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wissenschaft
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 1 7 . NOV E M B E R 2 0 1 9 , N R . 4 6
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Nur das Beste,
aus aller Welt
Reisterrassen, Schilfinseln, Wurzelbrücken: Die Architektin
Julia Watson beschreibt in ihrem Buch „Lo-TEK“, wie Menschen
ihre Umwelt traditionell gestalten. Konzepte für unsere Zukunft?
Von Sonja Kastilan
Schilfrohr-Bündel
Schlamm
Schilfmatte
Wasserspiegel
geschichtetes
Schilfrohr
Schilfrohrzaun
Wald
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3 am
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5 Jahre
10 Jahre
Kalkuttas Abwasser dient im
Bheri-System der Fischzucht,
indem es eine Plankton- und
Algenblüte fördert, somit Futter liefert. Das Konzept wurde
in den 1920ern Jahren entwickelt und setzte sich Mitte des
20. Jahrhunderts durch. Die
Aquakultur wird auf rund viertausend Hektar betrieben und
liefert angeblich 13. bis 25 ooo
Tonnen Fisch pro Jahr.
Juli
Felsbrocken
10–30m
1. Hauptwurzeln
Das sekundäre Wurzelsystem
des Baumes Ficus elastica
bildet die Hauptstruktur.
Betelpalmenrinde
2. Wurzel-Leitsystem
Ausgehöhlte Betelpalmenstämme
dienen als Leitsystem,
damit die Luftwurzeln einen Fluss überbrücken.
Steine
Literatur: Julia Watson, „Lo-TEK. Design by Radical Indigenism“, 420 Seiten, Taschen Verlag, Köln 2019, 40 Euro.
3. Sekundäres Wurzelsystem
Herunterhängende Luftwurzeln
werden in das Gerüst eingewoben.
Vorbereitungsbecken
April
Gummibaumstamm
Zuchtbecken
Fischbesatz
alle 15 Tage
Zuchtbecken
Reifebecken
Fischfang
5m
Gedanke durchsetzt und wir Stadtplanung oder Landwirtschaft grundsätzlich
neu angehen: hin zu symbiotischen, biologischen Infrastrukturen. „Innerhalb
von sieben Jahren konnte ich mit meinen
Studenten rund 120 traditionelle Technologien aufspüren“, sagt sie. „Wird die Bewegung größer, finden sich noch mehr.“
Der Klimawandel lasse uns gar keine andere Wahl, wir müssten jetzt darüber
nachdenken und gemeinsam nach Lösungen suchen.
In Indien werden Luftwurzeln der
Gummibäume über mehrere Generationen hinweg zu Brücken geformt: Wer
solch komplexe Baubotanik betreibt,
muss sich also in Geduld üben. Nicht anders Ferdinand Ludwig, der mit seinem
Kooperationspartner Daniel Schönle
eine Art Langzeitversuch gestartet hat:
mit dem Platanenkubus in Nagold. Frost
setzte den Pflanzen zu, die Bewässerungsanlage zeigte ihre Tücken. Doch dass
sich solche Mischkonstruktionen nicht
schnell hochziehen lassen, frustriert die
beiden Planer keineswegs: „Wir begrüßen das Warten auf Wachstum und begreifen es außerdem als Statement.“
Natürlich lasse sich nicht alles planen,
wenn Architektur auf Pflanzen setzt, es
sterbe auch mal etwas ab, das gehöre
dazu. Aber die Geometrie habe man im
Griff. Jede Baumart hat ihre spezifische
Form, wächst auf ihre Art in die Höhe
oder legt an Umfang zu. Für Ludwig ist
diese Dynamik spannend, für andere aber
oft zu anspruchsvoll oder komplex: Ohne
Kenntnisse in Botanik und Biomechanik
ist nichts davon darstellbar. Doch durch
den Klimawandel sind wir gezwungen,
uns damit auseinanderzusetzen, wie sich
Städte grüner gestalten lassen. „Vielfalt
ist immer eine Antwort“, sagt Ludwig,
„die Stadtbegrünung müssen wir breiter
aufstellen und die Hoffnung nicht auf einzelne Arten der Zukunft setzen.“ Das be-
Mexikanische Waldgärten
folgen dem „Milpa“-Zyklus
nach Tradition der Maya.
Auf Brandrodung im
kleinen Maßstab folgen
zwanzig Jahre des bewussten Wechsels: Das Trio aus
Mais, Bohnen und Kürbis
liefert schnelle Ernten,
dann kommen Bananen
und Papaya dazu, später
Avocado, Mango, Zitrusbäume, Cherimoya und
Guave. Am Ende übernehmen wieder die Harthölzer.
Luftwurzeln
Düngebecken
unbehandeltes
Abwasser
10–30m
4. Dickenwachstum
Das Netzwerk aus Luftwurzeln
und anderen Brückenteilen fungiert
als integrierte Infrastruktur.
© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt vom
Nicht nur allein. Aber es dauert Jahrzehnte, bis uns Luftwurzeln des Gummibaums tragen.
A
benteuerspielplatz für Globetrotter – so liest sich die „Lonely Planet“-Beschreibung von Meghalaya im Internet. Dieser Bundesstaat im Nordosten Indiens lockt mit
Wasserfällen, Tropfsteinhöhlen, Immergrün und uralten Gebräuchen. Wer
nicht auf den Spuren anglikanischer Missionare wandeln oder den Bogenschützen vom Stamm der Khasi zuschauen
will, kann den nassesten Ort der Welt
besuchen, dem Königsweg der Betelnusshändler folgen und über ihre „lebenden Brücken“ schreiten. Natürlich
bleibt der „Herr der Ringe“-Vergleich
nicht aus. Läge der Schauplatz nicht
schon in Neuseeland, dann vermutlich
hier, in der Heimstätte der Wolken, die
eingerahmt vom Brahmaputra als Hochplateau über die Ebene von Bangladesch
wacht. Allerdings ist das saftig grüne
„Schottland des Ostens“ in der Fläche
nur wenig größer als Hessen.
Die Luftwurzeln von Gummibäumen,
Ficus elastica, sind das Material der einheimischen Brückenbauer. Faszinierend ist
schon die Tatsache, dass sich Menschen
die Mühe machen, diese Gewächse über
Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg in
Form zu bringen und über mehr als fünfzig Meter weit zu spannen, damit nachfolgende Generationen tiefe Schluchten
und Flüsse einmal leichteren Fußes überqueren können. Auf Instagram kann
man mit dieser Phytoarchitektur durchaus punkten. Noch sind Fotos mit den
entsprechenden Hashtags nicht schon
millionenfach vertreten, zu sehen sind
bisher nur die immer selben zwei, vielleicht drei. Darunter die berühmte Doppeldecker-Brücke, die jetzt auch das
Buchcover von Julia Watsons „Lo-TEK“
prägt. Sie bedeutet mehr als nur eine Touristenattraktion in der Nähe einer Lodge,
und es existieren noch viele weitere in
den Bergwäldern der Khasi, deren lebende Brücken und Wurzelleitern im Buch
als eines der innovativsten Beispiele indigener Infrastruktur ausführlich beschrieben werden. Wo Stahl verrosten und
Pflanzenschnüre, Bambus oder andere
Hölzer schnell verrotten würden, trotzen
die komplexen Gebilde Wind und Wetter. Sie halten der hohen Feuchtigkeit
und den heftigen Niederschlägen zur Regenzeit stand, ebenso den mechanisch
wirkenden Kräften bei Überflutungen.
Ein Schotte namens Henry Yule soll
sie 1841 als Erster dokumentiert haben.
Weil es aber keine älteren schriftlichen
Überlieferungen gibt, weiß niemand, wie
alt die Wurzelkonstruktionen tatsächlich
sind, noch wie viele es insgesamt gibt.
Oder seit wann diese Methode für die
„jingkieng dieng jiri“, wie sie in einem
Dialekt heißen, praktiziert wird. Den lebenden Brücken Indiens nimmt sich an
der TU München das Team um Ferdinand Ludwig vom Lehrstuhl für Green
Technologies in Landscape Architecture
an. „Selbst wenn sich in dieser Region
nun touristische Hotspots entwickelt haben und TV-Sendungen darüber berichteten, ist das Thema noch recht neu. Niemand hat die Strukturen, deren Zahl
schwer abschätzbar ist, bisher vernünftig
dokumentiert oder untersucht“, erklärt
Baubotaniker Ludwig. „Es war für uns
eine Überraschung, dass es solche weiße
Flecken noch auf der Landkarte gibt. Die
GPS-Daten mussten vor Ort ermittelt
werden.“ Man kann zwar nicht mit dem
Auto vorfahren, doch abgelegen genug,
um es romantisch zu verklären, ist dieses
Stück Natur längst nicht mehr: Kalkabbau, Umweltverschmutzung oder Rodungen stellen eine Bedrohung dar.
Im August hat Ludwig mit Kollegen
aus München und Freiburg dazu eine Pilotstudie in den Nature Scientific Reports
vorgestellt: Nach drei Exkursionen in
den Khasi- und Jaintia-Bergen konnten
75 Konstruktionen zum ersten Mal näher
charakterisiert werden. Die Brücken und
Leitern auf Wurzelbasis liegen meist in
der Nähe von Dörfern, sie ebnen Pfade
zu den größeren Markt- und Handelsplätzen oder zu besser geeigneten Anbaugebieten. In einigen Fällen kümmert sich
die ganze Gemeinschaft um die Pflege,
manchmal übernehmen einzelne Familien die Verantwortung, oder es sind gleich
mehrere Dörfer daran beteiligt. Über Generationen hinweg werden die Brücken regelmäßig von Moosen und anderem Bewuchs befreit, immer wieder neue Wurzeln mit der bestehenden Konstruktion
verwoben oder Trittsteine eingesetzt und
Wege freigehalten. Das eine oder andere
Exemplar dürfte eine sonst unzugängliche Kluft im Regenwald seit Jahrhunderten überbrücken.
Weil sich das Alter in den Klimazonen
hier – von tropischem Dschungel bis Nebelwald – kaum über Jahresringe bestimmen lässt, wurden die Dorfbewohner befragt, was sie über die Bauten wissen.
Wie und vor allem: wer? „Wir haben in
der Veröffentlichung bewusst keine genauen Altersangaben gemacht, wissenschaftlich sind die bisher nicht überprüfbar“, erklärt Ludwig. Da noch zu wenig
über das Dickenwachstum der Luftwurzeln bekannt ist, muss die grobe Einteilung in drei Gruppen genügen: Brücken,
die von derzeit lebenden Personen in der
Region begonnen werden; jene, deren
Baumeister man noch persönlich kannte.
Und schließlich die sehr alten, über deren
Geschichte man nichts oder nur wenig
weiß. Auch ist von solchen zu hören, die
es heute nicht mehr gibt, zerstört durch
Erdrutsche, Feuer oder Fluten. Die existierenden Brücken finden sich vorwie-
gend in steilen Tälern auf 200 bis 900 Metern Meereshöhe, aber sogar auf 57 und
1250 Metern. Sie sind zwei bis zwanzig
Meter lang, in Ausnahmefällen überspannen sie mehr als fünfzig Meter.
Um robuste Flechtwerke zu erhalten,
wird auf einer Seite eines Flusses oft gezielt ein Gummibaum gepflanzt. Der hemiepiphytische Ficus elastica gehört zwar
zu den Würgefeigen, kann aber auch für
sich allein stehen und einen soliden
Stamm bilden, der dreißig, vierzig Meter
hochragen kann. Mit einer gewissen Reife bildet ein Ficus Luftwurzeln, die nach
unten hängen und von den Khasi horizontal über Flüsse und Schluchten gezogen
werden, um sie irgendwann einmal auf
der anderen Seite im Boden zu verankern. Ausgehöhlte Betelnusspalmen und
Bambusstützen dienen ihnen dabei als
Leitplanken. Nach und nach werden weitere Luft- und Seitenwurzeln eingebunden, später auch zu Handläufen geformt.
Im Lauf von Jahren und Jahrzehnten entsteht so ein lebendiges, erstaunlich beständiges Flechtwerk, weil dessen Windungen und Knoten biologisch verwachsen.
Wann diese Gebilde stabil genug sind,
um einen Menschen und ganze Gruppen
zu tragen, hängt von mehreren Faktoren
ab. Vermutlich auch davon, wie schwindelfrei jemand ist.
Sonja Kastilan
Die Massai leben
als Halbnomaden in
Kenia und Tansania.
Sie bauen Hütten
aus Lehm, Dung,
Ästen und Gräsern
und fürs Vieh extra
Pferche: Die Zäune
bestehen aus den
dornigen Ästen von
Kampferbusch und
Akazie – verwoben
durch andere Pflanzen, gehalten von
termitenresistenten
Holzpfosten.
Die Reisterrassen der
Ifugao zählen seit 1995
zum Weltkulturerbe
der Unesco. Ihre
Anbaumethode im
steilen, nur schwer
zugänglichen Gelände
auf den Philippinen
reicht Jahrtausende
zurück; ihr Agrarkalender folgt Ritualen.
Aussaat
Pflanzung
Ernte
Brache
Januar
Jäten
geflochtene Schilfmatten mit Lücken
für Licht und Luft
15 Jahre
Über lebende Brücken kannst du geh’n
Jäten
größere SchilfrohrBündel als Säulen
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Drei-S flanzu ha
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Im indischen Bundesstaat
Meghalaya ist es Tradition,
aus Gummibäumen und
deren Luftwurzeln stabile
Brücken und Leitern zu
gestalten. Das dauert Jahre
bis Jahrhunderte. In den
Bergwäldern trotzen diese
stabilen Konstruktionen
auch dem Monsunregen.
Niederschlagsmenge
Alle Grafiken und Illustrationen
stammen aus dem Band Lo-TEK;
Berke Yazicioglu u. Julia Watson;
W-E studio (Bearbeitung
F.A.Z.-Grafik heu.)
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kleinere SchilfrohrBündel als Träger
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deute, offen zu experimentieren und Exoten zu berücksichtigen, die an Klimaverhältnisse angepasst seien, wie sie bei uns
vielleicht in zwanzig, fünfzig Jahren herrschen. Das könne sich lohnen, trotzdem
müsse man besonnen vorgehen: „Und unter Umständen die Notbremse ziehen.“
Grün wirkt, ohne Frage, gerade in
Städten und an den Fassaden. Warum es
dann noch immer so wenige grüne Häuser gibt? Nicht die Technologie ist das
Problem, sondern der Aufwand: Es ist
nicht ganz billig, und Pflanzen brauchen
Pflege. „Alle wissen, wie gut das Grün
ist, doch Geld will niemand dafür ausgeben“, meint Ludwig, der noch einen anderen Konflikt sieht: die Architektur selbst.
Schon im Studium verfestige sich die Haltung, man sei Gestalter eines Artefakts.
„Sobald Sie aber etwas Lebendiges, also
Pflanzen, miteinbeziehen, verlieren Sie
die Gestaltungshoheit über Ihr Werk –
und fertig ist es eigentlich auch nie“, erklärt der Baubotaniker. Wenn man sein
„Meisterstück“ als fertiges Artefakt auffasse, schließe das Grün oft kategorisch aus.
Oder es fehle am Wissen, wie es sich einbinden lässt. Es sei eine Frage der Haltung; Wandel, Ressourcen, Nachhaltigkeit und Kreislauf: Diese Themen sollten
Konzepte zukünftig stärker beeinflussen.
„Meist überzeugen bei solchen Projekten nicht die ästhetischen, ökologischen
oder wissenschaftlichen Argumente“, sagt
Julia Watson. Die Verantwortlichen träfen ihre Entscheidung aus politischen
Gründen. Aber kein Land schaffe den
Wandel allein, Regierungen müssten zusammenarbeiten und verhindern, dass aufstrebende Nationen die Fehler der Industrieländer wiederholen.
Niemand muss den Lebensstil der
Ma’dan oder der Massai adaptieren. Aber
wir hätten die Chance, von allen Kulturen zu lernen: das Beste aus aller Welt.
Als Nächstes brauche es eine Methodik,
um zu verstehen, was unsere Zivilisation
voranbringen kann, meint Julia Watson,
in „Symbiose mit unserem Planeten“. Ihr
Buch versteht sie als eine Art Werkzeugkiste für diesen nächsten großen Schritt
der Veränderung.
5m
geflochtene Schilfmatten mit Lücken
für Licht und Luft
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Schilfmatten
dem Blickwinkel der Designerin und Architektin. Zu dieser Perspektive fordert
sie in Seminaren auch ihre Studenten auf,
nicht um Häuser zu betrachten, sondern
das große Ganze: Wie die Menschen es
geschafft haben, sich mit ihren Methoden in die jeweilige Landschaft einzubetten. „Sie sollen unter die Oberfläche
schauen. Mit frischem Blick. Studenten
sind jung und noch eher bereit, gegen
den Strich zu denken und die üblichen
Grenzen der Architektur hinter sich zu
lassen, das Herkömmliche“, sagt Watson,
selbst noch keine 45. Gerade wenn Fotos
in National Geographic besonders natürlich wirken, sei es einer Kultur gelungen,
mit ihrer Umgebung scheinbar zu verschmelzen, weil sie sich mit und aus den
dort herrschenden Bedingungen entwickelt und angepasst hat. In gewisser Weise entspreche das der fundamentalen
Schönheit einer eleganten, unglaublich
guten Architektur.
Julia Watson hegt großes Verständnis
für die spirituellen Vorstellungen einer
Kultur, insbesondere in Bezug zur Landschaft. Trotzdem liegt es ihr fern, indigene Völker und deren Lebensweisen zu romantisieren. Wir sollen nicht plötzlich
alle modernen Errungenschaften hinter
uns lassen, vielmehr geht es ihr darum,
diese zu hinterfragen und mit fremden
Kenntnissen zu ergänzen. Da wir durch
den Klimawandel gezwungen seien, unsere Bandbreite an Technologien und Methoden zu erweitern. Die westliche Zivilisation beruhe auf Techniken, die zwar
hochentwickelt seien, aber eben nur einen kleinen Ausschnitt der Methoden darstellen, jenen, auf die unsere Vorfahren in
Europa bauten. „Wir sind heute aber in
einer anderen Position, leben in einer globalisierten Welt“, sagt Watson. „Mit
Blick auf alle Informationen, Zugriff auf
alle Möglichkeiten; wir können uns austauschen und voneinander lernen. Um unsere Vorstellungen von einer städtischen
Umgebung grundlegend zu verändern,
sollten wir indigene Kulturen betrachten
und ihr Wissen nutzen.“ Ihr Buch trage
daher den Zusatz „Design by Radical Indigenism“. Aber das bedeute nicht, dass
wir einfach irgendwelche rustikalen Technologien in unser urbanes Leben verpflanzen. In Amsterdam, New York oder
Frankfurt müsse niemand Waldgärten,
Schilfinseln oder Reisfelder anlegen oder
Wurzelbrücken bauen, aber Hightech sei
nun mal nicht die einzige Möglichkeit,
vorwärtszukommen: „Es lohnt sich alles
zu überdenken, andere Wege zu finden
und Methoden zu kombinieren.“ Das
Konzept „superschnell und supergroß“
hält sie nicht mehr für zeitgemäß.
Von Interesse ist die Lo-TEK-Sammlung der Landschaftsarchitektin Julia
Watson deshalb auch für den Baubotaniker Ferdinand Ludwig von der TU München. Seine Mitarbeiter widmen sich in
Forschungsprojekten beispielsweise den
„lebenden Brücken“ in Indien und überlegen, wie sich die Wurzelgebilde für
eine botanische Architektur in unseren
urbanen Welten nutzen lassen. „Wir
brauchen die Gummibäume heute nicht,
um beständige Brücken zu bauen. Doch
die Begrünung von Straßen und Gebäuden könnte von der Technik der Khasi
mit den Würgefeigen vielleicht profitieren“, erklärt Ludwig. 2007 hat er die Baubotanik an der Universität Stuttgart zum
eigenen Forschungsfeld erhoben und seit
2017 in München den Lehrstuhl für
Green Technologies in Landscape Architecture inne. Aus den indigenen DesignBeispielen könne man einige Lehren ziehen: „Es sind meist hochgradig spezifische Lösungen, die über Generationen
hinweg entwickelt wurden, auf exakten
Naturbeobachtungen und tradiertem
Wissen beruhen“, sagt er. „Deshalb sind
sie stark an die lokalen Bedingungen und
auch an die vorhandenen Werkzeuge angepasst. Diese Kulturtechniken kann
man nicht unverändert nach Mitteleuropa holen. Aber wir denken darüber nach,
die Methoden zunächst auf Städte in ähnlichen Klimazonen zu übertragen.“
In der Architektur besinnt man sich
wieder auf klassische Baumaterialien wie
Lehm und Holz. Nachhaltigkeit und Klimawandel sind Themen, die für deren
Renaissance sorgen und die Gestalter
sensibilisieren. Ob der Trend von Dauer
ist, wird sich zeigen, vielleicht ist es nur
ein kurzfristiger Hype. Julia Watson
hofft jedoch, dass sich der ökologische
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Die Ma’dan im Irak
sind als Baumeister
schwimmender Inseln
bekannt. Wo Euphrat
und Tigris aufeinandertreffen, pflegen diese
Marsch-Araber seit
Jahrtausenden eine
halbnomadische
Lebensweise. Ihre
Architektur aus Schilf
und Schlamm nennt
man heute: nachhaltig.
Konstruktionen schaffen. Ihre schwimmenden Inseln sind nicht für die Ewigkeit gedacht, bestehen dafür aber aus
nachwachsenden Rohstoffen und sind an
ihr ungewöhnliches Ökosystem bestens
angepasst. Trotzdem wurden sie von dort
vertrieben, das Marschland in den 1990er
Jahren teilweise trockengelegt. Einige
kehrten inzwischen zurück, bauen wieder
mit Schilfrohr – auf ihre Weise und ganz
anders als etwa die Konstrukteure der
Urus am Titicacasee in Peru. Wie, das
veranschaulichen die aufwendig gestalteten Grafiken im Buch.
Die Lo-TEK-Entwicklungen könnte
man allesamt zum Weltkulturerbe erklären, einige gehören für die Unesco bereits dazu, aber selbst das ist nicht immer
die beste Lösung, um sie zu bewahren. Es
sind ja keine Landschaften, menschenleer, sondern gelebte Traditionen. Als solche sind sie nicht vor Veränderungen gefeit, manche auch durch zunehmende Verstädterung bedroht, wie im Fall der Aquakultur am Rande von Kalkutta. Das Abwasser dient dort seit Mitte des 20. Jahrhunderts zur Fischzucht, wird so aufbereitet und gereinigt. „Solche funktionierenden Technologien müssen wir studieren,
sie können uns in Zukunft sehr nutzen,
denn unsere Welt, wie wir sie kennen, verändert sich. Nichts und niemand bleibt
davon unberührt“, sagt Watson. Auf den
Anstieg des Meeresspiegels, der zum Beispiel Holland oder Dänemark betreffen
wird, sollten Küstenstädte nicht mit kurzfristigen Lösungen reagieren: lieber das
Wasser hindurchfließen lassen, als Wälle
zu errichten. Überhaupt müssten wir urbanes Leben völlig neu denken, und
nicht nur das: Ein Re-Framing auf vielen
Ebenen wünscht sich Julia Watson.
Aufgewachsen in Australien, studierte
sie erst an der Universität von Queensland, später in Harvard. Heute lebt Julia
Watson in New York, unterrichtet unter
anderem an der Columbia University
und betreibt ein Design Studio. Mit Respekt nähert sich Watson indigenen Kulturen, betrachtet ihre Lebensweise aus
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se estern ende
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ieben Sehenswürdigkeiten standen auf der berühmten ersten
Liste, Reiseempfehlungen eines Dichters. In der Antike
war die Welt der Wunder begrenzt, heute gibt es Hunderte
von Tipps für die entlegensten Regionen
der Erde. Was einmal die hängenden Gärten der Semiramis waren, sind jetzt die
Reisterrassen auf Bali oder den Philippinen. Nur die Pyramiden von Gizeh haben die Jahrtausende überstanden und
sind bis heute eine Attraktion im Wüstensand: monumentale Zeugnisse einer verschwundenen Hochkultur. Ginge es nach
der Landschaftsarchitektin Julia Watson,
müssten wir eine neue, völlig andere Liste schreiben. Anstelle von Grabmälern
fänden sich darauf ausgeklügelte Technologien und Konstruktionen. Auch möchte sie eine Bewegung ins Leben rufen
und altbewährtes ökologisches Wissen
nutzen, wo Hightech schon bald versagen
wird.
Vor sieben Jahren hat Watson selbst
mit dieser Sammlung angefangen und
stellt in ihrem Buch „Lo-TEK, Design by
Radical Indigenism“ das soeben auf Englisch im Taschen Verlag erschienen ist,
gut zwei Dutzend von mehr als hundert
Beispielen detailliert vor: keine toten, sondern nach wie vor existierende Kulturen.
Noch. Ihre Liste führt Leser theoretisch
um den Globus, überall dorthin, wo Menschen gelernt haben, sich in Wüsten, Wäldern, Gebirgen, an und auf Gewässern so
einzurichten, dass man ihre Methoden
nachhaltig nennen kann. „Ich versuche,
den Blick auf etwas zu lenken, was bisher
oft übersehen und meist nicht einmal als
schützenswert empfunden wird“, erklärt
Watson. „Wir bewahren die Pyramiden,
während die Kultur der Ma’dan bedroht
ist und ihr traditionelles Knowhow in Vergessenheit gerät.“
Die Ma’dan oder Marsch-Araber leben
seit mehreren Jahrtausenden im Gebiet
von Euphrat und Tigris, wo sie mit einfachen Werkzeugen und Techniken aus
Schilfrohr und Schlamm beeindruckende
Regen
Tunod
Februar
Tagtag
März
April
Mai
Juni
Anbauphasen in der Sprache der Ifugao:
Blake
Bfoto
Juli
August
September
Lidah/Hopnak
Oktober
November
Dezember