MANFRED ENGEL
(Oxford/Saarbrücken)
Collage als Karnevalisierung.
Schwitters' Merzkunst 1
Mein Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zunächst einmal soll das besondere Collage-Verfahren, das Schwitters' Merzkunst zugrunde liegt,
an zwei Beispielen- dem Sternenbild und der Anna Blume - analysiert und in Verfahrensweise und Funktion als eine besondere Form
der ,Karnevalisierung' bestimmt werden.
Zugleich geht es mir aber um ein weit allgemeineres Problem:
Die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte - besonders, aber
keineswegs ausschließlich im Bereich der Methodologie - ist in
hohem Maße durch Theorieimporte bestimmt, durch die Adaption
von Konzepten aus anderen Nationalphilologien und, häufiger
noch, aus ganz anderen Disziplinen. Dagegen ist prinzipiell nichts
einzuwenden. Bedenklich scheint mir allerdings, daß sich dabei
das Interesse primär auf den Weltanschauungswert der Konzepte
konzentriert. Sicher liefert dies einer Literaturwissenschaft, die vor
allem auf eine Aktualisierung ihrer Gegenstände abzielt, wichtige
Impulse. Es führt jedoch auch dazu, daß die verwendeten Begriffe
vage bleiben, keine auch nur halbwegs operationalisierten Analyseverfahren entstehen und daß die (jeweils spezifischen) Probleme des
Theorieimports kaum je erörtert werden. 2
Für all dies gibt die stürmische Bachtin-Rezeption der letzten
Jahrzehnte ein gutes Beispiel ab. Zum einen sind Bachtins Schlüsselbegriffe massiv weltanschaulich belastet - was ihrer geradezu inflationären Rezeption im Rahmen verwandter weltanschaulicher KonVmfassungen des Aufsatzes wurden an den Universitäten Poznan, Lodz, Stuttgart, Kiel, Jena und Wuppertal vorgetragen. Ihn Jürgen Lehmann zu widmen,
ist nur konsequent: Schließlich verdanke ich ihm meine erste Begegnung mit
Bachtin (und vieles mehr).
2
Vgl. dazu auch Verf.: Im Mahlstrom des Mainstream? Plädoyerfür eine zweite
Ebene der Theoriedebatte. In: JDSG 37 (1993), S. 437-441.
1
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strukte (wie etwa der poststrukturalistischen These vom ,Tod des
Autors' oder der momentanen Konjunktur der ,Leiblichkeit') noch
zusätzlichen Vorschub leistet. Für eine historisch-rekonstruktive
Literaturwissenschaft (wie ich sie im folgenden versuchen will) sind
solche weltanschaulichen und normativen Implikate jedoch höchst
problematisch. Zum anderen ist Bachtin wenig bekümmert um die
systematische Stringenz und die poetologische Exaktheit seiner
Kategorien. Sein Verfahren ist eher zirkulär: Er läßt seine Schlüsselbegriffe - Karnevalisierung, Dialogizität, Polyphonie - gleitend
ineinander übergehen, so daß sie ihr weltanschauliches Zentrum
quasi umkreisen.
Ich werde versuchen, dem Rechnung zu tragen, indem ich
Bachtins Begriff der ,Karnevalisierung' weder einfach adaptiere noch rekonstruiere, sondern ihn systematisch zu reformulieren
suche. In dieser Bemühung um weltanschaulich (relativ) neutrale und
präzise bestimmte Begriffe suche ich auch nach einem Modell für
eine refiektiertere Eingemeindung von Theorieimporten in die Literaturwissenschaft.
großbuchstabigen Schriftzug "Kommerz- und Privatbank", schneidet daraus die Silbe "Merz" aus und klebt sie auf sein erstes MerzBild. Vervollständigt wurde die Komposition durch weitere Zutaten
wie etwa: Bindfäden, Drähte, Papier, Holzstücke und Maschendraht.
Diese Technik hat Schwitters dann in den folgenden Jahren gezielt
weiter entwickelt und auch versucht, ihr eine theoretische Grundlage
zu geben. 4 Seine Merzästhetik basiert im wesentlichen auf den
folgenden drei Arbeitsschritten:
(1) "Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke" bei "prinzipiell gleicher Wertung der einzelnen
Materialien" (LW, V, 37; Hervorhebung M. E.); schlechterdings alles,
was sich in der Außenwelt oder in der Sprachwelt auffinden läßt,
kann zum Material für ein Merz-Kunstwerk werden. 5
(2) Entformeln: Dies geschieht schon dadurch, daß Schwitters die
ins Merzkunstwerk eingehenden Gegenstände aus ihren Realitätsbezügen herauslöst und sie in ein Bild oder Gedicht transponiert.
Verstärkt wird diese Entformelung, wenn die verwendeten Materialien dann noch fragmentiert, übermalt oder sonstwie deformiert
werden. 6
(3) Werten: Gemeint ist damit die Einbindung des "entformelten",
seinem ursprünglichen Zusammenhang entrissenen Objekts in den
neuen, ästhetischen Zusammenhang der künstlerischen Komposition ("Kunst formt durch Wertung der Teile"; LW, V, 149). Die Wer-
I.
Als Orientierungsrahmen für meine zwei Kurzinterpretationen
rekonstruiere ich zunächst die Ästhetik, die Schwitters selbst für
seine Merzkunst entwickelt hat. Bekanntlich umfaßt "Merz" die
unterschiedlichsten Kunstformen: Dichtung in allen Varianten, aber
auch Malerei, Graphik und bildende Kunst; mindestens als Entwurf
gibt es auch eine "Merzarchitektur" (LW, V, 95f.). 3 Letztes Ziel der
Merzkunst ist das "Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten
zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit" (LW, V, 79): seine Verwirklichung sollte die "Merzbühne" sein, während der "Merzbau"
eine Art Gesamtlebenskunstwerk darstellt. Den Namen "Merz" hat
Schwitters auf eben die Weise gebildet, die das wichtigste Gestaltungsprinzip der Merzkunst darstellt: 1918 findet er in einer Anzeige den
3
Schwitters wird im folgenden nach der Sigle LW mit Bandangabe (römisch)
und Seitenzahl (arabisch) zitiert nach: Kurt Schwitters: Das literarische Werk.
5 Bde. Hg. von Friedhelm Lach. Köln 1988.
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Entgegen Schwitters' eigenem Begliffsgebrauch tendiert die Forschung dazu,
die Merzkunst (im engeren - und das muß wohl heißen: dadaistischen - Sinne) auf die Jahre 1919-22 zu beschränken. In der Tat dominieren später die
konstruktivistischen und neu-sachlichen Einflüsse. Doch handelt es sich dabei
wohl eher um graduelle Akzentverschiebungen als um wirklich streng trennbare Werkstufen.
5
Der Merzkünstler ist so ein leidenschaftlicher Sammler, dessen Sammelleidenschaft sich auch am scheinbar Geringsten entzünden kann: "Wo immer er
[Schwitters] sich bewegte, sammelte er Fahrscheine und Eintrittskarten, verbrauchte Papierfetzen, Drähte, alte Nägel und rostende Konservenbüchsen: in
Papierkörben und Mülleimern, in Rumpelkammern und auf Schutthalden, in
der Straßenbahn und auf der Straße" (Werner Schmalenbach: Kurt Sc/zwitters.
München 1984, S. 92).
6
V gl. etwa: "Das Entformeln der Materialien kann schon e1folgen durch ihre
Verteilung auf der Bildfläche. Es wird noch unterstützt durch das Zerteilen,
Verbiegen, Überdecken oder Übermalen" (Die Merzmalerei 1919; LW, V, 37).
4
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tung geschieht dadurch, daß die Objekte nach ihrem Materialwert
- also etwa nach Form, Farbe, Textur oder Klang - 7 kompositorisch
zusammengefügt werden.
(3) Zahlreiche Textelemente, Bruchstücke aus Zeitungs- und
Plakatausrissen: Das sind sicher die auffälligsten Bildbestandteile
- nicht nur, weil sie in einem Bild ungewohnt wirken, sondern vor
allem, weil sie sehr viel deutlicher "entformelt" sind und weil wohl
kaum ein Betrachter sich der Versuchung entziehen kann, diese
Entformelung rückgängig zu machen. In den meisten Fällen ist eine
solche Ergänzung der Textfragmente gar nicht so schwer. Rechts
außen lesen wir etwa: "Offener Brief E[rzbergers(?)]", "Mathias"
[Erzberger], "Die Korrupt[ion]": das bezieht sich offensichtlich auf
den wegen seiner Antikriegshaltung und seiner Finanzreform von
den Rechten gehaßten Finanzminister Mathias Erzherger (18751921), der 1920, also im Entstehungsjahr des Bildes, in einem
Korruptionsprozeß aus dem Amt gedrängt und wenig später von
ehemaligen Freikorpsleuten ermordet wurde. Etwa auf gleicher
Höhe links lesen wir: "[R]eichsk[anzler]", darunter "blutigen". Rechts
vom Blechdeckel und darunter finden sich weitere Textfragmente:
"Generalleutnant"; und darunter: "Erhöhung", "Hungersn[ot]",
"Gegen die Still[egung]". All das bezieht sich offensichtlich auf die
wirtschaftliche und politische Krise der frühen Weimarer Republik.
Zum Bildganzen werden diese heterogenen Elemente durch die
homogenisierende Übermalung, vor allem aber durch ihre Beziehung aufeinander, die "Wertung". Die kompositorische Einheit des
Bildes beruht, knapp gesagt, einerseits auf der Spannung zwischen
der ruhigen unteren Bildhälfte und der Dynamik der oberen und andererseits auf der Relation zwischen den dynamisch aufstrebenden
Randelementen und dem quasi umrahmten Kreis mit der herabhängenden Schnur in der Mitte.
Soweit mein Beschreibungsversuch. Wie meist bei Kunstwerken
der Avantgarde ist eine konventionell hermeneutische Interpretation hier weder möglich noch sinnvoll. Nach dem Sinn avantgardistischer Kunstwerke zu fragen, heißt in der Regel: nach der Funktion
der in ihnen verwendeten Verfahrensweisen fragen - rezeptionsästhetisch formuliert: nach der Wirkung, die sie auslösen sollen. Ich
nähere mich dieser Frage auf einem Umweg, indem ich der Reihe
nach drei mögliche und eingespielte Rezeptionsweisen prüfe und aus
ihrem Scheitern die Eigenart von Schwitters' Merzkunst zu bestimmen suche.
II.
Soweit die Theorie der Merzkunst: als erstes Beispiel für ihre Praxis
soll das 1920 entstandene Sternenbild (Abb. 1) dienen, 8 ein typisches
Merzbild, das die verschiedenartigsten Materialien zu einem neuen,
durchaus harmonischen Ganzen verbindet. Ich gebe zunächst ein
Inventar der Bildbestandteile:
(1) Gefundene Objekte und Objektteile, die Schwitters in sein
Bild integriert hat: Beispielsweise ist der Kreis auf halber Höhe links
außen wohl der Deckel einer Blechdose; rechts davon findet sich ein
Fahrschein, unmittelbar darüber die Nummer 732 eines Paketzettels.
Auf der rechten Seite hat Schwitters zwei Holzleisten aufgenagelt.
An die große Leiste ist links ein feinmaschiges Drahtnetz angefügt;
am oberen Bildrand, etwas links von der Mitte, kleben zwei paßbildähnliche Fotos. Schließlich sind da noch zwei Kreise aus kartonähnlichem Material; am mittleren und größeren ist eine dicke Schnur
befestigt.
(2) Eine Fülle von Papieren unterschiedlicher Form und Dicke,
größtenteils übermalt, und zwar meist ohne Rücksicht auf die Papierform: Teils geben sie formale Elemente ab (wie etwa die keilförmige Fläche über dem Blechdeckel), teils fungieren sie nur als
Bildhintergrund. Im einzelnen kann ich die Farbgebung unmöglich
beschreiben; es dominieren blaugrüne, gelegentlich ins Dunkelviolett und Schwarz spielende Töne - vor allem an den Rändern (etwas
heller) und in der Mitte (eher düster). Um die große Leiste herum
und oberhalb der Metallscheibe herrschen Beige und Ocker vor. Die
Farben wechseln selten abrupt, gehen meist tonig ineinander über.
V gl. etwa: "Bei der Merzmalerei wird der Kistendeckel, die Spielkarte, der
Zeitungsausschnitt zur Fläche, Bindfaden, Pinselstrich oder Bleistiftstrich zur
Linie, Drahtnetz, Übermalung oder aufgeklebtes Butterbrotpapier zur Lasur,
Watte zur Weichheit" (Die Merzmalerei 1919; LW, V, 37).
8 Das Original- mit den Maßen 104,5x79 cm- befindet sich heute in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldmf.
7
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Eine erste und konventionellste Betrachtungsweise wäre der Versuch, das Sternenbild mimetisch zu verstehen. Das kann hier nur
heißen: Seine Bestandteile metonymisch, also als Repräsentanten
ihres Ursprungsbereichs zu lesen. Dabei werden sich natürlich die
unübersehbaren Zeitbezüge in den Vordergrund drängen. Besonders
durch die Textelemente scheint uns Schwitters wie in einem Mosaik das Chaos und die Destruktivität der Nachkriegszeit vor Augen
zu führen: Inflation, Massenelend und staatliche Repression, die
Weimarer Republik als Trümmerhalde. Das wäre dann zugleich ein
möglicher Sinnhorizont für die Fragmentierung der Text- und Objektstücke: Das fragmentierte Bild würde eine fragmentierte Welt
repräsentieren. Daß diese Betrachtungsweise den intendierten Sinn
des Verfahrens nicht trifft, zeigen schon die anderen Merzbilder, die
bei gleicher Collagetechnik für eine solche Semantisierung keinerlei
Anhaltspunkt bieten. Gegen die Interpretation spricht aber auch die
Merzästhetik, die das "Entformeln" als Leistung des Künstlers verstanden wissen will und die re-komponierende Gestaltung betont.
Eine zweite denkbare Betrachtungsweise setzt einen an aktuellen
Kunstwerken geschulten Betrachter voraus, der das Sternenbild als
abstraktes expressionistisches Gemälde rezipiert. Gestaltungsweise
und Titel könnten ihn an ähnliche zeitgenössische Bilder erinnern,
etwa an die Arbeiten eines gewissen Johannes Molzahn, die, zusammen mit einem Manifest des Künstlers, 1919 im Sturm erschienen.
Der Sturm, herausgegeben von Herwarth Waiden, war bekanntlich eine der maßgeblichen Zeitschriften des Expressionismus
und für alle Neuerungen der europäischen Avantgarde besonders
aufgeschlossen. Auch Schwitters' Arbeiten wurden hier erstmals
einem größeren Publikum präsentiert: Im gleichen zehnten Jahrgang (1919/20), der zehn Grafiken Molzahns und sein Manifest
enthält, 9 erscheinen auch die Anna Blume und zwei Grafiken von
Schwitters. 10
Molzahns Bilder gehören ganz eindeutig dem abstrakten Expressionismus zu. Ein Blick auf Raumgebären (Abb. 2) belegt dies sofort
- und der Bildtitel gibt eine ebenso eindeutige Interpretationshilfe:
Molzahns abstrakte Formen sollen ein elementares kosmisches Urgeschehen zeigen, die Grundkräfte alles Lebens, die sich zu Formen
verdichten und wieder auflösen.
Blicken wir von hier aus noch einmal auf das Sternenbild zurück, so erkennen wir durchaus Affinitäten zu Molzahn: die gleiche Reduktion auf elementare, dynamisierte Formen und deutliche
Bezüge zur zeitüblichen kosmischen Symbolik, mit Kreis und Linie
als den Polen eines Urgegensatzes. Schwitters hat Molzahn gekannt
und geschätzt und ihm ein Gedicht mit dem bezeichnenden Titel
Kreisen Welten Du gewidmet. Und es gibt auch eine Reihe früher
Bilder Schwitters', die dem abstrakten Expressionismus noch näher
stehen als das Sternenbild, etwa das Merzbild Das Kreisen von 1919
(Abb. 3).
Ungleich typischer für Schwitters' dadaistisches Werk ist jedoch
die etwa gleichzeitige Arbeit Konstruktion (Abb. 4). Hier erinnern
die Kreise eher an Artistenräder, und zwei der bekanntesten Figuren
aus Schwitters' Dichtungen sind gleich mit-vermerzt: Anna Blume
und Franz Müller.
Die Rezeption des Sternenbildes als eines abstrakten Gemäldes ist
also zwar nicht schlechterdings falsch, aber doch offensichtlich unzureichend. Denn sie verfehlt den Materialaspekt des Schwittersschen
Bildes, sein Zusammengesetztsein aus diversen Fundstücken - und
damit den wesentlichen Unterschied zwischen Schwitters' Auffassung vom Künstlerturn und der der Expressionisten: "Der Mensch
9
Die Bildtitel sind: Dimensionen (H. 5, S. 65), Ewigkeitsflattern (H. 6, S. 82),
Farbiger Steindruck (H. 6, S. 89), Holzschnitt (H. 7, S. 101), Kreisen (H. 3,
S. 33), Raumgebären (H. 6, S. 91), Steigen in ... (H. 5, S. 69), Sternbewegung (H. 6, S. 85), Vielfarbiger Steindruck (H. 9, S. 137), Zeichnung (H. 5,
S. 74). Molzahns Manifest des absoluten Expressionismus findet sich: H. 6,
S. 90 U. 92.
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10
Die Bildtitel sind: Abstraktion (H. 4, S. 49) und Konstruktion (ebd., S. 53;
s. u. Abb. 4); außerdem enthält dieser Sturm-Jahrgang die folgenden Texte
von Schwitters: Nächte, Wir, Ich werde gegangen, Am Rande meines
Welkens, Ich werde erbaut (S. 35f.); Weltfrühe, Weite (S. 60f.); Die Merzmalerei (S. 61); An Anna Blwne (S. 72); Ein solider Artikel (S. 76f.); Die
Zwiebel (S. 99-108); Porträt Rudolj Blümner, Porträt Herwarth Waiden,
Porträt Christoj Spengemann, Porträt Nell Walden (S. 125); Selbstbestimmungsrecht der Künstler (S. 140f.); Porträt Rudolj Bauer, Die rote Marie.
Gedicht, An Maria, Lieschen (S. 141); Nichts tötet schneller als Lächerlichkeit (S. 157).
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kann nichts schaffen im Sinne der allmächtigen Gottheit, er kann
nichts aus dem Nichts schaffen, sondern bloß aus bestimmten Gegebenheiten, aus bestimmtem Material. Das Schaffen des Menschen ist
nur ein Gestalten von Gegebenem" (LW, V, 248).
Dennoch war der Exkurs zu Molzahn nicht vergebens, sondern
hat unser Verständnis des Sternenbilds wesentlich bereichert. Zwar
ist es kein abstrakt expressionistisches Werk, aber es verwendet die
Formensprache und die Semantik des abstrakten Expressionismus
als Material. Das zeigt die Weite des Schwittersschen Materialbegriffs: Nicht nur Dingliches, sondern auch etablierte künstlerische
Verfahrensweisen werden ihm zum objet trouve.
Die dritte Betrachtungsweise brauche ich nur noch anzudeuten:
Es wäre die einem konkreten Bild gegenüber - wie sie sich etwa
am mittleren Kandinsky oder an Mondrian einüben ließe: eine Betrachtungsweise also, die nur auf die "Wertung" nach Form, Farbe
und Textur achtet und den heterogenen Ursprung der Bildelemente
vergißt Obwohl Schwitters in seiner späteren, konstruktivistischereil
Phase eine solche Betrachtung seiner Bilder gefordert hat, 11 verfehlt
auch sie das eigentliche Konstitutivum der Merzkunst, das Collageprinzip.
Die Rezeptionsweise, die der Theorie der Merzkunst wie ihrer
am Sternenbild analysierten Praxis am besten entspräche, müßte
also wohl die erste und dritte Betrachterhaltung wie in einem
Vexierbild miteinander verbinden: Wer nur auf die wertlosen Abfallprodukte und die - im Wortsinne - abfällig charakterisierte
Nachkriegszeit achtete, übersähe die mit großem Ernst betriebene
ästhetische Durchformung. Genauso einseitig wäre es aber, über
der ästhetischen Harmonie dieser Komposition den heterogenen
Ursprung der Materialien und ihre Deformierung zu vergessen.
11
Vgl. etwa das folgende Zitat aus dem englischen Aufsatz Abstract Art ( 194046): "A busticket has been printed for controling the passenger. The MERZ
picture uses it only as colour. You must not read it on the picture. The 3, for
example, is only a line consisting of two bows" (LW, V, 385).
278
III.
Daß An Anna Blume Schwitters' sicher bekanntestes Gedicht
darstellt, ist alles andere als zufällig. Schon bei den Zeitgenossen
war es populär - und dies nicht nur wegen des ungewöhnlichen
Reklameeinfalls von Paul Steegemann, Schwitters' Hannoveraner
Verleger: Der ließ auf den Anschlagsäulen der Stadt zunächst
riesengroß die Zehn Gebote plakatieren; acht Tage später prangte
dann daneben überall ein gleich großer Anschlag mit dem Text der
Anna Blume. Populär war und ist dieses Gedicht durch Eigenschaften, die man den meist nur mit Negativ-Kategorien beschriebenen
Dada-Texten gewöhnlich abspricht: durch die Stringenz und Evidenz
seiner Konstruktion.
Hier die Fassung des Erstdruckes aus dem August-Heft des Sturm
von 1919:
An Anna Blume
0, du Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir!- Du
deiner dich dir, ich dir, du mir. - Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist - bist du? - Die
Leute sagen, du wärest - laß sie sagen, sie sie wissen nicht, wie der
Kirchtmm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die Hände, auf
den Händen wanderst du.
Hallo deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot liebe ich Anna
Blume, rot liebe ich dir!- Du deiner dich dir, ich dir, du mir.- Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage: 1. Anna Blume hat ein Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das GiiTen deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich
liebe dir!- Du deiner dich dir, ich dir, du mir.- Wir?
Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a ich träufle deinen Namen. Dein Name
tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt du es Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du HeiTlichste von allen,
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Innige Nächte
gluten Qual
zittert Glut Wonne
schmerzhaft umeint
siedend nächtigt Bmnst
peitscht Feuer Blitz
zuckend Schwüle
0, wenn ich das Fischlein baden könnte!
du bist von hinten wie von von1e: "a-n-n-a".
Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!
Kurt Schwitters 12
Ich gebe zunächst wieder ein Inventar der verwendeten Materialien.
(1) Ganz offensichtlich finden sich topische Elemente der Liebesdichtung, mal mit hohem Pathos ("0, du Geliebte"), mal ganz umgangssprachlich-direkt ("ich liebe dir"), mal im Stil von CourthsMahler ("Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid"), mal im Stil von
August Stramm.
Zu letzterem ein kurzer erläuternder Exkurs: Was die bildende
Kunst anging, war Waldens Sturm nach allen Seiten offen. In der
Lyrik dagegen dominierte ein bestimmter, quasi Sturm-offizieller
Gedichttypus: die sogenannte "Wortkunst" nach dem Vorbild von
August Stramm (1874-1915). Nach dessen frühem Tod kodifizierten die führenden Theoretiker des Sturm-Kreises die Wortkunstpoetik und versuchten sich selbst als Wortkünstler. Charakteristisch für diese Dichtungsform ist die "Konzentration" auf das
vereinzelte und oft auch verdichtete, auf seinen Kern reduzierte
Wort, wobei in einer zweiten Konzentrationsstufe auch mehrere
Wortkerne übereinandergeblendet werden können - beispielsweise
im Strammsehen Neologismus "frechzen", in dem sich "frech" und
"fetzen" verbinden. Das konzentrierte Einzelwort wird dann durch
"Dezentration" im Gedicht entfaltet: etwa durch Wiederholung,
durch Parallelismen, durch konjugierende oder deklinierende Abwandlung. Auch Schwitters hat kurzzeitig so gedichtet, allerdings
schon früh den Stramm-Stil mit Schwittersismen durchsetzt. Zur
Illustration hier der Anfang seines Gedichts Nächte, das ebenfalls im
zehnten Jahrgang des Sturm erschien (H. 3, S. 35f.):
12
Der Sturm 10 (1919/20) H. 5, S. 72. Ich folge dem Erstdmck detailgenau
(einschließlich der Übernahme eines offensichtlichen Tippfehlers: des verdoppelten "sie" im dritten Absatz) und versuche, auch das Dmckbild möglichst genau nachzubilden. Spätere Fassungen, Selbstübersetzungen und auch
die erst 1922 veröffentliche "U1fassung" finden sich in Schwitters: LW, I,
S. 58f. u. 291-294.
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Und so weiter: Immer wieder wird das genuin Strammsehe Pathos
vom ganz unpathetischen "Fischlein" unterbrochen.
Kehren wir zu unserem Gedicht zurück: Auch in der Anna
Blume gibt es deutliche Anklänge an Liebesdichtung im strammen
Sturm-Ton, etwa: "Rot liebe ich Anna Blume", "Rindertalg träufelt
streicheln [... ]", "du tropfes Tier". All diese Beispiele gehorchen
der Wortkunstregel der "Konzentration", während die scheinbare
Deklinationsübung "Du deiner dich dir, ich dir, du mir.- Wir?" das
Wortkunst-Prinzip der "Dezentration" anwendet. Der Bezug auf die
Liebesdichtung der Wortkunst ließ sich im Erstdruck um so weniger
übersehen, als Schwitters' Gedicht mitten zwischen Wortkunst-Dichtungen abgedruckt war. 13 Wie im Molzahn zitierenden Sternenbild
werden also auch in der Anna Blume Verfahrensweisen des abstrakten Expressionismus als Material vermerzt.
(2) Neben den Elementen der Liebesdichtung im allgemeinen und
der Strammsehen Liebesdichtung im besonderen lassen sich eine
ganze Reihe von Redensarten, idiomatischen Wendungen, Sprechund Denkkonventionen mit mehr oder minder großer Anstrengung
wiedererkennen: die fünf Sinne ("siebenundzwanzig Sinne"); die
Redewendungen: wie es steht/was die Uhr· geschlagen hat ("wie der
Kirchturm steht"); das "Preisrätsel" als syllogistische Denkfigur; die
"Glutenkiste", die halb Aschen- und halb Mottenkiste sein dürfte,
etc.
Wir finden also eine ganze Fülle von sprachlichen Materialien,
die wie die Materialien des Sternenbilds durch eine ganze Reihe von
13
Unmittelbar vorher finden sich zwei Gedichte von Wilhelm Schlichtkrull unmittelbar danach Kurt Liebmanns Glühdirne Nacht marialicht Empjä1;gnis
Gott.
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Collage als Karnevalisierung
EntsteHungsverfahren "entformelt" und dann neu angeordnet wurden. Wie sieht nun diese neue Anordnung, die "Wertung" aus?
Offensichtlich ist der semantisch so inkohärente Text formal
überaus streng komponiert. Das Gedicht wird in vier Teile gegliedert
durch die refrainartige dreimalige Wiederholung der Gruppe: "ich
liebe dir!- Du deiner dich dir, ich dir, du mir- wir" und "Das gehört
beiläufig nicht hierher" (wobei das letztere Element in der Wiederholung immer leicht abgewandelt wird). Der letzte der vier Teile ist
durch diverse Wiederholungen deutlich als Gedichtschluß akzentuiert. Außerdem könnte man noch hinweisen auf die klanglogische
Verbindung semantisch unlogischer Fügungen durch Assonanz und
Alliteration, auf rhetorische Figuren wie den Chiasmus, etc.
So wie die Collagetechnik - autoreflexiv - im variierten "das
gehört nicht hierher" thematisiert ist, so hat Schwitters auch die
Wertung der entformelten Sprach-Elemente nach ihrem Materialwert
gleich zweifach thematisiert: (1) Das scheinbar irrwitzige "Preisrätsel" basiert ja in Wirklichkeit, wie in der Forschung bereits bemerkt
wurde, auf den bekannten Gesetzen des Farbenkreises: Der Vogel
der roten Anna Blume muß grün sein, denn Grün, zusammengesetzt
aus gelb und blau, ist nun einmal die Komplementärfarbe zu rot.
Die semantisch unsinnige Zeile "Blau ist die Farbe deines gelben
Haares" hat so vom Materialwert der Farben her einen präzisen
ästhetischen Sinn. (2) Wiederum gegen die Semantik entfaltet
Schwitters die Klangqualitäten der Wörter und gewinnt dabei nicht
nur dem Namen Anna- "a-n-n-a" -, sondern auch dem "Rindertalg"
eine sinnliche, ja Spracherotische Komponente ab.
Soweit meine nur knapp angedeutete Strukturanalyse. Ohne daß
ich das hier im einzelnen zeigen kann, dürfte damit deutlich sein,
daß sich auch an der Anna Blume die am Sternenbild vorgeführten
Rezeptionsweisen durchexerzieren ließen und daß wir dabei wieder
zum gleichen Ergebnis kämen: Wollen wir dem Text gerecht werden,
müssen wir wiederum Vexierbildhaft zwei Rezeptionsweisen miteinander verbinden. Anna Blume nur als Parodie auf ,hohe' Liebesdichtung oder Stramms Wortkunst zu lesen, würde wieder einseitig den
destruktiven Aspekt betonen und den konstruktiven übersehen. Es
ist ja ebenso richtig, daß Schwitters mit Anna Blume ein neues, ganz
und gar sprachliches Objekt des Begehrens schafft, einen Sprach-
fetisch, der seine eigene Sinnlichkeit und seine eigene Erotik entwickelt. Schwitters' Gedicht destruiert also nicht nur alle vorgegebenen Diskurse über Liebe und Begehren mit ihrer Dichotomisierung
von niedrig und hoch, Sinnlichkeit und Geist, sondern etabliert einen
eigenen, neuen erotischen Diskurs, der die Regeln der sozialen
Konvention durch die der ästhetischen Komposition ersetzt.
Damit sind wir über die Analyse der ,intendierten Rezeption'
zu einer Funktionsbestimmung gekommen, die sich für Schwitters'
Merzkunst verallgemeinern läßt. Auch das Sternenbild zitiert ja
über seine ,Fundstücke' bestimmte gesellschaftliche und ästhetische
Codes mit ihren jeweiligen Wertsystemen und suspendiert zugleich
ihren jeweils ausschließlichen Geltungsanspruch. Politischer, wirtschaftlicher und militärischer Diskurs, der abstrakte Expressionismus und seine kosmischen Visionen, aber auch die trivialsten und
ab-fälligsten .Bereiche der Lebenswelt bilden im Ausnahmezustand
des ästhetischen Raumes eine gleichberechtigte Familie.
282
IV.
Es sind wesentlich diese Funktionsbestimmungen, die mich zum
Versuch veranlaßt haben, Schwitters' Collagetechnik mit Bachtins
Begriff der Karnevalisierung in Verbindung zu bringen, der strukturelle Homologien zwischen karnevalistischer Lachkultur und literarischen Verfahrensweisen bezeichnet. 14
14
Bachtin entwickelt den Begriff vor allem in den Monographien Rabelais und
seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur [entstanden 1940, publiziert in überarbeiteter Fassung 1965]. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hg. u.
mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987 (im
folgenden zitiert als: R), vgl. besonders S. 52-61 u. 68-105 und Probleme der
Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm nach der 2.
überarbeiteten und erweiterten Auflage [1963]. München 1971 (im folgenden
zitiert als D); besonders S. 136-154 u. 177-201 (diese Passagen fehlten in der
1. Auflage von 1929 und wurden in die zweite - in deren Argumentationszusammenhang sie sich nur schlecht einfügen- wohl nur deshalb aufgenommen,
weil das Rabelais-Buch zunächst nicht veröffentlicht werden dmfte). Die
Sekundärliteratur zu Bachtins Kamevalisierung ist kaum noch überschaubar; ich nenne nur: Michael Andre Bernstein: When the carnival turns
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Collage als Karnevalisierung
Wie bereits angekündigt, versuche ich eine Reformulierung des
Begriffes. 15 Worum geht es mir genau? Ich will, erstens, Bachtins
Konzept der Karnevalisierung so präzise und allgemein refm·mulieren, daß es als literaturwissenschaftlicher Begriff universell nutzbar
wird. Zweitens will ich mit Hilfe dieses neu bestimmten Karnevalisierungsbegriffs Schwitters' bisher nur werkimmanent rekonstruiertes Verfahren- das "Merzen"- systematisch genauer fassen und
von anderen Collageverfahren abgrenzen. Knapp gesagt, versuche
ich also, Schwitters' Merzkunst als Schnittmengezweier Verfahrensweisen- Collage und Karnevalisierung- zu beschreiben. 16
Collage sehe ich mit Volker Hage durch zwei Merkmale definiertP zum einen durch das Offenlegen von Schnittstellen zwischen
den Werkelementen, also durch eine fragmentierende Schreib- bzw.
Darstellungsweise. Diese gegen Kohärenzprinzipien von Texten und
Bildern und/oder gegen die eingespielten Kontiguitätsrelationen der
Lebenswelt verstoßende Verfahrensweise bezeichnet man am zweckmäßigsten als Montage. Von ihr unterscheidet sich die Collage durch
bitter. In: Gary Saul Morson (Ed.): Bakhtin. Chicago 1986, S. 99-123; Linda
Hutcheson: The carnivalesque and contemporary narrative. In: University of
Ottawa Quarterly 53 (1983), S. 83-94; Richard Sheppard: Upstairs- downstairs. Same reflections on German Iiterature in the light of Bakhtin 's theory
of carnivals. In: Ders. (Ed.): New ways in Germanistik. New York 1990, S.
278-315; Robert R. Wilson: Play, transgression and camival: Bakhtin and
Derrida on "scriptor ludens". In: Mosaic 19 (1986) 1, S. 73-89; Rene
Wellelc Bakhtin's view of Dostoevsky: "Polyphony" and "Carnivalesque".
In: Robert Louis Jackson/Stephen Rudy (Ed.): Russian Formalism. A retrospective glance. New Haven 1985, S. 231-241. Die beste kurze Einführung in
Bachtins Werk ist noch immer: Jürgen Lehmann: Ambivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin. In: Friedrich A. Kittler/Horst
Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a. M. 1967, S. 355-380. Unter den Bachtin-Monographien
infmmiert umfassend und gründlich: Gary Saul Morson/Caryl Emerson:
Mikhail Bakhtin. Creation of a prosaics. Stanford 1990 (zur Karnevalisierung
besonders S. 433-470).
15
Das unterscheidet meinen V ersuch von bisher unternommenen Versuchen zu
einer Applikation der Bachtinsehen ,Karnevalisierung' wie etwa: Wolfgang
Preisendanz: Karnevalisierung der Erzählfunktion in Balzacs "Les Parents
pauvres". In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning
(Hg.): Honore de Balzac. München 1980, S. 391-410; Gabriele Schwab:
Die Karnevalisierung des toten Mutterkörpers. Zu William Faulkners "As
I lay dying". In: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.): Das Fest. München
1989, S. 342-367; Richard Sheppard: Trickster, carnival and the magical
figures of Dada poetry. In: Forumfor Modern Language Studies 19 (1983),
S. 116-125; Clandia Rechner-Zimme1mann: Die Flucht in die Sprache. Hugo
Balls "Phantastenroman" im kulturgeschichtlichen Kontext zwischen 1914
und 1920. Marburg 1992; besonders S. 102ff.; Jürgen Lehmann: Fragment
als Form der Überschreitung. Günter Grass' Die Blechtrommel und Michail
Bachtins Theorie des Romans. In: Ders. et al. (Hg.): Konflikt - Dialog Grenze. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge. Festschrift für
Horst Turk zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1997, S. 73-84.
284
Bereits die Bestimmung von Karnevalisierung als "Ve1fahrensweise" impliziert eine Distanz zu Bachtin. Für ihn sind Karneval und Karnevalisierung
nicht einfach durch Analogie und Homologie verbundene Größen, sondern
gründen in einem gemeinsamen Ursprung: in der Lachkultur des Volkes. Karnevalisierung in Literatur und Kunst ist für Bachtin also entweder kausal aus
der gleichen Lachkultur hervorgegangen oder sie übernimmt (funktionsgeschichtlich betrachtet) nach dem Niedergang der Lachkultur deren Funktion
und bewahrt ihr- für Bachtin utopisches - Potential so für das "Gattungsgedächtnis".
17
Vgl. das Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Sammlung: Literarische Collagen. Texte, Quellen, Theorie. Stuttgart 1981, S. 5-30 (besonders
S. 8ff.); vgl. auch Hages Monographie: Collagen in der deutschen Literatur. Zur Praxis und Theorie eines Schreibverfahrens. Frankfmt a. M. 1984.
Hages Vorschlag scheint mir der akzeptabelste unter den zahlreichen Versuchen, ,Montage' und ,Collage' gegeneinander abzugrenzen. Vgl. etwa:
Annegret Jürgens-Kirchhoff: Technik und Tendenzen der Montage in der
bildenden Kunst des 20. Jh. Lahn-Giessen 1978; Vollcer Klotz: Zitat und
Montage in avantgardistischer Literatur und Kunst. In: Sprache im technischen Zeitalter 60 (1976), S. 259-277; Helmut Kreuzer (Hg.): Montage.
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46 (1982); Karl Riha:
Cross-Reading und Cross-Talking. Zitat-Collage als poetische und satirische Technik. Stuttgart 1971; Ulrich Weisstein: Collage, mantage and related
terms. Their literalandfigurative use and application to techniques andforms
in various arts. In: Comparative Literature Studies 15 (1978), S. 124-139;
Herta Wescher: Die Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1980; Jürgen Wissmann: Collage oder die Integration von Realität im Kunstwerk. In: Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik- ästhetische
Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München 1966, S. 327-360.
Eine frühe Sonde1fonn der Collage ist der , Cento': vgl. Theodor Verweyen/
Gunther Witting: The cento. Aform of intertextuality frommontage to parody.
In: Heinrich F. Plett (Hg.): Intertextualität. Berlin 1991, S. 165-178.
16
285
MANFRED ENGEL
Collage als Kamevalisierung
ein zweites Merkmal: Ihre Elemente haben Zitatcharakter, d.h. sie
verweisen als Fundstücke, als objets trouves aller Art metonymisch
auf ihren Herkunftsbereich. 18
,Karnevalisierung' bestimme ich - in Reformulierung von
Bachtins stärker inhaltsgeprägter Definition - als eine besondere Form der komisierenden Mischung heterogener Elemente. 19 Sie
bringt - kunstspezifisch ausgewählte - Repräsentanten unterschiedlicher Wertbereiche so miteinander in Kontakt, daß die gewohnte
hierarchische Ordnung zwischen ihnen aufgehoben wird. 20 Im Fall
der Collage richtet sich die Karnevalisierung natürlich auf die durch
die objets trouves repräsentierten Codes und Wertordnungen der Gesellschaft.
Im einzelnen charakterisiert Bachtin die Karnevalisierung durch
die folgenden vier Kategorien: "Familiarisierung", "karnevalistische
Mesalliance", "Ambivalenz" 21 und der "groteske Leib". 22 Ich versuche die folgenden Reformulierungen:
"Familiarisierung" und "Mesalliance" sollen die spezifischen
Konstruktionsverfahren der komischen Mischung beschreiben,
"Ambivalenz" ihre Funktion bestimmen. Familiarisierung meint
dann, daß Elemente verschiedenster Herkunft in einen gleich-
berechtigten und vertraulichen Kontakt miteinander gebracht werden.23 Dies ist ein Merkmal, das jede Collage erfüllt, wenn sie Fundstücke unterschiedlicher Hierarchiebereiche enthält. Bei Schwitters
war "Familiarisierung" als universeller Materialbegriff thematisiert.
Mesalliance schreibt in meiner Bestimmung als spezifisches
Verknüpfungsprinzip vor, daß die heterogenen Elemente nicht nur
gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern daß sie zu neuen,
spannungsvollen und überraschenden Einheiten verbunden werden, 24
was die Kategorien der Grotesken und des Schocks impliziert. 25
Diese sind keineswegs notwendiges Merkmal aller Collagen - wohl
aber der Schwittersschen (man denke etwa an das "liebe grüne Tier"
Anna Blume).
Ambivalenz bestimmt die Funktion der karnevalistischen Mischung als Negation jedes Ausschließlichkeitsanspruchs,Z 6 als wie Bachtin es nennt - "heitere Relativität" (R, 60)_27 Karnevalisierung bezweckt weder einseitig Herauf- noch Herabsetzung,
Dabei ist es natürlich inelevant, ob es sich um tatsächliche oder um fingierte Fundstücke handelt. Ein erfundener Werbespruch verweist beispielsweise
- qua Systemreferenz- ebenso auf diese Textsorte wie ein gefundener.
19
Schon darin unterscheide ich mich von Bachtins Begriffs gebrauch, da Bachtin
auch Karnevalisierung mit "reduziertem Lachen", also ohne Komik, kennt
(D, 185ff.).
2
°Karnevalisierung ist also eine Form relativierender komischer Mischung, die
sich der Alltagsordnung gegenüber - wie Bachtin sagt - "exzentrisch" verhält.
21
Die Kategmien "Exzentrizität", "Familimisierung", "karnevalistische Mesalliance", "Profanierung" und "Ambivalenz" werden am prägnantesten entfaltet: D, 137ff. Zu Rekonstruktionsversuchen vgl. Lehmann: Ambivalenz und
Dialogizität, S. 359-365 und Lachmanns Vorwort (R, 7-48, besonders 31).
22
Nicht übernehme ich die Kategorie der "Profanierung", da sie im Bachtinschen System eine Inkonsequenz darstellt: Von Profanierung zu reden wäre
nur legitim, wenn man auch den Komplementärbegriff der Sakralisierung einführte- es geht bei Karnevalisierung ja um die komplementäre Verbindung
von Herauf- und Herabsetzung. Dieses Begriffspam· ist aber schon durch die
Kategorie der "Ambivalenz" abgedeckt.
18
286
23
Als "Berührung auf der Horizontalen, die die V e11ikale des Hierm·chischen
ablöst" (Lachmann, R, 31).
24
In den Rabelais-Kapiteln seiner Chronotopos-Studie spricht Bachtin von
der "Zerstörung aller gewohnten Zusammenhänge, aller getvohnten Nachbarschaften von Dingen und Ideen" bzw. von "der Herstellung unerwarteter
Nachbarschaften, unerwm1eter Zusammenhänge, darunter auch völlig überraschender logischer (,Alogismen ')und sprachlicher (die spezifisch Rabelaissche Etymologie, Morphologie und Syntax) Zusammenhänge". Im Gegensatz
zu seinendekonstruktivistischen Interpreten meint Bachtin damit aber Nachbarschaften zwischen den Dingen und Ideen [... ], die ihrer wirldichen Natur
gerecht werden" (Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik [zuerst 1975]. Hg. von Edward Kowalski und
Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M.
1989. S. 103f.; im folgenden zitie11 als FdZ). Es sind solche weltanschaulichen Elemente, die ich mit meiner Reformulierung auszuldammern suche.
25
Ich verstehe das Groteske als einen Sonderfall der Komisierung: Beruht
Komik auf dem Prinzip der aus Distanz betrachteten Normübertretung, so verstößt das Groteske gegen besonders grundlegende Normen der Lebenswelt,
also gegen die Elementarkoordinaten des jeweiligen Wirklichkeitsbegriffes.
Daher wird die komische Distanzierung pmtiell unterlaufen, der Rezipient
fühlt sich auch schockie11, geängstigt.
26
Lehmann: Ambivalenz und Dialogizität, S. 360.
27
Vgl. etwa: "Merz ist Weltanschauung. Sein Wesen ist absolute Unbefangenheit vollständige Unvoreingenommenheit" (Merz, 1924; LW, V, 187).
287
MANFRED ENGEL
Collage als Karnevalisierung
sondern immer beides in komplementärer Koppelung: Hohes und
Niedriges werden auf einer Ebene nivelliert. 28 Das grenzt Karnevalisierung ab von Verfahrensweisen wie Parodie oder Travestie.
Gerade für Schwitters' Merzkunst ist die Kategorie der Ambivalenz
von höchster Bedeutung: Schwitters parodiert beispielsweise weder
Molzahn noch Stramm. Er setzt ihre Verfahren gleich-gültig neben
andere, subvertiert damit aber natürlich alle Hierarchisierungen wie etwa die zwischen trivialer Liebessprache und Strammsehen
Pathos oder zwischen der Ästhetik der Müllhalde und Molzahns
kosmischen Visionen. Die letzte und allgemeinste Ebene der Ambivalenz betrifft bei Schwitters das Verhältnis von Kunst und Leben:
Schwitters greift zwar die "bürgerliche Institution Kunst" (Peter
Bürger) in ihrem Autonomieanspruch an, aber nur, indem er gleichzeitig alle Gegenstände der Lebenswelt zur Kunst erhöht.
Am schwersten zu reformulieren ist die Kategorie des "grotesken
Leibes". 29 Sie bildet bei Bachtin den weltanschaulichen - deutlich
lebensphilosophisch geprägten- Kern und damit auch das organisierende Zentrum seines Karnevalisierungsbegriffs. Der "groteske
Leib" ist nicht mehr Körper eines Individuums, sondern der kollektive Körper, letztlich die Hypostasierung des Lebens selbst 30 - daher
die groteske Verbindung von Sterben und Gebären, von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung.
Eine so enge, stark inhalts- bzw. motivorientierte Festlegung
schränkt die Operationalität des Karnevalisierungsbegriffes allzusehr ein. Ich illustriere das am Beispiel von Schwitters. Auch in der
Anna Büune finden sich auf der Inhaltsebene Elemente grotesker
Leiblichkeit, man denke etwa an die implizite Verkehrung von Kopf
("Hut") und Füßen, von oben und unten, vorne und hinten oder an
die Verbindung von Mädchen und "Tier". 31 Doch zeigt das Gedicht
zugleich eine für die Avantgarde typische Verschiebung des Konzepts: Anna Blumes grotesker Leib ist recht eigentlich ihr Sprachleib,
besonders natürlich die sinnlichen Valenzen ihres Klang-Körpers
"a-n-n-a". Allgemein gesagt: Die Karnevalisierung der Avantgarde
gründet häufig nicht im "Materiell-Leiblichen" (D, 74), sondern in
der Sinnlichkeit des Materials, das dabei durchaus Fetisch-Charakter
annehmen kann. Dies deutet bereits auf eine zweite Verschiebung
hin: Der Bachtinsehe Aufhebung der Körpergrenzen, dem freien
Austausch zwischen Körper und Außenwelt entspricht bei Schwitters die Aufhebung der Grenze zwischen dem Kunstwerk und seiner
kunst-externen Peripherie.
Während im Rabelais-Buch vor allem die kritisch-profanierende Seite der
Karnevalisierung behandelt wird, stellt Bachtin in der Chronotopos-Studie
ausführlich auch den "positiven", "nicht grotesken und nicht kritischen" "Pol"
in Rabelais' Weltsicht dar (FdZ, 144).
29 Die prägnantesten Bestimmungen finden sich in Bachtins Rabelais-Studie: "Der groteske Körper ist [... ] ein werdender. Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen
weiteren Körper; er verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen
[... ]. Deshalb spielen jene seiner Teile, in denen er über sich selbst, über die
eigenen Grenzen hinauswächst und einen neuen, zweiten Körper produziert,
eine besondere Rolle: der Bauch und der Phallus. [... ] Die nächstwichtige
Rolle [... ] nimmt für den grotesken Körper der Mund ein, der die Welt verschluckt, und dann der Hintern, denn all diese Ausstülpungen und Öffnungen
zeichnen sich dadurch aus, daß an ihnen die Grenze zwischen zwei Körpern
oder Körper und Welt überwunden wird. Hier gehen Tausch und gegenseitige
Orientierung vonstatten. Daher geschehen auch die Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers, alle Akte des Körperdramas -Essen, Trinken, die
Verdauung (und neben Kot und Urin auch andere Ausscheidungen[ ... ]), Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod,
Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen
Körper-, an der Grenze zwischen Körper und Welt und dem alten und dem
jungen Körper. In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende
des Lebens miteinander verflochten. [... ] Im Grunde gibt es [... ] keinen indi28
288
viduellen Körper. Der groteske Körper besteht aus Einbrüchen und Erhebungen, die schon den Keim eines anderen Körpers darstellen, er ist eine Durchgangsstation für das sich ewig erneuernde Leben, ein unausschöpfbares Gefäß
von Tod und Befruchtung" (R, 358f.). Das Körperkonzept der siegreichen
Gegner der Lachkultur sieht dagegen folgendermaßen aus: "der fertige, streng
begrenzte, nach außen verschlossene, von außen gezeigte, unvermischte und
individuelle ausdrucksvolle Körper" (R, 361); alle Zitate ohne die zahlreichen
Kursivierungen des Autors.
30
V gl. etwa: "So spielt im Karneval das Leben selbst" (R, 56).
31
V gl. auch den - durchaus mitzulesenden - obszönen Nebensinn der Liebe
von "hinten" und "vorne", den "Rindertalg" und die "Verflüssigung" des Namens. Die "Zersägung" der Kleider- als Privatanspielung auf den "Fundort":
Schwitters las den Namen zuerst auf einem Zaun- verweist allerdings bereits
auf die im folgenden erörterte Neukonzeptualisienmg der Körperthematik.
289
MANFRED ENGEL
Collage als Karnevalisierung
Damit habe ich den avantgardetypischen Verschiebungen von der
Welt- zur Sprachreferenz und von der Kunstautonomie zur KunstLeben-Vermischung Rechnung getragen. Nicht beantwortet ist aber
noch die Frage, ob sich so etwas wie ein kleinster gemeinsamer weltanschaulicher Nenner der Bachtinsehen und der Schwittersschen
Karnevalisierungsformen finden ließe, als möglichst neutral und allgemein gefaßtes Äquivalent zur karnevalistischen Lachkultur. Als
schwächere - und damit universellere - Variante von Bachtins
"grotesker Leiblichkeit" reformuliere ich den weltanschaulichen
Fokus karnevalisierender Verfahren als eine besondere Form der
"Komik der Heraufsetzung" (Hans Robert Jauß): als Rehabilitierung
tabuierter Sinnlichkeit, die sowohl das Kreatürlich-Leibliche wie
das Ästhetisch-Häßliche umfaßt, die Ausscheidungen des Körpers
wie den Müll der Wegwerf- und den Sprachmüll der Informationsgesellschaft, karnevalisierende Verfahren zielen auf die maximale
Freisetzung des sinnlichen Potentials ihrer Elemente und auf die Aletivierung der sinnlichen Vermögen ihrer Rezipienten.
Aus dieser Reformulierung grotesker Leiblichkeit zur Freisetzung
enttabuierter Sinnlichkeit ergeben sich zwei weitere Bestimmungen
der karnevalistischen Collage: Sie darf weder auf intellektuellen
Konzepten noch auf geometrisch-rationalen Strukturen beruhen; 32
das grenzt sie ab von der satirischen bzw. der konstruktivistischen
Collage. Nicht umsonst ist die zentrale Kategorie der "Wertung", also
der ästhetischen Organisation des Materials, für Schwitters - mindestens in seiner prä-konstruktivistischen Phase - der "Rhythmus". 33
Im ästhetikgeschichtlichen Kontext weist dieser Begriff zurück auf
die lebensphilosophisch begründete Ornamentästhetik des Jugendstils; von dort übernahm ihn Arno Holz und vermittelte ihn weiter
an den Sturm-Kreis, wo Schwitters ihn kennengelernt haben dürfte.
Rhythmus im lebensphilosophischen Sinne ist lebendige Form,
die ständig wechselnde dynamische Einheit in der sich das Leben
selbst organisiert. Damit wird zugleich deutlich, daß mindestens die
karnevalistische Collage keineswegs auf einem anorganischen Formkonzept beruht. 34
Soweit mein Reformulierungsversuch. Ich fasse die Ergebnisse
kurz zusammen: Über die Konstruktionsmodi der Familiarisierung
und der Mesalliance, und über die Funktionsbestimmungen der
Ambivalenz und der globalen Bejahung von Sinnlichkeit jenseits
von moralischen wie ästhetischen Grenzziehungen habe ich Bachtins
Kategorie der Karnevalisierung neu zu fassen versucht, um ihre
Anwendbarkeit zu erhöhen. Mein eigenes Anwendungsbeispiel war
Schwitters' Merzkunst, deren Grundprinzip sich jetzt als karnevalisierende Collage benennen läßt. Das verhilft, erstens, zu einer genaueren und allgemeineren Beschreibung von Verfahren und Funktion als sie Schwitters' eigene Termini ermöglichen. Es wäre nun
etwa zu prüfen, ob- und gegebenenfalls mit welchen Modifikationen
-sich das Verfahren der karnevalistischen Collage auch bei anderen
Vertretern der Avantgarde- vor allem im Umkreis von Dadaismus
und Surrealismus - findet. Der zweite Ertrag besteht darin, daß sich
die karnevalistische Collage nun als eigener Typus abgrenzen läßt
von anderen, noch präziser zu fassenden Collageverfahren - etwa
der aleatorischen, der konstruktivistischen, der parodistischen, der
satirischen, der sprachkritischen oder der dokumentarischen Collage. Drittens schließlich würde es sich wohl lohnen, der am Einzelfall
und am einzelnen Verfahren erwiesenen Affinität zwischen Dada
und Karnevalisierung weiter nachzugehen.
V gl. etwa: "Die reine Kunst [... ] ist hunde1iprozentig zur reinen, unbändigen
Freude der Menschen geschaffen, [... ] sie wendet sich besonders an die Sinne
des Menschen, denen sie einen unbeschreiblichen Genuß bereiten kann, wenn
die Menschen aufnahmefähig sind. Die Propagandakunst wendet sich über
die Sinne der Menschen an den Verstand. Der Verstand kann nicht fühlen, er
kann nur denken, und das ist der Zweck der Propagandakunst" (Europäische
Kunst des 20. Jahrhunderts 1940-45; LW, V, 380).
33
V gl. etwa: "The mate1ial gives a certain movement, another may assist or fight
it, ancl the composition collects all single movements to a rhythm. Perhaps
one can feel the rhythm of London and give a similar rhythm in an abstract
picture. MERZ pictures, sculptures or poems represent rhythm" (Abstract Art
1940-46; LW, V, 385).
32
290
34
Wie das Peter Bürger (in der Nachfolge Walter Benjamins) fälschlicherweise
aller Avantgardekunst unterstellt; vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde.
Frankfurt a. M. 1974.
291
292
MANFRED ENGEL
Collage als Karnevalisierung
Abb. 1: Kurt Schwitters: Merzbild 25 A.
Das Sternenbild (1920)
Abb. 2: Johannes Molzahn: Raumgebären (1919)
293
MANFRED ENGEL
Collage als Karnevalisierung
Abb. 4: Kurt Schwitters: Konstruktion (1919)
Abb. 3: Kurt Schwitters: Das Kreisen (1919)
294
295
a htin
Im ialog
Festschrift
für JÜRGEN LEHMANN
Herausgegeben von
MARKUS MAY
TANJA RUDTKE
Universitätsverlag
WINTER
Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
INHALT
MARKUS MAY (Erlangen):
Bachtin im Dialog - Über den Gesprächspartner
(Vorwort) ................................................................................................... 9
BILDVERWEISE
Abbildungen Kurt Schwitters: Merzbild 25 A. Das Sternenbild (S. 292),
Das Kreisen (S. 294),Konstruktion (S. 295) mit freundlicher Genehmigung
der VG Bild+ Kunst.
I.
KoNTEXTUALISIERUNGEN
CRAIG BRANDIST (Sheffield):
The Concept of the Image from Regel to Bakhtin ....................... 31
LARISSA N. PoLUBOJARINOVA (St. Petersburg):
Intertextualität und Dialogizität Michail Bachtins
Theorien zwischen Sprachwissenschaft und
Literaturwissenschaft .......................................................................... 55
(Schumen):
Celan übersetzen oder Übersetzen als Graben ............................. 65
ANNA DIMOVA
II.
ISBN
ISBN
978-3-8253-5279-0
3-8253-5279-X
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
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Druck: Memrriinger MedienCentrum, 87700 Memmingen
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem
und alterungsbeständigem Papier
DIALOGIZITÄT
HARALD FRICKE (Fribourg):
Bachtin und die Dialogizität von Text und Bild.
Elemente einer Narratologie erzählender Malerei ....................... 87
(Tübingen):
"Wirkliche Romane" von Opitz und Mörike?
Überlegungen zu Bachtins Poesie-Begriff .................................. 113
BARBARA WIEDEMANN
MARKUS MAY (Erlangen):
Das Ende des Erzählens? Michail M. Bachtins Theorie
des "polyphonen Romans" und der Wandel des narrativen
Diskurses im Roman zwischen 1880 und 1910 .......................... 139
Den Verlag erreichen Sie im Internet unter:
www. winter-verlag-hd.de
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