Dostoevsky Studies, New Series 5 (2001), 147-170.
Ulrich Schmid (Basel)
Entwurf einer Theorie der Figuration bei Dostojewskij
Eigentlich ist alles Figuration, was man
gewöhnliche Rede nennt.
Nietzsche, Darstellung der antiken Rhetorik
Jedes literarische Gebilde präsentiert eine konstruierte Wirklichkeit, die auf eine
Wirkung im Leser angelegt ist. Die literarisch präsentierte Wirklichkeit unterscheidet sich jedoch von der Realität kategorial durch ihre Sprachverfasstheit.
Die Wirklichkeit des literarischen Gebildes wirkt ausschliesslich durch Sprache.
Die literarische Sprache verweist also nicht auf ein ausserhalb ihrer selbst liegendes Denotat, sondern bringt die dargestellte Wirklichkeit erst hervor (Jensen
1999: 169). Auch Menschen, die in der Literatur existieren, sind sprachlich aufgebaut. Es liegt deshalb nahe, eine bisher unbeachtete Homonymie ernst zu
nehmen und literarische "Figuren" als rhetorische "Figuren" der wirklichkeitskonstituierenden Sprache zu deuten.
Als Anwendungsbeispiel für eine Theorie der Figuration, in der dargestellte
Menschen in erster Linie als sprachliche Effekte verstanden werden, bieten sich
Dostojewskijs Romane und Erzählungen in besonderem Mass an. Bereits Michail Bachtin hat darauf hingewiesen, dass in Dostojewskijs Werken menschliche Bewusstseine im Zentrum der künstlerischen Aufmerksamkeit stehen. Mit
anderen Worten: Der wichtigste kompositorische Vorgang bei Dostojewskij besteht im Hervorbringen literarischer Figuren. Bachtin hat allerdings die Frage
nach der Genese der literarischen Figuren bei Dostojewskij nicht weiter verfolgt,
sondern sich auf die Beschreibung der Regeln ihrer dialogischen Interaktion
konzentriert.
Gerade die weitgehende Abwesenheit eines autoritären Erzählers kann aber als
gewichtiges Argument für die These dienen, dass in Dostojewskijs Werken der
ideologiebildende Sprachfluss nicht durch Mimesis, sondern durch rhetorische
Figuration gestaltet wird. Mit anderen Worten: Dostojewskijs künstlerische Intelligenz geht bei der Erzählarbeit nicht von einer realen Begebenheit aus, die in
einen fiktiven Gesamtzusammenhang eingepasst wird, sondern bildet umgekehrt
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in rhetorischer Figuration dramatische Situationen. Aus dieser Sicht präsentieren
sich Dostojewskijs Werke als Textkontinuum, in dem die rhetorische Gestaltung
gewissermassen den Quantensprung in die Personengestaltung geschafft hat.
Im folgenden soll versucht werden, eine Art Grammatik der Figuration bei Dostojewskij zu entwerfen. Dazu ist aber zunächst eine Klassifikation der rhetorischen Figuren notwendig, die sich potentiell in literarische Figuren verwandeln
können.
Die klassische Rhetorik geht von der Erkenntnis aus, dass alle rhetorischen Figuren auf einer uneigentlichen, „figurativen“ Verwendungsweise eines Ausdrucks beruhen. Damit wird ein Spannungsverhältnis zwischen „eigentlicher“
und „uneigentlicher“ Rede etabliert, dessen verschiedene Ausprägungen sich in
einer sprachlogischen Tabelle erfassen lassen. Eine überzeugende zweidimensionale Taxonomie stammt von Jacques Durand (1970: 75). Durand klassifiziert die
rhetorischen Figuren einerseits nach Änderungskategorie, andererseits nach Inhaltsrelation zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede. Durands Schema ist
jedoch für den vorliegenden Zweck zu detailliert und weist in einzelnen Positionen fragwürdige Zuweisungen auf. Deshalb soll mit einem vereinfachten und
modifizierten Schema operiert werden. Eine aussagenlogische Klassifizierung
der rhetorischen Figuren, die bei Dostojewskij zu literarischen Figuren weiterentwickelt worden sind, präsentiert sich wie folgt:
Identität
Ähnlichkeit
Unterschied
Gegensatz
Addition
Substitution
Permutation
1. Geminatio
5. Metalepse
9. Hyperbel
Goljadkin
Iwan Karamasow
Fürst K. aus „Onkelchens
Traum“
2. Vergleich
6. Metonymie
10. Symbol
Aljoscha Karamasow
Myschkin
Tichon
Sossima
3. Katachrese
7. Metapher
11. Allegorie
Stawrogin
Arkadij Dolgorukij
Raskolnikow
Grossinquisitor
4. Oxymoron
8. Litotes
12. Chiffre
Untergrundmensch
Erzähler aus „Die
Sanfte“
Kirillow
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Die hier entworfene Figurationstaxonomie unterscheidet sich grundsätzlich von
früheren Systematisierungen, wie sie in der Forschung vorgelegt worden sind.
Bereits 1959 hat Leonid Grossman eine Typologie von Dostojewskijs Handlungsfiguren ausgearbeitet. Dabei unterscheidet er „Denker und Träumer“, „verachtete Mädchen“, „Lüstlinge“, „Narren“, „Doppelgänger“, „Untergrundmenschen“, „russisch breite Naturen“, „gesellschaftliche Aussenseiter“,
„Nihilisten“ und „sensible Kinder“ (399-409). Allerdings bleibt Grossmans Analyse einem methodisch unreflektierten charakterologischen Ansatz verhaftet und
kommt über eine Paraphrase von Dostojewskijs eigener Figurendarstellung nicht
hinaus.
Edmund Heier geht in seiner Arbeit von einem physiognomischen Ansatz aus
und versteht die einzelnen literarischen Porträts als Audruck von Dostojewskijs
Anthropologie. In Heiers Argumentation spielt vor allem die zunehmende Komplexität in Dostojewskijs Menschenbild eine wichtige Rolle: Monologische Naturen verfügen in der Regel über eine klare Physiognomik, während die widersprüchlichen Figuren oft im Wechselspiel ihrer Mienen dargestellt werden
(1989: 106).
Grigorij Pomeranc kommt der hier vertretenen Interpretation näher: Er liest Dostojewskijs Romane als komplexes Aussagesystem, in dem der Autor „mit den
Charakteren der einzelnen Handlungsfiguren“ denkt. Es sei bezeichnend, dass
Dostojewskij keinen Text mit dem Titel „Beichte“ geschrieben habe – seine
„Beichte“ konstituiere sich im Zusammenspiel der Aussagen der einzelnen Figuren (1990: 380).
Als Umkehrung dieser Problematik lassen sich Arpád Kovács’ Ausführungen
über das „personale Erzählen“ verstehen, das als wichtiges narratives Element
zur Erzeugung von Subjektivität gedeutet wird. Hier wird die Figurenrede gerade als Möglichkeit der Abkoppelung vom übergreifenden Diskurs eines Romantextes verstanden. Kova´cs interessiert sich dabei besonders auch für die Genreimplikationen subjektiv gestalteter Rede (1994: 217).
Birgit Harress versucht, Dostojewskijs Figuren in den übergreifenden Sinnzusammenhang seines Gesamtwerks einzuordnen. Harres unterscheidet drei Phasen in Dostojewskijs literarischem Schaffen, für die sie je andere paradigmatische Typen identifiziert: Im Frühwerk dominieren der „Usurpator“, der
„Triebhafte“ und der „Träumer“; im Übergangswerk der „Selbstherrscher“, der
„Wollüstige“ und der „Schwärmer“; im Spätwerk der „Rebell“, der „Sinnliche“
und der „Religiöse“. Wichtig an dieser Typologie ist vor allem die anthropologische Dreiteilung von Körper, Seele und Geist. Harress zeigt, dass Dostojewskijs
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Figuren oft als Teilverkörperungen seines trichotomischen Menschenbilds gedeutet werden können (1993: 11).
Tatjana Kasatkina erweitert diesen anthropologischen Ansatz um eine genretheoretische Dimension. Sie entwirft in ihrer Untersuchung zu Dostojewskijs Charakterologie eine Typologie „emotional-wertender Orientierungen“. Die verschiedenen Kategorien (Harmonie-Epik, Tragik-Heroismus, Ironie-RomantikZynismus) basieren auf einer wechselseitigen Bedingtheit von Genrestrukturen
der Texte und Charaktereigenschaften der Handlungsfiguren (1996: 170).
Hinzuweisen ist schliesslich auf Georgij Fridlenders Ausführungen zur Figuration: Fridlender geht von Dostojewskijs dialektischem Geschichtsverständnis aus,
das nach einem Goldenen Zeitalter den zivilisatorischen Niedergang und
schliesslich eine neue Heilserwartung ansetzt, und appliziert diese Vorstellung
auf das Figureninventar. Aus dieser Sicht repräsentiert jede Handlungsperson
ein bestimmtes Stadium von Dostojewskijs anthropologischer Metaphysik. Leider hat Fridlender diese zutreffende Beobachtung nur konstatiert und nicht im
Einzelnen ausgeführt (1996: 26 f.).
Generell ist festzuhalten, dass die meisten dieser Systematisierungen inhaltlichen Gesichtspunkten verhaftet bleiben oder die Handlungspersonen als isolierte Grössen betrachten. In den nachfolgenden Ausführungen wird demgegenüber versucht, eine strikt poetologische Typologie für Dostojewskijs Figuration
zu entwerfen.
1. Geminatio
Eine Geminatio liegt vor, wenn ein bestimmter Ausdruck ein zweites Mal wiederholt wird – das Ziel dieser rhetorischen Figur liegt gewöhnlich in einer expressiven Steigerung der Aussage (Bsp. „Gott, Gott!“). Interessant an der Geminatio ist die Tatsache, dass die doppelte Nennung desselben Ausdrucks sich
nicht in einer Aneinanderreihung zweier Begriffe erschöpft, sondern die rhetorische Wirkung einer Klimax erreicht. Der wiederholte Ausdruck ist in der Regel
in der zweiten Nennung intensiver präsent als in der ersten. Damit wirkt die
Geminatio auch auf den Inhalt ihrer Komponenten zurück: Die Verdoppelung
des Begriffs fügt zwar seiner Bedeutung keine neue Information hinzu, dissoziiert aber in einem gewissen Sinn den Ausdruck von sich selber: In der Geminatio ist das Gesagte sowohl in eigentlicher (alltagssprachlicher) wie auch in uneigentlicher (emphatischer) Bedeutung präsent. Die Geminatio legt also
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gewissermassen die Nichtidentität der emphatischen Verwendung ein und desselben Ausdrucks offen.
Ein ähnliches Phänomen kann man auf der Ebene der literarischen Figuren in
Dostojewskijs Doppelgänger beobachten. Der erste Hinweis auf Goljadkins Identitätsverlust fällt bereits am Anfang der Erzählung, als Gojadkin auf der
Strasse unerkannt bleiben will. Bezeichnenderweise bedient sich Goljadkins
Bewusstsein mindestens dreimal einer Geminatio, um sich von seinem eigenen
Ich zu distanzieren:
Priznat´sä il´ net? – dumal v neopisannoj toske na‚ geroj, – ili
prikinut´sä, çto ne ä, a çto kto-to drugoj, razitel´no sxo ij so mnoü,
i smotret´ kak ni v çem ne byvalo? Imenno ne ä, ne ä, da i tol´ko! […]
Ä, ä niçego, ä sovsem niçego, qto vovse ne ä, Andrej Filippoviç, qto
vovse ne ä, ne ä, da i tol´ko. (Û: 113)
An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass Goljadkins Doppelgängertum im
Grunde genommen sprachinduziert ist. Die Geminatio als rhetorische Figur gebiert in Goljadkins Bewusstsein einen Doppelgänger, der jedoch gerade nicht
mit Goljadkin identisch ist, sondern immer wieder als „Unbekannter [neznakomec]“ apostrophiert wird (I: 141). Auch in der Szene der ersten Begegnung
zwischen Goljadkin und seinem Doppelgänger dominiert die Geminatio als rhetorische Figur das Erzählgeschehen, das in erlebter Rede präsentiert wird:
Vdrug … vdrug on vzdrognul vsem telom […]. S neizßäsnimym bespokojstvom naçal on ozirat´sä krugom; no nikogo ne bylo, niçego ne
sluçilos´ osobennogo, – a me du tem, me du tem emu pokazalos´, çto
kto-to sejças, siü minutu, stoäl zdes´, okolo nego, rädom s nim, […]
da e çto-to skazal emu, çto-to skoro skazal, otryvisto, ne sovsem ponätno, no o çem-to ves´ma k nemu blizkom, do nego otnosäwemsä. (Û:
139)
Im Text finden sich Hinweise, dass die präsentierte Wirklichkeit letztlich als
Projektion von Goljadkins irrlichterndem Bewusstsein verstanden werden muss.
In kurzen Passagen, die als innere Monologe konzipiert sind, wird immer wieder
der zentrale Kunstgriff von Dostojewskijs Erzählung offen gelegt:
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Dejstvitel´no, podobnoe temnoe delo bylo da e neveroätno sovsem.
Qto, vo-pervyx, i vzdor, a vo-vtoryx, i sluçit´sä ne mo et. Qto, veroätno, kak-nibud´ tam pomerewilos´, ili vy‚lo çto-nibud´ drugoe, a ne
to, çto dejstvitel´no bylo; ili, verno, qto ä sam sxodil … i sebä kaknibud´ tam prinäl sovsem za drugogo. (Û: 166)
Die höchst inkonsistente Sprachlogik Goljadkins bringt in jedem uneigentlichen
Sprachgebrauch eine neue Wirklichkeit hervor. Deutlich lässt sich dies anhand
eines Satzes aus dem zitierten Abschnitt zeigen: „Es ist etwas ganz anderes geschehen und nicht das, was wirklich war.“ Der Ausdruck „wirklich“ fällt hier
sprachlogisch am falschen Ort: Das Wirkliche wird in diesem Gedankengang ja
gerade als „unwirklich“ disqualifiziert. Der rhetorischen Verdoppelung des
Wirklichkeitsbegriffes entspricht die figurative Verdoppelung Goljadkins: Jeder
Wirklichkeit (der „wirklichen“ und der „unwirklichen“) wird ein eigenes erlebendes Bewusstsein zugeordnet.
2. Vergleich
Der klassische Vergleich besteht aus drei Elementen: comparandum, comparatum und tertium comparationis. In der rhetorischen Anwendung des Vergleichs
ist das eigentlich Angesprochene und das uneigentlich Figurative gleichermassen präsent, deshalb handelt es sich hier um ein additives Verfahren. Die sprachlogische Relation, die zwischen dem zu Vergleichenden und dem Verglichenen
herrscht, ist die Ähnlichkeit (tertium comparationis).
Als Dostojewskijs prominenteste Figur, die nach der sprachlogischen Struktur
eines Vergleichs konstruiert ist, darf Aljoscha Karamasow gelten. Diese Eigenheit kommt bereits im Vorwort des Romans zum Ausdruck. Erstaunlicherweise
wird hier Aljoscha als „Held“ der Brüder Karamasow bezeichnet, obwohl er im
Romantext im Grunde genommen eine Nebenrolle spielt. Diesen Widerspruch
hat Dostojewskij in einer interessanten Bemerkung aufzulösen versucht:
Delo v tom, çto qto, po aluj, i deätel´, no deätel´ neopredelennyj,
nevyäsniv‚ijsä. (XÛ!: 5)
Aljoschas „ungeklärte Wirkungskraft“ wird erst deutlich, wenn man die Vergleichsstruktur, die dieser Figur zugrunde liegt, expliziert. Dostojewskij benennt
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diesen Vergleich nicht direkt, er bringt aber Aljoschas Biographie wiederholt
mit der Heiligenlegende von Aljoschas Namenspatron Alexej in Zusammenhang
(XIV: 47, 267, 321).
Die Legende berichtet, dass Alexej als einziger Sohn reicher Eltern in der Hochzeitsnacht aus seiner Heimatstadt flüchtete, nach siebzehn Jahren Eremitensdasein in das Elternhaus zurückkehrte und dort unerkannt bis zu seinem Tod lebte
(Adrianova 1917: 70).
Das tertium comparationis betrifft die Tatsache, dass der Vater die Heiligkeit des
Sohnes nicht erkennt – dieses Element liegt sowohl dem Aljoscha-Motiv als
auch der Heiligenlegende zugrunde.
Aus dieser Sicht ist es nur konsequent, dass Aljoscha in den Brüdern Karamasov
das letzte Wort hat. Alle Handlungsfäden, die den Roman durchziehen, laufen
diskursiv auf Aljoschas ideologische Position zu: Smerdjakow bringt sich selber
um; Iwan erkennt seine moralische Schuld am Vatermord; Dmitrij nimmt seine
Strafe in einem übertragenen Sinn an (Gerigk 1995: 205 ff.). Im Zentrum des
letzten Romankapitels steht die „Rede am Stein“, in der Aljoscha das „richtige“
Verhältnis von Vater und Sohn thematisiert:
Znajte e, çto niçego net vy‚e, i sil´nee, i zdorovee, i poleznee
vpred´ dlä izni, kak xoro‚ee kakoe-nibud´ vospominanie, i osobenno, vynesennoe ewe iz detstva, iz roditel´skogo doma. Vam mnogo govorät pro vospitanie va‚e, a vot kakoe-nibud´ qtakoe prekrasnoe, svätoe
vospominanie, soxranennoe s detstva, mo et byt´, samoe luç‚ee
vospitanie i est´. Esli mnogo nabrat´ takix vospominanij s soboü v
izn´, to spasen çelovek na vsü izn´. (X!: 195)
Im Zusammenhang der „Rede am Stein“ sind diese Worte auf den verstorbenen
Iljuscha Snegirjow gemünzt, der die beschädigte Ehre seines Vaters hochgehalten hatte: Dmitri Karamasow hatte Iljuschas Vater am Bart gezogen, dafür rächte
sich der Knabe, indem er Aljoscha in den Finger biss. Die prominente Plazierung dieser Rede an den Romanschluss weist darauf hin, dass man den Handlungsstrang um Iljuscha Snegirjow als Kontrastsujet zum KaramasowGeschehen deuten muss: Während die zerrüttete Familienstruktur der Karamasows in die Katastrophe führt, leuchtet die gegenseitige Vater-Sohn-Liebe der
Snegirjows am Ende des Romans als ideologisches Vorbild auf. Auch hier hat
man es also mit einer Vergleichstruktur zu tun. Die tragische Pointe dieses Ne-
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gativvergleichs liegt freilich darin, dass im ersten Fall der Vater, im zweiten
hingegen der Sohn ums Leben kommt.
3. Katachrese
Die Katachrese darf insofern als additives rhetorisches Verfahren bezeichnet
werden, als es einem gemeinten Begriff in uneigentlicher Sprechweise ein inadäquates Bild beiordnet. Der Eindruck der Katachrese ergibt sich dabei erst aus
dem Kontrast, der sich zwischem Gemeintem und Bedeutetem einstellt (Bsp.
„Der Zahn der Zeit trocknete auch diese Träne“).
In Dostojewskijs Werk gibt es mehrere katachretische Helden, deren rhetorische
Verfasstheit bereits im Namen angelegt ist. Besonders hervorzuheben sind zwei
Figuren, die ganze Romansujets dominieren: Arkadij Dolgorukij, der Titelheld
des Jünglings, und Nikolaj Stawrogin aus den Bösen Geistern.
Arkadij Dolgorukij, der aus der unehelichen Verbindung eines verarmten Gutsbesitzers und einer Leibeigenen stammt, trägt einen völlig inadäquaten Familiennamen: Die Dolgorukijs sind eines der ältesten und vornehmsten Adelsgeschlechter Russlands. Arkadijs fixe Idee, ein Rothschild zu werden, kann als
Versuch gedeutet werden, das nur scheinbare Prestige des Namens Dolgorukij
durch finanziellen Einfluss auch tatsächlich zu erobern. Die ganze Handlung des
Romans Der Jüngling entspringt der Spannung, die in der Katachrese von Eigentlichkeit (Dolgorukijs prekärer Existenz) und Uneigentlichkeit (seinen gesellschaftlichen Ambitionen) angelegt ist.
Deutlicher noch lässt sich die figurative Gestaltung der Katachrese in den Bösen
Geistern verfolgen. Stawrogin ist die heimliche Hauptfigur des Romans; sein
Einfluss macht sich in verschiedenen Episoden zwar nur indirekt, aber dafür mit
umso grösserer Wirkungskraft bemerkbar. Der dämonische Stawrogin trägt als
Katachrese das christliche Kreuz (griech. stavros) in seinem Namen. In der berühmten Beichtszene vertraut Stawrogin Tichon an, dass er kanonisch an den
Teufel glaube, dabei aber vollständiger Atheist sei. Der Widerstreit in Stawrogins Natur lässt sich nur darstellen, nicht aber auflösen. Deshalb endet der Roman mit Stawrogins Selbstmord, der auch nicht auf äussere Einflüsse zurückgeführt werden kann. Stawrogins Abschiedsnotiz hält in aller Kürze die
Schuldfrage fest:
Nikogo ne vinit´, ä sam. (X: 516)
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Die katachretischen Figuren sind in Dostojewskijs rhetorischem System zum
Scheitern verurteilt. Das hängt mit der additiven Natur der Katachrese zusammen: Sobald das Gemeinte hinter dem Bedeuteten verschwindet, ist auch eine
diskursive Auflösung dieser (rhetorischen und literarischen) Figur möglich. Dies
ist genau im Jüngling der Fall: Arkadij emanzipiert sich gerade durch die literarische Gestaltung seines Lebenswegs von seiner eigenen katachretischen Bedingtheit:
No ä pisal, sli‚kom voobra aä sebä takim imenno, kakim byl v
ka duü iz tex minut, kotorye opisyval. Konçiv e zapiski i dopisav
poslednüü stroçku, ä vdrug poçuvstvoval, çto perevospital sebä samogo, imenno processom pripominaniä i zapisyvaniä. (XÛÛ: 447)
Wenn aber die Figur der gleichzeitigen Präsenz von Eigentlichkeit und Uneingentlichkeit verhaftet bleibt, kann sie diese Spannung nur durch Selbstvernichtung aufheben (Stawrogin).
4. Oxymoron
Als additives rhetorisches Verfahren kombiniert das Oxymoron zwei einander
scheinbar ausschliessende Begriffe zu einer widersprüchlichen Einheit, wie etwa
im Ausdruck „beredtes Schweigen“. Die eigentliche Leistung des Oxymorons
liegt in der sprachlichen Abbildung paradoxer Zustände, die sich logisch kohärent gar nicht erfassen lassen.
Unter den vielen widersprüchlichen Figuren in Dostojewskijs Werk nimmt der
Untergrundmensch eine besonders prominente Stellung ein. In den Aufzeichnungen aus dem Untergrund präsentiert Dostojewskij ein zerrissenes Bewusstsein,
das alle seine Handlungen auf paradoxe, ja geradezu perverse Weise motiviert.
Den besonderen Hass des Untergrundmenschen zieht sich die Arithmetik als
Gedankensystem zu, das alles Widersprüchliche ausschliesst. Er hält der beweisbaren Richtigkeit logischer Sätze das Bedürfnis nach selbstgesteuertem
Verhalten entgegen, das sich oft offenen Auges gegen den eigenen Vorteil richtet:
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[…] a çto, gospoda, ne stol´knut´ li nam vsö qto blagorazumie s odnogo
razu, nogoj, praxom, edinstvenno s toü cel´ü, çtob vse logarifmy
otpravilis´ k çertu i çtob nam opät´ po svoej glupoj vole po it´! (!:
113)
Programmatisch formuliert der Untergrundmensch seine paradoxe Lebenshaltung in einer irrationalen Abwägung, in der dem eigenen Tee der Vorzug vor
dem Weiterbestehen der ganzen Welt gewährt wird:
Svetu li provalit´sä, ili vot mne çaü ne pit´? Ä ska u, çto svetu provalit´sä, a çtob mne çaj vsegda pit´. (!: 174)
Interessant sind besonders die immer wieder in den Text eingeflochtenen Hinweise des Untergrundmenschen, dass sein paradoxes Verhalten sprachlich induziert sei. Das zeigt sich besonders in der Schlusszene, in der er seine Geliebte
Lisa grundlos davonjagt. Das analysierende Bewusstsein des Untergrundmenschen benennt als Motiv seines grausamen Handelns die Verselbständigung literarischer Muster:
Qta estokost´ bylo do togo napusknaä, to togo golovnaä, naroçno podsoçinennaä, kni naä, çto ä sam ne vyder al da e minuty […]. (!: 177,
Hervorhebung im Original, U.S.)
Es lässt sich also sagen, dass die literarische Figur des Untergrundmenschen von
der rhetorischen Figur des Oxymorons beherrscht wird. Mehr noch: Der Untergrundmensch als Person konstituiert sich nachgerade als Effekt einer sprachlichen Formgebung, die auf das Oxymoron als Stilfigur zurückgeht. Diese Besonderheit entzieht sich auch nicht dem Bewusstsein des Aussagesubjekts. Der Text
endet mit dem Eingeständnis des Untergrundmenschen, dass er „kein lebendiger
Mensch“ sei, sondern nur das Hirnspiel seines Autors:
My mertvoro dennye, da i ro daemsä-to davno u ne ot ivyx otcov,
i qto nam vsö bolee i bolee nravitsä. Vo vkus vxodim. Skoro vydumaem
ro dat´sä kak-nibud´ ot idei. (!: 179)
Angelegt ist in dieser Aussage die These, dass lebensweltliche Verhaltensweisen
generell von literarischen Mustern bestimmt werden – Dostojewskijs Unter156
grundmensch dehnt hier gewissermassen den Kunstgriff seiner eigenen rhetorischen Erschaffung auf die gesamte menschliche Existenz aus.
5. Metalepse
Die bisher betrachteten rhetorischen Figuren beruhen auf dem Prinzip der Addition: Die eigentliche Rede wird zusätzlich mit einer uneigentlichen Sprechweise
ergänzt. Anders funktioniert die Metalepse: Hier wird der gemeinte Begriff
durch einen anderen Begriff ersetzt, d.h. die eigentliche Rede erscheint gar nicht
mehr im manifesten Text. Eine weitverbreitete Spielart der Metalepse besteht
darin, dass die Ursache an die Stelle der Wirkung gesetzt wird (Bsp. Zunge =
Sprache, Hand = Schrift). Man hat es hier also hinsichtlich der Sprachrelation
mit einem substitutiven Verfahren zu tun. Inhaltlich bezieht sich die Metalepse
insofern auf identische Begriffe, als Gesagtes und Gemeintes zumindest partiell
als Synonyme aufgefasst werden können.
Die zentrale metaleptische Figur bei Dostojewskij ist Iwan Karamasow, der als
eigentlicher geistiger Vatermörder in Erscheinung tritt.1 Das Mordgeständnis
seines unehelichen Halbbruders Smerdjakows schliesst wie selbstverständlich
eine Anklage Iwans ein:
[…] vy vinovny vo vsem-s, ibo pro ubivstvo vy znali-s i mne ubit´ poruçili-s, a sami, vsö znam‚i, uexali. Potomu i xoçu vam v sej veçer qto
v glaza dokazat´, çto glavnyj ubivec vo vsem zdes´ edinyj vy-s, a ä
tol´ko samyj ne glavnyj, xot´ qto ä ubil. A vy samyj zakonnyj ubivec i est´! (X : 63)
Die restringierte Sprechweise macht gleichzeitig deutlich, dass Smerdjakow
nicht eigentlich den Status einer (rhetorischen) Figur aufweist: Smerdjakow ist
nicht zu figurativem Sprechen fähig. Smerdjakow muss deshalb als Verkörperung eines rhetorischen Aspekts von Iwan gedeutet werden – nämlich als entstellende, wörtliche Aktualisierung des eigentlichen Inhalts von Iwans figurativer
Rede, dass alles erlaubt sei, wenn es keinen Gott gebe.
1
In dieser Szene wird auch Dmitrij als metaleptische Figur erkennbar: Smerdjakow erklärt explizit, dass
er sich ohne Dmitrijs Auftauchen am Tatort nicht zum Mord entschlossen hätte (V: 62).
157
Eine Diskursanalyse der Brüder Karamasow zeigt, dass Dostojewskij mit seinem letzten Roman eine narrative Genealogie des Bösen liefert (Gerigk 1997:
49). Dabei steht die Wirkung des Bösen – der Vatermord – als Menetekel über
dem ganzen Romangeschehen. Erst ganz am Schluss des Romans erfährt der
Leser, dass Smerdjakow den Vater umgebracht hat. Die metaphysische Schuld
am Mord tragen jedoch Iwan und Dmitrij: Der eine hat mit seinem Atheismus
die ideologischen Grundlage für den Mord geschaffen, der andere hat den
Wunsch nach dem Tod des Vaters bis zum Tatentschluss gesteigert.
Dostojewskijs letzter Roman kann oberflächlich als Krimi gelesen werden. Erst
wenn der Leser jedoch die Metalepse als zentrales figurales Prinzip in den Brüdern Karamasow erkannt hat, erschliesst sich ihm die Bedeutungskonstellation
des Romans. Das eigentliche Spannende an den Brüdern Karamasow ist nicht
die Frage, wer Fjodor Karamasow umgebracht hat, sondern die Aufdeckung des
Zusammenspiels verschiedener sittlicher Defizite, das schliesslich in die Katastrophe führt. Dostojewskij setzt also in seinem ethischen Gedankenexperiment
die Ursachen metaleptisch an die Stelle der Wirkung und erzielt genau damit
seinen kraftvollsten erzählerischen Effekt.
6. Metonymie
Die Metonymie gilt als Spezialfall der Metapher, in dem das sprachliche Bild in
einem Kontiguitätsverhältnis zum gemeinten Begriff steht. Ein klassisches Beispiel für eine Metonymie stellt die Verwendung eines Autornamens für sein
Werk dar („Goethe lesen“). Das inhaltslogische Verhältnis zwischen Gesagtem
und Gemeintem gründet in einer Ähnlichkeit der Begriffe, die so eng ist, dass
die figurative Sprechweise oft nicht als solche ins Bewusstsein tritt. Dieser besondere Effekt der Metonymie beruht auf einer asymmetrischen Verbindung
zwischen Zeichen und Denotat: Das metonymische Zeichen verweist zwar auf
ein Denotat, behält aber in der Signifikation seinen eigenen Bildwert. Mit anderen Worten: In der Metonymie ist das Denotat implizit enthalten („das Werk von
Goethe lesen“), gleichzeitig entsteht durch das verwendete Zeichen ein bildhafter Ausdruck („Goethe als Autor“), der sich umgekehrt aus dem Denotat allein
nicht erschliessen lässt (Shapiro 1988: 30).
Als metonymische Figur lässt sich Fürst Myschkin, der Protagonist aus dem Idioten, interpretieren. Myschkin steht metonymisch für das Erscheinen Christi in
Russland, das jedoch seinen Erlöser nicht erkennt (Schmid 1999: 14). Dosto158
jewskij hat seine Konstruktion gleich in zwei Briefen mit einer fast identischen
Formulierung kommentiert: Es sei ihm im Idioten um die Darstellung eines „positiv schönen Menschen“ gegangen (IX: 357 f.). Dass es sich bei dieser Formulierung um eine Metonymie für Christus handelt, lässt sich anhand des vielleicht
berühmtesten Diktums aus diesem Roman, „mir spaset krasota“ (VIII: 436),
nachweisen: Die soteriologische Kraft der Schönheit wird nur durch die Schönheit Christi ermöglicht. Man darf nun vermuten, dass auch der Grund für das
Nichterkennen des Erlösers in Russland in der metonymischen Natur von Dostojewskijs Christusfigur liegt. Die übrigen Handlungsfiguren aus dem Idioten sind
nicht fähig, jene rhetorische Operation zu vollziehen, die von Myschkins schöner Seele in semantischer Kontiguität auf die Vollkommenheit Christi verweist:
Myschkin ist nicht Christus, sondern steht nur für ihn (Kasatkina 1996, 77). Der
Grund für das Nichtverstehen liegt in der Tatsache, dass alle Handlungsfiguren
alternativen Glaubenssystemen (Geld, Eros, Macht) verhaftet sind, die nicht wie
Metonymien, sondern wie Fetische funktionieren: Das eigentlich Wesentliche
wird durch ein leeres Zeichen ersetzt. Besonders deutlich zeigt sich die fetischistische Verblendung der dargestellten Gesellschaft im Geldmotiv: Das Geld als
solches ist ein reines Zeichen, das sich aber durch die potentielle Eintauschbarkeit in alle Güter dieser Welt seine magische Bedeutsamkeit nur erschleicht.
Wer aber dem Geld in seiner semantischen Immanenz verfallen ist (und ähnliches gilt für den Eros und die Macht), hat gleichzeitig auch die Fähigkeit zur
metonymischen Erkenntnis des Heilsträgers verloren. Damit erweist sich die
Tragik des Idioten letztlich als rhetorisch bedingt.
7. Metapher
Die Metapher bezeichnet eine uneigentliche Ausdrucksweise, in der Sach- und
Bildbereich unterschiedlichen Bereichen angehören. Das Gemeinte ist im Gesagten nicht mehr – wie in der Metonymie – zumindest teilweise präsent, sondern wird ganz durch das Gesagte ersetzt.
Das beste Beispiel für eine metaphorische Figur bietet Raskolnikow aus Verbrechen und Strafe. Raskolnikow wird als Handlungsperson in erster Linie durch
sein Verbrechen determiniert, das selbst ein metaphorisches ist. Das zeigt sich
daran, dass Raskolnikow durch seinen Mord weder zu Geld noch zu Macht
kommt. Raskolnikow profitiert in keiner Weise von seinem Verbrechen; und
zwar nicht deshalb, weil er nicht profitieren kann, sondern weil er nicht profitie159
ren will. Diese Eigenschaft unterscheidet Raskolnikow radikal von den Nebenfiguren aus dem Idioten, die in fataler Verblendung Geld, Macht und Eros verfallen sind.
Wenn aber Raskolnikow nicht aus Gewinnsucht handelt, wo liegt dann das eigentliche Motiv für den Mord? Benennen kann man dieses Motiv nur durch die
Analyse der metaphorischen Konstruktion, die dem Verbrechen zugrunde liegt.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Raskolnikow ein Mörder aus sittlicher Empörung ist. Im Zentrum seines Bewusstseins steht der Protest gegen eine unannehmbare Wirklichkeit. Der Mord nun ist eine Metapher für diesen Protest: Indem Raskolnikow die Pfandleiherin, jene „widerliche, bösartige Laus“ (VI:
400), beseitigt, meint er damit gleichzeitig einen Teil des Bösen in der Welt zu
beseitigen. Der ganze Roman bezieht sein dramatisches Substrat aus dieser
schiefen Metapher. Raskolnikow richtet sein ganzes Streben auf die sittliche
Verbesserung der verdorbenen Welt. Die Tatsache, dass er dabei selbst höchst
unsittliche Mittel einsetzt, wird von seinem Bewusstsein immer wieder unterdrückt. Noch der Epilog des Romans hält fest, dass Raskolnikow keine Reue
über sein Verbrechen verspürt (VI: 417). Raskolnikow, der „Gespaltene“, verfügt mithin sowohl über eine Schuld als auch über eine „Ent-Schuldigung“ (Gerigk 1991: 192). Sein metaphorisches Wesen als literarische Figur liegt genau in
dieser Doppelheit: Er ersetzt seine Schuld (den Mord an der Pfandleiherin)
durch die Entschuldigung (seine sittliche Empörung). Es ist bezeichnend, dass
Dostojewskij die problematische Metaphorik seines Protagonisten innerhalb des
Romans nicht auflösen kann – über einer solchen Operation verlöre die Figur
von Raskolnikow ihren konstitutiven Zusammenhang. Konsequenterweise verweist der Erzähler im letzten Satz des Romans einen solchen narrativen Prozess
in eine „neue Geschichte“ (VI: 422).
8. Litotes
Die Litotes ersetzt als rhetorisches Verfahren das eigentlich Gemeinte durch eine
Untertreibung (z.B. „nicht übel“ statt „sehr gut“). Die uneigentliche Sprechweise
tendiert als rhetorisches Verfahren zum Gegenteil des eigentlich Gemeinten.
Genau mit dieser Art des Sprechens hat man es bei der Erzählung „Die Sanfte“
zu tun. Der Text stellt das Bewusstseinsprotokoll eines Pfandleihers dar, der seine junge Frau in den Selbstmord getrieben hat. Der Grundtenor des Räsonnierens liegt auf der Selbstrechtfertigung; gleichwohl tritt an einzelnen Stellen die
160
nackte Wahrheit hervor. Besonders deutlich zeigt sich die verharmlosende
Selbstdarstellung des Pfandleihers am Schluss der Erzählung: Er versteift sich
auf die Aussage, er sei nur fünf Minuten zu spät gekommen und habe deshalb
den „Zufall“ des Selbstmordes nicht verhindern können. Diese Untertreibung
bildet rhetorisch eine Litotes, die sich als dominantes Muster durch den ganzen
Erzähltext hindurchzieht. Das kommt bereits in der Selbstcharakterisierung des
Pfandleihers zum Ausdruck, der sich „als ehrlichsten aller Menschen“ bezeichnet und sich in der Pose des anonymen Wohltäters gefällt. Das Bewusstseinsprotokoll folgt im wesentlichen dieser Linie und wird nur ausnahmsweise von einer
rückhaltlosen Selbstanklage unterbrochen. Die diskursive Inkonsistenz des Textes ist durch die implizite Leserlenkung bedingt: Weil die von Dostojewskij gewählte Erzählsituation keine unabhängige Aussageinstanz kennt, müssen im
Text selber Anzeichen für eine angemessene Deutung vorhanden sein.
Die Figur des Ich-Erzählers aus der „Sanften“ präsentiert sich mithin als fast
konsequent durchgehaltene Litotes. Allerdings wird die verharmlosende
Sprechweise des Pfandleihers für den Leser erst aufgrund von wenigen und narrativ kaum ausgeführten Verstössen gegen das dominante Untertreibungsprinzip
erkennbar. Die Selbsttäuschung führt den Erzähler zu den phantastischsten Spekulationen über die Selbstmordursache:
A çto esli malokrovie? Prosto ot malokroviä, ot istoweniä
oj qnergii? Ustala ona v zimu, vot çto … (XXÛ!: 35)
iznenn-
Aber schon wenige Sätze später folgt – als blitzartige Erkenntnis, die ebensoschnell wieder in das Unterbewusste verschwindet, wie sie hervorgekommen
war – das Eingeständnis der eigenen Schuld:
Izmuçil ä ee – vot çto! (XXÛ!: 35)
Solche rhetorisch undifferenzierte, direkte Sprachakte finden sich immer wieder
als Signale in der Erzählerrede und kennzeichnen auf diese Weise die figurale
Bedingtheit des Aussagesubjekts. Generell gesprochen: Die Litotes ist auf Eigentlichkeitssignale angewiesen, damit die uneigentliche Rede als solche verstanden werden kann.
9. Hyperbel
161
Die letzte Vierergruppe von rhetorischen Figuren weist als gemeinsames Merkmal die Vertauschung von eigentlicher und uneigentlicher Rede auf. Ähnlich
wie bei den additiven Verfahren, aber im Gegensatz zu den substitutiven Verfahren müssen bei den permutativen Verfahren sowohl der gesagte wie auch
gemeinte Ausdruck im Text präsent sein.
Die Hyperbel weist ihre rhetorische Konstruktion direkt aus, indem sie ein übertreibendes Synonym explizit mit dem gemeinten Ausdruck kombiniert, z.B.
„blitzschnell“. Das semantische Verhältnis zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede kommt insofern dem der Identität nahe, als der entscheidende semantische Gehalt beider Bestandteile der Hyperbel synonym ist.
Die Inhaltszentriertheit der Sekundärliteratur zu Dostojewskij bringt es mit sich,
dass raffiniert konstruierte Texte wie der Kurzroman Onkelchens Traum weitgehend ausserhalb der Aufmerksamkeit der Forschung geblieben sind. Dabei ist
gerade die Titelfigur, Fürst K., ein ausgezeichnetes Beispiel für eine hyperbolische Figur, die das Eigentliche mit dem Uneigentlichen vertauscht. Mehr noch:
Man kann diese Figur nachgerade als realisierte Hyperbel deuten. Das betrifft
einerseits die körperliche Konstruktion des Fürsten, wie sie der Text vornimmt,
und andererseits das zentrale plot-Element, das handlungsbestimmend wirkt.
Der Körper des greisen Fürsten K. besteht zu einem grossen Teil aus künstlichen
Ersatzstücken. Mit anderen Worten: Die eigentliche Erscheinungsweise des
Fürsten wird durch eine uneigentliche ersetzt. Letztlich bleibt aber die Grenze
zwischen authentischem und manipuliertem Körper undeutlich – diese Besonderheit kann als Ausdruck der tendenziellen Synonymie der Hyperbel gewertet
werden. Der Erzähler schildert die hyperbolische Körperlichkeit des Fürsten
nicht mit auktorialer Autorität, sondern rapportiert nur zirkulierende Gerüchte:
Rasskazyvali, me du proçim, çto knäz´ provodil bol´‚e poloviny
dnä za svoim tualetom i, kazalos´, byl ves´ sostavlen iz kakix-to kusoçkov. Nikto ne znal, kogda i gde on uspel tak rassypat´sä. On nosil
parik, usy, bakenbardy i da e espan´olku – vsö, do poslednego voloska,
nakladnoe i velikolepnogo çernogo cveta; belilsä i rumänilsä
e ednevno. Uveräli, çto on kak-to raspravläl pru inkami morwiny
na svoem lice i çto qti pru iny byli, kakim-to osobennym obrazom,
skryty v ego volosax. Uveräli ewe, çto on nosit korset, potomu çto
li‚ilsä gde-to rebra, nelovko vyskoçiv iz oko‚ka, vo vremä odnogo
svoego lübovnogo poxo deniä, v Italii. On xromal na levuü nogu; ut162
ver dali, çto qta noga poddel´naä, a çto nastoäwuü slomali emu, pri
kakom-to drugom poxo denii, v Pari e, zato pristavili novuü, kakuü-to osobennuü, proboçnuü. Vproçem, malo li çego ne rasska ut? No
verno bylo, odnako e, to, çto pravyj glaz ego byl steklännyj, xotä i
oçen´ iskusno poddelannyj. Zuby to e byli iz kompozicii. (II: 300 f.,
vgl. auch 310)
Dem Ersetzen des Eigentlichen durch das Uneigentliche in der Schilderung des
Körpers entspricht das zentrale Handlungselement, das für Dostojewskijs Kurzroman konstitutiv wird: Man drängt den Fürsten zu einer Heirat mit der jungen
Sina, damit diese zu Ansehen und Reichtum gelangt. Dabei spekuliert die Mutter
der Braut auf den baldigen Tod des Fürsten. Allerdings werden diese Pläne
durchkreuzt von Sinas Verehrer, der dem altersverwirrten Fürsten einredet, er
habe seinen Heiratsantrag nur geträumt.
Das Wirkliche wird also mit dem Geträumten vertauscht: Das Uneigentliche tritt
auch in der Handlungskonstruktion an die Stelle des Eigentlichen. Dostojewskij
löst den Konflikt zwischen den verschiedenen fiktionsimmanenten Wirklichkeitsdeutungen in einer für ihn typischen Weise: Es kommt zum Skandal; die
hyperbolisch gesteigerten Verstrickungen werden in einer tumultartigen
Schlussszene auf ihre unmittelbare Bedeutung zurückgeführt. Es ist allerdings
bezeichnend, dass der Fürst K. als rhetorisch generierte Figur diesen erzählerischen Prozess nicht überlebt: Sobald ihm seine textuelle Existenzgrundlage, die
auf der Uneigentlichkeit seiner Konstruktion beruht, entzogen wird, ist er auch
als Handlungsfigur nicht mehr diskursivierbar. Die ausserfiktionale Notwendigkeit des Verschwindens der Titelfigur spiegelt sich in der innerfiktionalen Motivierung des Ablebens des Fürsten: Der Erzähler berichtet lakonisch, dass die
Aufregungen und Konfusionen für den Fürsten zuviel waren und dass er nach
drei Tagen verstarb. Ähnlich wie in Verbrechen und Strafe führt also auch hier
die Veränderung der rhetorischen Verfasstheit der Hauptfigur zum Ende der Geschichte.
10. Symbol
Das Symbol als rhetorische Figur weist über sich selbst hinaus. Es ist insofern
ein permutatives Verfahren, als es die herkömmlich bezeichnende Sprache für
unzureichend erklärt und die wahren Bedeutungen jenseits der sprachlichen
163
Ausdrückbarkeit verortet. Damit aber wird die Richtung des normalen Signifikationsprozesses umgedreht: Während die meisten Begriffe der Alltagssprache auf
Denotate in der Realität verweisen, transzendiert das symbolische Reden die
Sprache selbst und versucht, sich in uneigentlichen Ausdrücken den gemeinten
eigentlichen Abstrakta zu nähern.
In Dostojewskijs Werk sind es vor allem die heiligen Mönchsgestalten, die den
Bereich des denotativen Redens verlassen haben und eine rein symbolische
Sprache pflegen. Als Beispiele zu nennen sind hier Tichon aus den Bösen Geistern und Sossima aus den Brüdern Karamasow. Beide Mönche weisen ein
Sprachverhalten auf, das keinen richtigen Dialog erlaubt. Die Klosterbesucher
erhalten Hilfe nicht durch einen bestimmten Rat, sondern durch die blosse Begegnung mit den Mönchen. Unter Dostojewskij Romanpersonal weisen die
Mönche die vielleicht schwächste figurale Profilierung auf. Die Mönche verkünden nämlich nicht als Personen eine transzendente Wahrheit, sondern verkörpern diese Wahrheit nachgerade selbst. Zugespitzt formuliert: Diskurstheoretisch stellen Tichon und Sossima eher Aussagen als individuelle
Aussageinstanzen dar.
Sprachlich fassbar wird der eigenartige poetologische Status der symbolischen
Mönchsfiguren im forcierten Einsatz von Bibelzitaten in ihrer Rede. Tichons
und Sossimas Wahrheit ergibt sich nicht aus der Übereinstimmung ihrer Aussagen mit der faktischen Realität, sondern aus der Öffnung der Alltagssprache auf
die sakrale Sprache hin. Eine wichtige Rolle spielt etwa bei Tichon die Stelle
aus der Apokalypse „Weil du jedoch lau bist und weder kalt noch heiss, werde
ich dich ausspeien aus meinem Mund“ (XI: 11); bei Sossima taucht das Motto
der Brüder Karamasow drei Mal auf: „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt
und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Frucht“ (XIV:
259, 266, 281). Die symbolische Wahrheit, die Tichon und Sossima verkörpern,
wird in beiden Romanen mit einem logisch-rational begründeten Atheismus
konfrontiert, tritt aber argumentativ gar nicht auf ihn ein und offenbart auf diese
Weise das radikal Andere, Höhere, Überlegene der eigenen Position.
11. Allegorie
Sowohl Symbol als auch Allegorie können als permutative Verfahren gedeutet
werden: In beiden Fällen tritt das uneigentliche Sprechen in den Vordergrund,
das eigentlich Gemeinte bleibt jedoch im Text präsent. Es gibt aber auch einen
164
wichtigen Unterschied: Während das Symbol auf einer transzendenten Ähnlichkeit von Gesagtem und Gemeintem beruht, bedient sich die Allegorie eines
Bildbereichs, der nicht dem eigentlichen Sachbereich angehört.
Deutlich dem Bereich des erzählten Geschehens enthoben ist in den Brüdern
Karamasow die „Legende vom Grossinquisitor“. Gleichzeitig hat man es hier
mit dem bei Dostojewskij seltenen Fall zu tun, dass ein Text durch seine Präsentation explizit als literarische Konstruktion ausgewiesen wird („Koneçno, fantaziä“, XIV: 237). Immer wieder wird Iwans Erzählung durch kurze Einwürfe
von Aljoscha unterbrochen; darunter befindet sich auch die poetologisch zentrale Bemerkung, es handle sich bei der „Legende“ um ein „quid pro quo“ (XIV:
228). Das aber bedeutet nichts anderes als das Eingeständnis, es handle sich
beim präsentierten Text um eine Allegorie (wörtl. ein Anders-Sprechen). Die
allegorischen Operationen, die Iwan Karamasow in seiner „Legende“ vorgenommen hat, lassen sich leicht wieder rückgängig machen: Das inquisitorische
Spanien des 15. Jahrhunderts steht für Russland, das die Wiederkunft des Heilands erwartet. Der Grossinquisitor seinerseits steht für die Usurpation des wahren Glaubens, der ein sacrificium intellectus erfordert, durch die Autorität offizieller Strukturen. Die Unmittelbarkeit des religiösen Gefühls, wie sie in den
Mönchsgestalten Tichon und Sossima verkörpert ist, wird vom Grossinquisitor
durch die disziplinierende Mittelbarkeit zivilisatorischer Gewalt ersetzt.
Der Grossinquisitor avanciert als allegorische Figur nachgerade zum Antichristen, der bereit ist, den Heiland als Ketzer auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Dostojewskijs erbitterte Gegnerschaft
zum Katholizismus sich gerade an dessen allegorischer Natur entzündet: Dem
wahren Christus kann man sich nur in symbolischer Rede nähern; der Katholizismus hingegen masst sich selber das allegorische Aussagemonopol über Christus an. Das Fatale am allegorischen Sprechen über Christus liegt darin, dass es
ein abschliessendes Sprechen ist; es lässt keine Transzendenz der Wahrheit zu.2
Der Grossinquisitor stellt seine allegorische Wahrheit höher als Christus selbst –
und muss deshalb konsequenterweise Christus auf dem Altar seines Katholizismus opfern. Dostojewskij hat seine eigene Position, die er dem Vorgehen des
Grossinquisitors entgegenhält, in einer berühmten Briefstelle vom 20. Februar
1854 formuliert. Dieser Gedanke schien Dostojewskij so wichtig, dass er ihn
später in den Bösen Geistern Stawrogin in den Mund gelegt hat:
2
Diese Anklage findet sich auch in Myschkins Brandrede gegen den Katholizismus am Schluss des Idioten (VIII: 450).
165
Malo togo, esli b kto mne dokazal, çto Xristos vne istiny, i dejstvitel´no bylo vy, çto istina vne Xrista, to mne luç‚e xotelos´ by ostavat´sä so Xristom ne eli s istinoj. (XXVIII/1: 176, X: 198)
Die Allegorie ist ein aussagelogisch eineindeutig entschlüsselbares rhetorisches
Verfahren und gerade deshalb für das Sprechen über Christus ungeeignet. Diese
Inadäquatheit wird von Dostojewskij gezielt ausgenutzt: Der Grossinquisitor tritt
gewissermassen als figurale Inkarnation von Iwans Atheismus auf. Damit erhält
die Allegorie in den Brüdern Karamasow eine eigene ideologiebildende Funktion.
12. Chiffre
Eine Allegorie lässt sich in der Regel durch einen aussagelogischen Algorithmus, der den Bildbereich auf einen im Text ebenfalls präsenten Sachbereich übersetzt, restlos deuten. Nun gibt es aber auch den Spezialfall einer verrätselten
Allegorie, in der sich die uneigentliche Rede so stark verselbständigt, dass nicht
einfach nur ein anderer, sondern ein gegensätzlicher Bildbereich des Sprechens
gewählt wird. Für dieses rhetorischen Verfahren bietet sich der Begriff der
Chiffre an.
Ein gutes Beispiel einer Figur, die nach dem Muster der Chiffre konstruiert ist,
bietet der philosophische Selbstmörder Kirillow aus den Bösen Geistern. Kirillow verfügt zwar über eine tief religiöse Natur, ist aber gleichzeitig davon überzeugt, dass kein Gott sei. Aus diesem Dilemma zieht Kirillow einen einfachen
Schluss: „Esli net boga, to ä bog.“ (X: 470)
Kirillow ist ein religiöser Atheist – er glaubt dermassen intensiv an die Notwendigkeit eines Gottes, dass die Erkenntnis der Nichtexistenz Gottes sofort die
Vergöttlichung des eigenen Ich nach sich zieht. Grundsätzlich lässt sich Kirillows Denkfigur als permutatives Verfahren begreifen, das die Position des
Grossinquisitors noch radikalisiert: Auch hier wird der Mensch an die Stelle
Gottes gesetzt; allerdings nicht im Bewusstsein um die Künstlichkeit dieses
Tausches, sondern aus philosophischer Verzweiflung.
In zugespitzter Formulierung lässt sich sagen, dass Kirillows Tragik darin liegt,
dass er sich selbst nicht versteht. Seine unbedingte Religiosität führt ihn paradoxerweise in die höchste Ketzerei: sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Das
hat mit der chiffrenhaften Konstruktion seiner Figur zu tun: Kirillow richtet sei166
ne Aufmerksamkeit auf das Eigentliche – Gott – und ersetzt es durch das Uneigentliche – den verabsolutierten Menschen. Zwischen dem Menschengott, der er
selber zu sein wähnt, und dem wahren christlichen Gott besteht aber das aussagelogische Verhältnis eines Gegensatzes: Kirillow ist durch seinen sozusagen
kanonischen Nichtglauben an Gott dazu verdammt, an seine eigene Göttlichkeit
zu glauben; die Theologie des Romans hält demgegenüber fest, dass der wahre
Gott auch den Nichtglauben der Menschen verzeiht, wenn man den Heiligen
Geist ehrt, ohne in zu kennen (XI: 28).
Die höchst widersprüchliche figurale Konstruktion Kirillows wird bei Dostojewskij konsequenterweise durch Selbstvernichtung aufgelöst: Die Vertauschung von Eigentlichem und Uneigentlichem, die zudem noch einen Gegensatz
bilden, führt zu einem Gewaltakt, in dem das richtige semiotische Verhältnis
zwischen den menschlichen und göttlichen Zeichen wieder hergestellt wird.
Methodologische Nachbemerkung
Die hier vorgeschlagene Theorie der Figuration beruht auf einer antimimetischen Deutung von Dostojewskijs Texten: Handlungspersonen werden
hier nicht als literarische Abbilder von Menschen begriffen, sondern als sprachliche Effekte, die aus rhetorischen Figurationen entstanden sind. Man darf sogar
vermuten, dass jede adäquate Dostojewskij-Lektüre diesen Schritt unbewusst
vollzieht. Kein Leser wird Dostojewskij vorhalten, seine Figuren seien unwahrscheinlich. Genau dieser Verzicht auf eine „realistische“ Charakterdeutung zeigt
aber, dass der Massstab für das Verständnis von Dostojewskijs Figuren nicht das
Leben, sondern ihre textuelle Umgebung ist. Diese Besonderheit wird überdies
bestätigt durch die Tatsache, dass das Äussere der Handlungsfiguren nur selten
beschrieben wird (Heier 1989: 18); der allgemeine Eindruck, den ein Leser von
einer Dostojewskij-Figur erhält, gründet sich fast ausschliesslich auf Äusserungen in direkter Rede. Zugespitzt lässt sich sagen: Die Figur selbst markiert nur
die Textgrenze einer Aussage; die handelnden Personen werden nicht als „Typ“
oder „Individuum“ wahrgenommen.
Bereits Michail Bachtin hat mit seinem Konzept des polyphonen Romans darauf
aufmerksam gemacht, dass Dostojewskijs Texte eine Vielzahl von ideologischen
Positionen aufweisen. Diese grundlegende Beobachtung kann auch für eine
Theorie der Figuration fruchtbar gemacht werden, nur müssen die Abhängigkeiten vertauscht werden. Die einzelnen Figuren sind nicht mehr – wie bei Bachtin
167
– autonome Aussagesubjekte, die ihre Ansichten unabhängig vom Autor formulieren. Die verschiedenen ideologischen Diskurse, die sich nicht in einen widerspruchsfreien Text pressen lassen, bilden vielmehr in rhetorischer Figuration ein
dramatisches Geschehen, in dem die einzelnen Positionen durch literarische Figuren „verkörpert“ werden.
Diese grundsätzlichen Überlegungen können sich auf Forschungsergebnisse
stützen, die vor allem aus der französischen Literaturtheorie stammen. Gérard
Genette hat in einem vielbeachteten Aufsatz auf die textkonstitutive Rolle der
Metonymie bei Proust hingewiesen (1972: 63). Zwar geht Genette nicht so weit,
Prousts Handlungsfiguren als metonymische Effekte zu betrachten, sehr wohl
kann er jedoch die sprachinduzierte Gestaltung einzelner Chronotopoi des Romans nachweisen (46).
Die dramatische Kraft von rhetorischen Figuren ist auch bei Jacques Derrida ein
wichtiges Thema. In seinem Aufsatz „Die weisse Mythologie“ hat er die Funktionsweise der Metapher einer genauen Prüfung unterzogen. Aufgrund der Verwechselbarkeit von Begriff und bildhaftem Ausdruck trägt die Metapher immer
ihren eigenen Tod mit sich (1988: 259). Die klassische Philosophie wendet laut
Derrida ein „bleichendes“ Verfahren an, das aus den alten, lebensverhafteten,
bunten Fabeln nur weisse Mythologien macht – allegorische Aussagen über Uneigentliches, das dann an die Stelle des Eigentlichen tritt. Zwar hält auch Derrida
das Eigentliche nicht für benennbar; gleichzeitig fordert er aber auch die kritische Einsicht in den inneren Zwiespalt des metaphorischen Sprechens, in dem
sich Eigentliches und Uneigentliches gegenseitig zersetzen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Paul Ricœur in seinem Buch Die lebendige Metapher. Er geht davon aus, dass die Kopula der Metapher gleichzeitig ein
„ist nicht“ und ein „ist wie“ bedeutet (1986: 10). Die sinnstiftende Kraft der Metapher liegt genau in dieser Spannung, in der sich Fiktion (Mythos) und Neubeschreibung (Mimesis) zu einer autonomen Sprachschöpfung vereinigen (235).
Die innere Doppelstruktur der Metapher erscheint bei Ricœur – im Gegensatz zu
Derrida (263 f.) – jedoch als positive Chance, eine Aussage von ihrer Wirklichkeitsreferenz zu lösen und eine textimmanente Referenz zu erreichen.
Genau als solche textimmanente Referenzen müssen auch Dostojewskijs Figuren (im doppelten Sinne des Wortes) verstanden werden. Erst die Einsicht in die
rhetorische Verfasstheit der Handlungsfiguren kann überdies mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufräumen: Dostojewskij ist kein „genialer Psychologe“, der
den geheimsten Regungen der menschlichen Seele nachspürt. Die Komplexität
seiner Personendarstellungen ist vielmehr sekundär und verdankt sich der Span168
nung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede, die allen rhetorischen Figuren zugrunde liegt.
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