Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2013 Konstanz University Press, Konstanz
Psychotropen
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Jeannie Moser, geboren 1973, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Philosophie, Literatur-, Wissenschafts-, und Technikgeschichte an der TU Berlin.
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Jeannie Moser
Psychotropen
Eine LSD-Biographie
Konstanz University Press
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Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder
eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration.
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Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-86253-029-8
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Kommt sich wie im Traum vor, eine Art Stupor. Man weiss einen
Moment, dass man da ist und Dissertation macht, dann wieder
Momente vollkommen fort. Nicht unangenehm, man weiss aber,
dass es nichts Echtes ist – künstlich.
James Pierce in der protokollarischen Notiz eines LSD-Selbstversuchs im Jahr 1957, den er zur Erlangung der Doktorwürde an
der Neurologischen Universitäts-Poliklinik in Basel durchführte.
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Inhalt
0. SET | SETTING
Einleitung
feeling better than well 11
Medication Time! 15
Psychotropen 19
I. WISSEN IM RAUSCH
Eine prekäre Grenzzone der Wissensproduktion
Sprunghafte Objekte | Unregelmäßigkeiten 27
Farbenlehren 36
Berauschte Messapparate | Spuren der Wissenden 45
Berauschte Schreibapparate | Selbstprotokoll 50
Spuren lesen | Narrative Zähmung 58
Gehilfen 65
II. HOFMANNS ERZÄHLUNGEN
Auto-| Biographisches aus dem Chemielabor
Sprachlabor 71
Das (Sorgen-)Kind 76
Rückschau in Gedanken 82
Das Elternhaus I 86
Das Elternhaus II 90
Vorbereitete Geister 95
Die Steuerung des Zufalls 98
Unerwünschte Nebenwirkungen 102
Der Dämon im Labor 105
Das Antidot | Der Triumph der Erfahrung 109
Verbindungen herstellen 113
Undisziplinierte Autorschaft 116
Der ideale Vater 123
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8
Der Pakt 128
Der Kronzeuge 131
Nomenklatorische Versuche 137
III. TRIPS
Psychonauten und ihr neurochemisches Selbst
terra incognita 147
travelling concepts 150
Immigration in die Psychiatrie 153
Provoziertes Geschehen | Kurze Aufenthalte im schizophrenen
Weltall 157
Der Wahnsinn im Modell 161
Tiefenstrukturen | Expeditionen in geheimnisvolles Grenzland 167
Topographien des Unbewussten 175
Comeback | Zurück zur Ordnung! 178
(Bio-)Chemikalien | Stoffliche Fundierung 184
Beschleunigung auf der Couch 191
Bruchstellen des Selbst 194
Hirnfunktionen | Information 201
Neurologische Schaltkreise | Furthur! 204
Der Spurenstoff | Rezeptoren, Trigger und Transmitter 212
Himmel und Hölle | Ich erlebe ja nicht nichts! 216
Die vierte narzisstische Kränkung 220
IV. BETTER THINGS FOR BETTER LIVING… THROUGH CHEMISTRY
Schluss
Abreagieren | Selbst regulieren! 227
Die Arbeit am Selbst | Gruppenreisen 232
Agenzien des Sozialen | Der Kampf der Utopien
Das Kollektiv 241
BIBLIOGRAPHIE
236
247
PERSONENREGISTER
261
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Danke,
Felix Axster
Nacim Ghanbari
Helmut Lethen
Alexander Schmitz
Marianne Schuller
Wolfgang Wirth
Graduiertenkolleg Die Figur des Dritten, Universität Konstanz
Ulrich Bröckling, Arne Höcker, Albrecht Koschorke, Manfred Weinberg
IFK_Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien
Stuff und Fellows 2007/08
Il-Tschung Lim, Clemens Peck, Barbara Wurm
Institut für Germanistik, Universität Wien
Anke Kramer, Annegret Pelz
Fachgebiet Literaturwissenschaft, TU Berlin
Hans-Christian von Herrmann, Christina Vagt
konstanz | university press
Simone Warta
Special Collections & University Archives, Stanford University
Polly Armstrong, Aimee Morgan
Erowid | Hofmann Library Collection
Elternhaus
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0.
SET | SETTING
Einleitung
feeling better than well
Mother needs something today to calm her down
And though she’s not really ill
There’s a little yellow pill
She goes running for the shelter
Of a »mother’s little helper«
And it helps her on her way
Gets her through her busy day1
Das Auftreten ist energisch, die Laune hervorragend und bestechend optimistisch,
das Selbstvertrauen groß, man fühlt sich befreit, entspannt, ausgeruht und stabil,
in seiner Autonomie gestärkt, oft kräftig, mutig, hemmungslos und manchmal
sogar unverwundbar, man sprüht vor Kreativität ebenso wie vor Charme, soziale
Kompetenz ist selbstverständlich und sexuelle Erfüllung garantiert, Blockaden
oder Druck dagegen fern bis unbekannt, die Wahrnehmung ist geschärft, konzentriertes und fokussiertes Denken fällt leicht, schnelles Arbeiten ebenso, auf sein
Gedächtnis kann man sich verlassen, und die Müdigkeit lässt auf sich warten. Ist es
dann doch Zeit, findet man in den Schlaf – ganz ohne Angst und wie von selbst…
So oder zumindest so ähnlich könnte es einem Selbst ergehen, das in den Genuss
einer psychotropen magic bullet kommt. Nur dass eine derart perfekte Substanz,
eine, die dieses Wirkungsprofil in seiner ganzen Breite erfüllt, noch nicht zu haben
ist. Eine Frage der Zeit? Subsumiert unter dem Begriff neuro-enhancement wird die
pharmakologische Modulation und Verbesserung kognitiver Funktionen erprobt.
Man praktiziert deren chemische Lenkung mit Substanzen, die als künstliche
Botenstoffe figurieren. Mit ihnen kann auf dem Feld der psychischen und men1 In Mother’s Little Helper besingen The Rolling Stones das in den 1960er Jahren in Umlauf gebrachte Beruhigungsmittel Valium. »Diese Pillen benutzte man«, heißt es im kontrovers rezipierten
Buch Glück auf Rezept (Listening to Prozac), »um Frauen an ihrem Platz zu halten, damit sie in
ihrem häuslichen Umfeld zufrieden waren, und um sie zu ermutigen, sich für ihre ›eigentlichen‹
Aufgaben zu interessieren.« (Kramer, Peter: Glück auf Rezept, 60.)
Zur Zitierweise: Literatur wird mit Namen, Kurztitel oder Titel, bei besonderer Aussagekraft einschließlich Untertitel (Aufsätze, Artikel, Interviews in Anführungszeichen; Monographien, Vorträge kursiv) und Seitenzahl zitiert.
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SET | SETTING – Einleitung
talen Vorgänge operiert werden. Erkundet werden etwa Substanzen, die emotionale Befindlichkeiten verändern oder das Erinnern traumatischer Erlebnisse unterdrücken, indem sie darauf
abzielen, schon ihre Speicherung und Archivierung zu stoppen.2 Man untersucht, wie die
Empfindlichkeit der Nervenzellen Gedächtnis
bildender Signalstoffe zu erhöhen respektive der
Abbau derselben zu blockieren wäre.
Bereits konsumiert werden ursprünglich für
psychisch Kranke entwickelte Medikamente. Sie
sind in aller Munde. Zergehen sie auf der gesunden Zunge, entfalten sie Kräfte als lifestyle agents,
die nicht heilen sondern das Selbst veredeln.3
Blotter Rolling Stones, aufgeteilt in
Der Schritt von einer kurativen Medizin zu einer
30x30 Einzeltrips, auf: www.blotterart.net
(Zugriff 20.08.2012).
Optimierungstechnologie ist also denkbar klein
geworden. Die Grenzen zwischen therapeutischer Intervention und kosmetischer Psychopharmakologie verwischen, weil etwas
als krank codiert wird, was zuvor nicht als krank galt.4 Im Windschatten von Alzheimer- und Demenzforschung sind neue, für das Gehirndoping geeignete Stimulanzien aufgetaucht. Solche brainbooster bearbeiten gezielt neuronale Strukturen.
Bis zu 20% der Studierenden US-amerikanischer Universitäten ebenso wie Militärpiloten erhöhen mit ihnen mittlerweile ihre Konzentration – ein und derselbe
Wirkstoff, in diesem Fall Modafinil, verbessert Noten und reduziert die Zahl
nächtlicher Fehlbombardements.5 An Ritalin schätzen Erwachsene neben seiner
aufmerksamkeitssteigernden seine stimmungsaufhellende Wirkung, hoch dosiert
2 Man erforscht, wie Propanol den Ausstoß von Adrenalin senken und verhindern könnte, »dass
sich eine traumatische Erinnerung allzu heftig in das Gedächtnis eingraviert.« Eine andere Forschungsvariante basiert auf dem Mechanismus: »Beim Erinnern wird das traumatische Ereignis
wie ein Buch aus einem Regal genommen und anschließend wieder zurückgelegt. Bei der erneuten Abspeicherung wirkt der Präfrontale Kortex […] mit Hilfe bestimmter Botenstoffe mildernd
auf die Amygdala ein – die Erinnerung verblasst. Künstliche Varianten dieser Substanzen, eingenommen im Moment des Erinnerns, sollen diesen Vergess-Mechanismus verstärken.« (Traufetter,
Gerald: »Pille fürs Vergessen«.)
3 Der Begriff lifestyle agents findet sich bei Healy, David: The Creation of Psychopharmacology,
passim, etwa 377.
4 So etwa die unscharf gebliebene, konjunkturell diagnostizierte Depression. »Was man bis dahin
als Melancholie bezeichnete, wird mit der Einführung von Arzneimitteln […] nun immer öfter
beobachtet. Die chronisch niedergedrückte Stimmung gilt […] als Befindlichkeit, die jeden
ereilen kann.« (Dany, Hans-Christian: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, 63.) Siehe dazu auch
Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst.
5 Vgl. dazu Rögener, Wiebke: »Doping fürs Gehirn«; Blöchlinger, Brigitte: »Chemische Fitmacher
für alle?«.
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feeling better than well
13
macht dieses selbsttechnische Instrument energiegeladen und euphorisch – fast so
wie ein wenig Kokain. Better than well wiederum will sich oftmals fühlen, wer den
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Prozac eingenommen hat, der laut Eli Lilly
Company eigentlich im Kampf gegen Depressionen beispringt.6
Im deutschsprachigen Raum ist das neuro-enhancement noch eine weniger verbreitete Technologie der Selbstbearbeitung, wobei es bislang kaum verbindliche
Zahlen gibt und aussagekräftige Studien fehlen. Hydergin aber – ein Psychotropikum aus dem Hause Sandoz – gibt ein Beispiel dafür, wie auch hier der eigeninitiativen Umwidmung von Medikamenten nachgegangen wird. Im Internet kursieren Erfahrungsberichte, in denen der ursprünglich für die Geriatrie vorgesehenen
Wirksubstanz – sie verbessert den Stoffwechsel im Gehirn, besetzt Bindungsstellen
körpereigener Botenstoffe und verändert die Impulsübertragungen zwischen Nervenzellen – nicht allein die Maximierung von Auffassungskraft attestiert wird: »Ich
rede deutlich mehr«, heißt es enthusiastisch,
bin um einiges sozialer und nicht mehr so allein für mich. Zwanghaftes Verhalten,
innere Unruhe, Anspannung und ständige Sorgen haben sich gebessert. Ich schlafe
wieder tief und fest und träume die ganze Nacht. Ich bin erstaunlicherweise guter
Dinge. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich einen deutlichen positiven Unterschied im Gesicht. Das ist erst nach 10 Tagen, und es scheint jeden Tag etwas besser
zu werden. Kurzum ich fühle mich rundum besser dank den vielen kleinen, subtilen
Verbesserungen. Andere Menschen können den Unterschied sehen.7
Auch wenn die Wirklichkeit des neuro-enhancement und der lifestyle agents zumindest gegenwärtig noch nicht ganz so spektakulär ist, wie sie besonders anhand
von Ritalin, Modafinil oder Prozac diskutiert wird,8 irritieren Psychotropika das
kulturelle Selbstverständnis. Denn schon jetzt haben sie begonnen, nahezu alle
Institutionen zu prägen: Arbeitswelt, Schule und Universität, Freundschaft, Familie, Freizeit und Gefängnis, nicht zuletzt Sportplatz und Schlafzimmer.9 Und der
sie einnehmende homo pharmaceuticus, der die Bühne betritt, wirft fundamentale
6 Auf der Homepage des Konzerns ist eine Erfolgsgeschichte zu lesen: »When PROZAC was introduced in 1986, it was the first drug of its class. Since then, PROZAC has been a catalyst in
bringing attention to mental health. PROZAC has helped millions of people in more than 90
countries in their battle with depression.« (www.prozac.com [Zugriff 20.08.2012].)
7 www.symptome.ch/vbboard/amalgam-entgiftung/61504-erfahrungsbericht-hydergin.html (Zugriff 20.08.2012).
8 Vgl. Weber, Christian: »Superhirn fliegt noch nicht«; Langlitz, Nicolas: »›Better Living Through
Chemistry‹«, 279. Angeheizt wurde die Debatte im deutschsprachigen Raum etwa durch Bublitz,
Christoph/Galert, Thorsten/Heuser, Isabella/Merkel, Reinhard/Repantis, Dimitris/SchöneSeifert, Bettina/Talbot, Davinia: »Das optimierte Gehirn. Ein Memorandum sieben führender
Experten«.
9 Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 46.
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14
SET | SETTING – Einleitung
Fragen auf.10 Die Medikation mit psychoaktiven
Substanzen ist nämlich eine Technologie der Körperkontrolle, die das, was mit Geist, Subjekt, Ich
oder Persönlichkeit umschrieben ist, gänzlich
erfasst, die soziales Verhalten und individuelle
Biografien moduliert – und neben euphorischen
Hoffnungen auch großes Unbehagen erzeugt.
Die Substanzen verschieben Ansichten und Anforderungen, die das Selbst betreffen, lassen andere Wettbewerbe entstehen und neue Wertekataloge verfassen. »Charisma, Mut, Charakter,
soziale Kompetenz« – es scheint, als müssten »die
Vorstellungen über diese und andere Eigenschaften neu definiert werden«, heißt es in Listening to
Pill Man, auf: www.joe-ks.com
(Zugriff 20.08.2012).
Prozac, »und ebenso unsere Meinung darüber,
was in unserem Selbst konstant und was veränderbar ist, was notwendig und was zufällig ist – und was überhaupt jetzt an Verwandlungen möglich« wäre.11
Psychotropika geben zu bedenken, ob die Definition von Krankheit so weit
auszudehnen ist, dass sie charakterliche Züge, Eigenheiten, Stimmungen, Schwächen oder Mängel des Selbst umfasst. Ist dem so, ist der Imperativ der heilenden
respektive perfektionierenden Selbstkorrektur immer dringlicher und lauter zu vernehmen. Es scheint dann, als wäre man moralisch dazu verpflichtet, sein Selbst zu
reformieren, sich seiner vermeintlichen Defizite anzunehmen und sie zu bekämpfen – gibt es doch entsprechende und nicht zuletzt erschwingliche Mittel dagegen.
10 Vom homo pharmaceuticus spricht etwa Bennett Kravitz angesichts der Proportionen, die der
Trend des pill-taking life angenommen habe: »never before have antidepressants been prescribed
for preschoolers in such large amounts. It is as if one shouldn’t wait too long before embracing a
lifestyle dependent on drugs. Thus, I think it is fair to say that ›Homo Pharmaceuticus‹ has arrived in America, as prescription drugs and the pursuit of happiness have become synonymous.«
(Kravitz, Bennett: »Viagra«, 720.)
11 Kramer, Peter: Glück auf Rezept, 42. Siehe zur Kritik an enhancement-Technologien und ihrem subjektivierenden Effekt Elliott, Carl: Better Than Well: American Medicine Meets the American Dream.
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Medication Time!
15
Medication Time!
How did we become neurochemical selves?12
Angesichts der neurotechnologischen Möglichkeiten und individuellen wie sozialen Handlungsoptionen, wie sie durch Psychopharmaka offenstehen, ist die Rede
vom jetzigen Zeitpunkt als einem historischen Übergang inflationär geworden.
Dieser historische Übergang lässt sich allerdings vordatieren beziehungsweise als
Ausläufer einer Phase verstehen, die im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts einsetzt. Bereits in den 1950er Jahren ist der Appell Medication Time! nicht mehr zu
überhören – der Appell eines täglichen psychiatrischen Rituals der drogistischen
Administration, Korrektur und Disziplinierung, das von einem Walzer akustisch
begleitet im Film One Flew Over the Cuckoo’s Nest (1975) verewigt ist.13 Bereits in
dieser Zeit werden in wachsendem Maße chemische Antworten auf mentale Probleme gesucht und die Mittel bereitgestellt, die man braucht, um depressiven Verstimmungen zu begegnen, Ängste auszutreiben, ruhelose Kinder neurochemisch zu
erziehen – auf dass sie ihre Energien auf ein Ziel hin bündeln und ihre Affekte
kontrollieren – oder middle class-Frauen US-amerikanischer Vorstädte stillzustellen, wie es The Rolling Stones in Mother’s Little Helper – dieser zynischen Hommage
an Valium als Geheimrezeptur erfolgreicher Haushaltsführung – besungen haben.14
Aus dieser Phase, die nachträglich zum ersten goldenen Zeitalter der Psychopharmaka erhoben worden ist,15 werden viele der epistemischen Grundannahmen
in Hinblick auf ein neurochemisches Selbst bezogen – in Hinblick auf die biologistische Idee der stofflichen Konstitution und Modulierbarkeit des Selbst. Sie erlaubt,
Traurigkeit als ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn zu denken, das pharmakologisch wieder ausbalanciert werden kann, sie gestattet, Sorgen ebenso als Unausgewogenheit zu betrachten, die stofflich leicht auszutarieren ist, sie lässt zu, kindliche Lebhaftigkeit oder Nachlässigkeit als Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu bezeichnen, der mit Amphetaminen beizukommen ist, und sie
ermöglicht schließlich, vermeintliche Unzulänglichkeiten des Selbst wie das Gefühl
der Inferiorität als eine der vielen Ausdrucksformen eines niedrigen Serotoninhaus-
12 Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 46.
13 Der Film beruht auf dem gleichnamigen Roman von Ken Kesey, der mit seinen Merry Pranksters
zu den wichtigsten Figuren der drogistischen counter culture der Westküste zählt.
14 In die 1950er Jahre fällt die Entwicklung des Antidepressivums Iproniazid, des Neuroleptikums
Chlorpromazin, mit Lithium werden manisch-depressive Krankheiten therapiert und Ritalin,
dessen Wirksubstanz Methylphenidat 1944 in der Baseler Ciba-Geigy AG erstsynthetisiert wird,
wird auf dem Markt eingeführt. (Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«.)
15 Siehe exemplarisch Healy, David: The Creation of Psychopharmacology; Grob, Charles: »Introduction: Hallucinogens«, 6; sowie die einleitenden Worte zu »Stanislav Grof interviews Dr. Albert
Hofmann«, 22.
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16
SET | SETTING – Einleitung
halts vorzustellen.16 Schon in dieser Phase wird
sowohl das psychotropische wie anthropologische
Wissen in umfassender Weise rekonfiguriert. Sie
bringt die Denkweisen hervor, die die Einschätzung von Abweichung und Integrität der psyché
und den jeweiligen Umgang mit ihnen organisieren.17
All die brisanten Fragen, die mit einem homo
pharmaceuticus und seinem medikalisierten Geist
einhergehen, all die Fragen, die mit der Vorstellung der psyché als einem über Botenstoffe organisch geregelten und substanziell-pharmakologisch
Mother’s Little Helper Mints mit 75 Pfefferminzsteuerbaren System der biochemischen Informatibonbons von Unemployed Philosophers
onsverarbeitung verbunden sind, werden ab den
Guild Mints.
späten 1940er Jahren intensiv prozessiert. Erforscht
und diskutiert wird, wie die psyché beschaffen sein könnte, wo ihr Zugang versteckt
liege, wie das Verhältnis von Materie und Geist zu bestimmen wäre, wie die Seele zu
verbessern, wie deren Krankheiten zu therapieren seien, was als gesunder, was als
anormaler, was als guter, was als schlechter Bewusstseinszustand gelte, wer die Entscheidungsgewalt über stoffliche Interventionstechnologien habe, wer die Verantwortung für sie trage, welche Substanzen zu verbieten und welche die segensreichen
seien.
Das Epizentrum dieser epistemischen Schwellen- und Umbauphase macht insbesondere eine Substanz aus. Als nicht-menschlicher Akteur im Sinne Bruno Latours
attackiert sie zunächst die bestehende Ordnung des Wissens, wirft neue Fragen auf
und wird semiotisch tätig. Alsdann ist diese Substanz eine der Quellen, einer der
elementaren Bausteine in der Architektur des neurochemischen Selbst: An LSD –
später auch an engere und weitere ›Verwandte‹ wie Psilocybin, Ecstasy/MDMA
und andere Psychotropika – heften sich genau jene Kontroversen und euphorischen Hoffnungen, die mit der Möglichkeit drogistischer Selbstexploration und
Persönlichkeitsregulierung aufgeworfen sind. Zwar ist LSD als Leitsubstanz der
counter culture, von beat generation, Hippies oder Blumenkindern sowie der 68erBewegungen bekannt geworden. Vermutlich ist kaum eine andere Droge so eng
verbunden mit deren kulturrevolutionären Programmen der sozialen Umwälzung,
16 Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 46; Kramer, Peter: Glück auf Rezept, 15, 242. Kramers Patienten fühlen sich durch Prozac um Selbstkenntnis reicher, bekannt gemacht mit einer
neuen Persönlichkeit, da etwas zutage kommt, was offensichtlich »biologisch determiniert gewesen war«. Sind Schwächen und Mängel medikamentös zu beseitigen, muss das Selbst, so der
vereinfachte aber nicht weniger schlagende Zirkelschluss, bereits zuvor stofflich basiert gewesen
sein – und mithin empfänglich für eine pharmakologische Metamorphose.
17 Vgl. Rose, Nikolas: »Neurochemical Selves«, 51.
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Medication Time!
17
der Bewusstseinserweiterung, der Selbstverwirklichung, der Selbsterfahrung und
-formung. Es war diese Substanz, an die sich utopische Entwürfe einer individuell
bestimmbaren Lebensführung knüpften. Und sie löste gesellschaftspolitische Kontroversen aus um die Zuständigkeit für diese Lebensführung, erbitterte Abwehrkämpfe gegen staatliche Interventions- und Kontrollversuche.
LSD macht aber zunächst vor allem eine Karriere als Medikament und eine als
psychotoxischer Kampfstoff. So hat die CIA in der Zeit des Kalten Krieges
LSD daraufhin getestet, ob man es für chemische Gehirnwäschen und zur Kontrolle menschlichen Verhaltens einsetzen könnte. 1953 startet die Operation MKULTRA, ein groß angelegtes, geheimes Forschungsprojekt zu Varianten der mindcontrol mit der Idee, gefestigte Wahrnehmungsmuster und Weltvorstellungen
durch den Rausch so weit zu zerstören, dass man sie reprogrammieren könnte.
Interessiert ist die CIA auch an der Substanz als verhörstrategischem Mittel, das
verwirren und rationales Denken ausschalten soll, sodass man ungefiltert die Wahrheit sagt. Bald stellt man jedoch fest, dass LSD nicht das Wahrheitsserum ist, das
man endlich gefunden zu haben glaubte: So unberechenbar, wie die Effekte sich
zeigen, kann die CIA nur den Schluss ziehen, dass LSD Verhöre absolut ineffektiv
macht.18
Seinen Anfang genommen hat der Aufstieg von LSD jedenfalls nicht in den
Brennpunkten der counter culture, in Haight-Ashbury oder Woodstock, sondern in
pharmazeutischen Laboratorien und medizinisch-psychiatrischen Forschungseinrichtungen.19 Dort faszinierte diese Substanz ungemein. Denn eine wie LSD, an
sich geschmacksneutral, farb- und geruchlos, aber in minimaler Dosis hoch potent,
war bis dato nicht bekannt. Im ersten Moment für jene magic bullet gehalten, die
zu finden man sich so sehnlichst erhofft hatte,20 erzeugte ihr Auftauchen im Jahr
1943 eine Stimmung grenzenloser Euphorie. Heute ist es kaum mehr vorstellbar,
aber in den 1940er, -50er und -60er Jahren schien LSD Einblick zu gewähren in
die geheimnisvollen Mechanismen des Bewusstseins und offenbarte die Möglichkeit, auf jene Einfluss zu nehmen.
18 Vgl. Plant, Sadie: Writing on Drugs, 118–121; siehe Lee, Martin/Shlain, Bruce: Acid Dreams;
Weinstein, Harvey: Psychiatry and the CIA. Das Vorgängerprojekt BLUEBIRD, 1951 in
ARTICHOKE unbenannt, ist anfangs dem Einsatz von Meskalin gewidmet, beschäftigt sich dann
aber verstärkt mit LSD.
19 Mit anderen Drogen wie Meskalin, Kokain, Morphium oder Haschisch hat LSD gemein, dass es
zunächst im pharmazeutischen Bereich hergestellt, für medizinische und militärische Forschungszwecke gebraucht, mit seinem ›Missbrauch‹ in außerinstitutionellen Kontexten jedoch verboten
wurde. Die Firmen stellten der Forschung Psychotropika meist kostenlos zur Verfügung.
20 Die Suche nach einer dem Penicillin in Durchschlagskraft, Nutzen und Wert ähnlichen magic
bullet hat in der drogistischen Forschung Geschichte. Ernüchternd liest sich dazu ein Kommentar
aus der Wissenschaftsgeschichte der Opiate: »However lofty the promise of the magic bullet, the
reality was that new drugs came into use because they were somewhat more beneficial than existing ones, or somewhat less toxic.« (Acker, Caroline Jean: »From All-Purpose Anodyne to Marker
of Deviance«, 116.)
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18
SET | SETTING – Einleitung
Rasch wurde die Substanz zu einem Schlüsselelement der Psychopharmakologie, der sie über viele Jahre hinweg entscheidende Impulse gab – besonders indem
man ihr psychotomimetische Wirkung unterstellte. Mit dem Wegbereiter und Protagonisten der psychopharmakologischen Revolution, dem ersten Neuroleptikum
Chlorpromazin, das die psychiatrischen Kliniken ab den 1950er Jahren erheblich
leeren sollte, kurierte man nämlich künstliche, mit LSD initiierte Modellpsychosen. »There is no doubt«, beteuert der LSD erprobende Psychiater Max Rinkel
schon 1955, »that the experiments […] have stimulated research to find chemical
agents to counteract LSD, in the hope of finding chemicals which will be beneficial
in the treatment of psychosis.«21 Die Geschichte des neuro-enhancement führt damit
zur Geschichte der drogistischen, im Besonderen der LSD-Forschung.22 Oder
anders gesagt: Drogen, heilende Psychopharmaka und das Selbst optimierende
neuro-enhancer und lifestyle agents teilen sich oft eine gemeinsame Entstehungs-,
Forschungs-, Etablierungs-, manchmal sogar Erfolgsgeschichte, ganz bestimmt die
Geschichte ihrer kultursemantischen Effektivität.
Geschrieben wird diese Geschichte von wissenschaftlichen Disziplinen wie
Pharmakologie, Chemie, Neurologie, Psychiatrie, Medizin ebenso wie von der
counter culture. Die unterschiedlichen Wissenskulturen bilden ein diskursives Verbundsystem und sind darin nur schwer voneinander zu trennen. Abgesehen davon,
dass es zahlreiche personelle Überschneidungen gibt, ignoriert nicht gesichertes
Wissen, das seine Quelle außerhalb der wissenschaftlichen Institution hat, die
Schwellen der Wissenschaftlichkeit. Es sickert in die Regionen des szientifisch legitimierten Wissens ein und infiziert es – wie auch umgekehrt: Rauschwissen wird
transferiert, mischt sich. Die verschiedenen Wissenskulturen machen drogistische
Introspektion und Selbstaufklärung zu einem Ort, an dem die Neurotechnologie
im Sinne der Konditionierung und Steuerung des Selbst lanciert wird – nicht ohne
dass deren kritische Reflexion ausbliebe. Auch wenn die Visionen und sozialpolitischen Ziele, die mit den Psychotropika verbunden sind, zweifelsohne variieren,
teilen sich wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Milieus die Technologien
der Arbeit am Selbst und der drogistischen Intervention – ebenso wie den Subjektentwurf, auf den diese bezogen sind. Da wie dort verdichtet sich die Vorstellung
eines biochemisch organisierten und stofflich modulierbaren Selbst. Die Wissenskulturen und ihre Beschreibungsapparate vernetzen sich.
21 Rinkel, Max: »Experimentally Induced Psychoses in Man«, 238.
22 Ein Beispiel ist das genannte Hydergin, das im Fahrwasser der LSD-Forschung von Sandoz für die
Geriatrie entwickelt wurde.
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Psychotropen
19
Psychotropen
Der Ausdruck »set and setting« ist ein Terminus technicus, der einen
Komplex nicht-pharmakologischer Faktoren bezeichnet, die für die
LSD-Reaktion von Bedeutung sind. »Set« schließt die psychologischen Erwartungen der Versuchsperson ein, die Vorstellungen des
Versuchsteilnehmers wie des Versuchsleiters über die Art der LSDErfahrung, das angestrebte Ziel des psychedelischen Vorgehens und
die Vorbereitung und Programmierung der Sitzung. »Setting« bezeichnet die tatsächliche Umgebung, die physische wie die interpersonale, die konkreten Umstände, unter denen die Droge verabreicht
wird.23
Das Buch Psychotropen erkundet die drogistische Forschung jener Phase der Liminalität als ein expandierendes Forschungsfeld, als ein psychotropes Wissen generierendes Experimentalsystem, das durch das Erscheinen von LSD in Gang gesetzt wird und
in dem sich die Vorstellung eines neurochemisch geregelten und regelbaren Selbst
ausbildet.24 Die Verzweigungen und konjunkturellen Anschlussstellen des Experimentalsystems werden anhand von Tropen – sprachliche Figuren im Sinne von
Begriffen – und Narrativen beschrieben, die durch diverse, meist disziplinär und
institutionell von einander geschiedene Bereiche wandern. Im expandierenden Experimentalsystem arbeiten sie als epistemologische Operatoren weiter. Denn sie führen
semantisches Gepäck mit sich, das sich auf die jeweiligen Wissensformationen strukturierend auswirkt – wie auch umgekehrt die jeweiligen Forschungskontexte ihren
semantischen Gehalt verändern. Je nach Aufenthaltsort erfüllen Figuren und Narrative also unterschiedliche Aufgaben. Wo immer sie sich aber auch befinden: Sie bringen – indem sie ihm Gestalt verleihen – ein ganz spezifisches Wissen zum Ausdruck.
Herstellung und Formung, Entstehung und Diskursivierung von Wissen gehen miteinander einher – womit die Möglichkeit gegeben ist, Wissen und die Formen seiner
Artikulation durchweg synonym und gleichfunktional zu handhaben.
Dahingehend ist das setting dieses Buches das Forschungsfeld einer Poetologie des
Wissens, die am »Grenzbereich und an den Schnittstellen zwischen Literatur und
Wissenschaft(en)« operiert und von einer »nicht-mimetischen Konzeption des Ver-
23 Grof, Stanislav: Topographie des Unbewußten, 34 f.
24 Rheinberger entwirft es als eine transduale Anordnung, die das Experiment – jene prominente
und favorisierte szientifische Wahrheitstechnologie – um all die »funktionellen Einheiten empirisch-wissenschaftlicher Aktivität« erweitert. Es ist eine Vorrichtung, die der Bearbeitung noch
unbeantworteter und der Produktion und Materialisierung noch ungestellter Fragen dient. (Vgl.
Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge; ders.: Experiment. Differenz.
Schrift, hier 49.)
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20
SET | SETTING – Einleitung
hältnisses von Literatur und Wissenschaft« ausgeht.25 Aufschlussreiche Arbeiten zu
Psychotropika aus den Feldern der Sozial-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte
liegen vor – sie werden mehrfach dankbar konsultiert.26 Ebenso gibt es einschlägige
Arbeiten zu Rausch und Literatur, über Schriftsteller und ihrem Schreiben auf
Droge.27 Psychotropen hingegen interessiert sich für die rhetorische und narratologische Verfasstheit des drogistischen Wissens und hält sich nicht an dessen Differenzierung in Typen und Kategorien, an die sich eine Bindung an bestimmte
Disziplinen oder Genres anschließt. So können etwa die stereotype Überblendung
von Literatur und Rausch – als ›anderen‹, der Wissenschaft äußerlichen Ordnungen zugehörig – ignoriert und stattdessen die epistemischen Codierungs- und
Zuschreibungsverfahren selbst ins Visier genommen werden: diejenigen Verfahren,
»durch die eine Rede sich der Literatur entzieht, sich den Status einer Wissenschaft
gibt und ihn bezeichnet«.28
Jegliches Wissen ist poetisch durchdrungen – so die Präsupposition, so das set
dieses Buches. Es entsteht durch den fortgesetzten Austausch von kulturellen Zeichen, rhetorischen Figuren und narrativen Strukturen, die die Dimension seiner
Sinnbildung ausmachen. Das Auftauchen neuer epistemischer Dinge – materielle
und nicht-materielle Gegenstände, auf die sich das Erkenntnisinteresse richtet und
die zum movens von Forschungsentwicklungen werden – ist mit den Formen ihrer
Darstellung, die sie erst in Szene zu setzen vermögen, korreliert. Unter dieser Prämisse – und nicht weil die Philologie als Metadisziplin zu begreifen ist oder gar ein
höherer Wahrheitsgehalt der Literatur anzunehmen wäre – zeigt sich, wie auch in
den Geneseprozessen nichtliterarischer Diskurse und Wissensformationen tropische
Verfahren am Werk sind. Psychotropes wie anthropologisches Wissen, das nur jenseits der Entscheidung Wissenschaft oder Literatur zu haben ist, kann so in seinen
25 Barck, Karlheinz: »Literatur/Denken: Über einige Relationen zwischen Literatur und Wissenschaft«, 53 f.
26 Siehe exemplarisch Lee, Martin/Shlain, Bruce: Acid Dreams; Cashman, John: LSD. Die »Wunderdroge«; Lattin, Don: The Harvard Psychedelic Club; Dany, Hans-Christian: Speed. Eine Gesellschaft
auf Drogen; Stevens, Jay: Storming Heaven; Walton, Stuart: Out of It. A Cultural History of Intoxication für Sozial- und Kulturgeschichten; für eine Wissenschaftsgeschichte Healy, David: The
Creation of Psychopharmacology.
27 Gut aufgearbeitet sind die drogistischen Erfahrungs- und Schreibpraktiken folgender Autoren:
De Quincey, Coleridge, Poe, Baudelaire, Rimbaud, Flaubert, Stevenson, Doyle, Benjamin,
Michaux, Jünger, Kerouac, Huxley, Burroughs, Vesper, Dick, Vogt, Goetz. Marcus Hahn geht in
Gottfried Benn und das Wissen der Moderne mitunter auf Benns Beringer-Lektüre ein, Die künstlichen Paradiese von Alexander Kupfer gilt Drogen und Literaturproduktion seit der Romantik,
Marcus Boons The Road of Excess erzählt eine Geschichte von Schriftstellern und ihren drogistischen Erfahrungen anhand verschiedener Substanzen, Sadie Plant wiederum zeigt in Writing on
Drugs aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive eindrücklich, wie Drogen Schriftsteller und
Theoretiker inspiriert und beeinflusst haben, Martin Tauss schließlich widmet sich in Rausch –
Kultur – Geschichte Drogen in deutschsprachigen literarischen Texten nach 1945.
28 Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, 17.
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Psychotropen
Collage Cycledelic von Matteo Guarnaccia.
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SET | SETTING – Einleitung
Wirkungsweisen und Zusammenhängen, hinsichtlich seiner Geltungsbedingungen und der Art, wie es tradiert wird, freigelegt werden.29
Kulturwissenschaftlich und wissenschaftshistorisch informierte, philologisch
verfahrende Lektüren in diesem Buch gelten einem Material, das alles andere als
ein festes Korpus ist. Es stammt vorwiegend aus dem Archiv der sogenannten harten Wissenschaften, bezieht aber auch Wissensbestände mit ein, die disziplinär und
kanonisch weniger klar umrissen sind. Es geht darum, einen Eindruck des drogistischen Wissensraumes zu vermitteln, in dem epistemische Elemente aus Wissenschaft, Literatur und Pop- und Gegenkultur – ungeachtet ihrer disziplinären und
institutionellen Herkunft – zirkulieren. Jedes Experiment und jede Aussage über
ein Experiment ist eingebettet in diesen Raum, den sie wiederum erst zu dem
machen, was er ist. Aus diesem Grund stehen Fließtext, Bilder und Motti bisweilen
nicht in direktem, unmittelbarem, sondern eher assoziativem Zusammenhang. In
ihrem Nebeneinander lassen sie die Topologie des Wissens mit seinen Verdichtungspunkten und manchmal verdeckten Inspirationsquellen erkennen. Ihr
Nebeneinander reflektiert eine Dynamik der reziproken Zitation und Bezugnahme,
die oftmals zwar nicht explizit vorgenommen wird, die allerdings das psychotrope
Wissen, das erwächst, wesentlich organisiert.
Die vorgenommene Rahmung des Experimentalsystems durch die Eingrenzungsmarken des Auftauchens von LSD im Jahr 1943 einerseits und des Erscheinens von
homo pharmaceuticus beziehungsweise der Verfestigung des neurochemischen Selbst
andererseits ist zu einem großen Teil dem Wirksamkeitsmodus seiner chemischen
Protagonistin geschuldet. Eine Substanz wie LSD zielt nicht auf die Steigerung
körperlicher Leistungskraft. Generell wirken Psychotropika insbesondere – wie
sich bereits aus ihrem Namen erschließt, der aus den griechischen Worten ψυχή
(psyché) und τρόπος (tropos) kombiniert ist – auf die Psyche verändernd, umwandelnd, bahnend und Richtung gebend. Sie infizieren die sinnliche Wahrnehmung,
modifizieren das Denken und verfremden das Bewusstsein. Sie intervenieren in
kognitive Abläufe, die sie grundlegend neu strukturieren.
Psychotropika zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Wirkung nur in Interaktion mit dem Subjekt entfalten und mit ihm in ein Verhältnis der Interdependenz
treten. Diese Eigenart ist es auch, auf die die Expansion des Experimentalsystems
zurückzuführen ist. Drogistische Forschung nämlich ist angehalten zu fragen: Wie
verlaufen kognitive Prozesse? Wo werden Wahrnehmungen produziert? Und wer
29 Vgl. Vogl, Joseph: »Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800«, hier 13; ders.: Kalkül und
Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, hier 13 f.; ders.: »Poetologie des Wissens«; White,
Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen
Diskurses, hier 10, 21; ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung,
hier 20–22, ders.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa,
9–62; Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge.
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Psychotropen
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produziert sie? Was ist dem Körper eigen, was fremd, wie ist es um willentliche
Selbstbestimmung und stoffliche Determination bestellt? Es geht um Kernmomente wie die Beschaffenheit des Bewusstseins, um psychische Funktionsweisen,
Abläufe und Vorgänge – und damit insgesamt um anthropologische Bestimmungen. Will man also Aussagen über eine drogistische Wirkungsweise treffen, kommt
man nicht umhin, auch Aussagen über das Subjekt zu treffen, das eine Droge zu
sich nimmt. Forschung mit und an der Droge ist immer auch Forschung mit und
am Selbst – Psychotropika generieren darum Psychotropen: Rede- und Gedankenfiguren der psyché.
Das Buch setzt ein mit der thematischen Konstellation Wissen im Rausch, womit
ein Aufriss der strukturellen Eigenarten des Experiments vorgeschaltet ist, das mit
dem Versuchspaar Droge/Subjekt umzugehen hat. Kapitel I gilt der grundsätzlichen Frage, wie Wissen über Drogen, über ihre Eigenschaften und Wirkungsspektren erzeugt und verarbeitet werden kann, wenn das Wissen ein psychotropes ist:
und zwar insofern es von einem forschenden Selbst kommt, das drogistisch verändert ist. Weil das Forschungssubjekt Schauplatz und Teil der psychotropen Wirkung ist, die es beobachten und über die es Wissen hervorbringen möchte, stellt
das Drogenexperiment eine prekäre Grenzzone der Wissensproduktion dar. In dieser Zone sehen sich zwei polare Momente mit einander konfrontiert: auf der einen
Seite der wissenschaftliche Imperativ eines der Logik und Ratio folgenden Denkens, auf der anderen Seite dessen Aussetzen im Rausch.
Trotz seiner Prekarität und der vielen Alleinstellungsmerkmale lässt das psychotrope Experiment dabei Schlüsse über die problematischen Implikationen zu, die
jeglicher Wissensproduktion eigen sind. Drogistisches Forschen indiziert blinde
Flecken der epistemologischen Traditionen, in denen es steht. Sie treten deutlich
zutage, wohingegen sie in anderen Kontexten leichter ignoriert werden können.
Grundsätzliche erkenntnistheoretische Problemkonstellationen werden strukturell
immer wieder vervielfältigt, verstärken sich gegenseitig und bauen hohen Druck
auf. Sie werden dann oftmals so virulent, dass sie das ›eigentliche‹ Forschungsinteresse der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Reflexions- und Verhandlungsgegenstände flankieren.30 Der Schwerpunkt liegt somit auf derjenigen Konjunktur, die das Drogenexperiment zu einem Ort macht, an dem wissenschaftliche
Aktivität von den Akteuren selbst zum Thema erhoben wird. Es ist jenem Verhandlungsraum gewidmet, in dem die Bedingungen des eigenen Tuns, die Techniken,
Methoden der Erkenntnisproduktion sowie wissenschaftliche Standards, Kriterien
und Paradigmen zur Disposition gestellt sind. Kapitel I konfiguriert diese, bettet
sie wissensgeschichtlich ein und pointiert sie, behandelt sie zunächst aber nur kur30 Die in diesem Buch überwiegend nicht genderneutrale Schreibweise spiegelt die Geschlechterzusammensetzung der wissenschaftlichen Drogenforschung wieder. Größtenteils ist sie Forschung
im Männerbund.
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SET | SETTING – Einleitung
sorisch. Ohne auf die Chronologie zu achten, werden sie auf drogistische Forschungsunternehmungen diverser Wissenskulturen bezogen, um dann in einer
mikrologischen Lektüre der Eingangspassagen von Albert Hofmanns populärwissenschaftlichem Text LSD – Mein Sorgenkind. Die Entdeckung einer »Wunderdroge«
in Kapitel II wieder aufgenommen zu werden.
Hofmanns Erzählungen der Herstellung, Entwicklung und Verwendungsweisen
von LSD, durch die der Chemiker seinem Forschungsgegenstand eine ganz spezifische Gestalt, Semantik und Geschichte im Sinne einer Biographie gibt, erweisen
sich als eine mögliche Reaktion, als eine mögliche Variante, auf die in Kapitel I
flüchtig aufgefalteten strukturellen Schwierigkeiten drogistischen Forschens zu
antworten. Ganz besonders als populärwissenschaftlicher exponiert dieser Text –
weil er an den Rändern der disziplinär etablierten Genres und Diskursformationen
operiert – die Kämpfe um die Anerkennung psychotropen Wissens und dessen
Zugehörigkeit zum Bestand eines institutionell und disziplinär bestätigten Wissens. Im Gegensatz zu Wissensartikulationen aus dem Zentrum, die sich ihres Status sicher sein können, erfordert eine stets lauernde Bedrohung, verstoßen und
einer nicht szientifischen Domäne zugeschlagen zu werden, dass in LSD – Mein
Sorgenkind alle Mittel der epistemischen Stabilisation und Legitimation in Stellung
gebracht und ausgeschöpft werden. Hofmanns Erzählungen zeigen, wie essentiell
aus der literarischen Textproduktion bekannte rhetorisch-figurative und narrative
Verfahren sowie der strukturbildende Rückgriff auf bestimmte Genres daran beteiligt sind, den Kampf zu gewinnen und psychotropes Wissen verfestigen und
beglaubigen zu können.
LSD – Mein Sorgenkind steht als Text und aufgrund der aus einem Schwellenbereich agierenden Forschungsunternehmungen, von denen er berichtet, sowie dem
Wissen, das er artikuliert, unter Verdacht. Das psychotrope Wissen, das immer
Spuren der Wissenden trägt, lässt sich nicht wie gewohnt objektivieren, generalisieren und in allgemein nachweisbare Daten überführen. Taugen zudem die herkömmlichen Strategien der Verwissenschaftlichung nicht, bedarf es neben dem
Einsatz poetischer Gestaltungsinterventionen eines unkonventionellen Kunstgriffes: Die Verlässlichkeit muss von der Versuchsperson, vom forschenden Selbst ausgehen. Es ist dies eine Anforderung, der der Hofmann’sche Text gewissenhaft
begegnet: Aus dem Chemielabor wird Auto-/Biographisches berichtet. Zur
Biographie der Chemikalie tritt – in maskierter Form – die Autobiographie des
Chemikers.
In Trips, dem dritten Kapitel, liegt sodann besonderes Augenmerk auf der epistemologischen Konjunktur, an der sich an das Experimentalsystem von LSD anthropologische Theoriebildung anlagert und Drogen- ausdrücklich in Subjektforschung
umschlägt. Auf dem Moment, in dem die drogistische Forschung ihr Interessensfeld erweitert und Fragen, die das Selbst betreffen, integriert. Psychotropes Wissen
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Psychotropen
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wird als das Wissen von der veränderten und veränderbaren psyché lesbar: Mit der
Ausweitung des Experimentalsystems stehen Psychotropika immer weniger als
Erkenntnisgegenstände im Mittelpunkt; stattdessen übernehmen sie die Funktion
eines dienstbaren Instruments, mit dem Wissen zu produzieren ist, das weit über
sie hinausgeht. Sie sind die Mittel, mit denen das Selbst zu figurieren ist, mit denen
Psychotropen zu erzeugen sind.
Nach Erläuterungen zur theoretischen Figur der Begriffswanderschaft, die semantische Transferprozesse beschreibbar macht, werden die trips jener Substanz verfolgt, die Hofmann 1943 vom chemisch-pharmazeutischen Labor in Basel aus in
die Welt setzt. Besonders bejubelt wird die Ankunft von LSD im Wissensraum der
psychiatrischen Forschung, wo es als vielversprechendes epistemologisches tool zum
Studium von Wesen und Ursache der Schizophrenie, bei der Ausbildung von Fachkräften, als außergewöhnliches Medikament und psychotherapeutisches Hilfsmittel zur Konturierung, Heilung, Entfaltung oder Lenkung der Persönlichkeit zum
Einsatz kommt.
Trips gilt den viel beschworenen Forschungsreisen in eine terra incognita des
Bewusstseins und den epistemischen Fundstücken, die von den drogistischen
Expeditionen mitgebracht und in die bestehende Ordnung des Wissens eingepasst
werden – wobei die trips fast immer auch dazu führen, diese Ordnung neu anzulegen. Man bemüht sich um die Vermessung der Regionen und Grenzen der menschlichen Psyche, um Kartographien des Ich, sogar um Topographien des Unbewussten. Die Droge figuriert als die Transporteurin, die die Schwelle in die andere und
fremde Welt überschreiten lässt. Die Rede von der Reise wiederum sorgt dafür, dass
bei ihrer Rückkehr bestimmte Konfigurationskriterien des Wissens wie die Unterscheidungszeichen nüchtern/männlich/gesund/geistesgegenwärtig versus psychotrop/weiblich/verrückt/träumerisch beibehalten werden.
Kapitel III akzentuiert diejenige Konjunktur des Experimentalsystems, an der
LSD jenes neurochemische Interesse produziert, mit dem die stoffliche Fundierung
des Selbst einsetzt. Psychotropische Forschung interagiert mit einem sich ausprägenden neurozentrischen Beschreibungsmodell, das sich bis heute verfestigen
konnte, mit einer Semantik des Gehirns als Kommunikationssystem, das biochemische und chemische Informationen verarbeitet – und folglich auch stofflich
abgewandelt werden kann. Trips rekonstruiert, wie im Zuge der epistemischen
Neuordnung zentrale und weitaus unscharfe Begriffe wie Schicksal, Wille, Selbstbestimmung und Determination und nicht zuletzt die beiden basalen Unterscheidungskategorien Geist und Materie reformuliert werden müssen.
Mit den Schlussüberlegungen wird schließlich der Bogen wieder zurückgeschlagen
zu den neurochemischen Optimierungsinterventionen in den eigenen Körper.
Better Things for Better Living… Through Chemistry visiert sie als Techniken des
Selbst an, die biotopisch ausgeformt und perfektioniert werden. Das Kapitel gilt
den Praktiken der Ressourcenausschöpfung, der Kräftemobilisierung und Heilung
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SET | SETTING – Einleitung
mit ihren subjektivierenden Effekten, von denen Selbstmanagementprogramme
der neoliberalen Moderne Anleihen nehmen können – wobei diese Praktiken der
Selbstbearbeitung kein Produkt einer einzelnen Disziplin oder eines Wissensmilieus sind. Ebenso wie das anthropologische Wissen, das kultursemantisch wirksam
wird, verdanken sie sich wechselseitigen Transaktionen, die unaufhaltsam sind.
Differenzen zwischen den einzelnen Milieus werden allerdings in dem Moment
sichtbar, in dem Substanzen zu Trägern sozialpolitischer Bedeutung werden – wie
dies in der epistemischen Schwellen- und Umbauphase Mitte des 20. Jahrhunderts
der Fall ist. Wenn sich psychopharmakologische und kulturelle Revolution auf
wundersame Weise ineinander fügen, spielen Substanzen als soziale Agenzien eine
tragende Rolle. Sie sind fester Bestandteil utopischer und visionärer Entwürfe
gesellschaftlicher Verbesserung, Erziehung und Umwälzung. Wie das Schlusskapitel zeigt, sind zwar die Utopien – und damit auch die Psychotropika – schwer
umkämpft. Gehören die Konfliktparteien aber dem gleichen Denkkollektiv an, ist
die Wissensgrundlage, auf der die chemisch assistierte Arbeit am Selbst operiert,
dieselbe.
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