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Der dümmste Teil der Verfassung

2013, Politik & Kommunikation

Keine Dauerreden mehr: Die Demokraten haben im US-Senat die Filibuster-Regel gelockert. Doch wie schaffte es die Lizenz zum Labern überhaupt in die Verfassung?

I nte rnational Der฀ dümmste฀ Teil฀der฀ Verfassung Keine Dauerreden mehr: Die Demokraten haben im US-Senat die FILIBUSTERREGEL gelockert. Doch wie schaffte es die Lizenz zum Labern überhaupt in die Verfassung? W enn irgendwo auf der Welt eine Parlamentskammer ihre Geschäftsordnung ändert, interessiert das niemanden. Anders, wenn der US-Senat die „nukleare Option“ ausübt. Dann sind es Weltnews mit Prädikat „historisch“. So war es am 21. November. 52 der 100 Senatoren, ausnahmslos Demokraten, stimmten dafür, ein Recht der parlamentarischen Minderheit zu streichen: per Dauerrede, genannt Filibuster, ein Plenarvotum zu blockieren. Die „nukleare Option“ sprengt eine Säule der Politarchitektur. Künftig genügt die einfache Mehrheit, um Debatten zu beenden und zur Abstimmung zu rufen. Was anderswo völlig normal ist, ist im Senat ein Tabubruch. Bisher war dazu eine Mehrheit von 60 Stimmen nötig. Derzeitige Fraktionsstärken: Demokraten 55, Republikaner 45. Die Änderung bezieht sich (vorerst) nur auf Abstimmungen über Personal52 vorschläge des Präsidenten für leitende Beamte, Gremienvertreter und Richter. Knackpunkt ist die Verfassungsvorschrift, dass Barack Obamas Nominierungen ohne Senatsplazet unwirksam sind. Möglichst viele wollten die Republikaner bis zur Präsidentenwahl 2016 aufschieben. Seit 1949 gab es 168 Filibuster gegen Nominierungen, doch 82 davon fielen in Obamas Amtszeit. Anfang November waren rund 80 Top-Stellen vakant. Das behindert ernsthaft die Regierungsarbeit. Bei Bundesgerichten geht es um Ernennungen auf Lebenszeit. Damit macht jedes Weiße Haus Langzeitpolitik. In der Common-Law-Tradition deuten Richter das Recht nicht nur, sie formen es und schaffen bindende Präzedenzfälle. Die Besetzung der Gerichte ist seit jeher ein ideologisches Schlachtfeld. Der Senat kennt im Prinzip kein Redezeitlimit. Selbst wenn eine 60er-Supermehrheit Debattenschluss erzwingt, sind noch 30 Stunden Rede drin. Ironischer- weise darf eine einfache Mehrheit diese Verfahrensregel ändern. Dass das bisher Theorie blieb, liegt am Selbstverständnis des Senats als Debattenkammer und an gesundem Egoismus. Alle zwei Jahre ist Wahl, da wird eine Mehrheit leicht zur Minderheit. Den Filibuster hält man gern im Arsenal. Die „nukleare Option“ als Blockadebrecher diente bisher nur zur Abschreckung. Nun zogen die Demokraten durch. „Das werden Sie schnell bereuen“, fauchte die brüskierte Opposition. Sie meinte die Senatswahl Ende 2014 und das Atomkriegsdiktum: Wer zuerst drückt, stirbt als Zweiter. Ein Versehen Die Lizenz zum Labern ist eine zum Zeitverschwenden. Doch der Senat hat ein großes Arbeitspensum. Das lädt zur Obstruktion ein. Im besten Fall sorgt ein Filibuster für Denkpausen und Hinterzimmer-Kompromisse, wobei zahllose Kuhhandel mit pol i t ik & kommu nikation | D ezemb er 2013 / Ja nu a r 2014 Foto: Getty V ON MA R C O A LT H A U S I nte rnational gegen Korruption anredet. Im Film sagt ein Reporter, der Filibuster sei „die beste Show der Demokratie“, und verweist auf die Tribüne, wo „Vertreter ausländischer Diktaturen das amerikanische Privileg der freien Rede in ihrer dramatischsten Form miterleben wollen“. Schönes Kino. In der Praxis waren es oft Rassisten, die gegen Bürgerrechte der Schwarzen filibusterten. So einer war Strom Thurmond, der seit 1957 den Rederekord hält: 24 Stunden, 18 Minuten nonstop. Im März 2013 brachte es ein Senator auf fast 13 Stunden, um die Bestätigung von Obamas CIA-Direktor aufzuhalten. Betten im Kapitol Einzelnen nötig sind. Die Republikaner waren aber auf Totalopposition aus. Zuletzt drohte selbst Routinevorlagen Geiselnahme durch die „Macht der 41“. Der Senat ist die einflussreichste Kammer der westlichen Welt, aber auch die undemokratischste. Er gibt der Minderheit mehr Rechte als der Mehrheit. Darum und weil nach dem Föderalprinzip jeder der 50 Staaten exakt zwei Senatoren stellt (Kalifornien mit 39 Millionen Bürgern so viel wie Wyoming mit 580.000), ist der Senat, wie manche meinen, „der dümmste Teil der Verfassung“. 1787 hatten ihre Architekten einen ausgeruhten Weisenrat vor Augen. Er sollte die Exekutive beraten und ihre Beschlüsse mittragen („advise and consent“). Wie britische Lords und der antike Senat Roms sollte er die Volkskammer austarieren, die sich von plebejischen Leidenschaften und Tagestaktik treiben lässt. Das Repräsentantenhaus beschleunigt, der Senat entschleunigt. Der demokratische Mehrheitsführer Harry Reid bei der Pressekonferenz zur Änderung der Filibuster-Regel: Die Schautafel zeigt die zunehmende Anwendung der Dauerrede im Senat Indes: Den Filibuster haben die Verfassungsväter nicht erfunden. Sie wussten wohl, dass schon im alten Rom Senator Cato allen mit Dauerreden auf die Nerven ging. Historiker sagen, der Filibuster ist aus Versehen ins Prozedere gerutscht. 1806 entfernte der Senat eine unhandliche Antragsregel zum Debattenschluss, vergaß aber einen Ersatz. Erst Jahre später wurde die Lücke zur Blockade genutzt. Spötter klebten dem Vorgang das Etikett Filibuster auf, ein holländisch-spanisches Lehnwort für Pirat. Freibeuterfolklore gibt guten Hollywoodstoff. Mit Jimmy Stewart als Star kreierte Regielegende Frank Capra 1939 in „Mr. Smith geht nach Washington“ den Mythos des Senators, der bis zum Kollaps pol i t ik & kommu nikation | D ezemb er 2013 / Ja nu a r 2014 Hauptfeind des Parlamentspiraten ist die Blase. Wer aufs Klo geht, verliert das Rederecht. Thurmond ließ sich, einen Fuß im Plenarsaal, an einer Seitentür den Eimer hinhalten. Windeln, Urinalkondome, Harnbeutel und Katheter sind mögliche Hilfen. Stützkorsetts sind nützlich, denn Hinsetzen ist verboten. Damp�äder, Dehydrierungsdiäten und Vitaminpillen dienen der Vorbereitung. Gehen zum Kernthema die Worte aus, hilft es, schön langsam Verfassung, Unabhängigkeitserklärung oder die Bibel vorzulesen. Auch Shakespearedramen, Koch-, Garten-, Kinder- und Telefonbücher kamen schon vor. Ein Clou ist, dass die Kollegen weghören, aber nicht so einfach weggehen können. Der Redner kann die vorgeschriebene Beschlussfähigkeit einfordern und das Präsidium zwingen, fehlende Senatoren durch die Kapitolspolizei herbeizuschaffen, auch gegen ihren Willen unter Arrest. Um hässliche Szenen zu verhindern, wurden oft Betten im Kapitol aufgestellt. Solche Spektakel sind allerdings rar geworden. Seit Langem sind Dauerreden meist nur virtuell. Die Absicht dazu wird einfach schriftlich eingereicht. Solange niemand 60 Stimmen hat, fliegt die beanstandete Vorlage von der Agenda. Dabei gibt es nicht einmal den Bonus, live zu sehen, wie ein Politiker am eigenen Redefluss physisch richtig leidet.  53