Academia.eduAcademia.edu

Wir Bobos

2020, Wir Bobos. Zur Autoethnografie eines Sozialtyps

https://doi.org/10.5281/zenodo.3695330

In den letzten Jahren erfuhr ein bis dato blasser Sozialtypus eine ungewöhnliche Konjunktur in den Medien: der „Bobo“. Das Amalgam aus Bourgois und Bohemien wurde wahlweise oder gleichzeitig für die Gentrifizierung von Stadtteilen, die Verachtung des Proletariats, die blinde Zustimmung zur globalen Migrationsfreiheit, die neue soziale Spaltung, die Gleichberechtigung der Frauen, die Emanzipation unterdrückter Minderheiten und die Rettung des Planeten ebenso gehasst wie gefeiert. Mit dem Sozialtyp „Bobo“ sind wir gemeint: Wir, das Autorenkollektiv dieses Textes, wir, die Leserschaft sozialwissenschaftlicher Literatur, wir, die privilegierte, junge Bildungselite, fern zynischer Nihilismen und mit ungetrübtem Eifer zur Weltverbesserung. Oder? – Der vorliegende Text stellt sich der Aufgabe, materielle Kultur, Ideologie, soziale Praktiken und Beziehungsmuster der Bobos zu beschreiben und in einen größeren zeitdiagnostischen Kontext einzuordnen, die neue soziale Spaltung. Zur Methode wurde eine modifizierte Variante der Autoethnografie gewählt, die verwendeten Zitate sind folglich originär boboscher Herkunft. Die Art der Präsentation ist ebenfalls boboesk: essayistisch, ironisch und überspitzt. Der Text fasst die Arbeit eines Seminars zusammen und folgt der delphischen Inschrift: „Γνῶθι σεαυτόν“; erkenne dich selbst!

SOZIOLOGIE MAGAZIN Publizieren stat t archivieren #1 SOZIO LOG FRAGM ISCHE ENTE Wir Bobos. Soziologische Fragmente #1 | 2020 | www.soziologiemgazin.de Zur Autoethnographie eines Sozialtyps von Clemens Albrecht, Nora Bechheim, Susanne Bell, Julian Hemmerich, Anna Hörter, Philipp Jakobs, Philipp Lehmann, Corvin Rick, Sabine Sieverding Impressum HERAUSGEBER soziologiemagazin e.V. Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Soziologie Konradstraße 6 80801 München RECHTSSITZ: Halle (Saale) VEREINSVORSTAND (VISDPR) Andreas Schulz (Vorsitzender) Tamara Schwertel (stellv. Vorsitzende) Markus Kohlmeier (Finanzen) Tanja Strukelj Hendrik Erz Cathrin Mund [email protected] REDAKTION Andreas Schulz, Cathrin Mund, Daniel Bräunling, Franziska Deutschmann, Frederic Markus Gerdon, Hendrik Erz, Leonard Mach, Markus Kohlmeier, Marlene Müller-Brandeck, Nils Haacke, Tamara Schwertel, Tanja Strukelj, Tatiana Huppertz, Veronika Riedl FRAGEN BITTE AN [email protected] LAYOUT UND SATZ Veronika Riedl WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT Prof. Dr. Brigitte Aulenbacher, Prof. Dr. Birgit BlättelMink, Prof. Dr. Ulrich Bröckling, Prof. Dr. Aldo Haesler, Prof. Dr. Ernst von Kardorff, Prof. Dr. Hubert Knoblauch, Prof. Dr. em. Reinhard Kreckel, Prof. Dr. Thomas Kron, Dr. Diana Lindner, Prof. Dr. Kurt Mühler, Dr. Yvonne Niekrenz, Dipl. Sozialwirt Harald Ritzau, Dr. Cornelia Schadler, Dr. Imke Schmincke, Dr. Jasmin Siri, Dr. Irene Somm, Prof. Dr. Manfred Stock, Dr. Sylvia Terpe, Prof. Dr. PaulaIrene Villa, Prof. Dr. Georg Vobruba, Dr. Greta Wagner Das digitale Angebot finden Sie auf: www.soziologiemagazin.de Soziologische Fragmente #1 2020 © 2020 Dieses Werk steht unter der Creative Commons Lizenz Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Diese Lizenz erlaubt die Verbreitung, Speicherung, Vervielfältigung und Bearbeitung bei Verwendung der gleichen CC-BY-SA 4.0-Lizenz und unter Angabe der UrheberInnen, Rechte, Änderungen und verwendeten Lizenz. Dieses Paper steht zum kostenlosen Download bereit: https://doi.org/10.5281/zenodo.3695330 fragmente.soziologiemagazin.de WIR BOBOS Wir Bobos. Zur Autoethnographie eines Sozialtyps von Clemens Albrecht, Nora Bechheim, Susanne Bell, Julian Hemmerich, Anna Hörter, Philipp Jakobs, Philipp Lehmann, Corvin Rick, Sabine Sieverding 3 abstract In den letzten Jahren erfuhr ein bis dato blasser Sozialtypus eine ungewöhnliche Konjunktur in den Medien: der „Bobo“. Das Amalgam aus Bourgois und Bohemien wurde wahlweise oder gleichzeitig für die Gentrifizierung von Stadtteilen, die Verachtung des Proletariats, die blinde Zustimmung zur globalen Migrationsfreiheit, die neue soziale Spaltung, die Gleichberechtigung der Frauen, die Emanzipation unterdrückter Minderheiten und die Rettung des Planeten ebenso gehasst wie gefeiert. Mit dem Sozialtyp „Bobo“ sind wir gemeint: Wir, das Autorenkollektiv dieses Textes, wir, die Leserschaft sozialwissenschaftlicher Literatur, wir, die privilegierte, junge Bildungselite, fern zynischer Nihilismen und mit ungetrübtem Eifer zur Weltverbesserung. Oder? – Der vorliegende Text stellt sich der Aufgabe, materielle Kultur, Ideologie, soziale Praktiken und Beziehungsmuster der Bobos zu beschreiben und in einen größeren zeitdiagnostischen Kontext einzuordnen, die neue soziale Spaltung. Zur Methode wurde eine modifizierte Variante der Autoethnographie gewählt, die verwendeten Zitate sind folglich originär boboscher Herkunft. Die Art der Präsentation ist ebenfalls boboesk: essayistisch, ironisch und überspitz. Der Text fasst die Arbeit eines Seminars zusammen und folgt der delphischen Inschrift: „Γνῶθι σεαυτόν“; erkenne dich selbst! Schlagwörter Neue soziale Spaltung, Bobos, Autoethnographie SOZIOLOGIEMAGAZIN https://doi.org/10.5281/zenodo.3695330 Soziologische Fragmente #1 WIR BOBOS Die Bobos Als der Journalist David Brooks nach längerem Auslandsaufenthalt Mitte der 90er Jahre in seine Heimatstadt New York zurückkehrte, meinte er, eine eigentümliche Veränderung beobachten zu können: Alternative und Yuppies waren verschmolzen. 4 Für jemanden, der in den 70er Jahren aufgewachsen war, ist das eine verblüffende Beobachtung, denn die Alternativen waren linke Althippies. Nachdem ihre Hoffnungen auf die Revolutionierung der Gesellschaft durch Landkommune und universelle Liebe im ‚Age of Aquarius‘ zerronnen waren, beschnitten sie ihre Haare und Bärte und kehrten in die angesagten Viertel der Städte zurück, um als Vorhut der Gentrifizierung in sozialen oder künstlerischen Projekten mit dem Geldverdienen zu beginnen. Ihre Antipoden waren in der Regel ein paar Jahre jünger, und da es in Richtung Weltverbesserung neben den Hippies keinen Platz mehr gab, hatten sie sich auf die Selbstverbesserung konzentriert und als ‚young urban professionals‘ (Yuppies) ihre Outfits, Lifestyles und Karrieren optimiert. Beide Gruppen verschmolzen, als in die amerikanischen Städte eine neue Welle europäischen Lebensstils hineinschwappte, italienische Esskultur. In den Pizzerien und Straßencafés saßen sie nun friedlich an benachbarten Tischen: „It was now impossible Soziologische Fragmente #1 to tell an espresso-sipping artist from a cappuccino-gulping banker. And this wasn’t just a matter of fashion accessories. I found that if you investigated people’s attitudes toward sex, morality, leisure time, and work, it was getting harder to separate the antiestablishment renegade from the pro-establishment company man.“ (Brooks 2000: 10) Hier, so Brooks, sei eine Unterscheidung an ihr Ende gekommen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägend war – jene zwischen Bourgeoisie und Bohème: „The bourgeoisie were the square, practical ones. They defended tradition and middle-class morality. They worked for corporation, lived in suburbs, and went to church. Meanwhile, the bohemians were the free spirits who flouted conventions. They were the artists and the intellectuals – the hippies and the Beats.“ (Brooks 2000: 10) Als ökonomische Grundlage für diese Verschmelzung zweier Sozialtypen identifizierte Brooks die unzähligen Jobs, die im Umkreis der neuen Informationstechnologien Kreativität und Innovation mit den Gewinnchancen serieller Produktion verbanden: „The members of the new information age elite are bourgeois bohemians. Or, to take the first two letters of each word, they are Bobos.“ (Brooks 2000: 11) SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS " Der Bourgeois glaubte über alle Traditionen, über hergebrachte Moral und Spießertum hinaus an den Fortschritt, während der Bohémien über alle kultivierte Devianz hinaus auf Aufstieg und Anerkennung hoffte. So fanden Bourgeoisie und Bohème im Progressismus zueinander. Damit war ein Begriff entstanden, dessen soziologisches Erklärungspotential noch wenig erschlossen ist. Wenn Ideen und Kapital in immer schnelleren Innovationszyklen verschmelzen, können sie sich auch nicht mehr in sozial distinkten Schichten niederschlagen. Diese Trennung übernimmt das Lebensalter, indem jugendkulturelle Devianzen beim Älterwerden nicht abgelegt, sondern institutionalisiert werden: Computerspiele und Social Media als Geschäftsmodell. Oder, wenn erlaubt, Marihuana-Plätzchen. Damit beschleunigt und verregelmäßigt sich ein Mechanismus, der auch schon im 19. Jahrhundert Bourgeoisie, Bohème und Händler als Innovationstriade aneinandergebunden hatte. Der Bourgeois glaubte über alle Traditionen, über hergebrachte Moral und Spießertum hinaus an den Fortschritt, während der Bohémien über alle kultivierte Devianz hinaus auf Aufstieg und Anerkennung hoffte. So fanden Bourgeoisie und Bohème im Progressismus zueinander. SOZIOLOGIEMAGAZIN Der prekäre, aber kreative Bohémien erfindet einen Kunststil, wird von den Galeristen als Mediatoren in der Triade entdeckt und an die kunstliebende Bourgeoisie, an Sammler vermittelt, die ihr Geld anlegen möchte, indem er sich einen gewagten Akt (später: etwas Abstraktes, noch später: Popartiges) als Distinktionsmittel gegenüber anderen Bourgeois an die Wand hängt. Umgekehrt aber bedeutete Bohémien zu sein, einen risikobehafteten Weg zum Erfolg einzuschlagen, sozusagen die Eiger nordwand des sozialen Aufstiegs zu erklimmen (vgl. Albrecht 2004). Viele bleiben zurück – doch die Andy Warhols erreichen den Gipfel und setzen das Fundament für die Seilbahnen, die wenig später auch den kunsttouristischen Bourgeois heraufziehen. Die Gipfelstürmer aber sitzen nun im Kassenhäuschen. In jedem Bourgeois steckte schon immer die Sehnsucht, ein klein wenig verwegen, eben Bohème zu sein, in jedem Bohémien die Hoffnung, das Leben doch etwas bequemer und angenehmer und vor allem Soziologische Fragmente #1 5 WIR BOBOS " 6 Jugendkulturelle Devianzen übernehmen lebensphasengebunden die Bohème-Funktion und verspießern in wagniskapitalvermittelten Institutionalisierungserfolgen. anerkannter gestalten zu können. Das Bedürfnis, sich innerhalb der eigenen Gruppe so profilieren zu können, dass man den Prestigegewinn in einer gruppenfremden Kapitalart akkumuliert – als Bourgois in kulturellem, als Bohème in ökonomischem Kapital –, ist ein zuverlässiger Motor sozialer Innovation in der Moderne. Dieses, zuerst im Kunstsystem ausgebildete Muster hat sich seit der digitalen Revolution auf den technologiegetriebenen Kapitalismus übertragen. Jugendkulturelle Devianzen übernehmen lebensphasengebunden die Bohème-Funktion und verspießern in wagniskapitalvermittelten Institutionalisierungserfolgen. Von der App zum Milliardär: Steve Jobs und Marc Zuckerberg sind die Picassos und Warhols des beginnenden Jahrtausends. Ihre Fußtruppen und Nachahmer aber sammeln sich in den Universitätsstädten zu einem neuen Milieu: den Bobos. Jung, gebildet, links, trendig, global und ökologisch arbeiten sie an Lebensformen, die Kreativität und Karriere, Gesundheit und Moral, Engagement und Freizeit verbinden. Soziologische Fragmente #1 Autoethnographische Operationalisierung Wir gehören dazu! Auch wir sind Bobos. Da wir aber in Bonn Soziologie studieren, wollen wir verstehen, wer wir sind – und wer wir nicht sind. Also haben wir ein Semester lang in unserem eigenen Leben genauer hingeschaut, Feldforschung betrieben, Interviews mit Unseresgleichen geführt. Sie zeichnen das Porträt eines Milieus, das sich seit seiner ersten Beschreibung durch Brooks noch einmal deutlich verändert hat und im Vergleich zu den New Yorker Bobos lokalspezifische Besonderheiten aufweist. Gleichwohl bleiben wesentliche Grundzüge erhalten. Wie aber stellt man als Vertreter*in eines bestimmten Milieus, eines Sozialtyps, einer Form der Lebensführung methodisch kontrolliert Reflexionen über sich selbst an? Die autoethnographische Forschungsperspektive lieferte uns die nötigen Methoden, erfuhr in unserer Interpretation jedoch einige Abwandlungen, die im Folgenden anhand einer Betrachtung der phänomenalen Dimensionen des lebensweltlich ‚Vertrauten‘ und ‚Fremden‘ und den damit verbundenen forschungspraktischen Implikationen dargestellt werden: SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS ‚Eigenes‘ und ‚Anderes‘, ‚Vertrautes‘ und ‚Fremdes‘, so lautet ein weitgehender Konsens in der Forschungsliteratur, sind Relationsbegriffe: Der Grad der erlebten Fremdheit eines Gegenübers, ebenso wie der Grad der erlebten Vertrautheit eines Ortes, eines Nachbars, eines Rituals, ist abhängig vom bezogenen und zugeschriebenen Standpunkt, von der Positionalität des Erlebenden (vgl. Antweiler 2018) – und dennoch: Es scheint gewisse sozialisierte Trägheitsgewichte des Vertrauten und des Fremden zu geben, die nicht nur den Plausibilitätsgrund für die kompromisslose Ontologisierung beider Dimensionen in unterreflektierten Sozialtheorien liefern, sondern auch unbestreitbar die Perspektive der Beobachtenden beeinflussen: Das gewohnheitsmäßig Vertraute liegt behaglich verborgen unter dem Schleier der Selbstverständlichkeit, während das beunruhigend-faszinierende Fremde das intellektuelle Ordnungsbedürfnis herausfordert (vgl. Hahn 1997: 144ff.). Im deutschen Kontext sehen wir das Resultat dieser phänomenologischen Einordnung am Ungleichgewicht der sozialwissenschaftlichen Publikationen, einerseits zu der viel beforschten, schon fast mythologisierten „Neuen Rechten“, andererseits zum Milieu der Sozialwissenschaftler selbst, d.h. zu uns – zu uns wenig erforschten Bobos. Wie begegnet man methodisch dem Problem, dass durch die strukturelle Erkenntnisschwäche gegenüber dem Eigenen SOZIOLOGIEMAGAZIN bezeichnet wird? Nach Georg Simmel bezieht der Fremde als Sozialtypus eine privilegierte Reflexionsposition (vgl. Simmel 1983: 510). Arlie Russel Hochschild nutzt diesen Effekt als Werkzeug für ihre ethnographische Forschung, als sie ihre „journey into the heart oft the right“ (Hochschild 2016: 23) antritt, um die Anhänger der Tea Party zu untersuchen. Hochschildt nennt den zu diesem Zweck eingesetzten Kniff „[a] Keyhole Issue“ (Hochschild 2016: 21) und bezeichnet damit das aus der eigenen Perspektive aufscheinende ‚Great Paradox‘ in der Perspektive und den Handlungen der untersuchten Fremden. Hochschild muss den Verfremdungseffekt nicht erst herstellen, sondern nur kanalisieren, um ihn dann gezielt aufzulösen zu können, und visiert deshalb eine einzelne Paradoxie an: Verstehen zu lernen, warum die Bewohner des ländlichen Luisiana wie wenig andere Populationen unter den verheerenden Folgen der Umweltverschmutzung durch die petro-chemische Industrie leiden, gleichzeitig jedoch gegen staatliche Interventionen beim Umweltschutz stimmen. Weil es uns als Bobos hingegen nicht möglich ist, bei der Untersuchung von Bobos vorbehaltlos ‚in die Fremde‘ zu gehen, weil der Wahlspruch ‚going native‘ uns als Autoethnographen und -ethnographinnen zunächst absurd und tautologisch vorkommen muss, haben wir uns entschieden, das Hochschildt‘sche Instrument der ‚Keyhole Issues‘ zu erweitern und auf uns Soziologische Fragmente #1 7 WIR BOBOS " 8 Im Vertrauen auf die bedingte Relationalität von Vertrautheit und Fremdheit und die Exzentrizität unserer Positionen nahmen wir durch die systematische und angeleitete Beobachtung der eigenen ideologischen, materiellen, sozialen und praktischen Dispositionen und Paradoxien Distanz. praxeologische Paradoxien: Widersprüche zwischen der ideellen Wertnahme und den praktischen Handlungsvollzügen; ideologische Paradoxien: Widersprüche und Aporien innerhalb der Bobo-Ideologie. These zur vermuteten Paradoxie, einem Kernbestand an allgemeinen Fragen und einem Block von thesenspezifischen Fragen. Die jeweiligen Thesen entstanden aus der Lektüre der vorliegenden Forschungsliteratur (vgl. etwa Eribon 2016; Guilluy 2019; Mason 2017; Krastev 2017a; Krastev 2017b; Merkel 2017; Reckwitz 2019) sowie eigenen Beobachtungen. Sie folgen in ihrer Formulierung einem unorthodoxen methodischen Imperativ: Formuliere die Paradoxie so, dass die Betroffenen, d.h. Du selbst, irritiert werden. Denn Irritation erzeugt Reflexion, Reflexion erfordert Distanznahme und Distanz bewirkt den erzielten Verfremdungseffekt. Das methodisch gewollte Othering unserer Selbst, d.h. die iterrierte Entfremdung des „I“ vom „me“ und damit zwangsläufig die Transformation des bisherigen „self “ (vgl. Mead 1967: 182), macht ein reflexiv verfügbares Verstehen des prä-reflexiven Bobo-self erst möglich. Alle diese Paradoxien sind nach folgender Struktur formuliert: Sie bestehen aus einer Die allgemeinen Fragen richten sich dabei jeweils 1. auf den Wahrheitsgehalt der selbst anzuwenden. Im Vertrauen auf die bedingte Relationalität von Vertrautheit und Fremdheit und die Exzentrizität unserer Positionen nahmen wir durch die systematische und angeleitete Beobachtung der eigenen ideologischen, materiellen, sozialen und praktischen Dispositionen und Paradoxien Distanz: zur eigenen Person, zu unseren präferierten sozialen Gruppen, zu unserem inkorporierten Milieu und Lebensraum. Bei dieser Distanznahmen kristallisierten sich zwei übergeordnete Typen von ‚Keyhole Issues‘ heraus: 1) 2) Soziologische Fragmente #1 SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS These, 2. auf die Erlebniswirklichkeit der Paradoxie und 3. auf die Frage nach der Auflösung der Paradoxie. In unseren empirischen Untersuchungen, den Interviews und Feldprotokollen, besonders in der dominanten Dimension der Ideologie, wurden diese Paradoxien und die mit ihnen verbunden Fragen forschungsleitend. Sie sind in der Originalformulierung zur Verfremdung des Bobo-Blicks im Folgenden wiedergegebenen: 1. Globalisierungsparadoxie These: Bobos sind Profiteure der Globalisierung. Dennoch besteht eine Tendenz in den von Bobos präferierten Ideologien zur Ablehnung der wirtschaftlichen Globalisierung als Verantwortliche für Not und Hunger im ‚globalen Süden‘. Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Wie kommt es, dass die ideologische Interessenlage, d.h. die Ablehnung der wirtschaftlichen Globalisierung, der materiellen Interessenlage als Profiteure dieser Globalisierung entgegensteht? Wird die Paradoxie als Widerspruch empfunden? Wenn ja: wie wird er aufgelöst, ideell oder praktisch? 2. Nachhaltigkeitsparadoxie These: Bobos legen Wert auf nachhaltig angebaute und fair gehandelte Produkte und versuchen, lokale Händler zu unterstützen. SOZIOLOGIEMAGAZIN Gleichzeitig bestellen sie Ware bei Großkonzernen wie Zalando und Amazon, essen Brötchen aus der Supermarktbacktheke und kaufen günstige Klamotten bei Primark und H&M. Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Handelt es sich mehr um eine Einstellung bzw. Meinung oder äußert sich diese in Aktivismus und Umsetzung im Alltag? Wie kommt es, dass ein großer Bereich der alltäglichen Handlungen den eigenen ideologischen Überzeugungen zuwiderläuft? Wie kommt es, dass, entgegen dem materiellen Interesse, bedenkenlos günstige Waren kaufen zu können, ein ideelles Interesse an Nachhaltigkeit und Fairness besteht? Wird die Paradoxie als Widerspruch empfunden? Wie wird mit dem Widerspruch umgegangen? Wird er offen zugegeben oder verschwiegen? 3. Segregationsparadoxie These: Bobos wählen migrationsfreundliche Parteien, besuchen migrationsfreundliche Veranstaltungen, begrüßen Vielfalt und bekleben Universitätstoilletten mit ‚refugees welcome‘-Stickern. Lebensweltlich bewegen sie sich allerdings in einem bildungsintensiven, vornehmlich deutschstämmigen, relativ homogenen Milieu und tendieren spätestens nach Familiengründung zur Segregation in ökonomisch, kulturell und geographisch begrenzte Stadtteile. Soziologische Fragmente #1 9 WIR BOBOS 10 Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Wenn es nicht dem handlungsleitenden Interesse entspricht, ethnisch heterogene Wohngegenden und Freundeskreise zu etablieren, wie kommt es, dass die ideelle Interessenlage genau diese Pluralisierung fordert, dass die Migrationsfreundlichkeit als Bestandteil der Bobo-Ideenwelt einen zentralen Baustein des eigenen Identitätsbewusstseins bildet? Wird die Paradoxie als Widerspruch empfunden? Wenn ja: wie wird er aufgelöst, ideell oder praktisch? Wie geht das Milieu mit der Pluarlität von Einstellungen gegenüber Diversität um – also mit denjenigen, die diesen Idealen nicht entsprechen bzw. sich bewusst gegen sie wenden? 4. Identitätsparadoxie These: Die Bobo‘sche Selbstbeobachtung proklamiert den Konstruktionscharakter der eigenen, speziell der ‚nationalen‘ Identität und folgert daraus den ethischen Imperativ zum sukzessiven Abbau durch ständige Selbstreflexion und Öffnung zur (ebenfalls konstruierten) Fremdheit. Gleichzeitig gilt die kulturelle und religiöse Identität einwandernder und/oder außerhalb Europas lebender Gruppen als schützenswertes Gut und plurale Bereicherung mit dem Anspruch auf das institutionalisierte Recht zur freien Religionsausübung und damit zur Produktion und Reproduktion der Identität als essentielle Differenz. Soziologische Fragmente #1 Fragen: Ist das überhaupt der Fall? Wie kommt es, dass ‚Identität‘ in der Selbstbeobachtung als akzidentielle Konstruktion, in der Fremdbeobachtung jedoch als substantielle Tatsache wahrgenommen wird? Sozialpsychologisch formuliert: Weshalb wird der Eigengruppe das Recht auf Differenz abgesprochen, während es Fremdgruppen zugebilligt wird? Wo kommt diese Offenheit an ihre Grenzen (Menschenrechte, Frauenbeschneidung)? Was wird dann gegenüber demjenigen, der ‚die Grenzen der Toleranz überschreitet‘ als Forderung erhoben? Wird die Paradoxie als Widerspruch empfunden? Wenn ja: Wie wird sie aufgelöst, ideell oder praktisch? Mit diesen Leitfragen sind wir ins Feld gegangen – das heißt, haben einfach so weitergelebt wie bisher, aber reflexiver, beobachtender, diejenigen befragend, mit denen wir sonst zusammenleben. Wir haben uns in der Analyse auf vier Felder konzentriert, die in Arbeitsgruppen behandelt und erhoben wurden: Erstens interessierte uns die materielle Kultur der Bobos. Mit welchen Gegenständen statten sie ihre Behausungen aus, über welche Dinge verfügen sie im Alltag? Nach welchen Gesichtspunkten wählen sie diese Dinge aus? Pflegen sie zu ihnen eine besondere, bedeutungsbeladene Perspektive oder ein Ebay-Verhältnis: schnell gekauft, schnell wieder verramscht? SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS Zweitens wollten wir die zentralen Sinnund Bedeutungsmuster der Bobos erheben, distanzierend abgekürzt: ihre Ideologie. Welchen Ideen und Werten folgen sie in ihren Grundüberzeugungen und wie versuchen sie, diese zu leben? Drittens interessierten uns die sozialen Praktiken: Alltagsorganisation, Ernährungs- und Bewegungsmuster. Viertens schließlich wollten wir auch einen Blick auf die soziale Organisation (Beziehungsformen) der Bobos richten. Mit wem leben sie zusammen? Wie sind die Familienbeziehungen und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Freundschaftsbindungen? Oder leben sie die Unverbindlichkeit der punktuellen Bindungen an gemeinsame Interessen und Projektgruppen? Die Ergebnisse der autoethnographischen Beobachtungen und Interviews haben sich im Laufe des Semesters in 25 Feldprotokollen, acht Interviews, bislang fünf Seminararbeiten und einem autobiographischen Coming Out niedergeschlagen, in dem ein Seminarteilnehmer gestand, aus einem bildungsfernen Milieu zu stammen und deshalb eine Distanz zur Bobo-Welt bereits mitgebracht zu haben. Er bestand auf Anonymität. Alles dies ist Grundlage der folgenden Beschreibung, alle Zitate stammen aus diesen Interview- und Feldprotokollen und sind nicht einzeln belegt. SOZIOLOGIEMAGAZIN Materielle Kultur Die materielle Ausstattung und das Kaufverhalten der Bobos sind einerseits stark von den Idealen des Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutzes getragen, erfüllen andererseits aber auch eine Expressionsfunktion für Individualität und Ästhetik. Dass sich Bobos als Hybride aus kultureller Verwegenheit und statusmäßiger Gemütlichkeit begreifen lassen, wurde oben erläutert; nun zeigt sich ein weiterer Grenzgang des sozialen Mischwesens: Bobos sind Balancekünstler zwischen altruistisch-idealistischer und egozentriert-ästhetischer Lebensführung. Jeder Schritt, jedes gekaufte oder sonst wie erwirtschaftete Gut wird einer doppelten Wertprüfung unterzogen: Nach dem Maßstab des universal gefassten Utilitarismus und dem der ästhetischen Selbstverwirklichung. Bobos versuchen nicht nur eine Synthese aus Konsequenzialismus und Deontologie, sie versuchen auch eine möglichst ‚gute‘, d.h. möglichst einzigartige, verwegene, aber dennoch den Maßstäben des Herkunfts- und des Zielmilieus gerechte Figur zu machen. Dass die einzelnen Akteure angesichts dieses Seiltanzes jeweils unterschiedliche Balancetechniken wählen und mal stärker zur einen oder zur anderen Seite neigen, erklärt sich von selbst. Mit Blick auf die tatsächliche Performanz und die zugehörigen inneren Konflikte mit den eigenen Idealen lassen sich zwei distinkte Idealtypen konstruieren, die Soziologische Fragmente #1 11 WIR BOBOS " 12 Pragmatische Sparfüchse vermeiden Neukäufe und nutzen alle Möglichkeiten des Gebrauchterwerbs, des ‚Upcyclings‘ und des Selbstherstellens, sowohl um Ressourcen zu schonen als auch um Geld zu sparen. verschiedene Stile des Umgangs mit materiellen Gütern beschreiben. Neben den Selbstauskünften durch die Befragten stützt sich die Analyse insbesondere auf Beobachtungen, die die Interviewer*innen in den Wohnungen der Befragten gemacht haben. Die beiden Idealtypen unterscheiden sich vor allem durch die Höhe des finanziellen Aufwandes bei der Anschaffung ihrer Güter, ob aus Not oder Tugend geboren, muss hier offenbleiben, da keine entsprechenden Daten erhoben wurden. Pragmatische Sparfüchse vermeiden Neukäufe und nutzen alle Möglichkeiten des Gebrauchterwerbs, des ‚Upcyclings‘ und des Selbstherstellens, sowohl um Ressourcen zu schonen als auch um Geld zu sparen. Ästhetische Performer dagegen bestellen sich auch ein brandneues Möbelstück, das vom anderen Ende der Welt eingeschifft wird – aber natürlich nur, wenn es in bester Fairtrade-Manier und aus nachhaltig angebauten Rohstoffen hergestellt wurde. Die neuen Küchenmöbel eines der Autoren dieses Artikels stammen aus Indonesien und sind aus echtem Teakholz geschreinert – eine wahre Augenweide. Soziologische Fragmente #1 Wie bei jedem anderen Bobo folgt jedoch auch seine Ästhetik einer ideologischen Weichenstellung: Die Möbel kommen nicht vom Discounter oder aus einem der vielen kleinen exquisiten Designläden, sondern werden von einem Althippie vertrieben, dessen indonesisches Entwicklungsprojekt abgebrochene Holzhäuser aus Teakholz recycelt. Pragmatische Sparfüchse sind in SecondHand- und Trödelgeschäften, auf Flohmärkten und digital bei ‚Ebay-Kleinanzeigen‘ oder ‚Kleiderkreisel‘ anzutreffen, wo sie sich auf die teilweise mühsame Suche nach brauchbarer Ausstattung begeben und den höheren zeitlichen Aufwand auch dann hinnehmen, wenn sie im Vergleich zu billiger Neuware keine Ersparnis haben. Passend dazu ist die Wohnungseinrichtung der Pragmatiker brauchbar und etwas ausgefallen und wirkt mehr nach Wunderkammer als nach Gesamtkunstwerk. So findet man bei ihnen beispielsweise ein „selbstgebautes Sofa, welches aus Spanplatten und alten Paletten besteht“, neben einzeln gekaufter Second-Hand-Ware, wie einem Tisch und Stühlen aus Bast oder SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS " Ästhetische Performer dagegen bestellen sich auch ein brandneues Möbelstück, das vom anderen Ende der Welt eingeschifft wird – aber natürlich nur, wenn es in bester FairtradeManier und aus nachhaltig angebauten Rohstoffen hergestellt wurde. einem antik wirkenden Schrank. Ihre Garderobe wird von einer Befragten beschrieben als eine Mischung aus Second-Hand, hochwertigen Marken, HandmadeKleidung sowie H&M- Produkten, die noch aus ihrer Vor-Bobo-Zeit stammen. Durch stilvolle Anordnung und gezielte Einzelstückwahl können die Sparfüchse allerdings dem bloßen ‚Geschmack der Notwendigkeit‘ entgehen: So finden sich in einer Bobo-Wohnung „alte Kinosessel, eine große Ledercouch und Gegenstände wie eine alte Holzleiter wieder, auf der Blumenkästen und Bücher dekorativ platziert werden können“. Werden Sparfüchse anders nicht fündig, verschlägt es sie auch einmal in konventionelle Geschäfte, in denen sie nach günstiger Neuware Ausschau halten. Hier stellt sich ein Konflikt mit der Idee der Nachhaltigkeit ein, derzufolge Neukäufe grundsätzlich negativ zu bewerten sind und einen Rechtfertigungsdruck mit sich bringen. Kritische Situationen dieser Art bringen Sparfüchse dazu, an anderer Stelle Verzicht zu üben, beispielsweise beim Fleischkonsum oder der SOZIOLOGIEMAGAZIN Anzahl der Elektrogeräte, oder bei anderen, meist kleineren Käufen auf Kriterien der Nachhaltigkeit zu achten, um dem eigenen schlechten Gewissen sowie der sozialen Sanktion durch andere Bobos vorzubeugen. So versteckt ein Bobo gerne mal das brandneue Samsung Smartphone hinter einer schmucken Fair-Trade Hülle aus Kork. Insgesamt sehen sich pragmatische Sparfüchse aber in der angenehmen Situation, dass ihr egoistisches Motiv des Geldsparens gut mit altruistischen Motiven harmoniert und beides in der Nutzung alternativer Erwerbs- und Anschaffungsmöglichkeiten mündet. Pragmatische Sparfüchse zeichnen sich deshalb durch überraschend wenige Selbstvorwürfe und Rechtfertigungsgebärden aus. Für die ästhetischen Performer hingegen stellen begrenzte finanzielle Mittel keine oder eine zu vernachlässigende Einschränkung dar, und diese Freiheit nutzen sie auch für ihr Konsumverhalten, das von dem der Sparfüchse abweicht. Zwar findet sich auch bei den Performern punktuell Soziologische Fragmente #1 13 WIR BOBOS Gebrauchtware, diese stammt aber eher aus Geerbtem oder Antikwarenläden als vom Trödelmarkt und besitzt durch ihren Retrocharme einen ästhetischen Eigenwert, der dem Primat der Zweckmäßigkeit im Zimmer des Sparfuchses entgegensteht. Überhaupt legen die Performer deutlich mehr Wert auf eine innenarchitektonische Gesamtharmonie und ordnen tendenziell altruistische Motive den eigenen, auf Schönheit und hohe Funktionalität ausgerichteten egoistischen Motiven unter. 14 Ein Großteil der Einrichtung und Ausstattung der Performer ist daher neu und modern und zeugt nicht unbedingt von Verzicht oder persönlicher Einschränkung. Dies manifestiert sich beispielsweise in einer Küche mit „Softclose-Automatik“ und elektronischer Vollausstattung, die bestens auf die Zubereitung des gerade aktuellen „neue[n] Lieblingsgericht[s]“ hin ausgerichtet ist, in einem Fall etwa „ein Salat aus Kichererbsen, angebratenem Brokkoli, Blattsalaten, Avocado und Granatapfelkernen“. Neben der modernen Küche finden sich im empirischen Beispiel sowohl ein abgebeizter Kleiderschrank aus dem ehemaligen Kinderzimmer als auch ein antikes Tischchen vom Flohmarkt sowie ein geerbter goldgerahmter Spiegel. Zur kreativen Auflockerung bringen die Performer vereinzelt kunstvolle Gegenstände ein, wie „Teller und Schüsseln, die alle handgemacht und -bemalt sind mit weiß-blauen und auch bunten Ornamenten und ins Auge fallen“. Soziologische Fragmente #1 Insgesamt passen alle Teile trotz unterschiedlicher Herkunft irgendwie zusammen und verwirklichen die boboeske Ästhetik durch ein aufwendiges und individuelles Zusammensuchen der unterschiedlichen Einrichtungs- wie auch Bekleidungsgegenstände. Dabei vermischt sich der moderne Trend zur Schlichtheit mit Einzelstücken aus einer kunstvoll-verspielten vergangenen Zeit und den unterschiedlichsten Einflüssen anderer Kulturen: „Die Bobos mögen toskanisch geflieste Küchen, besitzen Antiquitäten aus der sogenannten Dritten Welt und kaufen High-Tech-Titan-Sportartikel“ außerdem favorisieren sie „aufwändig ausgearbeitete Eichendielenböden und Duschkabinen mit Schieferwänden“. Interessant ist bei den Performern ebenso wie bei den Sparfüchsen eine gewisse Abkehr von reiner Dekoration, die bis auf Bilder und Pflanzen kaum vorhanden ist. Stattdessen legt man Wert darauf, dass alltägliche Gebrauchsgegenstände passend zu ihrem – aus Bobo-Sicht hohen, wenn auch nicht monetär widergespiegelten – materiellen Wert ästhetisch und emotional aufgewertet werden. Die Performer fühlen sich durch die geringere Übereinstimmung mit dem asketischen Ideal des Bobos unter einem deutlich stärkeren Rechtfertigungszwang als die Sparfüchse. Als Bewältigungsstrategie können sie entweder die ideologiekonformen Einstellungen und die Selbstanklage in SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS materialisierter Form kommunizieren, etwa durch Sticker oder Postkarten an Haus- oder Kühlschranktür, oder aber sie betonen die Nachhaltigkeit und die hohe Qualität ihres Mobiliars, ihrer Kleidung, ihrer Kosmetik und ihrer Lebensmittel – eine Form monetärer Kompensation, die als unrechtmäßiges Privileg ausreichend Material für die boboeske Selbstgeißelung liefert. Ob sich Bobos als pragmatische Sparfüchse oder ästhetische Performer profilieren, hängt in unseren empirischen Beispielen stark mit den Einkommen der Personen zusammen, das überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, Performer zu sein. Weitere Effekte können für die Variablen Alter, Bildungsgrad sowie sozialer Status angenommen werden, mit denen die individuellen und sozialen Erwartungen an eine hochwertige und gefällige materielle Ausstattung steigen. Zwar mag es durchaus einige Bobos geben, die auch dann noch die Askese zelebrieren, doch ihre Zahl dürfte umgekehrt proportional zu diesen Variablen sinken. Ideologie Der Bourgeois-Bohémien ist ein Hybrid aus sehr unterschiedlichen Sozialpositionen, Überzeugungen und Lebensstilen. Sind Bobos einerseits politisch klar links eingestellt und lehnen entfremdende SOZIOLOGIEMAGAZIN Arbeit, ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse und andere Probleme der ‚kapitalistischen‘ Produktionsweise ab, so haben sie gleichzeitig zentrale Normen der ‚kapitalistischen‘ Lebensweise verinnerlicht: Lohnarbeit ist schon okay, muss eben nur partizipativ sein und auf flachen Hierarchien beruhen. Konsum ist auch nicht prinzipiell schlecht, sollte aber ‚bewusst‘ und ‚nachhaltig‘ ausgeübt werden. Weiß man, woher die Lebensmittel kommen oder geht man davon aus, dass die Übernachtungs- oder Mitfahrgelegenheiten von einfachen Privatleuten angeboten werden, dann kann Konsum sogar helfen, den Unterprivilegierten ihr Recht und gleichzeitig der eigenen Identität einen passgenauen Ausdruck zu verschaffen! Statt der Revolutionierung der Produktionsverhältnisse oder zumindest der Reform von Arbeitsbedingungen hat man sich vor allem der Optimierung seiner selbst verschrieben. Bobos sind nicht nur sportlich und achten auf körperliche Gesundheit, auch geistig sind sie hoch organisiert und pflegen eine möglichst effiziente Lebens- und Arbeitsweise. Inhaltlich lässt sich die Bobo-Ideologie auf zwei Dimensionen abbilden: Ökologie einerseits, Diversität andererseits. Die Ökologie-Ideologeme der Bobos variieren zwischen konsumkritischem Konsum von bestimmten Bio-/Regio-/Fairtrade-/„Ich-kenne-den-Schlachter-persönlich“-Produkten über den romantischen Soziologische Fragmente #1 15 WIR BOBOS 16 Traum des Selbstversorgertums, der sich weniger in den Entbehrungen einer autonomen Landkommune als in der Schrebergartenidylle mit Gemüse- und Kräuterbeet verwirklicht, bis hin zu einem subjektiven Gesundheits- und Wohlbefindensstreben, durch welches der eigene Vegetarismus oder Veganismus wahlweise begründet oder aufgegeben werden kann. Das Verhältnis der Bobos zur Natur ist durch romantisierende Vorstellungen geprägt, welche sich entsprechend der weit fortgeschrittenen Selbstdomestikation mehr in Balkonbepflanzung und modischer Haustierhaltung, denn in Trommel-, Bier- und Lagerfeuerabenden realisieren. Die ökologische Norm, die sich Bobos auferlegen, ist nur durch breites Wissen im eigenen Leben umsetzbar. Insofern beschäftigen sie sich viel mit ökologischen Themen, etwa welches Gemüse in der Region Saison hat und was hinter den verschiedenen Siegeln der Nutztierhaltung steckt, oder mit praktischen Techniken zur umweltbewussten Lebensgestaltung (Nähen, Containern, …). Im Sinne der Aufklärung, in deren Tradition man sich gerne selbst verortet, soll dieses Wissen auch an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen vermittelt werden. Denn von Kindesbeinen an sollte jedem bewusst sein: „Es gibt keine Alternative zu klimafreundlichem Verhalten“. Letzte Begründungsinstanz ist das durch Wissenschaft legitimierte Wissen der Klimaforschung: Soziologische Fragmente #1 So sei es „ein wissenschaftlich erwiesener Fakt, dass es sich beim Klimawandel um das ‚fundamentalste Problem‘ handle, das zudem höchste Dringlichkeit“ habe und dementsprechend sei es „Aufgabe der Wissenschaft, die Klimaaktivisten mit sachlicher Information, Forschungsergebnissen, Einschätzungen usw. in Hinsicht z.B. auf politische Forderungen zu unterstützen“. Vielleicht aufgrund der unterstellten Universalität wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sich bei Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit auch der größte Missionierungseifer der Bobos: Andere müssen von der Dringlichkeit eines veränderten Bewusstseins in diesen Dingen überzeugt werden. Die charakteristischen Spannungen der Ökologie-Ideologie zeigen sich als praxiologische Paradoxie insbesondere im Reiseverhalten. Da die Bobos tendenziell Kosmopoliten sind (beispielsweise eher „Europäerinnen“ als „Deutsche“, aber noch lieber „Globarier“), gehört das Reisen, auch in ferne Länder, zum integralen Bestandteil ihres Selbstbildes. Die (vermeintliche) Notwendigkeit, dafür ein so umweltschädliches Transportmittel wie das Flugzeug zu nehmen, führt zur typischen Paradoxie zwischen ideologischer und praxeologischer Ebene. Die Diversitäts-Dimension ist scheinbar weniger kultiviert oder wenigstens weniger ostentativ, dabei aber umso paradoxer in ihrer Grundstruktur. Sie entfaltet sich in SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS den protokollierten Gesprächen und Interviews insbesondere bei der Betrachtung von Religion und religiösen Gemeinden. Auch wenn der (meist christlich getaufte) Bobo, insoweit er mit dem Sozialökologischen Sinus-Milieu vergleichbar ist, eine „Passagenreligiosität“ pflegt, im Zuge derer, trotz aller Ferne zur Kirche im Alltag, bei individuellen Passageritualen (Taufe, Firmung/Konfirmation, Heirat etc.) und bei großen annualen Festen (Heiligabend, Ostern) doch die Kirche aufsucht (vgl. Ebertz 2013: 43f.), ist sein Weltbild in hohem Maße ‚entzaubert‘. Religiosität wird demgegenüber als unwissenschaftlich angesehen: Man ist „vernunftorientiert und der Glaube widerspricht der menschlichen Ratio“. Deshalb stehen Bobos auch religiös begründeten Normen der Kirche, etwa in Bezug auf gleichgeschlechtliche Ehe, Zölibat oder den Umgang mit bestimmten Berufen oder anderen Religionen, sehr kritisch gegenüber. Auch wenn „ja jeder glauben [kann] was er will“, werden religiöse Menschen zumindest im engeren Umfeld beargwöhnt. Als alternative Orientierungshilfen in der praktischen Lebensführung gelten den Bobos vor allem weltlich begründete Werte. Diese vertreten sie aber mit einem ähnlichen Universalitätsanspruch, wie ihn die christliche Kirche für ihre religiösen Werte erhebt: „Wir wünschen uns die größtmögliche Freiheit, uns zu entfalten: Sexismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung haben bei uns nichts zu suchen“. SOZIOLOGIEMAGAZIN Die andere Seite des „anything goes“ jedes Diversitäts-Weltbildes ist ein ausgeprägter Individualismus der Anhänger. Bobos bilden hier keine Ausnahme. Ihr ‚Individualismus‘ ist dabei nicht gleichbedeutend mit ideologischer, religiöser oder anderer Heterogenität. Vielmehr scheint das Umfeld der Bobos überwiegend aus Gleichgesinnten zu bestehen: Zur ebenfalls jungen Szene der Auto-Tuner am Nürburgring zeigten sich jedenfalls keine Verbindungen. Der gemeinte ‚Individualismus‘ äußert sich vor allem in einem „unternehmerischen Selbst“ (vgl. Bröckling 2007), also einer konkurrenzgetriebenen Diversitätsanforderung der Homogenen. Diese ideologische Paradoxie erzeugt eine typischen Bobo-Pathologie: Den ständig selbstreflexiven Bobos bleibt die Einsicht in die eigene Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit („Ich bin ein Öko-Schwein“) nicht verwehrt, woraus folgerichtig ein Drang zur Rechtfertigung entsteht, der beim Misslingen der Selbstoptimierung wächst. Zudem sehen sich Bobos häufig eingebettet in einer typischen Bobo-Wirtschaftsform: dem nachhaltigen Startup (gerne auch symbolisches Kapital akkumulierend als NGO) mit spezifischen Forderungen an die Leistung, die Verfügbarkeit und die Lebenszeit der Mitarbeiter – die kapitalistische Unterform der praxeologischen Paradoxie. Diese Mischung aus intrinsischen und extrinsischen Leistungsansprüchen trifft im Seeleninnenraum der Soziologische Fragmente #1 17 WIR BOBOS 18 hochbeanspruchten unternehmerischen Bobos auf eine überdurchschnittliche Kenntnis all jener Krankheiten, Neurosen und sonstiger Gesundheitsrisiken, die nach einer ‚Work-Life-Balance‘ rufen – ein weiterer Grund zur Selbstgeißelung und gleichzeitig Anlass für alle möglichen Kompensationsstrategien, von Yoga und Kombucha bis zu Partydemo und Festival. „Sozialökologische haben einen vergleichsweise hohen Anspruch an den eigenen Freundeskreis. Mit Jugendlichen, ‚die völlig anders drauf sind‘ als sie selbst, d.h. kein Interesse oder Verständnis für sozialökologische und kulturelle Themen mitbringen, hat man kaum etwas zu tun.“ (Calmbach et al. 2016: 148) Wichtig ist, dass all diese Faktoren nicht als ‚herrschende Verhältnisse‘ interpretiert werden, die das eigene Leben in einem inakzeptablen Maße bestimmen – sie erfahren im Gegenteil ihre Deutung im Sinnhorizont des Individualismus: „Ernährung, meinen Lebensstil etc. habe ich nicht für die anderen, sondern für mich. Ich fühle mich besser und kann deswegen besser denken.“ Diese Art von Identitätsperformanz äußert sich teilweise auch in einem starken Asketismus, dessen verbreitetste Formen wohl Vegetarismus und Veganismus sind – stellenweise mit großzügiger Auslegung und dennoch kontrolliert durch die innere Askese, die jeden unzulässigen Verstoß mit Schamgefühlen straft. Diese identitätsstiftende Bedeutung der Ideologie hat sich auch in unserer Forschung gezeigt. So hält ein Bobo die Frage, ob er Freunde in studentischen Verbindungen habe, für einen Scherz und sagt, „dass diese dann nicht seine Freunde sein könnten“. Für eine Interviewte ist die Feststellung, dass „vor allem Rechte“ behaupten würden, dass sie Deutschland „lieben“, ein valides Argument, es selbst nicht zu tun. Eine andere Bobo reflektiert sehr bewusst über die soziostrukturelle und ideologische Homogenität ihres Milieus und spricht sogar von einer paradoxen Selbstsegregation, die im Gegensatz zur Diversitätsdimension zu stehen scheint. Auffällig an der Bobo-Ideologie ist neben diesen inhaltlichen Aspekten vor allem ihre identitätsstützende Funktion. Diese zeigt sich bereits bei Jugendlichen als Konstituens von Vergemeinschaftungen, wie sich, wieder mit Hilfe des sozialökologischen Sinus-Milieus, beschreiben lässt: Soziologische Fragmente #1 Wie jede politische Ideologie weist auch die der Bobos einige Spannungen auf. Die soziale Welt ist eben nicht so eindeutig, wie es in den politischen Arenen oft scheinen mag. Wenn sich die Bobos als „links“ bezeichnen, bezieht sich das insofern eher auf einen modernen, selbstgebastelten Linksliberalismus mit stark ökologischem Einschlag und nicht so SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS sehr auf einen marxistisch inspirierten Sozialismus, wie er bei der „klassischen” Linken oft zu finden ist. Bei fast allen politischen und überhaupt normativen Stellungnahmen geht es den befragten Bobos in erster Linie um Ökologie, in zweiter Linie um Diversität – jedoch wird dabei nie die Systemfrage aufgeworfen: Wenn es parteipolitisches Engagement gibt, findet es sich bei den Grünen. Abgelehnt wird jede als diversitätsfeindlich eingestufte Ideologie. Verfochten werden hingegen Ansätze wie Feminismus oder Geflüchtetenaufnahme. Auch der „interreligiöse Dialog“ wird, all seinen theologischen und transzendent-religiösen Implikationen zum Trotz, positiv bewertet. Marxistische Ansätze sind sympathisch, ohne dass man sie sich zu eigen macht. Kapitalismuskritik wird eher positiv gesehen, manch einer hat sogar das „Kapital“ im Regal stehen. Man versucht auf individueller Ebene eine „Ausbeutung“ des globalen Südens zu umgehen. Verpönt ist, Produkte von „Müller, Mövenpick und Nestlé zu kaufen“, im Gegensatz zu den ökologischen Idealen wird dies jedoch nur selten in einen politischen Kontext gerückt. Kapitalismuskritik wird vor allem auf globaler Ebene geübt. Sie ist stets verknüpft mit einem Kosmopolitismus. Die „krassen Verlierer“ sind nicht in Deutschland, „sondern v.a. in Asien zu suchen“. Das macht natürlich revolutionäres Engagement SOZIOLOGIEMAGAZIN deutlich schwerer, als wenn die Probleme des Kapitalismus vor der eigenen Haustür betrachtet würden, erleichtert aber die Segregation von Berufsschülern oder Landjugend. Bobos profitieren von dem Status-Quo des Systems. Als Gruppe mit hohem kulturellen und – mindestens perspektivisch – mittlerem bis hohem ökonomischen Kapital, werden vor allem diversitäre und ökologische Ideale propagiert – jedoch nur selten ökonomische, die den Altruismus der eigenen Position in Frage stellen und die Ideale so delegitimieren könnten. Meritokratische Ideale werden zwar als Chancenbringer für alle Mitglieder der Gesellschaft befürwortet, bei der Begründung des eigenen Erfolges sind diese Ideale aber nicht ausschlaggebend, da sich Bobos häufig ihrer Privilegien bewusst sind. Aufgrund dieser Dissonanz zwischen eigener Lebenswirklichkeit und Idealbild sind manche Privilegien (nicht: fehlende Studiengebühren) mit Scham und Schuldgefühlen besetzt. Man ist „stark privilegiert“ und „nutzt dies“, aber immerhin ist man sich dessen „bewusst“ und „fühlt sich deswegen auch ab und zu schuldig“. Soziale Praktiken Wenn der ideologische Überbau das ist, wodurch sich junge Menschen gegenseitig als Bobos erkennen, dann ist die soziale Praxis die Dimension, innerhalb derer sich Soziologische Fragmente #1 19 WIR BOBOS " 20 Während die Hippies des vergangenen Jahrhunderts die dominierende Wirtschaftsund Arbeitsweise ablehnten, [...] haben die Bobos den Arbeitsrythmus der kapitalistischen Umwelt übernommen und genießen ihren wohlverdienten Feierabend vom Selbst- und Weltverbessern. die Ideologie-Praxis-Kohärenz des Bobos ablesen lässt. In unserer Untersuchung haben wir die sozialen Praktiken in vier Dimensionen unterteilt, anhand derer Interviews und Beobachtungsprotokolle strukturiert wurden. Dabei handelt es sich um den typischen Alltag der Person, ihre Freizeitbeschäftigungen, ihren Konsum sowie ihre Ernährungsgewohnheiten. Unabhängig von dem Grad der praktischen Umsetzung ideologischer Ansprüche fällt zunächst eines auf: Bobos trennen scharf zwischen Arbeits- und Freizeit. Nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub gelten teilweise ganz andere Regeln und Vorsätze als während der Arbeitszeit. Man gönnt sich dann grundsätzlich mehr, und selbst auferlegte Restriktionen werden weniger streng umgesetzt. Zwar nutzen Bobos häufig Bullet Journals und Organizer, unterwerfen sich einem Regime der Nahrungsmittelkontrolle, treiben regelmäßig Sport und informieren sich über das Tagesgeschehen – wenn jedoch das Wochenende, der späte Abend oder der Urlaub naht, dann werden die Habit Tracker Soziologische Fragmente #1 deaktiviert, die Speisevorschriften verlieren an Schärfe und die Tagesschau wird durch Netflix ersetzt. Diese Trennung zwischen Arbeit und Freizeit stellt einen großen Bruch mit den alternativen Vorgängern dar und charakterisiert die Bobos daher in besonderem Maße. Während die Hippies des vergangenen Jahrhunderts die dominierende Wirtschafts- und Arbeitsweise ablehnten und rund um die Uhr nach ihren eigenen Regeln und Idealen lebten, haben die Bobos den Arbeitsrythmus der kapitalistischen Umwelt übernommen und genießen ihren wohlverdienten Feierabend vom Selbst- und Weltverbessern. Hier lassen sich wiederum zwei Idealtypen beobachten, die sich nach der Priorisierung entweder der Arbeitspraktiken und Regeln oder der Freizeitgestaltung unterscheiden. Die einen strukturieren tendenziell auch ihre Freizeit nach Produktivitätskriterien, während andere ihren Arbeitstag mit Blick auf die ersehnte Freizeit bewältigen. SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS Die ehrgeizigen Selbstoptimierer, die ihrem Studium und/oder Beruf das Primat vor der davon unterschiedenen Freizeit einräumen, bilden den Grenzfall des einen Typus. Sie weisen ein hohes Maß an Strukturiertheit und Zeitmanagement auf und vermeiden ein bloßes „in-den-Tag-hineinLeben“. Teilweise ist die gesamte Woche, mindestens der Folgetag im Voraus geplant. So wird beispielsweise „das Frühstück […] am Vorabend vorbereitet, […], damit es über Nacht ziehen kann“ oder die Kleidung schon für den nächsten Tag bereitgelegt. Typisch ist zudem die Verwendung von Kalendern, Selbstoptimierungs-Apps und Organizern. Bullet-Journals scheinen hier besonders im Trend zu liegen. Sie liefern ein Toolset zur möglichst effektiven Arbeits- und Freizeitgestaltung, während sie ästhetisch als Ort kunstvoller Gestaltungmöglichkeiten und Kreativität dem individuellen Identitätsausdruck dienen. Sie sind Arbeitshilfe und Hobby zugleich – oder scharf formuliert: Bei den ehrgeizigen Selbstoptimierern gerät die bataillische ‚dépense improductive‘ unter ein prometheisches Alltagsregime. Dazu passt, dass Bobos dieses Typus „eigentlich gar nicht mehr“ exzessiv feiern gehen, jedenfalls wird auf „härteren Alkohol […] meistens verzichtet“ und „auch andere Drogen werden nicht konsumiert“. Stattdessen überwiegen durchweg ruhigere Freizeitbeschäftigungen wie Treffen in Cafés, Kinobesuche und Spieleabende. SOZIOLOGIEMAGAZIN Ein ruhiger Kneipenabend mit gemeinsamem Bier ist unter den Selbstoptimierern schon eher die Ausnahme. Zu beobachten ist regelmäßiges Sporttreiben, entweder einzeln oder in Yoga-, Fitness- oder Schwimmgruppen. Dabei ist die sportliche Betätigung vorrangig auf Gesundheit und Fitness ausgerichtet. Wettkampfsportarten beziehungsweise eine wettkampfmäßige Orientierung haben wir nicht beobachtet. Die Selbstoptimierer können Sport allerdings auch ohne Wettkampf mit hohem Aufwand betreiben: „Es ist ihm wichtig, dass er 5-6 Mal die Woche Sport macht.“ Ein wichtiger Markstein der Freizeitgestaltung sind Urlaubsreisen, gerne auch in exotische Gebiete. Allerdings wird nach eigenem Bekunden darauf geachtet, eher kurze Strecken auszuwählen, vermehrt den Zug statt das Flugzeug zu nehmen oder die Flüge über entsprechende Plattformen finanziell zu kompensieren. Darin lassen sich unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien erkennen, die die Flugscham der auch in ökologischer Hinsicht anspruchsvollen Selbstoptimierer auf ein erträgliches Maß senken sollen. Nur eine der Interviewten verzichtet ganz auf regelmäßige Flugreisen und die davon versprochene Horizonterweiterung. Dennoch ist auffällig, dass die Selbstoptimierer die Ideologie der ökologischen Nachhaltigkeit besonders häufig und konsequent dort in die Praxis umsetzen, wo dies mit ökonomischen Vorteilen einhergeht – bei Kleidung und Soziologische Fragmente #1 21 WIR BOBOS Büchern (momox), oder bei der Wahl der Fortbewegungsmittel (car sharing). 22 Auch insgesamt entsteht der Eindruck, dass ökonomische Aspekte eine wesentliche Rolle bei der Erklärung von Differenzen zwischen ideologischem Anspruch und praktischer Umsetzung spielen. Beim Thema Essen wird öfter entschuldigend auf beschränkte finanzielle Mittel hingewiesen. Die Bio-Margarine für drei Euro pro 500 Gramm, die verpackungsfreien Nudeln für fünf Euro pro 500 Gramm, die Fairtrade-Jeans für 100 Euro und dann auch noch die Zugfahrt nach Portugal für mehrere hundert Euro statt des Billigflugs für 19,99 Euro – die lebensstilerzeugte Bobo-Inflation ist höher als das studentische Einkommen. Wie praktisch, dass der Vorzeige-Bobo geradezu unendlich viele Konsumkriterien kennt, von denen er immer eines auswählen kann, um anderweitige Versäumnisse auszugleichen. So lässt sich etwa ein Einkauf im Discounter durch eine Reduktion des Verpackungsmülls substituieren, die Produktion von Verpackungsmüll durch eine Einschränkung des Fleischkonsums, Fleischkonsum durch Bevorzugung regionaler Lebensmittel. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Gemein ist all diesen Strategien, dass sie geeignet sind, den Hiatus zwischen Ideologie und sozialer Praxis kasuistisch zu überbrücken. Die kontrollierten Hedonisten bilden den Gegentypus zum Selbstoptimierer. Sie Soziologische Fragmente #1 räumen der Freizeit ein Primat vor der Arbeit oder dem Studium ein, sodass eher Freizeitpraktiken in die Arbeitswelt migrieren, als dass Optimierungsinstrumente die Freizeit kolonialisieren. Der Tagesablauf der kontrollierten Hedonisten ist auch zu Arbeitszeiten eher gering strukturiert. Statt gewissenhaft geführter Bullet-Journals finden sich hier eher unordentliche ToDo-Listen mit Aufgaben, „die er schon einmal oder auch häufiger vergessen hat und die jetzt wirklich dringend sind“. Dieses geringere Maß an Planung dient als gefühlter Freiheitsgewinn. Das heißt aber keineswegs, dass Hedonisten weniger Zeit oder Ressourcen in Arbeit investieren. So stehen die Befragten beispielsweise in Vollzeit für ihre Masterarbeit im Labor oder besetzen neben ihrem Studium ein hochschulpolitisches Amt. Der große Unterschied zu den Selbstoptimierern ist nicht die zeitliche Priorisierung, sondern die gedankliche. Für einen der Hedonisten besteht beispielsweise „kein Interesse an einem Job, für den er sich aufopfern muss“. Während Selbstoptimierer sich noch in ihrer Freizeit den Kopf über Arbeitsprobleme zerbrechen, malen sich Hedonisten schon während ihrer Arbeitszeit die nächste Freizeitgestaltung aus. Die Freizeit wird entspannt und ungeplant angegangen. Am Wochenende „schläft sie dann meistens aus und trifft SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS sich anschließend mit Freunden“. Hobbies spielen für Hedonisten eine größere Rolle als für Selbstoptimierer und werden mit mehr Zeitaufwand verfolgt. Die Art der Freizeitgestaltung ist jedoch sehr ähnlich zu der der Selbstoptimierer, denn auch Hedonisten üben bevorzugt ruhigere Freizeitbeschäftigungen wie Lesen, Schwimmen, Stricken oder gemeinsames Kochen mit Freunden aus. Für lästige Freizeitbeschäftigungen fehlt den Hedonisten häufig die Disziplin, beispielsweise „nimmt [er] sich oft vor Sport zu machen, setzt dies aber eher selten um“. Auf Vorträgen und Filmvorführungen zu Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda, Gendergerechtigkeit in Indien oder solidarischer Landwirtschaft in Bonn-Lessenich-Meßdorf vermischen sich Hedonisten manchmal mit Selbstoptimierern, sie tragen dann aber weniger zur Diskussion bei, weil sie sich in ihrer Freizeit lieber Netflix-Serien und unterhaltungsorientierte YouTube-Videos statt Nachrichten und Dokus ansehen. Der bisher beschriebene, eher gemütliche Laissez-Faire-Performanztypus, der wie die Selbstoptimierer „eigentlich nicht wirklich feiern“ geht, könnte bei einer dichteren Datenmenge um einen deutlich exzessiveren Party-Performanztypus ergänzt werden. Bobos dieses Typs nehmen in ihrer Freizeit „noch ein wenig lädiert vom letzten Abend“, sobald sie „wieder geradeaus laufen“ könen, an einem Demonstrationszug teil und lassen SOZIOLOGIEMAGAZIN die ekstatischen Katharsiserfahrungen dann bei einer freundschaftlich geteilten Zigarette mit „aus Bobo-Sicht unerfindlichen Gründen verbotenen Substanzen“ Revue passieren. Allgemein sind hier regelmäßige Festivalbesuche, ausgesuchter und exzessiver Musikkonsum und rauschhaft verbrachte Wochenenden zu erwarten. Auch beim Einkauf von Essen, Kleidung, Elektronik und Ähnlichem setzen sich Hedonisten keine strengen Regeln, sondern richten die jeweiligen Konsumentscheidungen stärker nach ihren individuellen Bedürfnissen als nach ideologischen Vorgaben aus. Zwar werden vereinzelte Aspekte nachhaltigen Konsums beachtet, aber insgesamt kaufen sie ihr Essen eher im Discounter, um mehr Geld für Reisen zu haben, Kleidung suchen sie weitgehend wahllos aus und gönnen sich öfter mal ein brandneues Handy, auch wenn das alte noch nicht kaputt ist. Bei der Ernährung achten Hedonisten wenig auf Gesundheit und ökologische Aspekte, teils aus fehlendem Interesse, teils aus fehlenden Geld- und Zeitressourcen. Das Abendessen wird hier auch schon mal durch Chips und Bier ersetzt, was für Selbstoptimierer ein absolutes No-Go wäre, selbst wenn beides regional, bio und in Mehrwegverpackung daherkäme. Allerdings ist Fleisch ein Thema, mit dem sich auch die interviewten Hedonisten auseinandersetzen und bei dem sie zumindest graduell Verzicht üben. Soziologische Fragmente #1 23 WIR BOBOS 24 Bei einer Gesamtbetrachtung aller untersuchten Bobos zum Thema Verzicht, der zumindest in der Öffentlichkeit vielfach gefordert wird, aber bekanntlich schwerer fällt als der bloße Umstieg auf eine nachhaltigere Variante des Konsumguts, zeigt sich ein interessanter Unterschied. Zehn von dreizehn dazu befragten Bobos schränken der Umwelt, Tieren und/ oder der eigenen Gesundheit zuliebe ihren Konsum tierischer Lebensmittel ein, sechs der Untersuchten leben sogar komplett vegetarisch oder vegan. Während in diesem Bereich also tatsächlich mehrheitlich ein gewisser Verzicht geübt wird, sieht das bei Flugreisen anders aus. Nur sieben von vierzehn Bobos, die sich zu ihrem Reiseverhalten geäußert haben, verzichten zumindest teilweise auf das Fliegen, die restlichen sieben schränken ihr Flugverhalten nicht nennenswert ein und fliegen mehrmals pro Jahr. Vier dieser sieben Bobos ergänzen diese Aussage proaktiv mit Rechtfertigungen für ihr umweltschädliches Verhalten. Im Allgemeinen werden hier deutlich stärker systemische Strukturen beschuldigt, umweltfreundliches Verhalten zu behindern, als beim Fleischverzicht. Gerade mit Blick auf diese Erklärungen, Ausreden und Rechtfertigungen demonstrieren die beiden Bobotypen unterschiedliche praxeologische Paradoxien. Die Hedonisten fallen dadurch auf, dass sie weitaus weniger Rechtfertigungsdrang Soziologische Fragmente #1 für ihr ideologieinkohärentes Verhalten verspüren als Selbstoptimierer, obwohl sie mitunter erheblich stärker von ihren Idealen abweichen. Während sich Selbstoptimierer selbst für kleine ‚Vergehen‘ unter einem Rechtfertigungsdruck sehen, scheint bei den Hedonisten auch ein Interkontinentalflug keine echte Reue hervorzurufen. Während Hedonisten über sich und ihr ideologieinkonsistentes Verhalten lachen können, formuliert eine ehrgeizige Selbstoptimiererin in einer einzigen Bemerkung das permanent schlechte Gewissen: „Sofort stellt sie jedoch klar, dass sie Chips nur am Wochenende isst, da am Wochenende Freizeit ist und man sich gehen lassen kann“. Die Trennung von Arbeit und Freizeit scheint also auch eine Art Bewältigungsmechanismus für die hohen Ansprüche zu sein, die Selbstoptimierer gleich zweifach belasten; denn die Arbeit an einer besseren Welt ist ebenso Leistungsantrieb wie Visitenkarte des persönlichen Erfolgs. Soziale Organisation Die Ideologie ist die Basis für soziale Interaktion und Organisation. Bobo-Beziehungen beruhen auf freundlicher, dem Gegenüber zugewandter Kommunikation. Wesentliche Voraussetzung zur Integration Neuer in die eigenen Kreise bzw. Ausweitung des eigenen Netzwerks aus Bekanntschaften ist die Begegnung an SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS bobotypischen Orten. Hier, auf dem Vintage-Flohmarkt, im veganen Szenecafé, auf dem lateinamerikanischen Streetfoodfestival, aber auch im Yoga-Studio oder beim WG-Fest, überschneiden sich die verschiedenen sozialen Kreise der Bobos. Insgesamt zeichnet sich das Milieu der Bobos aber durch eine starke Homogenität und soziale Geschlossenheit aus. Bobos sind zwar Meister oberflächlicher Interaktionen, ihr Fokus liegt jedoch eher auf den bestehenden Beziehungen. Zur Integration in einen Bobo-Kreis bedarf es der Überzeugung bestehender Mitglieder, dass Neuankömmlinge verantwortungsbewusst sind und ein integeres, ehrliches Verhalten an den Tag legen. Authentizität und bobokonformer Individualismus spielen dabei eine besondere Rolle: Bobos wollen so, wie sie auftreten, auch wahrgenommen werden: als Personen, und nicht auf Herkunft, Position, Job, Verein Studienfach oder Beruf reduziert. In ihren engeren sozialen Beziehungsformen sind Bobos zunächst unauffällig: Sie wohnen mit mehr oder weniger guten Freunden und Bekannten in Wohngemeinschaften, sie teilen sich mit ihrem Partner eine Wohnung, manche sind verheiratet oder haben Kinder, einige Bobos gehen solo durchs Leben. Allerdings wurde wiederholt deutlich, dass Bobos die Frage nach der gelungensten oder sinnvollsten Beziehungsform sehr beschäftigt und sie kontrovers darüber nachdenken, SOZIOLOGIEMAGAZIN welche sie aus welchen Gründen präferieren. Deshalb haben wir uns besonders gefragt, welche allgemeinen Werthaltungen Bobos bezüglich Partnerschaften vertreten und wie sie diese (aus-)leben. Es ist auffallend, dass die große Mehrheit der Befragten in ihren Beziehungen nicht selbstverständlich und unreflektiert einem bestimmten Beziehungskonzept folgt, sondern zu irgendeinem Zeitpunkt, z.B. weil Bekannte ihre Beziehung geöffnet haben, „schon mal darüber gesprochen“, sich „gemeinsam entschieden“ oder „sich arrangiert“ haben. Ein Bobo-Pärchen zog sogar Literatur zu Rate, um potenzielle Beziehungskonflikte in der neuerdings geöffneten Beziehung „vorher gemeinsam zu durchsprechen“. Eine „offenere und ausgefeiltere Kommunikation“, das „rechtzeitige Kommunizieren seiner Gefühle und Gedanken“ und Aushandlungsprozesse über Wünsche und Bedürfnisse des Partners wurden darüber hinaus betont, besonders bei den Bobos, die in einer offenen Beziehung leben oder gelebt haben. Viele Bobos haben sich gegen eine polygame Beziehungsform entschieden. Ihre Begründungen sind vielfältig und reichen von der nicht verspürten ‚Not‘, andere erotische Erfahrungen zu machen, über die befürchtete Überforderung („Ich bin ja schon manchmal mit einem Partner überfordert“) hin zum Wunsch, dem Partner zu genügen, wenn man selbst „emotional stark involviert“ ist. Soziologische Fragmente #1 25 WIR BOBOS Polygam lebende Bobos grenzen sich von diesen Äußerungen ab. Bei ihnen ist Sexualität und Intimität entkoppelt, und diese eher mit Emotionalität verbunden. Dem Treuekonzept, das monogame Paare verfolgen, wird wiederholt Unehrlichkeit unterstellt: „Monogame schützen ihre Beziehung davor, dass der andere jemand ‚cooleren‘ findet, indem sie Mauern errichten“. Polygame Partner dagegen führten eine ehrlichere Beziehung, da sie, ‚informiert‘ und anderer Optionen bewusst, trotzdem beieinanderblieben: unersetzlich zu bleiben“. Damit geht das Vertrauen einher, dass man sich auf den Partner verlassen und für die Zukunft planen kann, weil die Partnerschaft dauerhaft ist. Liebesbeweise knüpfen sich also bei polygamen Bobos nicht an sexuelle Treue, „die kein notwendiger Bestandteil einer Liebesbeziehung [ist]“, wie auch ein bisher nicht polygam lebender Bobo formuliert, sondern an emotionale Treue. Polyamorie wird von den meisten Befragten ausgeschlossen, obgleich sie die Vielfalt sexueller Orientierungen ausdrücklich befürworten. Sie selbst aber brauchen Planungssicherheit: „Letzten Endes bedeutet Partnerschaft Aufmerksamkeit, dass man viel für einen da ist und man Dinge teilt. Das ist anstrengend und energieaufwendig. Ich glaub’ nicht, dass ich das [mit mehreren] könnte.“ Insbesondere die männlichen Befragten, die in offenen Beziehungen leben, befürchten die Unvereinbarkeit von der gewünschten Planungssicherheit mit mehreren gleichberechtigten Partnerschaften: „Jetzt ist alles einfacher, denn ich bin Student. Aber vielleicht hab’ ich auch Angst vor’m Alter, denn dann will ich doch jemanden, auf den man sich bis zum Tod verlassen kann.“ Durch rechtliche Rahmenbedingungen würde dieses Problem verstärkt: „Mit wem kaufst du zuerst ein Haus? Mit wem bekommst du (zuerst) Kinder? Mit wem schließt du Verträge ab? Wen heiratest du?“ Eine Interviewte, die schon einmal in einer polygamen Beziehung gelebt hat und diese als für sie beste Beziehungsform ansieht, baut ihr Liebeskonzept auf den „dann doch romantisch[en]“ Wunsch, egal mit wie vielen Partnern sie sexuell verkehre, „auf emotionaler Ebene dann doch für [e]inen Partner Hier zeigt sich, dass nicht nur diejenigen, die eine konventionelle Partnerschaft führen, sondern auch diejenigen, die sich bohémien von der gängigen Norm absetzen, einer traditionellen und romantischen Liebesideologie folgen. Die Liebeskonzepte der Bobos richten sich auch auf die 26 „Es gibt mir nichts, dass jemand bei mir ist und bleibt, weil er nichts anderes und niemand anderen darf, weil es keine Alternativen gibt. Es ist doch toll, wenn mein Partner viele Alternativen hat und am Ende des Tages doch zu mir zurückkommt.“ Soziologische Fragmente #1 SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS „Versprechen, die die traditionelle Institution [Ehe] den Menschen machte: Vertrauen, Liebe, gegenseitiges Verständnis, gemeinsame Arbeit, persönliche Erfüllung und Selbstverwirklichung – und all dies angelegt auf Dauer.“ (Schlaffer 2011: 9) Besonders die Ausführungen der Befragten zu emotionaler Exklusivität, Vertrauen und Treue sowie der immensen Bedeutung gemeinsamer Aushandlungsprozesse lassen sich auf den aufklärerischen Liebesbegriff des 18. Jahrhunderts zurückführen. Besondere Aufmerksamkeit erhält die völlige, ungeteilte und innige Hingabe an die Persönlichkeit des Partners, das Entdecken seiner eigenen Unverwechselbarkeit in dem anderen und der daraus gerechtfertigte Exklusivitätsanspruch, den eine solche Partnerschaft für sich einfordert (vgl. Schlaffer 2011). Auch der romantische Liebesbegriff mit der Erwartung ‚höchsten Glücks‘, die der Mensch nur durch seine einzigartige Vervollkommnung erfährt, verleiht dem Partner große Relevanz. Bobos, auch die polygamen unter ihnen, erwarten dies mindestens emotional und planerisch. Das daraus resultierende Verständnis von Treue als „(1) Folge- und Hilfsbereitschaft (2) mit Ausschließlichkeitscharakter (3) auf Dauer“ (Burkart 1997: 195) entspricht ebenso traditionellen Ansichten, die besonders (aber nicht nur) von den monogam lebenden Befragten geteilt werden. SOZIOLOGIEMAGAZIN Der Kommunikation und dem konkreten Aushandlungsprozess, der die egalitäre, einvernehmliche Vereinbarung stabilisieren soll, werden große Bedeutung zugesprochen. Typische Bobo-Partnerschaften entsprechen dem, was Hannelore Schlaffer als intellektuelle Ehe beschrieben hat, bei der „die Formen des Zusammenlebens einem eigenen, rational begründbaren Entwurf folgen“ (Schlaffer 2011: 8) und die auf Absprachen beruht, die die Dauerhaftigkeit der Beziehung sichern sollen. Schlaffer verweist hier explizit auf die intellektuelle Ehe als eine Beziehung, in der sich ihre Dauer „mit der Freiheit zur Untreue paart […] [und] in der die individuelle Zuneigung mit der Leidenschaft zu einem weiteren Partner übereinkommen soll“ (Schlaffer 2011: 10). Es zeigt sich, dass Bobos in der Liebe einer Bohème-Ideologie folgen, die in der sozialen Praxis zumindest latent bourgeois ist. Damit sind sie im doppelten Sinne Konventionalisten. Zum einen ist die Praxis der Bobos konventionell (Individualitätsparadoxie), sind die meisten Bobo-Beziehungen trotz der Offenheitsheitsideologie geschlossen und man hat sich einem romantischen Liebesideal verschrieben. Offene Beziehungen stellen eher die Ausnahme unter Bobos dar. Polyamoröse Beziehungen sind in der Erhebung nicht vorhanden. Soziologische Fragmente #1 27 WIR BOBOS " Es zeigt sich, dass Bobos in der Liebe einer BohèmeIdeologie folgen, die in der sozialen Praxis zumindest latent bourgeois ist. Damit sind sie im doppelten Sinne Konventionalisten. 28 Zum anderen sind der von der Avantgarde propagierte Pluralismus und ihre nonkonformistische Idee einer Intellektualisierung der Ehe zur Konvention geworden (vgl. Schlaffer 2011: 11). Für Bobos ist es nicht möglich, Individualismus und die Forderung nach Autonomie und Freiheit zu verneinen, ohne damit wenigstens Befremdung hervorzurufen. So ist allen Interviewten gemein, dass sie schon gelegentlich über unterschiedliche Beziehungsformen nachgedacht haben und ihrer Meinung nach jede Beziehungsform eine Berechtigung hätte. Es wird wiederholt betont, unabhängig von eigenen Präferenzen keine Beziehungsform diskreditieren oder in einem allgemeinen Zusammenhang bewerten zu wollen. Darüber hinaus stellt das romantische Ideal der Liebe weiterhin die Wertekonvention unter den Bobos dar. Monogame Bobos verschreiben sich ihr gänzlich, polygame Soziologische Fragmente #1 Bobos deuten ihre Implikationen um, bekräftigen damit aber romantische Ideale. Bobos sind im anti-traditionalen Affekt konventionell, indem sie gleichzeitig die Inhalte der Tradition – Planungssicherheit und emotionale Treue – über reflektierte Individualität in ihre Liebesbeziehungen reintegrieren. Bobos im Kontext Diese autoethnographischen Befunde zeigen, dass man berechtigt darüber streiten kann, ob die Bobos eine neue Elite, gar ein Establishment bilden, zumal viele von ihnen von prekären Jobs in einer bewusst minimalistischen, materiellen Umwelt leben und sich der Konsumgesellschaft und deren Statussymbolen möglichst entziehen. Aber sicher ist zu bestätigen, was schon Brooks als Ergebnis seiner „humoristic sociology“ formuliert hatte: „As we turn around and look back at the range of Bobo manners and morals, we find a bit that’s risible, a bit that is too precious by half, but a lot that is wonderful. Bobos have begun to create a set of standards and morals that work in the new century. It’s good to live in a Bobo world.“ (Brooks 2000: 271) Mit den Bobos hat sich ein Ideal westlicher Gesellschaften realisiert. Nie ist eine Elite beobachtet worden, deren soziale Stellung SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS so von individueller Leistung abhängt, nie war sie sozial offener für den Aufstieg durch Bildung, und nie hat sich ein Lebensstil etabliert, der so sympathisch und locker, so empfindsam gegenüber Mitmenschen und verantwortungsbewusst gegenüber Geschichte und Umwelt ist. Bobos realisieren das Gute Leben. Wenn man sie beobachtet, wie sie in ihren Straßencafés sitzen und ihre persönlichen Probleme zugleich mit denen der Welt diskutieren, wenn sie, älter geworden und paarweise, an den Samstagen auf die Wochenmärkte gehen, um sich mit Bio-Gemüse und erlesenen südfranzösischen Käsesorten einzudecken und dabei entspannt mit Freunden plaudern, bevor sie in ihre renovierten Fachwerkhäuser oder Altbauwohnungen zurückkehren – dann wird die hohe Attraktivität dieses neubürgerlichen Lebensstils plausibel, in dem amerikanischer Konsum und busyness mit südeuropäischer Lebensart und nordeuropäischer Verantwortungsmoral verschmolzen sind. In den Städten des nordamerikanischen Kontinents und Europas ist nach den Weltkriegen ein western style of life entstanden, und vielleicht hat er den Kampf der politischen Systeme Ende der 80er Jahre entschieden und bildet heute, medial in die Welt getragen, jenseits aller Entwicklungs- und Modernisierungserwartungen den Hoffnungshorizont für das individuelle Leben von Millionen. Und doch: Seit der Jahrtausendwende hat sich vieles verändert. Der Politikstil SOZIOLOGIEMAGAZIN des „Beyondism“, den Brooks auf dem Höhepunkt der Clinton-Ära realisiert sah, war ausgleichend und kompromissfähig, integrierend und entschärfend, immer an der Mitte orientiert. „Whether you are liberal or conservative, Bobo politicians adopt your rhetoric and your policy suggestions while somehow sucking all the radicalism out of them. They sometimes tilt to the left and sometimes to the right. They never rise up for a fight. They just go along their merry way, blurring, reconciling, merging, and being happy. While those on left and right hunger for confrontation and change, the Bobos seem to be following the advice on their throw pillows: ‚Living Well Is the Best Revenge‘.“ (Brooks 2000: 261) Die Eruktationen der Ränder auszusitzen, dieser Regierungsstil hat in Angela Merkels ersten beiden Legislaturperioden seine Vollendung gefunden. Heute aber scheint er nicht mehr zu greifen – zuerst in den USA, dann in den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien und schließlich auch in Deutschland hat sich eine neue Schärfe in der Politik breitgemacht, die in den 90er Jahren unvorstellbar war. Mit ‚Populismus‘ stand zwar schnell ein Stichwort bereit, das den neuen Ton der Pim Fortuyns, Tea Parties, Le Pens und AfDs einsortierte und bewertete, aber diese intellektuelle Schutzmauer hat eine Soziologische Fragmente #1 29 WIR BOBOS " Getragen sind diese Überlegungen von soziologisch abstrakten, aber plausiblen Vorannahmen: keine Inklusion ohne Exklusion, kein Geben ohne ein Nehmen. Darum fragen wir: Wen haben die Bobos inkludiert, wen aber gleichzeitig exkludiert? Wem geben sie, wem aber nehmen sie? 30 beunruhigend offene Flanke in Richtung eines zentralen Wertes der Bobos: der demokratischen Legitimation. In ihrem politischen und moralischen Führungsanspruch bedrängt, ist ein neues Phänomen entstanden, das Brooks noch nicht kannte: Bobo-Fundamentalismus, ein kämpferisches Bekenntnis zu den eigenen Werten mit allen Konsequenzen, das sich zuerst an den amerikanischen Universitäten in den unduldsam-missionarischen Varianten von Minderheitenförderung und Sprachnormen, von Gendersternchen und Veganismus ausgedrückt hat, bevor es mit Flüchtlingskrise und Klimakatastrophe zum neuen Politikstil wurde und den öffentlichen Raum moralisierte. Man könnte hegelianisieren: Aus der Synthese der 90er Jahre ist eine These geworden, der nun eine neue Antithese gegenübersteht. Das Allgemeine wird zum Besonderen und muss sich als Partikulares verteidigen – und reflektieren. Durch diesen Druck der Veränderung des politischen Klimas sind wir Bobos also gezwungen, reflexiv zu werden und neu Soziologische Fragmente #1 darüber nachzudenken, wer wir sind, was wir erreicht haben, was wir erreichen wollen und vielleicht auch, welche nicht-intendierten Nebenwirkungen aus unserer Verwirklichung des Guten Lebens resultierten und weiter resultieren könnten. Getragen sind diese Überlegungen von soziologisch abstrakten, aber plausiblen Vorannahmen: keine Inklusion ohne Exklusion, kein Geben ohne ein Nehmen. Darum fragen wir: Wen haben die Bobos inkludiert, wen aber gleichzeitig exkludiert? Wem geben sie, wem aber nehmen sie? Dazu ein paar abschließende Überlegungen. Bobos sind Kosmopoliten. Sie leben aus einem universellen Weltbezug, ihre Kommunikation und ihr Verantwortungsgefühl kennt keine Grenzen. Mit Hyperlinks und Informationen schlagen sie eine Brücke der Solidarität zu den Verdammten dieser Erde, hinweg über die fly-over-countries der niedergehenden Industriegebiete, Landwirtschaftswüsten und Kleinstädte, aus denen sie kommen. Hashtagsolidarität ist nicht zirkular, sondern viral: Sie ordnet SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS den sozialmoralischen Raum nicht über Nähe und Distanz, sondern über die Aufmerksamkeitswellen der digitalen Welt. Brücken aus Hashtagsolidarität sind erstaunlich stabil. Sie tragen in der einen Richtung Millionen Migranten, in der anderen die Rucksack-Avantgarden des Massentourismus. Wir Bobos betreten sie verantwortungsbetankt als Repräsentanten der Zivilgesellschaft, um im Auftrag unserer spezifischen Organisationsform, der NGO, Menschenrechte, Umweltschutz und Entwicklung zu fördern. An beiden Enden dieser Brücke segregieren die Gruppen, die sich auf ihr begegnen, jedoch erneut: Die Bobos in Szenevierteln und gated communities der Internationals, die Migranten von den Slums und Lagern am Ausgang ihrer Reise zu den Asylzentren und abgehängten Stadtteilen ihrer Zielländer. Am Reiseziel werden beide bewacht, aber die Security blickt in unterschiedliche Richtungen. Beiden gilt am Zielort eine besondere staatliche Aufmerksamkeit, Bobos bei der Verteilung von Ressourcen, Migranten bei der Zuteilung. Das Rückticket ist für die einen Versicherung, für die anderen Restrisiko, das Smartphone für alle das zentrale Attribut, mit dem sie ihre soziale Welt organisieren. Aus solchen vielfältigen Beziehungen ergibt sich das typische Strukturmuster von Komplementärgruppen, die bei großer Statusdifferenz aufeinander verweisen, ohne zu verschmelzen. SOZIOLOGIEMAGAZIN Gleichwohl gibt es Schnittstellen, etwa im praktizierten Sozialengagement: Neben den Kirchengemeinden stellen die Bobos die größte Gruppe der Flüchtlingshelfer. Jede größere Migrationswelle vervielfacht auch die Jobmöglichkeiten für sozialkaritative Bobos. Hier bilden sie soziale Kontakte aus, wo sie unter Migranten auf Responsivität stoßen, die dann auch die eigenen Netzwerke bereichern. Diese Form sozialer Mobilität knüpft an die alte Offenheit der Bohème an, etwa gegenüber exilierten russischen Künstlern, und schafft den Bobo mit Migrationshintergrund als Ausdrucksform der Identitätsparadoxie. Neben dem kulturellen Kapital, das die Sulaiman Masomis („Ein Kanake sieht rot“) diskursfähig macht, verfügen sie über das symbolische Kapital, migrierte Gruppen repräsentieren zu können. Solche informellen Karrieren durch Poetry-Slams oder andere, unästhetische Formen des Dauersprechens, Talkshows etwa, bilden neben Rap und Fußball Möglichkeiten zur Blitzetablierung, während Kleinunternehmertum (legales wie illegales) und Bildungspatente die langwierigen, aber unterschiedlich riskanten Wege darstellen. Eine zweite Schnittstelle zwischen beiden Gruppen bildet die prekäre Beschäftigung. Für die Bobos ist sie kein Thema, solange sie durch Universitäten und Kleinjob-Konjunkturen abgesichert werden. Sie hangeln sich über Jahre durch Projekte und befristete Jobs, stets in der durch Soziologische Fragmente #1 31 WIR BOBOS 32 Erfahrung und Kommunikation stabilisierten Erwartung, dass es schon irgendwie weiter- und aufwärtsgehen werde. Der prekär Beschäftige mit Hoffnung: das ist ein Bobo – zumindest in Nordeuropa und den USA, nicht aber in den mediterranen Ländern, die seit der Finanzkrise mit der Euro-erzwungenen Austeritätspolitik eine hohe Jugendarbeitslosigkeit aufgebaut haben. In den westlichen Kernstaaten aber ist durch die anhaltende Konjunkturphase seit den Reagan-, Thatcher- und Schröder-Reformen das Jobbedürfnis in die Hintergrundserfüllung getreten, nur kurzfristig irritiert durch die Finanzkrise, als die 30jährigen New Yorker Banker wieder in ihre Kinderzimmer in Milwaukee einzogen, die sie einst Richtung Harvard verlassen hatten. Diese Irritationen sind beseitigt, whatever it takes, und erst wenn am Jüngsten Tag der Notenbankinterventionen all die Zeit- und Projektverträge gekündigt werden, die Nachhaltigkeit-Startups vom elementareren Bedürfnis nach Kartoffeln unterlaufen werden und die NGOs ihre Arbeit einstellen, weil ihnen die Spendengelder ausgehen, droht die Statusdifferenz zwischen Bobos und Migranten zu kollabieren. Dann konkurrieren sie um dieselben Hochhauswohnungen und Kurierfahrerjobs. Die working poor, die in Kalifornien in ihren Autos wohnen, weil sie sich als Pizzaboten der Google- und Apple-Bobos keine Wohnung mehr leisten können, sind das Menetekel. Oh möge dieser Tag der Master-Prüfung universalistischer Soziologische Fragmente #1 Wertorientierungen nie eintreten! Bobos inkludieren die Verdammten dieser Erde – gefährden aber gerade dadurch die institutionalisierten Solidaritätsbrücken der nationalstaatlichen Sozialsysteme, die sie gleichzeitig in ihrer Sozialutopie, dem Grundeinkommen, bedingungslos voraussetzen. Die dritte Gruppe in der triadischen Figuration ist schwerer zu benennen, ohne sie lässt sich die Komplementärbeziehung zwischen Bobos und Migranten aber nicht verstehen. David Brooks hatte sie noch nicht im Blick, obgleich sie Ende der 70er Jahre im moral majority movement zum ersten Mal ihr Haupt erhob, um die Wahl Ronald Reagans zu organisieren (vgl. Bösch 2019). Erst durch den populistischen Aufstand sind diese Milieus in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Analyse gerückt, und seither wollen wir auch genauer verstehen, wer sie sind, in welcher Beziehung sie zu uns Bobos stehen, und vor allem: Ob die Verschärfung der Gegensätze nicht irgendwie mit uns zusammenhängt (vgl. etwa Möllers 2017). Didier Eribon hat mit seiner Rückkehr nach Reims ein Muster des Nachdenkens darüber geliefert: Die Going-Back-Literatur, eine Auseinandersetzung von städtischen Intellektuellen mit ihrem ländlichen, kleinstädtischen oder proletarischen Herkunftsmilieu. Eribon formulierte die Schlüsselfrage, die jeder Bobo kennt, der genervt SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS schweigt, wenn der Onkel an Weihnachten seine politischen Ansichten kundgibt: „Theoretisch kann man sich leicht vornehmen, mit Front-National-Wählern kein Wort mehr zu wechseln und ihnen nie wieder die Hand zu schütteln. Aber was ist, wenn die eigene Familie so wählt? Was soll man denken? Was soll man sagen oder tun?“ (Eribon 2016: 107f.) Biographische Aufarbeitungsliteratur etablierter Bobos liefert also eine erste Annäherung und man kann sagen: Das sind hervorragende Ansätze für eine Autoethnographie (vgl. für die USA: Vance 2017, für Großbritannien: Mason 2017). Im Spiegel der Anderen, die zugleich die Eigenen sind, kann man sich selbst besser verstehen lernen. Wie die dritte Gruppe jenseits von Bobos und Migranten aber zu benennen und charakterisieren ist, wird diskutiert. The American Right meinte politisch-klassisch Arlie Russell Hochschild, als sie ihre Feldforschungen auf den Spuren der Tea Party begann – lange bevor diese Klientel durch die Wahl Trumps den politischen Willensausdruck setzte, dessen Deutung und Erklärung geschichtsphilosophisch gefestigte Bobos noch heute verzweifeln lässt. „I was definitely not in Berkeley, California“ (Hochschild 2016: 18), stellte sie fest, als sie die Zielgebiete ihrer Feldforschung im ländlichen Louisiana erkundete. SOZIOLOGIEMAGAZIN Dort begegnete ihr eine andere Sprache mit Redewendungen, die sie noch nie gehört hatte („… up to my ass in alligators“), wohingegen klare Antworten mit „ja“ oder „nein“ als „Yankee speech“ galten. Die Gegend erschien ihr gepflastert mit Kirchen, die Buchhandlungen hatten drei Regalwände mit Bibeln aller Farben und Größen, während fremdsprachige Literatur fehlte. Es gab keine New York Times an den Zeitungsständen, keine Bio-Lebensmittel in den Supermärkten, keine ausländischen Filme in den Kinos und keine Kleinwagen auf der Straße, geschweige denn die Avantgarde der Elektromobilität, den Toyota Prius, sondern Pick-up-Monster von Ford dominierten das Straßenbild. In den Kleidergeschäften hingen die XXLKonfektionsgrößen, Anwälte warben auf großen Tafeln für ihre Expertise bei Körperverletzungsdelikten. Wenig Fußgänger, keine Labradore, sondern Pitbulls und Bulldoggen. An Recycling-Mülltonnen oder Solar-Panels auf den Häusern war nicht zu denken und in den Restaurants wurde vor dem Essen nicht nach glutenfreien Vorspeisen gefragt, sondern ein Gebet gesprochen. „In the absence of the talismans of my world and in the presence of theirs, I came to realize that the Tea Party was not so much an official political group as a culture, a way of seeing and feeling about a place and its people.“ (Hochschild 2016: 19) Aus französischer Perspektive dagegen scheint der Links-Rechts-Gegensatz nur Soziologische Fragmente #1 33 WIR BOBOS 34 bedingt zu taugen, wenn man den Gelbwesten-Aufstand gegen die Benzinpreiserhöhungen des Bobo-Präsidenten Macron erklären möchte; denn jede französische Protestbewegung, das hatte schon Tocqueville beobachtet, spielt die Französische Revolution nach, die sich in der kollektiven Ikonologie kaum mit ‚rechts‘ codieren lässt. Der Geograph Christophe Guilluy verknüpfte deshalb die soziale Analyse mit der Siedlungsstruktur Frankreichs. Die fünf französischen Städte, in denen sich der Produktivitätszuwachs der Globalisierung konzentriert, hätten sich durch die Entwicklung der Wohnpreise zu kapitalistisch verteidigten Zitadellen entwickelt, in denen ein neuer Typ die Herrschaft übernommen habe: eine Bourgeoisie ohne Hass und Gewalt, die Bobos. Sie wurden kulturell dominant, indem sie Universitäten, Literatur und Medien besetzten. Diese Aneignung allgemeiner Institutionen durch eine partikulare Gruppe wird zugleich von einer Rhetorik der Offenheit begleitet. Während sich die Bobos global unter ihresgleichen vernetzen, segregieren sie sich von der zurückgebliebenen Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum, die sich in den abgehängten Regionen der niedergehenden Schwerindustrie oder in die Kleinstädte des ländlichen Frankreichs zurückgezogen hätten – was einen weiten Weg zu den besserbezahlten Arbeitsplätzen in den Zentren bedeutet; denn die französischen Städte seien nicht von bürgerlichen Soziologische Fragmente #1 Suburbs umgeben, sondern vom Ring der Banlieu, der den Städten als Reservoir billiger migrantischer Dienstleistungskräfte dient, aus denen nur im Kino die ziemlich besten Freunde kommen. Das periphere Frankreich bildet die neue classe populaire, die im Kampf um die ökologisch motivierte Erhöhung der Benzinpreise gegen städtische Zentren der Bobos aufgestanden ist – so lautet Guilluys Analyse (vgl. Guilluy 2014, 2019). Für einen ähnlichen sozialen Gegensatz schlug der britische Journalist David Goodhart ein prägnantes Wortpaar vor, als er die Lager in der Brexit-Debatte zu erklären suchte: „The old distinctions of class and economic interest have not disappeared but are increasingly over-laid by a larger and looser one – between the people who see the world from Anywhere und the people who see it from Somewhere.“ (Goodhart 2017: 3) Anywheres zeichneten sich durch eine höhere Schulbildung aus, sie sind die Klasse, deren wichtigste rites de passages in den Examina besteht. Ihre universitäre Ausbildung führt sie von den Heimatstädten fort und schließlich nach London oder in irgendeinen anderen Teil der Welt. Sie haben erworbene Identitäten und sind dadurch fähig, sich an anderen Orten und mit anderen Menschen einzurichten. SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS Somewheres dagegen sind typischerweise „Scottish farmer, working class Geordie, Cornish housewife“ (Goodhart 2017: 3), sie haben zugeschriebene Identitäten, die an bestimmte Herkunftsgruppen und Regionen gebunden sind. Eine Kerngruppe besteht aus den sogenannten ‚left behinds‘, älteren weißen Arbeitern, die durch die Globalisierung doppelt verloren hätten: ökonomisch durch den Verlust eines relativ gut bezahlten Jobs mit geringem Qualifikationsniveau, kulturell, indem ihre Themen – Ungleichheit, Arbeiterkultur, der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit – in der öffentlichen Debatte gegenüber den typischen Anywhere-Themen, Minderheitenschutz und Umwelt, marginalisiert worden seien. Diesen Gegensatz systematisierte ebenfalls Wolfgang Merkel mit seiner Unterscheidung zwischen „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“ (vgl. Merkel 2017). ‚Rechte‘, ‚Peripherie‘, ‚Somewheres‘, ‚Kommunitaristen‘ – wenn man die Suche nach einer Benennung für die Trägergruppe des populistischen Aufstandes gegen die Bobo-Hegemonie vergleicht, dann fällt ins Auge, dass in den Beschreibungen überall Kategorien des Ortes und der Zugehörigkeit, der Territorialität und Identität im Vordergrund stehen. Diese allein schafft aber noch keine Klassenbindung zwischen den unterschiedlichen Gruppen, auf die eine solche Beschreibung zutrifft, sondern es bedarf zusätzlich einer gemeinsamen SOZIOLOGIEMAGAZIN sozialen Lage, durch die Interessen gebündelt und vielleicht auch ausdrucksfähig werden. Aus dieser Perspektive fällt auf, dass alle diese Gruppen Profiteure der nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialordnungen waren, indem sie über (im internationalen Vergleich) relativ hohe Löhne am Wohlstandszuwachs ihrer Staaten beteiligt wurden. Ihre Lebensrisiken waren gleichzeitig aufgefangen, wenn auch durch unterschiedliche Systeme: in den USA eher durch Mobilitätschancen in die Boomregionen unter gesteuerter Konkurrenz durch neue Einwanderer, in Europa durch die Wohlfahrtsstaaten. Im Kontext globaler Ungleichheiten entstand so ein Staatsbürgerschaftsprivileg: Die Zugehörigkeit zu nationalen Solidargemeinschaften, die bis in die 70er Jahre bereit waren, einen zunehmenden Anteil des individuell erwirtschafteten Wohlstandes staatsgesteuert umverteilen zu lassen. Dieses System geriet durch die zunehmende Kapitalfreiheit im Globalisierungsprozess unter Druck, die personalintensiven Industrien wanderten in Länder mit billigerem Lohnniveau, und mit der Wissensgesellschaft begann für jeden Einzelnen das Diktat, die eigenen Bildungsressourcen auszuschöpfen, sofern man am Wohlstand teilhaben möchte. Die Bobos sind die Gewinner dieser neuen Lage. Sie stellen sich durch individuelle Bildungsbereitschaft und globale Mobilität Soziologische Fragmente #1 35 WIR BOBOS 36 darauf ein. Auf nationaler Ebene aber entsolidarisieren sich finanziell etablierte Bobos und entziehen ihr Vermögen, wo möglich, dem einzelstaatlichen Zugriff, um es dann in der Form von Stiftungen und Spenden dort zu investieren, wo sie die Ziele der verteilenden Organisation unterstützen und symbolisches Kapital akkumulieren können. Der national organisierte Einzelstaat ist ihnen aber nur noch eine Organisation unter vielen. Bobos halten den Nationalstaat für ein Residuum des 19. Jahrhunderts, das durch multilaterale Organisationen der neuen globalen Welt überwunden werden muss. Damit erodiert die Form der institutionsgebundenen Solidarität, die sich über Bereitschaft ausdrückt, Steuern zu zahlen und damit territorial eingrenzbare Inseln des solidarischen Wohlstandsausgleichs zu schaffen. Reduktion der Steuern bei gleichzeitiger Erhöhung der Abgaben – auch dies war typische Bobo-Politik. Wenn Christophe Guilluy die Bobos für das Produkt einer Amerikanisierung der europäischen Gesellschaften hält, dann hat diese Aussage mit der Tendenz zu einem mäzenadischen Wohlfahrtssystem zu tun – genauso, wie David Brooks von der Europäisierung der amerikanischen Eliten sprechen könnte, wenn er Ernährungsgewohnheiten, Einstellungen und Habitus der amerikanischen Bobos fokussiert. Soziologische Fragmente #1 Diejenigen aber bleiben zurück, die lebensweltlich an einen Ort gebunden und vom Arbeitseinkommen in dieser Region abhängig sind. Sie residieren. Sie sind zugleich die Residuen nationalstaatlicher Wirtschaftsordnungen, indem sie ihr relational sinkendes Arbeitseinkommen in Berufen, die dem institutionalisierten Dauerstrukturwandel zum Opfer zu fallen drohen, mit der Hoffnung verbinden, im Notfall durch die wohlfahrtsstaatliche Solidargemeinschaft aufgefangen zu werden, ohne allzusehr an Lebensstandard zu verlieren. Sie sehen sich nicht nur unter dem Druck des rapiden sozialen, technologischen und ökonomischen Wandels einer Welt, die sich schneller verändert, als es Biographien in der zweiten Lebenshälfte verarbeiten können, sondern sie stehen gleichzeitig unter dem Arroganzdruck der meritokratischen Eliten, die zuerst fordern, bevor sie fördern. Denn wenn die Bobos irgendetwas in den zwei Jahrzehnten Hochfeier der Individualisierung gelernt haben, dann dies: Jeder Einzelne ist für sein Glück und seinen Erfolg selbst verantwortlich! „Hierzulande“, bemerkten Horkheimer und Adorno schon Ende der 40er Jahre in Kalifornien, „gibt es keinen Unterschied zwischen dem wirtschaftlichen Schicksal und den Menschen selbst. Keiner ist etwas anderes als sein Vermögen, sein Einkommen, seine Stellung, seine Chancen. SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS Die wirtschaftliche Charaktermaske und das, was darunter ist, decken sich im Bewusstsein der Menschen, den Betroffenen eingeschlossen, bis aufs kleinste Fältchen. Jeder ist so viel wert wie er verdient, jeder verdient so viel er wert ist. […] Sie beurteilen ihr eigenes Selbst nach seinem Marktwert und lernen, was sie sind, aus dem, wie es ihnen in der kapitalistischen Wirtschaft ergeht. Ihr Schicksal, und wäre es das traurigste, ist ihnen nicht äußerlich, sie erkennen es an. […] I am a failure, sagt der Amerikaner – And that is that.“ (Horkheimer/Adorno 1987: 241) Jede Meritokratie, so analysierte Michael Young in den 60er Jahren, schafft eine Gesellschaft aus arroganten Gewinnern, die ihre soziale Position allein den individuellen Fähigkeiten zurechnen, und aus verstockten Verlierern. „In jenen Tagen war keine gesellschaftliche Klasse geistig homogen: Gescheite und Dumme, Scharfsinnige und Stumpfsinnige gab es in allen sozialen Schichten, und das bedeutete: Es gab noch Berührungspunkte zwischen den Schichten! Jetzt hingegen, wo die Menschen nach ihren Fähigkeiten klassifiziert werden, ist unvermeidlich die Kluft zwischen Klassen weiter geworden. Und tiefer! Die oberen Klassen … werden nicht länger durch Zweifel und Kritik an sich selbst geschwächt. SOZIOLOGIEMAGAZIN Die geistige Prominenz weiß heute, daß ihr Erfolg nichts Anderes als Belohnung für individuelle Begabung, persönlichen Einsatz und die unbestreitbare Leistung ist. Sie verdient es, einer gehobenen Klasse anzugehören.“ (Young 1961: 144) Meritokratien mögen Paradiese der individuellen Leistungsgerechtigkeit sein, aber sie spalten politische Gemeinschaften, indem sie entsolidarisieren. Meritokratische Eliten „… sind nicht auf das Bildungssystem oder das staatliche Gesundheitssystem ihres Landes angewiesen (ihre Kinder besuchen Privatschulen, und sie selbst können sich bessere Kliniken leisten). Sie haben die Fähigkeit verloren, die Gefühle ihrer Gemeinschaft zu teilen. Die Menschen erleben diese Unabhängigkeit der Eliten als einen Verlust an Bürgermacht. … Wo meritokratische Eliten die Gesellschaft als eine Schule begreifen, in der lauter Einserschüler um Stipendien konkurrieren, während die Schulabbrecher auf der Straße kämpfen, verstehen Populisten die Gesellschaft als eine Familie, deren Mitglieder einander nicht nur deshalb unterstützen, weil alle es verdienen, sondern, weil alle etwas gemeinsam haben.“ (Krastev 2017a: 107) Von diesen Eliten im Stich gelassen zu werden und damit den entscheidenden Soziologische Fragmente #1 37 WIR BOBOS " Regional residierende Residuen mit Ressentiments: nennen wir die dritte Gruppe deshalb die Resis. Sie ethnographisch zu beschreiben, da stehen wir in Deutschland erst am Anfang. Es gibt wenig Feldforschung in der Lausitz, der Eifel oder in Pforzheim, weil die ethnologischen Studiengänge ja fest in Bobo-Hand sind und die da nicht so gerne hingehen. 38 ökonomischen Anteil des Staatsbürgerprivilegs zu verlieren, das die sozialen Kämpfe des 19. Jahrhunderts befriedet hatte – das ist die begründete Angst der Somewheres. Denn sie wissen: Ein globales Hartz IV reicht ihnen nicht zum Leben! Und nach Bulgarien umziehen, um relativ besser dazustehen, ist auch keine Alternative. Sie vermuten, dass die meritokratischen Eliten, die auf der ganzen Welt zuhause sein können, sich in schwierigen Zeiten eher vom Acker machen, als sich mit denen zu solidarisieren, die sie offen verachten. Und dieser Satz gilt ökonomisch wie militärisch, seitdem die Wehrpflicht abgeschafft und die Armeen zum Auffang- und Disziplinierungsbecken für Bildungsverlierer wurden. Diese Ängste nur als partikulare Interessen empfinden, sie aber nicht im gleichen Grad wie die Bobos mit universellen Werten rationalisieren zu können – dies gebiert das vierte Merkmal der Gruppe: das Ressentiment. Es wendet sich gegen Soziologische Fragmente #1 ihresgleichen aus anderen Ländern, die auf Mobilität setzen und sich in die prosperierenden und sicheren Regionen auf den Weg machen und als Konkurrenten um die geringqualifizierten Jobs und die wohlfahrtstaatlichen Ressourcen auftreten: die Migranten. Hatte die Freiheit des Kapitals die wohlfahrtsstaatlichen Systeme schon in die Schröder-Reformen geführt, so befürchtet man den endgültigen Kollaps der nationalstaatlichen Solidarität durch die humanitätsgetragene Personenfreizügigkeit der No-Border-Bobos. Regional residierende Residuen mit Ressentiments: nennen wir die dritte Gruppe deshalb die Resis. Sie ethnographisch zu beschreiben, da stehen wir in Deutschland erst am Anfang. Es gibt wenig Feldforschung in der Lausitz, der Eifel oder in Pforzheim, weil die ethnologischen Studiengänge ja fest in Bobo-Hand sind und die da nicht so gerne hingehen. Lieber nach Peru, Indonesien oder Uganda, das macht sich besser im Lebenslauf. Bei einer SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS solchen Feldforschung der geographischen Nähe, aber sozialen Distanz würde sich wohl der überraschende Befund ergeben, dass auch das ländliche Deutschland von Bobo-Regionen durchsetzt ist, vom Wendland bis zum Chiemgau, wo Bobos die verlassenen Bauernhöfe aufkaufen und renovieren, um den Traum von der ökologischen Wende durch relative Autarkie Wirklichkeit werden zu lassen. Der Öko-Bauer ist die Mischform. Ob die Kundschaft seines Hofladens zu einem neuen Typ der Resis mutiert, bei dem die ökologischen Paradoxien in ein kommunitaristisches Ressentiment gegen den Windpark münden – Atomkraft abschalten, aber den Müll nicht vor meine Haustüre, alternative Energien aufbauen, aber die Industrialisierung der Landschaft beklagen –, wäre eine interessante Forschungsfrage. Wie aber mit Resis umgehen, wenn wir ihnen auf Klassentreffen, Familienfeiern oder sonstigen Besuchen dort hinten begegnen? Eine Kurzanleitung: Wir Bobos sollten wissen, dass unsere anerkannte, bewunderte und überall nachgestrebte Lebensform ein Kind zweier Eltern ist: Nicht nur der geliebten Mutter 70er Jahre, die für gesellschaftliche Liberalisierungsbewegungen stand, sondern auch des verachteten Vaters der 80er Jahre mit seinen neoliberalen Reformen und der wirtschaftlichen Globalisierung, von dessen SOZIOLOGIEMAGAZIN Einkommen wir heute noch leben. Wir Bobos sollten uns bewusst sein, dass wir in grenzenlosen ökologischen und menschenrechtlichen Werteinstellungen den Spuren des Kapitals folgen, das noch universaler ist – oder ihm den Weg bereiten, was auch nicht besser ist. Mikrokredite geben den Menschen Entwicklungs chancen, integrieren sie aber gleichzeitig in den Kapitalmarkt. Wir sollten uns weiter klarwerden, wo unsere eigenen Widersprüche liegen, die ideologischen und praxeologischen Paradoxien unserer Alltagswelt, bevor wir die Resis ob ihrer Widersprüche verurteilen. Wir könnten auch überlegen, ob unser Einsatz für Migranten und Flüchtlinge eine dunkle, instrumentelle Seite der Empathie ist, die das Elend bekämpft, um das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Resis auch moralisch zu unterfüttern (vgl. Breithaupt 2017: 129ff.). Wir sollten uns also klar darüber werden, inwiefern der universale Wertehimmel, aus dem wir die Verantwortung für unser Tun ableiten, gleichzeitig verbunden ist mit partikularen Interessen. Und dass wir unglaubwürdig sind, solange wir keine überzeugende institutionelle Lösung präsentieren können, wie sich die Errungenschaften des demokratisch verfassten Nationalstaats auf die Weltgesellschaft übertragen lassen. Und jeder Bobo, dessen Eltern Abitur haben, sollte nach einem bestandenen Examen dreimal den Satz wiederholen: „Ich bin nur das Produkt meiner sozialen Lage!“ Soziologische Fragmente #1 39 WIR BOBOS " 40 Denn nach dem Zivilisationsprozess, in dem die Menschen gelernt haben höflich miteinander umzugehen, steht heute der Ökolisationsprozess an: Wir müssen lernen auch freundlich mit der Natur umzugehen. Beachten wir also diejenigen, die wir exkludieren, und schenken wir Anerkennung, wem wir etwas genommen haben. Denn nach dem Zivilisationsprozess, in dem die Menschen gelernt haben höflich miteinander umzugehen, steht heute der Ökolisationsprozess an: Wir müssen lernen auch freundlich mit der Natur umzugehen. Die Bobos könnten diesen Prozess führen, indem sie ihre Paradoxien auf einen Grad reduzieren, der auch ihre Glaubwürdigkeitsressourcen nachhaltig bewirtschaftet. LITERATUR Denn auch in uns steckt etwas Resihaftes, weil wir uns irgendwann doch ganz gerne in unseren Berliner, Frankfurter oder Kölner Stadtvierteln einrichten – sofern wir nicht durch die Wohnungspreise schon ins Umland abgedrängt wurden. Auch wir könnten durch den Erfolg des autoritären Kapitalismus schnell zu Residuen der liberalen Phase der Globalisierung werden, die auf den Siegeszug der alles überwachenden KI großer Firmen und Parteien nur noch mit Ressentiments reagieren. Seien wir also genauso achtsam gegenüber Resis wie gegenüber Migranten. Denn sie sind keine Restgruppe, die wir ignorieren können weil sie ausstirbt, sondern das Ergebnis der hohen Dynamik der modernen Welt. Resis reproduzieren sich – auch aus Bobos. Und sie können Wahlen gewinnen. Albrecht, Clemens (2004): Der ewige Aufstieg der Canaille über die Avantgarde in die Institutionen, oder: Die Verzeitlichung der Klassik. In: Albrecht, Clemens (Hrsg.): Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden. Würzburg: Ergon, S. 87–95. Antweiler, Christoph (2018): Fremdes und Eigenes. Zur Ethnologie der Beziehung zwischen Kollektiven. In: Hartung, Gerald/Herrgen, Matthias (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch 6/2018: Das Eigene & das Fremde. Wiesbaden: Springer VS, S. 2–40. Bösch, Frank (2019): Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. München: C.H.Beck. Breithaupt, Fritz (2017): Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brooks, David (2000): Bobos in Paradise: The New Upper Class and How They Got There. New York u.a.: Simon & Schuster. Burkart, Günter (1997): Lebensphasen. Liebesphasen. Vom Paar zur Ehe, zum Single und zurück? Opladen: Leske + Budrich. Soziologische Fragmente #1 SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS Calmbach, Marc/Borgstedt, Silke/Borchard, Inga/Thomas, Peter Martin/Flaig, Berthold Bodo (2016): Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14-17 Jahren in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. Ebertz, Michael N. (2013): Milieufrömmigkeit und Milieutheologien. In: Milieus fordern heraus. Pastoraltheologische Deutungen zum MDG-Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus® 2013“, Erfurt: Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral, S. 35–56. Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. Goodhart, David (2017): The Road to Somewhere. The New Tribes Shaping British Politics. London: C. Hurst & Co. Ltd. Guilluy, Christophe (2014): La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires. Paris: Flammarion. Guilluy, Christophe (2019): Twilight oft the Elites: Prosperity, the Periphery, and the Future of France. New Haven u.a.: Yale University Press. Hahn, Alois (1997): „Partizipative“ Identitäten. In: Münkler, Herfried/Ladwig, Bernd (Hrsg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin: Akademie Verlag, S. 115–158. Mead, George H./ Morris, Charles, W. (1962): Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago: Chicago University Press. Merkel, Wolfgang (2017): Kosmopolitismus versus Kommunitarismus – ein neuer Konflikt. In: Bröning, Michael/ Mohr, Christoph P. (Hrsg.): Flucht, Migration und die Linke in Europa. Stuttgart: Dietz, S. 299–314. Möllers, Christoph (2017): Wir, die Bürger(lichen). In: Merkur Jg. 71/818, S. 5–16. Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp. Schlaffer, Hannelore (2011): Die intellektuelle Ehe: Der Plan vom Leben als Paar. München: Hanser. Simmel, Georg (1983): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Suhrkamp. Vance, James David (2017): Hillbilly Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Berlin: Ullstein. Young, Michael (1961): Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Weg zur Meritokratie. Düsseldorf: Econ. Hochschild, Arlie Russell (2016): Strangers in Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right. A Journey to the Heart of Our Political Divide. New York u.a.: The New Press. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1987): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt am Main: Fischer. Krastev, Ivan (2017a): Europadämmerung. Berlin: Suhrkamp. Krastev, Ivan (2017b): Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur? In: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die grosse Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 117–134. Mason, Paul (2017): Keine Angst vor der Freiheit. In: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die grosse Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 149–174. SOZIOLOGIEMAGAZIN Soziologische Fragmente #1 41 WIR BOBOS ZU DEN AUTOR*INNEN: Clemens Albrecht (geb. 1959), Professor für Kultursoziologie an der Universität Bonn; Waldorfschüler, verfügt über eine selbstgestrickte Strickjacke aus selbstgesponnener Wolle; Forschungsprojekt über „Urbane Esskulturen und integrative Praktiken“; fährt einen Mercedes Diesel (Schadstoffklasse Euro 6), aus einer Mischung von Klimaschutz, Sparsamkeit und schwäbischer Identität; Lieblingssong: „I fahr Daimler“ von Wolle Kriwanek. bei jeder Lieferung wegen der schlechten Bezahlung der Paketbot*innen zu schämen; findet unsere Leistungsgesellschaft verwerflich, will aber trotzdem immer die Beste sein. Julian Hemmerich (geb. 1995), studiert im Master Gesellschaften, Globalisierung und Entwicklung an der Universität Bonn. Geborener Karlsruher, vor süddeutscher Spießigkeit ins Bobo-Paradies Köln geflohen, liest jetzt Marx auf seinem 3800 Euro teuren Macbook. 42 Nora Charlotte Bechheim (geb. 1996), Lehramtsstudentin an der Universität Bonn; stolzes Dorfkind, war Zeugin von circa 15 Pferdegeburten, aber hat „noch zu viel vor, um aufs Land zurückzuziehen“; passionierte Fahrerin eines 20 Jahre alten Kleinwagens, fährt deshalb lieber zwei Mal „500 Miles“ Auto als in ein Flugzeug zu steigen; in einer Mischung aus umweltbewusstem Konsumverhalten und Opportunismus bezieht sie ihre Kleidung hauptsächlich von Kleidertauschpartys und lässt sich von ihrer Familie regelmäßig mit selbst angebautem Gemüse und Milch von der Nachbarskuh beschenken. Susanne Bell (geb. 1996), Masterstudentin Soziologie; vegan lebende Grünenwählerin aus der tiefschwarzen Eifel; ehemalige Klosterschülerin und Fan von Michael Schmidt-Salomon; kauft am liebsten online beim Bio-Fairtrade-Shop, um sich dann Soziologische Fragmente #1 Anna Hörter (1994), studiert Politikwissenschaften im Master an der Universität Bonn. Sie ist stolzes Großstadtkind, durfte früher aber am Wochenende auf einem Bauernhof im Matsch spielen. Sie fährt eigentlich wahnsinnig gerne Auto. Benzingeruch an Tankstellen verbindet sie mit Reisen und Freiheit – was sie aber niemals zugeben würde. Seit neuestem ermöglicht ihr eine ins Panische neigende Unsicherheit in Flugzeugen, dem Bobo-Jetset-Leben zu entsagen und aktiv das Klima zu schützen. Sonst ist ihr Leben ein Spagat zwischen Spielstätten klassischer und Szeneclubs globaler Musik. Ihre glühende Verehrung des volkstümlichen Kölschen Karnevals rundet das Bild ab. Philipp Jakobs (geb. 1993), Masterstudent Soziologie; ist auf einem alten Bauernhof aufgewachsen; hatte einmal fast ein Jahr lang Dreadlocks; besitzt kein Auto, aber SOZIOLOGIEMAGAZIN WIR BOBOS kann bei Bedarf den Hybrid seiner Eltern fahren; war schon im Alnatura einkaufen, bevor es cool war (und bevor er selber Miete zahlen musste…); leidenschaftlicher Kritiker von Kapitalismus, Kulturindustrie und kompetenzorientierten Bildungsideologien. Philipp Lehmann (geb. 1992), studiert Politikwissenschaft im Master an der Universität Bonn. Ein Auto würde er ja niemals fahren, schon gar keinen Mercedes! Ist stolzer Besitzer der großstädtisch-boboesken Trias aus Rennrad, Schallplattenspieler und Macbook. Hat daher ein latent schlechtes Gewissen und hofft durch einen wohltemperierten Einschlag kölscher Dialekts über seine prinzipielle Privilegiertheit hinwegtäuschen zu können. und Soziologie); stolze Besitzerin eines Fairphones; boykottiert Nestlé, nicht zuletzt wegen dessen an Ausbeutung grenzenden Umgang mit Mitarbeitern und Bevölkerung in vielen Produktionsländern; nutzt gerne ihren Amazon Prime-Account, da die lästige Shoppingtour entfällt, die bestellte Ware häufig noch am selben Abend wie von Zauberhand in den heimischen Briefkasten wandert und so mehr Zeit für altruistische Reflexionsleistungen bleibt. An dem Beitrag haben folgende Redaktionsmitglieder in der Betreuung und im Lektorat mitgearbeitet: Andreas Schulz und Franziska Deutschmann. Corvin Rick (geb. 1993), studiert Master Soziologie an der Universität Bonn; passionierter Fußgänger und Vegetarier im Geiste. Schon in der Schulzeit ein zahmer Bücherwurm, distinguiert er sich gegen das universitäre Bobomillieu durch die prätentiöse Verwendung einer Kleinstadt-Gossensprache, die er immer schon verachtet hat. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte sind evolutionäre Sozialtheorie und Gewaltprozesse in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Sabine Sieverding (geb. 1987), Masterstudentin der Geschichtswissenschaft an der Universität Bonn (Bachelor in Geschichte SOZIOLOGIEMAGAZIN Soziologische Fragmente #1 43 MAGAZIN FÜR STUDIERENDE UND SOZIOLOGIEINTERESSIERTE SOZIOLOGIE MAGAZIN Publizieren stat t archivieren 2 Hefte pro Jahr | Print 13,00 € | E-Journal: www.soziologiemagazin.de READ US ONLINE | FOLLOW US | BUY AS PRINT Das Soziologiemagazin ist eine Initiative von Studierenden und jungen Nachwuchswissenschaftler*innen, um die Sichtbarkeit studentischer Beiträge im deutschen Soziologiediskurs zu erhöhen. Mit der Zeitschrift soll die Schnittstelle zwischen Studium und Nachwuchswissenschaft besetzt werden. Zu wechselnden Call4Papers können somit Studierende und Nachwuchswissenschaftler_innen wissenschaftliche Artikel einreichen, die in einem anonymisierten Peer-Review-Verfahren durch das Redaktionsteam und den Wissenschaftlichen Beirat ausgewählt und betreut werden. Das Soziologiemagazin gibt es als kostenloses eJournal sowie als gedruckte Ausgabe als Print-On-Demand. Mach mit: [email protected] soziologiemagazin.de fb.me/Soziologiemagazin twitter.com/sozmag youtube.com/c/Soziologiemagazin WIR BOBOS Soziologische Fragmente Wir Bobos. Zur Autoethnographie eines Sozialtyps DOI: 10.5281/zenodo.369533 SOZIOLOGIEMAGAZIN | www.soziologiemagazin.de Soziologische Fragmente #1 45