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Kolumbien: Frieden in Zeiten des Coronavirus

2020, WeltTrends

In diesen Tagen gibt es auf der Welt nur ein Thema: Coronavirus! 2020 ist dadurch bereits jetzt ein Schicksalsjahr. Corona versetzt ganze Gesellschaften in Zeitlupe, aber kriegerische Auseinandersetzungen werden fortgesetzt, Konflikte schwelen weiter und prekäre Friedensprozesse werden durch das Virus mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Dreieinhalb Jahre nach dem Abschluss des Friedensvertrags zwischen der kolumbianischen Regierung und der größten Guerilla Lateinamerikas (FARC) droht der Sturm des Coronavirus das zarte Friedenspflänzchen wegzufegen. Würde der Friedensprozess scheitern, wären die Konsequenzen dramatisch: für die Opfer, für die Gesellschaft und insbesondere für die ländlichen Gebiete, aber auch für die Wirtschaft und die internationale Reputation Kolumbiens. Die Bearbeitung der Coronakrise darf nicht auf dem Rücken des Friedens ausgetragen werden. Im Gegenteil: Der Kampf gegen das Virus und für den Frieden haben das gleiche Ziel, den Schutz von Menschenleben. Corona bedroht den fragilen Friedensprozess in Kolumbien Schon vor der Coronakrise befand sich der kolumbianische Friedensprozess in einer schwierigen Phase. Kein Zweifel, es gibt eine Reihe spürbarer Verbesserungen. Die Zahl der Opfer hat sich deutlich reduziert, der Großteil der Ex-Kombattant/-innen der FARC hat seine Waffen abgegeben und sich dem zivilen Leben zugewandt, die Minenräumung schreitet voran und die Transitional-Justice Institutionen haben trotz heftigen Widerstandes aus dem Lager der aktuellen Regierung ihre Arbeit aufgenommen. Dabei wurden wichtige Fortschritte erzielt und diese Institutionen gelten international zu Recht als vorbildlich. Dennoch schimmert die Bilanz des Friedensprozesses aktuell bestenfalls in dunklem Grau. Die zentrale Reform ländlicher Entwicklung geht allenfalls im Schneckentempo voran, der Prozess der Wiedereingliederung der ehemaligen Guerrilleros/as führte oft in sozio-ökonomische Sackgassen, viele der ehemaligen Gebiete der FARC wurden von anderen Gewaltakteuren übernommen und die Drogenwirtschaft expandiert auch aufgrund der fortwährenden Nachfrage insbesondere im Globalen Norden. Zudem haben Bedrohungen und Ermordungen sozialer Aktivist/innen und ehemaliger FARC-Kämpfer/innen erschreckende Ausmaße angenommen und müssen als systematisch gekennzeichnet werden. Die staatlichen Schutzmechanismen kommen oft zu spät oder greifen nicht. Im Ergebnis fordert dieses Politikversagen einen traurig hohen Blutzoll. Aktuell haben sich die Aussichten nochmals getrübt. Das Corona-Virus schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Friedensprozess und droht die bisherigen Fortschritte im Friedensprozess zu konterkarieren. Vier Punkte gefährden den Friedensprozess in der aktuellen Coronakrise besonders: Erstens hat sich die Sicherheitssituation für soziale Aktivist/innen gerade in den ländlichen Gebieten weiter zugespitzt. Die Mörder/innen ignorieren die Quarantäne, während gleichzeitig der Schutz gefährdeter Personen durch die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung erschwert wird. Schon vor der Coronakrise blieb die Gewalt gegen soziale Aktivist/innen unterhalb des Radars der breiten Öffentlichkeit. Heute sind viele Aktivist/innen auf sich allein gestellt und können oft selbst bei akuter

Stefan Peters Kolumbien: Frieden in Zeiten des Coronavirus In diesen Tagen gibt es auf der Welt nur ein Thema: Coronavirus! 2020 ist dadurch bereits jetzt ein Schicksalsjahr. Corona versetzt ganze Gesellschaften in Zeitlupe, aber kriegerische Auseinandersetzungen werden fortgesetzt, Konflikte schwelen weiter und prekäre Friedensprozesse werden durch das Virus mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Dreieinhalb Jahre nach dem Abschluss des Friedensvertrags zwischen der kolumbianischen Regierung und der größten Guerilla Lateinamerikas (FARC) droht der Sturm des Coronavirus das zarte Friedenspflänzchen wegzufegen. Würde der Friedensprozess scheitern, wären die Konsequenzen dramatisch: für die Opfer, für die Gesellschaft und insbesondere für die ländlichen Gebiete, aber auch für die Wirtschaft und die internationale Reputation Kolumbiens. Die Bearbeitung der Coronakrise darf nicht auf dem Rücken des Friedens ausgetragen werden. Im Gegenteil: Der Kampf gegen das Virus und für den Frieden haben das gleiche Ziel, den Schutz von Menschenleben. Corona bedroht den fragilen Friedensprozess in Kolumbien Schon vor der Coronakrise befand sich der kolumbianische Friedensprozess in einer schwierigen Phase. Kein Zweifel, es gibt eine Reihe spürbarer Verbesserungen. Die Zahl der Opfer hat sich deutlich reduziert, der Großteil der Ex-Kombattant/-innen der FARC hat seine Waffen abgegeben und sich dem zivilen Leben zugewandt, die Minenräumung schreitet voran und die Transitional-Justice Institutionen haben trotz heftigen Widerstandes aus dem Lager der aktuellen Regierung ihre Arbeit aufgenommen. Dabei wurden wichtige Fortschritte erzielt und diese Institutionen gelten international zu Recht als vorbildlich. Dennoch schimmert die Bilanz des Friedensprozesses aktuell bestenfalls in dunklem Grau. Die zentrale Reform ländlicher Entwicklung geht allenfalls im Schneckentempo voran, der Prozess der Wiedereingliederung der ehemaligen Guerrilleros/as führte oft in sozio-ökonomische Sackgassen, viele der ehemaligen Gebiete der FARC wurden von anderen Gewaltakteuren übernommen und die Drogenwirtschaft expandiert auch aufgrund der fortwährenden Nachfrage insbesondere im Globalen Norden. Zudem haben Bedrohungen und Ermordungen sozialer Aktivist/innen und ehemaliger FARC-Kämpfer/innen erschreckende Ausmaße angenommen und müssen als systematisch gekennzeichnet werden. Die staatlichen Schutzmechanismen kommen oft zu spät oder greifen nicht. Im Ergebnis fordert dieses Politikversagen einen traurig hohen Blutzoll. Aktuell haben sich die Aussichten nochmals getrübt. Das Corona-Virus schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Friedensprozess und droht die bisherigen Fortschritte im Friedensprozess zu konterkarieren. Vier Punkte gefährden den Friedensprozess in der aktuellen Coronakrise besonders: Erstens hat sich die Sicherheitssituation für soziale Aktivist/innen gerade in den ländlichen Gebieten weiter zugespitzt. Die Mörder/innen ignorieren die Quarantäne, während gleichzeitig der Schutz gefährdeter Personen durch die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung erschwert wird. Schon vor der Coronakrise blieb die Gewalt gegen soziale Aktivist/innen unterhalb des Radars der breiten Öffentlichkeit. Heute sind viele Aktivist/innen auf sich allein gestellt und können oft selbst bei akuter Gefahr nicht an sichere Orte gebracht werden. Die Killer/innen und ihre Hintermänner/frauen nutzen diese Situation aus. Zweitens verzögert die Coronakrise die Umsetzung des Friedensprozesses. Das Virus bremst die Transitional Justice-Institutionen, d.h. die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, die Wahrheitskommission und die Einheit zur Suche der Verschwundenen praktisch aus. Diese Institutionen arbeiten eng mit Opfervereinigungen zusammen und zielen explizit auf die Einbindung historisch benachteiligter Gesellschaftsgruppen in den Regionen. Genau diese Arbeit wird jedoch aktuell stark beeinträchtigt. Aussagen zu persönlichen Gewalterfahrungen erfordern menschliche Nähe, Vertrauen und Empathie. Dies kann nicht ohne Weiteres über Videokonferenzen stattfinden, bei vielen Opfern können der Zugang zu Computer und Internet zudem nicht vorausgesetzt werden. Drittens führt die Coronakrise zu einer Zunahme sozialer Verwerfungen. Kolumbien gehörte bereits vor Ausbruch der Pandemie zu den Ländern mit den höchsten Ungleichheitswerten weltweit. Das hierin enthaltene Konfliktpotenzial entlud sich Ende 2019 in Form von Massenprotesten. Präsident Duque rettete sich wie ein angeschlagener Boxer in die Weihnachtspause. Soziale Verbesserungen blieben aus. War die soziale Krise seit jeher eine schwere Hypothek für den Friedensprozess, setzt die Coronakrise nun die Axt an den ohnehin fragilen gesellschaftlichen Kitt. Auf dem Land trifft das Coronavirus auf verbreitete Armut, eine bestenfalls prekäre Gesundheitsversorgung sowie fehlende soziale Absicherung. Es droht eine humanitäre Katastrophe, ganze Landesteile könnten in die Arme alter und neuer bewaffneter Gruppen getrieben werden. Zudem trifft die Krise die urbanen Armutsviertel besonders hart. Soziale Notfallprogramme können bisher noch Druck aus dem Kessel nehmen. Doch mit jedem Tag steigen Not, Verzweiflung und Wut. Hungerrevolten können nicht ausgeschlossen werden und die Debatten über eine Militarisierung der Städte lassen repressive Antworten auf Proteste befürchten. Schließlich kann es – viertens – keinen Frieden zum Nulltarif geben. Dennoch gibt es mittel- und langfristig keine bessere Investition, als den Frieden zu stützen. Ökonomische Prosperität, soziale Entwicklung und eine Vertiefung der Demokratie können nur im Frieden gedeihen. Die Coronakrise schürt jedoch neue Verteilungskämpfe. Haushaltsmittel müssten großzügiger aufgebracht werden, um das Gesundheitssystem zu verbessern und Maßnahmen in die Wege zu leiten, die die sozialen Krisen abfedern. Dies darf jedoch nicht auf Kosten des Friedensprozesses geschehen. Politische Handlungsspielräume Die Coronakrise potenziert die Herausforderungen des Friedensprozesses und erfordert entschlossenes politisches Handeln. Es gilt, die Bedrohungen und die Gewalt gegen soziale Aktivist/innen und ehemalige FARC-Kämpfer/innen zu stoppen. Dies erfordert nicht nur vermehrte Anstrengungen im Rahmen der bestehenden Schutzmechanismen. Im Gegenteil: Die Probleme liegen auch im Design. Es braucht mehr Partizipationsmöglichkeiten der Aktivist/innen sowie eine beschleunigte Umsetzung der Maßnahmen. Darüber hinaus darf die Coronakrise die Arbeit der Transitional Justice-Institutionen nicht gefährden. Die Lösung ist einfach: Es wird vor allem mehr Zeit benötigt. Die Pandemie hat viele Prozesse unterbrochen und macht Planungen hinfällig. Folglich muss der Zeithorizont für die Arbeit der Institutionen und insbesondere für die Einreichung von Aussagen über Menschenrechtsverletzungen verlängert werden. Dies erfordert auch die Bereitstellung der notwendigen Finanzmittel; die Bearbeitung der Vergangenheit ist zu wichtig, um sie pragmatisch an die Umstände der Coronakrise anzupassen. Die Coronakrise ruft auch die tödlichen Folgen eines mangelhaften Wohlfahrtstaates in Erinnerung. Nach Corona wird es kein „weiter so“ geben können. Frieden und Entwicklung brauchen ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit. Das heißt vor allem, die Armut zu bekämpfen, erschöpft sich jedoch nicht hierin. Weder Kolumbien noch andere Länder werden sich zukünftig die Obszönität des Nebeneinanders von Privatjets und Obdachlosen leisten können. Der notwendige Abbau sozialer Ungleichheiten geht weit über den Text des Friedensvertrages hinaus und trifft damit eine Leerstelle dieses historischen Dokuments. Wie sollen diese Lösungsansätze finanziert werden? Hier müssen neue Wege beschritten werden. Der Königsweg ist die Besteuerung der Eliten. Die starken Schultern der vermeintlichen und tatsächlichen Leistungsträger/innen müssen endlich in die Pflicht genommen werden. Doch so wichtig Veränderungen auf der nationalen Ebene sind, die Herkulesaufgabe wird Kolumbien nicht alleine meistern können. Die aktuelle Krisensituation wird die Aufrichtigkeit der internationalen Gemeinschaft auf die Probe stellen. Der kolumbianische Friedensprozess ist aus den Schlagzeilen der internationalen Gazetten verschwunden und befindet sich in den glanzlosen Mühen der Ebenen. Sollen die friedenspolitischen Fortschritte nicht schon morgen Makulatur sein, braucht es gerade in der jetzigen Situation den Beistand von Freund/innen und den langen Atem der internationalen Gemeinschaft. (Manuskriptabschluss: 25. April 2020, erschienen in: WeltTrends 164, Juni 2020.) Prof. Dr. Stefan Peters geb. 1982, Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) in Bogotá, Kolumbien. [email protected]