I.FilmtheorieundWissenschaftsgeschichte
I.1.VisuelleKultur,
BildwissenschaftenundBewegtbilder
IndenDiskussionenumdiemethodischeundinstitutionellePerspektivierung der Bildwissenschaften und der Visuellen Kultur wurden bis heute
BewegtbilderundaudiovisuelleMedieneheralsRandphänomenebetrachtet (eine Ausnahme: Vacche 2003). Diese Fokussierung auf den GegenstandsbereicherstauntangesichtsdesUmstands,dassMassenmedienwie
etwaFilmundFernsehenbisindieGegenwartvisuelleErinnerungskulturen auf unterschiedliche Weise schichten- und klassenspezifisch geprägt
haben. Nach dem Leitsatz der Theorie der Visuellen Kultur präformiert
VisualitätkulturellbestimmendeBedeutungenunddominiertdieMöglichkeitenhistorischerundsozialerWahrnehmung.Dochwennesdarumging,
das Gegenstandsfeld innerhalb der methodischen Beschränkungen der jeweiligenFachdisziplinenabzustecken,rücktenoftdieMedien-undMethodengrenzen überschreitenden Fragestellungen in den Hintergrund. Von
CrarywurdediemethodenkritischeFrageaufgeworfen,obnichtdasVisuellebloßein»EffektandersartigerKräfteundMachtverhältnissesei«(Crary
2002:14).NachseinerArgumentationseiVisualitäteineinderForschung
privilegierteKategorie,dieoftals»einautonomesundsichselbstbegründendes Problem verstanden worden sei« (ebd.). Demgegenüber geht es
ihm um den Nachweis, dass »das Sehen lediglich eine Schicht im Körper
darstellt, der von einer Reihe externer Techniken ergriffen, geformt und
kontrolliertwerdenkann,derjedochauchimstandeist,sicheineminstitutionellenZugriffzuentziehenundneueFormen,AffekteundIntensitäten
zu erfinden« (ebd., S.15). Den Einwand von Crary nehme ich als vorläufigen Hinweis für eine umfassendere Frage nach dem historischen StellenwertvonWahrnehmungundSubjektivierung,mitderdieHegemoniedes
Sehenszurelativierenist.BetreffenddasKinoalsMediumgeheichdavon
aus, dass das Kino wie andere Medien auch eine plurale Referentialität
impliziert und in ein Gefüge unterschiedlicher Diskursfelder zwischen
Kunst,Naturwissenschaft,Technik,UnterhaltungundÄsthetikverflochten
ist (dieser Ansatz wird in Kapitel I.5 »Mediale Dispositive und Wissensarchäologie« entlang der Analysekategorie des Dispositivs fortgeführt).
HinsichtlicheinertransdisziplinärenVerflechtunggiltesimerstenSchritt,
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IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
die Konzepte der Bildwissenschaften und der Visuellen Kultur mit den
film- und fernsehwissenschaftlichen Forschungstraditionen, die das BildTon-Verhältnis untersuchen, zu bereichern. Vieles scheint für diese Argumentation zu sprechen. So entspricht es einem faktischen Sachverhalt,
dass das Medienzeitalter des 20. Jahrhunderts vorrangig von audiovisuellenMediengeprägtwurde.DerEinwand,dassdievisuelleKommunikation
relevanteralsdieauditiveKommunikationsei,kannmitdemHinweisabgegoltenwerden,dassdamitnochnichtderAusschlussdesAuditivenaus
dem Bild-Ton-Verhältnis gerechtfertigt sein kann. Wenn davon ausgegangen wird, dass kollektive Erinnerung ein geschichtlicher und diskursiver
Prozessist,dermitdenProduktionsmittelnund-methodenmedialerVermittlung ermöglicht und verhandelt wird, dann ist es für transdisziplinär
ausgerichtete Studien unabdingbar notwendig, audiovisuelle Medien und
damit die Bild-Ton-Relation in das Zentrum ihrer Analyse zu stellen. Gegenwärtig beherrscht hingegen das Forschungsparadigma des Pictorial
Turn die Debatten der unterschiedlichsten Fachbereiche.1 Zahlreiche StudienwurdenbisheutedurchgeführtundöffentlichkeitswirksameDebatten
haben sich vermittels der von ihnen angestrengten Perspektivierung der
jungenForschungsrichtungetablierenkönnen.2Dennochwurdebisherder
FilmalsMediumunddasKinoalsInstitutioninfächerübergreifendenStudienkaumalsForschungsgegenstanderwählt.DieZweitreihungvonFilm,
Fernsehen und Video widerspricht jedoch ihrer Repräsentanz und ihrem
1. Der Begriff Pictorial Turn wurde vom Kunsttheoretiker William J. T. Mitchell
1992indiekulturwissenschaftlicheDiskussioneingeführt.DerbegriffsprägendeEssay
findetsichinüberarbeiteterFassunginMitchell(1994:11–34).
2. Für einen Überblick über das äußerst heterogene und sich transdisziplinär
ausdifferenzierende Feld der Visuellen Kultur vgl. exemplarisch Nicholas Mirzoeff
(Hg.) (1999): »The Visual Culture Reader«, London/New York: Routledge; Nicholas
Mirzoeff (1999): »An Introduction to Visual Culture«, London/New York: Routledge;
JessicaEvans/StuartHall(Hg.)(2004):»VisualCulture:TheReader«,London:Sage.
DenKonnexvonVisuellerKultur,Visualisierung,Ikonologie,Wissenschafts-undMediengeschichteuntersuchen:JonathanCrary(1990):»TechniquesoftheObserver:On
VisionandModernityintheNineteenthCentury«,Cambridge,Mass.:CambridgeUniv.
Press;PaulaA.Treichler/LisaCartwright/ConstancePenley(Hg.)(1998):»TheVisible
Woman:ImagingTechnologies,GenderandScience«,NewYork:NewYorkUniv.Press;
Caroline A. Jones/Peter Galison (Hg.) (1998): »Picturing Science, Producing Art«,
NewYork/London:Routledge;TimothyLenoir(Hg.)(1998):»InscribingScience:ScientificTextsandtheMaterialityOfCommunication«,Stanford,Calif.:StanfordUniv.
Press;Hans-JörgRheinberger/MichaelHagner/BettinaWahrig-Schmidt(Hg.)(1997):
»RäumedesWissens.Repräsentation,Codierung,Spur«,Berlin:AkademieVerlag;Michael Wetzel/Herta Wolf (Hg.) (1994): »Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten«,
München: Fink; vgl. das vom Kunsthistoriker Horst Bredekamp und Gabriele Werner
herausgegebeneundseit2003periodischerscheinendeKunsthistorischeJahrbuchfür
BildkritikmitdemHaupttitel»BildweltendesWissens«,Berlin:AkademieVerlag.
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I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Stellenwert als Massenmedien. Mit dem Isolationismus der visuellen
MedienwirddasSehenalskognitiveBlickmachtmehroderwenigerfraglos
aufgewertet, reproduziert und damit auch legitimiert – ohne heuristische
Alternativen eines Perspektivwechsels respektive eine intermediale AnreicherungdesVisuellenanbietenzukönnen.EinederzentralenThesenim
Rahmen der Bilderdebatte ist die Aussage des Kunsthistorikers Gottfried
Boehm über die Logik von Bildern, die »Sinn aus genuin bildnerischen
Mitteln« (Boehm 2004: 28) generieren. Boehm und neuere Ansätze der
BildtheorieinsistierenalsoaufderUnvergleichbarkeitvonWortundBild.
Damit trennt Boehm Bildlichkeit kategorisch von sprachlichen Verfahren
undbehauptetschließlicheine»ikonischeDifferenz«(ebd.:32),dieerder
Wahrnehmung der Bilder unter der Federführung der Kunstwissenschaft
zuordnet. Mit der Anbindung des Ikonischen an die Deutungsmacht der
Kunstwissenschaft werden entweder der Bereich der Bewegtbilder dem
Fachbereich der Kunstwissenschaft subsumiert oder Bewegtbilder per se
aus der Sphäre der Ikonologie ausgegrenzt. Der Bildtheoretiker William
J.T. Mitchell argumentiert gegenüber dem Ansatz der »ikonischen Differenz«,dassdieDifferenzvonBildundWorttheoretischnichtverallgemeinerbar ist. Für den Film trifft jedenfalls eine ikonisch begründbare Differenzierung nicht zu, da etwa die Verflechtung mit literarischen Verfahren zu
dengenuinfilmischenVerfahrenstechniken–mandenkenurandasPrinzip
derTitelgebungimVorspann–zählt.MitderEinbeziehungdesBild-TonVerhältnisses und weiterer multimedialer Verfahrensweisen als Forschungsfeld der audiovisuellen Wissenschaftskultur kann der Film als eingebundeninanderemedialeWahrnehmungenbeschriebenwerden,sodass
mitWilliamJ.T.MitchellvonderPrämisseausgegangenwerdenkann,dass
»all media are mixed media, all representations are heterogeneous« (Mitchell1994:5).WieMedienimAllgemeinenistauchderFilmkeinisoliertes Phänomen, sondern steht in einem andauernden Verweisungszusammenhang mit anderen Medien. Wissenschaftliche Filme bilden kein
abgeschlossenesGenre,nochkönnensiealseinisoliertesMediumbetrachtet werden, weil sie in komplexe Visualisierungsprozesse eingebunden
sind,dieesermöglichen,dassfilmischeBilderinterpretierbarwerden:»Ein
isolierteswissenschaftlichesBildistbedeutungslos,esbeweistnichts,sagt
nichts,zeigtnichts,eshatkeinenReferenten.«(Latour2002:67)
HistorischeReferenzbilderdefiniertderKunsthistorikerMartinHellmold
alsdiejenigenBilder,»diesichalsSymbolefüreinenhistorischenEreigniszusammenhangetablierthaben«(Hellmold1999:36).MitReferenzbildern
konzentriert sich die kunst- und kulturwissenschaftliche Lektüre auf die
ikonische Qualität des Bildes und dechiffriert gemeinsame ästhetische
Merkmale, deren Kenntnis, Verweise und Zitate oft alleine die im jeweiligen Fachbereich Beheimateten miteinander teilen. Doch das kunst- und
kulturwissenschaftliche Aufzeigen von syn- und diachronen ReferenzbildernzurSicherungdeseigenenepistemologischenHegemonie-Anspruchs
versagtda,woesdarumgeht,dasdiskursiveGeflechtderfilmischenArgu19
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
mentation zu untersuchen. Denn es muss auch die Frage beantwortet
werden, was es bedeutet, wenn Bilder absent sind, wenn Visibilität unerwünscht ist, unterdrückt und ausgeschlossen wird. Im Bereich der Toposforschung ist es hier relevant, die Gewichtung narrativer, rhetorischer
oder metaphorischer Topoi seriell zu untersuchen, um Streuungen und
AsymmetrienaufderBild-Ton-Ebeneerkennbarzumachen.
DurchseineFunktionenalsÜbertragungs-,Speicher-undVerbreitungsmediumhatFilm(undFernsehen)bisheuteeinendominantenAnteilan
der Produktions- und Rezeptionsgeschichte von Wissenschaft. Wenn also
vom Stellenwert der audiovisuellen Medien im Kontext der Konstruktion
von Wissen gesprochen werden soll, dann muss der mediale Diskurs in
seinerintermedialenBezugnahmezurKenntnisgenommenwerden.Erstin
dieser kategorischen Erweiterung des Medienbegriffs kann die Medialität
der Verwissenschaftlichung von Wissen angemessen untersucht werden.
DamiteinhergehendverlängertsichdieFragestellungnachdemepistemologischenStellenwertderLaufbilderineinetransdisziplinäreundeinekulturwissenschaftliche Forschungsperspektive. Eine kulturwissenschaftliche
PerspektivierungderWissenschaftenalsMediengeschichtegehtdavonaus,
dasserstensgeschichtlicheDiskurseengmitdemProjektdermedialenHistoriographieverknüpftsind.KollektivesErinnernistdemnachimmerauch
alseine Medien- und Wahrnehmungsgeschichte aufzufassen. Zweitensbedingt diese methodologische Erweiterung eine transdisziplinäre Verflechtung unterschiedlicher Fachdisziplinen. Filmgeschichte wird heute nicht
mehrausschließlichalsGeschichtederFilmkunstangesehen.Dennochist
auchinderneuerenFilmgeschichtsschreibungdemWissenschaftsfilmnur
geringeAufmerksamkeitzuteilgeworden.Wieauchimmer,einetransdisziplinäre Positionierung des Films im Feld der visuellen Kultur ist somit
gleichbedeutend mit seiner Dezentrierung innerhalb der Grenzen der
Filmgeschichte und -theorie als einer einheitlichen und eigenständigen
Disziplin. Mit der medienarchäologischen Fragestellung eng verknüpft ist
daher drittens der Anspruch auf eine grundlegende Entkanonisierung der
Filmgeschichtsschreibung und der damit zusammenhängenden Erschließung von den aus der hegemonialen Historiographie ausgeschlossenen
Filmkulturen;dasistimvorliegendenKontextdieFilmkulturdesWissenschaftskinos.GleichzeitigverweistdiesedisziplinäreZwischenstellungzwischen Filmwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte auf die Ausweitung
desKulturbegriffsderCulturalStudies(Williams1958;Hall1979;Thompson
1987).
DieCulturalStudiesuntersuchendieReproduktionvonsozialerundpolitischer Identität qua Macht im Feld der Kultur. Speziell entlang der
Begriffsbestimmung von Kultur als Konfliktfeld und Kultur als einer Kategorie von Macht und Machtverhältnissen gilt es, dokumentarisierende
ModiindieFilmgeschichtsschreibungundindieFilmtheorieeinzuführen.
BisherwurdederhegemonialeFilmkanonvondenMeisterwerkenderKinogeschichtegeschrieben.DokumentarischeFormatewieetwaderForschungs20
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
filmoderderLehrfilmwurdenalskulturellwertloseAuftragswerkefürwissenschaftliche oder industrielle Zwecke geächtet und – mit wenigen
Ausnahmen–ausderGeschichtedesFilmsausgeschlossen.Indiegroßen
GeschichtendesFilmswieauchindenFilmkanonselbstsinddemzufolge
kulturelle Identitäten eingeschrieben, die auf implizite Machtverhältnisse
verweisen.KulturelleKodierungen(Identität)undSpezifikationen(wertvoll/
wertlos) subordinieren Filme und erstellen Ranglisten der bedeutenden
Meisterwerke und der nutzlosen Bastarde. Filme stehen folglich nicht in
einem gleichberechtigten Nebeneinander, sondern werden in Form von
Dominanz-undUnterordnungsverhältnisseninihregeschichtlicheundsozialeWelteingeschrieben–nämlichmitdenMittelnkulturellerKompetenz.
Forschung und Literatur zum Stellenwert der medialen Konstruktion
wissenschaftlicher Performativität haben seit den frühen 1990er Jahren
eine behutsame Adaption kultur- und bildwissenschaftlicher Methoden
vorgenommen und sukzessive werden seither audiovisuelle Medien als
»Gegenstand«, »Quelle« und »Material« der Geschichtsschreibung von
Wissenschaftthematisiert(vgl.Cartwright1995;Hediger2005/06).Davon
ausgehend,dassdieGenese,HerstellungundDistributionvonWissenein
geschichtlicher und diskursiver Prozess ist, der mit den Produktionsmitteln und -methoden medialer Vermittlung verhandelt wird, ist es also für
einefächerübergreifendeForschungunabdingbarnotwendig,audiovisuelle
Medien in die historische Analyse miteinzubeziehen. Im Rahmen dieser
Fragestellung kommt der Filmwissenschaft ein nicht unbedeutender Stellenwert zu, insofern sie selbst aus einer ausdifferenzierten Wissenschaftstradition hervorgeht und daher über Methodenvielfalt, kanonisierte
Analysebegriffe und systematisierte Theoriemodelle in der Untersuchung
vonspezifischfilmischenModi,TechnikenundVerfahrensweisenverfügt.
I.2.Medialisierung,Medienarchäologie,
Wahrnehmungsgeschichte
DieThesederMedialisierungderWissenschaftverweistaufdieaktiveRolle
derMedienbeiderProduktionvonWissen.Wissenistuntrennbarverbunden
mit medialen Repräsentationsformen. Hinsichtlich ihrer wissenschaftlichtechnischen Voraussetzungen und kulturellen Praktiken ändern sich Veranschaulichungsmethoden der Wissensrepräsentationen kontinuierlich.
Im Selbstverständnis der wissenschaftlichen Praxis sind die in Forschung
und Entwicklung zum Einsatz kommenden Medien jedoch lange Zeit als
Instrument oder Werkzeug angesehen worden. Dabei wurde generell von
einem technisch-apparativen Medienbegriff ausgegangen, mit welchem
MedienalsbehelfsmäßigeErweiterungdermenschlichenSinnesvermögen
begriffenwordensind.»Registrir-Apparate«(Marey1985:2)nanntemanim
19.JahrhundertmedialeAnordnungenundinstrumentelleMessverfahren,
durchdieBeobachtungenvonNaturphänomenenmitdenentsprechenden
21
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Beobachtungszeiten synchron aufgezeichnet wurden. Mit der Integration
desKinematographenindaswissenschaftlicheTheaterderRepräsentation
am Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch der Film als ein interesseloser
Zeuge für den Realitätsgehalt des Bildes begrüßt. Der Kinematographie
wurde als ein »Meßfilmverfahren« (vgl. Lassally 1919: 12) angesehen und
denanderenGerätenimLabor–wiedemSphygmographen,demHydrometer, dem Tachistoskop oder dem Mikroskop – gleichgesetzt (Winston
1993:41).
BegreiftmandemgegenüberdiemedialenDiskursealsBedingungder
Möglichkeit von Wissen, kann das Verhältnis von Medien und Wissenschaft auf andere Weise beschrieben werden. Die zur Verwissenschaftlichung von Wissen herangezogenen Medien sind zwar erheblich von der
verwendeten Technik abhängig, bleiben jedoch immer auch den historischen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Herstellung verhaftet: »Die Art
und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert,
dasMedium,indemsieerfolgt,–istnichtnurnatürlich,sondernauchgeschichtlich bedingt.« (Benjamin 1977: 14) Die rein technisch-apperative
Möglichkeit, Bilder als epistemische Artefakte herzustellen, ist eingebunden in eine kulturell, sozial und historisch formierte Praxis, die ihnen
einen bestimmten Stellenwert zuweist. Dabei geht es um Bedeutungszuschreibungen im Sinne der Auswahl nützlicher Bilder vor dem Hintergrund von Publikationsstrategien und persönlichen Karrierezielen. Diese
Perspektivierung der medialen Bedingtheit von Wissensherstellung kann
auch auf den Bereich der medialen Repräsentationen erweitert werden –
von»Repräsentationen«imPluralsprichtauchWilliamJ.T.Mitchell(1994:
11ff ), um damit auszudrücken, dass Repräsentationen gemischt auftreten
und etwa aus visuellen und textuellen Anteilen bestehen. In der wissenschaftlichen Praxis etabliert sich mit dem ersten Aufstellen der Kamera
und dem Kalkül der erfolgreichen Filmaufnahme ein eigenständiges mediales Setting, in welchem sich die Herstellung von Wissen und jene des
Films wechselseitig beeinflussen. Mit dem medialen Setting der Filmaufnahme werden experimentelle Versuchsanordnungen jedoch auf eine entscheidende Weise transformiert, mit ihnen wird der gesamte Wissensprozessformatiertundmodifiziert.
MitderkulturtheoretischenPerspektivierungderWissenschaftsgeschichte
orientieren sich die zentralen Problemstellungen nichtandengroßenErzählungen der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und ihrer Pioniere,
die innerhalb der Beschränkungen der Fachgrenzen tradiert werden. Vielmehr setzt man Experimentalkulturen dem ›eigentlichen‹ wissenschaftlichenKerngeschäftvoraus,diealsintra-undinterdiskursiveNetzwerkebestimmtwerdenkönnen.MitdemBegriffderExperimentalkulturkommen
historische und soziale Bedingungen der Möglichkeit in den Blick, die
maßgeblich dafür sind, dass u.a. dem Bewegtbild überhaupt ein Erkenntniswertzuerkanntwerdenkann(Latour/Woolgar1979;Gooding1990).In
ihrer Eigendynamik überformen diskursive, institutionelle und apparative
22
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Systeme wissenschaftliche Konzepte und sind maßgeblichdaranbeteiligt,
epistemische Produkte zu konstituieren (vgl. Hagner/Rheinberger 1993;
Hagner/Rheinberger/Wahrig-Schmidt 1994). Dabei ist man insbesondere
derEinwirkungunterschiedlicherExperimentalkulturenaufdieWahrnehmungundDiskursivierungdesmenschlichenKörpersnachgegangen,der
zusehends als »epistemisches Ding« (Rheinberger 2001) wahrgenommen
wird. Mit diesem Untersuchungsfeld hat sich ein neuer Blick auf die
Geschichte der Wissenschaften vom Menschen eröffnet, die sich am
Schnittpunkt von experimenteller Apparatur, Medientechnologie und BegriffdesLebensausbildet.(Vgl.Rieger2001;Rieger2002;Hahn/Person/
Pethes2002)
Um den epistemischen Status von wissenschaftlichem Wissen nicht
bloßimHinblickaufdas›Endprodukt‹unddessenKommunikationimBereichderFachdisziplinenoderinderÖffentlichkeitzuuntersuchen,istes
notwendig,denBlickaufdieTransformationsprozessedesWissenszurichten
(vgl. Latour 1990: 26). Somit kann das ›fertige Produkt‹ als rhetorisches
Element der Wissenschaftsinszenierung interpretiert werden. Davon ausgehend können die Prozeduren der Filmherstellung in der Konzeptphase
experimentellerAnordnungenindieAnalyseeinfließen.IndieserHerangehensweiseistesmöglich,denepistemischenStatusvonFilmimProzess
derForschungzuverstehenunddementsprechenddenStatusvonpräsentablen Endprodukten, wie sie in öffentlichen Ritualen vorgeführt werden,
angemesseneinschätzenzukönnen(Hagner1996:261).
BereitsimProzessderForschungistFilmalsMediumderAufzeichnung
undSpeicherungineineVielzahlwissensgenerierenderTechnikenverstrickt:
das sind etwa lokale Rahmenbedingungen, divergierende Rezeptionskontexte, inszenatorische Praktiken, Forschungstraditionen, soziale Machtbeziehungen der Forscher, narrative Elemente oder Kontingenzen, die
unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Forscher angesiedelt sind
(Rheinberger 1992: 54). Wie andere Bildmedien auch durchläuft Film in
derwissenschaftlichenKommunikationkomplexeTransformationsprozesse:
»Visualdocumentsareusedatallstagesofscientificresearch.Aseriesofrepresentationsofrenderingsisproduced,transferred,andmodifiedasresearchproceedsfrom
initialobservationtofinalpublication.Atanystageinsuchaproduction,suchrepresentationsconstitutethephysiognomyoftheobjectoftheresearch.«(Lynch1990:
154)
DieAuswahlundderAufbaueinesDrehortes,dieHerstellungdergeeigneten
ApparaturenundderKulissen,dasAufstellenderKamera,dieKonfiguration
desBildfeldes,dasArrangementderepistemischenDinge,dieKalkulation
der Abläufe, die Momente der Überraschung, die Unterbrechungen, StörfälleundPausen,dasfehlerhafteMaterial,dasEinübenunddasWiederholen der Versuche, dabei die Anwesenheit der Kamera, das Entwickeln des
Films,dieRitualederAufführungen,diePublikationsstrategien,dieArbeit
23
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
amMaterial–dieseunvollständigeListenennteinigeElementeeinerkomplexenStrategie,dieimRahmenderDurchsetzungwissenschaftlichenWissens zur Anwendung kommt. Sie sind Versatzstücke einer umfassenden
MedialisierungvonWissen.DamitbildensiedieVoraussetzungfürdieBedingung der Möglichkeit, die Genese, die Verbreitung und die Akzeptanz
vonWissen.VisuelleStrategiengehenauseinemkomplexenGeflechtvon
unbewussten Praktiken, diskursiven Strategien, technologischen Innovationen und Kontingenzen hervor und verlängern damit die Krise der Repräsentation in das Darstellungsmedium selbst. Der Film als ein Darstellungsmedium ist zwar an der Konstitution der Objekte des Wissens
beteiligt,bleibtjedocheinEffektoffenerTransformationsprozesse.
Der Befund, dass Film in der Erkenntnisgewinnung der Humanwissenschaften eine signifikante Rolle spielt, unterstreicht die Notwendigkeit,sichüberdenhistorischenKontextunddieHerstellungsweisendes
filmisch generierten Wissens klar zu werden. Wissenschaftliche Phänomene sind Strategien der Visualisierung unterworfen, die sie erst wissenschaftsfähig machen. In diesem Prozess der Herstellung ist es das
mediale Setting der Filmaufnahme, der Film als Aufzeichnungs- und
Speichermedium und die Medien wissenschaftlicher Archivierung und
Kommunikation,welchedieStrukturenderErkenntnisaufentscheidende
Weisekonstituieren.FilmischeRepräsentationensindindiesemZusammenhang ein wichtiger Bestandteil der Strategien zur Durchsetzung,
StabilisierungundLegitimationwissenschaftlichenWissens.MitderÄsthetisierung von Wissen knüpft eine wissenschaftsvermittelnde Lehrfilmdidaktik an bestimmte Sehgewohnheiten an. Bestimmte Darstellungskonventionen werden genutzt, um Erkenntnisse massenwirksam zu
kommunizieren und als maßgebliches Wissen (z.B. die Bildung eines
Kanons) durchzusetzen. Die in forschenden Realfilmaufnahmen produzierten Unsicherheiten und Unbestimmtheiten werden in der LehrfilmdidaktikinfilmischeTechnikenübersetzt,dieWissenverdichtenund
esaufeinenBlicksichtbarmachen(Tricktechnik,Blickführung).Infilmästhetischen Transformationsprozessen wird wissenschaftliches Wissen
von einem Medium in andere übertragen: Bildstatistiken visualisieren
numerische Darstellungsformen, mikroskopische Realfilmaufnahmen werdenintricktechnischenDiagrammenerfassbar.
Der Gebrauch von Film im Rahmen wissenschaftlicher Versuche gilt
im Selbstverständnis der Scientific Community als vage und heterogen. In
diesemZusammenhangsprichtmanvoneinerexperimentellenSituation,
welche opportunistische Adaptionen im Bereich der technischen Apparatur erfordert– Filmstile und Erzähltechniken finden in diesem Konnex
abernurausnahmsweiseErwähnung.DerStellenwertderkognitivenFunktion der Filmaufnahme ist bis heute mit dem Pionier-Narrativ eng verknüpft: sogenannte »Erfinder-Pioniere« bauen eigenverantwortlich und
autonom ihre bildgebenden Medien und entwickeln situativ angepasste
Verfahren der filmischen Aufzeichnung und ihrer Auswertung (vgl. Wolf
24
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
1975). Dabei wird die Argumentation der situativen und lokalspezifischen
AbhängigkeitvonForschungundEntwicklungstarkgemacht,dievon»historischenPersönlichkeiten«getragenwird(vgl.denFilmThePioneers.The
OriginsofScientificCinematographyvonVirgilioTosi,1989).
Peri- und paratextuelle Kontextualisierungen des wissenschaftlichen
FilmsdienenderSelbstverständigungderScientificCommunityundwerden
oftmitLaboraufnahmenplausibilisiert,diedasArgumentderopportunistischen Adaption technischer Apparaturen stärken sollen. Andererseits ist
die Kinematographie und der Film mit historisch und sozial bedingten
Wahrnehmungskulturen verflochten, die wiederum an der Konstruktion,
Organisation und Validierung von Wissen beteiligt sind. Sowohl der Film
als mediales Setting als auch das Kino als Schauplatz öffentlicher Aufführungenhabendazubeigetragen,eineneueKulturderVisibilitätundder
VisualisierungindiewissenschaftlichenDiskurseeinzuführenunddortzu
institutionalisieren. Damit einhergehend rücken medial hergestellte WissensformenindasZentrumeinerüberdieengerenFachgrenzenargumentierendenUntersuchung.
So unterschiedlich die diversen wissenschaftlichen Diskurse auch sind:
dieProzedurenwissenschaftlicherProduktion,KonsumtionundDistribution
von Film folgen spezifischen Regelsystemen, in denen es vereinfacht gesagt
darum geht, Verfahren bereit zu stellen, mit denen gewährleistet werden
kann, das filmische Material zu objektivieren. Oft betrachtet man, ohne die
FragenachdemmedialenSettingindenForschungsberichtzuintegrieren,
inwissenschaftlichenDiskursenFilmundVideoalsDokumente,dieeineaußerfilmische Wirklichkeit abbilden. Im wissenschaftlichen Gebrauch wird
dasfilmischeDokument–wieauchanderevisuelleBeweismitteleinerWirklichkeitaußerhalbderBilder–hauptsächlichbenutzt,um»einenbestimmten bildexternen Sachverhalt aufzuklären.« (Boehm 2001: 51) In der EvaluationwirdfilmischesMaterialgesichtetundsondiertundschließlichbinären
Kriterien zugeordnet, die – in Bezugnahme auf empirische Sachverhalte –
wahr/falschodereindeutig/unbestimmbaru.a.m.seinkönnen.
Für die Anerkennung des Dokumentarfilms als dokumentarisierendes
MedienformatwarderBezugzurWissenschaftlichkeitvonentscheidender
undzentralerWichtigkeit,denn»thecentralityofthisscientificconnection
todocumentaryisthemostpotent(andsole)legitimationforitsevidentiary
pretentions.« (Winston 1993: 41) Wissenschaftliches Kino erhält das Prädikat »sehenswert« vor allem aufgrund seines Realitäts- und Wahrheitsgehaltes;seinontologischerStatusalsAbbildderNaturwurdedabeinicht
in Frage gestellt. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Beweisführung
sollhierderNachweiserbrachtwerden,dassdieGlaubhaftigkeitdesWissens von filmischen Darstellungstechniken abhängig ist; ein Ansatz, der
sichmitKonzeptenderVisualCultureüberschneidet:»oncroitlesupposé
vérifiable du documentaire […] avec la confiance propre à l’apprentissage«
(Joly2002:156).
Hattendorf nennt die Glaubwürdigkeit der Vermittlung, das ist die
25
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
formale Gestaltung des Films als »kommunikativer Instanz« zwischen
»Autor« und »Rezipient«, als den entscheidenden Aspekt für die »authentische Wirkung eines Filmes« (Hattendorf 1999: 81f ). Demzufolge
berufen sich z.B. filmische Dokumente, die auf Wahrheitseffekte abzielen, vor allem auf die Indexikalität des fotografischen Bildes in der
KopplungmitdersynchronaufgenommenenTonspur.DieplausibleKorrespondenzvonBildundTonbildenhiereineKomponenteheuristischer
Reliabilität.DiefürdiewissenschaftlicheForschungeinenextremhohen
Stellenwert repräsentierende Prädikation »Glaubwürdigkeit« und »Zuverlässlichkeit«beantwortetaberwederproduktionskontextuelleAspekte,
noch die diskurs- und machtgeschichtlichen Strukturbeziehungen, die
den gesamten Prozess der Medialisierung von Wissen tragen. Ein zentralesMerkmalvonAuthentisierungsstrategienistdieAusblendungdes
Prozesses der Herstellung des Bildes. Der Grad an Selbstreferentialität
wird damit minimiert. Hinsichtlich ihrer Adressierungsleistung besteht
dieListauthentischerVisibilitätvoralleminihrerAugenblickshaftigkeit
und Spontaneität. Diese Merkmalszuschreibungen treffen auch auf die
Lektürepraxiszu,insofernauthentischeBilderaufschnelleVerarbeitung
abzielenunddadurcheinenKognitions-undEntscheidungsdruckaufdie
Adressatenausüben.
»Glaubwürdigkeit«und»Realismus«(vgl.Bazin1975:24)sindrelevante
Markierungen, welche die wissenschaftliche Anerkennung dem dokumentarisierendenModusdesForschungsfilmsentgegenbringt.Gänzlichandersverhalten sich die genannten Kriterien von Wissenschaftlichkeit, wenn es um
die Anerkennung didaktisch verfahrender Filme in offenen Milieus geht. Im
Lehrfilmzählenrhetorische,narrativeundmetaphorischeVerfahrenstechnikenzumpopulärenJargonwissenschaftlicherVeranschaulichungundgelten
als legitime Strategien. In Frage steht, ob die Sphärentrennung zwischen
»reiner« Wissenschaft und ihren Derivaten nicht doch durchlässiger und
wechselwirksamerist,alsmansichseitensderWissenschaftzugesteht?
Filme fixieren keinen zwangsläufigen Lektüremodus, generieren aber
durch ihre Gestaltungsweisen Lektüreanweisungen, mit denen sie den
Status ihres audiovisuellen Bild-Ton-Verhältnisses zur »außerfilmischen
Welt«verfestigenwollen.WährendBefundezurIndexikalitätundAuthentizitätlediglicheinenTatbestandbeglaubigen,setztdieFragenachdenVerfahrensweisen im Vorfeld an. Hier geht es konkret darum, die Modalitäten
dokumentarisierender Verfahren zu analysieren und in referentielle Kontexte zu versetzen (theatralischer Modus, literarischer Modus, grafischer
Modus etc.). Die Frage nach den modalen Verfahren der Beglaubigung,
Authentisierung,Objektivierungunddergl.stütztsichweitgehendaufnarratologischeAnsätze:
»DieNarratologieverfolgtalsoweitgehendeineinterneAnalyseaufderEbenedes
Textes,ihrAnliegenisteinformal-poetologisches.[…]DieseForschungsrichtungstellt
sichprimärdieFrage,wiedasNarrativeentsteht,wieTexte,alsoauchFilme,erzählen.
26
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
SiekanndieseFrageaufderEbenedersemantisch-logischenTiefenstrukturverfolgen,
indemsiedieOrganisation,denAufbauundletztlichdasSystemeinerErzählungerforscht,unabhängigvomMedium,indemsichdiesesaktualisiert.«(Tröhler2002:
25)
InderFilmtheoriewirdderunmittelbaremimetischeBezugdesFilmszur
außerfilmischenWeltoftalsassertiveAussage(oderauch:repräsentionale
Aussage) bezeichnet. Mit assertiven Aussagen wird eine Behauptung gesetzt, informiert und festgestellt. Mit diesem Aussagetypus lässt sich ein
stereotypesVerfahrenderAbsicherungvonArgumentenimRäsonnierender
Wissenschaftlerbeschreiben.ImKinodispositivdeswissenschaftlichenDiskurses wird die ontologisch-assertive Aussage mit dem »Realitätsparadigma« des fotografischen Bildes verknüpft (vgl. zur deutschsprachigen
Diskussion über das Kinodispositiv Winkler 1992). Verschwiegen wird
meist,dassessichdabeiwenigerumeinekognitveAussageüberdiefaktisch
gegebeneWirklichkeit,sondernumeinenbestimmtenStilfilmischerGestaltungsmöglichkeitenhandelt.
Der allgemeine Begriff der Indexikalität garantiert keine Annähe-
rung an eine konkrete Beschreibung der im Bild aufgezeichneten Phänomene (diese Problematik gilt gleichermaßen für den Ton). Die modalverfahrenstechnische Frage »Wie wird ein wissenschaftliches Bild gemacht
undalssolchesanerkannt?«bedarfeinerphänomenologischenSondierung
desBildes,diederprädikativeBefundderIndexikalitätoftstillschweigend
voraussetzt. Eine »dichte Beschreibung« (Geertz 2003) der wissenschaftlichenKinematographiehatabernichtdasZiel,zuallgemeinenAussagen
zu kommen, vielmehr werden Generalisierungen im Studium des Einzelfalls untersucht und problematisiert. Es geht um eine Thematisierung
filmischer Strategien wie: Schärfe und Unschärfe, Bildvordergrund und
-hintergrund, Dekonstruktion des Orientierungsraumes; um eine AuseinandersetzungmitderFrage,waseinklaresundwaseinstörendesBildist,
mit der Inszenierung wissenschaftlich relevanter Handlungen im Bildzentrum,mitderKonstruktionspezifischerHandlungsfolgen,mitderSuggestion eines raumzeitlichen Kontinuums u.a.m. In Bezugnahme auf die
»dichte Beschreibung« von Geertz können konkrete Techniken und Praktikenentziffertunddargestelltwerden–ohnedabeiaberdenverallgemeinernden Kausalitätsbezug zwischen Einzelsituation und Mentalität herzustellen.
Um wissenschaftliche Filme überhaupt als authentische und evidente
Quellewahrzunehmen,müssennichtnurihrestrukturellenEigenschaften,
sondern auch ihr Umfeld, die paratextuellen Bedingungen, glaubwürdig
sein.Daherstellen»gefährliche«ElementewieFiktionalisierungodersubjektiveStilenichtnurdenFilmalsDokument,sonderndengesamtenForschungsaufbauradikalinFrage.ÜberdieRestriktiondesobjektivierenden
ModusimwissenschaftlichenFilmbemerktOdin:
27
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
»WasdenFilmangeht,wirdmanzunächstbemerken,dassesGebietegibt,woderästhetischeundderKunst-Modusganzoffenbarnichtszusuchenhaben:etwabeider
naturwissenschaftlichenoderderangewandtenForschungoderbeiderVerwendungdes
FilmsalsDokument.IndiesenZusammenhängenfindetdieAnerkennungdesEnunziators
ineinemandereninstitutionellenRahmenstatt(naturwissenschaftlicheForschungund
PraxisoderGeschichtealsinnerhalbderInstitutionKunst,unddieaufgebotenenWerte
Objektivität,Informationsgehalt,praktischeEffizienzsindkeinesfallsästhetischerArt.)«
(Odin2002:49)
DiehierbehaupteteSphärentrennungsamtdenKunstundWissenschaft
zugehörigen Modi, Stilen und Werten ist in zweierlei Hinsicht problematisch.ErstensübernimmtOdineineidealtypischeKategorisierungdes
Films als »wissenschaftliches Produkt«, zweitens sind die Werte »Objektivität, Informationsgehalt, praktische Effizienz« jedenfalls »ästhetischer
Art«,wennwirwissenschaftlicheLehrfilmeinBetrachtziehen,indenen
standardisiertes Wissen unterhaltend, spektakularisierend und fiktionalisierendaufbereitetwird.
Zur künstlerischen Approbiation wissenschaftlicher Filme, die innerhalb der künstlerischen Praxis als found footage Verwendung finden, erwähntOdin:
»Dasbedeutetnicht,dassdieFilme,diefürdieseBereichegemachtwerden,nichtauch
unterdemästhetischenModusbetrachtetwerdenkönnen,dochdieserfordert,dass
mansieausdem›Rahmen‹(Goffman)herausnimmt,fürdensiegemachtwordensind,
wieesbeigewissenexperimentellenfoundfootage-ProduktionenderFallist.«(Ebd.)
GrundsätzlichistdieEntnahmewissenschaftlicherFilmeausihremRahmen
kein ausschließliches Privileg künstlerischer Praxis, sondern stellt eine
AnalysemethodedekonstruierenderLektüreverfahrendar,mitderetwakulturelle Kodes, die der ursprünglichen Kodifizierung entgangen sind, aufgezeigtwerdenkönnen.ImUnterschiedzuOdin,welcherderMeinungist,
dassdas»DokumentnichtnachdemKunst-Modusverlangt«(ebd.),denke
ich, dass ein weiter Begriff von Inszenierung wichtig ist, um alle möglichenFormenderWissensrepräsentationenzuanalysieren.Vorallemmuss
dieAnalyselokaleundhistorischeBedingungenderdokumentarisierenden
Filmverfahren berücksichtigen. Bezogen auf die Zeit des frühen Kinos
muss die offene und bewegliche Beziehung zwischen fiktiven und nichtfiktivenFilmengeltendgemachtwerden:
»GeradeindenerstenJahrennachder›Erfindung‹desFilmsgabeskeineinstitutionalisierte
Trennungzwischen›fiction‹und›nonfiction‹.AlleFilmewarenunabhängigvonihren
InhaltenundDarstellungsformenfürdasPublikuminteressant.«(Jung2005:224)
FernermussauchdiegängigePeriodisierungdesfrühenKinosoder»Early
Cinema«,dievon1895bis1907(KinoderAttraktionen,Anfängedesnar28
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
rativen Films) respektive bis 1917 (Konsolidierung des Erzählkinos) datiert
wird, kritisch hinterfragt werden. In diesem Kontext ist es vor allem die
feministische Filmtheorie, welche die Kategorien der hegemonialen FilmgeschichtsschreibungeinerkritischenSondierungunterzieht.Ausdrücklich
habenJenniferM.BeanundDianeNegraaufgezeigt,dasssichdieCharakterisierungdesfrühenKinoshauptsächlichaufeinwestlichesKinobezieht
und dabei osteuropäische, asiatische oder afrikanische Kinokulturen vollkommenausblendet(Bean/Negra2002:10f ).
Einen inhomogenen und vielschichtigen Stellenwert weist ebenso das
Dokumentarische selbst auf; so hat das Dokument im biologischen Film
einenanderenStellenwertalsimethnographischenFilm,deraufdieSelbstdarstellungdergefilmtenPersonenangewiesenist.IndiesemKonnexkann
erneut auf das Analyseprinzip der »dichten Beschreibung« (Geertz 2003)
rekurriertwerden,dasvermittelsderseriellenAnalyserespektivederEinzelfilmanalyse um das Aufzeigen unbeständiger Performativität und unzuverlässigen Erzählens von Wissen bemüht ist. Wissenschaftliches Erzählen
imFilmkanndemnachalselliptisch,flüchtigundwidersprüchlicherfasst
werden, es spielt mit Erwartungen der Allwissenheit und Wahrhaftigkeit
desauktorialen Erzählers (vgl. Liptay/Wolf 2005).DaskardinaleProblem,
das Odin im Umgang mit wissenschaftlichen Filmen vermittelt, ist, dass
er jedes Dokument dem Bereich Wissenschaft/angewandte Forschung zuordnet. Damit differenziert er den vielfältigen Einsatz und Gebrauch des
Filmsnicht,homogenisiertdasgesamteFelddokumentarischerÄußerungenundtradiertdieklassischeGegenüberstellungvonKunstundWissenschaft. Eine der zentralen Fragen Odins lautet paraphrasiert: »Was heißt
es, einen Film als Dokumentarfilm, Spielfilm oder Kunstwerk zu sehen?«
Üblicherweise wird darauf folgende Antwort gegeben: »Die Antworten
werden, abhängig von den jeweiligen historischen Kontexten, durchaus
unterschiedlichausfallen.«(Kessler2002:105)DieFragestellungvonOdin
setztejedochbereitsfeststehendeGenregrenzenvoraus,d.h.ersetztemit
der Frage nach dem einen Film, der entweder als Dokumentarfilm, Spielfilm oder Kunstwerk gesehen wird, stillschweigend einen Genretypus
voraus,derentwederzutrifftodernicht.
Im Unterschied zur Praxis der Verwissenschaftlichung von Bewegtbildern lohnt es sich, andere Szenarien der Deutung zu entwerfen. Dabei
gehtesnichtdarum,demjeweiligenFilmseinenRealitäts-undWahrheitsgehaltabzusprechen,sondernumdieFragenachdenjeweiligenVerfahren,
StilenundErzählweisen,mitdenen»Realität«,»Objektivität«und»Wahrheit«konstruiertwird.Diesbedeutet,dassauchnicht-fiktionale,dokumentarisierendeMedienformatedemBegriffdesErzählenssubsumiertwerden
können (zur medienspezifischen Analytik der dokumentarisierenden ErzählformsieheKapitelI.3»NarratologieundDekontextualisierung«).
Ein weiterer Aspekt der filmischen Medialisierung von Wissen ist der
Umstand, dass das auf dem Filmstreifen gespeicherte Wissen über das
engere Fachpublikum hinausgehend distribuierbar wird. Filme sorgen
29
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
demnachnichtnurfürdievielbeschworene»ErweiterungderSinne«(vgl.
Giedion1994:44;Benjamin1977:50),sondernauchfüreineWissensverknappung.VerfügbarkeitundVolatilitätvonWissensindstetsauchbegleitetvonRestriktionen,mitdenenderFilmarbeitet.Diesebeginnenmitfilmspezifischen Aufmerksamkeitssteuerungen und Konditionierungen durch
Stile und Strategien der Wissensrepräsentation.ZirkulierendeFilmkopien
machen die Idee des Originals hinfällig. Mit Schnitt und Montage gibt es
keinOriginalmehr,sondernanseinerStellemehrereVersioneneinesExperiments, die für unterschiedliche Zielgruppen montiert werden. Dies
macht die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Öffentlichkeit und Expertise, zwischen populären und szientifischen Formen
porösundosmotisch.Daswirddeutlich,wennuntersuchtwird,wieFilme
zwischen verschiedenen Wissensräumen, den Laboratorien, Archiven,
Museen und Sammlungen, Bibliotheken, sozialen Forschungsfeldern und
öffentlichenRäumenzirkulierenunddabeialsFilterderWissensrezeption
fungieren. Mit Auswahl, Verdichtung oder Ausblendung strukturieren sie
multimediale Vorstellungsräume, entwerfen Lektüreanweisungen, orientieren die Blickrichtungen und sorgen für den Takt und den Rhythmus
beim Konsumieren von Filmen. So entsteht eine neuartige, narrative Verdichtung divergierender visueller Kulturen, die teils zur Ästhetisierung des
wissenschaftlichen Bildes, teils zu konditionierenden und konditionierten
Wahrnehmungskulturenführt.
Aus der erweiterten Frage nach den medienkulturellen Verflechtungen
wissenschaftlicher Praktiken werden Themenstellungen der Medienarchäologie an das Gegenstandsfeld herangetragen. Aufgrund der Tatsache,
dassbildgebendeVerfahrenundSpeichermedienzwarheterogeneunddivergierendeGegenstandsfelderfokussieren,jedochübergreifendeMedienkompetenzen ausbilden, orientieren sich medienarchäologische Fragestellungen intermedial und transdisziplinär: »Archäologien der Gegenwart
müssenauchDatenspeicherung,-übertragungund-berechnungintechnischenMedienzurKenntnisnehmen.«(Kittler1987:429)DieProblemstellung der filmischen Verfahren, der Materialitäten und der Techniken des
Wissenschaftskinos generiert eine neue Sichtweise auf die historische DimensiondeswissenschaftlichenFilms.Eskannhiersichtbarwerden,dass
dasWissenschaftskinonichtbloßeinenEinblickindie»WeltderWissenschaft« gewährt und »Bilder der Wissenschaft« für ein breites Publikum
popularisiert, sondern dass es die vom Wissenschaftsfilm entwickelten,
eigenständigenFilmtechnikensind,welchebisheuteindiepopulärenKulturenmigrierenunddortetwazurÄsthetisierungvonLebensstilendienen.
Eine der großen »Erfolgsstorys« populärer Rezeption des Wissenschaftskinos ist etwa die wissenschaftliche Zeitlupenaufnahme, die sich in unterschiedlichstenMedienformaten–vomMusikclip,derTV-Sportreportagebis
zumHollywood-BlockbusterMatrix –wiederfindet.
30
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
I.3.NarratologieundDekontextualisierung
BisherhatsichdieErzählforschunginderFilmwissenschafthauptsächlich
auf die Erforschung des fiktionalen Films respektive der fiktionalen Texte
konzentriert. Diese Schwerpunktsetzung hatte zur Folge, dass der Unterschied zwischen Fiktion und Narration heruntergespielt werden konnte
(vgl.fürdieliteraturwissenschaftlicheMethode:Genette1991:65–94).Eine
VerlagerungderMethodekanndafürsorgen,dassfiktionaleFilmekünftig
ihre narrative Dominanz verlieren. Die Erzählforschung kann mit einem
erweitertenGegenstandsblickauchnichtfiktionale,dokumentarischeMedien
untersuchenundihrenarrativenDynamikenaufzeigen(Nichols1991).
WieanderewissenschaftlicheBilderauchsindwissenschaftlicheFilme
intheoretischeBegründungszusammenhängeeingefügt.DieWissenschaftssoziologinKarinKnorr-Cetinaverwiesinihrer1981veröffentlichtenStudie
»TheManufactureofKnowledge«aufdietransepistemischenFaktoren,die
wesentlicheBereichederWissensproduktionund-vermittlungprägen.Ihr
Resümee ist, dass sich wissenschaftliche Arbeiten nicht klar und einheitlichvonStrategienundRhetorikenderSelbstdarstellung,derwillkürlichen
undvagenSelektionunwillkommenerLaborergebnisseunddesGeschichtenerzählens abgrenzen. Über die interdiskursiven Verschiebungen, die
sichimWechselderMedienergeben,schreibtKnorr-Cetina:»DieBegründungsargumentedesLaborswerdendurchihreliterarischeRekonstruktion
aufeineDiskursebenegehoben,dievomtatsächlichenInteraktionsgeschehenlosgelösterscheint.«(Knorr-Cetina1984:208f )IndiesemZusammenhang kann die Frage nach der rhetorischen, narrativen, metaphorischen
und fiktionalisierenden Konstitution des experimentellen Wissens gestellt
werden,d.h.derspezifischen›Poetologie‹desWissens(vgl.Vogl1999:13f).
WasdenFilminseinemwissenschaftlichenGebrauchbetrifft,soplausibilisierterdieexperimentelleMethodeimLabor,bezeugtdieInnovationdes
wissenschaftlichenProduktsundfirmiertalsAugenzeugedespraktisch-wissenschaftlichenHandelns.DiedabeizurAnwendungkommendenPlausibilisierungsstrategiensuggerierendemPublikumaufidealeWeiseeineexakte
undungefilterteAufzeichnungder›außerfilmischenRealität‹.DerWissenschaftstheoretikerHans-JörgRheinbergerkritisiertdietraditionelleVorstellungeinerwieimmergeartetenKorrespondenzbeziehungzwischenBildern
und einem von ihnen unabhängigen Gegenstand (vgl. die frühe Kritik am
RealismusdesRepräsentationsbegriffsbeiDerrida1974:27f):
»IntuitivverbindenwirdenAusdruck›Repräsentation‹mitderExistenzvonetwas,
woraufdieDarstellungverweist,miteinemRepräsentierten.WirfassenRepräsentieren
alseinenVorgangauf,beimdem›etwas‹füretwasanderesgesetztwird.«(Rheinberger
1997:265)
Die von Rheinberger angesprochene Problematik kann generell auf die
DiskussionderfilmischenDokumentationeiner›außerfilmischenWirklich31
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
keit‹bezogenwerden.WennwissenschaftlicheFilmebeiihrerHerstellung
genuin mit den von Latour erwähnten »Inskriptionen« (vgl. Latour 1990:
44)konnotiertsind,eröffnetsichindieserHinsichtdieMöglichkeit,filmischeWissensrepräsentationennichtimSinnevonWirklichkeitsbezügenzu
untersuchen, sondern vielmehr im Kontext ihrer Inszenierungspraktiken
undErzähltraditionen:»Images,perhapsmorethantexts,provideinfinite
opportunities for visual exegesis, thereby functioning to keep the discussionopen,notclosed.«(Amann/Knorr-Cetina1990:115)
DieimKontextderVerwissenschaftlichungdesWissensgebräuchlichen
theoretischen Begründungen, Erklärungen und Explikationen, mit denen
derFilmkodiertwird,entbehrennichteinesgewissenartistischenPotentials,
das die narrative Methode freilegen kann. Wenn Wissenschaft und NarrationnichtalsunerwünschteundsichgegenseitigeausschließendeGegensätzeaufgefasstwerden,kanneinDenkenfavorisiertwerden,dassdieMedialisierungwissenschaftlichenWissensalseinegrundlegendeBedingung
undproduktiveErmöglichungwissenschaftlicherPraxisanerkennt.Donna
HarawaynenntdieNarrativederNaturwissenschaftenein
»narrativesFeld,dasdurchvielerleiAktivitätenrestrukturiertwerdenkann:dieMethodenderDatenerhebung,dieVeröffentlichungbestimmterGrundmuster,bevorzugte
Tiermodelle,aberauchdurcheineFrauenbewegung,Entwicklungeninangrenzenden
Wissenschaften,komplexePraktikendesArtenschutzes,oderneuenationaleRegierungeninOstafrika.«(Haraway1995:148)
Vor dem Hintergrund der neueren Methoden der Filmnarratologie (Bordwell 1985; Thompson 1988; Gaudreault/Jost 1990; Chatman 1990; Metz
1997) und einem erweiterten Begriff der Narration (Hickethier 2001: 111)
kannjeneBedeutungsproduktionvonWissenschaftsfilmenanalysiertwerden,
die in die Genese der Wissensgewinnung eingehen. Dieser erweiterte BegriffderNarrationbeinhaltetnichtnurdieStiftungkausalerBeziehungen
des einzeln Wahrnehmbaren, die gestaltete Abfolge von Handlungsereignissen,diePlausibilisierungvonKohärenz,dieAusschnitteunddieAuslassungen und die Choreographie der epistemischen Gegenstände, sondern
auchformaleElementewieetwaEinstellungsgrößen,Kameraeinstellungen,
Miseenscène,PointofViewu.v.a.m.EinenarratologischeFragestellungin
denals»nicht-fiktional«prädikatisierten»Wissenschaftsfilm«einzuführen,
spürt gleichermaßen dem intratextuellen Bedeutungsüberschuss, der im
Filmangelegtist,nach.
Filme,diestriktindenContextofDiscoveryeingebundensind,sindauf
einen realistischen Aufzeichnungsmodus geschaltet. Dabei dominiert die
mehr oder weniger stillschweigende Annahme, dass Film per se – aufbauendaufderAnalogiedesfotografischenAbbildes–dieobjektivenVerhältnisse der außerfilmischen Wirklichkeit zeige. Filmischer Apparat und
Film als Speichermedium haben demnach eine heuristische Mission zu
erfüllen: sie machen »sensorielles Wissen« (Foucault 1963: 134–36) ver32
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
fügbar. Diesem scheinbar ›interesselosen‹ und ›indifferenten‹ Zeigen ist
das Erzählen diametral gegenübergestellt. Erzählformen gelten als subjektiv und verfälschend und werden gewöhnlich aus derwissenschaftlichtechnischenPraxisverbannt:
»Entblößtersich[derDokumentarfilm]jedochalsInszenierung,enthebtihndasseiner
Glaubwürdigkeit.Esscheintso,alserwartetennochimmervieleRezipientenvomDokumentarfilmnichtsanderesalsdiedeskriptiveVerdoppelungeinesEreignissesimFilm.«
(Ballhaus1995:37)
WährenddasZeigenaufdieEntdeckung(discovery)verweist,dasistdasangeblicheVorfindeneinernatürlichenGegebenheit,dieimmerschonlatent
vorhanden war, konnotiert das erzählerische Erfinden (invention) die konstruktivenundkreativenAspektewissenschaftlichenHandelns.Bisherwurde
dieWissenschaftsgeschichtederKinematographiedemContextofDiscovery
subsumiert. Das Prädikat ›wissenschaftlicher Film‹ konnte ausschließlich
fürdasmechanischeRegistrierendesnatürlichGegebenenverbuchtwerden.
InszenatorischeAspektewurdenmitderAktivierungderSubjektivitätdes
Wissenschaftersgleichgesetzt,obwohlaufwendigeExperimentalanordnungeneindetailliertesDrehbuchartifiziellhergestellterEreignisseverlangten
und Forschungsfilme in langwierigen Prozeduren nachbearbeitet wurden
(vgl.zumFärben,Tonen,KolorierendesFilmsPolimanti1920:248–256).
Fraglichistaber,obdiesebinärerwünschteSphärentrennungvonZeigen
und Erzählen (vgl. Odin 2000: 32ff, der die Analysekategorie telling/showingfürdieFilmtheorieadaptierteundweiterentwickelte)auchtatsächlich
zutrifft, wenn die filmischen Ausdrucksformen näher betrachtet werden.
Damit bezieht sich die Analyse wissenschaftlicher Erzählformen weniger
aufinhaltliche Strukturen und auf das Endprodukt,sondernvielmehrauf
die formalen Handlungsweisen, die besonderen Merkmale, Stile und Ausdrucksformen von Wissenschaftlichkeit. Mit dieser Sichtweise beschreibt die
Erzählanalyse die dekonstruierenden Elemente in der WissenschaftskommunikationundsiedeltdieseinderfilmischenEbenean.Diesermethodische Ansatz hat weitreichende Folgen, wenn er die Machtstabilisation der
wissenschaftlichen Argumentation in eine Machtdestabilisation transformiertunddenNachweisführt,dassWissenschafterndieKontrolleüberihr
eigenesKommunikatentgleitetunddasssichdieMehrdeutigkeitdesfilmischenSystemsnichtdisziplinärregelnlässt(vgl.Reichardt1991:217).
Schließlich muss aber auch die klassische aristotelische Dichotomie
von Zeigen (Mimesis) und Erzählen (Poeisis) in ihrer Anwendung auf den
Filmneuüberdachtwerden.BeginnenwirmitdenelementarstenElementenderHerstellungdesBildfeldesundseinerKomposition.Angenommen,
dieArtundWeise,denRahmen,denAufbauunddasBeziehungsfelddes
Bildes zu gestalten, liefe bereits darauf hinaus, eine wissenschaftliche
BühnefürdenAuftrittderepistemischenGegenständeundderProbanden
als die Figuren eines Dramas zu konstruieren. – Dann kann bereits das
33
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Zeigen als eine Art Ermöglichung des wissenschaftlichen Erzählens (z.B.
Anfang,Mitte,Ende)betrachtetwerden;einZeigen,dasdemErzählenals
seine immanente und explizite Bedingung vorausgeht. Vor allem ist es
damitmöglich,einePhänomenologiedeswissenschaftlichenBildeszuentwickeln,diesichetwamitFragendesBildfeldesbeschäftigt(optischeMitte,
Linien,Kurven,Flächen,Formen,Bewegungen,Zwischenräume,Rahmen,
Fokussierung,Vordergrund-Hintergrund,Vertikalität-Horizontalität,Beleuchtungetc.).MitderAuffassungdesZeigensalsStilmittelfilmischerRhetorik
undalsStilmittelwissenschaftlicherVerfahrenzurSicherungvonEvidenz,
Authentizität etc. kann der objektreferentielle Status des Bildes als aufgehoben betrachtet werden. Für die Ethnologin und Filmemacherin Trin T.
Min-ha wird mit dem dokumentarisierenden Modus gleichermaßen eine
Definitionsmacht ausgesprochen, »die Realität ›da draußen‹ für uns ›hier
drinnen‹ einzufangen.« (Min-ha 1993: 281) Damit kann die sogenannte
»Medienkompetenz« des Wissenschafters gleichermaßen kritisch befragt
werden.DennmitderBenennungsmachtverknüpftistdieInbesitznahme
eines sozialen Rangs, von dem ausgehend ein privilegierter und elitärer
Blick in die Geheimnisse und dunklen Flecken der außerfilmischen Welt
geworfen wird. Mit dieser visuellen Ermächtigung verknüpft sich schließlich das zweite tragende Element des Wissenschaftskinos, nämlich die
didaktischenKodes,diederWissenschaftersetzt,umzubeweisen,dasser
alleinefähigist,dieWeltdesWissensfürunszuerklären.
AuchderWissenschaftsfilm,derim»harten«FactFinding-Prozessdes
Context of Discovery eingesetzt wird, erzeugt ein Raum-Zeit-Gefüge, mit
dem ein begrenztes Handlungsfeld konstituiert wird, das etwa Erzählordnungen wie Anfang, Mitte, Höhepunkt und Ende aufweist (vgl. Gardies
1993: 59ff ). Dabei werden etwa Handlungsträger (z.B. ein pathologischer
Organismus wie der Syphilis-Erreger im menschlichen Körper) verfolgt
(Kameraschwenk, Zeitraffer) und fokussiert (Zoom). Damit wird das Geschehen als ein kausales, zeiträumliches Bezugssystem erzählt und mit
Handlungen,InteraktionenundIntentionenbereichert.UnterBerücksichtigungdieserAspektekönnenetwaForschungsfilmeeinediegetischeWelt
aufbauenundMikrobendenStellenwerteinerhandelndenFigurzuweisen.
SieverkörpernalsHandlungsträgereineOrientierungderzeitlich-kausalen
Ordnung, die kameratechnisch in Szene gesetzt wird. Im geschickten EinsatzvonfilmischenTechnikensolltedieInszenierungselbstnichtwahrgenommenwerden;auchsorgteninstitutionelleRahmenbedingungenwieetwa
der Wissenschafter-Status oder Aufführungskontexte und peri- und paratextuelleFormenwieetwaVorankündungen,Rezensionenoderschließlich
derVorspannfürzusätzlicheBeglaubigungen.
NachderAuflösungeineroriginärenWahrnehmungundderEvidenzder
AnschauungstelltdieFilmlektüreinjedemFalleinekomplexeHerausforderungfürdeninterpretativenProzessdar.Merleau-Pontybeschreibtinseiner
»Phänomenologie der Wahrnehmung« diese Problematik für den Wahrnehmungsprozess:»Nichtsistschwererzuwissen,alswaswireigentlichsehen.«
34
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
(1966: 82) In ihrer komplexen Machart lösen sich filmische Darstellungs-
und Erzählweisen von ihrer »zweiten Natur« und können als zeichen- und
bedeutungstheoretische Gebilde, die in einem Netz dichter Assoziationskettenverwobensind,verstandenwerden.FilmkannnunalseinWissensgegenstanduntersuchtwerden–jedochohneaufdieDifferenzvonZeigenundErzählen abzuheben. Zeigen und Erzählen bilden auch keine epistemischen
Gegensätzemehr,wenndavonausgegangenwird,dassdasErzählenalseine
audiovisuelleKompetenzimWissensprozesszufigurierenvermag.
MitderErzählanalyseengverbundenisteinedekontextualisierendeLektüredesWissenschaftsfilms.AlsDekontextualisierung,Kontextmodifizierung
oderKontextmodifikationbezeichnetmandenVorgangdesAus-oderHerauslösensdesZusammenhangeseinerHandlung,einesObjektsodereines
Textes aus seinem Umfeld. Mit Erzählanalyse und Dekontextualisierung
gehtesdarum,einesubversiveLektürezuforcieren,welcheinderLageist,
die impliziten und expliziten Adressierungen und Normierungen des wissenschaftlichen Dokumentarismus aufzuzeigen und zu unterlaufen. Hierbeikannherausgestrichenwerden,dasswissenschaftlicheFilmevieldeutig,
polyfunktional und kulturell kodiert sind. An diesem Punkt ergeben sich
Anschlüsse an die Semiopragmatik, die widerspenstige Lektürepraktiken
gegendiedurchAutorenoderInstitutionenintendiertenKodierungeneines
Filmsvorschlägt(Odin1983;1988;1995).
Auf die Dekontextualisierung folgt eine Rekontextualisierung, die
daraufabzielt,diefilmischenPlausibilisierungsstrategienderwissenschaftlichenFilme(nicht-fiktionalversusfiktional;faktischversusinszenatorisch;
bedeutungsunterscheidendversusmehrdeutig;realistischversuskonstruktivistisch) aufzuzeigen. Dabei wird nicht nach dem faktischen Gehalt von
FilmalsDokumentgefragt,sondernnachStrategienderVerwissenschaftlichung, die im Bereich der formalen Gestaltung und der Rezeptionsbedingungen untersucht werden. Die Hereinnahme des popularisierenden Medienformats bereichert den dokumentarisierenden Modus der
VerwissenschaftlichungumweitereModidesErzählensundderFiktionalisierung.InsgesamtgliedernmodaleFragestellungendasFilmsample:Wie
werden die dementsprechenden Modi im Film aktiviert? Welchen StellenwerthabensiebezüglichderfilmischenundwissenschaftlichenStrategien?
AufwelcheWeiseunterscheidensichdieModiderPopularisierungvonden
ModiderElitisierung?FürbeideModigiltdiegenerelleThese:MitderVerlagerungdesinszenatorischenMomentsindiebasalenElementedesmedialenSettings(Rahmen,Format,Bildfeld,Komposition,Bilderfolge,Kameraperspektive, Ton, Geräusche, Architektur-Sujet, Lichtgestaltung u.a.m.)
löstsichdiebisherigeKanonisierungderGattungenvonSpiel-undDokumentarfilm auf. Mit der hier anknüpfenden Verfahrensweise der Deterritorialisierung der Begründungskontexte kann das Filmmaterial aus seiner
ästhetischenBeschränkunggelöstwerdenunddieGrenzziehungzwischen
Wissenschaft und Kunst auf eine filmimmanente Strategie (und nicht auf
eineontologischbegründbareIdentität)reduziertwerden.
35
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Andererseits kann sich in diesem Kontext die umgekehrte Frage nach
der Experimentalisierung der Kultur als fruchtbar erweisen. (vgl. Dierig/
Geimer/Schmidgen 2004) Filmische Zeit wird im Rahmen der szientifischen Kontextualisierung hauptsächlich in ihrer formalistischen Diskursivität erörtert. Die beinahe ausschließliche Konzentration auf die apparativenFilmtechnikendesZeitraffersundderZeitlupemitihrennarrativen
Möglichkeiten der Zeitsprünge und der Vor- und Rückblende haben dazu
geführt,dasssichinderHistoriographiedeswissenschaftlichenFilmseine
werkimmanenteBetrachtungsweisedurchsetzenkonnte.ZeitlupeundZeitraffer können nicht nur als apparative, sondern auch als literarische und
kognitiveStilelementegeltendgemachtwerdenundformierenRezeptions-
undWahrnehmungskulturen.SoistetwaEdmundHusserlseidetischeund
transzendentalePhänomenologievondenzeitgenössischenMedientechnikenwiederPhotographieundderKinematographiegeprägt,wieIrisDärmann (1995, 311–322) nachgewiesen hat. Husserl adaptierte den wissenschaftlich-technischenBegriffderkinematographischenZeitlupefürseine
Metapher der »phänomenologische[n] Lupe« (ebd.: 277). Diesem Hinweis
folgendkönnendieerwähntenfilmischenZeittransformationenalsMatrix
gesehenwerden,mitwelcherdieDiskursederWahrnehmungmedialüberformtwerden.
DekontextualisierendeLektüreweisen,welchesichalseinewiderspenstigePraxisbegreifenundgegendieursprünglichenBedeutungszuweisungen
derFilmlektürearbeiten,sindzwareinerkenntnisbereicherndesInstrument
der bildwissenschaftlichen Analyse, doch sind ihnen epistemologische
Beschränkungen inhärent: »Damit stellt sich jedoch die Frage, inwieweit
solcheLektüremodieinetranshistorischeGültigkeitbeanspruchenkönnen,
bzw. inwieweit bei der Arbeit an historischem Material nicht auch andere
(graduellodergarfundamental)verschiedeneRezeptionsweisenpostuliert
werden müssen.« (Kessler 2002: 106f ) Für die Einschätzung der historischenRelevanzvonMedienformatenundeinzelnerFilmescheintesdaher
ergänzend zur oben dargestellten Methode angebracht, den historischen
Kontext der Filme zu rekonstruieren und dabei etwa zu fragen, ob es für
Gattungenwieetwaden»Wissenschaftsfilm«spezifischehistorische–institutionellverbindliche –Definitionengab.
Wissenschaftskritische Diskurse formulieren stets auch konkrete Relevanzansprüche für gesellschaftliche Diskurse. Insofern sucht die vorliegende Arbeit weitere Anschlüsse an die feministische Wissenschaftskritik
unddieVisuelleKultur,dieWissenschaftalssozialesundkulturellesFeld
äußerst divergenter Akteure, Aktanten, Verschiebungen und Umschreibungenverstehen,dasdurchmethodologischeVerfahren,PublikationsstrategienundpolitischeDiskursegeprägtist:
»AlseineFormnarrativerPraxisoderdesErzählensvonGeschichtenwarfeministische
Praxisvielmehrdadurchwirksam,dasssieeinFeldvonGeschichtenodermöglichen
erklärendenDarstellungenänderte,dasssiedieVerteidigungeinigerDarstellungen
36
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
erschwerte,dieGlaubwürdigkeitmancherErklärungsstrategienerschütterte.JedeGeschichteinnerhalbeinesFeldesverändertdenStatusalleranderen.Dieganzeinsich
zusammenhängendeReihevonGeschichtenistdas,wasicheinnarrativesFeldnenne.«
(Haraway1995:141)
In seinen Textanalysen zur Historiographiegeschichte hat Hayden White
aufgezeigt,aufwelcheWeisenarrativeStrukturen,rhetorischeFigurenund
Metaphern wissenschaftliche Texte organisieren. Dabei hat White auf die
politischeDimensionpoetologischerStilmittelhingewiesen:
»Narrativeisnotmerelyaneutraldiscursiveformthatmayormaynotbeusedto
representrealeventsintheiraspectsasdevelopmentalprocessesbutratherentails
ontologicalandepistemicchoiceswithdistinctideologicalandevenspecificallypoliticalimplications.«(White1987:35)
Narrative, Metaphern und rhetorische Konventionen prägen jedoch nicht
nur die Metaebene der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, also jene performative Praxis, in welcher Wissenschaft als homogene, teleologisch verlaufende, kausalistisch ineinandergreifende Wissenserzählung dargestellt
wird – vielmehr sind sie impliziter und produktiver Bestandteil der Wissenschaft und stiften die Bedingung der Möglichkeit von Wissensgenese
und -produktion. Demzufolge markieren sie nicht einen Endpunkt, ein
Außen oder parasitäre Verhältnisse, die von der »eigentlichen« wissenschaftlichen Praxis fern gehalten werden könnten; oder ein Supplement,
welches die Ergebnisse der Wissenschaft vom Zentrum (Labor-Entität) an
die Ränder (Wissenschafter-Gemeinschaft) nach außen, an die breite Öffentlichkeit(Gesellschaft),trägt.EntlangderSichtbarmachungderimwissenschaftlichenDiskursüblicherweiseunterdrücktenundverschwiegenen
narrativen Strukturen, rhetorischen Figuren und Metaphern können wissenschaftliche Aussagen und Aussageordnungen repolitisiert werden. Mit
diesemPerspektivenwechselkannderEinsatzdesFilmsimtechnologischwissenschaftlichen Diskurs als ein Machtinstrument ausgewiesen werden
unddieMöglichkeitderpolitischenInterventioneröffnen.
DieVerwissenschaftlichungvonWissenistfolglichgetragenvoneiner
Bild-undTonpolitik,diedasGezeigteundGehörtealsfraglosgegebendarstellt.MitderselbstverständlichenGegebenheitdesRepräsentiertenontologisiertderWissenschaftsdiskursnichtbloßdie»Realität«vorderKamera,
sonderngleichermaßendenKamerablick,denApparatusundsämtlichedie
Aufnahme begleitenden Vorannahmen. In der Tradition des vielzitierten
Schlagwortsvom»PencilofNature«3wirddie»wissenschaftlicheKamera«
3. Mit der Formulierung »Stift der Natur« (1844) kreierte der Fotograf William
HenryFoxTalboteineBildmetapher,mitdererzumAusdruckbrachte,dassdieBilder,
diedurchdieoptischeBelichtungderchemischenEmulsionentstehen,nichtmehrvom
Künstler, sondern von der Natur selbst geschaffen würden. Mit der damit gesetzten
37
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
in der Regel als ein rein mechanisches Abbildungs- und Aufzeichnungsmediumangesehen.BeharrlichwurdeindenVeröffentlichungenzurwissenschaftlichenKinematographiehervorgehoben,dassihreBildproduktion
autonom und selbsttätig sei und frei von manuellen Interventionen und
ästhetischen Erwägungen. Der stereotyp wiederholte Gemeinplatz von
der Selbstabbildung der Natur ist angesichts der vielfältigen Eingriffe im
ProzessderForschungundderWissenschaftskommunikationnichtmehr
haltbar. Vielmehr muss der hohe inszenatorische Aufwand zur Schaffung
künstlicherModellbedingungenindenBlickgerücktwerden,umderkreativenundkunstfertigenPluralitätwissenschaftlicherVisualisierungengerechtzuwerden.
Die»objektiveKamera«rekurriertimmerauchaufeinestilistischeEntscheidung–etwaderWeglassungoderderReduktion;sospieltz.B.inSymptoms in Schizophrenia (USA ca. 1945) die Kamera bei der Aufnahme von
»schizophrenenPatienten«imGarteneinerNervenklinikdieRolledesunbeteiligten Beobachters. Dieser Eindruck wird in einer Bild-Bild-Montage
verstärkt (ohne jeglichen Kommentar im Zwischentitel). Die Bild-BildMontagekannalseineUmsetzungderEvidenzstrategieverstandenwerden,
in der es darum geht, das filmische Bild als indexikalischen Abdruck des
filmischenGegenstandsinSzenezusetzen.
EineweitereForschungsperspektivederErzählanalyseeröffnetdieHistorisierung von Wissensprozessen, in denen Wissen verwissenschaftlicht
wird. Ein zentrales Element in historisch sich ausformenden Wissenskulturen sind (inter-)mediale Konstellationen, in denen Visualisierungstechniken produktiv werden. Lisa Cartwright hat in ihrer Studie zur MediengeschichtedesmenschlichenKörpersmitdemTitel»ScreeningtheBody«
medizinische Diskurse über den weiblichen Körper des 19. Jahrhunderts
mit ihrer filmischen Repräsentation korreliert. Die filmischen VisualisierungendesmenschlichenKörpersmodifizierendasgesamtediskursiveFeld
des weiblichen Körpers und etablieren qua Visibilität neue Verfügungsmächte. Demzufolge begreift Cartwright Film als eine kulturelle Technik,
die sich in den traditionellen Diskurs der medizinischen Überwachung
undderDisziplinierungdesmenschlichenKörperseinfügt:
»Oneofmyprimaryclaimshereisthatthecinematicapparatuscanbeconsideredas
aculturaltechnologyforthedisciplineandmanagementofthehumanbody,andthat
thelonghistoryofbodilyanalysisandsurveillanceinmedicineandscienceiscritically
tiedtothehistoryofthedevelopmentofthecinemaasapopularculturalinstitution
andatechnologicalapparatus.«(Cartwright1995:3)
Naturalisierung der fotografischen Methode wurde der Apparatus, der in seinem optisch-chemischenProzessdasBildentstehenlässtunddiesemauchseinetechnologiespezifischenParameteralsDeterminantenderGestaltungaufprägt,ausderFotografiegeschichteausgeblendet.
38
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
WährendimProduktionskontextdesWissenschaftskinosFilmalseinfraglos gegebenes Abbildungs- und Aufzeichnungsmedium ohne historischen
undsozialenHintergrundzurVerfügungstehenscheint,unterminiertdie
Auffassung von Film als kultureller Institution den erkenntnisstiftenden
FunktionalismusderKameraimLabor.GegendasdurchVisualisierungen
gewonnene Wissen kann demnach nicht nur ein wissenschaftskritischer
Einwand reklamiert werden, sondern das Objektivitätspostulat und das
Wahrheitsparadigma der Natur- und Humanwissenschaften insgesamt in
Fragegestelltwerden.EntgegenderTradierungvonWissenschaftals»wahrer
Geschichte«gehteshiernichtdarum,dieWahrheitderRepräsentationen
zuuntersuchen,sondernbloßihreEffekte(vgl.zudenSignifikationspraktikenimLektüreprozessMirzoeff1999:14–26).IndiesemZusammenhang
steht die rhetorische Floskel der Korrespondenzbeziehung zwischen Medium und unverzerrter Wirklichkeit für eine bestimmte wissenschaftliche
Strategie, mit Hilfe von Bewegtbildern die eigene soziale Position abzusichern. Im Namen der abstraktifizierten und empirisch gültigen Wahrheit
zu sprechen hat folglich weniger mit dem außerfilmischen Referenten zu
tun, als mit der Reproduktion männlich dominierter Machtstrukturen im
wissenschaftlichen Feld. Soll die Analyse des wissenschaftlichen Films
nicht die wissenschaftlichen Machtstrukturen affirmieren, die sie letztlich
zu kritisieren beabsichtigt, muss sie mit genderbasierten Problemstellungen der Politics of Representation bereichert werden. Poststrukturalistische
und geschlechtertheoretische Ansätze bewerten Repräsentationen als kulturelle Konstruktionen und nicht als Abbild empirischer Sachverhalte.
NachJudithButlersindwederdiesozialenochdiebiologischeGeschlechtsidentitätdieWiderspiegelungeines›natürlichen‹Zustandes(Butler1991:
15–21),vielmehrhandeltessichdabeiumNachahmungen,diedasVorbild,
dassieabzubildenscheinen,selbstineinemProzessderWiederaneignung
hervorbringen:»DaherstelltdasGeschlecht,dasnichteinsist,einenAusgangspunktfürdieKritikderhegemonialenwestlichenRepräsentation[…]
bereit« (ebd.: 28). Auf diese Weise gerät das jeder Repräsentation immanenteMomentdesPerformativen,dasdieEinheitderbeidenamRepräsentationsprozessbeteiligtenTeilekonstituiert,indenBrennpunktdestheoretischen Interesses. Damit rücken die Erzählanalyse, die Gebrauchsweisen
rhetorischer Formen und die narrativen Strategien, mit denen der männlichdominierte,wissenschaftlicheDiskursÜberzeugungenüberdenmedialen Raum des So-Seins des weiblichen Körpers herstellt, in den Vordergrund. Damit können seine verschwiegenen Plausibilisierungsstrategien
undAuthentizitätsmarkierungensicht-undsagbargemachtwerden.
I.4.SozialeTechnologienundPerformativität
UmdiehistorischenDiskurse,welchedie»nützlichen«BilderindenWissenschaften auf unterschiedliche Weise kodieren, kenntlich zu machen,
39
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
scheint es sinnvoll, zwei Gebrauchsweisen des wissenschaftlichen Films
auseinanderzuhalten(vgl.Wolf1975:9):
1) Die Kinematographie als Registratur. Im Gebrauchszusammenhang
experimenteller Anordnungen erhält Film den Status eines objektiv
gültigen Mediums und firmiert als Beweisfunktion von Forschungsergebnissen. ›Realaufnahmen‹ werden mimetisch-authentische Eigenschaften zugeschrieben. Nützliche Filme bezeichnen Forscher und
Experten als »Forschungsfilm« oder »Studienfilm« und verschmelzen
siemiteinenDiskursderWahrheit.
2) Die Kinematographie als Lektion. Sie gilt dem pädagogischen Diskurs
als effektive und sozial wirksame Definitionsmacht. Eine didaktisch
verfahrende Kinematographie bezeichnet ihre Filme als »Lehrfilm«,
»Unterrichtsfilm« oder »Erziehungsfilm« und verbindet diese mit
einem Diskurs der rhetorischen Strategien, der Dramaturgie und der
Erzählfiguren.
ImdidaktischenModusverfahrendeFilmesetzeneinebestimmteKompetenzderfilmischenLektürevoraus,dieerlerntwerdenmuss.In»Imageet
pédagogie« unterscheidet Geneviève Jacquinot zwischen den Kategorien
desDidaktischen (le fait didactique) und des Pädagogischen(lefaitpédagogique).DasDidaktischedefiniertsiealsdieVerfahrensweisenundTechniken,mitdenendieOrdnungendesPädagogischeneffektivwerden(Jacquinot 1977: 36f ). Dieser textbasierten Analyseperspektive widmen sich die
KapitelVII(»SozialhygienischeFilmeim›DrittenReich‹«),VIII(»Zeichentrick im Effizienzfieber: Industrial Organization [1951]«) und IX (»Popularisierungsstrategien:Produktivitätsfilme1948–1952«)desvorliegenden
Buches. Das Verständnis der rhetorischen Strategien didaktisch verfahrender Filme ist von der pädagogischen Sozialisation seines Publikums
abhängig:
»DennohneeinewenigstensvageKenntnis,wiedieSchulefunktioniert,wirdder
Schülernichtverstehen,wasbeispielsweisedieRichtungspfeilesollen,dieaufeinDetail
ineinemWissenschaftsfilmhindeuten.«(Masson2006:22)
In»Didaktikvs.Pädagogik«(2006)sprichtsichEefMassondafüraus,die
filmimmanenteAnalyse,dielediglicherklärenkann,»wiedasZusammenspielfilmischerKodesineinerbestimmtenaudiovisuellenBotschaftorganisiertist«(ebd.),miteinerkontextuellverfahrendenUntersuchungzuergänzen. Im neunten Kapitel »Popularisierungsstrategien: Produktivitätsfilme
1948–1952«diesesBucheswirdversucht,diepädagogischenInteraktionen,
die sich im kontextuellen Rahmen der Präsentation von Lehrfilmen vollzogenhaben,aufzuzeigen.
»Forschungsfilme« sind in eine andere Verwertungsökonomie eingebunden als »Lehrfilme«. Dokumentarische Filme im didaktischen Modus
40
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
wurdenauchimherkömmlichenKinoaufgeführt,womitsicheinezusätzlicheDimensionspezifischerAdressierungsmodietablierte,dieaufdiePopularisierungdesWissenszielte.Der»populäreLehrfilm«istineinedivergierendeVerwertungsökonomieintegriert,diesichfilmimmanentvorallem
als narrative Verdichtung anzeigt. Im Gebrauch trickgrafischer Aufnahmen
etabliertderdidaktischeModuseinenunverwechselbarenStilderWissensrepräsentationundeineneuartigeWahrnehmungskultur.EinsichausdifferenzierendesFeldvomForschungsfilmbiszumkinotauglichenInfotainment
zeigt,dassderpragmatischeStatusvonWissenimFilmbreitgestreutist.
Mit der historischen Diskursfigur von der »Suggestivität« des BewegtbildeshabensichbisheuteAnsichtentradiert,dievonderDisziplinierung,
Kontrolle und Regulation des Rezipienten durch eine bestimmte Art und
Weise der Filmgestaltung ausgehen. In diesem Zusammenhang möchte
ich die Frage der Effektivität didaktischer Filme auch jenseits filmimmanenter Untersuchungen (z.B. die Theorie der »Lektüreanweisungen« von
Odin 1995: 85–96) aufwerfen. Vor dem Hintergrund macht- und geschlechtertheoretischer Debatten wurde immer wieder auf den Ansatz
rekurriert, das Medium »Film« als einen Apparat zu verstehen, der über
soziale Technologien massiv in die Produktion und Reproduktionsozialer
undgeschlechtlicherSubjektivierungeingebundenist(DeLauretis1987).4
Nach der These Foucaults werden die Konzepte, Perzepte und Selbstwahrnehmungen der Menschen durch »soziale Technologien« geformt;
»Technologien« bestimmt Foucault als ein »diskursives Feld«, darin die
herrschende Politik »rationalisiert« wird (Foucault 2000: 66). Dabei wird
dasSubjektalseingelassenineinGeflechtausTechnologienundPraktiken
gedacht,indenenesvonanderenundsichselbstgeformtwird,eingebunden in Machtverhältnisse und Wissensbeziehungen, die es gestalten und
zurFormungdesSelbsterstbefähigen.
Wenn das Verhältnis von Lehrfilm, sozialen Technologien (Paratext,
Kinoerzähler)unddesSelbstnichtalsdeterminierteLektürebeziehungverstanden werden soll, sondern als strategische Machtbeziehung, die offen
bleibtfürihreAbweichungenoderVeränderungen,dannmussderBeitrag,
den die Akteure zur Beglaubigung des Films leisten, auch differenziert
werden. Besteht hingegen der Anspruch, Subjektivierung nicht als bloße
AusführungüberindividuellerNormenoderalspassiveAneignungzuverstehen, ist es notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu
entwickeln, um nach dem Gebrauch fragen zu können, der in der Praxis
vonden»Angeboten«desdidaktischenKinosgemachtwird.
4. Vorraussetzung für die mediale Konstruktion von Geschlechterdifferenz sind
»Gender-Technologien«.DarunteristnachTeresaDeLauretisinAnlehnunganFoucault
eine »komplexe politische Technologie« zu verstehen, die nötig ist, weil Gender eben
»keine Eigenschaft von Körpern ist oder etwas, was im Menschen originär vorhanden
wäre,sonderneinZusammenspielvonEffekten,dieinKörpern,Verhaltensweisenund
gesellschaftlichenBeziehungenproduziertwerden«(DeLauretis1987:3).
41
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Film als eine soziale Technologie aufzufassen, thematisiert folglich
didaktische Elemente, die das gesamte Anwendungsprofil des Films in
der wissenschaftlichen Forschung umfassen. Halten wir zunächst fest,
dassderbelehrendeFilmeinScharnierzwischenLaborundKinobildet.
Nach ihrer ursprünglichen Definition sind wissenschaftliche Lehr- oder
UnterrichtsfilmefürerzieherischeZweckeproduzierteFilme.5DadieDebattenumdiedidaktischeEffizienzdesLehrfilmsbaldummnemotechnische
Aspekte der Aufmerksamkeitsteuerung und Gedächtnisleistung kreisten
(Hennes1910:2),wurdederLehrfilmbereitsinderÄradesfrühenFilms
mitspektakulärenVersatzstückendes»CinemaofAttractions«(Gunning
1990: 56–62) angereichert. Somit wird nachvollziehbar, warum der dokumentarisierende Lehrfilm in seiner Gestaltung entlang eines schmalenGradeszwischenDidaktikundSchaulustbalanciert.Dabeigingman
davonaus,dieRezeptionsleistungdurchNarrativierung,Fiktionalisierung,
IdentifikationundTricktechnikeneffektivundeffizientzusteuern.Essind
dieGrenzendesLesens,mitdenendiedokumentarisierendenVerfahren
dermeistenLehrfilmekonfrontiertsind.IndenseltenstenFällenfungieren
hier Bilder des Lehrfilms als selbstevident und kognitiv selbsterklärend.
Bild-Bild-Montagensindseltenundverifizierenundbestätigenkeinewissenschaftliche Aussage. Selbst in jenen Verwendungskontexten in der
Pionierzeit der wissenschaftlichen Kinematographie, in denen Bild-BildMontagenohneKommentar(Zwischentitel)aufgeführtwerden,tretendie
mitdersozialenReputationdesZeugenausgestattetenVersuchsleiterund
deren Assistenten als Kinoerzähler auf, um das filmisch Beobachtete zu
beglaubigen (Van Gehuchten 1907: 208–32). Der Kinoerzähler legitimiert
die Wissenschaftlichkeit wissenschaftlicher Filme damit, dass sie von
Wissenschafterngemachtwerden.Ertrittnunselbstalsextradiegetische
Figur des wissenschaftlichen Beweises auf, um zu suggerieren, dass er
aufgrund seiner Ausbildung in der Lage sei, das hinter der Erscheinung
verborgene Wesentliche faktisch zu benennen. Damit stellt er klar, dass
die gezeigten Bilder lediglich zur »buchstäblichen« Illustration seiner
Thesendienen,dieerverbalsprachlichvorträgt,umdasPolysemantische
derBildermiteinereindeutigenLektüreanweisungzuversehen.
Lehrfilme werden auch heute noch ohne Ton gespielt (Reichert 2002:
29–43). Die erläuternden Erklärungen werden vom Vorführer selbst vorgetragen, der damit die Figur des »Kinoerzählers« tradiert. Er wird zum
ErzählerundverbürgtselbstdieWahrheitderbelehrendenGeschichte.
Der von Roger Odin genannte »argumentative Modus« (vgl. die den
Gattungstypen zugeordneten anderen Modi der Bedeutungs- und Affekterzeugung bei Odin 1994: 34–37), mit dem der Lehrfilm agiere und der
darauf abziele, mit einem bestimmten Lektüremodus, nämlich der dokumentarisierendenLektüre,Lerneffektezuerzielen,entsprichtselbstnur
5. ZurHervorhebungderBandbreitedeswissenschaftlichenFilmsistinderFolge
ausschließlichvom»Lehrfilm«dieRede.
42
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
einer »idealtypischen Beschreibung der Operationen, die Zuschauer in
Gang setzen, damit ein bestimmter Lektüremodus […] optimal funktioniert«(Kessler2002:106f ).
Normierende Adressierungs-Strategien haben im Lehrfilm eine große
Bedeutungbeigemessen.DabeikönnenzweiModiunterschiedenwerden:
1) NormativeVisualisierungenweiseneineTendenzzurIdealisierungauf.
TypischsindprototypischeZeichnungenundGrafiken,mitdenenIdealisierungsvariantenkonstruiertwerdenoderDarstellungen,indenenempirischeKomplexitätreduziertundvereinfachtwird.InbeidenVarianten
dominieren etwa Wissensrepräsentationen typischer und durchschnittlicher Merkmale. In diesem Zusammenhang werden Körper und Subjekte ihrer Individualität und ihrer Geschlechtsmerkmale beraubt und
abstrahiert.
2) NormativeFilmtechnikenzielenaufdieKonditionierungdesBlicksdes
idealtypischen Betrachters: der Zuschauer erhält konkrete AnweisungenzurOptimierungseinerRezeption;dievisuellenToolssindzweckmäßig organisiert, die Disposition der filmischen Mittel zielt ausschließlichaufdieLeistungssteigerungderLektüre.
Entlang dieser Perspektivierung der Medialisierung wissenschaftlichen
Wissensistesmöglich,daswissenschaftlicheObjektivitätsidealzuhistorisieren und in seinem sozialen Gebrauch zu relativieren. Frage-Modelle
nach der sozial »wirksamen« Rezeption, nach dem faktisch-empirischen
Publikum,nachder»Auswirkung«unddem»Einfluss«vonFilmenaufdas
kollektiveErinnernbergeneineReihevonUnschärfenundUnsicherheiten
undsindausfolgendenGründenalsproblematischzubeurteilen:
1) Kausalistische Modelle konstruieren eine unmittelbare Wirksamkeit
audiovisueller»Quellen«aufdasPublikumundunterstelleneinenungestörtenInformationsflusszwischenSenderundEmpfänger.
2) DieAnnahmeeinerbestimmtenBeeinflussungunterstelltdemFilmeine
einheitliche und widerspruchsfreie »Richtung«, »Tendenz«, »Idee« etc. –
damitwirddemFilmeinehomogenisierendeWirkmächtigkeitunterstellt.
Formale Merkmale plausibilisierender Verwissenschaftlichung können
aber nur unter der Bedingung angemessen beurteilt werden, wenn diese
als soziale Strategien ausgewiesen werden können. Mit dem Konzept der
sozialen Strategie geht Pierre Bourdieu von einem strategischen GewinnstrebendersozialenAkteureaus(Bourdieu1987:50,519,528).Sogenannte
»Distinktionsgewinne«,alsospezifischeMerkmalesozialerUnterscheidung,
manifestieren sich schließlich als soziale Anerkennung (ebd.: 346, 440).
BourdieuzeigtinseinensozialenAnalysen,aufwelcheWeiseeinrhetorischer Stil, eine bestimmte Mode, eine ästhetische Eigenart oder die EntwicklungeinesbestimmtensymbolischenMarkenzeichens»dasstrategische
43
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Mittel zur Darstellung von Distinktion bilden.« (Ebd.: 120) Bezogen auf
denGegenstandderMedialisierungvonWissenhießedies,dassderFilm
bestimmte Kriterien (z.B. rhetorische Techniken) inkorporiert, mit denen
erstrategischhandelt.
Auf das Gegenstandsfeld der filmischen Verwissenschaftlichung von
wissenschaftlichem Wissen angewandt, heißt dies zunächst defensiv, dass
soziale Strategien aus der immanenten Beschränkung auf filmgeschichtlicheAspekteundgenrebezogeneFilmsemiotiknichtausreichenderschlossenwerdenkönnen.IneinerproduktivenWeiterführungdesKonzeptsder
sozialenStrategiekönnteesschließlichdarumgehen,detailliert–beinahe
philologisch – die rhetorischen Strategien zu rekonstruieren, mit denen
derFilmsozialhandelt.DazuisteinandererBlickaufdenFilmvonnöten.
Demnach muss sich eine Wissensgeschichte, welche die Genese, Zirkulation und Stabilisierung von Wissen in wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Zusammenhängen untersucht, mit sozialen Regeln
und Formen, Praktiken und Systematisierungen beschäftigen, die daran
beteiligt sind, Wissen in medialen Repräsentationsräumen zu legitimieren. Um das diskursive Geflecht von Wissenschaft und Film als strategisches Handeln zu untersuchen, soll dieses unter dem Gesichtspunkt der
Performativität bestimmt werden. Vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Debatten ist es wichtig, zwischen Performanz (performance)
und Performativität zu differenzieren. Während die Sprechakttheorie Performanz als den Vollzug einer Handlung durch ein handelndes Subjekt
voraussetzt (Austin 1975), distanziert sich der Begriff Performativität von
derVorstellungeinesautonomen,intentionalagierendenSubjekts.Derrida
hebthervor,dassIterabilitätundZitathaftigkeitwesentlichdazubeitragen,
dass performative Äußerungen innerhalb anerkannter Konventionen und
Normen überhaupt gelingen können (Derrida 1988: 291–314). Mit performativenÄußerungenwerdenHandlungenvollzogen,Tatsachengeschaffen
undIdentitätengesetzt.DieKategoriedesPerformativenversetztdieFilmanalysealsoerstmalsindieMöglichkeit,dieautoritativenundsubjektkonstitutiven Funktionen des Films herauszustreichen (vgl. Benveniste 1974:
297–308). Die Analysekategorie der Performativität ermöglicht es, die
Medialität des wissenschaftlichen Wissens in ihrer Selektivität zu thematisieren. In diesem Zusammenhang firmiert Performativität als ein Gegenbegriff zur Handlungsmacht der Verwissenschaftlichung von Wissen und
ermöglichtes,Lücken,BrücheoderStörungenindieAnalysevonMediendiskurseneinzuführen.EntlangperformativerSelbstreflexionfungiertFilm
nicht bloß als ein Speichermedium wissenschaftlicher Repräsentationen,
sondern tiefenstrukturell als ein soziales Speichermedium. Der Film inkorporiert soziale Strategien, die als Archiv sozialer Performativität entziffert
werdenkönnen.MitdemKonzeptderPerformativitätkanndiefilmwissenschaftlicheMethodekonkretdie»BedeutungenderForm«(White1990)als
performative Äußerungen kennzeichnen. Im Kontext des wissenschaftlichenGebrauchsfirmierteinForschungsfilmalseinekonstativeÄußerung,
44
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
er erfüllt die Funktion, einen bestehenden Sachverhalt zu beschreiben
oder ihm wird die Aufgabe zugeschrieben, Tatsachen zu behaupten, die
entweder wahr oder falsch sind. Andererseits handelt der Forschungsfilm
auchstrategisch,d.h.erentwickeltautoritative,rhetorischeStrategien,um
seinen eigenen Diskurs »faktisch« abzusichern und ihn als einen in sich
geschlossenen Tatsachenbericht zu stilisieren. Von Beispielen wie diesen
ausgehend kann die These, dass die wissenschaftliche Kompetenz als ein
MerkmalsozialerDistinktionmitHilfedesfilmischenStilskommuniziert
wird,überprüftwerden.
DerEinsatzundGebrauchvonFilmdientfolglichnichtnurzurObjektivierung des epistemischen Objekts, sondern gleichermaßen zur Objektivierung der eigenen sozialen Position, die mit der ›unerschütterlichen‹
Verlässlichkeit des Films als einem wissenschaftlichen Beweismittel gestützt werden soll (siehe z.B. die paratextuellen Äußerungsinstanzen zur
Legitimation der wissenschaftlichen Autorität respektive des auktorialen
Erzählers). Eine wissenschaftskritische Perspektive entsteht da, wo diese
Verflechtung zwischen Medialisierung, wissenschaftlichem Wissen und
sozialen Machtstrategien – und den ihnen zugrundeliegenden sozialen
Konventionen und stereotypen Kodierungen – kenntlich gemacht werden
kann. Während das Geschichten-Erzählen immer auf die subjektive PositionundBlickweisedesErzählersverweist,interpretierenwissenschaftliche
DiskursgeschichtendieKinematographieals›neutrale‹Registriermaschine
(Marey 1985: 1–3). Der von Odin »institutionelle Zuweisung« (2002: 49)
genannteinstitutionelleRahmen(framing),inwelchemeinFilmpräsentiert
wird, spielt sowohl für die Legitimierung des Films als auch für die der
FilmproduzenteneinebedeutendeRolle.DasDelegierenandastechnischapparative Ensemble hat den grundlegenden Zweck, Fragen an subjektive
Beweggründe, und das heißt: soziale Interessen, aufzuheben. Bereits bei
derErstellungdesForschungsdesignsunddererstenKonzeptphasestrukturierendispositiveOrdnungendenWissensprozess.ImDispositivverdichtensichTechnik,WissenundsozialePerformativität:Anfang,Höhepunkt,
Phasen und Ende eines wissenschaftlichen Versuchs sind von sozialen
Aktenabhängig,dieihneneinen»Rahmen«(Goffman1979)setzen.
UmdiesozialenStrategienindenBlickzubekommen,wirdderBegriff
derVerwissenschaftlichungalseinesozialePraxisaufgefasst.Daspraktische
WissennutztfilmischesKnowHowalsRepertoirevonÜberzeugungstechniken. Dazu gehört, dass im Forschungsfilm inszenatorische Strategien
weitgehend unterdrückt werden. Profilierungsstrategien versuchen, den
Forschungsfilm dem schriftlichen Bericht über die Ergebnisse von Forschungsarbeitenanzunähern.Dochgenaudiedemonstrative»Neutralisierung«und»Simplifizierung«derErgebnisseverweistaufdieszientifische
Strategie der Plausibilisierung von »objektiver« Information und der VermeidungexpliziterWertaussagen.
DasBenennendermitdemFilmmöglichgemachten›neuenSichtbarkeit‹ korrespondiert nicht mit einer neutralen sozialen Praxis, sondern
45
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
transformiert die Macht des Benennens in technisch-apparative Anwendungen wie sie etwa der Kinematograph und der Film bereit hält. Zur
PraxisderSignifizierungschreibtDonnaHaraway:
»EinWissenschafteristjemand,derdazubefugtist,daszubenennen,wasfürdie
MenschenderIndustrienationenalsNaturgeltenkann.EinWissenschafter›benennt‹
Naturingeschriebenen,öffentlichenDokumenten,denendiebesondere,durchInstitutionenverstärkteEigenschaftzukommt,alsobjektivzugeltenundüberdiekulturellen
Traditionenderer,diesiegeschriebenhaben,hinausanwendbarzusein.«(Haraway
1995:138f)
Der Film verknüpft soziale, materiale und symbolische Technologien. SozialeStrategienversuchenimGebrauchfilmischerTechnikenzukommunizieren. Idealiter sollte es der Film ermöglichen, dass sich mit ihm die
InszenierungeinessouveränenMehrwissens,wissenschaftlicherSeriosität
undeinerhomogenenwissenschaftlichenGeschichteausdrückenlässt.
I.5.MedialeDispositiveundWissensarchäologie
Der Begriff »Dispositiv« bezeichnet im Französischen als le dispositif nicht
mehr als eine Anordnung, einen Apparat. Seine Etymologie dis-positio verweistaufdieAnordnunggetrennterElemente,dienichtineinercom-positio
zusammengefügt werden. Erstmals integrierten Jean-Louis Baudry (1970)
undChristianMetz(1977)denBegriff»Dispositiv«inihremedientheoretischen Modelle (Sirois-Trahan 2003: 149–176). Für sie ist es vor allem die
ideologischeFunktion,diedaskinematographischeDispositivauszeichnet.
DasKinodispositivermöglichtdieBedingungfürdasSehen,dasDispositiv
ist aber jener Apparatus, der selbst nicht mehr sichtbar ist. In den Kinotheorien von Jean-Louis Comolli (1980), Pascal Bonitzer (1987) oder Stephen Heath (2003) ermöglicht dieses Dispositiv etwas abgeschwächt bloß
eineästhetische/technischeSphäre,dieeineErwartungsanordnungformiert,
aber nicht zwangsläufig Rezeption determiniert. Jüngere Theorien lösen
sichvonderIdeeeinesuniversellwirksamenKinodispositivsundversuchen
vielmehr,diehistorischenKontextediversermedialerBilddispositivezurekonstruieren.WenndasKonzeptdesDispositivsaberalsmedialeAnalysekategoriederWissensherstellunggenutztwerdensoll,dannmussesweiter
gefasstwerden.DieentscheidendeFrageistdaher:wiekannderBegriffdes
Dispositivs aus seiner metapsychologischen Konzeption der Apparatusdebatteder1970erJahregelöstwerden(Baudry1975:56–72)?
DieStärkedesDispositiv-BegriffsliegtnichtinderalleinigenFixierung
der räumlichen Kinosituation, sondern in der Verschränkung von wahrnehmungstheoretischen,apparativen,technischenundpolitischenAspekten
(Müller 2003: 247–260). Demnach kontextualisieren Dispositive Wissensprozesse nicht bloß auf sekundäre Weise, sondern formieren und gene46
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
rieren die Potentialität von Wissensentstehung und -entwicklung. Damit
einhergehend können nicht bloß kinematographische Praktiken, sondern
gleichermaßenWissensdynamikeninihrermedialbedingtenPerformativität
beschreibbar werden. Mit dem Begriff des Dispositivs kann vermieden
werden, dass Wissensprozesse monokausal an die Errungenschaften und
Charaktermerkmale einzelner Medienpraktiken wie der Kinematographie
rückgebundenwerden.DenndieKinematographieistihrerseitsineinintermedial prosperierendes Feld heterogener Kultur- und Medienpraktiken
verflochten (vgl. Crary 2002: 16). Insgesamt stehen diese komplexen Verzahnungen für spezifische mediale Dispositive, die als ein Netzwerk von
Techniken und Institutionen begriffen werden können, »die einer gegebenen Kultur die Entnahme, Speicherung und Verarbeitung relevanter
Datenerlauben«(Kittler1987:429).
DasmedialeSettingrepräsentiertinkorporiertesWissen,umgekehrtist
demWissendasmedialeSettinginkorporiert.MedialesSettingundWissen
strukturiereneinNetzvonBeziehungenundAnknüpfungen.DiesesNetz,
dasdieexperimentelleBeobachtungermöglicht,kannmitdemModelldes
Dispositivs untersucht werden. Auch Michel Foucaults Dispositiv-Konzept
betontdieengeWechselbeziehungdereinzelnenKomponentenzueinander
und spricht in diesem Zusammenhang von einem Netz: »Das Dispositiv
selbstistdasNetz,daszwischendiesenElementengeknüpftwerdenkann.«
(Foucault1993:119f )DastheoretischeKonzeptdesDispositivskannherangezogenwerden,umdiestrukturelleBeziehungheterogenerElemente,die
in der Wissenschaftsgeschichte oft gar nicht reflektiert werden, aber dennochinstrategischrelevantenBeziehungenzueinanderstehen,sichtbarzu
machen.FoucaultbetontdieZweckdimensiondesDispositivs:»Dasheißt,
dieElementewerdenaufderBasiseinesgemeinsamenZwecksverknüpft.
Das Dispositiv ist also strategischer Natur.« (Ebd.: 123) Konkret heißt das:
imLehrfilmkonfiguriertsicheinDispositivbestehendausderDisziplinarordnungSchule(Tafel,Klassenraum,Lehrer-Schüler-Verhältnis,Reglementierung, Bewegungsverbot, Bedürfnisaufschub, Widerstand, Schönschrift),
dermedialen Überlegenheit der Schrift (Kodifizierung,Typographie,Definitionsmacht)undderKameraalsApparatderBlickführung(Drill,Abrichtung,Lenkung,Kontrolle).Wissenskonstruktionund-kontextealsDispositiv
zuerfassenheißt,WissenalsstrukturelleAnordnungseinerwesentlichen
in Verbindung zueinander stehenden Elemente zu analysieren. Das sich
darausergebende»Netz«vonBeziehungen,wieesFoucaultnennt,ermöglicht es, wesentliche Auswirkungen der in Beziehung stehenden AnordnungenaufWissenundFilmzuanalysieren.
DiegängigeanthropozentrischeAnnahme,dassMediendieBetrachterposition ›erweitern‹ und ›verstärken‹ erfährt in dieser Perspektive eine
Relativierung. Vielmehr lässt sich belegen, dass der Kontext der WissenserfindungdurchmedialeAnforderungenüberformtwird(Holl2006:217–
240). Aus dem Umstand, dass mediale Dispositive historischen Konjunkturen unterliegen, kann abgeleitet werden, dass vermittels der medialen
47
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Historiographie gleichfalls die Geschichte des Betrachtersubjekts lesbar
werden kann. Entscheidend ist, dass das Wahrnehmungsdispositiv kein
feststehenderRahmenist,sondernselbsthistorischbedingtist.Einhistorisches Wahrnehmungsdispositiv, an dem die wissenschaftliche Kinematographie maßgeblich beteiligt ist, prägt die Kontextualität von Wissen als
einertranswissenschaftlichenPragmatik(Köppen2005:55–82).
In ihrem richtungsweisenden Text »Dispositifs« verkoppelt AnneMarie Duguet das mediale Dispositiv mit der sozialen Organisation der
Überwachung und nennt diese Koppelung ein »Überwachungsdispositiv«,
fürdassieu.a.folgendeMerkmalenennt:eineumfassendeAufsicht,die
Unsichtbarkeit des Beobachters und die Dissoziation von Sehen und
Gesehen-Werden (Duguet 1988: 221–242). Im Kontext der Macht- und
WahrnehmungsgeschichteinForschungundLehregehtesumdieFrage
derEntstehungundFormungbestimmterTypendesSehensalsinternalisierte und auch institutionalisierte soziale Praxis, um Einsichten in die
geschichtliche Bedingtheit und die normalisierenden Prozeduren – etwa
jenevonSehenundGesehen-Werden.
ImKontextwissenschaftlicherVersuchekönnenDispositivealsErmöglichungsanordnungen von Beobachtung begriffen werden; sie ermöglichen eine Ordnung von Sichtbarkeit ohne damit das Subjekt als auch das
Konzept des Wissens zu definieren. Als Bedingung von Möglichkeit konfigurieren sie bloß die Wahrnehmbarkeit von epistemischen Gegenständen
und Vorgängen. Entscheidend am Begriff des Dispositivs ist, dass er das
Bildfeld des Gesehen-Werdens gegenüber dem aktiven Sehen thematisch
aufwertet.DiePositiondesBeobachterswirdvomDispositivnichtgeklärt.
AlsRahmenbedingungistdasDispositivnichtselbsteineUnterscheidung,
sondernermöglichtoderverhindertdiese.DamitfixiertdasDispositivdie
DissoziationvonBetrachterundObjekt,vonObjektundApparatundstrukturiert dabei den Raum der experimentellen Beobachtung in einen Real-
undImaginationsraum.DurchdieDistanzierungimVerhältniszumRaum
desObjektesbleibenderBetrachterundderApparataußerhalbdesTheaters
der experimentellen Repräsentation. Diese Zäsur, die das Dispositiv setzt,
istvonentscheidenderBedeutung,weildasAußerhalbdesBeobachterstatus
und der apparativen Anordnung selbst nicht mehr Teil der inszenierten
Versuchsgeschichteist.
Vermittels der nachfolgenden Studien soll erprobt werden, ob und inwiefern Analysebegriffe wie etwa das Dispositiv auch methodologische
Perspektivenermöglichen.Jedenfallswirdversucht,sichmitdemDispositiv von bestimmten methodischen Annahmen, die in der Historiographie
desWissensunddesFilmsbisheutetradiertwerden,abzugrenzenundalternativeBeschreibungsverfahrenzuentwickeln.EineersteDistanzierung
gilt den teleologischen Fortschrittsannahmen, die mit der Annahme verknüpft sind, dass sich die Anwendung von Film in den Wissenschaften
kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert habe. Dabei nimmt man
eine stetige Progression an, deren Dynamik von »Erfindersubjekten« und
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I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
»Pionieren«getragenwird,welchederWissenschaftsgeschichtehomogene
Ordnungsvorstellungenvon»Grund«,»Folge«und»Entwicklung«verleihen.
Das »Pionier«-Narrativ personalisiert geschichtliche »Bruchlinien« und
konstruiert ein auktoriales Subjekt der Geschichte, dessen Werk Einfluss
auf die »gesamte« Epoche, »die« Gesellschaft, »die« Kultur oder auf die
»GeschichtederWahrnehmung«ausübensoll.Geltungsansprücheaufwissenschaftliche Einzelleistungen werden oft im argumentum ad hominem
vorgebracht: »Mareys Erfindergeist zeigte…« oder »Muybridge zeigte erstmals…«.
DieseProblematikderVereinheitlichungundVerallgemeinerungmuss
auch auf das Arbeiten mit dem Begriff der »Mentalität« bezogen werden.
Wird nicht durch die Annahme eines wissenstradierenden Netzes von Institutionen (Schulen, Akademien, Vereinigungen etc.) erneut die Vorstellung eines historischen Kontinuums im Sinne der Mentalitätsgeschichte
bemüht? Denn es ist freilich verführerisch, anzunehmen, dass eine bestimmtehistorischeEpocheoderÄravoneinerWahrnehmungsweisegeprägt
gewesensei,diesichalskohärente»Mentalität«manifestierthabe.6GrundlagenproblemedesMentalitätsbegriffssinderstensseineVerknüpfungmit
einer gemeinsamen Alltagspraxis, die eine klassen- und geschlechtsneutrale Vereinheitlichung impliziert und mit der die traditionellen Konzepte
von »Weltanschauung« und »Zeitgeist« übernommen werden. Zweitens
die generelle Tendenz, dass mit der Theorie der kollektiven Mentalitäten
dietraditionelleIdeengeschichtewiederetabliertwerdenkönne,wenneine
MentalitäteinerbestimmtenhistorischenPeriodisierung(Epoche,Zeitalter,
Strömung,Stil)zugeordnetwird.
Oft werden dabei Filme als eine transzendente Wirkmacht idealisiert,
welche die soziale Welt auf eine bestimmte Weise prägen und sich in die
»passive« Masse der Rezipienten einschreiben würden. Damit stärkt man
die Annahme einer zerebralen Effizienz des Sozialen und legitimiert das
Gebrauchswertversprechen des Lehrfilms, dessen vornehmliche Nützlichkeitjadarinbestehensoll,konsumiertzuwerden.MitderSpekulationeines
didaktisch-heroischenEinflussesdesFilmsaufeinegesamtgesellschaftliche
6. 1974erschienderSammelband»Fairedel’histoire«(dt.»Mentalitäten-Geschichte.
ZurhistorischenRekonstruktiongeistigerProzesse«,1989),darinHistorikerwiePeter
Burke, Roger Chartier, Jaques Le Goff und Michel Vovelle Methodenprobleme der
Mentalitäten-Geschichtsschreibung kontrovers diskutieren respektive das MentalitätenKonzept hinsichtlich seiner Tauglichkeit zur Analyse historischer Prozesse in Frage
stellen. Der Begriff der »Mentalität« galt in den akademischen Debatten der frühen
1970erJahreinseinempolysemantischemGebrauchalsumstrittenundvage–alsein
»Modebegriff«,wieerbeispielsweisevonLeGoffbezeichnetwurde.IndenFolgejahren
wurde der Mentalitätsbegriff von zahlreichen Kritikern in methodischer, aber auch in
forschungspolitischerHinsichtvonführendenHistorikernwieClaudiaHonegger,Arlette
Farge, Geoffrey Lloyd, Jacques Rancière und Michel Vovelle einer grundlegenden Problematisierungunterzogen.
49
IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Erinnerungskultur(Epochenfilm)kanndemKanonundderGeschichtejeweils ein optimistisches Moment eingeschrieben werden. Diese Annahme
eines teleologischen Prinzips wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung ist insofern problematisch, als damit eine kontinuierliche Effektivierung und eine sich stetig steigernde Ökonomisierung der Wissenschaft
angenommenwerdenkann.
Damit wird Wissenschaft als Markt behauptet, der aus konkurrierendenWissensproduktenbesteht,diesichpermanentineinemwechselseitigenKonkurrenz-undKampfverhältnisvonBehauptungundVerdrängung
befinden. Dies hat zur Folge, dass die behaupteten »Transformationen«,
»Brüche« und »Einschnitte« ausschließlich als Analogie zur natürlichen
Selektionformuliertwerdenkönnen,geradeso,alsobdasSelektionsprinzip der Wissenschaften evident wäre und bloß von der »richtigen« Perspektiveausbeobachtetwerdenmüsse.DadurchwirderneuteinFortschritt
der Geschichte unterstellt, der den »Sieg« oder die »Niederlage« von wissenschaftlichen Werken in sich trägt und bedingt. Die damit verbundene
Setzung von Grund und Folge erneuert das Moment der Kausalität von
Geschichte, wodurch der historische Prozess wiederholt zur Abfolge von
Ideen wird. Eine weitere Homogenisierungsstrategie besteht darin, eine
Zeitströmungzubehaupten,dieeinenallgemeinenWesenszugenthalteund
eineGesellschaftallgemeingültigundallumfassendbeeinflussensoll.Aus
derGeschichtedertechnischenInnovationlässtsichjedochkeinwirkungsgesetzlicher Rückschluss auf historische Produktions- und Rezeptionskontexte ableiten. So sind weder Versuchsanordnungen vor und hinter
der Kamera einfach determiniert durch die Wahrnehmungsgesetze der
Apparate,sondernvielmehrgeformtdurcheintransitorischesFeldvonsozialenPraktikenundInstitutionen,überlagertundüberblendetdurchtechnischeundwissenschaftlicheEntwicklungen,dieWahrnehmungermöglichen
ohnesiedefinitivzunormieren.
I.6.Einzelfilmanalyse,KorpusundSerialisierung
FürdieErstellungeinesheterogenenunddivergentenGeflechtsvonFilmen
kommendieMethodederEinzelfilmanalyseundderseriellenFilmanalyse
inBetracht.EineEinzelfilmanalysebemühtsichumeinekonsequenteund
detaillierteKontextualisierungderFilme.UmdenStellenwertunddenGebrauch nützlicher Bilder in bestimmten Konstellationen der Wissensproduktionzubeschreiben,solleinzelnenFunktionendesFilmsinkonkreten
Fallstudien nachgegangen werden. Dabei werden Filme nicht als durch
eineepistemevereinheitlichtgedacht,sondernalsMedienwidersprüchlicher,
divergenter und disparater Praktiken des Filmemachens. Die EinzelfilmanalysegrenztsichvondenhomogenisierendenTendenzenderGattungsproblematikabundfahndetanStelledessennachdenparasitärenStrukturen, die nicht im Vordergrund der ursprünglichen Lektüreanweisungen
50
I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
stehen (z.B. fiktionalisierende und narrative Elemente, GeschlechterStereotypen,intermedialeAspekte).
ImEinzelfallwirdgefragt,wiederFilmseineKodeseinsetzt.DieKennzeichnung struktureller Gemeinsamkeiten über den Einzelfilm hinausgehend ist das Ergebnis der seriellen Analyse größerer Beispielgruppen
(vgl.Lagny1994:24–44).Die»serialhistory«untersuchtperitextuelleStile
im Vorspann, um etwa die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Authentisierungs-undPopularisierungsstrategienkenntlichzumachen(siehe
KapitelIII»Paratexte«).
Obwohl etwa Filme im Gebrauch wissenschaftlicher Forschung nicht
nach festen Regeln oder Bausteinen konzipiert sind, weisen sie Regelinventareauf,diefürbestimmteKontexteundbegrenzteFilmkorporagelten.
Dennoch sind – aufgrund vielfältiger Umstände wie Auftragslage, Filmproduktion, Wissenschaftskulturen – die Regularitäten verbindlicher Stile
nur bedingt manifest. Diese Einschätzung bekräftigt die These von Metz
(1972), der vom Film als einer parole ohne vorgängige langue spricht und
damit meint, dass für den einzelnen Film die Regularitäten der langue
nicht gelten. Folgt man dieser Einschätzung, dann erscheint eine einheitlicheGenredefinitionwissenschaftlicherFilmeproblematisch,weilsiedas
vielschichtige Bezugsverhältnis zwischen der Kinematographie und der
Wissenschaft homogenisieren würde. Die Gattung beschreibt Derrida als
einhöchstproblematischesGebilde:
»SobaldmandasWort›Gattung‹vernimmt,sobaldeserscheint,sobaldmanversucht
eszudenken,zeichnetsicheineGrenzeab.UndwennsicheineGrenzeherausbildet,
dannlassenNormundVerbotnichtaufsichwarten:›manmuss,mandarf,mandarf
nicht‹–dassagtGattung,dasWortGattung,dieFigur,dieStimme,oderdasGesetzder
Gattung.«(Derrida1994:248)
Die Suche nach einer definitiven Bestimmung von Gattung und Genre
scheintalsogrundsätzlichnurProblemeaufzuwerfen;eineProblematik,die
letztlichdieoffenenLückenvonIdentität,ReinheitundZugehörigkeitnicht
schließenkann.EingeschlossenerIdentitätsdiskursistaberangesichtsder
vielfältigenBeziehungenundVerflechtungenfilmischerReferenzenohnehin nicht möglich und sinnvoll. Es bieten sich jedoch andere Möglichkeitenan.ZunächstkannderGattungs-oderGenrebegriffhistorisiertwerden
und die historischen Konditionen untersucht werden, die zur Definition
vonGattungundGenregeführt.AndererseitszeigtdieGeschichtedesForschungsfilms, dass aufgrund situativer Konstellationen im Rahmen der
experimentellenAnordnungenoftohnekanonischeGattungs-undGenrevorgaben gedreht wurde (Kapitel V »Medientechniken in Neurologie,
Psychoanalyse, Psychotechnik 1882–1916« und Kapitel VI »1937/1955
Geschlechterpolitik im Röntgenfilm« zeigen die Durchlässigkeit der Kategorien »Forschungsfilm« und »Lehrfilm« auf ). Die Geschichte des Films
und sein Gebrauch für die Selbstlegitimation und Selbststilisierung der
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IMKINODERHUMANWISSENSCHAFTEN
Wissenschaften laufen demnach nicht getrennt voneinander ab, sondern
verweisen auf kulturelle Praktiken. Im Unterschied zum Forschungsfilm
setzt sich der Lehrfilm mit massenkulturellen Wahrheits- und Evidenzeffekten auseinander; diese werden durch die serielle Anordnung von BildernrespektivedurchkontinuierlicheWiederholungvonspezifischenBildmotiven hergestellt. Erst in diesem Gebrauchszusammenhang macht es
Sinn,vomBegriffder»kulturellenKodierung«undeinerkulturellenPraxis
zu sprechen, in welche der Lehrfilm eingebunden ist. An diesem Punkt
setzt die Serialisierung des Analysekorpus an und versucht, diskursive
RegularitätenderWissensrepräsentationvergleichendzuuntersuchen.Die
serielle Filmanalyse fokussiert in erster Linie »die formalen BesonderheitenderFilmealsAspekteeinerhistorischspezifischenBedeutungsproduktion […]. Eine solche Perspektive erlaubt eine theoretische Reflexion des
historischenQuellenmaterials,gleichzeitigöffnetsieauchdenBlickfürdie
HistorizitätderGegenstände[…]«(Kessler2002:111).
Dementsprechend dürfen die Analysen von Einzelfällen jedoch nicht
beim Film als einer unhintergehbaren Bezugsgröße stehen bleiben. EinzelneFilmemüssenüberihreSingularitäthinausgehendindiskursiveRegularitätenundhistorischeBedingungenundVerschiebungeneingebunden
werden.EinedieserRegularitätenistderfilmischeStilalsElementderVerwissenschaftlichung von Wissen. Mit der Analyse des filmischen Stils ist
die These zu überprüfen, inwiefern die Konformität des filmischen Stils
einen Bezug auf standardisierte Wissenschaftspostulate und spezifische
AnforderungenderexperimentellenMethodeherstellt.Sowurdeetwamit
der Statik der Stativkamera und der Stabilität des filmischen Bildraums
eine›neutrale‹WissensrepräsentationinSzenegesetzt.EinestabileKamerapositionträgtdazubei,denVersuchzuobjektivieren.DamiterhältdieWissensrepräsentationeinefilmischeStilistik,mitdereinediskursiveRegularitätmarkiertwerdenkann.Schwenks,ZoomsundFahrtenfallenausdem
epistemischen Rahmen des Versuchs und werden als filmische Stilmittel
dersubjektivenKameravermieden.DerstatischeStilwirdmehroderwenigerstillschweigendindasRepertoiredesobjektivenWissenschaftspostulats
eingehenundbisheutedieBeständigkeitundKohärenzdesAbgebildeten
stilisieren.
UmdiegroßeBandbreitefilmischerMedialisierungwissenschaftlichen
Wissens berücksichtigen zu können, wurde das Korpus der ausgewählten
Filmemöglichstweitgefasst.DieausgewähltenFilmeentstammenunterschiedlichennationalenundhistorischenProduktionskontexten.DieFilmauswahlerstrecktsichvonder›informativen‹Aufzeichnungwissenschaftlicher Versuche (die Forschungsfilme im engeren Sinn) über instruktive
Lehrfilme bis zu popularisierenden, kinotauglichen Medienformaten, die
mitinszeniertenSpielhandlungenarbeiten–wieetwadieüberwiegendzwischenMitte1930undEnde1950indenUSAhergestelltenSocialGuidance
Movies, die sich im Online-Archiv der Broadcasting and Record Sound Division der Library of Congress in Washington befinden (Smith 1999).7 Der
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I.FILMTHEORIEUNDWISSENSCHAFTSGESCHICHTE
jeweiligehistorischeStellenwertderFilmewurdeindasAuswahlverfahren
der Filme einbezogen. Die Auswahl erfolgte auf der Grundlage der Gesamtinventarisierung historischer Filmkataloge und der systematischen
Sichtung von Filmbeständen. Folglich setzt sich die Auswahl nicht aus
Filmen zusammen, die einer klassifizierenden Sichtweise entstammen
und den Filmen eine bestimmte Eigenschaft oder Funktion unterstellen.
Die filmimmanent untersuchten Filme weisen eine Vielzahl informativer,
narrativer,rhetorischerunddidaktischerStrategienauf,diemitdiskursgeschichtlichen Aspekten und kontextspezifischen Kommunikations- und
Popularisierungsstrategienzusammengeführtwerdenkönnen.ObFilme
als wissenschaftlich, belehrend oder unterhaltend tituliert werden, ist von
nunankeineFragederontologischenGattungsbestimmungmehr,sondern
einederVerfahren,ModiundNarrativefilmischerRepräsentation.
ParatextuelleVerfahren(Forschungsbericht,Publikation,Inhaltsangabe,
Abstract, Vortrag, Ankündigung, Rezension etc.) prädikatisieren den wissenschaftlichen Film und versehen ihn mit dem Adelstitel »Wissenschaftlicher Film«. Die Prädikation bezieht sich vor allem auf seine technischapparativen Qualitäten: z.B. die bildgebenden Techniken von Mikro- und
Makroaufnahme,ZeitlupeundZeitraffer.FilmwirdimsozialenProzesszu
einemwissenschaftlichenProdukt(z.B.derBeweisfähigkeit)gemacht.Dieser
Prozess entspringt jedoch weniger wissenschaftlicher Qualifizierung, sondern verweist vielmehr auf opportunistische Praktiken, die oft unklar und
vage bleiben. Die Produktions- und Rezeptionskontexte des filmischen
Gebrauchs in wissenschaftlichen Diskursen sind gesättigt mit disparaten
und heterogenen Strategien: »Forschungsfilme« sind u.a. Bestandteil wissenschaftlicher Publikationsstrategien und »Lehrfilme« integrieren sich
innationaleWissens-undErinnerungskulturen.IhrestrukturellenUnterschiedeundGemeinsamkeitenzusondierenundauszumessen,stelltsich
die folgende Untersuchung zur Aufgabe. Die verschwiegene, die subjektiveundausderSichtwissenschaftlicherVerwertungsökonomie›nutzlose‹
SeitedeswissenschaftlichenFilmsbleibtnachwievorseineVerwobenheit
inAspektederNarration,InszenierungundStilisierung–dieseverdrängte
KehrseitemachenFilmstudiensicht-undsagbar.
7. Produziert wurden die 16mm-Filme u.a. von Coronet Films (der größte Produzent vonEducational Films, gegründet von David Smart im Jahr 1946),Encyclopaedia
BritannicaFilms(ProduzenteinerFilmreihezumThema»MentalHygiene«),ETRIFilms
(einer der größten Lehrfilm-Produzenten der 1930er Jahre), Avis Films (Mittelbetrieb
mitSchwerpunkt»HealthEducation«),Centron(MittelbetriebmitSchwerpunkt»Mental
Hygiene«),TheBellSystem,SidDavis(Schwerpunkte:»SafetyFilm«und»MentalHygiene«),CrawleyFilmsundMcGrawHill(AuftraggebervonManagementfilmen).
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