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Rationalität der Gefühle in Zeiten des Populismus

2021

This paper discusses the relationship between emotions and rationality in the current debate about populism from the perspective of radical democracy. In response to the diagnosis of postdemocracy and political apathy, the task was to help revitalize democracy, including through the deliberate elicitation of emotions. Using insights from Laclau`s and Mouffe`s political theories, two strategies are proposed, a strategy of indignation and a strategy of trust. By linking both strategies to the current discourse on the rationality of emotions, both conceptions can be differentiated in a new way. Accordingly, it is not just the issue of negative versus positive emotions, but the emotions also differ in their degree of activation and mobilization and thus the potential of their strategic use. This difference finally forms the basis for analyzing the radical democratic potential of populism. A comparison of left and right populisms should show that their difference can also be shown in dealing with the strategies described. Thus, the question arises why the one-sided thematization of negative emotions in the radical democratic discourse remains dominant.

Rationalität der Gefühle in Zeiten des Populismus www.diskurs-zeitschrift.de Ausgabe 6 Gefühle des Widerstandes Kontakt [email protected] Erschienen April 2021 Lucas von Ramin TU Dresden, Institut für Philosophie Abstract This paper discusses the relationship between emotions and rationality in the current debate about populism from the perspective of radical democracy. In response to the diagnosis of postdemocracy and political apathy, the task was to help revitalize democracy, including through the deliberate elicitation of emotions. Using insights from Laclau`s and Mouffe`s political theories, two strategies are proposed, a strategy of indignation and a strategy of trust. By linking both strategies to the current discourse on the rationality of emotions, both conceptions can be differentiated in a new way. Accordingly, it is not just the issue of negative versus positive emotions, but the emotions also differ in their degree of activation and mobilization and thus the potential of their strategic use. This difference finally forms the basis for analyzing the radical democratic potential of populism. A comparison of left and right populisms should show that their difference can also be shown in dealing with the strategies described. Thus, the question arises why the one-sided thematization of negative emotions in the radical democratic discourse remains dominant. Keywords Emotionen, Radikaldemokratie, Populismus Lucas von Ramin: Zur Rationalität der Gefühle, diskurs, Ausgabe 6, S. 23–42. Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 24 Die westlichen Gesellschaften waren in den letzten Jahren mit einer Re-Politisierung konfrontiert, deren Sichtbarkeit von der Vielzahl politischer Kämpfe und Protestbewegungen bis zu Diskussionen im Privat- und Familienkreis reichte. Ob die schon länger zurückliegenden Aktionen von Occupy Wall Street, der Aufstand der Hongkonger*innen gegen den zunehmenden Einfluss Chinas, die Gelbwestenproteste in Frankreich oder auch die zahlreichen Fridays for Future und PEGIDA-Demonstrationen in Deutschland, in jeder dieser Gruppen äußerten sich Enttäuschung und Empörung über die aktuelle politische Lage und der Anspruch, diese mit zivilgesellschaftlichen Mitteln verändern zu können. Diese Diagnose verleitete die historische als auch kultursoziologische Forschung, die neue Stimmung dieser Zeit vergangenen Stimmungen des letzten Jahrhunderts gegenüberzustellen. Beispielsweise beschreibt U. Frevert, wie nach 1918 und dem Ende des 1. Weltkrieges „positive Erwartungen, Enthusiasmus, Begeisterung über das Neue […]“ (Frevert 2018) als Gefühlszustand festgestellt werden konnten. Einige Jahrzehnte später, für die Hochphase der kapitalistischen Wirtschaftsweise der 80er und 90er Jahre, wurde eine „Normierung und Kommerzialisierung von Emotionen“ (Seyd 2013: 21) diagnostiziert. Der Zwang zur Freundlichkeit oder das Überspielen von Emotionen im Servicebereich gelten als Beispiele einer Unterdrückung des Selbst und steigender Entfremdungserfahrungen. Für die heutige Zeit und eingangs beschriebene Politisierung gilt dagegen, was S. Freud strukturell als Unbehagen in der Kultur (Freud 2007), P. Sloterdijk in Zorn und Zeit (Sloterdijk 2016) eine Wiederkehr des Zorns zu Beginn des 21. Jahrhunderts oder U. Jensen Zornpolitik (Jensen 2017) nannten. Diskussionen um Wutbürger, Hatespeech, Populismus oder Empörungskultur machen nicht nur auf eine Politisierung, sondern auf die mit Politisierung verbundenen negativen Gefühle aufmerksam. Hervorgehoben wird eine neue Gefühlspolitik, welche nicht nur als neue Stimmung aufgefasst wird, sondern politikwissenschaftlich mit demokratischem Vitalisierungspotential verbunden ist. Demokratie, so die gängige und gegenwärtige These, ist kein rationaler Verhandlungsprozess, sondern muss Emotionen mit einbeziehen. Unter dem Stichwort eines „affective turn“ (Clough et al. 2007) wurden Emotionen für die politische Theorie fruchtbar gemacht und zu einem legitimen Ausdrucksmittel gesellschaftlicher Praxis. Dabei zeigte sich eine demokratietheoretische Vorsicht gegenüber harmonisierenden Tendenzen und damit verbundenen Wohlfühlemotionen. Vielmehr ist gefühlte Demokratie konfliktgeladen, wütend und empörend, weil nur so Initiativen als demokratisches Aufbegehren neben der institutionalisierten Demokratie zustande kommen. Dahinter steht ein Theoriekonzept, welches heute vielfach unter Radikaldemokratie, der Differenz von Politik und Politischem oder auch Postfundamentalismus diskutiert wird (Comtesse et al. 2019). Grobe Gemeinsamkeit dieser Ansätze ist ein emphatisches Plädoyer für ein Verständnis des Politischen als Konflikt als ein ständiges und nicht abschließbares Ringen um Mitsprache. Gesellschaft, Demos und Institutionen sind nicht fest definierbar und feststellbar, sondern realisieren sich nur im Moment gemeinschaftlicher Praxis. Mit der Zunahme rechtspopulistischer Bewegungen und gesellschaftlicher Konfliktlinien stieg die Skepsis gegenüber dem Potential jener Emotionspolitik (Klein & Heitmeyer 2015). Die Radikalisierung von Antagonismen trug zwar zur Politisierung bei, scheint aber gleichzeitig gesellschaftlich zersetzende Kräfte zu entwickeln 25 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle (Eribon 2016a; Eribon 2016b). Es finden sich deshalb vermehrt Versuche, den radikaldemokratischen Diskurs bezogen auf Emotionen noch in eine andere Richtung zu lenken. Mitleid, Empathie und Vertrauen sind dort die Leitemotionen, die der demokratisch geteilten Unsicherheit entspringen, wie gegenwärtige Auseinandersetzungen mit Solidaritäts- oder Anerkennungstheorien zeigen (Brunkhorst 2002; Marchart 2011; Honneth 2016). Es gilt die Grundlagen des Konfliktes und Streits als gemeinsame und geteilte Grundlagen einsichtig zu machen und damit die Auseinandersetzung einzuhegen. Wie ist folgend die Rolle von negativen Emotionen wie Empörung, Wut und Zorn und positiven Emotionen wie Mitleid, Empathie und Vertrauen, für die Demokratietheorie zu werten? Findet im radikaldemokratischen Diskurs aufgrund der konflikttheoretischen Ausrichtung eine Einengung auf negative Emotionen statt? Wenn eine solche Einengung festzustellen ist, ist sie der Grund, weshalb eine Emotionalisierung des Politischen, beispielsweise durch das Appellieren an negative Emotionen im Rechtspopulismus, den demokratischen Wert des „affective turn“ ins Wanken bringt? Von diesem Dilemma ausgehend werde ich im ersten Abschnitt beschreiben, wie radikale Demokratietheorie auf die Diagnose der Politikverdrossenheit reagierte und weshalb, wenn auch nicht immer offensichtlich, eine emotionale Wende in der politischen Theorie und der Politikwissenschaft mit dieser Reaktion verbunden ist. In den folgenden zwei Abschnitten konkretisiere ich dieses Modell anhand der Arbeiten von E. Laclau und C. Mouffe (Mouffe 2010; Laclau & Mouffe 2020). Vorgeschlagen werden zwei Strategien der Aufwertung von Emotionen, die ich einmal als Strategie der Empörung und einmal, in Anschluss an eine Analyse von A. Hetzel, als Strategie des Vertrauens beschreibe (Hetzel 2010). Mit der Rückbindung beider Strategien an den aktuellen Diskurs über die Rationalität der Gefühle wird eine neue Möglichkeit der Differenzierung vorgeschlagen. Es handelt sich demnach nicht nur um negative und positive Emotionen, sondern die Emotionen unterscheiden sich auch in ihrem Aktivierungs- und Mobilisierungsgrad und damit der Möglichkeit ihres strategischen Einsatzes. Diese Differenz bildet abschließend die Grundlage, um das radikaldemokratische Potential des Populismus zu analysieren. Eine Gegenüberstellung linker und rechter Populismen soll zeigen, dass sich deren Unterschied auch über den Umgang mit Emotionen darstellen lässt, aber gleichzeitig in diesem Unterschied auch die gegenläufige Erfolgsgeschichte liegt. Anleitend bleibt die Skepsis gegenüber der einseitigen Thematisierung von Emotionen im radikaldemokratischen Diskurs und den damit verbundenen Konklusionen, wie die positive Rezeption von Populismus und zivilgesellschaftlichem Aufbegehren. Zwar ließe mit dem Fokus auf den politischen Aktivierungsgrad von Emotionen auch von linker Seite effektive Emotionspolitik betreiben, jedoch um den Preis des mit dieser Politik verbundenen, kontingenzsensiblen Demokratieverständnisses. Der instrumentelle Wert emotionsgeleiteter Politik darf nicht genuin als demokratischer Wert aufgefasst werden. Radikaldemokratisches Motivationsversprechen Spätestens seit Colin Crouchs Analyse zur Postdemokratie (Crouch 2017) lässt sich eine zunehmende Hinwendung zu Emotionen im demokratietheoretischen Diskurs Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 26 registrieren. Mit Postdemokratie wurden Legitimationskrisen liberaler Demokratien im 20. und 21. Jahrhundert thematisiert, die im Kern eine durch Lobbyismus, oligarchische Eliten oder politisches Establishment vorangetriebene Abnahme an Mitbestimmungsmöglichkeiten, eine Abnahme von Demokratie betonen, in deren Folge maßgeblich negative Gefühle der Ohnmacht und sinkendes Vertrauen festzustellen waren. Politikverdrossenheit (Arzheimer 2002; Huth 2004) war die moderne Krankheit liberaler Demokratien, für die es in Politik und politischer Theorie Heilung zu finden galt. Eine besonders hervorstechende Rolle nahmen, unter dem Stichpunkt einer „Demokratisierung der Demokratie“ (Offe 2003), radikaldemokratische Ansätze ein, die andere Formen von Politik, abseits ihrer institutionalisierten Form stärkten, indem sie daran erinnern, „dass sich bestehende Ordnungsmuster im Rahmen politischer Handlungen aufbrechen lassen.“ (Comtesse et al. 2019: 11). Auf theoretischer Ebene galt es darauf aufmerksam zu machen, dass die Wurzel von Demokratie in der Unhintergehbarkeit gemeinschaftlich errungener Entscheidungen liegt, die auch immer hätten anders entschieden werden können, was auf praktischer Ebene Gründe liefert, gegen vermeintliche Alternativlosigkeit vorzugehen. Jene Bewegung der Öffnung wird im Handbuch radikale Demokratietheorie auf drei Weisen skizziert, als Ausweitung von Mitbestimmung, als thematische Ausweitung der Bereiche, über die sich mitbestimmen lässt, und als Auflösung der Idee von Gewissheit (Comtesse et al. 2019: 12). Daran anschließend sind Kontingenz und Grundlosigkeit philosophische Grundbegriffe, die verdeutlichen, dass Demokratie kein Fundament besitzt, sondern sich immer wieder selbst hervorbringen muss. Radikaldemokratische Theorien sind deshalb nicht nur philosophische Abhandlungen, sondern auch Motivationsschriften (Hetzel 2010: 235). Trotz der Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Autor*innen1 ist es sinnvoll, die »Motivation« an einem konkreten und prominenten Beispiel zu illustrieren. Mit ihrem 1985 erschienenen Buch Hegemonie und radikale Demokratie (Laclau & Mouffe 2020) legten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe die Grundlage einer Neukonzeption linker Politik. Als Reaktion auf neue soziale Bewegungen wie Feminismus, dem Aufbegehren sozialer und ethnischer Minderheiten oder der Antiatomkraft-Bewegungen galt es, diese als Aufbau einer „demokratischen Gegenhegemonie“ (Marchart 2007) neu einzusortieren. Grundlage bildete die Entwicklung eines eigenen Hegemoniekonzeptes, welches zur Kernlogik des Politischen avancierte. Im Zentrum stand, was Marchart als „discursive turn“ (Marchart 2007: 107) bezeichnet, also die Neuausrichtung des Politischen als Diskurstheorie, die Laclau in Emanzipation und Differenz (Laclau 2013) später ausformuliert. Aufbauend auf die Zeichentheorie F. de Saussures wird Sprache nicht nur als relationale Wiedergabe der Wirklichkeit angesehen, sondern argumentiert, dass sprachliche Zeichen und deren Bedeutung nur innerhalb sprachlicher Systeme zu verstehen sind.2 Im Sinne der Kohärenztheorie der Wahrheit, ist der Bestimmungsgrund einer Bedeutung allein diskurstheoretisch, soll heißen, „le- 1 2 Zu nennen wären hier beispielsweise J. Rancière, A. Badiou, C. Lefort oder J.-L. Nancy. Unterschieden wird zwischen dem Bezeichnenden (Signifikant), also dem Laut, und dessen Bedeutung und Vorstellung (Signifikat). 27 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle diglich durch ihre Differenz definiert“ (Rüdiger 1996: 159) und kann nicht a-historisch entdeckt werden. Was Laclau und Mouffe nun hervorheben ist, dass Diskurse versuchen, Bedeutung zu fixieren durch die Bildung von Gemeinsamkeit bzw. Äquivalenzen, welche in gemeinsam geteilter Abgrenzung bestehen. So entsteht das Paradox der Konstitution von Identität durch Differenz, indem die inhaltliche Bestimmung, also das Signifikat, verloren geht: „Ein leerer Signifikant ist genau genommen ein Signifikant ohne Signifikat“ (Rüdiger 1996: 159). Es gibt nur Teilfixierungen, sogenannte Knotenpunkte, die aber, weil sie nur über Differenzen entstehen, ihre Negation selbst wieder hervorbringen. Das so theoretisch Formulierte ist dann Grundlage einer Theorie von Gesellschaft, weil es nichts anderes als die diskursive Verfasstheit des Sozialen beschreibt. In der Folge wird dieses ständige Spiel zum ontologischen Kern des Politischen. Der „leere Signifikant“ ist die symbolische Verkörperung eines imaginären Allgemeinen, das sich als tatsächliches Allgemeines nie realisieren lässt. Oder um es mit S. Žižek zu sagen, „die Tatsache, dass das Allgemeine in seiner konkreten Existenz immer »falsch« ist“ (Žižek 2001: 246). Der Ort des imaginären Allgemeinen ist immer ein nicht vollständig besetzbarer, leerer Ort, der aufgrund dieser Leere zu Füllungsversuchen einlädt. Das Projekt radikaler und pluraler Demokratie besteht aus einer Vielzahl solcher Versuche, ohne einen davon privilegieren zu können. Neue soziale Bewegungen sind folglich eine „Vertiefung der demokratischen Revolution“ (Laclau & Mouffe 2020: 224). Dass eine positive Bezugnahme auf Gefühle diese Theorie begleitet, liegt nach dieser Darstellung nicht offensichtlich auf der Hand. A. Hetzel spricht zurecht von „kognitivistischen Engführungen“ (Hetzel 2010: 235), weil die Grundbegriffe radikaldemokratischer Theorien wie Negativität, Grundlosigkeit, Signifikation oder Kontingenz einem philosophisch aufgeladenen Diskurs entspringen und zunächst als Verschiebung rationaler und reflexiver Gedankengebäude erscheinen. Sich die Möglichkeits- und Unmöglichkeitsbedingungen von Demokratie bewusst zu machen, heißt nicht durch eine Dekonstruktion rationaler Philosophie diese aufzugeben, sondern die Dekonstruktion durchzuarbeiten.3 Dennoch lassen sich zwei Strategien ausmachen, Emotionen mit dem bisher vorgestellten Konzept in Verbindung zu bringen. Empörung als radikaldemokratisches Gefühl Die erste Strategie ist direkte und offensichtliche Folge des diskurs- und konflikttheoretischen Modells. Während im klassischen Liberalismus Emotionen als Gefahr angesehen werden, sind sie in der radikaldemokratischen Variante ein Potential zur Politisierung. Schon seit dem 17. Jahrhundert gelten in der liberalen Tradition, so G. S. Schaal und F. Heidenreich, Gefühle als irrational und hysterisch: „Wo die Sachlichkeit von Entscheidungen, die Rationalität von Strategien, die mit Statistiken belegte Objektivität von Einschätzungen gefordert werden, scheinen Emotionen nur zu stören“ (Schaal & Heidenreich 2013: 3). Die Vorstellungen basieren auf dem alten Bild eines 3 Eine längere Diskussion zur Bedeutung von Kontingenzbewusstsein im Autorenfeld der Radikaldemokratie oder der Postmoderne zeigt die Komplexität jener Bewusstseinsform (Marchart 2019). Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 28 Dualismus von Vernunft und Emotionen, bei dem die eine Seite als kontrollierte und die andere Seite als das willkürliche Moment gilt, dem Einhalt geboten werden muss. Emotionen, so die liberale Lesart, bedrohen aufgrund ihrer Irrationalität individuelle Freiheit und verleiten zur Tyrannei der Mehrheit. Das Ideal ist deshalb ein Standpunkt der (emotionalen) Neutralität, indem Emotionen kontrolliert oder ins Private verbannt werden. Ironischerweise war es in Deutschland besonders Angela Merkel, die lange als Symbolfigur für eine solche distanzierte Neutralität herangezogen wurde, die seit 2015 jedoch zur polarisierenden Figur geworden ist. Als Gegenbild zur liberalen Tradition fungiert oft der Republikanismus, weniger die Radikaldemokratie, auch wenn Marchart die Texte von Laclau und Mouffe mit der republikanischen Tradition in Verbindung bringt. Während der klassische Republikanismus jedoch, so Schaal und Heidenreich, auf die „Notwendigkeit politischer Tugenden, patriotischer Gefühle und einer Opferbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger“ (Schaal & Heidenreich 2013: 6) setzt, setzt die aktuelle Rezeption auf das zivilgesellschaftliche Politisierungspotenzial von Emotionen. Denn nach Mouffe bilden sich effektive Teilfixierung und Knotenpunkte nicht nur durch eine leidenschaftsfreie Auseinandersetzung, sondern gerade durch eine „demokratische Mobilisierung von Affekten“ (Mouffe 2010: 40). In Über das Politische konzipiert sie in Anlehnung an S. Freud und J. Lacan das Verhältnis von Liebe und Aggression ähnlich dem vorgestellten Diskursmodell. Kollektive Identifikation wird auch hier durch gemeinsame Ablehnungsgefühle gegründet. Gibt es für jene Gefühle kein Ventil, radikalisieren sie sich zu Hass und Gegnerschaft, weshalb Mouffe es für notwendig hält, diesen Gefühlen einen legitimen Ort zu geben: „Politik hat immer eine Dimension leidenschaftlicher Parteilichkeit, und damit Menschen sich für Politik interessieren, müssen sie die Möglichkeit haben, zwischen Parteien zu wählen, die echt Alternativen bieten“ (Mouffe 2010: 40). A. Hetzel kritisiert nicht zu Unrecht, dass jene Lesart „Gegnerschaft als einzigen demokratischen Affekt“ (Hetzel 2010: 240) stilisiert. Im Widerstand gegen die Alternativlosigkeit zählen vor allem Momente der Empörung, des Zorns und eines kollektiv erlebten Unrechtsgefühls, welches zuallererst die Motivation für politische Aktivierung schafft. Andreas Vasilache bezeichnet dieses „Dissens-, Konflikt- und Kampfdenken“ (Vasilache 2019: 493) als Gemeinsamkeit, der aus republikanischer Tradition gewachsenen, radikalen Demokratietheorie. Es wundert deshalb auch nicht, dass sowohl Mouffe als auch Laclau sich positiv über populistische Politik äußern (Mouffe 2018; Laclau 2007), der Verweis auf Populismus diente, wie bereits H. Dubiel 1986 schrieb (Dubiel 1986) dazu, zwischen einer affektiven und einer rationalen Politik zu unterscheiden. Ausgangspunkt war die Zielstellung, dem Rechtspopulismus nicht das Feld zu überlassen, weil dieser sich als einzige Strömung bewusst den Gefühlen frustrierter Bürger widmet (Mouffe 2010: 42). Es galt folgend Populismus zwar nicht zu verherrlichen, aber zumindest von seiner liberalen Dämonisierung zu befreien. Denn was Populisten machen, ist nichts anderes als in klarer Abgrenzung zu einem klaren politischen Gegner (Establishment, Migranten, Kapitalismus) partikulare Positionen unter einer gemeinsamen Differenz zu versammeln. In der Logik des »leeren Signifikanten« wird so das populäre Subjekt des Volkes konstruiert und emotional erlebbar, welches sich gegen die scheinbar unfähige politische Machtinstanz stellt (Laclau 2007: 115). Das Volk ist dann, wie A. Agridopoulus und S. Kim argumentieren, nicht nur „passive Legitimationsinstanz, 29 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle sondern […] Anrufungsinstanz, die politische Kämpfe aktiviert und motiviert“ (Agridopoulos & Kim 2019: 593). Mouffes bekannte Forderung ist deshalb die Etablierung eines Linkspopulismus, welcher es schafft, die Pluralität an Ansprüchen neuer sozialer Bewegungen unter einem Knotenpunkt zu einen. Gefühle, besonders Gefühle der Empörung, Wut und des Zorns, dienen in der Logik von Mouffe und Laclau als strategischer Verbindungsanker, der nicht nur, aber vor allem aufgrund seines Mobilisierungspotentials in den Mittelpunkt gerückt wird. Vertrauen als radikaldemokratisches Gefühl Die zweite Strategie beruht auf einer Verschiebung der Interpretation der bisher diskutierten Theorie, die nicht auf das Moment der Abgrenzung und Empörung, sondern dasjenige der Verbindung fokussiert. Nach Hetzel setzt Mouffes Agonismus „einen weiteren, nicht explizit genannten Affekt voraus, den Affekt des Vertrauens: eines Vertrauens darauf, dass mich der Gegner im politischen agon nicht als Feind behandeln wird […]“ (Hetzel 2010: 242). Er bezieht sich damit auf die von Mouffe erkannte Gefahr einer Essentialisierung des Feindes und der Parteilichkeit, auch gerade durch Emotionen. Bereits sie argumentierte, dass es einer Anerkennung des Gegners als legitimen Gegner, wie sie es nennt, einer Transformation des Antagonismus in einen Agonismus bedarf. Erinnert wird an die eingangs beschriebene Kontingenz, unter der der Konflikt erst denkbar wird und wodurch auch die eigene Position nur als „partikulare Strategie in einem Feld konfligierender Mächte verstanden werden darf“ (Hetzel 2010: 242). Hetzel macht deutlich, dass es für die negative Begründungsform und den damit verbundenen normativen Implikationen auch ein emotionales Äquivalent geben kann. So ist es eine verbreitete Tendenz gegenwärtiger Anerkennungstheorien, aufbauend auf Hegel, aber auch von Theorien, wie sie von J. Lacan und E. Levinas bekannt sind, den Anderen zunächst als Anderen, als Subjekt des Mangels anzuerkennen. Was sich in diesen Gedanken artikuliert ist ein vorläufiges oder, wie Hetzel es nennt, ungegründetes Vertrauen, dass gewisser Weise zuerst ausgesprochen ist, bevor es durch Leistungen in irgendeiner Form bestätigt wird. Argumentativ vollzogen wird eine positive Aufwertung des Mangels und der Ungründbarkeit als Chance und Hoffnung4, dass es eben anders sein kann. Es heißt dann: „Wir vertrauen der Demokratie, können der Demokratie nur vertrauen, sofern sie sich verletzbar zeigt. Diese Verletzbarkeit ist wiederum nur möglich, wenn wir Demokratie von allen universalistischen und kosmopolitischen Visionen entkoppeln“ (Hetzel 2010: 247). Umgedeutet wird der Wert von Demokratie, welcher sich nicht mehr aus ihrem reinen Output speist, welches Vertrauen erzeugt, sondern eines „negativistisch gedeuteten Vertrauens“ (Hetzel 2010: 248), welches auf der paradoxen Struktur ruht, Fehlbarkeit und Verletzbarkeit immer schon vorauszusetzen. Diese Struktur ist für den radikaldemokratischen Diskurs nicht ungewöhnlich und wurde in den letzten Jahren maßgeblich unter dem Konzept der Solidarität diskutiert. Solidarität wird ebenfalls gedacht als Anerkennung des Mangels des Anderen, welcher strukturell ebenso der meinige ist 4 Hetzel weist zurecht auf die Parallelen zwischen der Theorie Mouffes und dem amerikanischen Pragmatis mus. Siehe Rorty (1994). Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 30 (Marchart 2011: 350–361). Wie im Fall von Vertrauen wird versucht, das antiessentialistische Moment der Grundlosigkeit und Kontingenz emotional zu übersetzen. Rationalität und Emotionalität Dass beide Varianten einer Positivierung von Emotionen im radikal-demokratischen Kontext nicht identisch sind, ist offensichtlich. Es bietet sich deshalb an, auf eine Differenzierung zurückzugreifen, die bisher ignoriert wurde. Der sogenannte „affective turn“, also die Zuwendung zu Emotionen Anfang der 1990er in der Sozial- und Politikwissenschaft, setzte ein parallel zu Erkenntnissen, die den Dualismus von Emotionen und Vernunft infrage stellten. Das seit der Antike und repräsentativ bei Platon dominante Modell einer Vernunft, die die Emotionen zügeln, wenn nicht unterdrücken sollte, wurde in den 1960er Jahren von einer kognitiven Wende in der Emotionsforschung angezweifelt, den eigentlichen Bruch gab es aber mit der Einführung neuer Untersuchungsverfahren, wie die der Computer- und Kernspintomographie (Landweer et al. 2012: 11–16). Bis heute erkenntnisleitend sind die Arbeiten von Antonio Damasio, welcher zeigte, dass an vernünftigen Entscheidungen Emotionen immer schon beteiligt sind (Damasio 2015). Emotionen bilden Präferenzen ab, unter denen wir uns überhaupt erst mit etwas rational auseinandersetzen und rationale Entscheidungen können wiederum zu bestimmten Emotionen beitragen. Unter Stichworten wie „Rationalisierung der Gefühle“ (Sousa 2016) und „kognitivistische Emotionstheorien“ (Hartmann 2010: 53– 71) ist von einer Verbindung beider Bereiche auszugehen und damit die Rolle der Gefühle aufzuwerten. Zum einen ermöglicht die Verbindung von Emotionen mit kognitiven Elementen, Emotionen überhaupt zu identifizieren und voneinander abzugrenzen. Nach M. Hartmann beispielsweise sind Empfindungen (feelings), also reine Sinneswahrnehmungen, von Gefühlen (emotions) und den mit der Wahrnehmung verbundenen psychischen Dispositionen (Hass, Liebe etc.) zu trennen. Sabine A. Döring unterscheidet analog zwischen »nichtemotionalen« und »emotionalen Gefühlen«. Während Erstere auf ein Erlebnis begrenzt sind, haben Letztere eine „evaluativ-repräsentative Funktion“ (Döring 2018: 14–16), soll heißen, sie vermitteln immer auch Wissen und Bewertung über die Welt. Sie geben aber nicht nur Auskunft, sondern sind, wie de Sousa eindrücklich zeigt, auch durch die Welt geprägt, also sowohl durch unsere biologischen Wurzeln als auch durch die geistigen und kulturellen Fähigkeiten. Das heißt auch, dass sich die Art der Verbindung „graduell von der einfachen Kausalität der Reflexe zu immer komplexeren Formen der Repräsentation verändert [hat]“ (Moser 2013: 26). Das legen auch psychologische Untersuchungen nahe, die gemeinhin zwischen Basisemotionen und komplexeren Emotionen unterscheiden. Der genaue Grad der Differenzierung verläuft unterschiedlich, aber es ist eine gemeinsame Tendenz wahrzunehmen. Es gibt Emotionen, die schneller, einfacher und direkter ihre motivationale, evaluative und verhaltenauslösende Komponenten aktivieren, und welche, die eben langsamer, komplexer und indirekter sind. Unterschieden wird der Grad an Intensität. Zum anderen hat das zunehmende Wissen um die Funktionsweise, Wirkung und Intensität von Emotionen auch deren praktische Vorteile erkennbar werden las- 31 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle sen. Nicht nur, dass sie als Wahrnehmungs- und Deutungsstruktur ernst genommen werden, sondern sie werden auch funktional rationalisiert. Unter dem Stichpunkt des »Emotionsmanagement« werden Umgangsweisen diskutiert, die beschreiben, wie sowohl der Einzelne, aber auch wie die Gesamtgesellschaft einen optimalen und effektiven Umgang mit Emotionen gestalten. Der instrumentelle und ökonomische Zugang ist dabei nicht zufällig, geht es immer auch darum, Emotionen als marktwirtschaftliches Steuerungselement zu begreifen. Wurden in der Antike Emotionen oft als Götter interpretiert, die in den Menschen einfallen, kann das Einfallen nun auch menschlich gesteuert werden. Die beschriebenen Erkenntnisse lassen sich folgend auf die Differenzierung von negativen und positiven Emotionen übertragen. Verstehen wir Empörung als ein Cluster aus Emotionen wie Wut, Zorn und Ärger, dann sind es diese Emotionen, die Evolutionstheoretiker als Grundgefühle einordnen und die sie sogar überall in der Welt gleich gedeutet und realisiert sehen (Ekman 2011: 1–23). Das spricht für deren tiefe, sowohl physische als auch historische Verankerung im menschlichen Wesen. Auf der biologischen Seite werden sie als die ältesten im Gehirn festgelegten Schaltkreise angesehen. Abseits der rein biologischen Frage sind damit auch besondere Eigenschaften verbunden. Insbesondere für Ärger und Wut gilt, dass keine andere Emotion so stark mobilisiert und so dauerhaft Energie und motorische Kräfte bündelt. Gerade der radikaldemokratische Diskurs war interessiert an dieser Effizienz und direkten und schnellen Politisierung, welche nicht durch Rationalisierungsprozesse eingeebnet werden soll. Es ist deshalb nicht zufällig, dass die Zusammenführung demokratischer Begehren an einer gemeinsamen Gegnerschaft festgemacht wird und dadurch Emotionen im Mittelpunkt stehen, deren Überwältigungs- und Aktivierungsgrad über die internen Differenzen hinwegsehen lässt. Diese Feststellung gilt besonders für sogenannte negative Emotionen, zu denen nicht nur Ärger und Wut, sondern auch Angst und Trauer gehören. Letztere werden oft als vorausgehende Emotionen angesehen, auf die Ärger und Wut eine Reaktion darstellt. Auch in der Debatte um Politikverdrossenheit und in den Analysen von Mouffe und Laclau zeigte sich, dass einer Politisierung von Emotionen zunächst Erfahrungen der Enttäuschung und Angst vorausgehen. Solche Emotionen erinnern an das alte Konzept der Affekte oder des Pathos, indem Gefühle als etwas angesehen werden, was einem passiv widerfährt, von dem man ergriffen wird, auf die sich, und das ist ein Gewinn der kognitivistischen Wende, auch bewusst zugreifen lässt. Dass dagegen Hetzel von Vertrauen als einem Affekt spricht, ist verwunderlich. Das bisher dargelegte Konzept, auch im Kontext des „discursive turn“, scheint viel zu komplex und vor allem an reflexive Voraussetzungen gebunden, um als affektives Programm zu gelten. Die Absicht hinter dieser Bezeichnung ist freilich erkenntlich, geht es darum, sich bewusst von rationalistischen Ansätzen abzugrenzen. Dabei gilt bereits für das rationalistische Verständnis von Vertrauen, dass es „weniger emotional denn kognitiv-evaluativ verstanden wird“ (Schaal & Heidenreich 2013: 4). Vertrauen existiert hier nur „im Sinne eines reziproken Tauschs von Erwartungen in Begriffen der Ökonomie, Vertragstheorie und Wahrscheinlichkeitsrechnung“ (Hetzel 2010: 251). Wenn Politiker in Zeiten von Krisen zu ihren Bürger*innen sprechen, dann geht es immer auch um die Gründe, die für diese Form von Gefühlsmanagement angegeben werden. Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 32 Es gilt aber ebenso, wenn nicht sogar stärker für das mit Hetzel eingeführte, negativistische Vertrauenskonzept, welches vor aller Begründung und gewisser Weise auch Reflexion vorausgesetzt werden soll. Wie bereits beschrieben, lässt sich dies auch anhand der Diskussion um Solidarität im radikaldemokratischen Diskurs verdeutlichen. O. Marchart beispielsweise, ebenfalls im Anschluss an Laclau und Mouffe, schlägt eine postfundamentalistische Anerkennungstheorie vor. Analog zur Logik der Differenz heißt für ihn politisch sein, wenn „ein Partikulares die Aufgabe [übernimmt], ein Allgemeines zu verkörpern, das in letzter Instanz nie vollumfänglich verkörpert werden kann“ (Marchart 2011: 276). Er bezeichnet dies als „als-ob“-Status. Um wie Hetzel einen radikalen Antagonismus zu vermeiden, konzeptualisiert er ein Wissen um den „als-ob“-Status als „Anerkennung der Unbedingtheit des Bedingten“ (Marchart 2011: 342). Mit Verweis auf Judith Butlers Kritik der ethischen Gewalt wird argumentiert, wie der Mangel in uns selbst auf die Notwendigkeit von etwas uns äußerlichem, hier vor allem uns äußerer Subjekte, verweist. In Folge kann dieser Schritt das „Subjekt dazu anhalten, im Analogieschluss die Nicht-Selbstidentität des Anderen zu vermuten und diesem auf Basis geteilter Selbstentfremdung mit Anerkennung, Verantwortlichkeit und, wie Butler ebenfalls sagt, ‚Geduld‘ und ‚Toleranz‘ zu begegnen“ (Marchart 2011: 345). Anerkennung bedeutet den Mangel und die Abhängigkeit des Eigenen gegenüber dem Anderen einzusehen und als Gewinn zu erfahren. Solidarität ist anschließend die begriffliche Fassung dieses Verhältnisses. In Abgrenzung zu Solidaritätskonzepten, die auf Kohäsion durch Gleichheit bauen, wie im marxistischen Schwur der »internationalen Solidarität«, macht Solidarität erst dann Sinn, wenn der oder diejenige, dem oder der solidarisch begegnet werden soll, von mir unterschieden ist.5 Bereits die Schwierigkeit, die mit dieser Anerkennungstheorie verbundene Einstellung zu beschreiben, deutet an, dass sie etwas komplexer daherkommt, als ein bloßes Urvertrauen. Gewinn daraus zu schöpfen, dass der Andere in derselben Situation ist wie ich, die Situation offen und kontingent ist und dass uns die Grundsituation verbindet und abhängig voneinander macht, mag nicht bei jedem Vertrauen stiften. Mit Marcharts Ausführungen gleicht das Konzept vielmehr philosophischen Ideen zur Kompetenz praktischer Vernunft und politischer Urteilskraft. Eine solche schließt Emotionen nicht aus, zeigt aber, dass im Gegensatz zur Intensität negativer Emotionen das Vertrauen eher als evaluativ-repräsentative Funktion eines komplexen Gedankengangs, einer bestimmten Sicht auf die Welt zu begreifen ist. In den letzten Jahren wird deshalb vermehrt über Kontingenzbewusstsein und Ambiguitätstoleranz als über die eigentlichen Marker der Radikaldemokratie gesprochen. Die so vertiefte Differenz zwischen Empörung und Vertrauen wirft die Frage auf, wie beide nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in einem Verhältnis zueinanderstehen, was ich im Folgenden anhand der Debatte um das Aufkommen des Populismus diskutieren möchte. 5 Marchart schreibt: „Solidarisch kann ich nur mit jemanden sein, dessen Position sich von meiner unter scheidet – wie etwas im früheren Fall weltweiter Solidarität mit dem Anti-Apartheid-Kampf des ANC. Dies hat nun aber eine zentrale Voraussetzung: Um überhaupt solidarisch mit jemanden sein zu können, der meine Position gerade nicht teilt, muss ich von der Identifikation mit meiner eigenen Position teilweise abrücken und mich von der Gemeinschaft, zu der ich gezählt werde, entsolidarisieren. Bedingung der Soli darität mit dem Anderen ist die Entsolidarisierung mit dem Eigenen“ (Marchart 2011: 359). 33 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle Populismus und Emotionen Aus heutiger Sicht scheint die Debatte um Politikverdrossenheit wie ein altes Problem. Gestiegene Wählerzahlen und aktive Zivilgesellschaft wirken wie die Realisierung des radikaldemokratischen Ideals. Das Institut für Protest- und Bewegungsforschung registriert eine stark steigende Anzahl an Protestereignissen für Deutschland, als auch darüber hinaus (Vey et al. 2019: 9). Von Stuttgart 21, den Mahnwachen und PEGIDA über den Arabischen Frühling, Occupy oder den Protest in Hongkong ist eine Politisierung außerhalb der klassischen Beteiligungsformen festzustellen, die mit Verlagerung auf informelle Formen, zunehmende Themendifferenzierung als auch größere soziale Heterogenität einhergeht. Auffälligerweise besitzen viele dieser Bewegungen eine Tendenz zum politischen Rand. Parallel zu einer Phase »linker« Bewegungen wie Occupy, Syriza, Idign@dos oder Fridays for Future zeigte sich eine Phase »rechter« Bewegungen wie Front National, Partei für die Freiheit, Lega Nord, PEGIDA oder der Identitären Bewegung (Schellenberg 2018). Viele von diesen sind im politischen System sesshaft bis dominant geworden, sodass neue und kleine Parteien den großen Stammparteien die Wähler*innen genommen oder sie bisweilen sogar komplett verdrängt haben. Symbolisch für diesen Aufschwung steht die Debatte um Populismus, in der mittlerweile viele Erklärungsansätze miteinander konkurrieren, maßgeblich in der Frage, wie sich die Pluralität an Bewegungen auf einen Nenner bringen lässt. Dominant ist dabei immer noch Laclaus neutrales Modell des leeren Signifikanten, in dem Mobilisierung um eine vom Inhalt abgezogene und durch Differenz erzeugte Strategie kreist (Priester 2011). Populismus gilt als politische Form der Machterringung durch erlebbar gemachte Gegnerschaft. Zwar wird, wie beispielsweise J. W. Müller betont, Populismus nicht als reine Gefühlssache, sondern als eine bestimmte Politikvorstellung verstanden, die sich aus einer anti-elitären Haltung zwischen Volk und Elite mit anti-pluralistischem Alleinvertretungsanspruch speist (Müller 2017: 129). Jedoch zeigt sich, dass diese Differenz vor allem durch Appellation von Emotionen wie Wut und Furcht erzeugt wird. In diesem Kontext wird auch von einer Verrohung des Diskurses gesprochen, weil radikale Rhetorik und Bildersprache, vor allem in den Echokammern und der Anonymität des Internets, einer kühlen und pragmatischen Sprache vorgezogen werden. Wie Studien des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zeigen, ist die Verrohung des Diskurses durch eine starke Fokussierung auf Strategien emotionaler Bindung ausgezeichnet (Frevert 2017). Karin Priester spricht deshalb von einer „dünnen Ideologie“, denn dem Populismus fehlt es an einem inhaltlichen Gebäude: „Als zyklisches Phänomen, das oft mit einem Chamäleon verglichen wird, passt er sich permanent neuen Bezugssystemen an und setzt sich zu ihnen in eine Anti-Beziehung. […] Populismus lässt sich daher nicht essentialistisch definieren und auf eine kohärente Doktrin festlegen. Seine programmatische Variationsbreite hat dazu geführt, ihn lediglich als Strategie des Machterwerbs zu definieren“ (Priester 2012b: 3). Die inhaltliche Neutralität bildet die Argumentationsgrundlage für Autor*innen im Anschluss an Laclau und Mouffe, Populismus in enger Verbindung zur Demokratie oder wie eingangs zu sehen war, als radikaldemokratische Praxis zu sehen. Nach D. Jörkes und V. Selks Einführung über Theorien des Populismus ist Populismus immer Reaktion auf nicht eingehaltene Verspre- Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 34 chen der Demokratie (Jörke & Selk 2017: 13). Er ist die Strategie des Demos zur Brechung von Hegemonie. Demokratie wird nach dieser Lesart als ein rein formales und neutrales Spiel verstanden, in dem sich hegemonial gewordene Ansprüche immer wieder herausfordern und abwechseln.6 Mit der Dominanz des Rechtspopulismus (Lazaridis et al. 2016; Vehrkamp & Merkel 2018) jedoch scheint dieser Optimismus eingeschränkt zu werden, weil zum einen gemeinhin inhaltlich mit Demokratie verbundene Werte (Gleichheit, Freiheit, Frieden, Menschenwürde) untergraben werden, zum anderen die Gegenüberstellung von Volk und Establishment explizit als Strategie begriffen wird. Rechte Bewegungen haben ihr Nischendasein verlassen, weil die »Neue Rechte« gelernt hat, bürgerlich aufzutreten, auf Protest anstatt Gewalt zu setzen und alten Parolen einen neuen Klang zu geben. Da wird anstatt von ‚Ausländer raus‘ nun von ‚Remigration‘ gesprochen, weil das Umlabeln größere Zustimmung und damit Erfolg verspricht (Braun et al. 2016). Diese Strategie der Verharmlosung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Polarisierung und Radikalisierung die zentralen Vorgehensweisen bleiben. Dazu ist es notwendig, die richtige Ausgangssituation zu schaffen. Neben den historischen Unsicherheiten wie der Finanzkrise 2008 und der allgemein sich unter dem Druck der Globalisierung verändernden Welt wird Unsicherheit und Verwirrung explizit gestiftet. Die als Fake-News polemisierte Zunahme von Lügen und Falschinformationen beschreibt auch deren gezielte Nutzung, wie sich mit den strategischen Verlautbarungen Nikolai Alexanders, einem der führenden rechten Onlinestrategen in Deutschland, aber auch dem Handbuch für Medienguerillas der Identitären Bewegung zeigen lässt. Desinformation, Demoralisierung und Verleumdung sollen eine Situation der Unsicherheit schaffen (Ebner 2019: 130–143). Global sinnbildlich für diese Entwicklung steht vor allem Donald Trump, der bereits mit der Umdeutung der Besucherzahl bei seiner Inaugurationsfeier einen neuen Maßstab für das Verwenden von Lügen setzte. Dergleichen Vorgehen findet sich auch in den Reihen der AfD, die analog zu dem amerikanischen Modell der »Breitbart News«, einem von Trump gern angeführten Informationssender, ihr eigenes Medienportal etablieren möchten. Jasmin Siri formuliert es so: „Die Menschen sollen, so das Ziel der Parteistrategen, ir gendwann »AFD statt ARD« schauen“ (Siri 2018: 72). Emotionen spielen bei diesem Vorgehen eine besondere Rolle. Abgekoppelt von rationalisierten Wertmaßstäben werden die individuellen Erfahrungen in den Mittelpunkt gerückt. Es verwundert deshalb nicht, dass beispielsweise Trump mehrfach als militanter Vertreter von Subjektivität analysiert wurde. So charakterisiert Harry Frankfurt, analog zu seinem Werk „On Bullshit“, Trump als „bullshit artist“ (Frankfurt 2013), der den Autoritätsverlust der bisherigen Wahrheitskonzeption gekonnt ausnutzt, sodass er selbst den Blick für klassische Wahrheit verliert und sich nur noch daran orientiert, was ihm passt und was nicht. Seine Gefühle und Eindrücke werden zum Maß aller Dinge. Analog bewerten Studien über PEGIDA deren Selbstwahrnehmungen (Vorländer et al. 2016). Auch hier wurde festgestellt, dass sich das subjektive Gefühl der Anhänger*innen, bezogen auf Überfremdung oder steigende 6 Eine solche Konzeption war das Ergebnis einer langen Tradition epistemischer Kritiken und sprachphilosophischer Einsichten, die besonders dominant in postmarxistischen, dekonstruktivistischen und im heutigen Sprachgebrauch postfundamentalistischen Diskursen waren. 35 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle Kriminalitätsraten, statistisch nicht untermauern ließ. Der Fokus auf Figuren wie Trump verbirgt aber das Problem. Es geht nicht nur um einen Rückzug in das Private und Subjektive des einzelnen Individuums, sondern um intersubjektive Überredungskraft. Eindrücklich konnte dies zuletzt in J. Ebners Buch Radikalisierungsmaschinen nachvollzogen werden (Ebner 2019). Sie schildert beispielsweise, wie Martin Sellner, Vordenker der Identitären, „strategische Polarisierung“ und „kontrollierte Provokation“ (Ebner 2019: 56) zu den Kernkonzepten seiner Bewegung erhob. Dabei dienen soziologische und psychologische Erkenntnisse als Grundlage der OnlineKampagnen, in denen durch gezielte Provokation Aufmerksamkeit erzeugt wird. Ein ähnliches Vorgehen verfolgt in Deutschland die rechte Troll-Fabrik Reconquista Germanica. Während der Bundestagswahl 2017 gelang es dieser Gruppe, rechte Hashtags, Hass-Memes und Anti-Merkel-Geschichten zu den Top-Social-Media-Trends zu machen. Nach Ebner wurde so der Diskurs im Internet tatsächlich „zugunsten der AfD verschoben“ (Ebner 2019: 138). Trolle lassen es nicht nur mit wenigen Accounts so aussehen, als ob die Mehrheit sich empört, sie schüchtern auch mit gezielten Hatespeech-Attacken politische Gegner ein. Im noch größeren Maßstab wurde dasselbe strategische Vorgehen im Skandal um Cambridge Analytica deutlich. Wie es als nachgewiesen gilt, stützte sich Trumps Wahlkampf auf Daten von ca. 87 Millionen Facebook Profilen, die über die App eines Drittanbieters gesammelt wurden. Über sogenanntes Microtargeting wurden die Daten eingesetzt, um die Meinungsbildung im Sinne einer Wahlentscheidung für Trump zu beeinflussen. Dafür wurden 32 psychologische Profile erstellt, denen dann sowohl online als auch im Haustürwahlkampf die Themen und Gespräche angepasst wurden. Gezielt ließen sich so „Negativinformationen über Hillary Clinton an Frauen und People of Color“ (Dachwitz et al. 2018) ausspielen. Eine besondere Rolle kommt den sozialen Medien zu, die es in einem nie zuvor möglichen Rahmen erlauben, den kulturellen Diskurs zu verschieben und damit auch um Hegemonie zu ringen. Die Beispiele zeigen, dass Radikalisierung und Polarisierung, vorausgehende Verunsicherung und durch Differenz erzeugte emotionale Bindung ganz gezielte, emotionale wie psychologische Kampagnen sind, für die sich in den populistischen Bewegungen auch explizit Anleitungen finden lassen. Gerade unter Neurechten und Konservativen finden sich wiederholt Bezüge zu »thymotischen Kräften«, also jenes antiken Emotionskonzeptes, welches Zorn als Selbstbehauptung deutet (Müller 2016). Auch wenn ein solches Vorgehen für alle Populismen zutreffend sein mag, findet es nicht in derselben Art und Weise statt. Wie Laclau und Mouffe versuchen daher immer wieder Theoretiker*innen auf einen alternativen Linkspopulismus, auf zivilen Ungehorsam (Celicates 2010) oder auf soziale Bewegungen wie Occupy Wall Street (Lorey & Kastner 2012) und Fridays for Future als demokratische Gegenspieler hinzuweisen (Priester 2012a). Demokratisch an diesen Formen ist die Erweiterung des liberalen Programms, das Aufbrechen des liberalen Konsenses. Demokratie wird so beständig praktiziert. Aufbauend auf diese Gedanken lässt sich zunächst bei den Theoretiker*innen ein Vertrauen in Demokratie identifizieren. Was in liberaldemokratischen Diskursen als Scheitern beschrieben wird, so M. Gebhardt, wird radikaldemokratisch positiv umgedeutet: „Es ist diese Fragilität der politischen Gemeinschaft, die sie von starren Regularien und hermetischen Regierungstechniken befreit und ihr ermöglicht, radikaldemokratische Formen anzunehmen“ (Gebhardt 2018: 33). Gebhardt schlägt deshalb fünf Unterscheidungsmerkmale zwischen rechtspopulistischem Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 36 und radikaldemokratischem Protest vor, die von Ausrichtung, Organisation, Personenbesetzung bis zu performativer Praxis reichen. Im Kern wird die offene, plurale, antihierarchische und inklusive Ausrichtung radikaldemokratischer Bewegungen hervorgehoben, während Bewegungen wie PEGIDA, die AfD oder die genannten Netzwerke der Identitären Bewegung klare Führungspersönlichkeiten und Rangstrukturen sowie ein homogenes und ethnisch geschlossenes Weltbild aufweisen (Vorländer et al. 2016: 10). Auf affektiver Ebene dagegen liegt nach Gebhardt die Unterscheidung allein in der Frage nach ihrem berechtigten Geltungsanspruch. PEGIDA betreibt in ihren Worten nur „Mimikry“, weil sowohl sozioökonomische Basis als auch reale Betroffenheit nicht angemessen eingeschätzt werden: „Die populistische Empörung manifestiert sich aus einer relativ stabilen sozioökonomischen Situation heraus als Frustration und Aggression. Die ethnonationalen Wutbürger*innen fokussieren ihre Affekte auf Establishment, ›linke Eliten‹ und alteritätsfeindliche Konstruktionen. Dagegen richtet sich die Empörung – die die Indignad@s im Namen tragen – der radikaldemokratischen Proteste gegen systemische Mechanismen einer Nicht/Demokratie, die Ungleichheit, Unfreiheit und Ungerechtigkeit generiert“ (Gebhardt 2018: 43). Gerade in der Debatte um das Postfaktische zeigt sich jedoch, dass gefühlte Enttäuschung und Empörung epistemisch schwer einzuordnen sind. Weil Emotionen tatsächlich und direkt erlebt werden, unabhängig ob sie auf tatsächlichen Geschehnissen aufbauen oder nicht, fungieren sie als subjektiver Wahrheitsgarant. In Anbetracht der vorgestellten Differenz zwischen Empörung und Vertrauen lohnt es sich deshalb, auf diese Überlegungen zurückzugreifen. Dann lässt sich feststellen, dass die eben angeführten linken oder radikaldemokratischen Bewegungen trotz Empörung über gegenwärtige politische Umstände von dem Ideal einer gerechteren Gesellschaft und nicht dem Wunsch einer Rückkehr in eine idealisierte Vergangenheit geleitet sind. Selbstkritik und der Fokus auf marginalisierte Gruppen sind Zeichen eines Vertrauens in demokratische Praxis, die Adaption und Verteidigung des Merkel`schen „Wir schaffen das“ sprachlicher Ausdruck eines Vertrauensvorschusses. Wenn Naivität und Gutmenschentum als Beleidigungen gegen linke Bewegungen ausgesprochen werden, artikuliert dies deren intrinsische Zuversicht. In gewisser Weise wird tatsächlich ein Vertrauensvorschuss geleistet, der auf der empathischen Perspektive ruht, die eigene Fehlerhaftigkeit und die Einsicht in diese auch anderen zu zugestehen. Dieses Vertrauen in gemeinschaftliche Praxis kann dann als normatives Abgrenzungsmoment fungieren. Rationalität der Gefühle im Kontext des Populismus Wenn ich abschließend von einer Rationalität der Gefühle im Kontext des Populismus spreche, dann nicht, weil es liberaler Einhegungsversuche bedarf, um die eben beschriebenen Probleme einer Empörungskultur zu beseitigen. Im Gegenteil, mit dem Nachweis, dass die Aufwertung von Emotionen im Politischen nicht nur Konsequenz von demokratischen Politisierungswünschen, sondern auch ihrer funktionalen Rationalisierung ist, wurde auch ihr enormes strategisches Potential sichtbar. Das ist freilich kein völlig neues Motiv, sondern bereits bekannt durch Studien zur Rhetorik seit der Antike oder der Funktion von Propaganda im 20. Jahrhundert, wo immer 37 Lucas von Ramin, Zur Rationalität der Gefühle auch die Möglichkeit der Manipulation mitschwingt (Ueding & Steinbrink 2011: 159– 207). Neu sind allerdings die Einsatzmöglichkeiten und das gestiegene Wissen um diese. Strategisch vorzugehen ist nicht per se antidemokratisch. Marchart betont explizit, dass auch radikaldemokratische Bewegungen überlegen müssen, wie sie anschlussfähig für ein hegemoniales Projekt werden (Marchart 2011: 311). Jedoch gibt es Grenzen des Strategischen, die an der demokratischen Qualität dieses Moments zweifeln lassen. Zum einen ist schon theoretisch unklar, wie das beschriebene, linke Verständnis des Politischen von rechten Denktraditionen abzugrenzen ist. Nicht nur, dass sich Mouffe explizit der Gedanken Carl Schmitts bedient oder der Thymos als gute Emotion hervorgehoben wird, auch bedienen sich rechte Autor*innen immer wieder gern radikaldemokratischer Theorien zur Verteidigung ihres Standpunkts. 7 Bereits die Autor*innen der Kritischen Theorie machten deshalb auf den Zusammenhang von Aufklärung und instrumenteller Rationalität aufmerksam. Populistische Strategien sind nicht einfach eine Rückkehr zu eigentlich überwundenen Politikstilen, sondern, wie sich zeigen ließ, auch Ergebnis von Rationalisierungsprozessen, zum Beispiel dem angewachsenen Wissen um die Wirkkraft von negativen Emotionen wie Angst, Wut und Empörung. Hier ist es der beschriebene stärkere Grad an Intensität, der sich als wirkmächtig erweist. Eine Erkenntnis, mit der in anderen Themengebieten offener und zu Teilen kritischer umgegangen wird. Die analoge Funktionsweise der in großem Maßstab gewachsenen Marketingabteilungen und deren Umstrukturierung der Verkaufsstrategien werden selten als demokratisch bezeichnet. Insbesondere Kultursoziologen wie F. Jameson oder A. Reckwitz beschreiben, wie die Marktlogik des Spätkapitalismus mit affektiver Aufladung und Gefühlssteigerung arbeitet und dass sich diese Logik auch auf die Politik übertragen lässt (Jameson 1997: 60; Reckwitz 2019: 79). Zum anderen verdichten sich auch lebensweltlich die Anzeichen, den politischen Erfolg von Kampagnen wie Reconquista Germanica und Cambridge Analytica oder von Figuren wie Trump oder Bolsonaro nicht als radikaldemokratisches Spiel mit Hegemonie zu verstehen. Die Konzentration auf Emotionen der Empörung hat in den letzten Jahren nicht den Legitimitätsglauben in Demokratie gestärkt, sondern vielmehr zur Erosion gebracht und den zermürbenden Kräften zum Aufstieg verholfen (Ipsos 2018). Das Erstarken des Rechtspopulismus und dessen strategischer Einsatz negativer Emotionen stellt das normative Ideal eines ständigen und nicht abschließbaren Ringens um Mitsprache in Frage. Mit Blick auf den Diskurs über Rationalität und Emotionen zeigt sich, dass der Erfolg des scheinbar rückwärtsgewandten Rechtspopulismus auch Ergebnis rationaler Erkenntnisse und Steuerungsprozesse ist, der mit dem verengten Blick auf Empörung aus demokratietheoretischer Perspektive fälschlicherweise als demokratisch aufgefasst werden kann. Es muss deswegen nicht gleich von einer Mitschuld radikaler Demokratietheorie gesprochen werden, aber zumindest von ihrer Sprachlosigkeit. Dass es grundsätzlich schwerfällt, zwischen einem potentiell emanzipatorisch-progressiven Populismus als Protest von unten und einem unterdrückend-reaktionären Populismus von oben 7 Beispielsweise bezog sich ein Hamburger AfD Mitglied in der Verteidigung populistischer Strategien von rechts explizit auf die Arbeiten von O. Marchart, D. Jörke und V. Selk (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 21. Wahlperiode). Zeitschrift diskurs, Ausgabe 6, Gefühle des Widerstandes 38 zu unterscheiden, liegt nicht zuletzt an dem Fokus auf Empörung und dem dahinterliegenden Politikmodell. Wofür ich deshalb abschließend argumentieren will, ist die Anerkennung der Komplexität radikaler Demokratietheorie. Zum einen ist ihr Politikverständnis nicht nur abhängig von notwendigen Erfahrungen der Enttäuschung und des Scheiterns, sondern auch von einem Grundvertrauen in den demokratischen Prozess, welcher den Erfahrungen vorausgeht. Zum anderen ist die gewichtige Rolle des Vertrauens komplex und voraussetzungsvoll. Vertrauen ist aufgrund der schwächeren Intensität nur schwer zu aktivieren, egal, ob es als negatives Vertrauenskonzept, politische Urteilskraft oder postfundamentalistische Anerkennungstheorie gedacht wird. Wenn es dafür ein emotionales Korrelat gibt, dann bedarf es immer reflexiver Mühe, um dahin zu gelangen. Das macht radikale Demokratie auf den ersten Blick nicht adaptiver und erfolgversprechender, kann aber eine Möglichkeit darstellen, gegen die beschriebenen Erosionserscheinungen vorzugehen. Die Frage nach Vertrauen als sozialem Band8, so ließe sich abschließend formulieren, muss stärker radikaldemokratisch aufgenommen werden. Literaturverzeichnis Agridopoulos, Aristotelis; Kim, Seongcheol (2019): Populismus. In: Comtesse, Dagmar; Flügel-Martinsen, Oliver; Martinsen, Franziska (Hg.), Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch. Berlin: Suhrkamp, 593–604. Arzheimer, Kai (2002): Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs. Wiesbaden: Springer VS. Braun, Stephan; Geisler, Alexander; Gerster, Martin (2016): Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten. Wiesbaden: Springer VS. Brunkhorst, Hauke (2002): Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 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