkehr in die Familienvaterexistenz bevorsteht, transformiert sich dieser 'Andere' in einen Doppelgänger: Giulietta überredet ihn, ihr zwecks Fortsetzung des Liebesverhältnisses sein Spiegelbild zurückzulassen. Das Spiegelbild beginnt so eine eigenständige (Doppelgänger-) Existenz. Dieser Doppelgänger ist ziemlich eindeutig qualifizierbar: sein gesamtes Wesen besteht darin, Liebhaber Guiliettas zu sein. Das verselbständigte Spiegelbild - Guilietta nennt es den "Traum deines Ichs" - repräsentiert offenkundig Spikhers Sexualität, nachdem sie durch Guilietta entgrenzt wurde. Daß Spiegelbilder mit Sexualität (Zeugung) in Verbindung gebracht werden können, ist aus der Ethnologie bekannt23 (Jorge Luis Borges hat in einer seiner Erzählungen den Zusammenhang auf die knappe Formel gebracht, "[ ... ] die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen,,24). Auf die enge Verbindung zwischen Spikhers Sexualität und dem Spiegelbild weisen die näheren Umstände hin: Das Spiegelbild lebt weiterhin im "Land der Liebe", während Spikher wieder in sein Leben als "kalter Teutscher" zurückkehrt. Es ist der Spiegelbilddoppelgänger - und nicht Spikhers realer Körper -, der, wie in kaum verhüllender Symbolik beschrieben wird, den Sexualakt vollzieht: "[ ... ] dann ließ sie [Giulietta, c.F.] ihn los und streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus nach dem Spiegel. Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in Giuliettas Arm glitt, wie es in ihr im 22Hoffmann, Die Abenteuer der Sylvesternacht, S. 322ff. 23Rank, Der Doppelgänger, S. 139ff, S. 148f. 24Borges, Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 15. 89 seltsamen Duft verschwand. ,,25 Als Spikher später in Deutschland Giulietta wiedersieht, führt sie ihm vor, wie sein Spiegelbild unablässig um ihren schönen Körper bemüht sein darf: '''Nun bin ich da, mein Geliebter', sprach sie leise und sanft, 'aber sieh, wie getreu ich dein Spiegelbild bewahrt!' Sie zog das Tuch vom Spiegel herab, Erasmus sah mit Entzücken sein Bild der Giulietta sich anschmiegend; unabhängig von ihm selbst warf es aber keine seiner Bewegungen zurück. ,,26 Der Spiegelbildverlust steht für das Ergebnis einer Konfliktdynamik, die durch das Liebesabenteuer mit Guilietta ausgelöst wurde. Einmal entfacht, entfernt sich Spikhers Sinnlichkeit aus ihm, verirrt sich in Zonen, die Spikher nicht mehr mit ihm verbunden erscheinen können (das Spiegelbild handelt "unabhängig von seinen Bewegungen"). Der "kalte Teutsche" hat kein Selbstbild, in das die italienischen Erfahrungen als die eigenen hineinpassen könnten. Die 'Bildungsreise' über den Horizont des bisherigen Lebens hinaus läßt ihn nicht fester mit sich zusammenzuwachsen, sie spaltet ihn. Nach seinem Liebesabenteuer in Italien hat er nicht einmal mehr den äußeren Anschein personaler Ganzheit, wie ihn die bürgerliche Gesellschaft erwartet: seine Frau, da sie nicht mit einem Mann ohne Spiegelbild verheiratet sein möchte, schickt ihn in die Fremde zurück, die er von nun an ruhelos durchwandert27 • Spikher endet als einsamer Außenseiter. Sein Gesichtsausdruck ist der eines Neurasthenikers geworden, ohne Konsistenz changieren seine Züge zwischen greisenhaften und jugendlichen Zügen. Gespaltenheit findet so nicht nur in der Trennung von Körper und Spiegel25Hoffmann, Die Abenteuer der Silversternacht, S. 332. Giraud weist darauf hin, daß demgegenüber Spikher selbst offensichtlich keine sexuelle Beziehung zu Guilietta hatte; Giraud, E.T.A. Hoffmann: Die Abenteuer der Silvesternacht, S. 126. 26Hoffmann, Die Abenteuer der Silvesternacht, S. 337f. 27Hoffmanns Erzählung ist so in der Tat eine Reprise von Charnissos Schlemihl-Erzählung. Anders als Charnisso beschreibt aber Hoffmann mit dem Motiv des verlorenen Spiegelbildes mehr als eine soziale Disqualifizierung: da das verlorene Spiegelbild als Bereich der Triebnatur kenntlich ist - Schlemihls Schatten ist demgegenüber eine bloße Leerstelle - wird deutlich, wo die Bruchstelle von Identiätsganzheit zu suchen ist. Zu Parallelen und Differenzen zwischen Schlemihl und Spikher vgl. Wilpert, Der verlorene Schatten,S.57ff. 90 bild ihren Ausdruck, Spikher hat zudem Züge eines alternierenden Charakters. Das zentrale Bild der "Geschichte vom verlornen Spiegelbilde" - die Imagination der Triebsphäre als Spiegelbild-Doppelgänger, der dem Ich entschwindet und jene auf immer in die Hadeszone eines dämonischen Jenseits mit hinübernimmt - verdeutlicht drastischer noch als die MedardusNiktorin-Konstellation in den "Elixieren des Teufels" oder als die Gliederpuppe in Arnims Erzählung "Melück Maria Bainville", daß das bürgerliche Selbst Zerreißungsprozessen ausgesetzt ist, bei denen es - anders als es die Utopie souveräner Selbstentfaltung voraussah - unter Umständen wichtige Bereiche seines "teuren Selbst" verliert28 • Der Doppelgänger, der bei Arnim immerhin sogar dafür sorgt, daß Saintree Melücks Liebe kennen lernt (er gibt den fetischisierten Rock nicht mehr zurück), und der in den "Elixieren" das Ich bis in seine Todesstunde hartnäckig heimsucht, hat das Ich in der "Geschichte vom verlornen Spiegelbilde" ausgeräumt. In allen drei Erzählungen haben sich Doppelgänger geformt, weil Menschen durch ihre Psychodynamik über eine Schwelle hinausgetrieben wurden, hinter der sie sich nicht mehr als von sich selbst gesteuert bzw. als gar nicht mehr sie selber empfinden können. 28Vgl. in diesem Zusammenhang Girauds Verbindung des Spiegelbildverlustes mit Kastrationsängsten (Giraud, E.T.A. Hoffmann: Die Abenteuer der Silvestemacht, S. 137). 91