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Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus?

2017, „Was ist aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus“, in: Martin Hähnel (ed.): Aristotelischer Naturalismus, Stuttgart: J.B. Metzler 2017, 19-41.

Neo-Aristotelian Naturalism draws on Aristotle. In some respects the philosophical affinity to Aristotle seems clear, in other respects the similarities are less obvious. There is also an English version available (Aristotle an Aristotelian Naturalism).

B Differenzierungen Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? Christof Rapp I. Neo-Aristotelischer Naturalismus Aristoteles’ praktische Philosophie rekurriert an verschiedenen Stellen auf die menschliche Natur und auf Gegebenheiten, die angeblich von Natur aus bestehen. Einige dieser Aussagen stehen in direktem Zusammenhang mit der Entfaltung einer Ethik, in der die Tugenden des Menschen eine wesentliche Rolle spielen. Mit diesem Ansatz wurde Aristoteles für lange Zeit als Vorbild für naturrechtlich fundierte Ethiken zitiert, in der Neuzeit und Moderne hingegen mehrheitlich für die anthropologisch-essentialistischen Voraussetzungen seiner Ethik kritisiert. In der zuerst von Elizabeth Anscombe und Peter Geach angestoßenen und dann seit den 1980er Jahren intensiv betriebenen Rehabilitierung der Tugendethik spielte Aristoteles für viele Autoren die Rolle des Ideengebers – vor allem im Hinblick auf (i.) die Verbindung von Tugenden, Handlungen und Eudämonismus, (ii.) die motivationale Analyse der tugendhaften Handlungen, (iii.) die Verbindung von Tugenden und affektiven Antrieben und (iv.) die Verortung der Tugenden als beständige Charakterzüge.1 Im Zuge dieser Rehabilitierung von Ethiken Aristotelischen Typs wurde die Verbindung von Tugenden und menschlicher Natur mal als enger, mal als lockerer konzipiert. In After Virtue (vgl. MacIntyre 1985) z. B. macht Alasdair MacIntyre seine ausdrücklich als »Aristotelisch« ausgewiesene Tugendkonzeption keineswegs an der menschlichen Natur, sondern vielmehr am inhärenten Ziel einer Praxis fest, die durch die jeweilige Gemeinschaft und Tradition geprägt ist.2 Autoren wie MacIntyre selbst und Williams kritisierten die Bezugnahme auf die Natur des Menschen innerhalb der Aristotelischen Ethik explizit als »biologische Metaphysik« (vgl. MacIntyre 1985 und Williams 1985). Diese Art von Kritik führte zu einer intensiven Diskussion über die Rolle der Natur und insbesondere der Natur des Menschen in der antiken Philosophie überhaupt und bei Aristoteles im Besonderen. Philosophinnen und Philosophen wie z. B. Julia Annas, Martha C. Nussbaum, John McDowell traten dem Eindruck entgegen, solche Thematisierungen der menschlichen Natur hätten bei Aristoteles die Funktion, die Ethik oder das moralische Den1 2 Zu einem Überblick über neoaristotelische Tendenzen in der Ethik der Gegenwart siehe Brüllmann/Burkard/Rapp (2011). Siehe auch Rapp (1994). M. Hähnel (Hrsg.), Aristotelischer Naturalismus, DOI 10.1007/978-3-476-04333-7_3, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017 20 Differenzierungen ken in einem außerethischen Faktum zu fundieren. Entgegen der Tendenz zu einer Verbannung der Natur bzw. der Natur des Menschen aus der Ethik suchten dieselben Autorinnen und Autoren in den moralphilosophischen Texten der Antike Hinweise auf einen »reichen«, einen zugleich deskriptiven und normativen oder einen internen, d. h. aus der Perspektive der handelnden und moralisch reflektierenden Person konzipierten, Naturbegriff.3 In einem weiteren Sinn kann man diese Arbeit an einer unproblematischen und für die Ethik einträglichen Verwendung der Natur in Auseinandersetzung mit der Interpretation der Aristotelischen Texte als eine neoaristotelische Wiederentdeckung von Natur-Argumenten in der Ethik, und in diesem Sinn als »Neo-Aristotelischen Naturalismus« betrachten. Davon zu unterscheiden ist eine Gruppe von Philosophinnen und Philosophen, die ebenfalls Aristoteles’ moralphilosophische Thematisierung der Natur des Menschen verteidigen, aber eine ganz spezifische Verwendung dieser Thematisierung und eine unmittelbare Verknüpfung von Tugenden und Lastern mit der Natur des Menschen im Blick haben: Gemeint ist die Gruppierung, die Tugenden und Laster direkt von dem für die Lebensform Mensch spezifischen Gut abhängig machen wollen und das Fehlen von Tugenden beim Menschen mit natürlichen Defekten bei anderen natürlichen Spezies (wie z. B. der Unfähigkeit eines Spechts zu klopfen) analogisieren. Vertreten wird diese Art von Auffassung v. a. von Philippa Foot, Michael Thompson, Rosalind Hursthouse und einer wachsenden Anzahl von Anhängern und Nachahmern. Es ist diese Gruppierung, die in neuerer Zeit im Besonderen mit der Charakterisierung »Aristotelischer Naturalismus« bedacht wurde. Nach Einschätzung von Rosalind Hursthouse ist der Neo-Aristotelische Ethische Naturalismus durch die Vermeidung von Supernaturalismus auf der einen und der Ablehnung von moralischem Anti-Realismus bzw. Anti-Kognitivismus auf der anderen Seite charakterisiert;4 dagegen zeichnen sich nach Hursthouse die Vertreter der letztgenannten Richtung dadurch aus, dass sie Ethik als autonom ansehen, indem sie keine Rechtfertigung ethischer Urteile durch außerethische Tatsachen anstreben. Vielmehr nehme der Aristotelische Naturalismus Bezug auf Fakten, die zugleich evaluativ und natürlich seien und unter denen sich auch moralische Fakten befänden. Geht man von einer solchen Charakterisierung aus, dann ist der Aristotelische Naturalismus eher nicht als eine Unterart des ethischen Naturalismus zu begreifen. Vielmehr scheint der Aristotelische Naturalismus, grob gesprochen, durch die Annahmen charakterisiert zu sein, (i.) dass sich die Berufung auf die Natur in ethischen Fragen im Anschluss an Aristoteles als unproblematisch und sogar wichtig erweisen lässt – insbesondere im Hinblick auf die Vermeidung von ethischem AntiRealismus und Anti-Kognitivismus, (ii.) dass die Thematisierung der außermenschlichen Natur und des Wohlergehens nicht-menschlicher Spezies instruktiv für das Verständnis menschlicher Tugenden sei, (iii.) dass das Fehlen von Tugenden beim Menschen bestimmten natürlichen Defekten bei anderen Spezies vergleichbar sei 3 4 Zu einer Erwiderung auf die Kritik an Aristoteles’ »biologischer Metaphysik« siehe Nussbaum (1995). Diese Diskussion wird häufig mit Bezug auf Aristoteles’ sog. ergon-Argument geführt; siehe dazu Lawrence (2006), Barney (2008) und Brüllmann (2012). Siehe den Beitrag von Hursthouse in diesem Band. Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 21 und (iv.) dass sich im Großen und Ganzen die Aristotelische Philosophie als Vorbild für eine solche Auffassung anbiete. Besonders hervorzuheben sind folgende Teilthesen, die von einzelnen Vertretern des Aristotelischen Naturalismus mit unterschiedlichem Nachdruck vertreten werden. Rehabilitierung der Aristotelischen Berufung auf die Natur: Die in der Neuzeit und Gegenwart als suspekt eingeschätzte Berufung auf die Natur, die sich in Aristoteles’ praktischer Philosophie findet, wird durch die Beobachtung relativiert, dass Aristoteles in seiner Ethik nicht auf das Natürliche als ein krudes, von praktisch überlegenden Personen unabhängiges Faktum verweist (vgl. v. a. Annas, Nussbaum, McDowell). Falschheit des moralischen Subjektivismus: Die Auffassung, dass es im Bereich der Moral nur subjektive Urteile gibt, die die Einstellungen verschiedener Sprecher zum Ausdruck bringen, ist falsch, denn für einige Werturteile (darunter auch moralische Urteile) gibt es objektive Kriterien der Wahrheit (vgl. vor allem Foot). Attributive Theorie des Guten: Wenn wir den Ausdruck »gut« richtig verwenden, müssen wir ihn attributiv verwenden, d. h. wir müssen von »dem guten F« sprechen. Diese Auffassung geht auf Peter Geach zurück, wurde aber in der neueren Diskussion vor allem durch Philippa Foot zur Geltung gebracht. Eine Konsequenz dieser Theorie scheint auch eine speziesrelative Auffassung vom Guten zu sein, denn wenn wir »gut« strikt attributiv verwenden, müssen wir vom »guten Wolf«, vom »guten Kuckuck« und vom »guten Menschen« sprechen, woraus sich dann Bestimmungen über das Für-den-Wolf-Gute und das Für-den-Kuckuck-Gute ableiten lassen. Zweite Natur: Die Vernunft des Menschen manifestiert in einem Aristotelischen Rahmen gewissermaßen als die zweite Natur des Menschen, denn sie geht aus dessen erster Natur – seinen natürlichen Impulsen und Anlagen – in einer kontinuierlichen Entwicklung hervor, indem sie sich als ein Vermögen zum Erfassen von Gründen entfaltet; die entwickelte zweite Natur kann sich aber gegen die Gründe der ersten Natur wenden (v. a. McDowell). Dieses Modell ist wichtig, um deutlich zu machen, dass, obwohl es eine Analogie zwischen dem Gedeihen anderer Spezies und dem Gedeihen des Menschen gibt, die Entfaltung des spezifischen Merkmals des Menschen eine ganz neue Ebene eröffnet, die es eben mit Rationalität und Gründen zu tun hat. Analogie zu Tugenden und Lastern im außermenschlichen Bereich: Was wir im menschlichen Bereich als ein Laster bezeichnen, entspricht im außermenschlichen Bereich einem natürlichen Defekt, wie z. B. die Unfähigkeit des Kuckucks »kuckuck« zu machen (Foot). Aristotelian categoricals und naturhistorische Aussagen: Durch solche Aussagen stellen wir fest, welche Eigenschaften einer bestimmten Spezies oder Lebensform typischerweise zukommen. Sie sind einerseits faktisch, ermöglichen aber andererseits normative Aussagen, etwa dann, wenn wir natürliche Defekte, wie Lahmheit, Blindheit etc. feststellen (Thompson). Auch menschliche Charakterzüge müssen sich nach Kriterien beurteilen lassen, die wir allgemein zur Bewertung von Lebewesen benutzen, etwa nach den Kriterien, inwieweit sie zur Selbst- und Arterhaltung oder zum gelingenden Sozialverhalten in einer Gruppe beitragen (Hursthouse). 22 Differenzierungen II. Die Frage nach den Aristotelischen Wurzeln Neoaristotelische Positionen in der philosophischen Debatte der Gegenwart gehen auf bestimmte Lesarten der Aristotelischen Texte oder auf bestimmte Traditionen der Aristoteles-Deutung zurück. Die namensgebende Gemeinsamkeit, nämlich »Aristotelisch« zu sein, besagt daher grundsätzlich nicht mehr, als dass die entsprechenden Positionen oder Theorien durch Aristoteles’ Philosophie in der einen oder anderen Weise inspiriert sind. Die Vertreterinnen und Vertreter des Neoaristotelismus behaupten, ein ursprünglich von Aristoteles vertretenes Argument, eine von ihm vertretene These oder Theorie in einer Weise reformulieren oder verteidigen zu können, dass die Relevanz, Angemessenheit oder Überlegenheit der Aristotelischen Position im Vergleich zu anderen, konkurrierenden Ansätzen deutlich wird. Die Behauptungen der Neoaristoteliker sind daher primär systematischer, nicht historischer oder text-exegetischer Natur. Aus diesem Grund wäre es unangebracht, Neoaristoteliker für mangelnde Treue zum Wortlaut Aristotelischer Texte oder allgemein für Defizite in der vorausgesetzten Exegese Aristotelischer Texte zu kritisieren (wenngleich, de facto, sich manche Neoaristoteliker auf einer gewissen Gradwanderung zwischen systematischen und exegetisch-interpretatorischen Behauptungen bewegen). In erster Linie muss sich ein neoaristotelischer Theorieansatz daran messen lassen, ob es ihm gelingt, sich als philosophisch überzeugende oder vielleicht sogar überlegene Option in der moralphilosophischen, metaphysischen, logischen etc. Debatte unserer Zeit zu etablieren. Wenn dies gelingt, ist die Frage nach der Berechtigung des Attributs »Aristotelisch« selbstverständlich nachrangig. Dennoch hat die Frage nach der Übereinstimmung zwischen einer neoaristotelischen Position und den Aristotelischen Texten ihre Berechtigung – und zwar nicht nur im Hinblick auf die historische Angemessenheit. Trotz der grundsätzlich systematischen Ausrichtung neoaristotelischer Ansätze beanspruchen nämlich Neoaristoteliker den historischen Aristoteles typischerweise als einen unabhängigen Zeugen für ihre Auffassung. Stellenweise fallen sie auch in Argumentationsmuster zurück, die darauf abheben, dass bestimmte Thesen oder Argumente so oder ähnlich auch schon plausibel oder erfolgreich von Aristoteles vertreten worden seien, dass bestimmten Ideen, von denen Aristoteles Gebrauch macht, zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind oder dass bestimmte Begriffe in der antiken Philosophie überhaupt in einem ursprünglicheren, reicheren oder unverfänglichen Sinn benutzt worden seien. Ähnlich werden Aristotelische Positionen bisweilen mit dem Commonsense oder mit einem intuitiv plausiblen Zugang im Unterschied zu – angeblich – szientistisch verengten oder durch die spätere Geistesgeschichte korrumpierten Auffassungen in Verbindung gebracht. In Fällen wie diesen übernimmt die Berufung auf die historische Vorbildung Teile der erforderlichen Begründungsleistung und dabei gehen Appelle an das historische Vorbild Aristoteles bisweilen sogar in so etwas wie Autoritätsbeweise über. Der Frage, ob in der Antike oder speziell bei Aristoteles tatsächlich die insinuierten Auffassungen vertreten worden sind, kann somit eine Bedeutung auch hinsichtlich der sachlichen Plausibilität und Begründbarkeit der neoaristotelischen Position zukommen. Oft stellen neoaristotelische Thesen den Versuch dar, ein bestimmtes bei Aristoteles vorhandenes Motiv oder ein bestimmtes Theorem zu disambiguieren und konsequent zu Ende zu denken, während dasselbe Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 23 Theorem in den Aristotelischen Texten selbst in unterschiedliche Richtungen ausdeutbar oder Teil einer komplexeren Theorie ist. Vor allen Dingen liegt es in der Natur der Sache, dass Neoaristoteliker versuchen müssen, die Ideen eines antiken Autors auf Kontroversen der Gegenwart zu beziehen und sie dafür entsprechend zuzuspitzen oder umzuformen. Insofern liefern neoaristotelische Positionen, selbst wenn sie interpretatorisch nicht unplausibel sind, selten die maßgebliche oder gar alternativlose Lesart von Aristoteles. Und daher kann auch Aristoteles nur bedingt als unabhängiger Zeuge für diese Theorien herhalten. Der nachfolgende Vergleich von Aristotelischem Naturalismus mit Aristoteles hat vor diesem Hintergrund vor allem den Sinn auszuloten, inwieweit sich der Aristotelische Naturalismus auf Aristoteles als Gewährsmann berufen kann oder ob Aristoteles’ Ethik an entscheidenden Stellen andere Lesarten offenlässt oder sogar nahelegt. In den meisten Fällen verhält es sich, wie wir sehen werden, so, dass der Aristotelische Naturalismus einerseits tatsächlich an Theoreme oder Argumente der Aristotelischen Philosophie anknüpfen kann, dass sich aber andererseits auch alternative oder sogar entgegengesetzte Tendenzen bei Aristoteles finden lassen. III. Naturwissenschaft und Ethik bei Aristoteles Den Vertreterinnen und Vertretern des Aristotelischen Naturalismus ist daran gelegen, einen nicht-reduktionistischen, nicht-szientistischen Begriff der Natur zu umreißen, an den Aussagen der Ethik sinnvoll anknüpfen können (ohne dabei z. B. einen Sein-Sollens-Fehlschluss oder einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen). Nussbaum tut dies unter Berufung auf unsere Überzeugungen über die menschliche Natur (vgl. Nussbaum 1986, Kapitel 8), McDowell entwickelt zu diesem Zweck den Begriff der zweiten Natur, Thompson macht dafür Gebrauch von W. Sellars Gegenüberstellung von einem manifesten, alltäglichen, lebensweltlichen und einem wissenschaftlichen Begriffssystem (vgl. Thompson 2008, 10). Dabei wird Aristoteles für die erste Art von Begriffssystem sowie allgemein für die Praxis vereinnahmt, Strukturen, die den menschlichen Handlungen entnommen sind, für sämtliche Bereiche der Wirklichkeit anzuwenden. Dies scheint plausibel, weil Aristoteles’ wiederkehrende Berufungen auf die Natur selbstverständlich der modernen Dichotomie von Naturwissenschaft auf der einen und Ethik und menschlichen Handlungen auf der anderen Seite vorausgeht. Bei dieser modernen Dichotomie wird angenommen, dass es der Bereich der Naturwissenschaft mit sicherer Erkenntnis, empirischen, quantitativen Methoden und mit Expertenwissen zu tun hat, während es im Bereich menschlicher Handlungen nur um Meinungen, Konventionen, subjektive Präferenzen geht, für die keine klaren Methoden zur Verfügung stehen und die daher mit dem Commonsense oder Alltagswissen in Verbindung stehen. Aristoteles passt schon deswegen nicht in die moderne Dichotomie, weil in seinem System der Wissenschaften zumindest die drei Bereiche Ethik, empirische Naturforschung und Metaphysik zu unterscheiden sind (hinzu kommt außerdem der Bereich der Logik, Semantik, Wissenschaftstheorie). Dabei ist die empirische Naturforschung keineswegs der einzige Bereich, der sicheres Wissen zutage fördert; auch die eher begrifflich orientierte Metaphysik oder Erste Philosophie erhebt den 24 Differenzierungen Anspruch, sicheres Wissen zu begründen. Da ein Philosoph Aristotelischen Typs sich in allen genannten Wissensbereichen betätigt, gibt es auch nicht die Form von epistemischer Parzellierung, die das Expertenwissen in der Naturforschung gänzlich vom Alltagswissen abtrennt. Wer daher in praktisch-ethischer Absicht Aussagen über die Natur oder die Natur des Menschen macht (und sich dabei auf die Ergebnisse Aristotelischer Biologie und Zoologie beruft), begibt sich nicht auf völlig fremdes Terrain, so dass grundsätzlich eine Kontinuität zwischen praktischem, naturphilosophischem und metaphysischem Wissen zu bestehen scheint. Andererseits verhält es sich aber nicht so, dass Aristoteles von einer naiven Einheit aller Wissenschaften ausgehen würde; vielmehr legt er Wert auf die Unabhängigkeit einzelner Forschungsbereiche und betont immer wieder, dass unterschiedliche Wissensbereiche mit unterschiedlichen Standards an Genauigkeit und Zuverlässigkeit verbunden sind. Gerade der Bereich der Moralphilosophie muss sich an vielen Stellen mit umrisshaften Beschreibungen abfinden und kann oft nur Aussagen machen, die in der Regel, aber nicht allgemein Geltung haben. Daher weist die praktische Philosophie einen besonderen Status auf und kann somit auch eine gewisse Autonomie gegenüber anderen Disziplinen beanspruchen. Deshalb ist es auch nicht ohne weiteres der Fall, dass bei Aristoteles Aussagen der Biologie oder Zoologie eine direkte Bedeutung für die Ethik und umgekehrt Aussagen der Ethik eine direkte Bedeutung für die Naturforschung hätten. Wenn z. B. Thompson von Aristoteles sagt, er übertrage die Kategorien, mit denen der praktisch überlegende Handelnde arbeitet, gewissermaßen auf alle anderen Bereiche (vgl. Thompson 2008, 10 f.), dann kann damit jedenfalls nicht gemeint sein, dass die in der Ethik und praktischen Philosophie gewonnenen Grundbegriffe zur Analyse der gesamten Realität eingesetzt würden. Dies gilt auch für den bei Thompson zentralen Form-Begriff, der bei Aristoteles aus der Analyse des Entstehens, Vergehens und der Veränderung in der natürlichen Welt gewonnen wird, nicht aber von der praktischen Überlegung auf die Analyse natürlicher Phänomene übergeht.5 IV. Natur und Natur des Menschen in Aristoteles’ Ethik Die praktische Philosophie des Aristoteles umfasst als Hauptschriften die Nikomachische Ethik, die Eudemische Ethik (die Authentizität der dritten ethischen Schrift, der Magna Moralia, wird von den Experten mehrheitlich bezweifelt) und die Politik. Vor allem das erste Buch der letzteren Schrift, der Politik, enthält zahlreiche Hinweise auf die Natur und Dinge, die sich angeblich natürlich so verhalten. Bekanntlich 5 Der Form-Begriff, den Thompson der Aristotelischen Philosophie entnehmen will, ist ohnehin schillernd. Streng genommen müssen Aristotelische Formen immer einer Materie korrespondieren, deren Form, Gestalt, Arrangement sie sind (Ausnahme: die Formen in der Seele derer, die den Wesensbegriff eines entsprechenden Gegenstandes denken), so dass alle anderen Verwendungen von »Form« nur analog oder metaphorisch gemeint sein können. Daher sind auch die von Thompson genannten Beispiele für Form-Begriffe – Lebensform, Handlung, Intention, Wollen, praktische Disposition, soziale Praxis (siehe Thompson 2008, 11) – keine Formen im Sinne des Aristotelischen eidos, sondern haben mit diesen höchstens das gemeinsam, was Thompson als eine bestimmte Art von Einheit bezeichnet. Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 25 behauptet Aristoteles dort, der Staat existiere von Natur aus und der Mensch sei ein von Natur aus politisches Lebewesen. Gelegentlich spricht er in diesem Buch auch über die Natur des Haushalts, die Natur des Dorfes und über die Natur des Geldes; und er formuliert im selben Buch das berüchtigte Argument, nach dem manche Menschen ihrer individuellen Natur oder Gruppennatur nach nicht zum Herrschen und Befehlen, sondern besser zum Ausführen von Befehlen geeignet seien (zu diesen Behauptungen der Politik siehe unten Abschnitt V). In den beiden im engeren Sinn ethischen Schriften, der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik wird das Natürliche weitaus seltener und an weniger prominenten Stellen thematisiert. In der Tradition des klassischen Naturrechtsdenkens findet daher vor allem Aristoteles’ Politik Beachtung. Der neuere Aristotelische Naturalismus hingegen setzt mit wenigen Ausnahmen eher bei der Ethik oder bei der Ethik zusammen mit einigen Ideen der Metaphysik und Naturphilosophie an. Das ist bemerkenswert, da die Aristotelische Ethik im engeren (die politische Philosophie ausschließenden) Sinn verglichen etwa mit der Stoischen Ethik einen recht zurückhaltenden Umgang mit Verweisen auf das Natürliche oder von Natur aus Bestehende pflegt. Während z. B. in der stoischen Ethik eine konkrete Entscheidung zwischen zwei Handlungsoptionen (nämlich zwei Optionen, die adiaphora sind, d. h. keinen eigentlichen moralischen Wert besitzen) unter Hinweis auf die Natürlichkeit der einen und der Widernatürlichkeit der anderen Option eindeutig entschieden werden könnte, ist der Aristotelischen Ethik dieses Argumentationsschema (»x muss getan werden, weil es natürlich ist«), weitgehend fremd. Was nun die Rolle der Natur in der Ethik des Aristoteles betrifft, so gibt es vor allem eine systematische Kernstelle, die von der Natur des Menschen bzw. von den für den Menschen spezifischen Eigenschaften Gebrauch macht. In der – häufiger gelesenen – Nikomachischen Ethik erfolgt diese Berufung auf die Natur des Menschen innerhalb des sogenannten ergon-Arguments (Buch I, Kapitel 66 der Nikomachischen Ethik), innerhalb desjenigen Arguments nämlich, das zeigen soll, dass das für den Menschen Gute und somit sein Glück (eudaimonia) nur mithilfe der für den Menschen spezifischen Leistung oder Funktion bestimmt werden kann. Sinngemäß sagt Aristoteles dort, die spezifische Leistung oder Funktion (ergon) des Menschen bestehe nicht darin, dass er die lebenserhaltenden und reproduktiven Fähigkeiten eines Lebewesens ausüben kann, und auch nicht darin, dass er wahrnehmen kann (denn Ersteres habe der Mensch sogar mit Pflanzen, Letzteres mit allen sub-humanen Tieren gemeinsam), sondern darin, dass er über die Vernunftfähigkeit (logos) verfüge. Für das glückliche Leben komme es nun nicht auf den Besitz dieser Fähigkeit, sondern auf ihre Ausübung an. Außerdem können alle Fähigkeiten einfach nur so oder gut bzw. vortrefflich ausgeübt werden, für das gute Leben aber komme es auf die gute oder vortreffliche Ausübung der für den Menschen spezifischen Fähigkeit an. Das für den Menschen Gute (d. h. das für ihn gute Leben) bestehe demnach in einer Betätigung der für Menschen spezifischen Seelenteile »gemäß der Bestheit oder Vortrefflichkeit (kat’ aretên)« – gewöhnlich übersetzt als »gemäß der Tugend«, 6 Nach der im deutsch- und romanischsprachigen Bereich üblichen Bekker-Zählung der Kapitel; in der angelsächsischen Literatur wird die Bywater-Zählung bevorzugt, nach welcher sich das Argument in Kapitel 7 des ersten Buches befindet. 26 Differenzierungen denn »Tugend«, »virtus«, »virtue« etc. sind die traditionellen Übersetzungen des griechischen Ausdrucks aretê. Dies ist im Umriss das berühmte ergon-Argument, durch das Aristoteles die Natur des Menschen mit dem Thema der Tugenden verknüpft. Wie man nun von der Vortrefflichkeit/Tugend (im Singular) zu den verschiedenen Aristotelischen Tugenden (im Plural) gelangt, ist eine andere Frage, auf die wir später (Abschnitt X) eingehen werden. Auch war genau genommen von »Natur« oder der »Natur des Menschen« explizit gar nicht die Rede. Lediglich an einer untergeordneten Stelle benutzte Aristoteles eine Verbform (pephyken: 1097b 30), die mit dem griechischen Wort für Natur »physis« verwandt ist.7 Worauf Aristoteles hingegen Wert legt, ist, das für den Menschen Eigentümliche, Kennzeichnende oder Spezifische (to idion) zu benennen, also das, was keinem anderen Ding oder Wesen außer den Menschen zukommt. In den logischen Schriften unterscheidet Aristoteles zwischen nur eigentümlichen und wesentlichen Eigenschaften, weil Letztere für die Träger dieser Eigenschaften notwendig sein müssen, Erstere nicht. Andererseits kann der Begriff des Eigentümlichen auch so gebraucht werden, dass er die Essenz oder das Wesen einer Sache mitumfasst, weil Essenzen ebenfalls zu den Eigenschaften gehören, die einer Sache eigentümlich sind, d. h. ausschließlich Trägern dieser bestimmten Art zukommen. In diesem letzteren, umfassenden Sinn scheint auch hier von dem für den Menschen Eigentümlichen die Rede zu sein. Und wann immer Aristoteles von der Vernunftfähigkeit des Menschen spricht, kommt das sehr nahe an das heran, was er als Wesen oder Essenz des Menschen ansieht. Denn nach Aristotelischer Auffassung besteht das Wesen des Menschen – das, was einen natürlichen Körper zum Menschen macht –, darin, dass dieser Körper auf die für den Menschen typische Weise beseelt bzw. belebt ist; und die für den Menschen typische Weise belebt zu sein, besteht wiederum darin, dass sie neben vitalen, vegetativen, perzeptiven und konativen Fähigkeiten auch die Fähigkeit zur Entwicklung der Vernunft enthält. Das ergon-Argument der Nikomachischen Ethik hat also nur in dem Sinn mit Natur und Naturalismus zu tun, dass es die Natur im Sinne des Wesens oder der Essenz des Menschen thematisiert – und auch dies nur indirekt, weil die Bestimmung des spezifischen ergon des Menschen von Annahmen über dessen Wesen abhängig ist (in diesem Sinn hängt Aristoteles’ Ethik mit so etwas wie einem anthropologischen Essentialismus zusammen). In der Eudemischen Ethik (Buch II, Kapitel 2) bezieht sich das ergon-Argument im engeren Sinn nur auf die Seele oder das Belebt-Sein im Allgemeinen; die für den Menschen besondere Form von Belebt-Sein kommt erst in einem weiteren Schritt ins Spiel. Das für die Aristotelische Ethik in der Tat wichtige ergon-Argument hat also einen Bezug zu Annahmen über die Natur/das Wesen des Menschen; hat es dadurch auch einen Bezug zu natürlichen Tatsachen 7 Der Ausdruck wird innerhalb einer von zwei rhetorisch gemeinten Fragen verwandt, mit denen Aristoteles dem möglichen Einwand zuvorkommen will, es gäbe gar kein spezifisches ergon für den Menschen. In der ersten dieser Fragen formuliert er: »Sollte es also wirklich (spezifische) Funktionen (erga) und Tätigkeiten des Schreiners und des Schusters geben, vom Menschen aber keine, sondern (soll der Mensch) von Natur aus (pephyken) ohne Funktion (argon) sein?« Man mag der Stelle den allgemein gültigen Sachverhalt entnehmen, dass das ergon etwas ist, das einer Sache »von Natur aus« oder »seiner Natur nach« zukommt, es ist aber deutlich, dass es sich bei dieser Frage um einen Nebenschauplatz handelt. Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 27 und begründet es eine Form von Naturalismus? Mit anderen Worten: Was hat die Natur des Menschen (i.S.v. Wesen/Essenz des Menschen) überhaupt mit der Natur oder dem Natürlichen zu tun? V. Natur und Essenz bei Aristoteles Die Ausdrücke »physei – von Natur aus«, »kata physin – der Natur gemäß«, »para physin – gegen die Natur« begegnen sich in der Aristotelischen Philosophie auf Schritt und Tritt. Allerdings meinen diese im frühen und auch noch im Aristotelischen Griechisch oft nicht das, was der moderne Leser darin zu finden meint. Hier ein paar Beispiele: In der Politik interessiert sich Aristoteles bekanntlich für die Entstehung der staatlichen Gemeinschaft aus elementareren Gemeinschaftsformen. Zu diesen gehören der Haushalt und das Dorf. An der Stelle, an der Aristoteles den Haushalt beschreibt, sagt er, dieser sei eine Gemeinschaft zur Befriedigung der Alltagsbedürfnisse. Genau genommen sagt er, dies sei »der Natur gemäß« der Fall.8 Übersetzer bilden daher Wendungen wie »die natürliche Gemeinschaft« oder gar »established by nature«, was uns in den Bereich dessen verweist, was ohne menschliches Zutun der Fall ist. Das klingt in diesem Kontext etwas überraschend, da es sich ja um von Menschen gebildete Gemeinschaften handelt, die sich durchaus nicht gegen ihren Willen oder in einem somnambulen Zustand zu solchen Gemeinschaften zusammenfinden. Plausibler liest sich der Satz, wenn man die Formulierung »der Natur gemäß« als eine Bemerkung über die Natur (i.S.v. Essenz/Wesen) des Haushalts liest: Seiner Natur gemäß ist der Haushalt nichts anderes als eine Gemeinschaft zur Sicherung der Alltagsbedürfnisse. Das nächste Beispiel schließt sich direkt an. Wird nämlich ein solcher Haushalt zu groß (durch Kinder, Kindeskinder und Kindeskindeskinder) bildet sich eine weitere Gemeinschaftsform, das Dorf. Dieses sei, so Aristoteles, eine Ausgründung (also gleichsam eine Kolonie) des Haushalts. Wieder fügt er hinzu, das sei »naturgemäß« und »am meisten« so.9 Die Übersetzer und Kommentatoren überbieten sich daher mit Formulierungen wie »in höchstem Maße ist das Dorf naturgemäß«. Der Superlativ macht doppelt deutlich, wie abwegig diese Übersetzung ist: Warum sollte das Dorf natürlicher sein als das, was zuvor kam (der Haushalt), und zugleich natürlicher als das, was danach kommt (der Staat)? Eine sinnvolle Aussage ergibt sich wiederum nur dann, wenn man anerkennt, dass es sich schlicht um eine Aussage über die Natur (i.S.v. Essenz/Wesen) des Dorfes handelt: »Am ehesten scheint das Dorf seiner Natur nach eine Ausgründung des Haushalts zu sein«. Man sieht an diesen Beispielen, wie sich vermeintliche Aussagen über die Natürlichkeit einer Sache (also naturalistische Aussagen) bei näherem Hinsehen in Aussagen über das Wesen/die Essenz einer Sache (also in essentialistische Aussagen) verwandeln. Während der moderne Leser bei Formulierungen, die die Begriffe »natürlich«, »naturgemäß«, »von Natur aus« enthalten, schnell an die unberührte 8 9 Siehe Politik I 2, 1252b 9–14: »ἡ μὲν οὖν εἰς πᾶσαν ἡμέραν συνεστηκυῖα κοινωνία κατὰ φύσιν οἶκός ἐστιν«. Siehe Politik I 2, 1252b 15–18: »μάλιστα δὲ κατὰ φύσιν ἔοικεν ἡ κώμη ἀποικία οἰκίας εἶναι.« 28 Differenzierungen und unverfälschte Natur, an die außermenschliche Natur (Wildnis, Dschungel, Biotop), an naturgesetzliche Gegebenheiten oder allgemein an den Bereich von Dingen denkt, die ohne jedes menschliche Zutun zustande kommen, interessieren sich gerade Platon und Aristoteles stets für das Wesen der Dinge, was man im Griechischen eben gerne durch die Formeln »physis einer Sache« oder »X seiner physis nach« ausdrückt. Das griechische Nomen physis kommt von phyesthai (wachsen); die physis einer Sache meint daher zunächst und ursprünglich den Zustand, der sich als Ergebnis eines ungehinderten Wachstumsprozesses einstellt. Daher sagt Aristoteles auch, die physis einer jeden Sache zeige sich am Endzustand eines Entstehungsprozesses (Politik I 2, 1252b 32–1253a 1). Nun haben auch solche Dinge eine Natur oder ein Wesen, die alles andere als natürlich, sondern vielmehr vom Menschen hergestellt sind, nämlich Artefakte. Das Wesen eines Artefakts, seine Natur, ist das, was ihm der herstellende Mensch als Zweckbestimmung mit auf den Weg gegeben hat; z. B. bauen Menschen Häuser, um einen Schutz vor Wind und Wetter zu haben, so dass dies auch – zumindest nach Aristoteles – die Natur und zugleich das Wesen des Hauses ist, nämlich ein Gebäude zu sein, das seiner Gestalt und der verwendeten Materialien nach geeignet sein muss, seinen Bewohnern Schutz vor Wind und Wetter zu gewähren. Der Staat, um ein anderes vom Menschen geformtes Gebilde zu nennen, wird von Menschen um des autarken und guten Lebens willen gebildet (Politik 1252b 27–30, 1280a 31 f., 1280b 33–35, 1280b 38–1281a 2).10 Seine Natur (i.S.v. Wesen/Essenz) ist es daher, vom Menschen um des autarken und guten Lebens willen gegründet zu sein. Wenn das die Natur des Staates ist, dann hat das auch normative Konsequenzen, denn Staaten, die diese Zwecksetzung verfehlen, sind eben zu nichts zu gebrauchen (außer vielleicht zu den egoistischen Zielen der Herrscher). Aristoteles sagt von solchen Staaten deshalb auch, sie seien gegen die Natur (1287b 39–41). Gegen welche Natur? Natürlich gegen die Natur des Staates, die – wie gesagt – darin besteht, um des autarken und guten Lebens seiner Bewohner willen gegründet worden sein. Heißt das, dass die Natur einer Sache nichts mit der Natur und der hier vertretene Essentialismus nichts mit Naturalismus zu tun hat? Nein, denn bei natürlichen Dingen und besonders bei Lebewesen wird die Essenz durch naturgegebene Faktoren bestimmt, so wie bei Lebewesen die artspezifische Form und Essenz durch den Akt der Fortpflanzung weitergegeben und bestimmt wird. Für einige Dinge, und auch für Menschen, besteht also durchaus ein Zusammenhang zwischen Essenz und Natur sowie zwischen Essentialismus und einer Form von Naturalismus. Dennoch hat der Abschnitt gezeigt, dass bei Aristoteles viele Hinweise auf die Natur genau genommen der Natur einer Sache, d. h. ihrer Essenz, gelten. Betont man nun den »naturalistischen« Charakter der Aristotelischen Ethik, dann liegt es nahe, auf die natürliche 10 Das ist vereinbar mit der berühmten These des Aristoteles, dass der Staat von Natur aus besteht, denn diese Aussage betrifft nicht den Unterschied zwischen Artefakten und natürlichen Dingen. Vielmehr besteht der Staat von Natur aus, weil der Mensch seiner Natur nach ein politisches, d. h. auf ein Leben im Staat hin ausgerichtetes Lebewesen ist, und es seiner, des Menschen, Natur gemäß ist, sich um des guten Lebens willen in Staaten zusammenzuschließen. Dies ist nicht die gängigste Lesart dieser These; aber sie ist, wie ich argumentiert habe, philosophisch attraktiver als viele andere, und exegetisch nicht schlechter als diese (vgl. Rapp 2016). Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 29 Ordnung, auf außermenschliche Spezies und auf die biologischen Bedingungen der Entwicklung des Menschen einzugehen (wie es naturrechtliche Interpretationen und auch der Aristotelische Naturalismus tun); betont man dagegen den essentialistischen Aspekt der betreffenden Argumente, ist der Bezug auf die Biologie und die außermenschliche Natur nicht unmittelbar einleuchtend. VI. Die Natur der Seele Gehen wir nochmals zurück zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen, dem ergon-Argument (siehe oben, Abschnitt IV). Wenn Aristoteles über den Menschen oder die Natur des Menschen spricht, tut er das nie ohne von der Seele des Menschen zu sprechen. Nun könnte man sagen, das sei ja selbstverständlich, weil es um die Essenz des Menschen gehe und die Essenz des Menschen bei Aristoteles eben etwas mit der vernunftbegabten Seele zu tun habe. Allerdings lässt sich die Hervorhebung der Seele in allen Versionen des ergon-Arguments auch in eine ganz andere Richtung ausdeuten, nämlich folgendermaßen: Dem Menschen sei es eigentümlich, über eine vernunftbegabte Seele zu verfügen. Dieser Gedanke führt bei Aristoteles stets zu der Unterscheidung zwischen dem Teil der Seele, der selbst Vernunft besitzt (man spricht hierbei gerne vom »rationalen« Teil), und dem Teil der Seele, der zwar selbst keine Vernunft besitzt, aber in der Lage ist, auf die Vernunft zu hören (der »nicht-rationale« Teil der Seele, auch bekannt als Charakter). Der selbst nicht-rationale Teil der Seele ist seiner Natur nach dazu geschaffen/begabt/in der Lage, auf den Vernunft besitzenden Teil zu hören und ihm zu folgen (vgl. Eudemische Ethik II 1, 1220a 10–11). Es entspricht der Natur des affektiven, nicht-rationalen Seelenteils und ist zugleich nützlich für ihn, vom rationalen Seelenteil angeleitet und beherrscht zu werden (vgl. Politik I 5, 1254b 6–9). Das bedeutet, dass sich das eigentümliche, distinktive Merkmal der Menschen in einer auf bestimmte Weise strukturierten Natur seiner Seele manifestiert. Und diese Struktur der menschlichen Seele – dass sie ihrer Natur nach zwei Teile aufweist, die wiederum ihrer Natur nach auf bestimmte Weise aufeinander bezogen sind, etc. – ist der eigentliche Anknüpfungspunkt für die weiteren Überlegungen der Aristotelischen Ethik, denn die beiden von Aristoteles anerkannten Arten von Tugenden, Verstandes- und Charaktertugend, werden als die jeweiligen Bestzustände dieser beiden Teile der Seele eingeführt. Und der Erwerb, das Wesen und die Wirkung dieser beiden Arten von Tugenden bilden das eigentliche Thema der Aristotelischen Ethik. Was Aristoteles allen entgegenstellt, die bezweifeln, dass es eine objektive Basis für Fragen der Ethik gibt, so könnte man argumentieren, ist diese besondere Struktur der menschlichen Seele. Natürlich hat diese besondere Struktur der Seele damit zu tun, dass wir Menschen sind und als Menschen auch Lebewesen und als Lebewesen unsere Essenz durch natürliche Fortpflanzung erhalten etc. Jedoch sind die biologischen Voraussetzungen (»biologisch« natürlich im Aristotelischen, nicht reduktiven Sinn: siehe oben, Abschnitt III) nicht das Thema der Ethik. Direktes Thema ist, so könnte man argumentieren, diese besondere Struktur der menschlichen Seele. Schaut man nun in die ethischen Hauptwerke von Aristoteles’ Lehrer Platon, dann 30 Differenzierungen findet man dort genau eine solche Argumentationsweise. In den Dialogen Gorgias und Politeia muss sich die Dialogfigur Sokrates mit Gegnern auseinandersetzen (Kallikles hier, Thrasymachos dort), die die Objektivität von aller Moral bestreiten und dafür Versionen des Arguments in Anspruch nehmen, dass die Volksmoral nur auf Konvention beruhe, während ihre Verteidigung eines Rechts des Stärkeren den Vorgängen in der Natur entspräche. In beiden Dialogen setzt Platon diesen Angriffen auf die Moral die Beschreibung der maßvollen, besonnenen oder gerechten Seele entgegen, die sich in diesem Zustand ihrer besten Natur nach (vgl. Politeia IX, 591b) verhalte. Für Platon scheint es dieser gute Zustand der Seele zu sein, der die objektive Verankerung von Tugenden wie Gerechtigkeit und Besonnenheit erlaubt. Durch dieses Strategem vermeidet er es, sich auf der Suche nach einer objektiven Basis für die Moral auf die Ebene seiner Gegner zu begeben und das Wesen der Moral durch Vorgänge in der außermenschlichen Natur zu begründen. In dem Sinn, dass er das naturrechtliche Angebot seiner Kontrahenten ablehnt, könnte man seine Position geradezu als »anti-naturalistisch« bezeichnen, obschon sie doch »objektivistisch« ist, weil der gute Zustand der menschlichen Seele als eine nicht-verhandelbare Voraussetzung planvollen Handelns und menschlichen Glücks dargestellt wird. Spielen wir mal den Gedanken durch, Aristoteles habe eine ähnliche Strategie verfolgt. Platon beschreibt den guten Zustand der menschlichen Seele immer wieder durch das Verhältnis verschiedener Seelenteile zueinander. Aristoteles pflegt zwar – wie so oft – eine kritische Haltung zu Platons Weise, die Seele zu unterteilen, doch arbeitet auch seine Ethik mit Annahmen über das richtige Verhältnis des rationalen und des nicht-rationalen Seelenteils zueinander. Eine solche »Platonische« Lesart von Aristoteles würde zu einer Argumentation folgenden Typs führen: Der Mensch tut, was er tut, um solcher Dinge willen, die ihm gut erscheinen. Das höchste Gut für den Menschen ist die eudaimonia, das glückliche Leben. Der nicht-rationale Seelenteil spricht auf Lust und Schmerzen an; manchmal scheint dem nicht-rationalen Seelenteil daher etwas gut zu sein, was in Wahrheit nur angenehm, aber gar nicht gut ist. Die eudaimonia gehört zu den Dingen, die wirklich gut sind und nicht nur gut zu sein scheinen. Zu erkennen, was wirklich gut ist und nicht nur gut scheint, obliegt dem rationalen Seelenteil. Der rationale Seelenteil ist daher seiner Natur nach dazu geeignet, Pläne zu machen und Anordnungen zu treffen; der nicht-rationale Seelenteil ist seiner Natur nach geeignet, den Einsichten und Anordnungen des rationalen Seelenteils Folge zu leisten. Tut er das nicht, besteht die Gefahr, dass ein solcher Mensch dem nur scheinbar, aber nicht wirklich Guten hinterherläuft. Wenn sich das so verhält, wird dieser Mensch die eudaimonia verfehlen. Daher ist es für die eudaimonia unabdingbar, dass jeder Seelenteil das tut, was seiner Natur entspricht. Was für eine Art von Argumentation wäre dies? Jedenfalls keine naturalistische und auch keine Argumentation im Sinne des Aristotelischen Naturalismus. Vielleicht handelt es sich um eine Argumentationsform sui generis, die allein auf die Natur der menschlichen Seele, ihre innere Struktur und auf eine bestimmte Kooperation der verschiedenen Seelenteile als Voraussetzung für die Möglichkeit planvollen und im Sinne der Erreichung der eudaimonia erfolgreichen Handelns abzielt. Gegen eine solche Rekonstruktion von Aristoteles’ zentralem Anliegen, die allein die Verhältnisse innerhalb der menschlichen Seele thematisiert, könnte man einwenden, dass die Seele und auch die verschiedenen Teile und Fähigkeiten der Seele Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 31 Gegenstand von Aristoteles’ Naturphilosophie sind, so dass die Thematisierung der Seele bei Aristoteles immer schon in seiner naturphilosophisch-biologischen Forschung verankert ist und somit von der biologischen Natur des Menschen Gebrauch mache. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings scheinen folgende Beobachtungen einschlägig: (i.) Die Ethik macht von einer simplen Unterteilung der Seele in einen rationalen und einen nicht-rationalen Teil Gebrauch; diese Unterteilung ähnelt zwar der naturphilosophisch-psychologischen Unterteilung (vegetative, perzeptive, intellektuelle Vermögen) auf den ersten Blick, ist aber letztlich nicht dieselbe und wird auch nicht aufgrund derselben Kriterien gewonnen. (ii.) Derjenige Seelenteil, der für die biologischen Funktionen Wachstum, Selbstund Arterhaltung zuständig ist, wird aus der ethischen Diskussion umgehend als irrelevant ausgeschlossen (vgl. z. B. Eudemische Ethik II 1, 1219b 38–39). (iii.) Für die Unterteilung der Seele in einen rationalen und einen nicht-rationalen Teil verweist Aristoteles den Leser auf seine exoterischen, für ein weiteres Publikum bestimmten, Schriften (vgl. Nikomachische Ethik I 13, 1102a 26–27) und gerade nicht auf die naturphilosophischen Untersuchungen. Es scheint daher, als könne die Aristotelische Ethik gewissermaßen autonom von der Annahme eines rationalen und eines nicht-rationalen Seelenteils Gebrauch machen, ohne dafür auf Resultate der Biologie zurückgreifen zu müssen. Und dies wiederum scheint ein gewisses Indiz dafür zu sein, dass Aristoteles auch die Ethik und die darin durchgeführten praktischen Überlegungen als ein von der Naturforschung weitgehend unabhängiges Projekt begreift (auch wenn die Annahmen der Ethik natürlich nicht inkompatibel mit den Ergebnissen der Metaphysik und der Naturphilosophie sind). VII. Teleologie Vergleicht man Aristoteles’ Berufung auf die Natur des Menschen mit modernen Formen von ethischem Naturalismus – besonders im Hinblick auf die Frage nach der Grenze zwischen deskriptiven und normativen Aussagen –, dann ist der Hinweis geläufig, dass Aristoteles ein teleologischer Denker gewesen sei und entsprechend eine teleologische Konzeption der Natur vertreten habe. Dieser Hinweis ist richtig und berechtigt, aber teleologische Erklärungen können bei Aristoteles in ganz unterschiedlichen Kontexten auftreten und können die Lesart des Aristotelischen Naturalismus – je nachdem – stützen oder untergraben. Zunächst ist es eine Folge von Aristoteles’ teleologischer Naturkonzeption, dass sich, wie wir schon gesehen haben (siehe oben, Abschnitt V), die Natur einer Sache (i.S.v. Wesen/Essenz) immer erst im End- oder Zielzustand (telos), d. h. im Abschluss einer Entwicklung, zeigt. Bei Lebewesen bedeutet dies, dass sich deren eigentliche, entfaltete Natur erst am erwachsenen, adulten Exemplar einer Spezies zeigt. In diesem Sinn sagt Aristoteles, das Ziel (oder die Finalursache) der Entstehung eines Lebewesens sei das ausgewachsene Lebewesen. Insofern die Entwicklung eines natürlichen Wesens letztlich durch natürliche Faktoren gesteuert wird, könnte man sagen, dass Aristoteles’ teleologische Naturauffassung dazu führt, dass die Natur – anders als bei anderen Formen von Naturalismus – nicht nur für Anlagen und Ausgangsbedingungen, sondern für einen Endzustand verantwortlich sei. Insofern 32 Differenzierungen nun der von natürlichen Faktoren bestimmte Endzustand einer Entwicklung nur dann erreicht wird, wenn die dafür erforderlichen Stadien der Entwicklung unbehindert, erfolgreich oder »auf natürliche Weise« durchlaufen werden, handelt es sich um einen normativen Naturbegriff. Dieser Befund erfüllt durchaus ein wichtiges Anliegen des Aristotelischen Naturalismus, der sich, wie wir gesehen haben, um einen »reichen«, nicht-reduktiven und deskriptive und normative Aspekte vereinigenden Naturbegriff bemüht. Was bedeutet diese teleologische Konzeption nun für die Ethik? Man könnte den Eindruck haben, dass dieser teleologische Gedanke, weil er von der Entwicklung natürlicher Lebewesen beeinflusst ist, die Ethik eng an die Biologie bindet, indem ein durch biologische Vorgänge vorbestimmtes Ziel ethisch relevant wird. Hier muss man nun aber genauer hinsehen. Erstens werden in der Aristotelischen Biologie selbst teleologische Erklärungen vor allem im Hinblick auf die Frage verwendet, wozu bestimmte Teile der Lebewesen da sind und warum sie in einer bestimmten Weise beschaffen sind (siehe z. B. Physik II 8). Beispiel: Warum haben viele Tiere scharfe, spitzzulaufende Zähne im vorderen und flache Zähne im hinteren Kieferbereich? Antwort: Die scharfen vorderen Zähne sind zum Abbeißen, die flachen hinteren Zähne zum Zermahlen der Nahrung gut – und beide Funktionen sind wichtig für die Nahrungsaufnahme und diese wiederum ist wichtig für die Selbst- und Arterhaltung. Diese, für die Biologie typische Anwendung teleologischer Argumente, nimmt als Zweck/Ziel stets nur die Selbst- und Arterhaltung an, sagt aber nichts über die ethisch relevanten Ziele aus, die ein Mensch im Laufe seines Lebens erreichen will. Zweitens verlangt im Falle des Menschen die natürliche zielgerichtete Entwicklung bis zum Erwachsenenalter nur die basale Entwicklung der Vernunftfähigkeit, nicht die – im ergon-Argument geforderte – optimale Betätigung derselben. Auch wer im Erwachsenenalter die Vernunftfähigkeit nicht vortrefflich ausübt, zählt selbstverständlich als Mensch. Anderenfalls würden alle, die keine Tugenden erwerben und ausüben (und das sind nach Aristoteles’ zurückhaltender Erwartung die meisten), die den Menschen definierende Natur (i.S.v. Wesen/Essenz) verfehlen. Die der natürlichen Entwicklung als solcher innewohnende Teleologie lässt somit das Ziel des praktischen Handelns unterbestimmt. Drittens ist auch die Aristotelische Ethik selbst teleologisch konstruiert – jedoch in einem Sinn, der von der Teleologie der natürlichen Entwicklung und dem Prinzip der teleologischen Erklärungen in der Biologie völlig unabhängig ist. In der Ethik geht es nämlich darum, dass Menschen – Aristoteles’ Analyse zufolge – intentionale Handlungen um bestimmter Ziele willen ausführen und dass rationale Menschen das glückliche gelungene Leben, die eudaimonia, als das höchste aller Ziele erstreben, um dessen Erreichung willen sie andere Handlungen wählen und ausführen. Diese teleologische Struktur der Aristotelischen Ethik ist aber nicht durch die Teleologie der Selbst- und Arterhaltung bestimmt und wird auch nicht durch die Analogisierung mit teleologischen Strukturen in der Natur plausibel; sie ist allein das Resultat von Aristoteles’ Erklärung intentionaler Handlungen als zielgerichteter Verfolgung erstrebenswerter Handlungsziele. Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 33 VIII. Theorie des Guten Die zuletzt genannte Verwendung Aristotelischer Teleologie bringt uns direkt zur Theorie des Guten. Der Aristotelische Naturalismus setzt (siehe oben, Abschnitt I) eine attributive Theorie des Guten voraus, der zufolge wir das Gute stets nur im Zusammenhang mit attributiven Konstruktionen wie »der gute Wolf«, »der gute Mensch« etc. bestimmen können. Das wiederum führt zu einer speziesrelativen Auffassung des Guten und des Wohlergehens (»flourishing«) der einzelnen Spezies. Findet sich bei Aristoteles ein Gegenstück zu dieser attributiven Theorie des Guten? Auch Aristoteles nimmt an, dass das Wort »gut« nicht in allen Bereichen dieselbe Eigenschaft bezeichnet; vielmehr ist für ihn wichtig, dass Gut-Sein in unterschiedlichen Kategorien und Disziplinen auch Unterschiedliches bedeutet. Außerdem hat seine Argumentationsstrategie, die nach dem spezifischen ergon einer Sache fragt, eine ähnliche Konsequenz wie die attributive Theorie des Guten, nämlich dass eine artspezifische Betrachtung des jeweils vortrefflichen Zustands in den Blick gerät. Soweit lässt sich eine gewisse Affinität zwischen Aristoteles und der attributiven Theorie des Guten begründen. Allerdings geht Aristoteles nicht so weit wie die attributive Theorie des Guten; ihm liegt nur daran, festzuhalten, dass das Gute in der Kategorie der Substanz etwas Anderes bedeutet als in der Kategorie der Qualität und dass die Medizin ein anderes Gut betrachtet als z. B. die Militärkunst (siehe z. B. Eudemische Ethik I 8, 1217b 23–1218a 1). Viel wichtiger aber ist, dass Aristoteles für den Bereich der Ethik das Gute immer mit Zielen gleichsetzt, d. h. mit etwas, das Menschen erstreben. Das Gute ist für ihn im ethischen Kontext daher immer ein Strebensziel. Ehre, Lust, Tugenden nennt Aristoteles als Beispiel für Güter, die wir auch um ihrer selbst willen erstreben (siehe z. B. Nikomachische Ethik I 5, 1097b 1–2). Häufig verweist er auf die Dreiteilung von äußeren Gütern (Ehre, Zufall etc.), körperlichen Gütern (Gesundheit, Stärke, Schönheit etc.) und seelischen Gütern (Vernunft, Tugend etc.), die von den Menschen als etwas Gutes erstrebt werden (vgl. Politik VII 1). Und schließlich ist das Glück, die eudaimonia, ein Gut, das von allen Menschen um seiner selbst willen, aber um keiner anderen Sache willen erstrebt wird. In allen diesen Fällen hat die Bestimmung des Guten etwas damit zu tun, dass es sich um Ziele menschlichen Strebens handelt, eine attributive Theorie des Guten kommt hier aber nicht zum Einsatz. Auch betont Aristoteles (vgl. Eudemische Ethik I 7, 1217a 18–29), dass es bei keiner anderen Spezies so etwas wie das Glück gibt, was wiederum dafür spricht, dass für Aristoteles’ Auffassung vom Glück allein die menschlichen Strebenshierarchien (»das eine wird um des anderen willen erstrebt«) entscheidend sind, während die Analogie zum artspezifischen Wohlergehen anderer Arten zumindest keine tragende Rolle in seinen ethischen Erwägungen spielt. Außerdem fällt auf, dass die attributive Theorie des Guten, wenn man sie auf Aristotelische Ethik projiziert, den Eindruck vermittelt, als seien seine Überlegungen zum menschlichen Glück das Ergebnis einer Spezifizierung des jeweiligen Wohlergehens in jeder einzelnen Art – so als verhalte sich das Glück zum Menschen wie das erfolgreiche Klopfen zum Specht und das weithin sichtbare Glühen zum Glühwurm. Hingegen thematisiert die Aristotelische Ethik an keiner Stelle die art-relative Vielfalt des Wohlergehens, sondern hebt allein 34 Differenzierungen darauf ab, dass das Gute für den Menschen – im pauschalen Unterschied zu allen anderen Lebewesen – in der Betätigung seiner Vernunftfähigkeit besteht. Schließlich gibt es Stellen, an denen Aristoteles aus gleichsam kosmischer Perspektive eine Hierarchie oder Axiologie der von verschiedenen Wesen erreichbaren Arten des Wohlergehens vornimmt (siehe z. B. De Caelo II 12, 292b 2–13). In dieser Anordnung ist der vom Menschen erreichbare Bestzustand besser als der von subhumanen Wesen erreichbare Zustand aufgrund der größeren Nähe zu Gott. Ein solches Vorgehen wäre auf der Basis einer strikt attributiven Theorie des Guten nicht denkbar (für die konkreten ethischen Konsequenzen siehe unten Abschnitt XI). IX. Die eudämonistische Perspektive Im ergon-Argument der Aristotelischen Ethik (in Kap. I 6 der Nikomachischen und in Kap. II 1 der Eudemischen Ethik) wird ein fester Rahmen für Lebensformen abgesteckt, die das erfüllen, was ohnehin alle Menschen erstreben, nämlich ein glückliches Leben. Lebensformen, die den Menschen tatsächlich glücklich machen, müssen, so das Ergebnis des ergon-Arguments, in einer beständigen vortrefflichen Betätigung der dem Menschen eigentümlichen Seelenvermögen (entweder im Sinne des Vernünftig-Seins oder im Sinne des Auf-die-Vernunft-Hörens) bestehen. Daher geht dem ergon-Argument jeweils der unabhängige Nachweis voraus, dass das Glück, die eudaimonia, das ist, was die Menschen um seiner selbst und um keiner anderen Sache willen erstreben und daher als das höchste Strebensziel, also das Beste, angesehen wird. In der Nikomachischen Ethik folgen auf das ergon-Argument mehrere Kapitel, die nachweisen, dass der vom ergon-Argument abgesteckte Rahmen11 den verbreiteten Ansichten über das Glück tatsächlich entspricht. Das heißt, dass Aristoteles darum bemüht ist zu zeigen, dass die philosophisch erschlossene Bestimmung des Glücks mit den verbreiteten Intuitionen über das Glück übereinstimmt. Und dies ist interessant, weil es belegt, dass es nach Aristotelischer Auffassung eine Vorstellung vom glücklichen Leben gibt, die ganz unabhängig von der Argumentation über das spezifische ergon des Menschen ist. Tatsächlich führt in der Nikomachischen Ethik der Abgleich mit den verbreiteten Vorstellungen zu substantiellen Ergänzungen der ursprünglichen Definition des Glücks (z. B. hinsichtlich der Rolle der Lust und der äußeren Güter). Damit spielt bei der konkreten Bestimmung des praktischen Ziels des menschlichen Lebens die eudämonistische Perspektive, d. h. die Summe unserer berechtigten Erwartungen an ein gutes und glückliches Leben, eine nicht unerhebliche, eigenständige Rolle, die nicht durch einen Hinweis auf die Natur des Menschen ersetzt werden kann. An eher populär gehaltenen Stellen seines Werks leitet Aristoteles auch die Tugenden – ohne Umweg über das ergon-Argument – direkt aus ihrem Beitrag für eine Lebensform ab, die allgemein als glücklich anerkannt wird (siehe z. B. Politik VII 1–2). Zumindest an solchen Stellen scheint ihm der Bezug auf unsere Vorstellungen von einem glücklichen Leben instruktiver zu sein als der Vergleich mit den für den Selbst- und Arterhalt erforderlichen Fähigkeiten. 11 Tatsächlich spricht Aristoteles nur vom »Umriss« einer Bestimmung des für den Menschen Guten, siehe z. B. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 7, 1098a 20. Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 35 Der eigenständige Beitrag der eudämonistischen Perspektiven wird in der neueren Debatte bisweilen durch folgendes Argument herabgespielt: Ein tugendhaftes Leben im Aristotelischen Sinn, so wird argumentiert, ermöglicht uns nicht dasjenige Leben, das uns ohnehin (also vom Standpunkt des Commonsense aus betrachtet) erstrebenswert erscheint; vielmehr verhalte es sich umgekehrt so, dass dasjenige Leben wählenswert, erfüllend und befriedigend ist, das den Tugenden entspricht. Das heißt, mit dem Erwerb der Tugenden erlangen wir einen Standpunkt, von dem aus uns ein ganz anderes Leben als erstrebenswert erscheint als vom Standpunkt des Commonsense aus, weswegen auch die eudämonistischen Intuitionen des Commonsense keine Bedeutung für die Bestimmung des wirklich glücklichen Lebens haben. Eine solche Lesart vertritt insbesondere John McDowell (vgl. McDowell 1998, 15 ff.).12 Wie immer gibt es Gründe für und wider eine solche Interpretation. Tatsächlich scheint Aristoteles’ eigene, philosophische Konzeption des Glücks eine gewisse Revision herkömmlicher Vorstellungen zur Folge zu haben. Wenn er z. B. in Buch X der Nikomachischen Ethik (siehe unten, Abschnitt XI) behauptet, dass das Leben der Theorie im höchsten Sinn glücklich sei, dürfte das nicht im Sinne der Volksmoral sein. Andererseits legt er eben Wert darauf, keinen rein revisionistischen Glücksbegriff zu vertreten, sondern einen, der wichtigen gewöhnlichen Erwartungen an das Glück (dass es sich gut anfühlt, dass äußere Güter darin eine Rolle spielen, dass man nicht glücklich sein kann, wenn man alles verliert und gefoltert wird, etc.) tatsächlich entspricht. Hierin unterscheidet sich Aristoteles von einigen Sokratischen Schulen und insbesondere auch von der Auffassung linientreuer stoischer Philosophen, die die Tugend direkt mit dem Glück gleichsetzen, da die tugendhafte Person bei Aristoteles zwar in jedem Fall besser mit den Wechselfällen des Schicksals zurechtkommt, nicht aber unter allen Umständen glücklich ist. X. Herleitung der Tugenden Die Vertreter des Aristotelischen Naturalismus machen alle deutlich, dass das GutSein für einen Menschen etwas mit seiner Rationalität, seiner praktischen Rationalität bzw. seiner Sensitivität für praktische Gründe zu tun habe. In der einen oder anderen Weise betonen sie in diesem Zusammenhang auch, dass diese praktische Rationalität – ganz anders als bei den spezifischen Zielen anderer Spezies – sich auf ganz unterschiedliche Gründe und Ziele richten kann, was eine solche Konzeption zunächst einmal als inhaltsleer erscheinen lässt – »inhaltsleer« nämlich in dem Sinn, dass diese Fähigkeit zur praktischen Rationalität als solche keine einzelnen Handlungsweisen oder keine einzelnen Tugenden bzw. Charakterzüge bevorzugt. Unter den Vertretern des Aristotelischen Naturalismus im engeren oder weiteren Sinn gibt es nun verschiedene Strategien, um diese Lücke zu schließen.13 Martha Nussbaum 12 In Rapp (2014), 165–169, formuliere ich einige Bedenken hinsichtlich dieser Auffassung. 13 Manche der hier einschlägigen Autoren, wie z. B. McDowell, setzen ganz auf die Ausarbeitung der praktischen Vernunft als der maßgeblichen menschlichen Tugend. Als Interpretation des Aristoteles gedacht wäre das ein extremer Standpunkt (siehe Rapp 2014, 163–165), weil bei Aristoteles selbst die Bestimmung der einzelnen Charaktertugenden eine erheb- 36 Differenzierungen (Nussbaum 1992; Nussbaum 1993) z. B. leitet die Tugenden bzw. die den Aristotelischen Tugenden entsprechenden Grundfähigkeiten aus »basic human functions«, wie z. B. Hunger, Durst, Schutzbedürftigkeit, Sexualtrieb, kognitive Fähigkeiten etc., her. Damit gelingt es ihr, Tugenden direkt in der menschlichen Natur zu verankern, wenngleich sie dieses Projekt nicht im Sinne eines (historische und kulturelle Unterschiede vernachlässigenden) metaphysischen Realismus, sondern nur im Sinne eines internen Realismus verstanden wissen möchte, welcher die Aussagen über menschliche Grundbedürfnisse ausschließlich historisch und kulturell situierten Selbst-Interpretationen von Menschen entnimmt. Rosalind Hursthouse formuliert vier Bewertungskriterien von Lebewesen (vgl. Hursthouse 1999, 200 f.), mit denen im Fall von Menschen auch menschliche Charakterzüge bewertet werden sollen (vgl. Hursthouse 1999, 227). Dabei geht es um vier Kriterien: (i.) das individuelle Überleben, (ii.) der Erhalt der Spezies, (iii.) der charakteristische Genuss von angenehmen und die Vermeidung von schmerzlichen Erfahrungen, (iv.) das gute Funktionieren von sozialen Gruppen. Gibt es bei Aristoteles vergleichbare Versuche, die Tugenden aus der Natur des Menschen herzuleiten? Die Frage ist nicht einfach mit »ja« oder »nein« zu beantworten, denn sie erfordert es, verschiedene Schritte in der Aristotelischen Argumentation zu berücksichtigen. Zunächst ergibt sich aus dem ergon-Argument (siehe oben, Abschnitt IV), dass das für den Menschen Gute in einer vortrefflichen (= kat’ aretēn, gemäß der Tugend) Betätigung des dem Menschen eigentümlichen Seelenteils bestehen muss. Der Singular aretē mein hier lediglich die Vortrefflichkeit oder die bestmögliche Weise der Betätigung dieses Seelenteils. In einem zweiten Schritt spezifiziert Aristoteles zwei Formen von Vortrefflichkeit, die den beiden dem Menschen eigentümlichen Seelenteilen entsprechen: die intellektuelle Tugend entspricht dem Bestzustand desjenigen Seelenteils, der selbst über Vernunft verfügt, die Charaktertugend entspricht dem Bestzustand desjenigen Seelenteils, der selbst nicht vernünftig, aber in der Lage ist, auf den vernünftigen Seelenteil zu hören und seinen Anordnungen Folge zu leisten. Hier gilt es schon einmal festzuhalten, dass Aristoteles für die Bestimmungen der Tugenden nicht auf Bewertungskriterien verweist, die Menschen und anderen Lebewesen gemeinsam sind, und auch nicht das gesamte menschliche Leben thematisiert. Vielmehr baut sein Argument auf Annahmen über die Natur der menschlichen Seele (siehe oben, Abschnitt VI) auf. Erst im nächsten Schritt gelangt er zu Einzeltugenden. Im Falle der intellektuellen Tugenden ist das ganz einfach, weil die Zahl der intellektuellen Tugenden verschiedenen Anwendungsbereichen der menschlichen Vernunft entspricht (z. B. Ewiges und Notwendiges versus Veränderliches und Kontingentes). Eine intellektuelle Tugend hat, wer in diesen verschiedenen Anwendungsbereichen seine Vernunft vorzüglich zu betätigen versteht. Etwas komplizierter ist die Ausdifferenzierung der Charaktertugenden. Zuerst muss Aristoteles herausarbeiten, womit diese Tugenden es zu tun haben; er kommt zu dem Ergebnis, dass es diese Tugenden mit Handlungen, Affekten, Begierden und den damit verbundenen Empfindungen von Lust liche Rolle spielt; insofern sind die beiden im Folgenden beispielhaft genannten Ansätze von Nussbaum und Hursthouse näher an Aristoteles, weil sie sich um die Ableitung von Einzeltugenden bemühen. Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 37 und Schmerz zu tun haben. Wann ist die Seele mit Bezug auf solche Empfindungen (und die entsprechenden Handlungen) in einem vortrefflichen Zustand? Immer dann, wenn solche Empfindungen (und die entsprechenden Handlungen) richtig und nicht falsch sind – nämlich genau so, wie es die Vernunft empfiehlt, denn es ist ja das Wesen des nicht-rationalen Seelenteils, dass er auf die Anweisungen der Vernunft hören kann; und er empfindet sich dann in einem gemäß seiner Natur vortrefflichen Zustand, wenn er sich genauso verhält, wie es die Vernunft will, nämlich indem er die richtigen, angemessenen Empfindungen hat (und dazu motiviert ist, die entsprechenden richtigen Handlungen auszuführen), die die Vernunft empfehlen würde. Deshalb überlegt sich Aristoteles, was es für den Bereich der Emotionen und Begierden heißt, falsch zu sein. Falsch wäre, so argumentiert er, wenn wir von solchen Affekten oder Emotionen in einer Situation zu viel oder zu wenig hätten. Richtig ist es also, wenn es der nicht-rationale Seelenteil vermeidet, entweder zu viel oder zu wenig von einer Emotion zu haben; und deswegen sagt Aristoteles, die Charaktertugend sei eine Mitte – nämlich der Bereich, der sich zwischen zwei fehlerbzw. lasterhaften Tendenzen befindet. Das Schema dieser Mitte wendet er dann auf verschiedene Lebensbereiche an. In verschiedenen Kontexten finden es Menschen tadelnswert, wenn jemand zu häufig, zu heftig, zu schnell zürnt oder wenn jemand sich zu sehr fürchtet, aber auch, wenn sich jemand zu wenig fürchtet, wenn jemand nicht bereit ist, etwas zu spenden, oder wenn jemand dazu neigt, zu viel zu spenden, etc. Die einzelnen Tugenden, wie z. B. Besonnenheit, Großzügigkeit, Tapferkeit, Milde etc. bestehen daher immer in der Vermeidung der fehlerhaften Tendenzen. Die Einzeltugenden sind daher Manifestationen der Vortrefflichkeit des nicht-rationalen Seelenteils mit Bezug auf unterschiedliche Affekt-, Handlungs- und Erlebnisbereiche. In einer gewissen Weise kann man sagen, Aristoteles leite diese Einzeltugenden aus dem Schema der Mitte (mesotēs) her. Andererseits ist diese Herleitung von Tugenden aus einem philosophischen Grundsatz alles andere als revisionär, denn es zeigt sich, dass die hergeleiteten Tugenden im Großen und Ganzen dem entsprechen, was ein durchschnittlicher Grieche seiner Zeit als lobenswerte Charaktereigenschaft empfunden hätte. Auch beansprucht Aristoteles an keiner Stelle eine Systematik für unterschiedliche Affekt- und Lebensbereiche zu geben (wie es etwas Nussbaum bei ihrer Auflistung elementarer Funktionen des menschlichen Lebens tut), sondern stützt sich bei der Behandlung einzelner Tugenden durchaus auf Erfahrungen. Manchmal nämlich zeigt sich bei seiner Analyse, dass es das defizitäre Laster, das nach seiner Theorie der Mitte einer bestimmten Tugend korrespondieren müsste, so im gewöhnlichen Leben gar nicht gibt, manchmal hingegen zeigt sich, dass es zwar Bezeichnungen für zwei entgegensetzte Laster, jedoch keine Bezeichnung für die dadurch umschriebene Mitte gibt. Somit hat Aristoteles’ Herleitung der Tugenden gewissermaßen zwei Seiten. Einerseits entspringt sie der Vorstellung des bestmöglichen Zustands der Seelenteile (entsprechend der jeweiligen Natur dieser Seelenteile), andererseits macht die Ausformulierung der Tugendlehre von anerkannten Ansichten über lobens- und tadelnswerte Charakterzüge und Verhaltensweisen Gebrauch. Man könnte sagen, dass Aristoteles mit seiner philosophischen Seelenlehre zeigt, warum die meisten der zu seiner Zeit anerkannten Tugenden tatsächlich Tugenden im Sinne einer Vortrefflichkeit der Seele sind. Gelegentliche Korrekturen der Volks- 38 Differenzierungen moral kommen vor, jedoch ist keine grundsätzliche Revision der verbreiteten Vorstellungen über die wichtigsten Tugenden und Laster intendiert. Grundsätzlich, so könnte man sagen, ist Aristoteles’ Herleitung der Tugenden nicht so weit von Nussbaums Versuch verschieden, das menschliche Leben in unterschiedliche Bereiche zu unterteilen und jedem dieser Bereiche eine eigene Tugend zuzuordnen. Jedoch zeigt Aristoteles wenig Ambitionen für eine vollständige Unterteilung des menschlichen Lebens, viele Tugenden sind ganz am gesellschaftlichen Leben seiner Zeit orientiert (z. B. die Tugend für Spenden für öffentliche Ereignisse) und manche Tugenden sind unnötig eng formuliert (so wie z. B. die Tapferkeit nur auf gefährliche Situationen in Kriegshandlungen, nicht auf Courage im Allgemeinen bezogen ist). Bei der Diskussion einzelner Tugenden und Laster appelliert Aristoteles nie an die Vorstellung natürlicher Defekte; auch bleibt das biologische Leben des Menschen, sein Verhältnis zur Fortpflanzung und Arterhaltung, weitgehend außen vor. Die Tugend der Besonnenheit richtet sich zwar auf unser appetitives Verhalten, und somit z. B. auch auf den Sexual- und Fortpflanzungstrieb, aber Aristoteles interessiert sich für diese natürlichen Triebe nur insoweit, als sie der vernünftigen Steuerung unterliegen und insoweit es davon ein tadelnswertes Zuviel oder Zuwenig gibt. Selbst wenn sich aus Sicht der modernen Leser des Aristoteles eine Analogie zwischen menschlichen Lastern und natürlichen Defekten anderer Arten konstruieren lässt, so fällt doch auf, dass Aristoteles an keiner Stelle seiner Tugenddiskussion von dieser Analogie Gebrauch macht oder den Verweis auf Ergebnisse seiner zoologischen Verhaltensforschung für hilfreich erachten würde. Nach Aristoteles haben Menschen Tugenden nicht von Natur aus, sondern sind ihrer Natur nach dazu begabt, Tugenden zu erwerben (vgl. Nikomachische Ethik II 1, 1103a 23–25). Somit sind Tugenden von allen natürlichen Fähigkeiten grundsätzlich unterschieden, auch von solchen, die eigentlich positiv zu unserer Selbst- und Arterhaltung, zur Schmerzvermeidung oder zu einem gelingenden sozialen Leben beitragen könnten. Viele Tugenden stellen sich gerade in Überwindung natürlicher angeborener Neigungen und Verhaltensmuster ein. Die Gewöhnung oder Habituierung, durch die wir in den Besitz von (Charakter-)Tugenden kommen, hat den Effekt, dass wir bestimmten Reaktionen und Verhaltensmustern ohne jeden inneren Zwang nachkommen, so als wären dies angeborene, natürliche Reaktionen. Dies ist der Kontext, in dem Aristoteles Formulierungen gebraucht, die dem Begriff der zweiten Natur nahekommen (vgl. Nikomachische Ethik VII 11, 1152a 30 f.; Rhetorik I 11, 1370a 5 ff.). Allerdings stellt sich dieser Effekt der Gewöhnung auch dann ein, wenn wir uns entgegen unserer Vernunftnatur an etwas gewöhnt haben. Überdies betont Aristoteles den Gewöhnungsaspekt (der uns dahin bringt, etwas als »fast schon natürlich« zu empfinden) nur für den Erwerb der Charaktertugend, nicht für die Ausbildung der Vernunftfähigkeit. Die Vernunft muss sich oftmals gerade gegen die natürlichen Anlagen und die Gewohnheiten durchsetzen (vgl. Politik VII 13, 1332a 39 ff.). Was ist Aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus? 39 XI. Schluss: Das Beste im Menschen Die verschiedenen Spielarten des Aristotelischen Naturalismus machen mit Bezug auf Aristoteles von einer Kernintuition Gebrauch, die zweifellos richtig ist: So wie es für nicht-menschliche Arten spezifische Formen des »flourishing« (Gedeihen) gibt, das von einzelnen Exemplaren erreicht oder verfehlt werden kann, so gibt es für den Menschen eine spezifische Form des »flourishing«, die in jedem Fall mit der Entfaltung seiner Vernunftfähigkeit zu tun hat. Die Ausübung der Vernunft hat etwas mit der besonderen Natur des Menschen zu tun und die menschlichen Tugenden sind in der einen oder anderen Weise mit dieser Besonderheit des Menschen zu verknüpfen. Viele der Diskussionen der vorausgegangenen Abschnitte hatten mit der Frage zu tun, inwieweit die Analogie zwischen dem artspezifischen Gedeihen des Menschen und dem artspezifischen Gedeihen anderer Arten bei der Entfaltung der Aristotelischen Ethik tatsächlich instruktiv ist und ob sich vielleicht sogar eine der Rolle von Tugend und Laster beim Menschen korrespondierende Komponente im nicht-menschlichen Bereich finden lässt, die dazu beitragen könnte, den Status von Tugenden im menschlichen Leben zu erläutern und zu erhellen. Plausible Alternativen zu den dem Aristotelischen Naturalismus verwandten Lesarten würden nun zwar nicht leugnen, dass die Entfaltung der Vernunftfähigkeit, ohne die es keine eudaimonia gäbe, letztlich in der menschlichen Natur begründet ist, aber sie könnten argumentieren, dass es Aristoteles im Bereich seiner Ethik allein auf die Entfaltung der dem Menschen eigentümlichen Seelenteile ankomme und dass für diese Fragestellungen Vergleiche mit nichtmenschlichen Arten, mit natürlichen Defekten im Bereich nicht-menschlicher Spezies, biologisch gegebenen Zielen wie Selbst- und Arterhaltung und gelingendem Sozialverhalten im Fall von Rudeltieren sowie die biologischen Grundlagen der menschlichen Existenz selbst keine tragende Rolle spielen – noch nicht einmal in heuristischer Hinsicht. In den vorausgegangenen Abschnitten fanden sich Hinweise, dass es tatsächlich lohnend sein könnte, bei der Exploration von Ethiken Aristotelischen Typs nicht allein die naturalistischen Spuren und die Analogien zum Gedeihen anderer Spezies zu verfolgen. Schließlich gibt es einen Gesichtspunkt der Aristotelischen Ethik, der in eine dem Aristotelischen Naturalismus grundsätzlich entgegengesetzte Richtung zu weisen scheint. Für den Aristotelischen Naturalismus ist es zentral nach dem artspezifischen Wohlergehen oder Gedeihen zu fragen. Das durch Ausübung von Tugenden und praktischer Vernunft erreichbare Glück des Menschen wird als die für den Menschen spezifische Weise des Gedeihens angesehen. Nun fragt sich Aristoteles z. B. im Buch X der Nikomachischen Ethik, welche Lebensform denn nun für den Menschen die beste sei: die sogenannte »politische«, die einer bevorzugten Betätigung der Charaktertugenden entspricht, oder die theoretische, die einer bevorzugten Betätigung der theoretischen Vortrefflichkeiten unter den intellektuellen Tugenden entspricht. Verkürzt gesagt kommt Aristoteles zu dem Ergebnis, dass die Ausübung der Charaktertugenden und die dieser Betätigung entsprechende eudaimonia besonders menschlich sei, u. a. weil es diese Tugenden mit den »menschlichen Dingen« zu tun haben und weil sie sich auf die Affekte und Emotionen und deren vernünftige Formung beziehen, was allein dem Menschen zukomme. Dies sei daher 40 Differenzierungen das menschliche Glück (vgl. Nikomachische Ethik X 8, passim). Noch erstrebenswerter, weil noch glücklicher, sei hingegen das theoretische Leben. Dessen Vorzug lässt sich nun aber gerade nicht mehr mit dem Prinzip der artspezifischen Vortrefflichkeit begründen (dieses Prinzip führte zur Auszeichnung des sog. »politischen« Lebens), sondern wird erst durch das Brückenprinzip, dass man nach dem Besten in uns zu leben habe (vgl. z. B. Nikomachische Ethik X 7, 1177b 34), abgesichert. Das Beste im Menschen, ist die Anwesenheit der (vor allem theoretischen) Vernunft, die den Menschen mit der Sphäre des Göttlichen verbindet. Der Mensch kann sich perfektionieren, indem er, soweit wie ihm möglich, seine theoretische Vernunft auf vortreffliche Weise betätigt und somit die Seinsweise des Gottes imitiert, der nach Aristoteles mit einer kosmischen Vernunft gleichzusetzen ist. Das Beste, was es für den Menschen zu erreichen gibt, und zugleich die höchste Form des Glücks besteht gerade nicht in der Erfüllung artspezifischer Standards, sondern in dem Versuch, die artspezifischen Restriktionen, soweit wie möglich, hinter sich zu lassen. Diese Auffassung hat teils eine perfektionistische Dimension, insofern hier eine Vervollkommnung im Unterschied zu dem bloß Artgemäßen angestrebt wird, und sie hat eine supranaturalistische Dimension, weil nicht nur die Aristotelische Theologie und die Verbindung, die Aristoteles zwischen der menschlichen und der göttlichen Vernunft sieht, durch kein wie auch immer geartetes naturalistisches Modell abgedeckt werden könnte. Diese supranaturalistisch-theologische Wendung, die Aristoteles’ Ethik in solchen Bemerkungen nimmt, findet wenige Befürworter in der modernen Ethik, so dass auch der Aristotelische Naturalismus, der sich als Beitrag zur Gegenwartsphilosophie versteht, von diesem Aspekt der Aristotelischen Philosophie lieber absieht. Literatur Annas, Julia (1993): The Morality of Happiness. Oxford. Annas, Julia (2005): »Virtue Ethics: What Kind of Naturalism?«. In: Stephen M. Gardiner (Hg.): Virtue Ethics: Old and New. Ithaca, NY, 11–29. 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