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Wir Bobos.
Soziologische Fragmente #1 | 2020 | www.soziologiemgazin.de
Zur Autoethnographie eines Sozialtyps
von Clemens Albrecht, Nora Bechheim,
Susanne Bell, Julian Hemmerich, Anna
Hörter, Philipp Jakobs, Philipp Lehmann,
Corvin Rick, Sabine Sieverding
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Prof. Dr. Brigitte Aulenbacher, Prof. Dr. Birgit BlättelMink, Prof. Dr. Ulrich Bröckling, Prof. Dr. Aldo Haesler,
Prof. Dr. Ernst von Kardorff, Prof. Dr. Hubert Knoblauch,
Prof. Dr. em. Reinhard Kreckel, Prof. Dr. Thomas Kron,
Dr. Diana Lindner, Prof. Dr. Kurt Mühler, Dr. Yvonne Niekrenz, Dipl. Sozialwirt Harald Ritzau, Dr. Cornelia Schadler, Dr. Imke Schmincke, Dr. Jasmin Siri, Dr. Irene Somm,
Prof. Dr. Manfred Stock, Dr. Sylvia Terpe, Prof. Dr. PaulaIrene Villa, Prof. Dr. Georg Vobruba, Dr. Greta Wagner
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Soziologische Fragmente #1 2020
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https://doi.org/10.5281/zenodo.3695330
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WIR BOBOS
Wir Bobos.
Zur Autoethnographie eines Sozialtyps
von Clemens Albrecht, Nora Bechheim, Susanne Bell, Julian Hemmerich, Anna Hörter,
Philipp Jakobs, Philipp Lehmann, Corvin Rick, Sabine Sieverding
3
abstract
In den letzten Jahren erfuhr ein bis dato blasser Sozialtypus eine ungewöhnliche Konjunktur in den Medien: der „Bobo“. Das Amalgam aus Bourgois
und Bohemien wurde wahlweise oder gleichzeitig für die Gentrifizierung von
Stadtteilen, die Verachtung des Proletariats, die blinde Zustimmung zur globalen Migrationsfreiheit, die neue soziale Spaltung, die Gleichberechtigung
der Frauen, die Emanzipation unterdrückter Minderheiten und die Rettung
des Planeten ebenso gehasst wie gefeiert. Mit dem Sozialtyp „Bobo“ sind
wir gemeint: Wir, das Autorenkollektiv dieses Textes, wir, die Leserschaft
sozialwissenschaftlicher Literatur, wir, die privilegierte, junge Bildungselite,
fern zynischer Nihilismen und mit ungetrübtem Eifer zur Weltverbesserung.
Oder? – Der vorliegende Text stellt sich der Aufgabe, materielle Kultur, Ideologie, soziale Praktiken und Beziehungsmuster der Bobos zu beschreiben und
in einen größeren zeitdiagnostischen Kontext einzuordnen, die neue soziale
Spaltung. Zur Methode wurde eine modifizierte Variante der Autoethnographie gewählt, die verwendeten Zitate sind folglich originär boboscher Herkunft. Die Art der Präsentation ist ebenfalls boboesk: essayistisch, ironisch
und überspitz. Der Text fasst die Arbeit eines Seminars zusammen und folgt
der delphischen Inschrift: „Γνῶθι σεαυτόν“; erkenne dich selbst!
Schlagwörter
Neue soziale Spaltung, Bobos, Autoethnographie
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https://doi.org/10.5281/zenodo.3695330
Soziologische Fragmente #1
WIR BOBOS
Die Bobos
Als der Journalist David Brooks nach längerem Auslandsaufenthalt Mitte der 90er
Jahre in seine Heimatstadt New York zurückkehrte, meinte er, eine eigentümliche
Veränderung beobachten zu können: Alternative und Yuppies waren verschmolzen.
4
Für jemanden, der in den 70er Jahren
aufgewachsen war, ist das eine verblüffende Beobachtung, denn die Alternativen
waren linke Althippies. Nachdem ihre
Hoffnungen auf die Revolutionierung der
Gesellschaft durch Landkommune und
universelle Liebe im ‚Age of Aquarius‘
zerronnen waren, beschnitten sie ihre
Haare und Bärte und kehrten in die angesagten Viertel der Städte zurück, um als
Vorhut der Gentrifizierung in sozialen oder
künstlerischen Projekten mit dem Geldverdienen zu beginnen. Ihre Antipoden
waren in der Regel ein paar Jahre jünger,
und da es in Richtung Weltverbesserung
neben den Hippies keinen Platz mehr gab,
hatten sie sich auf die Selbstverbesserung
konzentriert und als ‚young urban professionals‘ (Yuppies) ihre Outfits, Lifestyles
und Karrieren optimiert.
Beide Gruppen verschmolzen, als in die
amerikanischen Städte eine neue Welle
europäischen Lebensstils hineinschwappte,
italienische Esskultur. In den Pizzerien und
Straßencafés saßen sie nun friedlich an benachbarten Tischen: „It was now impossible
Soziologische Fragmente #1
to tell an espresso-sipping artist from a cappuccino-gulping banker. And this wasn’t just
a matter of fashion accessories. I found that
if you investigated people’s attitudes toward
sex, morality, leisure time, and work, it was
getting harder to separate the antiestablishment renegade from the pro-establishment
company man.“ (Brooks 2000: 10)
Hier, so Brooks, sei eine Unterscheidung an
ihr Ende gekommen, die seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts prägend war
– jene zwischen Bourgeoisie und Bohème:
„The bourgeoisie were the square, practical ones. They defended tradition and
middle-class morality. They worked
for corporation, lived in suburbs, and
went to church. Meanwhile, the bohemians were the free spirits who flouted
conventions. They were the artists and
the intellectuals – the hippies and the
Beats.“ (Brooks 2000: 10)
Als ökonomische Grundlage für diese
Verschmelzung zweier Sozialtypen identifizierte Brooks die unzähligen Jobs, die
im Umkreis der neuen Informationstechnologien Kreativität und Innovation mit
den Gewinnchancen serieller Produktion
verbanden: „The members of the new information age elite are bourgeois bohemians.
Or, to take the first two letters of each
word, they are Bobos.“ (Brooks 2000: 11)
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WIR BOBOS
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Der Bourgeois glaubte über alle Traditionen,
über hergebrachte Moral und Spießertum hinaus an den Fortschritt, während der Bohémien
über alle kultivierte Devianz hinaus auf Aufstieg und Anerkennung hoffte. So fanden Bourgeoisie und Bohème im Progressismus zueinander.
Damit war ein Begriff entstanden, dessen
soziologisches Erklärungspotential noch
wenig erschlossen ist. Wenn Ideen und
Kapital in immer schnelleren Innovationszyklen verschmelzen, können sie
sich auch nicht mehr in sozial distinkten
Schichten niederschlagen. Diese Trennung
übernimmt das Lebensalter, indem jugendkulturelle Devianzen beim Älterwerden
nicht abgelegt, sondern institutionalisiert
werden: Computerspiele und Social Media
als Geschäftsmodell. Oder, wenn erlaubt,
Marihuana-Plätzchen.
Damit beschleunigt und verregelmäßigt
sich ein Mechanismus, der auch schon im
19. Jahrhundert Bourgeoisie, Bohème und
Händler als Innovationstriade aneinandergebunden hatte. Der Bourgeois glaubte
über alle Traditionen, über hergebrachte
Moral und Spießertum hinaus an den
Fortschritt, während der Bohémien über
alle kultivierte Devianz hinaus auf Aufstieg und Anerkennung hoffte. So fanden
Bourgeoisie und Bohème im Progressismus
zueinander.
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Der prekäre, aber kreative Bohémien
erfindet einen Kunststil, wird von den
Galeristen als Mediatoren in der Triade
entdeckt und an die kunstliebende Bourgeoisie, an Sammler vermittelt, die ihr
Geld anlegen möchte, indem er sich einen
gewagten Akt (später: etwas Abstraktes,
noch später: Popartiges) als Distinktionsmittel gegenüber anderen Bourgeois an
die Wand hängt.
Umgekehrt aber bedeutete Bohémien zu
sein, einen risikobehafteten Weg zum
Erfolg einzuschlagen, sozusagen die
Eiger nordwand des sozialen Aufstiegs
zu erklimmen (vgl. Albrecht 2004). Viele
bleiben zurück – doch die Andy Warhols erreichen den Gipfel und setzen das
Fundament für die Seilbahnen, die wenig
später auch den kunsttouristischen Bourgeois heraufziehen. Die Gipfelstürmer
aber sitzen nun im Kassenhäuschen. In
jedem Bourgeois steckte schon immer
die Sehnsucht, ein klein wenig verwegen,
eben Bohème zu sein, in jedem Bohémien
die Hoffnung, das Leben doch etwas bequemer und angenehmer und vor allem
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Jugendkulturelle Devianzen übernehmen
lebensphasengebunden die Bohème-Funktion
und verspießern in wagniskapitalvermittelten
Institutionalisierungserfolgen.
anerkannter gestalten zu können. Das Bedürfnis, sich innerhalb der eigenen Gruppe
so profilieren zu können, dass man den
Prestigegewinn in einer gruppenfremden
Kapitalart akkumuliert – als Bourgois
in kulturellem, als Bohème in ökonomischem Kapital –, ist ein zuverlässiger Motor
sozialer Innovation in der Moderne.
Dieses, zuerst im Kunstsystem ausgebildete
Muster hat sich seit der digitalen Revolution auf den technologiegetriebenen
Kapitalismus übertragen. Jugendkulturelle
Devianzen übernehmen lebensphasengebunden die Bohème-Funktion und
verspießern in wagniskapitalvermittelten Institutionalisierungserfolgen. Von
der App zum Milliardär: Steve Jobs und
Marc Zuckerberg sind die Picassos und
Warhols des beginnenden Jahrtausends.
Ihre Fußtruppen und Nachahmer aber
sammeln sich in den Universitätsstädten
zu einem neuen Milieu: den Bobos. Jung,
gebildet, links, trendig, global und ökologisch arbeiten sie an Lebensformen, die
Kreativität und Karriere, Gesundheit und
Moral, Engagement und Freizeit verbinden.
Soziologische Fragmente #1
Autoethnographische
Operationalisierung
Wir gehören dazu! Auch wir sind Bobos. Da
wir aber in Bonn Soziologie studieren, wollen
wir verstehen, wer wir sind – und wer wir
nicht sind. Also haben wir ein Semester lang
in unserem eigenen Leben genauer hingeschaut, Feldforschung betrieben, Interviews
mit Unseresgleichen geführt. Sie zeichnen
das Porträt eines Milieus, das sich seit seiner
ersten Beschreibung durch Brooks noch einmal deutlich verändert hat und im Vergleich
zu den New Yorker Bobos lokalspezifische
Besonderheiten aufweist. Gleichwohl bleiben
wesentliche Grundzüge erhalten.
Wie aber stellt man als Vertreter*in eines
bestimmten Milieus, eines Sozialtyps, einer
Form der Lebensführung methodisch kontrolliert Reflexionen über sich selbst an?
Die autoethnographische Forschungsperspektive lieferte uns die nötigen Methoden,
erfuhr in unserer Interpretation jedoch
einige Abwandlungen, die im Folgenden
anhand einer Betrachtung der phänomenalen Dimensionen des lebensweltlich
‚Vertrauten‘ und ‚Fremden‘ und den damit verbundenen forschungspraktischen
Implikationen dargestellt werden:
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WIR BOBOS
‚Eigenes‘ und ‚Anderes‘, ‚Vertrautes‘ und
‚Fremdes‘, so lautet ein weitgehender
Konsens in der Forschungsliteratur, sind
Relationsbegriffe: Der Grad der erlebten
Fremdheit eines Gegenübers, ebenso wie
der Grad der erlebten Vertrautheit eines
Ortes, eines Nachbars, eines Rituals, ist
abhängig vom bezogenen und zugeschriebenen Standpunkt, von der Positionalität
des Erlebenden (vgl. Antweiler 2018) – und
dennoch: Es scheint gewisse sozialisierte
Trägheitsgewichte des Vertrauten und
des Fremden zu geben, die nicht nur den
Plausibilitätsgrund für die kompromisslose
Ontologisierung beider Dimensionen in
unterreflektierten Sozialtheorien liefern,
sondern auch unbestreitbar die Perspektive der Beobachtenden beeinflussen:
Das gewohnheitsmäßig Vertraute liegt
behaglich verborgen unter dem Schleier
der Selbstverständlichkeit, während das
beunruhigend-faszinierende Fremde das
intellektuelle Ordnungsbedürfnis herausfordert (vgl. Hahn 1997: 144ff.). Im
deutschen Kontext sehen wir das Resultat
dieser phänomenologischen Einordnung
am Ungleichgewicht der sozialwissenschaftlichen Publikationen, einerseits zu
der viel beforschten, schon fast mythologisierten „Neuen Rechten“, andererseits zum
Milieu der Sozialwissenschaftler selbst, d.h.
zu uns – zu uns wenig erforschten Bobos.
Wie begegnet man methodisch dem
Problem, dass durch die strukturelle Erkenntnisschwäche gegenüber dem Eigenen
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bezeichnet wird? Nach Georg Simmel
bezieht der Fremde als Sozialtypus eine privilegierte Reflexionsposition (vgl. Simmel
1983: 510). Arlie Russel Hochschild nutzt
diesen Effekt als Werkzeug für ihre ethnographische Forschung, als sie ihre „journey
into the heart oft the right“ (Hochschild
2016: 23) antritt, um die Anhänger der Tea
Party zu untersuchen. Hochschildt nennt
den zu diesem Zweck eingesetzten Kniff
„[a] Keyhole Issue“ (Hochschild 2016: 21)
und bezeichnet damit das aus der eigenen
Perspektive aufscheinende ‚Great Paradox‘
in der Perspektive und den Handlungen
der untersuchten Fremden. Hochschild
muss den Verfremdungseffekt nicht erst
herstellen, sondern nur kanalisieren, um
ihn dann gezielt aufzulösen zu können, und
visiert deshalb eine einzelne Paradoxie an:
Verstehen zu lernen, warum die Bewohner
des ländlichen Luisiana wie wenig andere
Populationen unter den verheerenden Folgen der Umweltverschmutzung durch die
petro-chemische Industrie leiden, gleichzeitig jedoch gegen staatliche Interventionen beim Umweltschutz stimmen.
Weil es uns als Bobos hingegen nicht möglich ist, bei der Untersuchung von Bobos
vorbehaltlos ‚in die Fremde‘ zu gehen,
weil der Wahlspruch ‚going native‘ uns als
Autoethnographen und -ethnographinnen
zunächst absurd und tautologisch vorkommen muss, haben wir uns entschieden, das Hochschildt‘sche Instrument der
‚Keyhole Issues‘ zu erweitern und auf uns
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Im Vertrauen auf die bedingte Relationalität
von Vertrautheit und Fremdheit und die
Exzentrizität unserer Positionen nahmen
wir durch die systematische und angeleitete
Beobachtung der eigenen ideologischen,
materiellen, sozialen und praktischen
Dispositionen und Paradoxien Distanz.
praxeologische Paradoxien: Widersprüche zwischen der ideellen Wertnahme und den praktischen Handlungsvollzügen;
ideologische Paradoxien: Widersprüche und Aporien innerhalb der
Bobo-Ideologie.
These zur vermuteten Paradoxie, einem
Kernbestand an allgemeinen Fragen und
einem Block von thesenspezifischen Fragen. Die jeweiligen Thesen entstanden aus
der Lektüre der vorliegenden Forschungsliteratur (vgl. etwa Eribon 2016; Guilluy
2019; Mason 2017; Krastev 2017a; Krastev
2017b; Merkel 2017; Reckwitz 2019) sowie eigenen Beobachtungen. Sie folgen in
ihrer Formulierung einem unorthodoxen
methodischen Imperativ: Formuliere die
Paradoxie so, dass die Betroffenen, d.h.
Du selbst, irritiert werden. Denn Irritation erzeugt Reflexion, Reflexion erfordert Distanznahme und Distanz bewirkt
den erzielten Verfremdungseffekt. Das
methodisch gewollte Othering unserer
Selbst, d.h. die iterrierte Entfremdung
des „I“ vom „me“ und damit zwangsläufig
die Transformation des bisherigen „self “
(vgl. Mead 1967: 182), macht ein reflexiv
verfügbares Verstehen des prä-reflexiven
Bobo-self erst möglich.
Alle diese Paradoxien sind nach folgender
Struktur formuliert: Sie bestehen aus einer
Die allgemeinen Fragen richten sich dabei
jeweils 1. auf den Wahrheitsgehalt der
selbst anzuwenden. Im Vertrauen auf die
bedingte Relationalität von Vertrautheit
und Fremdheit und die Exzentrizität unserer Positionen nahmen wir durch die
systematische und angeleitete Beobachtung
der eigenen ideologischen, materiellen,
sozialen und praktischen Dispositionen
und Paradoxien Distanz: zur eigenen
Person, zu unseren präferierten sozialen
Gruppen, zu unserem inkorporierten Milieu und Lebensraum.
Bei dieser Distanznahmen kristallisierten
sich zwei übergeordnete Typen von ‚Keyhole Issues‘ heraus:
1)
2)
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These, 2. auf die Erlebniswirklichkeit der
Paradoxie und 3. auf die Frage nach der
Auflösung der Paradoxie. In unseren empirischen Untersuchungen, den Interviews
und Feldprotokollen, besonders in der dominanten Dimension der Ideologie, wurden diese Paradoxien und die mit ihnen
verbunden Fragen forschungsleitend. Sie
sind in der Originalformulierung zur Verfremdung des Bobo-Blicks im Folgenden
wiedergegebenen:
1. Globalisierungsparadoxie
These: Bobos sind Profiteure der Globalisierung. Dennoch besteht eine Tendenz in
den von Bobos präferierten Ideologien zur
Ablehnung der wirtschaftlichen Globalisierung als Verantwortliche für Not und
Hunger im ‚globalen Süden‘.
Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Wie
kommt es, dass die ideologische Interessenlage, d.h. die Ablehnung der wirtschaftlichen Globalisierung, der materiellen Interessenlage als Profiteure dieser
Globalisierung entgegensteht? Wird die
Paradoxie als Widerspruch empfunden?
Wenn ja: wie wird er aufgelöst, ideell oder
praktisch?
2. Nachhaltigkeitsparadoxie
These: Bobos legen Wert auf nachhaltig angebaute und fair gehandelte Produkte und
versuchen, lokale Händler zu unterstützen.
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Gleichzeitig bestellen sie Ware bei Großkonzernen wie Zalando und Amazon,
essen Brötchen aus der Supermarktbacktheke und kaufen günstige Klamotten bei
Primark und H&M.
Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Handelt es sich mehr um eine Einstellung
bzw. Meinung oder äußert sich diese in
Aktivismus und Umsetzung im Alltag?
Wie kommt es, dass ein großer Bereich
der alltäglichen Handlungen den eigenen
ideologischen Überzeugungen zuwiderläuft? Wie kommt es, dass, entgegen dem
materiellen Interesse, bedenkenlos günstige Waren kaufen zu können, ein ideelles
Interesse an Nachhaltigkeit und Fairness
besteht? Wird die Paradoxie als Widerspruch empfunden? Wie wird mit dem
Widerspruch umgegangen? Wird er offen
zugegeben oder verschwiegen?
3. Segregationsparadoxie
These: Bobos wählen migrationsfreundliche Parteien, besuchen migrationsfreundliche Veranstaltungen, begrüßen Vielfalt
und bekleben Universitätstoilletten mit
‚refugees welcome‘-Stickern. Lebensweltlich bewegen sie sich allerdings in
einem bildungsintensiven, vornehmlich
deutschstämmigen, relativ homogenen
Milieu und tendieren spätestens nach
Familiengründung zur Segregation in
ökonomisch, kulturell und geographisch
begrenzte Stadtteile.
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Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Wenn
es nicht dem handlungsleitenden Interesse entspricht, ethnisch heterogene
Wohngegenden und Freundeskreise zu
etablieren, wie kommt es, dass die ideelle
Interessenlage genau diese Pluralisierung
fordert, dass die Migrationsfreundlichkeit
als Bestandteil der Bobo-Ideenwelt einen
zentralen Baustein des eigenen Identitätsbewusstseins bildet? Wird die Paradoxie
als Widerspruch empfunden? Wenn ja: wie
wird er aufgelöst, ideell oder praktisch?
Wie geht das Milieu mit der Pluarlität von
Einstellungen gegenüber Diversität um –
also mit denjenigen, die diesen Idealen
nicht entsprechen bzw. sich bewusst gegen
sie wenden?
4. Identitätsparadoxie
These: Die Bobo‘sche Selbstbeobachtung
proklamiert den Konstruktionscharakter
der eigenen, speziell der ‚nationalen‘ Identität und folgert daraus den ethischen
Imperativ zum sukzessiven Abbau durch
ständige Selbstreflexion und Öffnung
zur (ebenfalls konstruierten) Fremdheit.
Gleichzeitig gilt die kulturelle und religiöse
Identität einwandernder und/oder außerhalb Europas lebender Gruppen als schützenswertes Gut und plurale Bereicherung
mit dem Anspruch auf das institutionalisierte Recht zur freien Religionsausübung
und damit zur Produktion und Reproduktion der Identität als essentielle Differenz.
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Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Wie
kommt es, dass ‚Identität‘ in der Selbstbeobachtung als akzidentielle Konstruktion, in der Fremdbeobachtung jedoch als
substantielle Tatsache wahrgenommen
wird? Sozialpsychologisch formuliert:
Weshalb wird der Eigengruppe das Recht
auf Differenz abgesprochen, während
es Fremdgruppen zugebilligt wird? Wo
kommt diese Offenheit an ihre Grenzen
(Menschenrechte, Frauenbeschneidung)?
Was wird dann gegenüber demjenigen, der
‚die Grenzen der Toleranz überschreitet‘ als
Forderung erhoben? Wird die Paradoxie als
Widerspruch empfunden? Wenn ja: Wie
wird sie aufgelöst, ideell oder praktisch?
Mit diesen Leitfragen sind wir ins Feld
gegangen – das heißt, haben einfach so
weitergelebt wie bisher, aber reflexiver,
beobachtender, diejenigen befragend, mit
denen wir sonst zusammenleben. Wir
haben uns in der Analyse auf vier Felder
konzentriert, die in Arbeitsgruppen behandelt und erhoben wurden:
Erstens interessierte uns die materielle
Kultur der Bobos. Mit welchen Gegenständen statten sie ihre Behausungen aus, über
welche Dinge verfügen sie im Alltag? Nach
welchen Gesichtspunkten wählen sie diese
Dinge aus? Pflegen sie zu ihnen eine besondere, bedeutungsbeladene Perspektive
oder ein Ebay-Verhältnis: schnell gekauft,
schnell wieder verramscht?
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WIR BOBOS
Zweitens wollten wir die zentralen Sinnund Bedeutungsmuster der Bobos erheben,
distanzierend abgekürzt: ihre Ideologie.
Welchen Ideen und Werten folgen sie
in ihren Grundüberzeugungen und wie
versuchen sie, diese zu leben?
Drittens interessierten uns die sozialen
Praktiken: Alltagsorganisation, Ernährungs- und Bewegungsmuster.
Viertens schließlich wollten wir auch
einen Blick auf die soziale Organisation
(Beziehungsformen) der Bobos richten.
Mit wem leben sie zusammen? Wie sind
die Familienbeziehungen und in welchem
Verhältnis stehen sie zu den Freundschaftsbindungen? Oder leben sie die Unverbindlichkeit der punktuellen Bindungen an gemeinsame Interessen und Projektgruppen?
Die Ergebnisse der autoethnographischen
Beobachtungen und Interviews haben
sich im Laufe des Semesters in 25 Feldprotokollen, acht Interviews, bislang fünf
Seminararbeiten und einem autobiographischen Coming Out niedergeschlagen, in
dem ein Seminarteilnehmer gestand, aus
einem bildungsfernen Milieu zu stammen
und deshalb eine Distanz zur Bobo-Welt
bereits mitgebracht zu haben. Er bestand
auf Anonymität. Alles dies ist Grundlage
der folgenden Beschreibung, alle Zitate
stammen aus diesen Interview- und Feldprotokollen und sind nicht einzeln belegt.
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Materielle Kultur
Die materielle Ausstattung und das Kaufverhalten der Bobos sind einerseits stark von
den Idealen des Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutzes getragen, erfüllen andererseits aber auch eine Expressionsfunktion für
Individualität und Ästhetik. Dass sich Bobos
als Hybride aus kultureller Verwegenheit
und statusmäßiger Gemütlichkeit begreifen
lassen, wurde oben erläutert; nun zeigt
sich ein weiterer Grenzgang des sozialen
Mischwesens: Bobos sind Balancekünstler
zwischen altruistisch-idealistischer und
egozentriert-ästhetischer Lebensführung.
Jeder Schritt, jedes gekaufte oder sonst
wie erwirtschaftete Gut wird einer doppelten Wertprüfung unterzogen: Nach dem
Maßstab des universal gefassten Utilitarismus und dem der ästhetischen Selbstverwirklichung. Bobos versuchen nicht
nur eine Synthese aus Konsequenzialismus
und Deontologie, sie versuchen auch eine
möglichst ‚gute‘, d.h. möglichst einzigartige,
verwegene, aber dennoch den Maßstäben
des Herkunfts- und des Zielmilieus gerechte
Figur zu machen. Dass die einzelnen Akteure angesichts dieses Seiltanzes jeweils
unterschiedliche Balancetechniken wählen
und mal stärker zur einen oder zur anderen
Seite neigen, erklärt sich von selbst.
Mit Blick auf die tatsächliche Performanz
und die zugehörigen inneren Konflikte
mit den eigenen Idealen lassen sich zwei
distinkte Idealtypen konstruieren, die
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Pragmatische Sparfüchse vermeiden
Neukäufe und nutzen alle Möglichkeiten des
Gebrauchterwerbs, des ‚Upcyclings‘ und des
Selbstherstellens, sowohl um Ressourcen zu
schonen als auch um Geld zu sparen.
verschiedene Stile des Umgangs mit materiellen Gütern beschreiben. Neben den
Selbstauskünften durch die Befragten stützt
sich die Analyse insbesondere auf Beobachtungen, die die Interviewer*innen in den
Wohnungen der Befragten gemacht haben.
Die beiden Idealtypen unterscheiden sich
vor allem durch die Höhe des finanziellen
Aufwandes bei der Anschaffung ihrer Güter, ob aus Not oder Tugend geboren, muss
hier offenbleiben, da keine entsprechenden
Daten erhoben wurden.
Pragmatische Sparfüchse vermeiden
Neukäufe und nutzen alle Möglichkeiten
des Gebrauchterwerbs, des ‚Upcyclings‘
und des Selbstherstellens, sowohl um
Ressourcen zu schonen als auch um Geld
zu sparen. Ästhetische Performer dagegen bestellen sich auch ein brandneues
Möbelstück, das vom anderen Ende der
Welt eingeschifft wird – aber natürlich nur,
wenn es in bester Fairtrade-Manier und aus
nachhaltig angebauten Rohstoffen hergestellt wurde. Die neuen Küchenmöbel eines
der Autoren dieses Artikels stammen aus
Indonesien und sind aus echtem Teakholz
geschreinert – eine wahre Augenweide.
Soziologische Fragmente #1
Wie bei jedem anderen Bobo folgt jedoch
auch seine Ästhetik einer ideologischen Weichenstellung: Die Möbel kommen nicht vom
Discounter oder aus einem der vielen kleinen
exquisiten Designläden, sondern werden von
einem Althippie vertrieben, dessen indonesisches Entwicklungsprojekt abgebrochene
Holzhäuser aus Teakholz recycelt.
Pragmatische Sparfüchse sind in SecondHand- und Trödelgeschäften, auf Flohmärkten und digital bei ‚Ebay-Kleinanzeigen‘ oder ‚Kleiderkreisel‘ anzutreffen,
wo sie sich auf die teilweise mühsame Suche nach brauchbarer Ausstattung begeben
und den höheren zeitlichen Aufwand auch
dann hinnehmen, wenn sie im Vergleich
zu billiger Neuware keine Ersparnis haben.
Passend dazu ist die Wohnungseinrichtung
der Pragmatiker brauchbar und etwas
ausgefallen und wirkt mehr nach Wunderkammer als nach Gesamtkunstwerk. So
findet man bei ihnen beispielsweise ein
„selbstgebautes Sofa, welches aus Spanplatten und alten Paletten besteht“, neben
einzeln gekaufter Second-Hand-Ware, wie
einem Tisch und Stühlen aus Bast oder
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WIR BOBOS
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Ästhetische Performer dagegen bestellen sich
auch ein brandneues Möbelstück, das vom
anderen Ende der Welt eingeschifft wird – aber
natürlich nur, wenn es in bester FairtradeManier und aus nachhaltig angebauten
Rohstoffen hergestellt wurde.
einem antik wirkenden Schrank. Ihre Garderobe wird von einer Befragten beschrieben als eine Mischung aus Second-Hand,
hochwertigen Marken, HandmadeKleidung sowie H&M- Produkten, die
noch aus ihrer Vor-Bobo-Zeit stammen.
Durch stilvolle Anordnung und gezielte
Einzelstückwahl können die Sparfüchse
allerdings dem bloßen ‚Geschmack der
Notwendigkeit‘ entgehen: So finden sich
in einer Bobo-Wohnung „alte Kinosessel,
eine große Ledercouch und Gegenstände
wie eine alte Holzleiter wieder, auf der
Blumenkästen und Bücher dekorativ platziert werden können“.
Werden Sparfüchse anders nicht fündig,
verschlägt es sie auch einmal in konventionelle Geschäfte, in denen sie nach günstiger
Neuware Ausschau halten. Hier stellt sich
ein Konflikt mit der Idee der Nachhaltigkeit
ein, derzufolge Neukäufe grundsätzlich
negativ zu bewerten sind und einen Rechtfertigungsdruck mit sich bringen. Kritische
Situationen dieser Art bringen Sparfüchse
dazu, an anderer Stelle Verzicht zu üben,
beispielsweise beim Fleischkonsum oder der
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Anzahl der Elektrogeräte, oder bei anderen,
meist kleineren Käufen auf Kriterien der
Nachhaltigkeit zu achten, um dem eigenen
schlechten Gewissen sowie der sozialen
Sanktion durch andere Bobos vorzubeugen. So versteckt ein Bobo gerne mal das
brandneue Samsung Smartphone hinter
einer schmucken Fair-Trade Hülle aus Kork.
Insgesamt sehen sich pragmatische Sparfüchse aber in der angenehmen Situation,
dass ihr egoistisches Motiv des Geldsparens
gut mit altruistischen Motiven harmoniert
und beides in der Nutzung alternativer
Erwerbs- und Anschaffungsmöglichkeiten
mündet. Pragmatische Sparfüchse zeichnen sich deshalb durch überraschend
wenige Selbstvorwürfe und Rechtfertigungsgebärden aus.
Für die ästhetischen Performer hingegen
stellen begrenzte finanzielle Mittel keine
oder eine zu vernachlässigende Einschränkung dar, und diese Freiheit nutzen sie
auch für ihr Konsumverhalten, das von
dem der Sparfüchse abweicht. Zwar findet
sich auch bei den Performern punktuell
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WIR BOBOS
Gebrauchtware, diese stammt aber eher
aus Geerbtem oder Antikwarenläden als
vom Trödelmarkt und besitzt durch ihren
Retrocharme einen ästhetischen Eigenwert,
der dem Primat der Zweckmäßigkeit im
Zimmer des Sparfuchses entgegensteht.
Überhaupt legen die Performer deutlich
mehr Wert auf eine innenarchitektonische
Gesamtharmonie und ordnen tendenziell altruistische Motive den eigenen,
auf Schönheit und hohe Funktionalität
ausgerichteten egoistischen Motiven unter.
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Ein Großteil der Einrichtung und Ausstattung der Performer ist daher neu und
modern und zeugt nicht unbedingt von
Verzicht oder persönlicher Einschränkung.
Dies manifestiert sich beispielsweise in
einer Küche mit „Softclose-Automatik“
und elektronischer Vollausstattung, die
bestens auf die Zubereitung des gerade
aktuellen „neue[n] Lieblingsgericht[s]“
hin ausgerichtet ist, in einem Fall etwa
„ein Salat aus Kichererbsen, angebratenem Brokkoli, Blattsalaten, Avocado und
Granatapfelkernen“. Neben der modernen
Küche finden sich im empirischen Beispiel
sowohl ein abgebeizter Kleiderschrank aus
dem ehemaligen Kinderzimmer als auch ein
antikes Tischchen vom Flohmarkt sowie ein
geerbter goldgerahmter Spiegel. Zur kreativen Auflockerung bringen die Performer
vereinzelt kunstvolle Gegenstände ein, wie
„Teller und Schüsseln, die alle handgemacht
und -bemalt sind mit weiß-blauen und auch
bunten Ornamenten und ins Auge fallen“.
Soziologische Fragmente #1
Insgesamt passen alle Teile trotz unterschiedlicher Herkunft irgendwie zusammen und verwirklichen die boboeske
Ästhetik durch ein aufwendiges und
individuelles Zusammensuchen der unterschiedlichen Einrichtungs- wie auch
Bekleidungsgegenstände. Dabei vermischt
sich der moderne Trend zur Schlichtheit mit Einzelstücken aus einer kunstvoll-verspielten vergangenen Zeit und den
unterschiedlichsten Einflüssen anderer
Kulturen: „Die Bobos mögen toskanisch
geflieste Küchen, besitzen Antiquitäten
aus der sogenannten Dritten Welt und
kaufen High-Tech-Titan-Sportartikel“
außerdem favorisieren sie „aufwändig
ausgearbeitete Eichendielenböden und
Duschkabinen mit Schieferwänden“. Interessant ist bei den Performern ebenso
wie bei den Sparfüchsen eine gewisse
Abkehr von reiner Dekoration, die bis
auf Bilder und Pflanzen kaum vorhanden
ist. Stattdessen legt man Wert darauf, dass
alltägliche Gebrauchsgegenstände passend
zu ihrem – aus Bobo-Sicht hohen, wenn
auch nicht monetär widergespiegelten –
materiellen Wert ästhetisch und emotional
aufgewertet werden.
Die Performer fühlen sich durch die geringere Übereinstimmung mit dem asketischen Ideal des Bobos unter einem deutlich
stärkeren Rechtfertigungszwang als die
Sparfüchse. Als Bewältigungsstrategie können sie entweder die ideologiekonformen
Einstellungen und die Selbstanklage in
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
materialisierter Form kommunizieren,
etwa durch Sticker oder Postkarten an
Haus- oder Kühlschranktür, oder aber sie
betonen die Nachhaltigkeit und die hohe
Qualität ihres Mobiliars, ihrer Kleidung,
ihrer Kosmetik und ihrer Lebensmittel –
eine Form monetärer Kompensation, die
als unrechtmäßiges Privileg ausreichend
Material für die boboeske Selbstgeißelung
liefert.
Ob sich Bobos als pragmatische Sparfüchse
oder ästhetische Performer profilieren,
hängt in unseren empirischen Beispielen
stark mit den Einkommen der Personen zusammen, das überhaupt erst die
Möglichkeit eröffnet, Performer zu sein.
Weitere Effekte können für die Variablen
Alter, Bildungsgrad sowie sozialer Status
angenommen werden, mit denen die individuellen und sozialen Erwartungen an
eine hochwertige und gefällige materielle
Ausstattung steigen. Zwar mag es durchaus
einige Bobos geben, die auch dann noch
die Askese zelebrieren, doch ihre Zahl
dürfte umgekehrt proportional zu diesen
Variablen sinken.
Ideologie
Der Bourgeois-Bohémien ist ein Hybrid
aus sehr unterschiedlichen Sozialpositionen, Überzeugungen und Lebensstilen.
Sind Bobos einerseits politisch klar links
eingestellt und lehnen entfremdende
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Arbeit, ungerechte gesellschaftliche
Verhältnisse und andere Probleme der
‚kapitalistischen‘ Produktionsweise ab,
so haben sie gleichzeitig zentrale Normen der ‚kapitalistischen‘ Lebensweise
verinnerlicht: Lohnarbeit ist schon okay,
muss eben nur partizipativ sein und auf
flachen Hierarchien beruhen. Konsum
ist auch nicht prinzipiell schlecht, sollte
aber ‚bewusst‘ und ‚nachhaltig‘ ausgeübt
werden. Weiß man, woher die Lebensmittel kommen oder geht man davon aus,
dass die Übernachtungs- oder Mitfahrgelegenheiten von einfachen Privatleuten
angeboten werden, dann kann Konsum
sogar helfen, den Unterprivilegierten ihr
Recht und gleichzeitig der eigenen Identität einen passgenauen Ausdruck zu verschaffen! Statt der Revolutionierung der
Produktionsverhältnisse oder zumindest
der Reform von Arbeitsbedingungen hat
man sich vor allem der Optimierung seiner selbst verschrieben. Bobos sind nicht
nur sportlich und achten auf körperliche
Gesundheit, auch geistig sind sie hoch
organisiert und pflegen eine möglichst
effiziente Lebens- und Arbeitsweise.
Inhaltlich lässt sich die Bobo-Ideologie
auf zwei Dimensionen abbilden: Ökologie einerseits, Diversität andererseits.
Die Ökologie-Ideologeme der Bobos
variieren zwischen konsumkritischem
Konsum von bestimmten Bio-/Regio-/Fairtrade-/„Ich-kenne-den-Schlachter-persönlich“-Produkten über den romantischen
Soziologische Fragmente #1
15
WIR BOBOS
16
Traum des Selbstversorgertums, der sich
weniger in den Entbehrungen einer autonomen Landkommune als in der Schrebergartenidylle mit Gemüse- und Kräuterbeet
verwirklicht, bis hin zu einem subjektiven
Gesundheits- und Wohlbefindensstreben,
durch welches der eigene Vegetarismus
oder Veganismus wahlweise begründet
oder aufgegeben werden kann. Das Verhältnis der Bobos zur Natur ist durch
romantisierende Vorstellungen geprägt,
welche sich entsprechend der weit fortgeschrittenen Selbstdomestikation mehr in
Balkonbepflanzung und modischer Haustierhaltung, denn in Trommel-, Bier- und
Lagerfeuerabenden realisieren.
Die ökologische Norm, die sich Bobos
auferlegen, ist nur durch breites Wissen
im eigenen Leben umsetzbar. Insofern
beschäftigen sie sich viel mit ökologischen
Themen, etwa welches Gemüse in der
Region Saison hat und was hinter den
verschiedenen Siegeln der Nutztierhaltung
steckt, oder mit praktischen Techniken
zur umweltbewussten Lebensgestaltung
(Nähen, Containern, …). Im Sinne der
Aufklärung, in deren Tradition man sich
gerne selbst verortet, soll dieses Wissen
auch an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen vermittelt werden. Denn
von Kindesbeinen an sollte jedem bewusst
sein: „Es gibt keine Alternative zu klimafreundlichem Verhalten“. Letzte Begründungsinstanz ist das durch Wissenschaft
legitimierte Wissen der Klimaforschung:
Soziologische Fragmente #1
So sei es „ein wissenschaftlich erwiesener
Fakt, dass es sich beim Klimawandel um
das ‚fundamentalste Problem‘ handle, das
zudem höchste Dringlichkeit“ habe und
dementsprechend sei es „Aufgabe der Wissenschaft, die Klimaaktivisten mit sachlicher Information, Forschungsergebnissen,
Einschätzungen usw. in Hinsicht z.B. auf
politische Forderungen zu unterstützen“.
Vielleicht aufgrund der unterstellten Universalität wissenschaftlicher Erkenntnisse
zeigt sich bei Themen wie Klimawandel
und Nachhaltigkeit auch der größte Missionierungseifer der Bobos: Andere müssen von
der Dringlichkeit eines veränderten Bewusstseins in diesen Dingen überzeugt werden.
Die charakteristischen Spannungen der Ökologie-Ideologie zeigen sich als praxiologische
Paradoxie insbesondere im Reiseverhalten.
Da die Bobos tendenziell Kosmopoliten sind
(beispielsweise eher „Europäerinnen“ als
„Deutsche“, aber noch lieber „Globarier“),
gehört das Reisen, auch in ferne Länder, zum
integralen Bestandteil ihres Selbstbildes.
Die (vermeintliche) Notwendigkeit, dafür
ein so umweltschädliches Transportmittel
wie das Flugzeug zu nehmen, führt zur typischen Paradoxie zwischen ideologischer
und praxeologischer Ebene.
Die Diversitäts-Dimension ist scheinbar
weniger kultiviert oder wenigstens weniger
ostentativ, dabei aber umso paradoxer in
ihrer Grundstruktur. Sie entfaltet sich in
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
den protokollierten Gesprächen und Interviews insbesondere bei der Betrachtung
von Religion und religiösen Gemeinden.
Auch wenn der (meist christlich getaufte)
Bobo, insoweit er mit dem Sozialökologischen Sinus-Milieu vergleichbar ist, eine
„Passagenreligiosität“ pflegt, im Zuge derer, trotz aller Ferne zur Kirche im Alltag,
bei individuellen Passageritualen (Taufe,
Firmung/Konfirmation, Heirat etc.) und
bei großen annualen Festen (Heiligabend,
Ostern) doch die Kirche aufsucht (vgl.
Ebertz 2013: 43f.), ist sein Weltbild in
hohem Maße ‚entzaubert‘. Religiosität
wird demgegenüber als unwissenschaftlich
angesehen: Man ist „vernunftorientiert und
der Glaube widerspricht der menschlichen
Ratio“. Deshalb stehen Bobos auch religiös
begründeten Normen der Kirche, etwa
in Bezug auf gleichgeschlechtliche Ehe,
Zölibat oder den Umgang mit bestimmten
Berufen oder anderen Religionen, sehr
kritisch gegenüber. Auch wenn „ja jeder glauben [kann] was er will“, werden
religiöse Menschen zumindest im engeren
Umfeld beargwöhnt. Als alternative Orientierungshilfen in der praktischen Lebensführung gelten den Bobos vor allem weltlich begründete Werte. Diese vertreten sie
aber mit einem ähnlichen Universalitätsanspruch, wie ihn die christliche Kirche
für ihre religiösen Werte erhebt: „Wir wünschen uns die größtmögliche Freiheit, uns
zu entfalten: Sexismus, Rassismus und
andere Formen der Diskriminierung haben
bei uns nichts zu suchen“.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Die andere Seite des „anything goes“ jedes
Diversitäts-Weltbildes ist ein ausgeprägter
Individualismus der Anhänger. Bobos
bilden hier keine Ausnahme. Ihr ‚Individualismus‘ ist dabei nicht gleichbedeutend
mit ideologischer, religiöser oder anderer
Heterogenität. Vielmehr scheint das Umfeld der Bobos überwiegend aus Gleichgesinnten zu bestehen: Zur ebenfalls jungen
Szene der Auto-Tuner am Nürburgring
zeigten sich jedenfalls keine Verbindungen.
Der gemeinte ‚Individualismus‘ äußert sich
vor allem in einem „unternehmerischen
Selbst“ (vgl. Bröckling 2007), also einer
konkurrenzgetriebenen Diversitätsanforderung der Homogenen.
Diese ideologische Paradoxie erzeugt eine
typischen Bobo-Pathologie: Den ständig
selbstreflexiven Bobos bleibt die Einsicht
in die eigene Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit („Ich bin ein Öko-Schwein“)
nicht verwehrt, woraus folgerichtig ein
Drang zur Rechtfertigung entsteht, der
beim Misslingen der Selbstoptimierung
wächst. Zudem sehen sich Bobos häufig
eingebettet in einer typischen Bobo-Wirtschaftsform: dem nachhaltigen Startup
(gerne auch symbolisches Kapital akkumulierend als NGO) mit spezifischen Forderungen an die Leistung, die Verfügbarkeit
und die Lebenszeit der Mitarbeiter – die
kapitalistische Unterform der praxeologischen Paradoxie. Diese Mischung aus
intrinsischen und extrinsischen Leistungsansprüchen trifft im Seeleninnenraum der
Soziologische Fragmente #1
17
WIR BOBOS
18
hochbeanspruchten unternehmerischen
Bobos auf eine überdurchschnittliche
Kenntnis all jener Krankheiten, Neurosen
und sonstiger Gesundheitsrisiken, die
nach einer ‚Work-Life-Balance‘ rufen –
ein weiterer Grund zur Selbstgeißelung
und gleichzeitig Anlass für alle möglichen
Kompensationsstrategien, von Yoga und
Kombucha bis zu Partydemo und Festival.
„Sozialökologische haben einen vergleichsweise hohen Anspruch an den
eigenen Freundeskreis. Mit Jugendlichen, ‚die völlig anders drauf sind‘
als sie selbst, d.h. kein Interesse oder
Verständnis für sozialökologische und
kulturelle Themen mitbringen, hat man
kaum etwas zu tun.“ (Calmbach et al.
2016: 148)
Wichtig ist, dass all diese Faktoren nicht
als ‚herrschende Verhältnisse‘ interpretiert
werden, die das eigene Leben in einem
inakzeptablen Maße bestimmen – sie erfahren im Gegenteil ihre Deutung im Sinnhorizont des Individualismus: „Ernährung,
meinen Lebensstil etc. habe ich nicht für
die anderen, sondern für mich. Ich fühle
mich besser und kann deswegen besser
denken.“ Diese Art von Identitätsperformanz äußert sich teilweise auch in einem
starken Asketismus, dessen verbreitetste
Formen wohl Vegetarismus und Veganismus sind – stellenweise mit großzügiger
Auslegung und dennoch kontrolliert durch
die innere Askese, die jeden unzulässigen
Verstoß mit Schamgefühlen straft.
Diese identitätsstiftende Bedeutung
der Ideologie hat sich auch in unserer
Forschung gezeigt. So hält ein Bobo die
Frage, ob er Freunde in studentischen
Verbindungen habe, für einen Scherz und
sagt, „dass diese dann nicht seine Freunde
sein könnten“. Für eine Interviewte ist
die Feststellung, dass „vor allem Rechte“
behaupten würden, dass sie Deutschland
„lieben“, ein valides Argument, es selbst
nicht zu tun. Eine andere Bobo reflektiert
sehr bewusst über die soziostrukturelle und
ideologische Homogenität ihres Milieus
und spricht sogar von einer paradoxen
Selbstsegregation, die im Gegensatz zur
Diversitätsdimension zu stehen scheint.
Auffällig an der Bobo-Ideologie ist neben
diesen inhaltlichen Aspekten vor allem
ihre identitätsstützende Funktion. Diese zeigt sich bereits bei Jugendlichen als
Konstituens von Vergemeinschaftungen,
wie sich, wieder mit Hilfe des sozialökologischen Sinus-Milieus, beschreiben lässt:
Soziologische Fragmente #1
Wie jede politische Ideologie weist auch
die der Bobos einige Spannungen auf.
Die soziale Welt ist eben nicht so eindeutig, wie es in den politischen Arenen
oft scheinen mag. Wenn sich die Bobos
als „links“ bezeichnen, bezieht sich das
insofern eher auf einen modernen, selbstgebastelten Linksliberalismus mit stark
ökologischem Einschlag und nicht so
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
sehr auf einen marxistisch inspirierten
Sozialismus, wie er bei der „klassischen”
Linken oft zu finden ist. Bei fast allen
politischen und überhaupt normativen
Stellungnahmen geht es den befragten Bobos in erster Linie um Ökologie, in zweiter
Linie um Diversität – jedoch wird dabei
nie die Systemfrage aufgeworfen: Wenn es
parteipolitisches Engagement gibt, findet
es sich bei den Grünen. Abgelehnt wird
jede als diversitätsfeindlich eingestufte
Ideologie. Verfochten werden hingegen
Ansätze wie Feminismus oder Geflüchtetenaufnahme. Auch der „interreligiöse
Dialog“ wird, all seinen theologischen und
transzendent-religiösen Implikationen
zum Trotz, positiv bewertet.
Marxistische Ansätze sind sympathisch,
ohne dass man sie sich zu eigen macht.
Kapitalismuskritik wird eher positiv gesehen, manch einer hat sogar das „Kapital“
im Regal stehen. Man versucht auf individueller Ebene eine „Ausbeutung“ des
globalen Südens zu umgehen. Verpönt
ist, Produkte von „Müller, Mövenpick und
Nestlé zu kaufen“, im Gegensatz zu den
ökologischen Idealen wird dies jedoch nur
selten in einen politischen Kontext gerückt.
Kapitalismuskritik wird vor allem auf globaler Ebene geübt. Sie ist stets verknüpft
mit einem Kosmopolitismus. Die „krassen
Verlierer“ sind nicht in Deutschland, „sondern v.a. in Asien zu suchen“. Das macht
natürlich revolutionäres Engagement
SOZIOLOGIEMAGAZIN
deutlich schwerer, als wenn die Probleme
des Kapitalismus vor der eigenen Haustür betrachtet würden, erleichtert aber
die Segregation von Berufsschülern oder
Landjugend.
Bobos profitieren von dem Status-Quo des
Systems. Als Gruppe mit hohem kulturellen
und – mindestens perspektivisch – mittlerem
bis hohem ökonomischen Kapital, werden
vor allem diversitäre und ökologische Ideale
propagiert – jedoch nur selten ökonomische,
die den Altruismus der eigenen Position
in Frage stellen und die Ideale so delegitimieren könnten. Meritokratische Ideale
werden zwar als Chancenbringer für alle
Mitglieder der Gesellschaft befürwortet, bei
der Begründung des eigenen Erfolges sind
diese Ideale aber nicht ausschlaggebend,
da sich Bobos häufig ihrer Privilegien
bewusst sind. Aufgrund dieser Dissonanz
zwischen eigener Lebenswirklichkeit und
Idealbild sind manche Privilegien (nicht:
fehlende Studiengebühren) mit Scham
und Schuldgefühlen besetzt. Man ist „stark
privilegiert“ und „nutzt dies“, aber immerhin
ist man sich dessen „bewusst“ und „fühlt
sich deswegen auch ab und zu schuldig“.
Soziale Praktiken
Wenn der ideologische Überbau das ist,
wodurch sich junge Menschen gegenseitig
als Bobos erkennen, dann ist die soziale
Praxis die Dimension, innerhalb derer sich
Soziologische Fragmente #1
19
WIR BOBOS
"
20
Während die Hippies des vergangenen
Jahrhunderts die dominierende Wirtschaftsund Arbeitsweise ablehnten, [...] haben die
Bobos den Arbeitsrythmus der kapitalistischen
Umwelt übernommen und genießen ihren
wohlverdienten Feierabend vom
Selbst- und Weltverbessern.
die Ideologie-Praxis-Kohärenz des Bobos
ablesen lässt. In unserer Untersuchung
haben wir die sozialen Praktiken in vier
Dimensionen unterteilt, anhand derer
Interviews und Beobachtungsprotokolle
strukturiert wurden. Dabei handelt es sich
um den typischen Alltag der Person, ihre
Freizeitbeschäftigungen, ihren Konsum
sowie ihre Ernährungsgewohnheiten.
Unabhängig von dem Grad der praktischen
Umsetzung ideologischer Ansprüche fällt
zunächst eines auf: Bobos trennen scharf
zwischen Arbeits- und Freizeit. Nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub
gelten teilweise ganz andere Regeln und Vorsätze als während der Arbeitszeit. Man gönnt
sich dann grundsätzlich mehr, und selbst auferlegte Restriktionen werden weniger streng
umgesetzt. Zwar nutzen Bobos häufig Bullet
Journals und Organizer, unterwerfen sich
einem Regime der Nahrungsmittelkontrolle,
treiben regelmäßig Sport und informieren
sich über das Tagesgeschehen – wenn jedoch
das Wochenende, der späte Abend oder der
Urlaub naht, dann werden die Habit Tracker
Soziologische Fragmente #1
deaktiviert, die Speisevorschriften verlieren
an Schärfe und die Tagesschau wird durch
Netflix ersetzt.
Diese Trennung zwischen Arbeit und
Freizeit stellt einen großen Bruch mit
den alternativen Vorgängern dar und
charakterisiert die Bobos daher in besonderem Maße. Während die Hippies
des vergangenen Jahrhunderts die dominierende Wirtschafts- und Arbeitsweise
ablehnten und rund um die Uhr nach
ihren eigenen Regeln und Idealen lebten,
haben die Bobos den Arbeitsrythmus der
kapitalistischen Umwelt übernommen und
genießen ihren wohlverdienten Feierabend
vom Selbst- und Weltverbessern.
Hier lassen sich wiederum zwei Idealtypen
beobachten, die sich nach der Priorisierung
entweder der Arbeitspraktiken und Regeln
oder der Freizeitgestaltung unterscheiden.
Die einen strukturieren tendenziell auch
ihre Freizeit nach Produktivitätskriterien,
während andere ihren Arbeitstag mit Blick
auf die ersehnte Freizeit bewältigen.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
Die ehrgeizigen Selbstoptimierer, die ihrem
Studium und/oder Beruf das Primat vor
der davon unterschiedenen Freizeit einräumen, bilden den Grenzfall des einen
Typus. Sie weisen ein hohes Maß an Strukturiertheit und Zeitmanagement auf und
vermeiden ein bloßes „in-den-Tag-hineinLeben“. Teilweise ist die gesamte Woche,
mindestens der Folgetag im Voraus geplant.
So wird beispielsweise „das Frühstück […]
am Vorabend vorbereitet, […], damit es
über Nacht ziehen kann“ oder die Kleidung
schon für den nächsten Tag bereitgelegt.
Typisch ist zudem die Verwendung von
Kalendern, Selbstoptimierungs-Apps und
Organizern. Bullet-Journals scheinen hier
besonders im Trend zu liegen. Sie liefern
ein Toolset zur möglichst effektiven Arbeits- und Freizeitgestaltung, während
sie ästhetisch als Ort kunstvoller Gestaltungmöglichkeiten und Kreativität dem
individuellen Identitätsausdruck dienen.
Sie sind Arbeitshilfe und Hobby zugleich –
oder scharf formuliert: Bei den ehrgeizigen
Selbstoptimierern gerät die bataillische
‚dépense improductive‘ unter ein prometheisches Alltagsregime.
Dazu passt, dass Bobos dieses Typus „eigentlich gar nicht mehr“ exzessiv feiern
gehen, jedenfalls wird auf „härteren Alkohol […] meistens verzichtet“ und „auch
andere Drogen werden nicht konsumiert“.
Stattdessen überwiegen durchweg ruhigere
Freizeitbeschäftigungen wie Treffen in
Cafés, Kinobesuche und Spieleabende.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Ein ruhiger Kneipenabend mit gemeinsamem Bier ist unter den Selbstoptimierern
schon eher die Ausnahme. Zu beobachten ist regelmäßiges Sporttreiben, entweder einzeln oder in Yoga-, Fitness- oder
Schwimmgruppen. Dabei ist die sportliche
Betätigung vorrangig auf Gesundheit und
Fitness ausgerichtet. Wettkampfsportarten
beziehungsweise eine wettkampfmäßige
Orientierung haben wir nicht beobachtet.
Die Selbstoptimierer können Sport allerdings auch ohne Wettkampf mit hohem
Aufwand betreiben: „Es ist ihm wichtig,
dass er 5-6 Mal die Woche Sport macht.“
Ein wichtiger Markstein der Freizeitgestaltung sind Urlaubsreisen, gerne auch
in exotische Gebiete. Allerdings wird nach
eigenem Bekunden darauf geachtet, eher
kurze Strecken auszuwählen, vermehrt den
Zug statt das Flugzeug zu nehmen oder
die Flüge über entsprechende Plattformen
finanziell zu kompensieren. Darin lassen
sich unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien erkennen, die die Flugscham der
auch in ökologischer Hinsicht anspruchsvollen Selbstoptimierer auf ein erträgliches
Maß senken sollen. Nur eine der Interviewten verzichtet ganz auf regelmäßige
Flugreisen und die davon versprochene
Horizonterweiterung. Dennoch ist auffällig, dass die Selbstoptimierer die Ideologie
der ökologischen Nachhaltigkeit besonders
häufig und konsequent dort in die Praxis
umsetzen, wo dies mit ökonomischen
Vorteilen einhergeht – bei Kleidung und
Soziologische Fragmente #1
21
WIR BOBOS
Büchern (momox), oder bei der Wahl der
Fortbewegungsmittel (car sharing).
22
Auch insgesamt entsteht der Eindruck, dass
ökonomische Aspekte eine wesentliche
Rolle bei der Erklärung von Differenzen
zwischen ideologischem Anspruch und
praktischer Umsetzung spielen. Beim
Thema Essen wird öfter entschuldigend
auf beschränkte finanzielle Mittel hingewiesen. Die Bio-Margarine für drei Euro
pro 500 Gramm, die verpackungsfreien
Nudeln für fünf Euro pro 500 Gramm,
die Fairtrade-Jeans für 100 Euro und dann
auch noch die Zugfahrt nach Portugal für
mehrere hundert Euro statt des Billigflugs
für 19,99 Euro – die lebensstilerzeugte
Bobo-Inflation ist höher als das studentische Einkommen. Wie praktisch, dass der
Vorzeige-Bobo geradezu unendlich viele
Konsumkriterien kennt, von denen er immer eines auswählen kann, um anderweitige Versäumnisse auszugleichen. So lässt
sich etwa ein Einkauf im Discounter durch
eine Reduktion des Verpackungsmülls
substituieren, die Produktion von Verpackungsmüll durch eine Einschränkung
des Fleischkonsums, Fleischkonsum durch
Bevorzugung regionaler Lebensmittel. Die
Liste ließe sich beliebig erweitern. Gemein
ist all diesen Strategien, dass sie geeignet
sind, den Hiatus zwischen Ideologie und
sozialer Praxis kasuistisch zu überbrücken.
Die kontrollierten Hedonisten bilden den
Gegentypus zum Selbstoptimierer. Sie
Soziologische Fragmente #1
räumen der Freizeit ein Primat vor der
Arbeit oder dem Studium ein, sodass
eher Freizeitpraktiken in die Arbeitswelt
migrieren, als dass Optimierungsinstrumente die Freizeit kolonialisieren.
Der Tagesablauf der kontrollierten Hedonisten ist auch zu Arbeitszeiten eher gering
strukturiert. Statt gewissenhaft geführter
Bullet-Journals finden sich hier eher unordentliche ToDo-Listen mit Aufgaben,
„die er schon einmal oder auch häufiger vergessen hat und die jetzt wirklich
dringend sind“. Dieses geringere Maß
an Planung dient als gefühlter Freiheitsgewinn. Das heißt aber keineswegs, dass
Hedonisten weniger Zeit oder Ressourcen
in Arbeit investieren. So stehen die Befragten beispielsweise in Vollzeit für ihre
Masterarbeit im Labor oder besetzen neben ihrem Studium ein hochschulpolitisches Amt. Der große Unterschied zu den
Selbstoptimierern ist nicht die zeitliche
Priorisierung, sondern die gedankliche.
Für einen der Hedonisten besteht beispielsweise „kein Interesse an einem Job,
für den er sich aufopfern muss“. Während Selbstoptimierer sich noch in ihrer
Freizeit den Kopf über Arbeitsprobleme
zerbrechen, malen sich Hedonisten schon
während ihrer Arbeitszeit die nächste Freizeitgestaltung aus.
Die Freizeit wird entspannt und ungeplant angegangen. Am Wochenende
„schläft sie dann meistens aus und trifft
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
sich anschließend mit Freunden“. Hobbies
spielen für Hedonisten eine größere Rolle
als für Selbstoptimierer und werden mit
mehr Zeitaufwand verfolgt. Die Art der
Freizeitgestaltung ist jedoch sehr ähnlich
zu der der Selbstoptimierer, denn auch
Hedonisten üben bevorzugt ruhigere Freizeitbeschäftigungen wie Lesen, Schwimmen, Stricken oder gemeinsames Kochen
mit Freunden aus. Für lästige Freizeitbeschäftigungen fehlt den Hedonisten häufig
die Disziplin, beispielsweise „nimmt [er]
sich oft vor Sport zu machen, setzt dies
aber eher selten um“. Auf Vorträgen und
Filmvorführungen zu Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda, Gendergerechtigkeit
in Indien oder solidarischer Landwirtschaft
in Bonn-Lessenich-Meßdorf vermischen
sich Hedonisten manchmal mit Selbstoptimierern, sie tragen dann aber weniger
zur Diskussion bei, weil sie sich in ihrer
Freizeit lieber Netflix-Serien und unterhaltungsorientierte YouTube-Videos statt
Nachrichten und Dokus ansehen.
Der bisher beschriebene, eher gemütliche Laissez-Faire-Performanztypus,
der wie die Selbstoptimierer „eigentlich
nicht wirklich feiern“ geht, könnte bei
einer dichteren Datenmenge um einen
deutlich exzessiveren Party-Performanztypus ergänzt werden. Bobos dieses Typs
nehmen in ihrer Freizeit „noch ein wenig
lädiert vom letzten Abend“, sobald sie
„wieder geradeaus laufen“ könen, an einem Demonstrationszug teil und lassen
SOZIOLOGIEMAGAZIN
die ekstatischen Katharsiserfahrungen
dann bei einer freundschaftlich geteilten
Zigarette mit „aus Bobo-Sicht unerfindlichen Gründen verbotenen Substanzen“
Revue passieren. Allgemein sind hier regelmäßige Festivalbesuche, ausgesuchter und
exzessiver Musikkonsum und rauschhaft
verbrachte Wochenenden zu erwarten.
Auch beim Einkauf von Essen, Kleidung,
Elektronik und Ähnlichem setzen sich
Hedonisten keine strengen Regeln, sondern
richten die jeweiligen Konsumentscheidungen stärker nach ihren individuellen Bedürfnissen als nach ideologischen
Vorgaben aus. Zwar werden vereinzelte
Aspekte nachhaltigen Konsums beachtet,
aber insgesamt kaufen sie ihr Essen eher
im Discounter, um mehr Geld für Reisen
zu haben, Kleidung suchen sie weitgehend
wahllos aus und gönnen sich öfter mal ein
brandneues Handy, auch wenn das alte
noch nicht kaputt ist.
Bei der Ernährung achten Hedonisten wenig
auf Gesundheit und ökologische Aspekte,
teils aus fehlendem Interesse, teils aus fehlenden Geld- und Zeitressourcen. Das Abendessen wird hier auch schon mal durch Chips
und Bier ersetzt, was für Selbstoptimierer ein
absolutes No-Go wäre, selbst wenn beides
regional, bio und in Mehrwegverpackung
daherkäme. Allerdings ist Fleisch ein Thema,
mit dem sich auch die interviewten Hedonisten auseinandersetzen und bei dem sie
zumindest graduell Verzicht üben.
Soziologische Fragmente #1
23
WIR BOBOS
24
Bei einer Gesamtbetrachtung aller untersuchten Bobos zum Thema Verzicht, der
zumindest in der Öffentlichkeit vielfach
gefordert wird, aber bekanntlich schwerer fällt als der bloße Umstieg auf eine
nachhaltigere Variante des Konsumguts,
zeigt sich ein interessanter Unterschied.
Zehn von dreizehn dazu befragten Bobos schränken der Umwelt, Tieren und/
oder der eigenen Gesundheit zuliebe
ihren Konsum tierischer Lebensmittel
ein, sechs der Untersuchten leben sogar
komplett vegetarisch oder vegan. Während in diesem Bereich also tatsächlich
mehrheitlich ein gewisser Verzicht geübt
wird, sieht das bei Flugreisen anders aus.
Nur sieben von vierzehn Bobos, die sich
zu ihrem Reiseverhalten geäußert haben,
verzichten zumindest teilweise auf das
Fliegen, die restlichen sieben schränken
ihr Flugverhalten nicht nennenswert ein
und fliegen mehrmals pro Jahr. Vier dieser sieben Bobos ergänzen diese Aussage
proaktiv mit Rechtfertigungen für ihr umweltschädliches Verhalten. Im Allgemeinen
werden hier deutlich stärker systemische
Strukturen beschuldigt, umweltfreundliches Verhalten zu behindern, als beim
Fleischverzicht.
Gerade mit Blick auf diese Erklärungen,
Ausreden und Rechtfertigungen demonstrieren die beiden Bobotypen unterschiedliche praxeologische Paradoxien. Die
Hedonisten fallen dadurch auf, dass sie
weitaus weniger Rechtfertigungsdrang
Soziologische Fragmente #1
für ihr ideologieinkohärentes Verhalten
verspüren als Selbstoptimierer, obwohl
sie mitunter erheblich stärker von ihren
Idealen abweichen. Während sich Selbstoptimierer selbst für kleine ‚Vergehen‘
unter einem Rechtfertigungsdruck sehen,
scheint bei den Hedonisten auch ein Interkontinentalflug keine echte Reue hervorzurufen. Während Hedonisten über sich
und ihr ideologieinkonsistentes Verhalten
lachen können, formuliert eine ehrgeizige Selbstoptimiererin in einer einzigen
Bemerkung das permanent schlechte Gewissen: „Sofort stellt sie jedoch klar, dass
sie Chips nur am Wochenende isst, da am
Wochenende Freizeit ist und man sich
gehen lassen kann“. Die Trennung von
Arbeit und Freizeit scheint also auch eine
Art Bewältigungsmechanismus für die
hohen Ansprüche zu sein, die Selbstoptimierer gleich zweifach belasten; denn die
Arbeit an einer besseren Welt ist ebenso
Leistungsantrieb wie Visitenkarte des persönlichen Erfolgs.
Soziale Organisation
Die Ideologie ist die Basis für soziale Interaktion und Organisation. Bobo-Beziehungen beruhen auf freundlicher, dem
Gegenüber zugewandter Kommunikation. Wesentliche Voraussetzung zur Integration Neuer in die eigenen Kreise bzw.
Ausweitung des eigenen Netzwerks aus
Bekanntschaften ist die Begegnung an
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
bobotypischen Orten. Hier, auf dem Vintage-Flohmarkt, im veganen Szenecafé,
auf dem lateinamerikanischen Streetfoodfestival, aber auch im Yoga-Studio oder
beim WG-Fest, überschneiden sich die
verschiedenen sozialen Kreise der Bobos.
Insgesamt zeichnet sich das Milieu der
Bobos aber durch eine starke Homogenität
und soziale Geschlossenheit aus. Bobos
sind zwar Meister oberflächlicher Interaktionen, ihr Fokus liegt jedoch eher auf
den bestehenden Beziehungen. Zur Integration in einen Bobo-Kreis bedarf es der
Überzeugung bestehender Mitglieder, dass
Neuankömmlinge verantwortungsbewusst
sind und ein integeres, ehrliches Verhalten an den Tag legen. Authentizität und
bobokonformer Individualismus spielen
dabei eine besondere Rolle: Bobos wollen
so, wie sie auftreten, auch wahrgenommen
werden: als Personen, und nicht auf Herkunft, Position, Job, Verein Studienfach
oder Beruf reduziert.
In ihren engeren sozialen Beziehungsformen
sind Bobos zunächst unauffällig: Sie wohnen
mit mehr oder weniger guten Freunden
und Bekannten in Wohngemeinschaften, sie
teilen sich mit ihrem Partner eine Wohnung,
manche sind verheiratet oder haben Kinder,
einige Bobos gehen solo durchs Leben. Allerdings wurde wiederholt deutlich, dass
Bobos die Frage nach der gelungensten oder
sinnvollsten Beziehungsform sehr beschäftigt
und sie kontrovers darüber nachdenken,
SOZIOLOGIEMAGAZIN
welche sie aus welchen Gründen präferieren.
Deshalb haben wir uns besonders gefragt,
welche allgemeinen Werthaltungen Bobos
bezüglich Partnerschaften vertreten und wie
sie diese (aus-)leben.
Es ist auffallend, dass die große Mehrheit der Befragten in ihren Beziehungen
nicht selbstverständlich und unreflektiert
einem bestimmten Beziehungskonzept
folgt, sondern zu irgendeinem Zeitpunkt,
z.B. weil Bekannte ihre Beziehung geöffnet
haben, „schon mal darüber gesprochen“,
sich „gemeinsam entschieden“ oder „sich
arrangiert“ haben. Ein Bobo-Pärchen zog
sogar Literatur zu Rate, um potenzielle
Beziehungskonflikte in der neuerdings
geöffneten Beziehung „vorher gemeinsam
zu durchsprechen“. Eine „offenere und
ausgefeiltere Kommunikation“, das „rechtzeitige Kommunizieren seiner Gefühle
und Gedanken“ und Aushandlungsprozesse über Wünsche und Bedürfnisse des
Partners wurden darüber hinaus betont,
besonders bei den Bobos, die in einer offenen Beziehung leben oder gelebt haben.
Viele Bobos haben sich gegen eine polygame
Beziehungsform entschieden. Ihre Begründungen sind vielfältig und reichen von der
nicht verspürten ‚Not‘, andere erotische Erfahrungen zu machen, über die befürchtete
Überforderung („Ich bin ja schon manchmal
mit einem Partner überfordert“) hin zum
Wunsch, dem Partner zu genügen, wenn
man selbst „emotional stark involviert“ ist.
Soziologische Fragmente #1
25
WIR BOBOS
Polygam lebende Bobos grenzen sich
von diesen Äußerungen ab. Bei ihnen
ist Sexualität und Intimität entkoppelt,
und diese eher mit Emotionalität verbunden. Dem Treuekonzept, das monogame Paare verfolgen, wird wiederholt
Unehrlichkeit unterstellt: „Monogame
schützen ihre Beziehung davor, dass der
andere jemand ‚cooleren‘ findet, indem
sie Mauern errichten“. Polygame Partner
dagegen führten eine ehrlichere Beziehung,
da sie, ‚informiert‘ und anderer Optionen
bewusst, trotzdem beieinanderblieben:
unersetzlich zu bleiben“. Damit geht das
Vertrauen einher, dass man sich auf den
Partner verlassen und für die Zukunft planen
kann, weil die Partnerschaft dauerhaft ist.
Liebesbeweise knüpfen sich also bei polygamen Bobos nicht an sexuelle Treue,
„die kein notwendiger Bestandteil einer
Liebesbeziehung [ist]“, wie auch ein bisher
nicht polygam lebender Bobo formuliert,
sondern an emotionale Treue.
Polyamorie wird von den meisten Befragten ausgeschlossen, obgleich sie die Vielfalt
sexueller Orientierungen ausdrücklich befürworten. Sie selbst aber brauchen Planungssicherheit: „Letzten Endes bedeutet
Partnerschaft Aufmerksamkeit, dass man
viel für einen da ist und man Dinge teilt.
Das ist anstrengend und energieaufwendig.
Ich glaub’ nicht, dass ich das [mit mehreren]
könnte.“ Insbesondere die männlichen Befragten, die in offenen Beziehungen leben,
befürchten die Unvereinbarkeit von der gewünschten Planungssicherheit mit mehreren
gleichberechtigten Partnerschaften: „Jetzt ist
alles einfacher, denn ich bin Student. Aber
vielleicht hab’ ich auch Angst vor’m Alter,
denn dann will ich doch jemanden, auf den
man sich bis zum Tod verlassen kann.“ Durch
rechtliche Rahmenbedingungen würde dieses Problem verstärkt: „Mit wem kaufst
du zuerst ein Haus? Mit wem bekommst
du (zuerst) Kinder? Mit wem schließt du
Verträge ab? Wen heiratest du?“
Eine Interviewte, die schon einmal in einer
polygamen Beziehung gelebt hat und diese
als für sie beste Beziehungsform ansieht,
baut ihr Liebeskonzept auf den „dann doch
romantisch[en]“ Wunsch, egal mit wie vielen
Partnern sie sexuell verkehre, „auf emotionaler Ebene dann doch für [e]inen Partner
Hier zeigt sich, dass nicht nur diejenigen, die eine konventionelle Partnerschaft
führen, sondern auch diejenigen, die sich
bohémien von der gängigen Norm absetzen, einer traditionellen und romantischen
Liebesideologie folgen. Die Liebeskonzepte
der Bobos richten sich auch auf die
26
„Es gibt mir nichts, dass jemand bei mir
ist und bleibt, weil er nichts anderes
und niemand anderen darf, weil es
keine Alternativen gibt. Es ist doch toll,
wenn mein Partner viele Alternativen
hat und am Ende des Tages doch zu
mir zurückkommt.“
Soziologische Fragmente #1
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
„Versprechen, die die traditionelle Institution [Ehe] den Menschen machte:
Vertrauen, Liebe, gegenseitiges Verständnis, gemeinsame Arbeit, persönliche Erfüllung und Selbstverwirklichung
– und all dies angelegt auf Dauer.“
(Schlaffer 2011: 9)
Besonders die Ausführungen der Befragten
zu emotionaler Exklusivität, Vertrauen
und Treue sowie der immensen Bedeutung
gemeinsamer Aushandlungsprozesse lassen
sich auf den aufklärerischen Liebesbegriff
des 18. Jahrhunderts zurückführen. Besondere Aufmerksamkeit erhält die völlige, ungeteilte und innige Hingabe an die
Persönlichkeit des Partners, das Entdecken
seiner eigenen Unverwechselbarkeit in
dem anderen und der daraus gerechtfertigte Exklusivitätsanspruch, den eine
solche Partnerschaft für sich einfordert
(vgl. Schlaffer 2011). Auch der romantische Liebesbegriff mit der Erwartung
‚höchsten Glücks‘, die der Mensch nur
durch seine einzigartige Vervollkommnung erfährt, verleiht dem Partner große
Relevanz. Bobos, auch die polygamen unter
ihnen, erwarten dies mindestens emotional
und planerisch. Das daraus resultierende
Verständnis von Treue als „(1) Folge- und
Hilfsbereitschaft (2) mit Ausschließlichkeitscharakter (3) auf Dauer“ (Burkart
1997: 195) entspricht ebenso traditionellen
Ansichten, die besonders (aber nicht nur)
von den monogam lebenden Befragten
geteilt werden.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Der Kommunikation und dem konkreten
Aushandlungsprozess, der die egalitäre,
einvernehmliche Vereinbarung stabilisieren soll, werden große Bedeutung zugesprochen. Typische Bobo-Partnerschaften
entsprechen dem, was Hannelore Schlaffer
als intellektuelle Ehe beschrieben hat, bei
der „die Formen des Zusammenlebens
einem eigenen, rational begründbaren
Entwurf folgen“ (Schlaffer 2011: 8) und
die auf Absprachen beruht, die die Dauerhaftigkeit der Beziehung sichern sollen.
Schlaffer verweist hier explizit auf die
intellektuelle Ehe als eine Beziehung, in
der sich ihre Dauer „mit der Freiheit zur
Untreue paart […] [und] in der die individuelle Zuneigung mit der Leidenschaft zu
einem weiteren Partner übereinkommen
soll“ (Schlaffer 2011: 10).
Es zeigt sich, dass Bobos in der Liebe einer Bohème-Ideologie folgen, die in der
sozialen Praxis zumindest latent bourgeois ist. Damit sind sie im doppelten
Sinne Konventionalisten. Zum einen ist
die Praxis der Bobos konventionell (Individualitätsparadoxie), sind die meisten
Bobo-Beziehungen trotz der Offenheitsheitsideologie geschlossen und man hat
sich einem romantischen Liebesideal
verschrieben. Offene Beziehungen stellen eher die Ausnahme unter Bobos dar.
Polyamoröse Beziehungen sind in der
Erhebung nicht vorhanden.
Soziologische Fragmente #1
27
WIR BOBOS
"
Es zeigt sich, dass
Bobos in der Liebe
einer BohèmeIdeologie folgen,
die in der sozialen
Praxis zumindest latent
bourgeois ist. Damit sind
sie im doppelten Sinne
Konventionalisten.
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Zum anderen sind der von der Avantgarde propagierte Pluralismus und ihre
nonkonformistische Idee einer Intellektualisierung der Ehe zur Konvention
geworden (vgl. Schlaffer 2011: 11). Für
Bobos ist es nicht möglich, Individualismus und die Forderung nach Autonomie
und Freiheit zu verneinen, ohne damit
wenigstens Befremdung hervorzurufen.
So ist allen Interviewten gemein, dass sie
schon gelegentlich über unterschiedliche
Beziehungsformen nachgedacht haben
und ihrer Meinung nach jede Beziehungsform eine Berechtigung hätte. Es wird
wiederholt betont, unabhängig von eigenen Präferenzen keine Beziehungsform
diskreditieren oder in einem allgemeinen
Zusammenhang bewerten zu wollen. Darüber hinaus stellt das romantische Ideal
der Liebe weiterhin die Wertekonvention
unter den Bobos dar. Monogame Bobos
verschreiben sich ihr gänzlich, polygame
Soziologische Fragmente #1
Bobos deuten ihre Implikationen um,
bekräftigen damit aber romantische Ideale.
Bobos sind im anti-traditionalen Affekt
konventionell, indem sie gleichzeitig die
Inhalte der Tradition – Planungssicherheit
und emotionale Treue – über reflektierte
Individualität in ihre Liebesbeziehungen
reintegrieren.
Bobos im Kontext
Diese autoethnographischen Befunde zeigen, dass man berechtigt darüber streiten
kann, ob die Bobos eine neue Elite, gar
ein Establishment bilden, zumal viele von
ihnen von prekären Jobs in einer bewusst
minimalistischen, materiellen Umwelt leben und sich der Konsumgesellschaft und
deren Statussymbolen möglichst entziehen.
Aber sicher ist zu bestätigen, was schon
Brooks als Ergebnis seiner „humoristic
sociology“ formuliert hatte:
„As we turn around and look back at
the range of Bobo manners and morals,
we find a bit that’s risible, a bit that is
too precious by half, but a lot that is
wonderful. Bobos have begun to create
a set of standards and morals that work
in the new century. It’s good to live in
a Bobo world.“ (Brooks 2000: 271)
Mit den Bobos hat sich ein Ideal westlicher
Gesellschaften realisiert. Nie ist eine Elite
beobachtet worden, deren soziale Stellung
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
so von individueller Leistung abhängt,
nie war sie sozial offener für den Aufstieg durch Bildung, und nie hat sich ein
Lebensstil etabliert, der so sympathisch
und locker, so empfindsam gegenüber
Mitmenschen und verantwortungsbewusst
gegenüber Geschichte und Umwelt ist. Bobos realisieren das Gute Leben. Wenn man
sie beobachtet, wie sie in ihren Straßencafés
sitzen und ihre persönlichen Probleme
zugleich mit denen der Welt diskutieren,
wenn sie, älter geworden und paarweise,
an den Samstagen auf die Wochenmärkte
gehen, um sich mit Bio-Gemüse und erlesenen südfranzösischen Käsesorten einzudecken und dabei entspannt mit Freunden
plaudern, bevor sie in ihre renovierten
Fachwerkhäuser oder Altbauwohnungen
zurückkehren – dann wird die hohe Attraktivität dieses neubürgerlichen Lebensstils
plausibel, in dem amerikanischer Konsum
und busyness mit südeuropäischer Lebensart und nordeuropäischer Verantwortungsmoral verschmolzen sind. In den Städten
des nordamerikanischen Kontinents und
Europas ist nach den Weltkriegen ein western style of life entstanden, und vielleicht
hat er den Kampf der politischen Systeme
Ende der 80er Jahre entschieden und bildet
heute, medial in die Welt getragen, jenseits
aller Entwicklungs- und Modernisierungserwartungen den Hoffnungshorizont für
das individuelle Leben von Millionen.
Und doch: Seit der Jahrtausendwende
hat sich vieles verändert. Der Politikstil
SOZIOLOGIEMAGAZIN
des „Beyondism“, den Brooks auf dem
Höhepunkt der Clinton-Ära realisiert sah,
war ausgleichend und kompromissfähig,
integrierend und entschärfend, immer an
der Mitte orientiert.
„Whether you are liberal or conservative, Bobo politicians adopt your rhetoric and your policy suggestions while
somehow sucking all the radicalism
out of them. They sometimes tilt to
the left and sometimes to the right.
They never rise up for a fight. They
just go along their merry way, blurring,
reconciling, merging, and being happy.
While those on left and right hunger for
confrontation and change, the Bobos
seem to be following the advice on their
throw pillows: ‚Living Well Is the Best
Revenge‘.“ (Brooks 2000: 261)
Die Eruktationen der Ränder auszusitzen,
dieser Regierungsstil hat in Angela Merkels
ersten beiden Legislaturperioden seine
Vollendung gefunden. Heute aber scheint
er nicht mehr zu greifen – zuerst in den
USA, dann in den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien und schließlich auch in Deutschland hat sich eine
neue Schärfe in der Politik breitgemacht,
die in den 90er Jahren unvorstellbar war.
Mit ‚Populismus‘ stand zwar schnell ein
Stichwort bereit, das den neuen Ton der
Pim Fortuyns, Tea Parties, Le Pens und
AfDs einsortierte und bewertete, aber
diese intellektuelle Schutzmauer hat eine
Soziologische Fragmente #1
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WIR BOBOS
"
Getragen sind diese Überlegungen von soziologisch abstrakten, aber plausiblen Vorannahmen:
keine Inklusion ohne Exklusion, kein Geben
ohne ein Nehmen. Darum fragen wir: Wen haben die Bobos inkludiert, wen aber gleichzeitig
exkludiert? Wem geben sie, wem aber nehmen sie?
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beunruhigend offene Flanke in Richtung
eines zentralen Wertes der Bobos: der
demokratischen Legitimation. In ihrem
politischen und moralischen Führungsanspruch bedrängt, ist ein neues Phänomen
entstanden, das Brooks noch nicht kannte:
Bobo-Fundamentalismus, ein kämpferisches Bekenntnis zu den eigenen Werten
mit allen Konsequenzen, das sich zuerst an
den amerikanischen Universitäten in den
unduldsam-missionarischen Varianten von
Minderheitenförderung und Sprachnormen, von Gendersternchen und Veganismus
ausgedrückt hat, bevor es mit Flüchtlingskrise und Klimakatastrophe zum neuen
Politikstil wurde und den öffentlichen Raum
moralisierte. Man könnte hegelianisieren:
Aus der Synthese der 90er Jahre ist eine These geworden, der nun eine neue Antithese
gegenübersteht. Das Allgemeine wird zum
Besonderen und muss sich als Partikulares
verteidigen – und reflektieren.
Durch diesen Druck der Veränderung des
politischen Klimas sind wir Bobos also
gezwungen, reflexiv zu werden und neu
Soziologische Fragmente #1
darüber nachzudenken, wer wir sind, was
wir erreicht haben, was wir erreichen wollen und vielleicht auch, welche nicht-intendierten Nebenwirkungen aus unserer Verwirklichung des Guten Lebens resultierten
und weiter resultieren könnten. Getragen
sind diese Überlegungen von soziologisch
abstrakten, aber plausiblen Vorannahmen:
keine Inklusion ohne Exklusion, kein Geben ohne ein Nehmen. Darum fragen wir:
Wen haben die Bobos inkludiert, wen
aber gleichzeitig exkludiert? Wem geben
sie, wem aber nehmen sie? Dazu ein paar
abschließende Überlegungen.
Bobos sind Kosmopoliten. Sie leben aus
einem universellen Weltbezug, ihre Kommunikation und ihr Verantwortungsgefühl
kennt keine Grenzen. Mit Hyperlinks und
Informationen schlagen sie eine Brücke
der Solidarität zu den Verdammten dieser
Erde, hinweg über die fly-over-countries
der niedergehenden Industriegebiete,
Landwirtschaftswüsten und Kleinstädte,
aus denen sie kommen. Hashtagsolidarität
ist nicht zirkular, sondern viral: Sie ordnet
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
den sozialmoralischen Raum nicht über
Nähe und Distanz, sondern über die Aufmerksamkeitswellen der digitalen Welt.
Brücken aus Hashtagsolidarität sind erstaunlich stabil. Sie tragen in der einen
Richtung Millionen Migranten, in der
anderen die Rucksack-Avantgarden des
Massentourismus. Wir Bobos betreten sie
verantwortungsbetankt als Repräsentanten der Zivilgesellschaft, um im Auftrag
unserer spezifischen Organisationsform,
der NGO, Menschenrechte, Umweltschutz
und Entwicklung zu fördern.
An beiden Enden dieser Brücke segregieren
die Gruppen, die sich auf ihr begegnen,
jedoch erneut: Die Bobos in Szenevierteln
und gated communities der Internationals,
die Migranten von den Slums und Lagern
am Ausgang ihrer Reise zu den Asylzentren
und abgehängten Stadtteilen ihrer Zielländer. Am Reiseziel werden beide bewacht,
aber die Security blickt in unterschiedliche
Richtungen. Beiden gilt am Zielort eine besondere staatliche Aufmerksamkeit, Bobos
bei der Verteilung von Ressourcen, Migranten bei der Zuteilung. Das Rückticket ist
für die einen Versicherung, für die anderen
Restrisiko, das Smartphone für alle das
zentrale Attribut, mit dem sie ihre soziale
Welt organisieren. Aus solchen vielfältigen
Beziehungen ergibt sich das typische Strukturmuster von Komplementärgruppen,
die bei großer Statusdifferenz aufeinander
verweisen, ohne zu verschmelzen.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Gleichwohl gibt es Schnittstellen, etwa im
praktizierten Sozialengagement: Neben
den Kirchengemeinden stellen die Bobos
die größte Gruppe der Flüchtlingshelfer.
Jede größere Migrationswelle vervielfacht
auch die Jobmöglichkeiten für sozialkaritative Bobos. Hier bilden sie soziale
Kontakte aus, wo sie unter Migranten
auf Responsivität stoßen, die dann auch
die eigenen Netzwerke bereichern. Diese
Form sozialer Mobilität knüpft an die alte
Offenheit der Bohème an, etwa gegenüber
exilierten russischen Künstlern, und schafft
den Bobo mit Migrationshintergrund als
Ausdrucksform der Identitätsparadoxie.
Neben dem kulturellen Kapital, das die
Sulaiman Masomis („Ein Kanake sieht
rot“) diskursfähig macht, verfügen sie
über das symbolische Kapital, migrierte
Gruppen repräsentieren zu können. Solche
informellen Karrieren durch Poetry-Slams
oder andere, unästhetische Formen des
Dauersprechens, Talkshows etwa, bilden
neben Rap und Fußball Möglichkeiten
zur Blitzetablierung, während Kleinunternehmertum (legales wie illegales)
und Bildungspatente die langwierigen, aber
unterschiedlich riskanten Wege darstellen.
Eine zweite Schnittstelle zwischen beiden
Gruppen bildet die prekäre Beschäftigung.
Für die Bobos ist sie kein Thema, solange sie durch Universitäten und Kleinjob-Konjunkturen abgesichert werden.
Sie hangeln sich über Jahre durch Projekte
und befristete Jobs, stets in der durch
Soziologische Fragmente #1
31
WIR BOBOS
32
Erfahrung und Kommunikation stabilisierten Erwartung, dass es schon irgendwie
weiter- und aufwärtsgehen werde. Der
prekär Beschäftige mit Hoffnung: das ist
ein Bobo – zumindest in Nordeuropa und
den USA, nicht aber in den mediterranen
Ländern, die seit der Finanzkrise mit der
Euro-erzwungenen Austeritätspolitik eine
hohe Jugendarbeitslosigkeit aufgebaut haben. In den westlichen Kernstaaten aber
ist durch die anhaltende Konjunkturphase seit den Reagan-, Thatcher- und
Schröder-Reformen das Jobbedürfnis in
die Hintergrundserfüllung getreten, nur
kurzfristig irritiert durch die Finanzkrise,
als die 30jährigen New Yorker Banker wieder in ihre Kinderzimmer in Milwaukee
einzogen, die sie einst Richtung Harvard
verlassen hatten. Diese Irritationen sind
beseitigt, whatever it takes, und erst wenn
am Jüngsten Tag der Notenbankinterventionen all die Zeit- und Projektverträge
gekündigt werden, die Nachhaltigkeit-Startups vom elementareren Bedürfnis nach
Kartoffeln unterlaufen werden und die
NGOs ihre Arbeit einstellen, weil ihnen die
Spendengelder ausgehen, droht die Statusdifferenz zwischen Bobos und Migranten
zu kollabieren. Dann konkurrieren sie
um dieselben Hochhauswohnungen und
Kurierfahrerjobs. Die working poor, die in
Kalifornien in ihren Autos wohnen, weil sie
sich als Pizzaboten der Google- und Apple-Bobos keine Wohnung mehr leisten können, sind das Menetekel. Oh möge dieser
Tag der Master-Prüfung universalistischer
Soziologische Fragmente #1
Wertorientierungen nie eintreten! Bobos inkludieren die Verdammten dieser
Erde – gefährden aber gerade dadurch die
institutionalisierten Solidaritätsbrücken
der nationalstaatlichen Sozialsysteme,
die sie gleichzeitig in ihrer Sozialutopie,
dem Grundeinkommen, bedingungslos
voraussetzen.
Die dritte Gruppe in der triadischen Figuration ist schwerer zu benennen, ohne
sie lässt sich die Komplementärbeziehung
zwischen Bobos und Migranten aber nicht
verstehen. David Brooks hatte sie noch
nicht im Blick, obgleich sie Ende der
70er Jahre im moral majority movement
zum ersten Mal ihr Haupt erhob, um die
Wahl Ronald Reagans zu organisieren
(vgl. Bösch 2019). Erst durch den populistischen Aufstand sind diese Milieus in
den Fokus der sozialwissenschaftlichen
Analyse gerückt, und seither wollen wir
auch genauer verstehen, wer sie sind, in
welcher Beziehung sie zu uns Bobos stehen, und vor allem: Ob die Verschärfung
der Gegensätze nicht irgendwie mit uns
zusammenhängt (vgl. etwa Möllers 2017).
Didier Eribon hat mit seiner Rückkehr nach
Reims ein Muster des Nachdenkens darüber geliefert: Die Going-Back-Literatur,
eine Auseinandersetzung von städtischen
Intellektuellen mit ihrem ländlichen, kleinstädtischen oder proletarischen Herkunftsmilieu. Eribon formulierte die Schlüsselfrage, die jeder Bobo kennt, der genervt
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
schweigt, wenn der Onkel an Weihnachten
seine politischen Ansichten kundgibt:
„Theoretisch kann man sich leicht vornehmen, mit Front-National-Wählern
kein Wort mehr zu wechseln und ihnen
nie wieder die Hand zu schütteln. Aber
was ist, wenn die eigene Familie so wählt?
Was soll man denken? Was soll man
sagen oder tun?“ (Eribon 2016: 107f.)
Biographische Aufarbeitungsliteratur
etablierter Bobos liefert also eine erste
Annäherung und man kann sagen: Das
sind hervorragende Ansätze für eine Autoethnographie (vgl. für die USA: Vance
2017, für Großbritannien: Mason 2017).
Im Spiegel der Anderen, die zugleich die
Eigenen sind, kann man sich selbst besser
verstehen lernen.
Wie die dritte Gruppe jenseits von Bobos
und Migranten aber zu benennen und
charakterisieren ist, wird diskutiert. The
American Right meinte politisch-klassisch Arlie Russell Hochschild, als sie ihre
Feldforschungen auf den Spuren der Tea
Party begann – lange bevor diese Klientel
durch die Wahl Trumps den politischen
Willensausdruck setzte, dessen Deutung
und Erklärung geschichtsphilosophisch
gefestigte Bobos noch heute verzweifeln
lässt. „I was definitely not in Berkeley,
California“ (Hochschild 2016: 18), stellte
sie fest, als sie die Zielgebiete ihrer Feldforschung im ländlichen Louisiana erkundete.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Dort begegnete ihr eine andere Sprache
mit Redewendungen, die sie noch nie
gehört hatte („… up to my ass in alligators“), wohingegen klare Antworten mit
„ja“ oder „nein“ als „Yankee speech“ galten.
Die Gegend erschien ihr gepflastert mit
Kirchen, die Buchhandlungen hatten drei
Regalwände mit Bibeln aller Farben und
Größen, während fremdsprachige Literatur
fehlte. Es gab keine New York Times an den
Zeitungsständen, keine Bio-Lebensmittel
in den Supermärkten, keine ausländischen
Filme in den Kinos und keine Kleinwagen auf der Straße, geschweige denn die
Avantgarde der Elektromobilität, den
Toyota Prius, sondern Pick-up-Monster
von Ford dominierten das Straßenbild. In
den Kleidergeschäften hingen die XXLKonfektionsgrößen, Anwälte warben auf
großen Tafeln für ihre Expertise bei Körperverletzungsdelikten. Wenig Fußgänger,
keine Labradore, sondern Pitbulls und Bulldoggen. An Recycling-Mülltonnen oder
Solar-Panels auf den Häusern war nicht
zu denken und in den Restaurants wurde
vor dem Essen nicht nach glutenfreien
Vorspeisen gefragt, sondern ein Gebet gesprochen. „In the absence of the talismans
of my world and in the presence of theirs,
I came to realize that the Tea Party was
not so much an official political group as a
culture, a way of seeing and feeling about a
place and its people.“ (Hochschild 2016: 19)
Aus französischer Perspektive dagegen
scheint der Links-Rechts-Gegensatz nur
Soziologische Fragmente #1
33
WIR BOBOS
34
bedingt zu taugen, wenn man den Gelbwesten-Aufstand gegen die Benzinpreiserhöhungen des Bobo-Präsidenten Macron
erklären möchte; denn jede französische
Protestbewegung, das hatte schon Tocqueville beobachtet, spielt die Französische
Revolution nach, die sich in der kollektiven
Ikonologie kaum mit ‚rechts‘ codieren
lässt. Der Geograph Christophe Guilluy
verknüpfte deshalb die soziale Analyse
mit der Siedlungsstruktur Frankreichs. Die
fünf französischen Städte, in denen sich der
Produktivitätszuwachs der Globalisierung
konzentriert, hätten sich durch die Entwicklung der Wohnpreise zu kapitalistisch
verteidigten Zitadellen entwickelt, in denen
ein neuer Typ die Herrschaft übernommen
habe: eine Bourgeoisie ohne Hass und
Gewalt, die Bobos. Sie wurden kulturell
dominant, indem sie Universitäten, Literatur und Medien besetzten.
Diese Aneignung allgemeiner Institutionen
durch eine partikulare Gruppe wird zugleich von einer Rhetorik der Offenheit
begleitet. Während sich die Bobos global
unter ihresgleichen vernetzen, segregieren
sie sich von der zurückgebliebenen Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum, die
sich in den abgehängten Regionen der
niedergehenden Schwerindustrie oder in
die Kleinstädte des ländlichen Frankreichs
zurückgezogen hätten – was einen weiten
Weg zu den besserbezahlten Arbeitsplätzen
in den Zentren bedeutet; denn die französischen Städte seien nicht von bürgerlichen
Soziologische Fragmente #1
Suburbs umgeben, sondern vom Ring der
Banlieu, der den Städten als Reservoir billiger migrantischer Dienstleistungskräfte
dient, aus denen nur im Kino die ziemlich
besten Freunde kommen. Das periphere
Frankreich bildet die neue classe populaire,
die im Kampf um die ökologisch motivierte
Erhöhung der Benzinpreise gegen städtische Zentren der Bobos aufgestanden ist
– so lautet Guilluys Analyse (vgl. Guilluy
2014, 2019).
Für einen ähnlichen sozialen Gegensatz
schlug der britische Journalist David
Goodhart ein prägnantes Wortpaar vor,
als er die Lager in der Brexit-Debatte zu
erklären suchte:
„The old distinctions of class and economic interest have not disappeared but
are increasingly over-laid by a larger
and looser one – between the people
who see the world from Anywhere und
the people who see it from Somewhere.“
(Goodhart 2017: 3)
Anywheres zeichneten sich durch eine höhere Schulbildung aus, sie sind die Klasse,
deren wichtigste rites de passages in den
Examina besteht. Ihre universitäre Ausbildung führt sie von den Heimatstädten
fort und schließlich nach London oder
in irgendeinen anderen Teil der Welt. Sie
haben erworbene Identitäten und sind
dadurch fähig, sich an anderen Orten
und mit anderen Menschen einzurichten.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
Somewheres dagegen sind typischerweise
„Scottish farmer, working class Geordie,
Cornish housewife“ (Goodhart 2017: 3),
sie haben zugeschriebene Identitäten, die
an bestimmte Herkunftsgruppen und Regionen gebunden sind. Eine Kerngruppe
besteht aus den sogenannten ‚left behinds‘,
älteren weißen Arbeitern, die durch die
Globalisierung doppelt verloren hätten:
ökonomisch durch den Verlust eines relativ
gut bezahlten Jobs mit geringem Qualifikationsniveau, kulturell, indem ihre
Themen – Ungleichheit, Arbeiterkultur,
der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit – in der öffentlichen Debatte gegenüber den typischen Anywhere-Themen,
Minderheitenschutz und Umwelt, marginalisiert worden seien. Diesen Gegensatz
systematisierte ebenfalls Wolfgang Merkel
mit seiner Unterscheidung zwischen „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“ (vgl.
Merkel 2017).
‚Rechte‘, ‚Peripherie‘, ‚Somewheres‘, ‚Kommunitaristen‘ – wenn man die Suche nach
einer Benennung für die Trägergruppe
des populistischen Aufstandes gegen die
Bobo-Hegemonie vergleicht, dann fällt ins
Auge, dass in den Beschreibungen überall
Kategorien des Ortes und der Zugehörigkeit, der Territorialität und Identität im
Vordergrund stehen. Diese allein schafft
aber noch keine Klassenbindung zwischen
den unterschiedlichen Gruppen, auf die
eine solche Beschreibung zutrifft, sondern
es bedarf zusätzlich einer gemeinsamen
SOZIOLOGIEMAGAZIN
sozialen Lage, durch die Interessen gebündelt und vielleicht auch ausdrucksfähig
werden.
Aus dieser Perspektive fällt auf, dass alle
diese Gruppen Profiteure der nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialordnungen
waren, indem sie über (im internationalen Vergleich) relativ hohe Löhne am
Wohlstandszuwachs ihrer Staaten beteiligt wurden. Ihre Lebensrisiken waren
gleichzeitig aufgefangen, wenn auch durch
unterschiedliche Systeme: in den USA eher
durch Mobilitätschancen in die Boomregionen unter gesteuerter Konkurrenz
durch neue Einwanderer, in Europa durch
die Wohlfahrtsstaaten. Im Kontext globaler
Ungleichheiten entstand so ein Staatsbürgerschaftsprivileg: Die Zugehörigkeit zu
nationalen Solidargemeinschaften, die
bis in die 70er Jahre bereit waren, einen
zunehmenden Anteil des individuell erwirtschafteten Wohlstandes staatsgesteuert
umverteilen zu lassen. Dieses System geriet
durch die zunehmende Kapitalfreiheit im
Globalisierungsprozess unter Druck, die
personalintensiven Industrien wanderten
in Länder mit billigerem Lohnniveau, und
mit der Wissensgesellschaft begann für
jeden Einzelnen das Diktat, die eigenen
Bildungsressourcen auszuschöpfen, sofern
man am Wohlstand teilhaben möchte.
Die Bobos sind die Gewinner dieser neuen
Lage. Sie stellen sich durch individuelle
Bildungsbereitschaft und globale Mobilität
Soziologische Fragmente #1
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WIR BOBOS
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darauf ein. Auf nationaler Ebene aber
entsolidarisieren sich finanziell etablierte
Bobos und entziehen ihr Vermögen, wo
möglich, dem einzelstaatlichen Zugriff,
um es dann in der Form von Stiftungen
und Spenden dort zu investieren, wo sie
die Ziele der verteilenden Organisation
unterstützen und symbolisches Kapital
akkumulieren können. Der national organisierte Einzelstaat ist ihnen aber nur noch
eine Organisation unter vielen. Bobos halten den Nationalstaat für ein Residuum des
19. Jahrhunderts, das durch multilaterale
Organisationen der neuen globalen Welt
überwunden werden muss.
Damit erodiert die Form der institutionsgebundenen Solidarität, die sich über Bereitschaft ausdrückt, Steuern zu zahlen und
damit territorial eingrenzbare Inseln des
solidarischen Wohlstandsausgleichs zu
schaffen. Reduktion der Steuern bei gleichzeitiger Erhöhung der Abgaben – auch dies
war typische Bobo-Politik. Wenn Christophe Guilluy die Bobos für das Produkt
einer Amerikanisierung der europäischen
Gesellschaften hält, dann hat diese Aussage
mit der Tendenz zu einem mäzenadischen
Wohlfahrtssystem zu tun – genauso, wie
David Brooks von der Europäisierung der
amerikanischen Eliten sprechen könnte,
wenn er Ernährungsgewohnheiten, Einstellungen und Habitus der amerikanischen
Bobos fokussiert.
Soziologische Fragmente #1
Diejenigen aber bleiben zurück, die lebensweltlich an einen Ort gebunden und
vom Arbeitseinkommen in dieser Region
abhängig sind. Sie residieren. Sie sind
zugleich die Residuen nationalstaatlicher
Wirtschaftsordnungen, indem sie ihr relational sinkendes Arbeitseinkommen
in Berufen, die dem institutionalisierten
Dauerstrukturwandel zum Opfer zu fallen
drohen, mit der Hoffnung verbinden, im
Notfall durch die wohlfahrtsstaatliche
Solidargemeinschaft aufgefangen zu werden, ohne allzusehr an Lebensstandard zu
verlieren. Sie sehen sich nicht nur unter
dem Druck des rapiden sozialen, technologischen und ökonomischen Wandels
einer Welt, die sich schneller verändert, als
es Biographien in der zweiten Lebenshälfte
verarbeiten können, sondern sie stehen
gleichzeitig unter dem Arroganzdruck
der meritokratischen Eliten, die zuerst
fordern, bevor sie fördern.
Denn wenn die Bobos irgendetwas in den
zwei Jahrzehnten Hochfeier der Individualisierung gelernt haben, dann dies:
Jeder Einzelne ist für sein Glück und seinen
Erfolg selbst verantwortlich! „Hierzulande“, bemerkten Horkheimer und Adorno
schon Ende der 40er Jahre in Kalifornien,
„gibt es keinen Unterschied zwischen
dem wirtschaftlichen Schicksal und
den Menschen selbst. Keiner ist etwas
anderes als sein Vermögen, sein Einkommen, seine Stellung, seine Chancen.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
Die wirtschaftliche Charaktermaske
und das, was darunter ist, decken sich
im Bewusstsein der Menschen, den
Betroffenen eingeschlossen, bis aufs
kleinste Fältchen. Jeder ist so viel wert
wie er verdient, jeder verdient so viel er
wert ist. […] Sie beurteilen ihr eigenes
Selbst nach seinem Marktwert und
lernen, was sie sind, aus dem, wie es
ihnen in der kapitalistischen Wirtschaft
ergeht. Ihr Schicksal, und wäre es das
traurigste, ist ihnen nicht äußerlich, sie
erkennen es an. […] I am a failure, sagt
der Amerikaner – And that is that.“
(Horkheimer/Adorno 1987: 241)
Jede Meritokratie, so analysierte Michael
Young in den 60er Jahren, schafft eine
Gesellschaft aus arroganten Gewinnern,
die ihre soziale Position allein den individuellen Fähigkeiten zurechnen, und aus
verstockten Verlierern.
„In jenen Tagen war keine gesellschaftliche Klasse geistig homogen:
Gescheite und Dumme, Scharfsinnige
und Stumpfsinnige gab es in allen sozialen Schichten, und das bedeutete:
Es gab noch Berührungspunkte zwischen den Schichten! Jetzt hingegen, wo
die Menschen nach ihren Fähigkeiten
klassifiziert werden, ist unvermeidlich
die Kluft zwischen Klassen weiter geworden. Und tiefer! Die oberen Klassen
… werden nicht länger durch Zweifel
und Kritik an sich selbst geschwächt.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Die geistige Prominenz weiß heute, daß
ihr Erfolg nichts Anderes als Belohnung
für individuelle Begabung, persönlichen
Einsatz und die unbestreitbare Leistung
ist. Sie verdient es, einer gehobenen
Klasse anzugehören.“ (Young 1961: 144)
Meritokratien mögen Paradiese der
individuellen Leistungsgerechtigkeit sein,
aber sie spalten politische Gemeinschaften,
indem sie entsolidarisieren. Meritokratische Eliten
„… sind nicht auf das Bildungssystem
oder das staatliche Gesundheitssystem
ihres Landes angewiesen (ihre Kinder
besuchen Privatschulen, und sie selbst
können sich bessere Kliniken leisten).
Sie haben die Fähigkeit verloren, die
Gefühle ihrer Gemeinschaft zu teilen.
Die Menschen erleben diese Unabhängigkeit der Eliten als einen Verlust an
Bürgermacht. … Wo meritokratische
Eliten die Gesellschaft als eine Schule
begreifen, in der lauter Einserschüler
um Stipendien konkurrieren, während die Schulabbrecher auf der Straße kämpfen, verstehen Populisten die
Gesellschaft als eine Familie, deren
Mitglieder einander nicht nur deshalb
unterstützen, weil alle es verdienen,
sondern, weil alle etwas gemeinsam
haben.“ (Krastev 2017a: 107)
Von diesen Eliten im Stich gelassen zu
werden und damit den entscheidenden
Soziologische Fragmente #1
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WIR BOBOS
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Regional residierende Residuen mit
Ressentiments: nennen wir die dritte Gruppe
deshalb die Resis. Sie ethnographisch zu
beschreiben, da stehen wir in Deutschland
erst am Anfang. Es gibt wenig Feldforschung
in der Lausitz, der Eifel oder in Pforzheim, weil die
ethnologischen Studiengänge ja fest in Bobo-Hand
sind und die da nicht so gerne hingehen.
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ökonomischen Anteil des Staatsbürgerprivilegs zu verlieren, das die sozialen
Kämpfe des 19. Jahrhunderts befriedet
hatte – das ist die begründete Angst der
Somewheres. Denn sie wissen: Ein globales Hartz IV reicht ihnen nicht zum
Leben! Und nach Bulgarien umziehen,
um relativ besser dazustehen, ist auch
keine Alternative. Sie vermuten, dass die
meritokratischen Eliten, die auf der ganzen
Welt zuhause sein können, sich in schwierigen Zeiten eher vom Acker machen,
als sich mit denen zu solidarisieren, die
sie offen verachten. Und dieser Satz gilt
ökonomisch wie militärisch, seitdem die
Wehrpflicht abgeschafft und die Armeen
zum Auffang- und Disziplinierungsbecken
für Bildungsverlierer wurden.
Diese Ängste nur als partikulare Interessen empfinden, sie aber nicht im gleichen Grad wie die Bobos mit universellen
Werten rationalisieren zu können – dies
gebiert das vierte Merkmal der Gruppe:
das Ressentiment. Es wendet sich gegen
Soziologische Fragmente #1
ihresgleichen aus anderen Ländern, die
auf Mobilität setzen und sich in die prosperierenden und sicheren Regionen auf
den Weg machen und als Konkurrenten
um die geringqualifizierten Jobs und die
wohlfahrtstaatlichen Ressourcen auftreten: die Migranten. Hatte die Freiheit des
Kapitals die wohlfahrtsstaatlichen Systeme
schon in die Schröder-Reformen geführt,
so befürchtet man den endgültigen Kollaps
der nationalstaatlichen Solidarität durch
die humanitätsgetragene Personenfreizügigkeit der No-Border-Bobos.
Regional residierende Residuen mit Ressentiments: nennen wir die dritte Gruppe
deshalb die Resis. Sie ethnographisch zu
beschreiben, da stehen wir in Deutschland erst am Anfang. Es gibt wenig Feldforschung in der Lausitz, der Eifel oder
in Pforzheim, weil die ethnologischen
Studiengänge ja fest in Bobo-Hand sind
und die da nicht so gerne hingehen. Lieber
nach Peru, Indonesien oder Uganda, das
macht sich besser im Lebenslauf. Bei einer
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
solchen Feldforschung der geographischen
Nähe, aber sozialen Distanz würde sich
wohl der überraschende Befund ergeben, dass auch das ländliche Deutschland
von Bobo-Regionen durchsetzt ist, vom
Wendland bis zum Chiemgau, wo Bobos die verlassenen Bauernhöfe aufkaufen und renovieren, um den Traum von
der ökologischen Wende durch relative
Autarkie Wirklichkeit werden zu lassen.
Der Öko-Bauer ist die Mischform. Ob
die Kundschaft seines Hofladens zu einem neuen Typ der Resis mutiert, bei
dem die ökologischen Paradoxien in ein
kommunitaristisches Ressentiment gegen
den Windpark münden – Atomkraft abschalten, aber den Müll nicht vor meine
Haustüre, alternative Energien aufbauen,
aber die Industrialisierung der Landschaft
beklagen –, wäre eine interessante Forschungsfrage.
Wie aber mit Resis umgehen, wenn wir
ihnen auf Klassentreffen, Familienfeiern
oder sonstigen Besuchen dort hinten begegnen? Eine Kurzanleitung:
Wir Bobos sollten wissen, dass unsere anerkannte, bewunderte und überall nachgestrebte Lebensform ein Kind zweier Eltern
ist: Nicht nur der geliebten Mutter 70er
Jahre, die für gesellschaftliche Liberalisierungsbewegungen stand, sondern auch des
verachteten Vaters der 80er Jahre mit seinen neoliberalen Reformen und der wirtschaftlichen Globalisierung, von dessen
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Einkommen wir heute noch leben. Wir
Bobos sollten uns bewusst sein, dass wir in
grenzenlosen ökologischen und menschenrechtlichen Werteinstellungen den Spuren
des Kapitals folgen, das noch universaler
ist – oder ihm den Weg bereiten, was auch
nicht besser ist. Mikrokredite geben den
Menschen Entwicklungs chancen, integrieren sie aber gleichzeitig in den Kapitalmarkt. Wir sollten uns weiter klarwerden,
wo unsere eigenen Widersprüche liegen,
die ideologischen und praxeologischen
Paradoxien unserer Alltagswelt, bevor
wir die Resis ob ihrer Widersprüche verurteilen. Wir könnten auch überlegen, ob
unser Einsatz für Migranten und Flüchtlinge eine dunkle, instrumentelle Seite
der Empathie ist, die das Elend bekämpft,
um das Überlegenheitsgefühl gegenüber
den Resis auch moralisch zu unterfüttern
(vgl. Breithaupt 2017: 129ff.). Wir sollten
uns also klar darüber werden, inwiefern
der universale Wertehimmel, aus dem wir
die Verantwortung für unser Tun ableiten,
gleichzeitig verbunden ist mit partikularen
Interessen. Und dass wir unglaubwürdig
sind, solange wir keine überzeugende institutionelle Lösung präsentieren können,
wie sich die Errungenschaften des demokratisch verfassten Nationalstaats auf die
Weltgesellschaft übertragen lassen. Und
jeder Bobo, dessen Eltern Abitur haben,
sollte nach einem bestandenen Examen
dreimal den Satz wiederholen: „Ich bin
nur das Produkt meiner sozialen Lage!“
Soziologische Fragmente #1
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WIR BOBOS
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Denn nach dem
Zivilisationsprozess,
in dem die Menschen gelernt haben
höflich miteinander
umzugehen, steht heute
der Ökolisationsprozess
an: Wir müssen lernen
auch freundlich mit der
Natur umzugehen.
Beachten wir also diejenigen, die wir exkludieren, und schenken wir Anerkennung, wem wir etwas genommen haben.
Denn nach dem Zivilisationsprozess, in
dem die Menschen gelernt haben höflich
miteinander umzugehen, steht heute der
Ökolisationsprozess an: Wir müssen lernen
auch freundlich mit der Natur umzugehen.
Die Bobos könnten diesen Prozess führen,
indem sie ihre Paradoxien auf einen Grad
reduzieren, der auch ihre Glaubwürdigkeitsressourcen nachhaltig bewirtschaftet.
LITERATUR
Denn auch in uns steckt etwas Resihaftes,
weil wir uns irgendwann doch ganz gerne
in unseren Berliner, Frankfurter oder Kölner Stadtvierteln einrichten – sofern wir
nicht durch die Wohnungspreise schon
ins Umland abgedrängt wurden. Auch wir
könnten durch den Erfolg des autoritären
Kapitalismus schnell zu Residuen der liberalen Phase der Globalisierung werden, die
auf den Siegeszug der alles überwachenden
KI großer Firmen und Parteien nur noch
mit Ressentiments reagieren. Seien wir
also genauso achtsam gegenüber Resis wie
gegenüber Migranten. Denn sie sind keine
Restgruppe, die wir ignorieren können
weil sie ausstirbt, sondern das Ergebnis
der hohen Dynamik der modernen Welt.
Resis reproduzieren sich – auch aus Bobos.
Und sie können Wahlen gewinnen.
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über die Avantgarde in die Institutionen, oder: Die Verzeitlichung der Klassik. In: Albrecht, Clemens (Hrsg.):
Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden. Würzburg:
Ergon, S. 87–95.
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Ethnologie der Beziehung zwischen Kollektiven. In: Hartung, Gerald/Herrgen, Matthias (Hrsg.): Interdisziplinäre
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heute begann. München: C.H.Beck.
Breithaupt, Fritz (2017): Die dunklen Seiten der Empathie.
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Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am
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Burkart, Günter (1997): Lebensphasen. Liebesphasen.
Vom Paar zur Ehe, zum Single und zurück? Opladen:
Leske + Budrich.
Soziologische Fragmente #1
SOZIOLOGIEMAGAZIN
WIR BOBOS
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Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin:
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Krastev, Ivan (2017b): Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur? In: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die grosse
Regression. Eine internationale Debatte über die geistige
Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 117–134.
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Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die grosse Regression.
Eine internationale Debatte über die geistige Situation
der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 149–174.
SOZIOLOGIEMAGAZIN
Soziologische Fragmente #1
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WIR BOBOS
ZU DEN AUTOR*INNEN:
Clemens Albrecht (geb. 1959), Professor
für Kultursoziologie an der Universität
Bonn; Waldorfschüler, verfügt über eine
selbstgestrickte Strickjacke aus selbstgesponnener Wolle; Forschungsprojekt
über „Urbane Esskulturen und integrative
Praktiken“; fährt einen Mercedes Diesel
(Schadstoffklasse Euro 6), aus einer Mischung von Klimaschutz, Sparsamkeit und
schwäbischer Identität; Lieblingssong: „I
fahr Daimler“ von Wolle Kriwanek.
bei jeder Lieferung wegen der schlechten
Bezahlung der Paketbot*innen zu schämen; findet unsere Leistungsgesellschaft
verwerflich, will aber trotzdem immer
die Beste sein.
Julian Hemmerich (geb. 1995), studiert
im Master Gesellschaften, Globalisierung
und Entwicklung an der Universität Bonn.
Geborener Karlsruher, vor süddeutscher
Spießigkeit ins Bobo-Paradies Köln geflohen, liest jetzt Marx auf seinem 3800 Euro
teuren Macbook.
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Nora Charlotte Bechheim (geb. 1996),
Lehramtsstudentin an der Universität
Bonn; stolzes Dorfkind, war Zeugin von
circa 15 Pferdegeburten, aber hat „noch zu
viel vor, um aufs Land zurückzuziehen“;
passionierte Fahrerin eines 20 Jahre alten
Kleinwagens, fährt deshalb lieber zwei
Mal „500 Miles“ Auto als in ein Flugzeug
zu steigen; in einer Mischung aus umweltbewusstem Konsumverhalten und
Opportunismus bezieht sie ihre Kleidung
hauptsächlich von Kleidertauschpartys und
lässt sich von ihrer Familie regelmäßig mit
selbst angebautem Gemüse und Milch von
der Nachbarskuh beschenken.
Susanne Bell (geb. 1996), Masterstudentin
Soziologie; vegan lebende Grünenwählerin
aus der tiefschwarzen Eifel; ehemalige
Klosterschülerin und Fan von Michael
Schmidt-Salomon; kauft am liebsten online
beim Bio-Fairtrade-Shop, um sich dann
Soziologische Fragmente #1
Anna Hörter (1994), studiert Politikwissenschaften im Master an der Universität
Bonn. Sie ist stolzes Großstadtkind, durfte
früher aber am Wochenende auf einem
Bauernhof im Matsch spielen. Sie fährt
eigentlich wahnsinnig gerne Auto. Benzingeruch an Tankstellen verbindet sie mit
Reisen und Freiheit – was sie aber niemals
zugeben würde. Seit neuestem ermöglicht
ihr eine ins Panische neigende Unsicherheit
in Flugzeugen, dem Bobo-Jetset-Leben zu
entsagen und aktiv das Klima zu schützen.
Sonst ist ihr Leben ein Spagat zwischen
Spielstätten klassischer und Szeneclubs
globaler Musik. Ihre glühende Verehrung
des volkstümlichen Kölschen Karnevals
rundet das Bild ab.
Philipp Jakobs (geb. 1993), Masterstudent
Soziologie; ist auf einem alten Bauernhof
aufgewachsen; hatte einmal fast ein Jahr
lang Dreadlocks; besitzt kein Auto, aber
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WIR BOBOS
kann bei Bedarf den Hybrid seiner Eltern
fahren; war schon im Alnatura einkaufen,
bevor es cool war (und bevor er selber
Miete zahlen musste…); leidenschaftlicher
Kritiker von Kapitalismus, Kulturindustrie und kompetenzorientierten Bildungsideologien.
Philipp Lehmann (geb. 1992), studiert
Politikwissenschaft im Master an der Universität Bonn. Ein Auto würde er ja niemals
fahren, schon gar keinen Mercedes! Ist stolzer Besitzer der großstädtisch-boboesken
Trias aus Rennrad, Schallplattenspieler und
Macbook. Hat daher ein latent schlechtes
Gewissen und hofft durch einen wohltemperierten Einschlag kölscher Dialekts über
seine prinzipielle Privilegiertheit hinwegtäuschen zu können.
und Soziologie); stolze Besitzerin eines
Fairphones; boykottiert Nestlé, nicht zuletzt wegen dessen an Ausbeutung grenzenden Umgang mit Mitarbeitern und
Bevölkerung in vielen Produktionsländern;
nutzt gerne ihren Amazon Prime-Account,
da die lästige Shoppingtour entfällt, die bestellte Ware häufig noch am selben Abend
wie von Zauberhand in den heimischen
Briefkasten wandert und so mehr Zeit für
altruistische Reflexionsleistungen bleibt.
An dem Beitrag haben folgende Redaktionsmitglieder in der Betreuung und im
Lektorat mitgearbeitet: Andreas Schulz
und Franziska Deutschmann.
Corvin Rick (geb. 1993), studiert Master
Soziologie an der Universität Bonn; passionierter Fußgänger und Vegetarier im
Geiste. Schon in der Schulzeit ein zahmer
Bücherwurm, distinguiert er sich gegen
das universitäre Bobomillieu durch die
prätentiöse Verwendung einer Kleinstadt-Gossensprache, die er immer schon
verachtet hat. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte sind evolutionäre Sozialtheorie und
Gewaltprozesse in nationalsozialistischen
Konzentrationslagern.
Sabine Sieverding (geb. 1987), Masterstudentin der Geschichtswissenschaft an der
Universität Bonn (Bachelor in Geschichte
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Soziologische Fragmente #1
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UND
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