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Fin de siècle

2007, „Fin de siècle“. In: Burdorf / Fasbender / Moenninghoff (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart 2007, S. 243f.

Fin de siècle, n. [f<ü04>ε d<40/0> <20/7>sjεkl<40/0> ; frz. = Ende des Jh.s], mit dem kalendarischen Ende des 19. Jh.s koinzidierende, von etwa 1880 bis zum Ersten Weltkrieg dauernde Epoche der Lit.- und Kulturgeschichte, die sowohl durch diffuse Endzeitstimmungen als auch durch ein spezifisches Modernitätsbewusstsein geprägt ist. – Der Begriff wird enger verwendet als die etwa denselben kulturgeschichtlichen Zeitraum umfassende Bez. #›Jh.wende‹: Gemeinsam sind den unter ›F.d.s.‹ zusammengefassten Strömungen wie #Décadence, #Symbolismus und #Neuromantik die Absage an den #Naturalismus, die Abkehr vom bürgerlichen Liberalismus und die Wende zu irrationalistisch-lebensphilosophischen Konzepten. Der Positivismus wird durch Fortschritts-, Technik- und Medienskepsis in Frage gestellt; die stark beschleunigten sozialen Entwicklungen provozieren künstlerische und religiöse Gegenentwürfe, in die neben theosophischen und spiritistischen Strömungen v.a. das in der Romantik entwickelte Autonomiebewusstsein der Kunst bzw. das von Th. Gautier und seinen Nachfolgern entwickelte Konzept der #L’art pour l’art eingehen). Parallel zum populären Monismus, der die Identität von Geist und Materie postuliert und Gedanken der romantischen Naturlehre aufgreift (E. Haeckel, G.Th. Fechner), erscheinen die artifiziellen Welten der Kunst und Lit. des F.d.s. als Laboratorien einer #Avantgarde, die synästhetische oder mystische Entgrenzung anstrebt (R.M. Rilke, M. Maeterlinck). Die mit der Auflösung sozialer und familiärer Strukturen einhergehende individuelle Freiheit erlaubt eine bis dahin nicht gekannte Spannbreite an künstlerischen Experimenten und Extravaganzen. Der mit ästhetischem Raffinement und urbaner Blasiertheit ausgestattete Dandy (#Dandyismus) sowie seine radikalisierte Ausprägung, der zwischen Lebenslust und 1 Lebensüberdruss schwankende Décadent, sind wichtige Verhaltensmuster in der Kultur des F.d.s. (J.-K. Huysmans, G. D’Annunzio). Hinzu kommen das melancholische Leiden an der eigenen Ohnmacht sowie die Ästhetisierung und Kultivierung von Weltschmerz und Menschenhass (O. Wilde). Elitarismus, der Abscheu vor allem Banalen und Alltäglichen, das Schwelgen in metaphysischen Spekulationen, aber auch in Abnormitäten und obszönen Grausamkeiten, sind Grundmotive des F.d.s. (J.-K. Huysmans, St. Przybyzweski). Die beiden Grundtypen des Décadent und des auf F. Nietzsche zurückgehenden ›Übermenschen‹ konvergieren in ihrer Ablehnung einer bürgerlich egalitären Gesellschaft (z.B. im #George-Kreis), unterscheiden sich aber in ihrem Verhältnis zur Natur: Während der Weltekel des Décadent Werte wie ›Gesundheit‹ oder ›körperliche Kraft‹ zu Feinden der Kunst erklärt, beklagt der nietzscheanische Zivilisationskritiker die Auflösungs- und Erschöpfungszustände der abendländischen Kultur. Pessimismus und Spätzeitgefühl (Th. Mann) gehören ebenso zum ästhetischen und mentalen Repertoire des F.d.s. wie Erlösungsphantasien und der Durchbruch zur #Moderne. – Eine weitere für das lit. F.d.s. zentrale Spannung ist die Dialektik von Sprachskepsis (H.v. Hofmannsthal) und Sprachmagie (St. Mallarmé, St. George), die – teilweise in Anlehnung an die Philosophie F. Mauthners – die Grenzen der sprachlichen #Mimesis auslotet und dabei neue lit. Darstellungsverfahren hervorbringt. – Wesentlich für das Verständnis des F.d.s. sind auch dessen Beziehungen zur Psychologie und Psychiatrie. Schriften wie »Genio e follia« (1864) des it. Kriminologen C. Lombroso, J.-M. Charcots Hysteriestudien und S. Freuds »Traumdeutung« (1900) bestimmen die anthropologischen Vorstellungen und das kulturelle Klima im F.d.s. Sie liefern den psychopathologischen und 2 weltanschaulichen ›Rohstoff‹ einer überfeinerten, kränkelnden oder überspannten ›Nervenkunst‹ (H. Bahr). In denselben Zusammenhang gehört auch das an sexualpathologische Studien von Charcot, Freud, O. Weininger und R.v. Krafft-Ebing anknüpfende Motiv der vampirhaft triebgesteuerten ›femme fatale‹ (O. Wilde: »Salome«, 1891), dem auf der Gegenseite Ansätze zu einer erotischen Rebellion der Frau (F. zu Reventlow) und der Entwurf eines autonomen weiblichen Subjekts (L. AndreasSalomé) korrespondieren. – Zuerst belegt in E. Zolas Künstlerroman »L’Œuvre« (1886) sowie in der von A. Baju herausgegeben Zs. »Le Décadent littéraire et artistique« (1886–89) entwickelt sich der Begriff ›F.d.s.‹ zu einem modischen Schlagwort, das auch in England, Italien und Deutschland (H. Bahr, M. Herzfeld) eine rasche Verbreitung findet. Symptomatisch für eine Rückkehr zu metaphysischen Fragen ist – neben dem allg. Interesse für theosophisch-spiritistische Strömungen und der Tendenz zur Sakralisierung von Kunst – der in den 1890er Jahren einsetzende und von großer öffentlicher Resonanz begleitete Übertritt vieler Literaten zum katholischen Glauben (J.-K. Huysmans, F. Jammes, P. Claudel, P. Bourget, Ch. Péguy; #›Renouveau catholique‹). – Die Bildung künstlerischer #Avantgarden im F.d.s. äußert sich nicht nur in deren ästhetischer Programmatik, sondern auch in einem transnationalen Beziehungsgeflecht und in – meist urbanen – Subkulturen. Dazu gehören die Kaffeehauslit. des ›Jungen Wien‹ (H. Bahr, R. Beer-Hofmann, P. Altenberg) ebenso wie die Bohème- und SymbolistenZirkel in Paris (um St. Mallarmé), Berlin, München, London, Turin, Mailand und St. Petersburg, aber auch die Anarcho-Bohème um E. Mühsam oder die alternative Lebenskultur der sich in Ascona treffenden Monte-VeritàKommune. 3 Lit.: R. Bauer u.a. (Hg.): F.d.s. Ffm 1977 – H. Feinendegen: Dekadenz und Katholizismus. Paderborn 2002. – J.M. Fischer: Jh.dämmerung. Wien 2000. – H. Hinterhäuser: F.d.S. Mchn. 1977. – Ch. Lubkull (Hg.): Das Imaginäre des F.d.s. Freiburg 2001. – M. Milner: L’imaginaire des drogues. De Thomas De Quincey à Henri Michaux. Paris 2000. – Y.-G. Mix (Hg.): Naturalismus, F.d.s., Expressionismus. Mchn. 2000. – G. Ponnau (Hg.): Fins de Siècle. Toulouse 1989. – K. Tebben (Hg.): Dt.sprachige Schriftstellerinnen des F.d.s. Darmstadt 1999. – J. Viering: F.d.s. In: RLW. – P. Wilson: The Oscar Wilde Years. Bournemouth 2004. – St.B. Würffel (Hg.): F.d.s. 1885– 1914. Stgt. 2004. Sabine Haupt 4