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Psychotropen. Eine LSD-Biographie – Einleitung

2013, Psychotropen. Eine LSD-Biographie

Im Jahr 1943 entdeckt der Schweizer Chemiker Albert Hofmann (1906-2008) die halluzinogene Wirkung von LSD. Bevor die Droge jedoch der counter culture neue Erfahrungsräume öffnet und in aller Munde ist, macht sie in pharmazeutischen Laboratorien und medizinisch-psychiatrischen Einrichtungen Karriere als Medikament, therapeutisches Hilfsmittel oder psychotoxischer Kampfstoff. Bereits in den 1950er Jahren sucht man hier intensiv nach chemischen Antworten auf mentale Probleme, erforscht experimentell die Möglichkeiten drogistischer Bewusstseinsveränderung und Persönlichkeitsregulierung. Im Zuge dessen wird das anthropologische Wissen umfassend rekonfiguriert: Es verfestigt sich die Semantik eines biochemisch fundierten und stofflich modulierbaren, eines neurochemischen Selbst. Jeannie Moser verfolgt die Genese eines transdisziplinären Wissensraums, die von der psychotropen Substanz LSD forciert wird. Ihre kulturwissenschaftlich und wissenschaftshistorisch informierten, philologisch verfahrenden Erkundungen richten sich auf ein Material, das vorwiegend aus den sogenannten harten Wissenschaften stammt: Drogen-, größtenteils LSD-Versuchsberichte aus der pharmakologischen Grundlagenforschung oder psychiatrischen Medizin sowie Texte der Hirnforschung, die wiederum in Wechselwirkung mit literarischem Wissen und Wissen aus dem Milieu der counter culture stehen. Die Biographie im Titel bezieht sich dabei zum einen auf den Werdegang der Droge. Zum anderen spielt sie auf die Verschränkung mit der Lebensgeschichte ihres Entdeckers an, wie sie Albert Hofmann in seinem Buch LSD - Mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer »Wunderdroge« vornimmt. Besonders an diesem populärwissenschaftlichen Text arbeitet die Autorin heraus, welch wesentlichen Anteil rhetorisch-figurative und narrative Verfahren an der Entstehung, Verfestigung und nicht zuletzt Beglaubigung von psychotropem Wissen haben. Hofmanns Erzählungen berichten fasziniert von einer Welt, deren Ordnung aus den Fugen geraten ist.

Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Psychotropen Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Jeannie Moser, geboren 1973, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts-, und Technikgeschichte an der TU Berlin. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Jeannie Moser Psychotropen Eine LSD-Biographie Konstanz University Press Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration. Umschlagabbildung: Bench © reynolds – Fotolia.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2013 Konstanz University Press, Konstanz (Konstanz University Press ist ein Imprint der Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) www.fink.de | www.k-up.de Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-86253-029-8 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Kommt sich wie im Traum vor, eine Art Stupor. Man weiss einen Moment, dass man da ist und Dissertation macht, dann wieder Momente vollkommen fort. Nicht unangenehm, man weiss aber, dass es nichts Echtes ist – künstlich. James Pierce in der protokollarischen Notiz eines LSD-Selbstversuchs im Jahr 1957, den er zur Erlangung der Doktorwürde an der Neurologischen Universitäts-Poliklinik in Basel durchführte. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Inhalt 0. SET | SETTING Einleitung feeling better than well 11 Medication Time! 15 Psychotropen 19 I. WISSEN IM RAUSCH Eine prekäre Grenzzone der Wissensproduktion Sprunghafte Objekte | Unregelmäßigkeiten 27 Farbenlehren 36 Berauschte Messapparate | Spuren der Wissenden 45 Berauschte Schreibapparate | Selbstprotokoll 50 Spuren lesen | Narrative Zähmung 58 Gehilfen 65 II. HOFMANNS ERZÄHLUNGEN Auto-| Biographisches aus dem Chemielabor Sprachlabor 71 Das (Sorgen-)Kind 76 Rückschau in Gedanken 82 Das Elternhaus I 86 Das Elternhaus II 90 Vorbereitete Geister 95 Die Steuerung des Zufalls 98 Unerwünschte Nebenwirkungen 102 Der Dämon im Labor 105 Das Antidot | Der Triumph der Erfahrung 109 Verbindungen herstellen 113 Undisziplinierte Autorschaft 116 Der ideale Vater 123 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 8 Der Pakt 128 Der Kronzeuge 131 Nomenklatorische Versuche 137 III. TRIPS Psychonauten und ihr neurochemisches Selbst terra incognita 147 travelling concepts 150 Immigration in die Psychiatrie 153 Provoziertes Geschehen | Kurze Aufenthalte im schizophrenen Weltall 157 Der Wahnsinn im Modell 161 Tiefenstrukturen | Expeditionen in geheimnisvolles Grenzland 167 Topographien des Unbewussten 175 Comeback | Zurück zur Ordnung! 178 (Bio-)Chemikalien | Stoffliche Fundierung 184 Beschleunigung auf der Couch 191 Bruchstellen des Selbst 194 Hirnfunktionen | Information 201 Neurologische Schaltkreise | Furthur! 204 Der Spurenstoff | Rezeptoren, Trigger und Transmitter 212 Himmel und Hölle | Ich erlebe ja nicht nichts! 216 Die vierte narzisstische Kränkung 220 IV. BETTER THINGS FOR BETTER LIVING… THROUGH CHEMISTRY Schluss Abreagieren | Selbst regulieren! 227 Die Arbeit am Selbst | Gruppenreisen 232 Agenzien des Sozialen | Der Kampf der Utopien Das Kollektiv 241 BIBLIOGRAPHIE 236 247 PERSONENREGISTER 261 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Danke, Felix Axster Nacim Ghanbari Helmut Lethen Alexander Schmitz Marianne Schuller Wolfgang Wirth Graduiertenkolleg Die Figur des Dritten, Universität Konstanz Ulrich Bröckling, Arne Höcker, Albrecht Koschorke, Manfred Weinberg IFK_Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien Stuff und Fellows 2007/08 Il-Tschung Lim, Clemens Peck, Barbara Wurm Institut für Germanistik, Universität Wien Anke Kramer, Annegret Pelz Fachgebiet Literaturwissenschaft, TU Berlin Hans-Christian von Herrmann, Christina Vagt konstanz | university press Simone Warta Special Collections & University Archives, Stanford University Polly Armstrong, Aimee Morgan Erowid | Hofmann Library Collection Elternhaus Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 0. SET | SETTING Einleitung feeling better than well Mother needs something today to calm her down And though she’s not really ill There’s a little yellow pill She goes running for the shelter Of a »mother’s little helper« And it helps her on her way Gets her through her busy day1 Das Auftreten ist energisch, die Laune hervorragend und bestechend optimistisch, das Selbstvertrauen groß, man fühlt sich befreit, entspannt, ausgeruht und stabil, in seiner Autonomie gestärkt, oft kräftig, mutig, hemmungslos und manchmal sogar unverwundbar, man sprüht vor Kreativität ebenso wie vor Charme, soziale Kompetenz ist selbstverständlich und sexuelle Erfüllung garantiert, Blockaden oder Druck dagegen fern bis unbekannt, die Wahrnehmung ist geschärft, konzentriertes und fokussiertes Denken fällt leicht, schnelles Arbeiten ebenso, auf sein Gedächtnis kann man sich verlassen, und die Müdigkeit lässt auf sich warten. Ist es dann doch Zeit, findet man in den Schlaf – ganz ohne Angst und wie von selbst… So oder zumindest so ähnlich könnte es einem Selbst ergehen, das in den Genuss einer psychotropen magic bullet kommt. Nur dass eine derart perfekte Substanz, eine, die dieses Wirkungsprofil in seiner ganzen Breite erfüllt, noch nicht zu haben ist. Eine Frage der Zeit? Subsumiert unter dem Begriff neuro-enhancement wird die pharmakologische Modulation und Verbesserung kognitiver Funktionen erprobt. Man praktiziert deren chemische Lenkung mit Substanzen, die als künstliche Botenstoffe figurieren. Mit ihnen kann auf dem Feld der psychischen und men1 In Mother’s Little Helper besingen The Rolling Stones das in den 1960er Jahren in Umlauf gebrachte Beruhigungsmittel Valium. »Diese Pillen benutzte man«, heißt es im kontrovers rezipierten Buch Glück auf Rezept (Listening to Prozac), »um Frauen an ihrem Platz zu halten, damit sie in ihrem häuslichen Umfeld zufrieden waren, und um sie zu ermutigen, sich für ihre ›eigentlichen‹ Aufgaben zu interessieren.« (Kramer, Peter: Glück auf Rezept, 60.) Zur Zitierweise: Literatur wird mit Namen, Kurztitel oder Titel, bei besonderer Aussagekraft einschließlich Untertitel (Aufsätze, Artikel, Interviews in Anführungszeichen; Monographien, Vorträge kursiv) und Seitenzahl zitiert. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 12 SET | SETTING – Einleitung talen Vorgänge operiert werden. Erkundet werden etwa Substanzen, die emotionale Befindlichkeiten verändern oder das Erinnern traumatischer Erlebnisse unterdrücken, indem sie darauf abzielen, schon ihre Speicherung und Archivierung zu stoppen.2 Man untersucht, wie die Empfindlichkeit der Nervenzellen Gedächtnis bildender Signalstoffe zu erhöhen respektive der Abbau derselben zu blockieren wäre. Bereits konsumiert werden ursprünglich für psychisch Kranke entwickelte Medikamente. Sie sind in aller Munde. Zergehen sie auf der gesunden Zunge, entfalten sie Kräfte als lifestyle agents, die nicht heilen sondern das Selbst veredeln.3 Blotter Rolling Stones, aufgeteilt in Der Schritt von einer kurativen Medizin zu einer 30x30 Einzeltrips, auf: www.blotterart.net (Zugriff 20.08.2012). Optimierungstechnologie ist also denkbar klein geworden. Die Grenzen zwischen therapeutischer Intervention und kosmetischer Psychopharmakologie verwischen, weil etwas als krank codiert wird, was zuvor nicht als krank galt.4 Im Windschatten von Alzheimer- und Demenzforschung sind neue, für das Gehirndoping geeignete Stimulanzien aufgetaucht. Solche brainbooster bearbeiten gezielt neuronale Strukturen. Bis zu 20% der Studierenden US-amerikanischer Universitäten ebenso wie Militärpiloten erhöhen mit ihnen mittlerweile ihre Konzentration – ein und derselbe Wirkstoff, in diesem Fall Modafinil, verbessert Noten und reduziert die Zahl nächtlicher Fehlbombardements.5 An Ritalin schätzen Erwachsene neben seiner aufmerksamkeitssteigernden seine stimmungsaufhellende Wirkung, hoch dosiert 2 Man erforscht, wie Propanol den Ausstoß von Adrenalin senken und verhindern könnte, »dass sich eine traumatische Erinnerung allzu heftig in das Gedächtnis eingraviert.« Eine andere Forschungsvariante basiert auf dem Mechanismus: »Beim Erinnern wird das traumatische Ereignis wie ein Buch aus einem Regal genommen und anschließend wieder zurückgelegt. Bei der erneuten Abspeicherung wirkt der Präfrontale Kortex […] mit Hilfe bestimmter Botenstoffe mildernd auf die Amygdala ein – die Erinnerung verblasst. Künstliche Varianten dieser Substanzen, eingenommen im Moment des Erinnerns, sollen diesen Vergess-Mechanismus verstärken.« (Traufetter, Gerald: »Pille fürs Vergessen«.) 3 Der Begriff lifestyle agents findet sich bei Healy, David: The Creation of Psychopharmacology, passim, etwa 377. 4 So etwa die unscharf gebliebene, konjunkturell diagnostizierte Depression. »Was man bis dahin als Melancholie bezeichnete, wird mit der Einführung von Arzneimitteln […] nun immer öfter beobachtet. Die chronisch niedergedrückte Stimmung gilt […] als Befindlichkeit, die jeden ereilen kann.« (Dany, Hans-Christian: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, 63.) Siehe dazu auch Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. 5 Vgl. dazu Rögener, Wiebke: »Doping fürs Gehirn«; Blöchlinger, Brigitte: »Chemische Fitmacher für alle?«. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz feeling better than well 13 macht dieses selbsttechnische Instrument energiegeladen und euphorisch – fast so wie ein wenig Kokain. Better than well wiederum will sich oftmals fühlen, wer den Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Prozac eingenommen hat, der laut Eli Lilly Company eigentlich im Kampf gegen Depressionen beispringt.6 Im deutschsprachigen Raum ist das neuro-enhancement noch eine weniger verbreitete Technologie der Selbstbearbeitung, wobei es bislang kaum verbindliche Zahlen gibt und aussagekräftige Studien fehlen. Hydergin aber – ein Psychotropikum aus dem Hause Sandoz – gibt ein Beispiel dafür, wie auch hier der eigeninitiativen Umwidmung von Medikamenten nachgegangen wird. Im Internet kursieren Erfahrungsberichte, in denen der ursprünglich für die Geriatrie vorgesehenen Wirksubstanz – sie verbessert den Stoffwechsel im Gehirn, besetzt Bindungsstellen körpereigener Botenstoffe und verändert die Impulsübertragungen zwischen Nervenzellen – nicht allein die Maximierung von Auffassungskraft attestiert wird: »Ich rede deutlich mehr«, heißt es enthusiastisch, bin um einiges sozialer und nicht mehr so allein für mich. Zwanghaftes Verhalten, innere Unruhe, Anspannung und ständige Sorgen haben sich gebessert. Ich schlafe wieder tief und fest und träume die ganze Nacht. Ich bin erstaunlicherweise guter Dinge. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich einen deutlichen positiven Unterschied im Gesicht. Das ist erst nach 10 Tagen, und es scheint jeden Tag etwas besser zu werden. Kurzum ich fühle mich rundum besser dank den vielen kleinen, subtilen Verbesserungen. Andere Menschen können den Unterschied sehen.7 Auch wenn die Wirklichkeit des neuro-enhancement und der lifestyle agents zumindest gegenwärtig noch nicht ganz so spektakulär ist, wie sie besonders anhand von Ritalin, Modafinil oder Prozac diskutiert wird,8 irritieren Psychotropika das kulturelle Selbstverständnis. Denn schon jetzt haben sie begonnen, nahezu alle Institutionen zu prägen: Arbeitswelt, Schule und Universität, Freundschaft, Familie, Freizeit und Gefängnis, nicht zuletzt Sportplatz und Schlafzimmer.9 Und der sie einnehmende homo pharmaceuticus, der die Bühne betritt, wirft fundamentale 6 Auf der Homepage des Konzerns ist eine Erfolgsgeschichte zu lesen: »When PROZAC was introduced in 1986, it was the first drug of its class. Since then, PROZAC has been a catalyst in bringing attention to mental health. PROZAC has helped millions of people in more than 90 countries in their battle with depression.« (www.prozac.com [Zugriff 20.08.2012].) 7 www.symptome.ch/vbboard/amalgam-entgiftung/61504-erfahrungsbericht-hydergin.html (Zugriff 20.08.2012). 8 Vgl. Weber, Christian: »Superhirn fliegt noch nicht«; Langlitz, Nicolas: »›Better Living Through Chemistry‹«, 279. Angeheizt wurde die Debatte im deutschsprachigen Raum etwa durch Bublitz, Christoph/Galert, Thorsten/Heuser, Isabella/Merkel, Reinhard/Repantis, Dimitris/SchöneSeifert, Bettina/Talbot, Davinia: »Das optimierte Gehirn. Ein Memorandum sieben führender Experten«. 9 Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 46. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 14 SET | SETTING – Einleitung Fragen auf.10 Die Medikation mit psychoaktiven Substanzen ist nämlich eine Technologie der Körperkontrolle, die das, was mit Geist, Subjekt, Ich oder Persönlichkeit umschrieben ist, gänzlich erfasst, die soziales Verhalten und individuelle Biografien moduliert – und neben euphorischen Hoffnungen auch großes Unbehagen erzeugt. Die Substanzen verschieben Ansichten und Anforderungen, die das Selbst betreffen, lassen andere Wettbewerbe entstehen und neue Wertekataloge verfassen. »Charisma, Mut, Charakter, soziale Kompetenz« – es scheint, als müssten »die Vorstellungen über diese und andere Eigenschaften neu definiert werden«, heißt es in Listening to Pill Man, auf: www.joe-ks.com (Zugriff 20.08.2012). Prozac, »und ebenso unsere Meinung darüber, was in unserem Selbst konstant und was veränderbar ist, was notwendig und was zufällig ist – und was überhaupt jetzt an Verwandlungen möglich« wäre.11 Psychotropika geben zu bedenken, ob die Definition von Krankheit so weit auszudehnen ist, dass sie charakterliche Züge, Eigenheiten, Stimmungen, Schwächen oder Mängel des Selbst umfasst. Ist dem so, ist der Imperativ der heilenden respektive perfektionierenden Selbstkorrektur immer dringlicher und lauter zu vernehmen. Es scheint dann, als wäre man moralisch dazu verpflichtet, sein Selbst zu reformieren, sich seiner vermeintlichen Defizite anzunehmen und sie zu bekämpfen – gibt es doch entsprechende und nicht zuletzt erschwingliche Mittel dagegen. 10 Vom homo pharmaceuticus spricht etwa Bennett Kravitz angesichts der Proportionen, die der Trend des pill-taking life angenommen habe: »never before have antidepressants been prescribed for preschoolers in such large amounts. It is as if one shouldn’t wait too long before embracing a lifestyle dependent on drugs. Thus, I think it is fair to say that ›Homo Pharmaceuticus‹ has arrived in America, as prescription drugs and the pursuit of happiness have become synonymous.« (Kravitz, Bennett: »Viagra«, 720.) 11 Kramer, Peter: Glück auf Rezept, 42. Siehe zur Kritik an enhancement-Technologien und ihrem subjektivierenden Effekt Elliott, Carl: Better Than Well: American Medicine Meets the American Dream. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Medication Time! 15 Medication Time! How did we become neurochemical selves?12 Angesichts der neurotechnologischen Möglichkeiten und individuellen wie sozialen Handlungsoptionen, wie sie durch Psychopharmaka offenstehen, ist die Rede vom jetzigen Zeitpunkt als einem historischen Übergang inflationär geworden. Dieser historische Übergang lässt sich allerdings vordatieren beziehungsweise als Ausläufer einer Phase verstehen, die im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts einsetzt. Bereits in den 1950er Jahren ist der Appell Medication Time! nicht mehr zu überhören – der Appell eines täglichen psychiatrischen Rituals der drogistischen Administration, Korrektur und Disziplinierung, das von einem Walzer akustisch begleitet im Film One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1975) verewigt ist.13 Bereits in dieser Zeit werden in wachsendem Maße chemische Antworten auf mentale Probleme gesucht und die Mittel bereitgestellt, die man braucht, um depressiven Verstimmungen zu begegnen, Ängste auszutreiben, ruhelose Kinder neurochemisch zu erziehen – auf dass sie ihre Energien auf ein Ziel hin bündeln und ihre Affekte kontrollieren – oder middle class-Frauen US-amerikanischer Vorstädte stillzustellen, wie es The Rolling Stones in Mother’s Little Helper – dieser zynischen Hommage an Valium als Geheimrezeptur erfolgreicher Haushaltsführung – besungen haben.14 Aus dieser Phase, die nachträglich zum ersten goldenen Zeitalter der Psychopharmaka erhoben worden ist,15 werden viele der epistemischen Grundannahmen in Hinblick auf ein neurochemisches Selbst bezogen – in Hinblick auf die biologistische Idee der stofflichen Konstitution und Modulierbarkeit des Selbst. Sie erlaubt, Traurigkeit als ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn zu denken, das pharmakologisch wieder ausbalanciert werden kann, sie gestattet, Sorgen ebenso als Unausgewogenheit zu betrachten, die stofflich leicht auszutarieren ist, sie lässt zu, kindliche Lebhaftigkeit oder Nachlässigkeit als Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu bezeichnen, der mit Amphetaminen beizukommen ist, und sie ermöglicht schließlich, vermeintliche Unzulänglichkeiten des Selbst wie das Gefühl der Inferiorität als eine der vielen Ausdrucksformen eines niedrigen Serotoninhaus- 12 Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 46. 13 Der Film beruht auf dem gleichnamigen Roman von Ken Kesey, der mit seinen Merry Pranksters zu den wichtigsten Figuren der drogistischen counter culture der Westküste zählt. 14 In die 1950er Jahre fällt die Entwicklung des Antidepressivums Iproniazid, des Neuroleptikums Chlorpromazin, mit Lithium werden manisch-depressive Krankheiten therapiert und Ritalin, dessen Wirksubstanz Methylphenidat 1944 in der Baseler Ciba-Geigy AG erstsynthetisiert wird, wird auf dem Markt eingeführt. (Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«.) 15 Siehe exemplarisch Healy, David: The Creation of Psychopharmacology; Grob, Charles: »Introduction: Hallucinogens«, 6; sowie die einleitenden Worte zu »Stanislav Grof interviews Dr. Albert Hofmann«, 22. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 16 SET | SETTING – Einleitung halts vorzustellen.16 Schon in dieser Phase wird sowohl das psychotropische wie anthropologische Wissen in umfassender Weise rekonfiguriert. Sie bringt die Denkweisen hervor, die die Einschätzung von Abweichung und Integrität der psyché und den jeweiligen Umgang mit ihnen organisieren.17 All die brisanten Fragen, die mit einem homo pharmaceuticus und seinem medikalisierten Geist einhergehen, all die Fragen, die mit der Vorstellung der psyché als einem über Botenstoffe organisch geregelten und substanziell-pharmakologisch Mother’s Little Helper Mints mit 75 Pfefferminzsteuerbaren System der biochemischen Informatibonbons von Unemployed Philosophers onsverarbeitung verbunden sind, werden ab den Guild Mints. späten 1940er Jahren intensiv prozessiert. Erforscht und diskutiert wird, wie die psyché beschaffen sein könnte, wo ihr Zugang versteckt liege, wie das Verhältnis von Materie und Geist zu bestimmen wäre, wie die Seele zu verbessern, wie deren Krankheiten zu therapieren seien, was als gesunder, was als anormaler, was als guter, was als schlechter Bewusstseinszustand gelte, wer die Entscheidungsgewalt über stoffliche Interventionstechnologien habe, wer die Verantwortung für sie trage, welche Substanzen zu verbieten und welche die segensreichen seien. Das Epizentrum dieser epistemischen Schwellen- und Umbauphase macht insbesondere eine Substanz aus. Als nicht-menschlicher Akteur im Sinne Bruno Latours attackiert sie zunächst die bestehende Ordnung des Wissens, wirft neue Fragen auf und wird semiotisch tätig. Alsdann ist diese Substanz eine der Quellen, einer der elementaren Bausteine in der Architektur des neurochemischen Selbst: An LSD – später auch an engere und weitere ›Verwandte‹ wie Psilocybin, Ecstasy/MDMA und andere Psychotropika – heften sich genau jene Kontroversen und euphorischen Hoffnungen, die mit der Möglichkeit drogistischer Selbstexploration und Persönlichkeitsregulierung aufgeworfen sind. Zwar ist LSD als Leitsubstanz der counter culture, von beat generation, Hippies oder Blumenkindern sowie der 68erBewegungen bekannt geworden. Vermutlich ist kaum eine andere Droge so eng verbunden mit deren kulturrevolutionären Programmen der sozialen Umwälzung, 16 Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 46; Kramer, Peter: Glück auf Rezept, 15, 242. Kramers Patienten fühlen sich durch Prozac um Selbstkenntnis reicher, bekannt gemacht mit einer neuen Persönlichkeit, da etwas zutage kommt, was offensichtlich »biologisch determiniert gewesen war«. Sind Schwächen und Mängel medikamentös zu beseitigen, muss das Selbst, so der vereinfachte aber nicht weniger schlagende Zirkelschluss, bereits zuvor stofflich basiert gewesen sein – und mithin empfänglich für eine pharmakologische Metamorphose. 17 Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 51. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Medication Time! 17 der Bewusstseinserweiterung, der Selbstverwirklichung, der Selbsterfahrung und -formung. Es war diese Substanz, an die sich utopische Entwürfe einer individuell bestimmbaren Lebensführung knüpften. Und sie löste gesellschaftspolitische Kontroversen aus um die Zuständigkeit für diese Lebensführung, erbitterte Abwehrkämpfe gegen staatliche Interventions- und Kontrollversuche. LSD macht aber zunächst vor allem eine Karriere als Medikament und eine als psychotoxischer Kampfstoff. So hat die CIA in der Zeit des Kalten Krieges LSD daraufhin getestet, ob man es für chemische Gehirnwäschen und zur Kontrolle menschlichen Verhaltens einsetzen könnte. 1953 startet die Operation MKULTRA, ein groß angelegtes, geheimes Forschungsprojekt zu Varianten der mindcontrol mit der Idee, gefestigte Wahrnehmungsmuster und Weltvorstellungen durch den Rausch so weit zu zerstören, dass man sie reprogrammieren könnte. Interessiert ist die CIA auch an der Substanz als verhörstrategischem Mittel, das verwirren und rationales Denken ausschalten soll, sodass man ungefiltert die Wahrheit sagt. Bald stellt man jedoch fest, dass LSD nicht das Wahrheitsserum ist, das man endlich gefunden zu haben glaubte: So unberechenbar, wie die Effekte sich zeigen, kann die CIA nur den Schluss ziehen, dass LSD Verhöre absolut ineffektiv macht.18 Seinen Anfang genommen hat der Aufstieg von LSD jedenfalls nicht in den Brennpunkten der counter culture, in Haight-Ashbury oder Woodstock, sondern in pharmazeutischen Laboratorien und medizinisch-psychiatrischen Forschungseinrichtungen.19 Dort faszinierte diese Substanz ungemein. Denn eine wie LSD, an sich geschmacksneutral, farb- und geruchlos, aber in minimaler Dosis hoch potent, war bis dato nicht bekannt. Im ersten Moment für jene magic bullet gehalten, die zu finden man sich so sehnlichst erhofft hatte,20 erzeugte ihr Auftauchen im Jahr 1943 eine Stimmung grenzenloser Euphorie. Heute ist es kaum mehr vorstellbar, aber in den 1940er, -50er und -60er Jahren schien LSD Einblick zu gewähren in die geheimnisvollen Mechanismen des Bewusstseins und offenbarte die Möglichkeit, auf jene Einfluss zu nehmen. 18 Vgl. Plant, Sadie: Writing on Drugs, 118–121; siehe Lee, Martin/Shlain, Bruce: Acid Dreams; Weinstein, Harvey: Psychiatry and the CIA. Das Vorgängerprojekt BLUEBIRD, 1951 in ARTICHOKE unbenannt, ist anfangs dem Einsatz von Meskalin gewidmet, beschäftigt sich dann aber verstärkt mit LSD. 19 Mit anderen Drogen wie Meskalin, Kokain, Morphium oder Haschisch hat LSD gemein, dass es zunächst im pharmazeutischen Bereich hergestellt, für medizinische und militärische Forschungszwecke gebraucht, mit seinem ›Missbrauch‹ in außerinstitutionellen Kontexten jedoch verboten wurde. Die Firmen stellten der Forschung Psychotropika meist kostenlos zur Verfügung. 20 Die Suche nach einer dem Penicillin in Durchschlagskraft, Nutzen und Wert ähnlichen magic bullet hat in der drogistischen Forschung Geschichte. Ernüchternd liest sich dazu ein Kommentar aus der Wissenschaftsgeschichte der Opiate: »However lofty the promise of the magic bullet, the reality was that new drugs came into use because they were somewhat more beneficial than existing ones, or somewhat less toxic.« (Acker, Caroline Jean: »From All-Purpose Anodyne to Marker of Deviance«, 116.) Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 18 SET | SETTING – Einleitung Rasch wurde die Substanz zu einem Schlüsselelement der Psychopharmakologie, der sie über viele Jahre hinweg entscheidende Impulse gab – besonders indem man ihr psychotomimetische Wirkung unterstellte. Mit dem Wegbereiter und Protagonisten der psychopharmakologischen Revolution, dem ersten Neuroleptikum Chlorpromazin, das die psychiatrischen Kliniken ab den 1950er Jahren erheblich leeren sollte, kurierte man nämlich künstliche, mit LSD initiierte Modellpsychosen. »There is no doubt«, beteuert der LSD erprobende Psychiater Max Rinkel schon 1955, »that the experiments […] have stimulated research to find chemical agents to counteract LSD, in the hope of finding chemicals which will be beneficial in the treatment of psychosis.«21 Die Geschichte des neuro-enhancement führt damit zur Geschichte der drogistischen, im Besonderen der LSD-Forschung.22 Oder anders gesagt: Drogen, heilende Psychopharmaka und das Selbst optimierende neuro-enhancer und lifestyle agents teilen sich oft eine gemeinsame Entstehungs-, Forschungs-, Etablierungs-, manchmal sogar Erfolgsgeschichte, ganz bestimmt die Geschichte ihrer kultursemantischen Effektivität. Geschrieben wird diese Geschichte von wissenschaftlichen Disziplinen wie Pharmakologie, Chemie, Neurologie, Psychiatrie, Medizin ebenso wie von der counter culture. Die unterschiedlichen Wissenskulturen bilden ein diskursives Verbundsystem und sind darin nur schwer voneinander zu trennen. Abgesehen davon, dass es zahlreiche personelle Überschneidungen gibt, ignoriert nicht gesichertes Wissen, das seine Quelle außerhalb der wissenschaftlichen Institution hat, die Schwellen der Wissenschaftlichkeit. Es sickert in die Regionen des szientifisch legitimierten Wissens ein und infiziert es – wie auch umgekehrt: Rauschwissen wird transferiert, mischt sich. Die verschiedenen Wissenskulturen machen drogistische Introspektion und Selbstaufklärung zu einem Ort, an dem die Neurotechnologie im Sinne der Konditionierung und Steuerung des Selbst lanciert wird – nicht ohne dass deren kritische Reflexion ausbliebe. Auch wenn die Visionen und sozialpolitischen Ziele, die mit den Psychotropika verbunden sind, zweifelsohne variieren, teilen sich wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Milieus die Technologien der Arbeit am Selbst und der drogistischen Intervention – ebenso wie den Subjektentwurf, auf den diese bezogen sind. Da wie dort verdichtet sich die Vorstellung eines biochemisch organisierten und stofflich modulierbaren Selbst. Die Wissenskulturen und ihre Beschreibungsapparate vernetzen sich. 21 Rinkel, Max: »Experimentally Induced Psychoses in Man«, 238. 22 Ein Beispiel ist das genannte Hydergin, das im Fahrwasser der LSD-Forschung von Sandoz für die Geriatrie entwickelt wurde. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Psychotropen 19 Psychotropen Der Ausdruck »set and setting« ist ein Terminus technicus, der einen Komplex nicht-pharmakologischer Faktoren bezeichnet, die für die LSD-Reaktion von Bedeutung sind. »Set« schließt die psychologischen Erwartungen der Versuchsperson ein, die Vorstellungen des Versuchsteilnehmers wie des Versuchsleiters über die Art der LSDErfahrung, das angestrebte Ziel des psychedelischen Vorgehens und die Vorbereitung und Programmierung der Sitzung. »Setting« bezeichnet die tatsächliche Umgebung, die physische wie die interpersonale, die konkreten Umstände, unter denen die Droge verabreicht wird.23 Das Buch Psychotropen erkundet die drogistische Forschung jener Phase der Liminalität als ein expandierendes Forschungsfeld, als ein psychotropes Wissen generierendes Experimentalsystem, das durch das Erscheinen von LSD in Gang gesetzt wird und in dem sich die Vorstellung eines neurochemisch geregelten und regelbaren Selbst ausbildet.24 Die Verzweigungen und konjunkturellen Anschlussstellen des Experimentalsystems werden anhand von Tropen – sprachliche Figuren im Sinne von Begriffen – und Narrativen beschrieben, die durch diverse, meist disziplinär und institutionell von einander geschiedene Bereiche wandern. Im expandierenden Experimentalsystem arbeiten sie als epistemologische Operatoren weiter. Denn sie führen semantisches Gepäck mit sich, das sich auf die jeweiligen Wissensformationen strukturierend auswirkt – wie auch umgekehrt die jeweiligen Forschungskontexte ihren semantischen Gehalt verändern. Je nach Aufenthaltsort erfüllen Figuren und Narrative also unterschiedliche Aufgaben. Wo immer sie sich aber auch befinden: Sie bringen – indem sie ihm Gestalt verleihen – ein ganz spezifisches Wissen zum Ausdruck. Herstellung und Formung, Entstehung und Diskursivierung von Wissen gehen miteinander einher – womit die Möglichkeit gegeben ist, Wissen und die Formen seiner Artikulation durchweg synonym und gleichfunktional zu handhaben. Dahingehend ist das setting dieses Buches das Forschungsfeld einer Poetologie des Wissens, die am »Grenzbereich und an den Schnittstellen zwischen Literatur und Wissenschaft(en)« operiert und von einer »nicht-mimetischen Konzeption des Ver- 23 Grof, Stanislav: Topographie des Unbewußten, 34 f. 24 Rheinberger entwirft es als eine transduale Anordnung, die das Experiment – jene prominente und favorisierte szientifische Wahrheitstechnologie – um all die »funktionellen Einheiten empirisch-wissenschaftlicher Aktivität« erweitert. Es ist eine Vorrichtung, die der Bearbeitung noch unbeantworteter und der Produktion und Materialisierung noch ungestellter Fragen dient. (Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge; ders.: Experiment. Differenz. Schrift, hier 49.) Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 20 SET | SETTING – Einleitung hältnisses von Literatur und Wissenschaft« ausgeht.25 Aufschlussreiche Arbeiten zu Psychotropika aus den Feldern der Sozial-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte liegen vor – sie werden mehrfach dankbar konsultiert.26 Ebenso gibt es einschlägige Arbeiten zu Rausch und Literatur, über Schriftsteller und ihrem Schreiben auf Droge.27 Psychotropen hingegen interessiert sich für die rhetorische und narratologische Verfasstheit des drogistischen Wissens und hält sich nicht an dessen Differenzierung in Typen und Kategorien, an die sich eine Bindung an bestimmte Disziplinen oder Genres anschließt. So können etwa die stereotype Überblendung von Literatur und Rausch – als ›anderen‹, der Wissenschaft äußerlichen Ordnungen zugehörig – ignoriert und stattdessen die epistemischen Codierungs- und Zuschreibungsverfahren selbst ins Visier genommen werden: diejenigen Verfahren, »durch die eine Rede sich der Literatur entzieht, sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet«.28 Jegliches Wissen ist poetisch durchdrungen – so die Präsupposition, so das set dieses Buches. Es entsteht durch den fortgesetzten Austausch von kulturellen Zeichen, rhetorischen Figuren und narrativen Strukturen, die die Dimension seiner Sinnbildung ausmachen. Das Auftauchen neuer epistemischer Dinge – materielle und nicht-materielle Gegenstände, auf die sich das Erkenntnisinteresse richtet und die zum movens von Forschungsentwicklungen werden – ist mit den Formen ihrer Darstellung, die sie erst in Szene zu setzen vermögen, korreliert. Unter dieser Prämisse – und nicht weil die Philologie als Metadisziplin zu begreifen ist oder gar ein höherer Wahrheitsgehalt der Literatur anzunehmen wäre – zeigt sich, wie auch in den Geneseprozessen nichtliterarischer Diskurse und Wissensformationen tropische Verfahren am Werk sind. Psychotropes wie anthropologisches Wissen, das nur jenseits der Entscheidung Wissenschaft oder Literatur zu haben ist, kann so in seinen 25 Barck, Karlheinz: »Literatur/Denken: Über einige Relationen zwischen Literatur und Wissenschaft«, 53 f. 26 Siehe exemplarisch Lee, Martin/Shlain, Bruce: Acid Dreams; Cashman, John: LSD. Die »Wunderdroge«; Lattin, Don: The Harvard Psychedelic Club; Dany, Hans-Christian: Speed. Eine Gesellschaft auf Drogen; Stevens, Jay: Storming Heaven; Walton, Stuart: Out of It. A Cultural History of Intoxication für Sozial- und Kulturgeschichten; für eine Wissenschaftsgeschichte Healy, David: The Creation of Psychopharmacology. 27 Gut aufgearbeitet sind die drogistischen Erfahrungs- und Schreibpraktiken folgender Autoren: De Quincey, Coleridge, Poe, Baudelaire, Rimbaud, Flaubert, Stevenson, Doyle, Benjamin, Michaux, Jünger, Kerouac, Huxley, Burroughs, Vesper, Dick, Vogt, Goetz. Marcus Hahn geht in Gottfried Benn und das Wissen der Moderne mitunter auf Benns Beringer-Lektüre ein, Die künstlichen Paradiese von Alexander Kupfer gilt Drogen und Literaturproduktion seit der Romantik, Marcus Boons The Road of Excess erzählt eine Geschichte von Schriftstellern und ihren drogistischen Erfahrungen anhand verschiedener Substanzen, Sadie Plant wiederum zeigt in Writing on Drugs aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive eindrücklich, wie Drogen Schriftsteller und Theoretiker inspiriert und beeinflusst haben, Martin Tauss schließlich widmet sich in Rausch – Kultur – Geschichte Drogen in deutschsprachigen literarischen Texten nach 1945. 28 Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, 17. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Psychotropen Collage Cycledelic von Matteo Guarnaccia. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 21 22 SET | SETTING – Einleitung Wirkungsweisen und Zusammenhängen, hinsichtlich seiner Geltungsbedingungen und der Art, wie es tradiert wird, freigelegt werden.29 Kulturwissenschaftlich und wissenschaftshistorisch informierte, philologisch verfahrende Lektüren in diesem Buch gelten einem Material, das alles andere als ein festes Korpus ist. Es stammt vorwiegend aus dem Archiv der sogenannten harten Wissenschaften, bezieht aber auch Wissensbestände mit ein, die disziplinär und kanonisch weniger klar umrissen sind. Es geht darum, einen Eindruck des drogistischen Wissensraumes zu vermitteln, in dem epistemische Elemente aus Wissenschaft, Literatur und Pop- und Gegenkultur – ungeachtet ihrer disziplinären und institutionellen Herkunft – zirkulieren. Jedes Experiment und jede Aussage über ein Experiment ist eingebettet in diesen Raum, den sie wiederum erst zu dem machen, was er ist. Aus diesem Grund stehen Fließtext, Bilder und Motti bisweilen nicht in direktem, unmittelbarem, sondern eher assoziativem Zusammenhang. In ihrem Nebeneinander lassen sie die Topologie des Wissens mit seinen Verdichtungspunkten und manchmal verdeckten Inspirationsquellen erkennen. Ihr Nebeneinander reflektiert eine Dynamik der reziproken Zitation und Bezugnahme, die oftmals zwar nicht explizit vorgenommen wird, die allerdings das psychotrope Wissen, das erwächst, wesentlich organisiert. Die vorgenommene Rahmung des Experimentalsystems durch die Eingrenzungsmarken des Auftauchens von LSD im Jahr 1943 einerseits und des Erscheinens von homo pharmaceuticus beziehungsweise der Verfestigung des neurochemischen Selbst andererseits ist zu einem großen Teil dem Wirksamkeitsmodus seiner chemischen Protagonistin geschuldet. Eine Substanz wie LSD zielt nicht auf die Steigerung körperlicher Leistungskraft. Generell wirken Psychotropika insbesondere – wie sich bereits aus ihrem Namen erschließt, der aus den griechischen Worten ψυχή (psyché) und τρόπος (tropos) kombiniert ist – auf die Psyche verändernd, umwandelnd, bahnend und Richtung gebend. Sie infizieren die sinnliche Wahrnehmung, modifizieren das Denken und verfremden das Bewusstsein. Sie intervenieren in kognitive Abläufe, die sie grundlegend neu strukturieren. Psychotropika zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Wirkung nur in Interaktion mit dem Subjekt entfalten und mit ihm in ein Verhältnis der Interdependenz treten. Diese Eigenart ist es auch, auf die die Expansion des Experimentalsystems zurückzuführen ist. Drogistische Forschung nämlich ist angehalten zu fragen: Wie verlaufen kognitive Prozesse? Wo werden Wahrnehmungen produziert? Und wer 29 Vgl. Vogl, Joseph: »Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800«, hier 13; ders.: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, hier 13 f.; ders.: »Poetologie des Wissens«; White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, hier 10, 21; ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, hier 20–22, ders.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, 9–62; Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Psychotropen 23 produziert sie? Was ist dem Körper eigen, was fremd, wie ist es um willentliche Selbstbestimmung und stoffliche Determination bestellt? Es geht um Kernmomente wie die Beschaffenheit des Bewusstseins, um psychische Funktionsweisen, Abläufe und Vorgänge – und damit insgesamt um anthropologische Bestimmungen. Will man also Aussagen über eine drogistische Wirkungsweise treffen, kommt man nicht umhin, auch Aussagen über das Subjekt zu treffen, das eine Droge zu sich nimmt. Forschung mit und an der Droge ist immer auch Forschung mit und am Selbst – Psychotropika generieren darum Psychotropen: Rede- und Gedankenfiguren der psyché. Das Buch setzt ein mit der thematischen Konstellation Wissen im Rausch, womit ein Aufriss der strukturellen Eigenarten des Experiments vorgeschaltet ist, das mit dem Versuchspaar Droge/Subjekt umzugehen hat. Kapitel I gilt der grundsätzlichen Frage, wie Wissen über Drogen, über ihre Eigenschaften und Wirkungsspektren erzeugt und verarbeitet werden kann, wenn das Wissen ein psychotropes ist: und zwar insofern es von einem forschenden Selbst kommt, das drogistisch verändert ist. Weil das Forschungssubjekt Schauplatz und Teil der psychotropen Wirkung ist, die es beobachten und über die es Wissen hervorbringen möchte, stellt das Drogenexperiment eine prekäre Grenzzone der Wissensproduktion dar. In dieser Zone sehen sich zwei polare Momente mit einander konfrontiert: auf der einen Seite der wissenschaftliche Imperativ eines der Logik und Ratio folgenden Denkens, auf der anderen Seite dessen Aussetzen im Rausch. Trotz seiner Prekarität und der vielen Alleinstellungsmerkmale lässt das psychotrope Experiment dabei Schlüsse über die problematischen Implikationen zu, die jeglicher Wissensproduktion eigen sind. Drogistisches Forschen indiziert blinde Flecken der epistemologischen Traditionen, in denen es steht. Sie treten deutlich zutage, wohingegen sie in anderen Kontexten leichter ignoriert werden können. Grundsätzliche erkenntnistheoretische Problemkonstellationen werden strukturell immer wieder vervielfältigt, verstärken sich gegenseitig und bauen hohen Druck auf. Sie werden dann oftmals so virulent, dass sie das ›eigentliche‹ Forschungsinteresse der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Reflexions- und Verhandlungsgegenstände flankieren.30 Der Schwerpunkt liegt somit auf derjenigen Konjunktur, die das Drogenexperiment zu einem Ort macht, an dem wissenschaftliche Aktivität von den Akteuren selbst zum Thema erhoben wird. Es ist jenem Verhandlungsraum gewidmet, in dem die Bedingungen des eigenen Tuns, die Techniken, Methoden der Erkenntnisproduktion sowie wissenschaftliche Standards, Kriterien und Paradigmen zur Disposition gestellt sind. Kapitel I konfiguriert diese, bettet sie wissensgeschichtlich ein und pointiert sie, behandelt sie zunächst aber nur kur30 Die in diesem Buch überwiegend nicht genderneutrale Schreibweise spiegelt die Geschlechterzusammensetzung der wissenschaftlichen Drogenforschung wieder. Größtenteils ist sie Forschung im Männerbund. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 24 SET | SETTING – Einleitung sorisch. Ohne auf die Chronologie zu achten, werden sie auf drogistische Forschungsunternehmungen diverser Wissenskulturen bezogen, um dann in einer mikrologischen Lektüre der Eingangspassagen von Albert Hofmanns populärwissenschaftlichem Text LSD – Mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer »Wunderdroge« in Kapitel II wieder aufgenommen zu werden. Hofmanns Erzählungen der Herstellung, Entwicklung und Verwendungsweisen von LSD, durch die der Chemiker seinem Forschungsgegenstand eine ganz spezifische Gestalt, Semantik und Geschichte im Sinne einer Biographie gibt, erweisen sich als eine mögliche Reaktion, als eine mögliche Variante, auf die in Kapitel I flüchtig aufgefalteten strukturellen Schwierigkeiten drogistischen Forschens zu antworten. Ganz besonders als populärwissenschaftlicher exponiert dieser Text – weil er an den Rändern der disziplinär etablierten Genres und Diskursformationen operiert – die Kämpfe um die Anerkennung psychotropen Wissens und dessen Zugehörigkeit zum Bestand eines institutionell und disziplinär bestätigten Wissens. Im Gegensatz zu Wissensartikulationen aus dem Zentrum, die sich ihres Status sicher sein können, erfordert eine stets lauernde Bedrohung, verstoßen und einer nicht szientifischen Domäne zugeschlagen zu werden, dass in LSD – Mein Sorgenkind alle Mittel der epistemischen Stabilisation und Legitimation in Stellung gebracht und ausgeschöpft werden. Hofmanns Erzählungen zeigen, wie essentiell aus der literarischen Textproduktion bekannte rhetorisch-figurative und narrative Verfahren sowie der strukturbildende Rückgriff auf bestimmte Genres daran beteiligt sind, den Kampf zu gewinnen und psychotropes Wissen verfestigen und beglaubigen zu können. LSD – Mein Sorgenkind steht als Text und aufgrund der aus einem Schwellenbereich agierenden Forschungsunternehmungen, von denen er berichtet, sowie dem Wissen, das er artikuliert, unter Verdacht. Das psychotrope Wissen, das immer Spuren der Wissenden trägt, lässt sich nicht wie gewohnt objektivieren, generalisieren und in allgemein nachweisbare Daten überführen. Taugen zudem die herkömmlichen Strategien der Verwissenschaftlichung nicht, bedarf es neben dem Einsatz poetischer Gestaltungsinterventionen eines unkonventionellen Kunstgriffes: Die Verlässlichkeit muss von der Versuchsperson, vom forschenden Selbst ausgehen. Es ist dies eine Anforderung, der der Hofmann’sche Text gewissenhaft begegnet: Aus dem Chemielabor wird Auto-/Biographisches berichtet. Zur Biographie der Chemikalie tritt – in maskierter Form – die Autobiographie des Chemikers. In Trips, dem dritten Kapitel, liegt sodann besonderes Augenmerk auf der epistemologischen Konjunktur, an der sich an das Experimentalsystem von LSD anthropologische Theoriebildung anlagert und Drogen- ausdrücklich in Subjektforschung umschlägt. Auf dem Moment, in dem die drogistische Forschung ihr Interessensfeld erweitert und Fragen, die das Selbst betreffen, integriert. Psychotropes Wissen Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz Psychotropen 25 wird als das Wissen von der veränderten und veränderbaren psyché lesbar: Mit der Ausweitung des Experimentalsystems stehen Psychotropika immer weniger als Erkenntnisgegenstände im Mittelpunkt; stattdessen übernehmen sie die Funktion eines dienstbaren Instruments, mit dem Wissen zu produzieren ist, das weit über sie hinausgeht. Sie sind die Mittel, mit denen das Selbst zu figurieren ist, mit denen Psychotropen zu erzeugen sind. Nach Erläuterungen zur theoretischen Figur der Begriffswanderschaft, die semantische Transferprozesse beschreibbar macht, werden die trips jener Substanz verfolgt, die Hofmann 1943 vom chemisch-pharmazeutischen Labor in Basel aus in die Welt setzt. Besonders bejubelt wird die Ankunft von LSD im Wissensraum der psychiatrischen Forschung, wo es als vielversprechendes epistemologisches tool zum Studium von Wesen und Ursache der Schizophrenie, bei der Ausbildung von Fachkräften, als außergewöhnliches Medikament und psychotherapeutisches Hilfsmittel zur Konturierung, Heilung, Entfaltung oder Lenkung der Persönlichkeit zum Einsatz kommt. Trips gilt den viel beschworenen Forschungsreisen in eine terra incognita des Bewusstseins und den epistemischen Fundstücken, die von den drogistischen Expeditionen mitgebracht und in die bestehende Ordnung des Wissens eingepasst werden – wobei die trips fast immer auch dazu führen, diese Ordnung neu anzulegen. Man bemüht sich um die Vermessung der Regionen und Grenzen der menschlichen Psyche, um Kartographien des Ich, sogar um Topographien des Unbewussten. Die Droge figuriert als die Transporteurin, die die Schwelle in die andere und fremde Welt überschreiten lässt. Die Rede von der Reise wiederum sorgt dafür, dass bei ihrer Rückkehr bestimmte Konfigurationskriterien des Wissens wie die Unterscheidungszeichen nüchtern/männlich/gesund/geistesgegenwärtig versus psychotrop/weiblich/verrückt/träumerisch beibehalten werden. Kapitel III akzentuiert diejenige Konjunktur des Experimentalsystems, an der LSD jenes neurochemische Interesse produziert, mit dem die stoffliche Fundierung des Selbst einsetzt. Psychotropische Forschung interagiert mit einem sich ausprägenden neurozentrischen Beschreibungsmodell, das sich bis heute verfestigen konnte, mit einer Semantik des Gehirns als Kommunikationssystem, das biochemische und chemische Informationen verarbeitet – und folglich auch stofflich abgewandelt werden kann. Trips rekonstruiert, wie im Zuge der epistemischen Neuordnung zentrale und weitaus unscharfe Begriffe wie Schicksal, Wille, Selbstbestimmung und Determination und nicht zuletzt die beiden basalen Unterscheidungskategorien Geist und Materie reformuliert werden müssen. Mit den Schlussüberlegungen wird schließlich der Bogen wieder zurückgeschlagen zu den neurochemischen Optimierungsinterventionen in den eigenen Körper. Better Things for Better Living… Through Chemistry visiert sie als Techniken des Selbst an, die biotopisch ausgeformt und perfektioniert werden. Das Kapitel gilt den Praktiken der Ressourcenausschöpfung, der Kräftemobilisierung und Heilung Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz 26 SET | SETTING – Einleitung mit ihren subjektivierenden Effekten, von denen Selbstmanagementprogramme der neoliberalen Moderne Anleihen nehmen können – wobei diese Praktiken der Selbstbearbeitung kein Produkt einer einzelnen Disziplin oder eines Wissensmilieus sind. Ebenso wie das anthropologische Wissen, das kultursemantisch wirksam wird, verdanken sie sich wechselseitigen Transaktionen, die unaufhaltsam sind. Differenzen zwischen den einzelnen Milieus werden allerdings in dem Moment sichtbar, in dem Substanzen zu Trägern sozialpolitischer Bedeutung werden – wie dies in der epistemischen Schwellen- und Umbauphase Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall ist. Wenn sich psychopharmakologische und kulturelle Revolution auf wundersame Weise ineinander fügen, spielen Substanzen als soziale Agenzien eine tragende Rolle. Sie sind fester Bestandteil utopischer und visionärer Entwürfe gesellschaftlicher Verbesserung, Erziehung und Umwälzung. Wie das Schlusskapitel zeigt, sind zwar die Utopien – und damit auch die Psychotropika – schwer umkämpft. Gehören die Konfliktparteien aber dem gleichen Denkkollektiv an, ist die Wissensgrundlage, auf der die chemisch assistierte Arbeit am Selbst operiert, dieselbe. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz