IASL 2015; 40(2): 1–30
Christian Begemann*
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
Zu Stifters Granit
DOI 10.1515/iasl-2015-0020
Abstract: This article examines the mechanics of the characters as well as the text
and their application in response to a traumatic childhood experience: the destruction of the symbiotic unity of the Ego and the world. The walk the child and
grandfather take together affirms this split reality as the characteristic order of
things when referring to central anthropological moments: the erect posture of
man, speech, work, learning and memory. According to my thesis, the plague
story serves to internalise the inaccessible catastrophe at the same time: Following the model of tragedy, the plague story aims at immunising the listener by
vaccinating them narratively.
Die Mechanismen der Deutung, Bearbeitung und Bewältigung von Katastrophen
durch die Literatur, wie sie beispielsweise die Tragödie oder die antike und
christliche Konsolationsliteratur prägten, werden bekanntlich spätestens mit der
Erosion metaphysischer Systeme seit der Aufklärung problematisch. Sinngebung,
Trost und Heilung haben sich nun auf andere als religiöse Strategien zu stützen.
Als eine regelrechte ‚Arbeit an der Katastrophe‘ unter den Bedingungen einer
Welt, in der die christliche Metaphysik trotz ihrer vordergründigen Präsenz ihre
Geltung eingebüßt zu haben scheint, lässt sich die sehr spezielle Trostspendung
lesen, die in Stifters Erzählung Granit in Szene gesetzt wird. Da gibt es ein Kind,
ein erzähltes „Ich“, das die Wohnstube mit „Pech“ verschmutzt hat und von seiner
Mutter in so traumatisierender Weise gezüchtigt wird, dass es die Bestrafung als
eine Art Tod empfindet. Und dann gibt es den Gang dieses Kindes mit seinem
Großvater durch die Landschaft bei Oberplan, eine Art ambulanter Psychotherapie, an deren Ende das Ich getröstet, beruhigt und versöhnt ist. Rätselhaft allerdings bleibt, wie man es sich eigentlich vorzustellen hat, dass die Traumatisierung
eines Kindes zum einen durch eine in Namenslisten kulminierende Versicherung
der Topographie und zum anderen und vor allem durch eine Erzählung aus den
*Kontaktperson: Prof. Dr. Christian Begemann, Ludwig-Maximilians-Universität München, Department I - Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache, Deutsche Philologie, Schellingstraße 3 RG, Raum 428, D-80799 München, E ˗ Mail:
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Zeiten der Pest ‚geheilt‘ werden soll, die das kindliche Trauma lediglich zu wiederholen, ja es ins kollektiv Katastrophische auszudehnen scheint. Es stellt sich
mithin die Frage, welche Wirkungsmechanismen des Erzählens in Stifters selbstreflexivem Text entworfen werden – ‚selbstreflexiv‘, weil er das Erzählen selbst zu
seinem Gegenstand macht. Eine Schwierigkeit bei ihrer Beantwortung liegt nicht
zuletzt in der Überlagerung heterogener Textstrategien und Deutungskonzepte
innerhalb der Erzählung selbst, die zum Teil ineinander übersetzt werden und
sich zu einer Art Mehrfachbelichtung zusammenfügen. Zwei Komplexe sollen in
den folgenden Überlegungen hervorgehoben werden: Zum einen arbeitet der
therapeutische Spaziergang an einer Versicherung des Ordnungscharakters der
vom Kind traumatisch abgespaltenen Wirklichkeit, wobei auf zentrale Momente
einer Anthropologie rekurriert wird: aufrechter Gang, Sprache – insbesondere in
ihrer Funktion der Benennung, Strukturierung der Wahrnehmung und topographischen Situierung –, Arbeit, Lernen und Gedächtnis. Zum anderen scheint es
darum zu gehen, mit der Ordnung der Welt deren Tendenz zu einer unverfügbaren
Katastrophik zu inkorporieren. Das Paradigma, das diesem zunächst befremdlichen Vorgang zugrunde liegt, ist das der Impfung. Stifters Text, so möchte ich
behaupten, führt eine mentale bzw. psychische Inokulation vor, die mit den
Mitteln der Erzählung erfolgt, dem Ziel einer Immunisierung des Zuhörers – und
vielleicht auch des Lesers – dient und nicht zuletzt auf den Funktionen des
Gedächtnisses basiert. Wenn daraus am Ende ein Trost angesichts von metaphorischer wie buchstäblicher Vernichtung resultiert, dann ist er – der Titel weist
darauf hin – von wahrhaft lapidarer Beschaffenheit: Gegen die Katastrophik der
Wirklichkeit gibt es keine Rettung, als sich an sie zu gewöhnen.
1 Aspekte eines kindlichen Traumas
Vergehen, Bestrafung und Heilung des kleinen Sünders weisen mehrere Dimensionen auf. Erstens eine theologische. In dieser Schicht geht es um nicht weniger
als Sündenfall und Erlösung. Konsequent zieht der Text eine Ebene biblischer
Allusionen ein: Wenn das Kind, von einem „Mann von seltsamer Art“ mit „Pech“
kontaminiert,1 sich seiner Mutter in der für den Sonntag gereinigten Wohnstube
präsentiert, wird es von einer „fürchterliche[n] Wendung der Dinge“ überfallen
1 Stifters Werke werden, soweit möglich, zitiert nach Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, seit 2001 von
Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte. Stuttgart: Kohlhammer 1978 ff.; Granit in Bd. 2/2, S. 21–
60, hier S. 24. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle ‚HKG‘ sowie Band und Seitenzahl
im Text zitiert.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
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und „gleichsam vernichtet“ (HKG 2/2, S. 27), mit einem metaphorischen Tod
bestraft. Der „heillose eingefleischte Sohn“ (HKG 2/2, S. 26) erscheint der aufgebrachten Mutter als vom Heil abgefallen, ja als Inkarnation des Heillosen, als
personifizierter Satan. „Pech“ ist hier keineswegs nur Wagenschmiere und als
solche auf einem saugfähigen Holzboden unwillkommen; es ist auch nicht nur
metaphorisch der Gegensatz zu ‚Glück‘, an ihm haftet vielmehr metonymisch die
Vorstellung der Hölle, ebenso wie das Pech buchstäblich an den Füßen des
Kindes klebt.2 Das rückt das Geschehen in die Nähe des Sündenfalls. Auf die
heftige Züchtigung folgt dann allerdings auch ein Heilsgeschehen.3 Der Großvater, der „immer der Gütige gewesen“ war (HKG 2/2, S. 27), lässt im Anklang an
Markus 10,14 das Kindlein zu sich kommen („So komme nur her zu mir“, HKG 2/2,
S. 28), unterzieht es einer dem Vorabend des Sonntags angemessenen Fußwaschung, einem rituellen Reinigungsakt,4 mit dem der Sünder wieder in die
Gemeinschaft aufgenommen wird, und räsonniert über die Frage der Schuld –
dies allerdings in dogmatisch einigermaßen fragwürdiger Weise. Denn aus dem
menschlichen Sündenfall wird hier ein Nexus von Verfehlungen aller Beteiligten,
in denen die Schuld durch mildernde Umstände aufgrund je perspektivisch eingeschränkter Erkenntnis gebrochen wird (HKG 2/2, S. 31). Am Ende der großväterlichen Strategien, über die noch ausführlich zu sprechen ist, steht die Erlösung: Die
Mutter besprengt das schon halb schlafende Kind mit Weihwasser und bekreuzigt
es, und, so heißt es am Ende der Erzählung, „ich erkannte, daß alles verziehen
sei, und schlief nun plötzlich mit Versöhnungsfreuden, ich kann sagen beseligt
ein“ (HKG 2/2, S. 60).
Es handelt sich hierbei zweitens um die religiöse Mythisierung eines ontogenetischen Prozesses. Die Ausgangssituation von Granit ähnelt in ihrer Grundstruktur dem, was Stifter in seinem rund dreizehn Jahre später geschriebenen
autobiographischen Fragment als die ebenso traumatische wie notwendige
Trennung des Ichs von den Dingen der Außenwelt beschreibt und als ontogene-
2 Die diabolischen Konnotationen des Pechbrenners schließen an dessen soziale Fragwürdigkeit
an. Die ambulanten Pechler oder Pechmänner, die Bäume anritzten, um das Harz zu sammeln,
galten als Waldschädlinge und wurden in Teilen Böhmens verfolgt, ja für vogelfrei erklärt. Bei
Stifter handelt es sich allerdings offensichtlich um einen Wagenschmierbrenner, wie es sie in
Böhmen häufig gab. Ihr Gewerbe war zwar legal, doch waren sie ein auch redensartlich werdendes Inbild von Unreinlichkeit. Vgl. zu Pech- und Wagenschmierbrennern Josef Blau: Böhmerwälder Hausindustrie und Volkskunst. Prag 1917 (Reprint Grafenau: Morsak 1993). Bd. 1, S. 117–128.
3 Vgl. Ralf Simon: Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit. In: Jahrbuch des Adalbert StifterInstitutes des Landes Oberösterreich 3 (1996), S. 29–36, hier S. 32 f.
4 Wie sehr das Verhalten des Großvaters rituelle Züge trägt, hat Alice Bolterauer herausgestellt:
Ritual und Ritualität bei Adalbert Stifter. Wien: Verlag Edition Praesens 2005. Zu Granit vgl.
S. 197–228, hier S. 211 ff.
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tisches Substrat seinem eigenen Schreiben zugrunde legt.5 Hier wie dort geht es
bei der „fürchterlichen Wendung der Dinge“ darum, dass die symbiotische
Einheit von Ich und Welt zerbricht. Ein ‚Sündenfall‘ entzweit das Kind mit der
Mutter und überhaupt mit einer mütterlich bergenden Umwelt, lässt die Schwelle zwischen Innen und Außen hervortreten und macht die Errichtung der symbolischen Ordnung der Sprache gleichermaßen möglich wie notwendig. Dies
geschieht in Stifters spätem autobiographischen Fragment mit dem Sprechen
des ersten Satzes „Mutter, da wächst ein Kornhalm“,6 in Granit erfolgt es auf
dem Spaziergang mit dem Großvater. Dass das Hervortreten der Außenwelt als
ein Ichfremdes einerseits Schuld und andererseits Möglichkeitsbedingung eines
adäquaten Bezugs zu den Dingen der Außenwelt und eines Einfügens in ihre
Ordnung ist, teilt die Stifter’sche Konstruktion mit dem biblischen Sündenfall,
den man ja theologisch auch als notwendig betrachten kann, insofern er Wahlfreiheit wie Erkenntnisfähigkeit des Menschen setzt und das Heilsgeschehen
überhaupt erst ermöglicht: ohne Sündenfall keine (Erlösungs)Geschichte des
Menschen.
Drittens fällt eine metaphorisch-medizinische Dimension ins Auge. ‚Pech‘
und ‚Pest‘ ähneln sich nicht nur durch ihre phonetische Nähe, wie die Forschung
immer wieder hervorgehoben hat,7 sie werden auch durch genealogische und
metaphorische Übertragungen verknüpft. Genealogisch: Denn der anfängliche
Pechbrenner, durch dessen Vermittlung das Pech in den Innenraum des Hauses
gelangt, ist ein Nachkomme jener Pechbrenner, an denen die vergebliche Gegenwehr gegen die Pest exemplifiziert wird (HKG 2/2, S. 58). Metaphorisch: Denn
kann man die Pest in gewisser Weise selbst als ein großes Pech betrachten, so ist
das Pech des kleinen Jungen eine kleine Pest.8 Tatsächlich bestehen zahllose
Verbindungen zwischen beiden. Das beginnt schon mit der „sehr dunkel“ ölig
glänzenden Erscheinung des alten Andreas, der mit seinem „glänzenden schwarzen Schubkarren“ und seinem „glänzende[n] schwarze[n] Fäßchen“ (HKG 2/2,
S. 24) sowohl den metaphorischen Tod des Kindes wie den flächendeckenden Tod
durch die schwarze Pest proleptisch andeutet. Der Konnotation der kindlichen
5 Vgl. dazu Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart: Metzler 1995,
S. 95 ff. Den Bezug des autobiographischen Fragments zu Granit hat Isolde Schiffermüller hergestellt: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren. Bozen:
Edition Sturzflüge 1996, S. 166 ff.
6 Adalbert Stifter: Mein Leben. In: Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Hg. von August Sauer u. a.
25 Bde. Prag 1904 ff., Reichenberg 1927 ff., Graz 1958, Hildesheim 1979, Bd. 25, S. 176–182, hier
S. 179 f. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle ‚PRA‘ zitiert.
7 Vgl. Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit (Anm. 5), S. 184. Simon: Eine strukturale
Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3), S. 31 f.
8 Simon: Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3), S. 32.
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Verfehlung als Sündenfall und ihrer Bestrafung durch die Mutter entspricht in der
Darstellung des Großvaters die Deutung der Pest als „Strafgericht“ (HKG 2/2,
S. 37) und „allgemeine Heimsuchung […], die Gott über die Menschen verhängt
hatte“ (HKG 2/2, S. 46), und verzahnt sind beide Bereiche auch in der doppelten
Semantik des „Heillosen“ (HKG 2/2, S. 26): Abwesenheit religiösen Heils und
Unheilbarkeit der Krankheit. Dem „Zerwürfniß“ (HKG 2/2, S. 27) des Kindes mit
der Mutter korrespondiert weiter der generelle Ordnungsverlust während der
Pest: „Die Kinder liebten ihre Eltern nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht“
(HKG 2/2, S. 38). Und wie die Pest als ein „Fremdes“ von außen einbricht (HKG 2/
2, S. 36 f.) und „sehr anstekend“ ist (HKG 2/2, S. 39), so kontaminiert das Pech den
Innenraum des Hauses. Die Bestrafung der Mutter breitet es aus, bis endlich
„meine Höschen, ihre Schürze, die Steine des Fußbodens und die Umgebung voll
Pech waren“ (HKG 2/2, S. 26 f.). Ja, „im ganzen Hause, wo man nur immer hin
kömmt“, sind daraufhin „Fleken von Wagenschmiere anzutreffen“ (HKG 2/2,
S. 30). Auch dem Körper des Kindes fleischt sich das grausame Geschehen sozusagen ein, denn auf seinen Füßen sah „jezt auch aus dem Peche das häßliche
Roth der Züchtigung hervor“ (HKG 2/2, S. 27). Der Sündenfall des Kindes ist also
gleichfalls ansteckend, er ergreift die Mutter und infiziert das „ganze Haus“. Auf
allen Seiten antworten darauf Reinigungsrituale: Beim Kind die Fußwaschung
durch den Großvater, im Haus das Schrubben der Mägde, die sich bemühen, „die
Pechspuren, die von meiner Züchtigung entstanden waren, weg zu bringen“ (HKG
2/2, S. 29), und im Falle der Pest schließlich das Verbrennen der „Dinge der
Kranken“ und, auch hier, das Scheuern der Häuser (S. 39). Von diesem Beziehungscluster her ist es also so verwunderlich nicht, dass der Großvater das
kindliche Trauma mit Hilfe einer Pestgeschichte durcharbeitet. Bevor darauf
zurückzukommen ist, zunächst einige Überlegungen zu dem ersten Teil der großväterlichen Therapie.
2 Weltordnung und Anthropologie
Der Gang durch die Landschaft um Oberplan bildet den narrativen und topographischen Rahmen der vom Großvater erzählten Pestgeschichte, weist jedoch
noch verschiedene andere Funktionsschichten auf, die gleichfalls der Bewältigung des traumatischen Konflikts zuarbeiten.
Die listenartigen Aufzählungen, in denen Großvater und Enkel in einem
Frage- und Antwortspiel die Orte, Berge und Wälder der Umgebung rekapitulieren, haben in der Forschung mittlerweile eine gewisse Prominenz erlangt, gerade
wegen ihrer Befremdlichkeit. Mit Albrecht Koschorke kann man ihnen – erstens –
die Funktion einer „Einweisung ins Faktische“ mittels eines „Training[s] im Sehen
6
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und Benennen“ zusprechen.9 Der gestörte Weltbezug des Kindes wird auf diese
Weise restituiert bzw. in gewisser Hinsicht auch allererst hergestellt.
„Kannst Du mir sagen, was das für weiße Gebäude sind, die wir da durch die Doppelföhre
hin sehen?“
„Ja, Großvater, das sind die Pranghöfe.“
„Und weiter von den Pranghöfen links?“
„Das sind die Häuser von Vorder- und Hinterstift.“
„Und wieder weiter links?“
„Das ist Glökelberg.“
„Und weiter gegen uns her am Wasser?“
„Das ist die Hammermühle und der Bauer David.“
[…]
„Und wenn die Berge nicht wären und die Anhöhen, die uns umgeben, so würdest du noch
viel mehr Häuser und Ortschaften sehen: Die Karlshöfe, Stuben, Schwarzbach, Langenbruk,
Melm, Honnetschlag […] und mehrere andere.“ (HKG 2/2, S. 35 f.)
Wenn auf diese Weise im Duett das Panorama „buchstabiert“ wird,10 dann tritt
die Benennung als ein Akt der Ordnungssetzung hervor. Die Benennung unterscheidet Einzelnes von Anderem, weist ihm einen Ort zu und strukturiert das
Feld des Sichtbaren. Dass die abgerufenen Namen – Pranghöfe, Vorder- und
Hinterstift, Glöckelberg, Hammermühle usw. – dem nicht ortskundigen Leser
des Textes buchstäblich böhmische Dörfer bleiben, verdeutlicht, dass es hier
nicht um die anschauliche Evokation der sinnlichen Präsenz eines Landschaftsraums geht. Die Beliebigkeit austauschbarer Namen lenkt vielmehr den Blick
auf die Funktion der Benennung selbst. Worauf es ankommt, ist, dass die
Figuren den Landschaftsraum, indem sie ihn benennen, als einen bekannten
und erschlossenen ausweisen, dass sie sich gegenseitig seine topographische
Ordnung bestätigen, die noch über den Bereich des Sichtbaren hinausreicht,
und dass sie schließlich diese Ordnung als eine durch Benennung sprachlich
konstituierte zu erkennen geben und damit die Ordnungsfunktion der Sprache
selbst. Gegenüber der Sprachlosigkeit des Kindes, das nach der mütterlichen
Bestrafung „nur gebrochene und verstümmelte Laute hervorbringen“ kann (HKG
2/2, S. 27), wird also zum einen die sprachliche Ordnung etabliert bzw. restitu-
9 Albrecht Koschorke: Das buchstabierte Panorama: Zu einer Passage in Stifters Erzählung
Granit. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 38 (1989),
S. 3–13, hier S. 3. Von einem „sprachpädagogischen Programm“ spricht Isolde Schiffermüller:
Buchstäblichkeit und Bildlichkeit (Anm. 5), S. 161 ff, 168 ff.; von einer „Initiation in die symbolische Ordnung“ Simon: Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3), S. 29 und 33.
10 Koschorke: Das buchstabierte Panorama (Anm. 9), S. 3, 9.
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iert, zum anderen erweist sich der sprachlich gerasterte Raum als ein kultureller
Ordnungsraum.11
Als ein solcher zeigt er sich zweitens auch dadurch, dass er nicht nur durch
Sprache, sondern auch durch andere Kulturtechniken erschlossen ist, insbesondere durch Arbeit. Über die Dörfer, Höfe und Felder hinweg fällt der Blick gerade
noch auf einen Bereich, der als Naturzustand der kulturellen Bearbeitung vorausliegt: den Hüttenwald, Seewald, Tussetwald usw. Was sich dem Blick der Figuren
als Kulturland darbietet, bestand einst aus unberührten Wäldern, wie etwa dem,
in den sich die Pechbrennerfamilie der Binnengeschichte zurückzieht. In den
Landschaftsraum wird die Geschichte seiner kulturellen Aneignung eingetragen,
die dem Kind als solche buchstäblich präsent werden soll: „Einst waren die
Wälder noch viel größer als jezt. Da ich ein Knabe war, reichten sie bis Spizenberg und die vordern Stiftshäuser, es gab noch Wölfe darin, und die Hirsche
konnten wir, wenn eben die Zeit war, bis in unser Bett hinein brüllen hören“
(HKG 2/2, S. 34). Stifters Texte sind bekanntlich gerne in jenem Bereich angesiedelt, in dem die Kulturarbeit in der Verzahnung von agrarischem Bereich und
Waldgebieten sinnfällig wird. Die Rodung, aus der das Kulturland entsteht, darf
dabei als eine Urszene von Kulturarbeit gelten,12 und die Pechbrenner gehören zu
den Pionieren einer Erschließung des Waldes, wie sie etwa in den zahlreichen
Rauchsäulen sichtbar wird, die der Großvater seinem Enkel zeigt (HKG 2/2,
S. 34 f.). So problematisch Rodungen bei Stifter gelegentlich erscheinen, weil sich
in ihnen Kultur als gewalttätig zeigen kann, sie bewirken doch eine Beruhigung
und Befriedung der Natur, deren Bestätigung hier Teil des therapeutischen settings ist. Auch der Obrist der Studien-Mappe wird in derselben Gegend ansässig,
weil, wie er in wunderbarer Paradoxie formuliert, „so schöner und ursprünglicher Wald da ist, in dem man viel schaffen und richten kann, und weil eine
Natur, die man zu Freundlicherem zügeln und zähmen kann, das Schönste ist,
das es auf Erden gibt“ (HKG 1/5, S. 63). Die Schönheit der ursprünglichen Natur
findet ihre Überbietung nur dadurch, dass sie vom Menschen kultiviert werden
kann.
Der Gang durch die sprachlich und kulturell angeeignete, Fremdes vermeintlich ausschließende Natur wird drittens auch als solcher thematisiert, denn der
Blick fällt en passant auch auf die Werkzeuge des Gehens, nämlich jene Füße, mit
denen das Unglück seinen Lauf genommen hatte: „Du musst mit den Füßen nicht
11 Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Geschichtliches Bewußtsein als literarische Struktur. Zu Stifters Erzählung aus der Revolutionszeit Granit (1848/52). In: Euphorion 64 (1970), S. 306–325, hier S. 314:
„Sprachordnung und Dingordnung sind somit identisch“.
12 Vgl. Robert Pogue Harrison: Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur. München/Wien:
Hanser 1992.
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so schleifen“, wird der Enkel ermahnt, den die gezüchtigten Füße noch schmerzen dürften, „auf diesem Grase muß man den Tritt gleich hinstellen, daß er gilt,
sonst bohnt man die Sohlen glatt, und es ist kein sicherer Halt möglich. Siehst du,
alles muß man lernen, selbst das Gehen“ (HKG 2/2, S. 41). Ich bezweifle, dass hier
vom Hinken des Ödipus die Rede ist, wie unlängst eine Lektüre von Granit
behauptet hat.13 Ich glaube viel eher, dass es sich um eine andere Zitation
handelt, die gut in die hier vorgeschlagenen Überlegungen passt:
Eben weil der Mensch alles lernen muß, ja weil es sein Instinkt und Beruf ist, alles, wie
seinen geraden Gang zu lernen: so lernt er auch nur durch Fallen gehen und kömmt oft nur
durch Irren zur Wahrheit; indessen sich das Tier auf seinem vierfüßigen Gange sicher
fortträgt […]. Der Mensch hat den Königsvorzug, mit hohem Haupt, aufgerichtet weit umher
zu schauen, freilich also auch vieles dunkel und falsch zu sehen, oft sogar seine Schritte zu
vergessen und erst durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen Basis das ganze
Kopf- und Herzensgebäude seiner Begriffe und Urteile ruhe,
so heißt es in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.14 Es
geht also um ein entscheidendes Differenzkriterium des Menschen gegenüber
dem Tier, den aufrechten Gang. Er ist für Herder ein ursprünglich und naturgegeben menschliches Wesensmerkmal, dem infolgedessen eine zentrale Rolle in der
Menschheitsgeschichte zukommt; gleichwohl muss er mit Mühe gelernt werden.15
Dass auch hier die Rede vom Fallen, vom ‚Fall‘ ist, durch den man das Gehen erst
lernt, der also die menschliche Sonderstellung erst begründet und als permanent
gefährdet erweist, lässt die Nähe Stifters zu Herder hervortreten. Erst der ‚Fall‘
ermöglicht und fundiert die Menschwerdung. Dieser Aspekt fügt sich in Granit mit
Sprache und gezielter Arbeit zu einer kulturanthropologischen Trias, der sich
noch ein weiterer Aspekt anschließt.
Denn das Gehenlernen schlägt – viertens – in verschiedener Hinsicht die
Brücke zum Lernen überhaupt. Es ist nämlich vom „Lernen“ hier nicht nur die
Rede, dieses wird auch in extenso praktiziert und als solches vorgeführt. Der
13 Vgl. Thomas W. Kniesche/Sigrid Berka: Ein Kind wird programmiert: Stifters „Granit“. In:
Ursula Renate Mahlendorf/Thomas W. Kniesche/Laurence A. Rickels (Hg.): Die Kindheit überleben. Festschrift zu Ehren von Ursula Mahlendorf. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004,
S. 66–75, hier S. 70.
14 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: J.G.H.:
Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 6. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker
Verlag 1989, S. 145.
15 Zum aufrechten Gang in der Geschichte des anthropologischen Denkens vgl. Kurt Bayertz: Der
aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. München: Beck 2012. Zu Herder
S. 205 ff. u.ö.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
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‚Gang‘, der Spaziergang, ist dabei nicht nur ein „Erzählmodell“ bei Stifter,16
sondern auch ein Lernmodell. Das markiert den Abstand vom tendenziell transgressiven romantischen Wandern auf einen imaginativ besetzten Horizont zu. Das
menschliche, von aufrechter Haltung und erhobenem Haupt geprägte Gehen ist
immer wieder in der philosophischen und literarischen Tradition als eine dem
Erkennen und Denken förderliche Bewegung betrachtet worden,17 und auch hier
ist es aufs Engste mit der erkennenden Umschau, der Aufnahme von ‚Welt‘ und
der Verarbeitung von Kenntnissen über sie verflochten. Gegenüber dem instinktgesteuerten Tier ist der Mensch zum Überleben auf den Erwerb des größten Teils
seiner Fertigkeiten angewiesen, und auf dieser Ebene wird Granit nun zu einem
kleinen peripatetischen Bildungsroman. Großvater und Enkel bestätigen sich ja
nicht nur bereits Gewusstes, vielmehr findet auch eine Vermittlung von Wissen
über Natur, Topographie und eben auch menschliche Grundkompetenzen statt,
wobei der Text ins definitorische und lexikographische Register wechselt:
Das, worauf wir jezt gehen, […] sind die Dürrschnäbel, es ist ein seltsamer Name, entweder
kömmt er von dem trokenen dürren Boden, oder von dem mageren Kräutlein, das tausendfältig auf dem Boden sizt, und dessen Blüthe ein weißes Schnäblein hat mit einem gelben
Zünglein darin. Siehe, die mächtigen Föhren gehören den Bürgern zu Oberplan je nach der
Steuerbarkeit, sie haben die Nadeln nicht in zwei Zeilen, sondern in Scheiden wie grüne
Borstbüschel, sie haben das geschmeidige fette Holz, sie haben das gelbe Pech, sie streuen
sparsamen Schatten […]. (HKG 2/2, S. 32 f.)
– und was des Wissenswerten mehr ist. In einem etwas anderen Sinne als
Foucault könnte man hier von einem ‚biopolitischen‘ Wissen sprechen, denn die
Belehrung des Großvaters vereint auf engstem Raum botanische, etymologische,
soziokulturelle, fiskalische und ökonomische Informationen. Wie man die Dinge
nennt, was sie ihrer ‚Natur‘ nach sind, wozu sie nützen, wem sie gehören und wie
sie folglich im sozialen Raum verortet sind, der in den Naturraum übergreift, dies
alles wird komprimiert vermittelt. Die Einweisung des Kindes in die Wirklichkeit
16 Claudia Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Tübingen/Basel: Francke 1999, zu Stifters
Granit vgl. S. 119–164. Die Funktion von Gang und Gehen selbst wird hier allerdings nicht
behandelt. Vgl. ferner Eva Geulen: Stifter-Gänge. In: Axel Gellhaus/Christian Moser/Helmut
J. Schneider (Hg.): Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, S. 219–231, zu Granit S. 221 ff.
17 Neben den eher populäretymologisch mit dem ‚Herumwandeln‘ in Verbindung gebrachten
Peripatetikern wäre dabei v. a. auf Diderot und Rousseau hinzuweisen. Herder stellt eine Korrelation von aufrechtem Gang und Vernunft her (117 ff.), wird darin allerdings von Kant und Georg
Forster scharf kritisiert (vgl. Bayertz: Der aufrechte Gang (Anm. 15), S. 215 ff.).
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ist also sozusagen integral: Die Dinge sind gleichzeitig Teil verschiedener Sphären, und das Kind muss sie in dieser Polyperspektivik sehen lernen.
Entscheidend ist hier nicht nur, dass das Kind in die Welt eingewiesen
werden muss, die es bewohnt, um deren Ordnung zu begreifen, entscheidend ist
auch – fünftens –, wie dies in Szene gesetzt wird.
Ich hatte Gelegenheit, als wir weiter gingen, die Wahrheit dessen zu beobachten, was der
Großvater gesagt hatte. Ich sah eine Menge der weißgelben Blümlein auf dem Boden, ich
sah den grauen Rasen, ich sah auf manchem Stamme das Pech wie goldene Tropfen stehen,
ich sah die unzähligen Nadelbüschel auf den unzähligen Zweigen. (HKG 2/2, S. 33)
Wissen wird demnach in der Abfolge von Information, Wahrnehmung der Dinge
nach Maßgabe dieser Information und deren Bestätigung angeeignet, und der
Text vollzieht diesen Prozess in unerbittlicher Pedanterie. Was wir eben vom
Großvater gehört haben, wird in nahezu exakter Reduplikation als Wahrnehmung
des Enkels wiederholt, wobei die anaphorische Struktur dieses Prozesses das
Wiederholungsmoment unterstreicht und geradezu einhämmert. Wissen setzt
sich demnach dann fest, wenn Informationen über die Welt vom Subjekt selbst
als wahr erkannt werden, wenn sie auf dem Weg permanenter Bestätigungen,
Wiederholungen und Verdoppelungen aus dem Außenraum in den Innenraum
einwandern. Die Ordnung der Welt muss durch Internalisierung angeeignet werden, durch Hineinnahme ins Subjekt.
Dazu gehört dann sechstens schließlich die Einprägung in das Gedächtnis,
das individuelle wie das kollektive.18 Zum einen lässt der Großvater keine Gelegenheit aus, auf diese Notwendigkeit hinzuweisen. Ruft er schon im Frage- und
Antwortspiel mit dem Enkel die bereits bekannten Namen der umliegenden topographischen Lokalitäten ab und fordert dann ausdrücklich zum Merken der neu
bezeichneten Orte auf („Merke dir den Brunnen recht gut“, HKG 2/2, S. 32), so
wird das Merken im Falle der ausführlich beschriebenen Machtbuche darüber
hinaus gewissermaßen selbstreferenziell: „Merke dir den Baum, und denke in
späten Jahren, wenn ich längst im Grabe liege, daß es dein Großvater gewesen ist,
der ihn dir zuerst gezeigt hat“ (HKG 2/2, S. 42). Hier geht es nicht allein um
Memorierung von Wissensbeständen, sondern auch um Wissen über das Wissen
und um die Rolle der generationenübergreifenden Tradition bei seiner Generie-
18 Auf die Bedeutung des Gedächtnisses im Kosmos der Erzählung haben hingewiesen: Simon:
Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3), S. 33 ff.; Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell (Anm. 16), S. 150 ff., 160 ff.; Geulen: Stifter-Gänge (Anm. 16), S. 221 f.; Marcus Twellmann:
Bleibende Stelle. Zu Stifters Granit. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 226–243,
hier S. 227 ff., 237 ff.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
11
rung, damit es über das Grab seiner bisherigen Träger hinaus prolongiert werden
kann. Die Machtbuche als memoratives Metazeichen soll diesen Zusammenhang
in Erinnerung halten. Im Zusammenhang mit dieser Memorialisierungsstrategie
steht – zum anderen – die Klage des Großvaters über den Verlust an kollektivem
Gedächtnis. Entscheidende Wissensbestände gehen verloren, weil sie nicht mehr
überliefert, erläutert und eingeprägt werden. Das gilt zunächst schon für die
Namen der anonym verscharrten Pestopfer. Nach dem Erlöschen der Epidemie
erfahren die Überlebenden dies als Gedächtnisverlust:
Als es tief in den Herbst ging, […] wandten sich die Menschen wieder derjenigen Erde zu, in
welcher man die Todten ohne Einweihung und Gepränge begraben hatte. Viele Menschen
gingen hinaus, und betrachteten den frischen Aufwurf, andere wollten die Namen derer
wissen, die da begraben lagen. (HKG 2/2, S. 44)
Diese Erfahrung führt zu einer regelrechten Gedächtnispolitik, die aber mit dem
traumatischen Eindruck des Geschehens wieder verschwindet und nun reaktiviert
werden muss, indem der Großvater sein Erinnerungswissen auf den Enkel überträgt.
„Von da an bewahrte man das Gedächtniß an die Vergangenheit in allerlei Dingen. Du wirst
wissen, daß manche Stellen unserer Gegend noch den Beinamen Pest tragen, zum Beispiele
Pestwiese, Peststeig, Pesthang; und wenn du nicht so jung wärest, so würdest du auch die
Säule noch gesehen haben, die auf dem Marktplaze von Oberplan gestanden war, und auf
welcher man lesen konnte, wann die Pest gekommen ist, und wann sie aufgehört hat […].“
„Die Großmutter hat uns von der Pestsäule erzählt“, sagte ich.
„Seitdem aber sind andere Geschlechter gekommen,“ fuhr er fort, „die von der Sache nichts
wissen und die die Vergangenheit verachten, die Einhegungen sind verloren gegangen, die
Stellen haben sich mit gewöhnlichem Grase überzogen. Die Menschen vergessen gerne die
alte Noth, und halten die Gesundheit für ein Gut, das ihnen Gott schuldig sei […]. Sie achten
nicht der Pläze, wo die Todten ruhen, und sagen den Beinamen Pest mit leichtfertiger Zunge
[…].“ (HKG 2/2, S. 44 f.)
Die „Stellen“ und „Pläze“ sind Merkorte, an denen Wissen gespeichert ist, und
nur dann leben die Toten, die dort begraben sind, weiter, wenn man sich ihrer
erinnern kann. Um den Kontinuitätsbruch, den der Großvater beklagt, zu revidieren und die verlorene Geschichte wieder in den Raum der Gegenwart einzuschreiben, muss man erinnernd, erzählend und weitergebend die Stellen freilegen, über
die buchstäblich „Gras“ gewachsen ist – ein Akt der anamnesis. Muss man also
das kulturelle Wissen in sich aufnehmen und speichern, um als Subjekt die
eigene Welt durchdringen zu können, so wird umgekehrt der topographisch,
naturkundlich und historisch erschlossene Raum zu einem Memorialraum, einem
ausgelagerten Gedächtnis. An Stellen und Plätzen, an loci und topoi, machen sich
12
Christian Begemann
die verschiedenen Etappen der Pestgeschichte des erinnernden Großvaters fest.
Hier lagern die Schätze des Wissens, und man muss daher die Topik dieses Raums
kennen, um sie heben zu können. In diesem Sinne führt der Gang des Enkels mit
seinem Großvater durch die Weiten einer kulturellen memoria.19 Seine Stationen
werden dabei der Erinnerung des Kindes eingeprägt – so sehr, dass sie ihrerseits
Erinnerungsstützen für die erzählende Rekapitulation des denkwürdigen Nachmittags aus der Distanz von Jahrzehnten durch den Ich-Erzähler werden und den
Erinnerungstext strukturieren.20 Insofern wird der durchwanderte Raum metaphorisch zugleich zu jenem inneren Raum, als den die rhetorische Mnemotechnik, Cicero oder Quintilian, das Gedächtnis imaginierte.21 Stifter erzählt derart
nicht allein die Erinnerung einer erinnerten Geschichte, sondern macht zugleich
die Funktionsmechanismen der Erinnerung und ihre Rolle für das Erzählen zum
Thema, ja, bildet sie in der dem Spaziergang folgenden Struktur seines Textes ab.
Und so gesehen, wird im Gang von Großvater und Enkel nicht nur eine Pädagogik, sondern auch eine Poetologie grundgelegt.
Ich hatte behauptet, dass das kindliche Trauma im ontogenetischen Zerbrechen der Einheit von Ich und Welt besteht. Diese zunächst harmonische Welt tritt
dem Kind nun mitten im Eigenen, im Haus, in Gestalt der Mutter als ein Widerstand, ein Feindliches entgegen. Wenn das zutrifft, dann leistet der Spaziergang
mit dem Großvater eine Versicherung des Ordnungscharakters der abgespaltenen
Wirklichkeit. Dieses Ordnungsversprechen tritt an die Stelle der anfänglichen,
nun aber zerstörten Harmoniegewissheit des Kindes, das symbiotisch mit seiner
Umwelt verbunden schien. Die Versicherung solcher Ordnung wird im Rekurs auf
wesentliche Parameter einer Anthropologie gegeben: auf den immer vom ‚Fall‘
bedrohten aufrechten Gang des Menschen, dem man „Halt“ geben muss; die
Sprache, welche die Dinge differenziert und die Welt gliedert; die kulturelle
Arbeit, die den Raum bewohnbar macht; das Lernen als Aneignung und Interna-
19 Zur Raummetaphorik des Gedächtnisses vgl. grundsätzlich Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2010, S. 158 ff.,
298 ff.
20 Vgl. Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell (Anm. 16), S. 160.
21 Vgl. etwa den locus classicus bei Cicero: De oratore/Über den Redner, lateinisch/deutsch. Hg.
von Harald Merklin. Stuttgart: Reclam 1976, 2, 353 f., S. 433: Ausgehend von der Gründungsszene
der Mnemotechnik um Simonides von Keos, heißt es, dieser habe „damals herausgefunden […],
daß es vor allem die Anordnung sei, die zur Erhellung der Erinnerung beitrage. Wer diese Seite
seines Geistes zu trainieren suche, müsse deshalb bestimmte Plätze wählen [locos], sich die
Dinge, die er im Gedächtnis zu behalten wünsche, in seiner Phantasie vorstellen und sie auf die
bewußten Plätze setzen. So werde die Reihenfolge dieser Plätze die Anordnung des Stoffs
bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir könnten die Plätze an
Stelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen“.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
13
lisierung der Ordnung des Wirklichen und die Leistung des Gedächtnisses, die
dieses Lernen fundiert und dem Gelernten Dauer gibt. Die hier vermittelte Einsicht in das Wirkliche ermöglicht, wie schon erwähnt, allererst eine realitätsadäquate Haltung, und insofern erweist sich der Sündenfall als notwendig. Erst das
schuldlos schuldige Heraustreten aus dem Paradieszustand einer primären symbiotischen Beziehung mit der Welt ermöglicht das Hervortreten der Dinge in ihrer
vom Ich unabhängigen Gestalt, wie später Stifters autobiographisches Fragment
deutlich macht. Menschwerdung und Dingwerdung sind ineinander verzahnt.
Nun ist das bekanntlich nur die halbe Wahrheit. Die Vorstellung, auf dem
Weg von Großvater und Enkel werde eine gestörte ursprüngliche Ordnung in
restaurativem Sinne wiedererrichtet22 – ein Kommentar zur Revolution von 1848 –
lässt sich schon deswegen kaum halten, weil diese Ordnung hier für das Kind
allererst gesetzt werden muss. Selbst das ‚konservativste‘ Moment solcher Ordnungssetzung, der Rekurs auf ihre genealogische Überlieferung, für die der
Granitstein am Eingang des väterlichen Hauses Gewähr zu bieten scheint, erweist
sich als erodiert, denn am Ende ist die „patrilineare Folge“ abgerissen23 und das
genealogische Prinzip außer Kraft gesetzt. Marcus Twellmann hat gezeigt, dass
die Erzählung zwar die Simulation eines genealogisch beglaubigten mündlichen
Erzählens betreibt, dass aber gerade das Medium Schrift, dessen sie sich dazu
bedient, der sozialen und familialen „Entortung“ Vorschub leistet und die „Tradition zerstreut“24 – denn der erwachsene Erzähler und seine Brüder haben das
„Vaterhaus“ längst verlassen und sind in alle möglichen „Weltgegenden […] zerstreut“ (HKG 2/2, S. 60). Auch die mnemotechnische Verzeichnung des Raums,
welche die Ordnung tradieren soll, erweist sich durch tiefgreifende Widersprüche
gekennzeichnet, insofern die Erinnerungspraxis die Unsicherheit ihrer Basis immer wieder zu erkennen gibt und in zirkulärer Weise ihre eigenen Voraussetzungen selbst hervorbringt.25
22 In diesem Sinne Ketelsen: Geschichtliches Bewußtsein als literarische Struktur (Anm. 11),
S. 313: „Die Ordnung erleidet am Ende in ihrer Qualität keine Veränderung, ihre Einschränkung
stellt keine produktive Negation dar, deren Überwindung ein Neues setzte; sie wird allein überwunden, indem die ursprüngliche Ordnung reproduziert wird“. Ähnlich, wenngleich unter ganz
anderen, nämlich ritualtheoretischen Vorzeichen geht Bolterauer: Ritual und Ritualität (Anm. 4)
von einer bloßen Wiederherstellung der anfänglichen Ordnung aus (vgl. S. 198, 227 u.ö.).
23 Twellmann: Bleibende Stelle (Anm. 18), S. 232. Von einem Wechsel vom mütterlichen zum
väterlichen Prinzip spricht hingegen Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell (Anm. 16), S. 124,
162 f.
24 Twellmann: Bleibende Stelle (Anm. 18), S. 232, 238.
25 Vgl. Twellmann: Bleibende Stelle (Anm. 18), S. 238 ff., 242: „Ihre scheinbare Voraussetzung
bringen topische Erinnerungspraktiken selbst hervor. Was als materielle Gegebenheit erscheint,
ist das Ergebnis jener Praktiken, die seine ‚unverrückbare Festigkeit‘ voraussetzen“.
14
Christian Begemann
Hier allerdings soll es um einen anderen Aspekt der Brüchigkeit von Stifters
Ordnungskonzepten gehen. Die bisher skizzierten Verfahren bilden ja nur den
epistemischen wie therapeutischen Rahmen für die in ihn wiederum eingelegte
schaurige Pestgeschichte. Diese nämlich hat sich genau in jenem Ordnungsraum
ereignet, den der Weg mit dem Großvater erschließt. Sorgfältig werden Ordnungsraum und Pest miteinander vernäht. Das betrifft die Schauplätze, an denen Großvater und Enkel vorbei passieren, die Pestwiese oder die Drillingsföhre, von der
aus die Heilungsmöglichkeiten verkündet wurden. Das betrifft aber besonders
das Pech, mit dem alles begonnen hatte und dessen Weg nun von der Beobachtung an den Föhren auf den Dürrschnäbeln (HKG 2/2, S. 33) über die Rauchsäulen
der Pechbrenner im Wald (HKG 2/2, S. 35) bis zu jenen anderen „Pechmännern“
(HKG 2/2, S. 31) aus der historisch zurückliegenden Pestgeschichte reicht, so dass
hier buchstäblich wie metaphorisch vorgeführt wird, „wo also das Pech her ist,
womit dir heute die Füße eingeschmiert worden sind“ (HKG 2/2, S. 32). Wie der
Innenraum des Hauses, so erweist sich nun auch der Ordnungsraum der Landschaft als zutiefst kontaminiert mit dem Pech, und also der Pest. Die Vergewisserung über ihn bietet einerseits eine therapeutische Stabilisierung, denn in dem
Sonnenschein, der „alle Dinge der Welt“ verklärt (HKG 2/2, S. 30, vgl. S. 47),
scheint das Unglück weit entfernt und nicht sehr real zu sein. Andererseits aber
erfolgt eine Destabilisierung, denn nichts spricht dagegen, dass es wiederkehrt.
Wenden sich die Ordnungsbemühungen des Großvaters gegen die reale und
potenzielle Katastrophe, so werden sie ihrerseits von dieser laufend infrage
gestellt. Beide Bewegungen erscheinen ineinander verschränkt. Der Raum der
Ordnung erweist sich als Raum der Katastrophe, die jede Ordnung zusammenbrechen lässt. Ja, die Katastrophe scheint geradezu in jenen stetigen und unmerklichen Prozessen selbst zu hausen, welche die Vorrede zu den Bunten Steinen als
Inbild des „sanften Gesetzes“ feiert: „Man weiß nicht, wie sie [die Pest] gekommen ist: haben sie die Menschen gebracht, ist sie in der milden Frühlingsluft
gekommen, oder haben sie Winde und Regenwolken daher getragen: genug sie
ist gekommen, und hat sich über alle Orte ausgebreitet, die um uns herum liegen“
(HKG 2/2, S. 37). Offensichtlich wird hier in die Strategie der Weltaneignung etwas
eingetragen, was bisher noch nicht zur Sprache kam, nämlich eine latente und
gelegentlich manifest werdende Katastrophik, gegen die außer „Enzian und
Pimpinell“ (HKG 2/2, S. 38) kein Kraut gewachsen ist – ein Moment des Anomischen, von dem es mehr als fraglich bleibt, ob es selbst noch irgendeinem
Ordnungsprinzip subsumierbar ist. So gesehen gehört die Erzählung der Katastrophe selbst mit zur Einweisung in das Wirkliche. Die Vorrede zu den Bunten
Steinen arbeitet sich bekanntlich an den Phänomenen des Heftigen und Zerstörenden in der äußeren wie der menschlichen Natur ab, und die Erzähltexte ziehen
aus ihrer Marginalisierung gegenüber den welterhaltenden sanften Prozessen
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
15
keineswegs die Konsequenz, über Katastrophen nicht zu reden, sondern allenfalls
die, sie narrativ zu depotenzieren. Wenn aber der Hinweis auf ihre Unausweichlichkeit schätzungsweise den Lauf der Welt angemessen beschreibt, dann fragt es
sich, wieso von einer solchen Einsicht ausgerechnet eine tröstende, beruhigende
und eben therapeutische Wirkung ausgehen kann, wie sie am Ende der Erzählung
eingetreten ist. Die Bemühungen um Ordnungssetzung werden dabei, so scheint
es, auf eine andere Ebene gehoben.
3 „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“
Fangen wir mit den nächstliegenden Optionen an. Eine Anknüpfung der Erzählung an die Vorrede liegt zunächst – erste Option – in der schlichten Feststellung,
dass Katastrophen zwar stattfinden, aber auch wieder vorübergehen. Die Pest
lehrt dasselbe wie die anderen Katastrophen der Bunten Steine: „Siehst du, es ist
in jenen Zeiten auch in anderen Theilen der Wälder die Pest ausgebrochen, und
es sind viele Menschen an ihr gestorben; aber es kamen wieder andere Tage, und
die Gesundheit war wieder in unsern Gegenden“.26 Katastrophen sind keine
dauerhaft bestimmenden, sondern transitorische Ereignisse. Tröstlicher mag es
gegenüber dieser etwas herben Feststellung schon wirken – zweite Option –, dass
die unschuldigen Kinder der Binnengeschichte durch Kenntnis der Natur den
„Ausweg aus dem Walde“ finden: „die Pechbrennerknaben […] sind schon unterrichteter in den Dingen der Natur“ (HKG 2/2, S. 50 f.). Tatsächlich weiß der Junge
die Zeichen der Natur zu lesen und praktiziert jene Selbsthilfe durch Wissen, die
auch die Rahmenhandlung um Großvater und Enkel buchstäblich auf den Weg
bringt. Freilich tut er damit etwas, das verdächtig dem ähnelt, was der Großvater
den Eltern des Knaben theologisch zur Last legt: Sie entziehen sich der „allgemeinen Heimsuchung“ und dem göttlichen „Strafgerichte“ (HKG 2/2, S. 46, 37)
und legen dabei ein radikal asoziales und dem Gebot der Nächstenliebe krass
widerstreitendes Verhalten an den Tag. Das wiederum tut der hilfreiche Knabe
nicht, und insofern könnte man – dritte Option – im Tod der Eltern und der
Rettung der Kinder die göttliche Gerechtigkeit am Werk sehen – zumindest aus
der Perspektive des erzählenden Großvaters. Dieser freilich streut zugleich Zweifel an der Verlässlichkeit seiner metaphysischen Perspektive, etwa in doppeldeutigen Wendungen, wie der, dass sich die verlassenen Kinder ihre Nahrung auf
26 S. 57. Vgl. auch über den Glockenklang aus Oberplan: „siehst du, Kind, diese Zunge sagt uns
beinahe mit vernehmlichen Worten, wie gut und glüklich und wie befriedigt wieder alles in dieser
Gegend ist“ (S. 39).
16
Christian Begemann
„den Feldern des todten Vaters“ suchten (HKG 2/2, S. 53). Stifter liebt solche
‚Kassiber‘, es sei nur an einen ähnlich verdächtigen Satz aus Bergkristall erinnert,
immerhin einer Weihnachtsgeschichte. Wenn die Kinder im Hochgebirge auf
einen Steinwall steigen wollen, um „jenseits“ wieder hinabzuklettern, heißt es
lapidar: „Aber es gab kein Jenseits“ (HKG 2/2, S. 220). Eine weitere Destabilisierung der Erzählerposition ergibt in Granit das Selbstzitat aus dem Hochwald.
Parallel ist in beiden Geschichten nicht nur die scheiternde Regression in eine
vermeintlich unschuldige und mütterlich bergende Natur; eine Parallele zeigt
sich auch zwischen dem Großvater und dem alten Gregor, der in Granit als „ein
alter Jäger“ zitiert wird (HKG 2/2, S. 48). Als alte Menschen reichen beide in eine
alte Zeit und in ‚alte‘ Weltbilder zurück. Gregor kritisiert zwar den volkstümlichen
Aberglauben, hält aber am ‚romantischen‘ Konzept einer harmonisch geordneten,
beseelten und sprechenden Natur fest,27 wie der Großvater an einem göttlichen
Eingriff in diese. Wenn Gregor eine zwar dichterisch schöne, leider aber unzutreffende Version der Natur vorgibt, zieht das über die ausgiebige Selbstzitation auch
die Perspektive des Großvaters in Zweifel. Wie immer man das wenden mag –
festzuhalten bleibt, dass eine theologische Sinngebung hier allenfalls aus einer
destabilisierten Position heraus erfolgt und zudem die Komplexität des faktisch
Erzählten stark reduziert.28 Sieht man also von solchen Partialtröstungen ab, so
bleibt weiterhin die Frage, worin die tröstliche und therapeutische Wirkung der
Pestgeschichte liegt.
Wenn Granit eine „Initiationsgeschichte in die Bewältigung des Todes“ ist,29
dann folgt diese Bewältigung, so möchte ich behaupten, einer Strategie der
Immunisierung. Dass diese These nur durch ein Indizienverfahren belegt werden
kann, sei prophylaktisch eingeräumt. Die verschiedenen Formen von Immunisierung im Zusammenspiel zwischen medizinischem Wissen und Literatur haben in
den letzten Jahren das besondere Interesse der Forschung gefunden.30 Das Wissen, dass man viele Infektionskrankheiten nur einmal bekommen kann und bei
erneutem Kontakt mit ihnen resistent ist, reicht in die Antike zurück und wird
etwa von Thukydides in seiner Beschreibung der athenischen Pest formuliert:
27 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen (Anm. 5), S. 183.
28 Dies ist auch gegen Simons „inhaltliche Entzifferung der Textbotschaft“ einzuwenden: „Die
Pest ist die Strafandrohung auf den gedächtnislosen Moment des Glücks und der Lust. In den
Körper selbst wird, wie in mittelalterlichen Foltermethoden, eingeschrieben, daß es keinen
Moment geben darf, in dem ein in die symbolische Ordnung Eingeführter sie vergessen könnte“
(Simon: Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3), S. 36).
29 Mathias Mayer: Adalbert Stifter. Erzählen als Erkennen. Stuttgart: Reclam 2001, S. 121.
30 Vgl. Johannes Türk: Die Immunität der Literatur. Frankfurt/M.: Fischer 2011; Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik. Berlin: Suhrkamp 2012.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
17
„denn zweimal packte es denselben nicht“.31 Immunität entsteht aus einer „Berührung mit der Krankheit“,32 die entweder bei ihrem Auftreten aufgrund bestimmter Faktoren überwunden oder – und auch das ist eine alte Praxis – prophylaktisch in abgeschwächter Form induziert wird, um den Effekt der
Immunisierung zu erreichen. Immunisierung bleibt allerdings nicht auf das medizinische Gebiet beschränkt, sondern kann auch im kulturellen Bereich zum
Modell spezifischen ‚Krisenmanagements‘ werden: gezielte Kriseninduktion zum
Zweck von Krisenbewältigung. Das ist wenigstens teilweise bereits in der Tragödie der Fall, die erschreckende Geschehnisse in Szene setzt, um beim Zuschauer
eine heilsame Wirkung zu erzielen. Granit weist in mancher Hinsicht Analogien
zur Tragödie bzw. Tragödientheorie auf, die hier ins Narrative gewendet wird. Die
Pestgeschichte des Großvaters ließe sich als eine Art tragische Erzählung verstehen,33 in der die eben gemachten Erfahrungen des Kindes mit seiner schuldlosen Schuld und der aus ihr resultierenden familiären Katastrophe einer Bearbeitung unterzogen werden. Diese erfolgt, so könnte man sagen, ‚auf dem Wege‘ des
Anhörens einer Art von Parallelgeschichte, in der das eigene Erlebte gegenüber
der Drastik des kollektiven Geschehens einerseits relativiert wird, andererseits
aber gleichsam in diesem aufgeht und sich dabei nachgerade als der (zumindest
mögliche) Gang der Dinge überhaupt erweist. Dabei aber fällt zugleich ein Unterschied zur klassischen Tragödie und zur aristotelischen Tragödientheorie ins
Auge. Denn die Geschichte des Großvaters zielt nicht auf katharsis im Sinne einer
Stimulation der Affekte zum Zwecke ihrer reinigenden Ausleitung, sondern läuft
eher auf eine in stoischer Tradition stehende Unterwerfung unter das Unvermeidliche und eine Abhärtung gegen dieses hinaus, wie sie für das Wirkungskonzept
der Trauerspiele des 17. Jahrhunderts charakteristisch sind. Hier geht es weniger
um eine Reinigung der Affekte als um eine Form von Immunisierung. Dieser
Epoche ist, am Rande vermerkt, ja die Binnenerzählung noch zuzuordnen: Die
letzten großen Pestepidemien in Südböhmen ereigneten sich 1680 und 1713.34
31 Zitiert nach Türk: Die Immunität der Literatur (Anm. 30), S. 26; vgl. ebd., S. 19 ff.
32 Ebd., S. 15.
33 Zu Stifters „behutsame[r] Hybridisierung von tradierten literarischen Gattungen zu genera
mixta“ vgl. Werner Michler: Adalbert Stifter und die Ordnung der Gattung. Generische ‚Veredelung‘ als Arbeit am Habitus. In: Alfred Doppler u. a. (Hg.): Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 183–199, hier S. 194. Zur Frage nach Reinheit und Unreinheit der Gattung vgl. auch Elisabeth Strowick: Stifters ‚Poetik des Unreinen‘. Gattungszitation in
Granit und Aus dem Bairischen Wald. In: Sigrid Nieberle/E.S. (Hg.): Narration und Geschlecht.
Texte – Medien – Episteme. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006, S. 73–92. Ebenso in: E.S.: Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung – Performativa in Literatur und Rhetorik. München:
Wilhelm Fink 2009, S. 197–219.
34 Vgl. den Kommentar zu Granit, HKG 2/3, S. 268.
18
Christian Begemann
Die stoische Abhärtung aber ist bei Stifter in neue Wissens- und Reflexionshorizonte eingetreten. Das wird bereits mit Blick auf Schiller deutlich. Wenn es
eine Lehre der großväterlichen Erzählung gibt, dann müsste sie lauten, dass die
Katastrophe noch im friedvollsten Ordnungsraum schläft, dass sie sich jederzeit
ereignen kann und dass ein Entrinnen zumindest zweifelhaft ist. Gerade die
Immunisierungsstrategie der Pechbrenner, die sich angesichts der Ansteckungsgefahr dorthin zurückziehen, „wo nie eine Luft von Menschen hinkömmt“ (HKG
2/2, S. 46), in eine Region also, welche die sich ausbildende Immunologie des
19. Jahrhunderts als „immunen Ort“ klassifiziert, wird verworfen,35 wogegen der
Junge, der den Kontakt mit dem infizierten Mädchen nicht fürchtet, gerettet wird.
Bemerkenswerterweise kommen gerade diejenigen Figuren des Textes mit dem
Leben davon, die vor der Berührung mit Krankheit und Tod nicht zurückscheuen.36 Dieses Verhalten hat eine ethische Dimension und wird vom Großvater
religiös instrumentiert, ergibt aber mit einer gewissen Verschiebung auch immunologisch Sinn. Die Strategie, auf die Stifters Text zusteuert, ist, in Schillers
Worten, die „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“.37 Das Erhabene und –
auf literarischem Gebiet – die Tragödie verabreichen laut Schiller kleine Dosen
von Katastrophik, um den Rezipienten gegen jenes Unvermeidliche zu impfen
und zu immunisieren, vor dem es in gar keinem Fall eine Rettung gibt: In letzter
Instanz ist das immer der Tod.38 Ihm gegenüber gibt es
kein andres Mittel […], der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und
durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse, ehe noch eine physische Macht es tut,
sich moralisch zu entleiben. | Dazu nun stärken ihn [den Menschen] erhabene Rührungen
und ein öfterer Umgang mit der zerstörenden Natur […]. Je öfter nun der Geist diesen Akt der
Selbsttätigkeit erneuert, desto mehr wird ihm derselbe zur Fertigkeit, einen desto größeren
Vorsprung gewinnt er vor dem sinnlichen Trieb, daß er endlich auch dann, wenn aus dem
eingebildeten und künstlichen Unglück ein ernsthaftes wird, imstande ist, es als ein künst-
35 Vgl. dazu Türk: Die Immunität der Literatur (Anm. 30), S. 138 ff. Türks knappe Deutung von
Granit stellt ganz auf diesen Aspekt ab. Das Scheitern der Immunisierungsbemühungen der
Pechbrenner führt er auf die „Allmacht der theologischen Dimension“ des Geschehens zurück
(ebd., S. 155), worin jedoch die Perspektive des Großvaters als textbestimmend gesetzt wird.
36 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter (Anm. 29), S. 122.
37 Friedrich Schiller: Über das Erhabene. In: F.S.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und
Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. Darmstadt: WBG 1993, Bd. 5, S. 792–808, hier S. 805 f. Das Impfparadigma hat erstmals Simon: Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3) ins Spiel
gebracht. Er bezeichnet das Bestreichen der Füße des Kindes mit dem Pech als „symbolische
Infektion“, die im Text zu einer „symbolischen Impfung“ werde (ebd., S. 32), geht dieser Spur aber
nicht weiter nach und dehnt diese Einsicht insbesondere nicht auf die Erzählung des Großvaters
aus, die ich als die eigentliche Impfung ansehen möchte.
38 Schiller: Über das Erhabene (Anm. 37), S. 792.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
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liches zu behandeln und, der höchste Schwung der Menschennatur! das wirkliche Leiden in
eine erhabene Rührung aufzulösen. Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine
Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt und
der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.39
Schiller konstruiert die immunisierende Tragödienwirkung in Analogie zum medizinischen Verfahren der Pockenimpfung und kodiert damit ältere Strategien
einer Immunisierung durch die Tragödie um. Die Wirkung der Tragödie erscheint
einerseits als eine Form der affektiven Ansteckung, als ein Überspringen von
Schrecken, Furcht oder Mitleid aus dem Raum des dargestellten Unheils in den
der Zuschauer,40 wie andererseits als Bearbeitung, Bewältigung und ‚Aufhebung‘
eben jener Affekte. In einer paradox anmutenden Bewegung wird das potentiell
Schädliche zum Heilmittel.
Impfungen wurden im 18. Jahrhundert, von England ausgehend, wo Jacob
Pylarini oder Lady Montagu die türkische Praxis „of communicating the Small
Pox“ propagiert hatten, vielfältig vorgenommen und von einer lebhaften öffentlichen Diskussion begleitet, mit Beiträgen etwa in der Encyclopédie, von Voltaire,
Hume oder Kant.41 Die Vorbehalte, die sich insbesondere gegen die lebensgefährliche Paradoxie der Impfung richten, die Krankheit herbeizuführen, um sie abzuwehren, beziehen sich dabei vor allem auf die ältere Praxis der Impfung mit
menschlichen Pockenerregern (‚Variolation‘), die auch Schiller hier im Blick hat.
Ein Paradigmawechsel erfolgt erst mit dem 1798 von Edward Jenner publizierten
Verfahren der Impfung mit den sehr viel weniger riskanten Kuhpockenerregern
(‚Vaccination‘). Beide Formen der Impfung werden auch für die Literatur des 18.
und 19. Jahrhunderts modellbildend, soweit diese auf eine Immunisierung des
Lesers gegen potentielle Lebenskrisen hinarbeitet. Cornelia Zumbusch hat umfassend gezeigt, wie das neue medizinisch-immunologische Konzept der Impfung
auch über die Tragödientheorie hinaus in die Poetik der Weimarer Klassik einwandert,42 die für Stifters späteres Werk bekanntlich eine maßgebliche literarische Bezugsinstanz ist. Bis in die Titel von literarischen Werken findet die Imp39 Schiller: Über das Erhabene (Anm. 37), S. 805 f.
40 Zum Problem affektiver Ansteckung vgl. generell Zumbusch: Die Immunität der Klassik
(Anm. 30), S. 66 ff.
41 Vgl. Türk: Die Immunität der Literatur (Anm. 30), S. 46 ff., 65 ff.; Zumbusch: Die Immunität
der Klassik (Anm. 30), S. 36 ff.
42 Zu Schiller und seinen tragödientheoretischen wie medizinischen Voraussetzungen vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik (Anm. 30), S. 110 ff. Schon vorher finden Übertragungen aus
dem medizinischen in den literarischen Bereich statt, etwa in der Vorrede zu Rousseaus Julie ou la
Nouvelle Héloïse oder in Lessings Nathan. Vgl. dazu Türk: Die Immunität der Literatur (Anm. 30),
S. 76 ff., 131 ff.; zu Schiller S. 114 ff., 124 ff.
20
Christian Begemann
fung ihren Weg, etwa in Moritz August von Thümmels satirischer Verserzählung
Die Inoculation der Liebe (1771). Insbesondere bei Schiller hat die Metapher einer
tragischen Inokulation einen klaren medizinischen Hintergrund und führt auch
zu einer Umdeutung des Prinzips der katharsis.43
Während bei Schiller aber die tragisch-erhabene Impfung zu einer Bewusstmachung der Unzerstörbarkeit der moralischen Freiheit des intelligiblen Ichs
durch physische Gewalt führt, vollzieht sich demgegenüber in Stifters Auffassung
des Erhabenen eine entscheidende Wendung. Gibt es in Stifters Frühwerk noch
deutliche Relikte eines sich gegen alle Gefahr immunisierenden Größenselbst
Kantischer und Schiller’scher Provenienz,44 so wird dieses in der Folge entschieden abgebaut. Nur die Natur selbst und ihre Ordnung können noch Anspruch auf
das Attribut des Erhabenen geltend machen, und auch dies nur in einer Verschiebung vom Großartigen und Überwältigenden zum Kleinen und Stetigen, in
dem das lebenserhaltende „sanfte Gesetz“ zur Erscheinung kommt.45 Gegenüber
Schillers erhabener Inokulation handelt es sich bei Stifter insofern nicht um
Immunisierung durch Aktivierung einer resistenten mentalen Gegeninstanz gegen den Tod, die sich aller körperlichen Gefahr überlegen weiß, sondern, so
möchte ich vorschlagen, eher um Immunisierung durch allmähliche Gewöhnung
an den Gedanken des Unvermeidlichen. Zudem handelt es sich quasi um eine
‚Impfung danach‘, in der sich der Erzählakt mit dem schon vorher erfolgten
Unglück, resultierend aus dem Eintragen des Pechs in den Innenraum des Hauses, verbindet. Die Pestgeschichte scheint ihre immunisierende Wirkung gerade
daraus zu ziehen, dass sie im Erfahrungsraum des Kindes bereits vorbereitet ist.
43 „Anders als Aristoteles imaginiert [Schiller] die katharsis nicht als reinigende Ausleitung
störender Affekte, sondern als Panzerung gegen kontingente Ereignisse“ (Cornelia Zumbusch:
Innovation oder Kontamination. Kreuzungen der Impfmetapher zwischen Kant und Nietzsche. In:
Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin: Kadmos 2011, S. 87–100, hier
S. 94). – Mit Blick auf Stifter ließe sich hier auch an andere Modelle von Immunisierung erinnern,
etwa in Ernst von Feuchterslebens Zur Diätetik der Seele von 1838 (in: E.v.F.: Sämmtliche Werke.
Hg. von Friedrich Hebbel. Wien: Carl Gerold 1851, Bd. 3, S. 237–366). Geht es aber bei Schiller und
Stifter um eine mentale Immunisierung gegen die Unvermeidlichkeit von Katastrophe und Tod, so
zielt Feuchtersleben auf eine physische Immunisierung, d. h. auf die Abwehr körperlicher Krankheit mit den Mitteln des Geistes (vgl. ebd., S. 244 f.). Dem Geist, der seine „Herrschaft über den
Körper“ erringen soll (S. 359), wird dabei „eine Kraft des Widerstandes gegen die Welt äußerer
Einflüsse“ zugesprochen (ebd. S. 256) – was sich mit Schiller trifft, aber auf einen anderen,
nämlich physiologischen Effekt zielt. Angesichts der Pest würde ihn wohl auch Feuchtersleben
nicht erwartet haben.
44 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen (Anm. 5), S. 117 ff.
45 Zum Erhabenen bei Stifter vgl. Hans Dietrich Irmscher: Phänomen und Begriff des Erhabenen
im Werk Adalbert Stifters. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 40 (1991), S. 30–58; Begemann: Die Welt der Zeichen (Anm. 5), S. 117 ff.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
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Impfungen im medizinischen Sinne werden zwar bei Stifter, soweit ich sehe,
nicht erwähnt, obwohl die Bedrohung durch ansteckende Krankheiten biographisch wie literarisch von großer Bedeutung für ihn war: biographisch ist an seine
Ansteckungsangst während der Cholera in Linz zu erinnern, von der die Briefe an
seine Frau Amalia zeugen,46 und literarischen Niederschlag findet die Choleraepidemie von 1866 zumindest indirekt in der 4. Fassung der Mappe meines
Urgroßvaters, wo eine namenlose „Seuche“ die gesamte Familie des Augustinus
dahinrafft (HKG 6/2, S. 220 ff., 231 ff.).47 Hinzuweisen ist auch auf Abdias, wo, wie
in Granit, von der Pest die Rede ist (HKG 1/5, S. 240) und der Protagonist von den
Pocken entstellt wird (HKG 1/5, S. 249), jener Krankheit also, mit deren Bekämpfung das Konzept der Impfung im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich verbunden war. In Österreich wurde die Impfpraxis von offiziellen Stellen sehr
gefördert, nicht zuletzt aus biopolitischen Gründen.48 Bereits unter Maria Theresia
wurde die ‚Variolation‘ praktiziert, also die Impfung mit menschlichen Pockenerregern; speziell in Niederösterreich gab es bereits im Jahr 1800, nur zwei Jahre
nach den einschlägigen Publikationen Edward Jenners, die ersten Massenimpfungen mit Kuhpockenerregern (‚Vaccination‘). Auch in Wien und anderen österreichischen Regionen wurden ab 1802, zeitgleich mit dem Erscheinen einer Vielzahl von Schriften über die Vaccination, zahlreiche Impfungen vorgenommen.
1804 empfahl ein Hofdekret ausdrücklich die Impfung. Seit 1836 regulierten
verschiedene Hofkanzleidekrete, sog. ‚Impfregulative‘, die medizinischen Verfahren, die Impfpflicht bei auftretenden Epidemien und die Gewinnung von Impfstoffen. Zu diesem Zweck wurden seit Beginn der 1840er Jahre sog. ‚Regenerierungsanstalten‘ in Wien, Prag, Linz und anderen Städten eingerichtet. Diese
Daten zeigen, dass die Pockenimpfung nicht nur eine verbreitete medizinische
Praxis war, sondern auch hohe diskursive Resonanz fand und als Wissenshintergrund vorausgesetzt werden kann. Immerhin finden sich Rekurse auf den ‚Bildspender‘ der medizinischen Inokulation, nämlich das ‚Okulieren‘, d. h. das Pfropfen von Pflanzen zum Zweck ihrer Veredelung, bei Stifter mehrfach, etwa im
Nachsommer (HKG 4/2, S. 193) oder in Kalkstein (HKG 2/2, S. 101).49
46 Sie sind in den Bänden 21 und 22 der PRA enthalten (vgl. etwa Bd. 21, S. 272 f.).
47 Diesen Zusammenhang stellt Martina King her, die den Doktor Augustinus paradigmatisch im
Kontext der romantischen Medizin verortet: Der romantische Arzt als Erzähler. Medizinisches
Wissen in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters (1868). In: Dirk Göttsche/Nicholas Saul (Hg.):
Realism and Romanticism in German Literature – Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 171–201, hier S. 199 ff.
48 Vgl. zum Folgenden Heinz Flamm/Christian Vutuc: Geschichte der Pocken-Bekämpfung in
Österreich. In: Wiener Klinische Wochenschrift 122 (2010), S. 265–275, hier v. a. S. 266 ff.
49 Zum metaphorischen Verhältnis der gartenbaulichen Inokulation und des medizinischen
Verfahrens der Impfung vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik (Anm. 30), S. 87: „Die figurati-
22
Christian Begemann
Sind die Hinweise auf Inokulationen und ihre Kontexte eher sparsam, so ist
die Vorstellung einer mentalen Konditionierung und Immunisierung bei Stifter
gut erkennbar. Gewöhnungsprozesse gehören zu den wesentlichen Strategien in
Stifters pädagogischen Konzepten, wie sich etwa an der Eingewöhnung des
braunen Mädchens in Kazensilber50 oder am Nachsommer zeigen lässt. „An alles
gewöhnt sich der Mensch, und die Gewohnheit wird dann sehr leicht, sehr leicht“,
sagt der asketische und demütige Pfarrer in Kalkstein (HKG 2/2, 83). Das auffällige
Vorkommen der Wörter ‚Gewöhnung‘ und ‚gewöhnen‘ bei Stifter lässt sich hier
nicht dokumentieren, würde aber eine umfängliche Liste füllen.51 Auch dem
ve Bedeutung stützt sich somit auf die äußere Ähnlichkeit des Verfahrens, etwas Fremdes in einen
künstlich hergestellten Schnitt einzubringen“. Vgl. ferner Falko Schmieder: Vom Lobpreis der
Veredelung zum Prospekt der Vernichtung. Aspekte einer Problemgeschichte der Pfropfmetapher“. In: Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin: Kadmos 2011, S. 29–50,
v. a. S. 39 ff., 43 ff.
50 Vgl. dazu Begemann: Die Welt der Zeichen (Anm. 5), S. 306 ff.
51 Pars pro toto einige Beispiele für körperliche und mentale Gewöhnungen. Abdias über Dithas
Blindheit: „Er gewöhnte sich daran, und nahm den Gedanken in sein Eigenthum auf, daß er ein
blindes Kind habe, und daß dasselbe blind bleiben müsse“ (Abdias, HKG 1/5, S. 313). „Als das
weiße Haus einmal länger stand, als der Garten fertig war und die hohen festen Planken um
denselben herum liefen, gewöhnten sich die seltenen Vorübergehenden daran, als an ein Ding,
das einmal so sei“ (ebd., S. 303). „[I]ch war nütze und achtete mich – und da ich die Süßigkeit des
Schaffens kennen lernte, erkannte ich auch, um wie viel mehr werth sei, was ein gegenwärtig
Gutes setzt, als das bisherige Hinschlendern, das ich Erfahrungen sammeln nannte, und ich
gewöhnte mich an Thätigkeit“ (Brigitta, ebd., S. 466). „In diese Vertiefungen wurde dann Erde
gethan, aber eine nur um ein kleines bessere, als sonst in den Rissen des Steingewändes war,
damit die Pflänzlein, wenn sie die ersten Wurzeln in dem guten geschlagen und dasselbe gewöhnt
hätten, nicht dann stürben, wenn sie ihre Fasern in den Fels treiben müßten“ (Mappe, ebd.,
S. 166). „Hugo achtete nicht weiter darauf; denn im Kriege war er an ganz andere und wunderlichere Zufälle gewöhnt worden, als daß er einem Dinge Bedeutung zugeschrieben hätte, das ihn
nur in seiner Jugend angelockt hatte, eben weil er jung war“ (Das alte Siegel, ebd., S. 395). „Ich
fragte es, da es [das Mädchen] stiller geworden war, ob es wieder mit mir in meine Wohnung
gehen wolle, ich würde es, sobald es wollte, abermals hieher zurük führen. Da die Wohnung leer
war, machte das Mädchen wenig Widerstand, und ich führte es in das Stübchen, in dem es
geschlafen hatte. Nach einer Weile gingen wir wieder in die unterirdische Wohnung. Und so
wiederholte ich das Verfahren im Laufe des Tages mehrere Male, theils um das Mädchen zu
beschäftigen, theils um es an eine Veränderung seiner Lage zu gewöhnen“ (Turmalin, HKG 2/2,
S. 171). „[D]a der Knabe geschikt stark und klug geworden war, ließ man ihn allein den bekannten
Weg über den Hals gehen, und wenn es sehr schön war, und er bath, erlaubte man auch, daß ihn
die kleine Schwester begleite. Dies ist bei den Gschaidern gebräuchlich, weil sie an starkes
Fußgehen gewöhnt sind“ (Bergkristall, ebd., S. 200). „Der Weg zwischen den Bäumen auf dem
freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches sich bildete, gleichsam mit Glas überzogen,
und die Leute, welche vor und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich war an schwierige Wege
gewöhnt, und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde fort“ (Der Nachsommer, HKG 4/1,
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
23
Gefühl, durch ein Ereignis „gleichsam vernichtet“ zu werden (HKG 2/2, S. 27),
scheint man durch Gewöhnung beikommen zu können, wie bereits der Hochwald
zeigt,52 und ebenso dürfte es sich in Granit verhalten. Dieses Konzept einer
Immunisierung durch Gewöhnung an das Schreckliche und Zerstörende durch
Einnahme kleiner Dosen hat ein diskursives Vorbild in der weit hinter das
moderne Impfparadigma zurückreichenden immunologischen Vorstellung, dass
man sich gegen Gifte durch Einnahme minimaler und dann gesteigerter Mengen
resistent machen könne. Dieser in der Medizin als ‚Mithridatismus‘ bekannte
Vorgang ist seit der Antike bekannt: Der Versuch des Mithridates VI. Eupator von
Pontos (ca. 134–63 v. Chr.), sich zu vergiften, um der Gefangenahme durch seinen
Gegner Pompeius zu entgehen, ist den zahlreichen Quellen zufolge (Appianus,
Cassius Dio, Plinius d.Ä., Strabon u. a.) daran gescheitert, dass sich der König
selbst gegen Gifte durch das Einnehmen kleiner Dosen von ihnen prophylaktisch
abgehärtet habe. Plinius bemerkt, Mithridates sei es gewesen, der „die Erfindung
machte, täglich, nach vorhergenommenen Gegenmitteln, Gift zu verschlucken
und sich so nach und nach ohne Nachteil daran zu gewöhnen“.53 Mithridates
untersuchte auf der Basis vieler Experimente die Eigenschaften Hunderter von
S. 193). „Daß das alles vereinigt werden konnte, mußte eine genaue Zeiteintheilung gemacht
werden, und ich mußte die Zeit richtig verwenden. Dazu war ich wohl von Kindheit an gewöhnt
worden“ (ebd., 4/2, S. 171). Über die wohltätige Wirkung der frischen Luft auf den Vater: „‚Das ist
nur die Wirkung des Anfangs und eine Folge des Reizes des Wechsels auf die körperlichen
Gebilde,‘ sagte der Vater, ‚im Verlaufe der Zeit gewöhnt sich Blut Muskel und Nerv an die freie Luft
und Bewegung, und das erste röthet sich nicht mehr so, und die letzten schwellen […]‘“ (ebd., 4/3,
S. 83 f.). „Die Stadt, welche mir Anfangs so unheimlich gewesen war, wurde mir immer lieber. Ich
gewöhnte mich daran, immer fremde Menschen in den Gassen und auf den Pläzen zu sehen und
darunter nur selten einem Bekannten zu begegnen; es erschien mir dieses so weltbürgerlich, und
wie es früher mein Gemüth niedergedrückt hatte, so stählte es jetzt dasselbe“ (ebd., S. 159). „Ein
freundlicher Verkehr hatte sich entwickelt, Gustav hatte sich an mich gewöhnt, ich an ihn, und
aus der Gewöhnung war Liebe entstanden“ (ebd., S. 222). „‚Natalie, was mir heute begegnet ist,
bildet eine Wendung in meinem Leben, und ein so tiefes Ereigniß, daß ich es kaum denken kann.
Ich muß suchen, alles zurecht zu legen, und mich an den Gedanken der Zukunft zu gewöhnen‘“
(ebd., S. 263 f.). „Alle gewöhnten sich an die neue Ordnung, es wurde nichts mehr darüber
gesprochen“ (Der Kuß von Sentze, HKG 3/2, S. 168).
52 Das ist beim Blick auf die niedergebrannte Burg der Fall: „Clarissa warf sich neuerdings vor
das Glas und sah lange hinein – aber dieselbe eine Botschaft war immer darinnen, doppelt
ängstend durch dieselbe stumme Einförmigkeit und Klarheit. Auch Johanna sah hindurch, um ihn
nur gewöhnen zu können, den drohenden unheimlichen Anblick; denn sobald sie das Auge
wegwendete und den schönen blauen Waldduft sah, wie sonst, und den lieblich blauen Würfel,
wie sonst, und den lachenden blauen Himmel gar so prangend, so war es ihr, als könne es ja ganz
und gar nicht möglich sein“ (HKG 1/4, S. 307).
53 Adrienne Mayor: Pontisches Gift. Die Legende von Mithridates, Roms größtem Feind. Stuttgart: Theiss 2011, S. 284.
24
Christian Begemann
Giften, entwickelte ein aus einer Vielzahl toxischer Ingredienzien bestehendes
universales Antidot, einen sog. Theriak, der später „Mithridatium“ genannt wurde, legte eine umfassende Bibliothek über Gifte an und soll auch zahlreiche
Aufzeichnungen hinterlassen haben.54 Von diesem Mithridatium leiten sich die
zahllosen Theriakrezepte von der Antike bis in die Neuzeit her. Auch in Kunst und
Literatur lebt Mithridates fort, in Racines Mithridate (1673) etwa, Mozarts darauf
basierender Oper Mitridate, re di Ponto (1770) sowie zahlreichen weiteren Opern
des 17. und 18. Jahrhunderts, den verschiedenen barocken Farnace-Opern55 (u. a.
von Vivaldi) oder im 13. Kapitel von Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris, das
belegt, dass die Desensibilisierungsstrategie des pontischen Königs ein Gemeinplatz war.56 Dieser taucht auch bei Wordsworth, Hawthorne oder Emerson auf.57
In Dumas’ Le Comte de Monte-Cristo (1845/46, dt. Übs. 1846) werden Mithridates
und seine Immunisierungsstrategie im bezeichnenderweise „Toxicologie“ überschriebenen 52. Kapitel ausführlich zitiert.58 Die Abhärtung gegen Gifte ist nicht
zuletzt im Zusammenhang mit dem Arsen beobachtet worden. Insbesondere „in
den Gebirgsgegenden von Oesterreich, Steiermark und namentlich im Salzburgischen und in Tyrol“ habe das „Arsenikessen“ Tradition, wie Ernst Freiherr von
Bibra kolportiert.59 Gründe dafür seien nicht nur der Wunsch nach Steigerung des
Wohlbefindens und des guten Aussehens (zu diesem Zweck wurden auch Pferden
kleine Arsendosen verabreicht), sondern auch die prophylaktische Immunisierung von Arbeitern gegen die hohen Immissionen im Arsenbergbau.60
54 Vgl. dazu Mayor: Pontisches Gift (Anm. 53), S. 89 ff., 283 ff., 398 ff. u.ö.
55 Pharnakes II. war der Sohn des Mithridates.
56 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und hg. von Inge und Peter Rippmann. 3
Bde. Düsseldorf: Melzer 1964, Bd. 2, S. 65.
57 Vgl. die Übersicht bei Mayor: Pontisches Gift (Anm. 53), S. 430 ff.
58 Alexandre Dumas: Le Comte de Monte-Cristo, edition présentée et annotée par Gilbert Sigaux.
Paris: Éditions Gallimard 1981, S. 652 ff.; vgl. auch S. 654: „Eh bien! reprit Monte-Cristo, supposez
que ce poison soit de la brucine, par example, et que vous en preniez un milligramme le premier
jour, deux milligrammes le second, eh bien! au bout de dix jours vous aurez un centigramme; au
bout de vingt jours, en augmentant d’un autre milligramme, vous aurez trois centigrammes, c’està-dire un dose que vous supporterez sans inconvénient, et qui serait déjà fort dangereuse pour un
autre personne qui n’aurait pas pris les mêmes précautions que vous; enfin, au bout d’un mois, en
buvant de l’eau dans la même carafe, vous tuerez la personne qui aura bu cette eau en même
temps que vous, sans vous apercevoir autrement que par un simple malaise qu’il y ait eu une
substance vénéneuse quelconque mêlée à cette eau“.
59 Ernst Freiherr von Bibra: Die narkotischen Genussmittel und der Mensch. Nürnberg: Wilhelm
Schmid 1855, S. 385 f. Vgl. auch Wolfgang Schmidbauer/Jürgen vom Scheidt (Hg.): Handbuch der
Rauschdrogen, München: Nymphenburger 1988, S. 70 f.
60 Bibra: Die narkotischen Genussmittel (Anm. 59), S. 384 ff., 387 ff.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
25
Wenigstens am Rande sei hier auf einen weiteren diskursiven Kontext hingewiesen, der sich in Beziehung zur Immunisierung durch Impfung wie durch
Gewöhnung setzen lässt. Im Nachsommer erläutert Risach die Bedingungen der
Blütenpracht seiner Rosenwand: „Da wir nicht wissen, welches denn der lezte
Grund des Gedeihens lebendiger Wesen überhaupt ist, so schloß ich, daß den
Rosen am meisten gut thun müsse, was von Rosen kömmt“ (HKG 4/1, S. 145).
Darin klingt das homöopathische Therapieverfahren nach dem Simile-Prinzip an,
das Samuel Hahnemann 1796 im Rückgriff auf Hippokrates und Paracelsus
formuliert hatte: „Similia similibus curentur“.61 In seinem Organon der Heilkunst
von 1810 resümiert Hahnemann wie folgt:
Das Heilvermögen der Arzneien beruht daher […] auf ihren der Krankheit ähnlichen und
dieselben an Kraft überwiegenden Symptomen, so daß jeder einzelne Krankheitsfall nur
durch eine, die Gesammtheit seiner Symptome am ähnlichsten und vollständigsten im
menschlichen Befinden selbst zu erzeugen fähigen Arznei, welche zugleich die Krankheit an
Stärke übertrifft, am gewissesten, gründlichsten, schnellsten und dauerhaftesten vernichtet
und aufgehoben wird.62
Hahnemann hat in der „Jennerschen Kuhpocken-Impfung“ einen Beleg für das
Simile-Prinzip gesehen,63 aber auch die Gewöhnung an Gifte und nicht zuletzt die
Tragödienwirkung ließe sich letzterem subsumieren. In allen diesen Fällen
kommt es, um therapeutische Effekte zu erzielen, zu strategischen Koalitionen
zwischen Krankheit und Gesundheit, Gefährdung und Immunisierung, Gift und
Arznei, Krise und Krisenbewältigung. Jeweils herrschen Ähnlichkeits- bzw.
Gleichheitsbeziehungen zwischen dem Pathologischen und dem Therapeutischen, die nicht unterschiedlichen Ordnungen angehören, sondern als Pole auf
ein und derselben Skala figurieren.
Pharmakologische Spuren finden sich verschiedentlich in Stifters Erzählung.
Immer wieder werden hier Bäume zu den zentralen Merkzeichen, gleichsam
Ausrufezeichen in der ‚verzeichneten‘ Landschaft, so etwa die Machtbuche als Ort
der Vergewisserung von Erinnerung und Tradition. Bereits über die Drillingsföhre, die „nicht umgehauen werden“ darf, weil sie das Merkzeichen der wundersamen Heilung ist (HKG 2/2, S. 41), wird mit „Enzian und Pimpinell“ (HKG 2/2,
61 Vgl. Robert Jütte: Samuel Hahnemann. Begründer der Homöopathie. München: dtv 2005,
S. 64. Zu den Vorläufern des Simile-Prinzips vgl. Rudolf Tischner: Geschichte der Homöopathie.
Leipzig: Verlag Dr. Willmar Schwabe 1932 ff., Bd. 1, S. 22 ff., 43 ff. Tischner informiert auch über
die Verbreitung der Homöopathie seit Hahnemann; zu Österreich vgl. Bd. 3, S. 143 ff., 507 ff.
62 Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Hg. von Josef M. Schmidt. Heidelberg: Karl
F. Haug Verlag 1999, § 27, S. 109.
63 Vgl. Hahnemann: Organon der Heilkunst (Anm. 62), § 46, S. 127 f.
26
Christian Begemann
S. 38), den von dem wundersamen „Vöglein“ verkündeten Heilmitteln, eine
pharmakologisch-toxikologische Komponente ins Spiel gebracht. Obwohl der
Enkel die Heilpflanzen angesichts einer bloß erzählten Pest nicht buchstäblich
einnehmen muss, werden sie doch über diese Erzählung inkorporiert, als Erinnerung in seinem Inneren gespeichert und tun dort ihre Wirkung. Dass Stifter hier
auf die verbreitete Sage vom heilbringenden Vogel zurückgreift,64 ergibt auch
insofern pharmakologisch Sinn, als dieser ein Bewohner jener Luft ist, die ein
entscheidendes Medium von Krankheit bzw. Gesundheit ist. Als „milde Frühlingsluft“ hat sie einerseits mutmaßlich die Krankheit gebracht (HKG 2/2, S. 37), als
von menschlichen Ausdünstungen reine „Luft“ soll sie andererseits den Pechbrennern zur Rettung dienen (HKG 2/2, S. 46). Luft ist nicht nur eine Trägersubstanz von Gesundheit und Krankheit – für Christoph Wilhelm Hufeland etwa
können manche Krankheiten auch durch die Luft übertragen werden, weshalb er
einen Aufsatz Atmosphärische Krankheiten und atmosphärische Ansteckung überschreibt.65 Reine Luft ist darüber hinaus selbst ein essentielles Pharmakon, wie
Stifter in der Tradition der Diätetik nicht müde wird zu betonen – insbesondere im
vierten der Winterbriefe aus Kirchschlag –, und der Vogel darf daher als ihr
symbolischer Agent angesehen werden. Metonymisch mit ihm verbunden sind in
der Folge ein bzw. mehrere andere Bäume, nämlich die nicht weniger als fünfmal
erwähnten, nächtlich „schwarzen Vogelbeerbäume“, deren Farbe auf Pech und
Pest verweist. In ihrem Bild zieht sich das Unheimliche der Pestgeschichte zusammen.66 Unter der hier vorgeschlagenen Perspektive ist das kein Zufall, denn in
der volkstümlichen Medizin wurden die Beeren der Eberesche zwar auch – wie
Enzian und Pimpinell – zu Heilzwecken verwendet und sollten insbesondere eine
apotropäische Wirkung haben, galten aber im frischen Zustand lange Zeit als
giftig. Der Gedanke an den ‚Mithridatismus‘ liegt angesichts dieses Feldes von
Ambivalenzen zwischen Krankheit und Gesundheit, Gift und Antidot nicht zuletzt
auch darum nahe, weil die vor der Etablierung der Bakteriologie und der Keimtheorie unklaren Prozesse der Ansteckung durch Infektionskrankheiten immer
wieder auch in die Nähe einer Übertragung von Gift gerückt wurden; vom „Blatterngift“ oder „Pockengift“ ist verschiedentlich die Rede.67
64 Vgl. den Kommentar in HKG 2/3, S. 268.
65 Vgl. dazu Zumbusch: Die Immunität der Klassik (Anm. 30), S. 58 f.
66 „Du kannst dir denken, wie es war, wenn du betrachtest, wie schon hier die Nacht ist, wie der
Mond so schauerlich in den Wolken steht, wo wir doch schon so nahe an den Häusern sind, und
wie er auf die schwarzen Vogelbeerbäume unsers Nachbars hernieder scheint“ (HKG 2/2, S. 54,
vgl. S. 58, 60).
67 Zumbusch: Die Immunität der Klassik (Anm. 30), S. 57, 60, 63, 65.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
27
Die Erzählung des Großvaters, der die Vogelbeerbäume zur bildlich kontrahierten Verdichtung seiner Pestgeschichte macht, darf man darum als eine mediale Vergiftung begreifen – freilich eine heilsame. Denn vor dem skizzierten
Hintergrund ließe sich sagen, dass seine tragische Erzählung als Impfung gegen
das Schicksal wirkt, indem sie, eingedenk des auf Paracelsus zurückgehenden
Lehrsatzes, dass es die Dosierung sei, die den Unterschied zwischen Heilmittel
und Gift ausmache („dosis sola venenum facit“),68 dem Zuhörer das ‚Gift‘ in
medial abgeschwächter, erzählstrategisch gerahmter und abgesicherter Form verabreicht, um ihn zu immunisieren.69 Durch die spezifischen Mittel der Erzählung
und ihre zeitliche Distanz vom Erzählten ist dabei auch für den kleinen Jungen
der Schiller’sche Vorbehalt der Wirkung des Erhabenen und Pathetischen erfüllt,
dass wir uns nämlich zunächst in Sicherheit vor der Gefahr befinden müssen, um
von dieser nicht schlechterdings überwältigt zu werden und ihre Repräsentation
als therapeutisch erfahren zu können.70 Nur als ein „künstliches Unglück“71 kann
das Entsetzliche zum heilsamen Gift werden – auch in diesem Punkt berühren
sich medizinische und narrative Impfung.
Die Konstruktion der Landschaft als Memorialraum erweist in diesem Lichte
erneut ihre Funktion im kindlichen Lernprozess. Wenn der traumatische Trennungsakt erst die Außenwelt als eine vom Ich unabhängige Größe erkennbar
werden lässt, so muss diese nun als verbindliche Instanz vom Ich und ins Ich
übernommen werden. Das gilt für ihre Ordnung, aber auch für ihre verstörenden
und katastrophalen Elemente, gegen die die Impfung auf den Plan tritt. Es kommt
darauf an, dass die vom Großvater ‚hereingetragene‘, durch das Ohr vorgenommene mentale und psychische Inokulation nicht wieder durch Vergessen ver68 „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die dosis machts, daß ein Ding kein Gift
sei.“ Theophrastus Paracelsus: Sieben Defensiones. Die dritte Defension wegen des Schreibens
der neuen Rezepte. In: T.P.: Werke. Hg. von Will-Erich Peuckert. Darmstadt: WBG 1965, Bd. 2,
S. 508–513, hier S. 510.
69 Mit Strategien der Immunisierung durch Erzählen, Lesen und Schreiben experimentiert Stifter
letztlich bereits in den heterogenen und heterogene Wirkungen hervorrufenden therapeutischen
Aufschreibesystemen der Narrenburg und der Mappe meines Urgroßvaters. In der Narrenburg
scheitert der Versuch einer ‚Impfung‘ durch Autobiographik: Die intendierte Vereitelung des
Familienübels der Narrheit misslingt, weil die Schrift in der Lektüre eine quasi infektiöse Wirkung
entfaltet und darin illustriert, dass die Impfung in Gefahr schwebt, die Krankheit, gegen die sie
immunisieren soll, erst hervorzurufen. Beim Verfahren des Aufschreibens und Wiederlesens in
der Mappe handelt es sich demgegenüber um eine gelingende Selbstimmunisierung, die die
„Gewalt des Gewordenen“ gegenüber der Willkür subjektiven Begehrens zu akzeptieren lehrt
(HKG 1/1, S. 337). Zu den Differenzen dieser Verfahren vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen
(Anm. 5), S. 242–259.
70 Schiller: Über das Erhabene (Anm. 37), S. 804 f.
71 Schiller: Über das Erhabene (Anm. 37), S. 805.
28
Christian Begemann
lorengeht. Sie muss vielmehr internalisiert werden in dem Sinne, dass sie zum
festen Bestandteil der Person wird. Ist das „Unglük“, das kindliche wie das
kollektive, jeweils von außen „herein gebrochen“ (HKG 2/2, S. 27) – Infektionen
im Wortsinn –, so muss der Impfvorgang diesen Prozess imitieren und gleichfalls
einen Innenraum, den der Person, kontaminieren, um in ihm seine immunisierende Kraft zu entfalten. Das führt Granit dadurch vor, dass der Rückweg als ein
Prozess der Rekapitulation, Wiederholung und Einprägung gezeigt wird. Das
Gelernte wird jetzt noch einmal rückwärts im Begehen des vorher bereits etablierten Gedächtnisraums mit seinen Landmarken durchlaufen: „Wir waren während der Erzählung des Großvaters in die Dürrschnäbel gekommen, wir waren an
der Drillingsföhre vorüber gegangen, und unter den dunkeln Stämmen auf dem
fast farblosen Grase bis zu den Feldern von Oberplan gekommen“ (HKG 2/2,
S. 49), und eine weitere solche Stelle folgt etwas später.72 Das Erzählte schreibt
sich so den Dingen der Landschaft als Merkzeichen selbst unvergesslich ein.
Zielsicher fallen die Mondstrahlen nun auch wieder auf den Vogelbeerbaum im
Nachbargarten (HKG 2/2, S. 58). Nur was gehört, dann gesehen und bestätigt und
dann noch einmal redupliziert und ‚topographisch‘ memoriert wird, ‚fleischt‘ sich
dem Ich ein, um die Wendung der Mutter zu variieren. Die psychische Impfung
entfaltet ihre Wirkung durch eine Koalition mit dem Gedächtnis, und das teilt sie
mit der medizinischen Immunisierung, denn auch diese, so lässt sich sagen,
„formt ein Gedächtnis, das Reaktionen verändert und beschleunigt“.73 Schon
vorher hatte es ein Zwischenresümee gegeben, in dem ganz konsequent die
Geschehnisse der Pestgeschichte sich in einer Art von Kopräsenz in die aktuellen
Wahrnehmungen der friedlichen ländlichen Wirklichkeit eintragen: „und die
Dinge [auf dem Hof des Machtbauern in Melm] gesellten sich zu denen, mit denen
ohnehin mein Haupt angefüllt war, zu Drillingsföhren Todten und Sterbenden
und singenden Vöglein“ (HKG 2/2, S. 43). Dieser Prozess kulminiert am Ende im
Traum des Kindes. Dieser ratifiziert die Internalisierung der großväterlichen Lehre
und zeigt, dass sie Teil des Ichs geworden ist:
Aber der erste Schlaf ist doch kein ruhiger gewesen. Ich hatte viele Sachen bei mir, Todte,
Sterbende, Pestkranke, Drillingsföhren, das Waldmädchen, den Machtbauer, des Nachbars
Vogelbeerbaum, und der alte Andreas strich mir schon wieder die Füsse an. Aber der Verlauf
des Schlafes muß gut gewesen sein; denn als man mich erwekte, schien die Sonne durch die
72 „Wir waren, während der Großvater erzählte, durch die Felder von Oberplan herab gegangen,
wir waren über die Wiese gegangen, in welcher das Behringer Brünnlein ist, wir waren über die
Steinwand gestiegen, wir waren über den weichen Rasen gegangen, und wir näherten uns bereits
den Häusern von Oberplan“ (HKG 2/2, S. 54). Vgl. dazu auch Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell (Anm. 16), S. 135 f.
73 Türk: Die Immunität der Literatur (Anm. 30), S. 15.
Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum
29
Fenster herein, es war ein lieblicher Sonntag […] die Dinge der Nacht waren dahin, und der
Vogelbeerbaum des Nachbars war nicht halb so groß als gestern. (HKG 2/2, S. 60)
Beschrieben wird hier eine Art von Wiedergeburt nach einer symbolischen „Passage des Todes“.74 Das heilsame ‚Gift‘ der Erzählung ist vom Körper aufgenommen und verarbeitet worden, die verabreichte Dosis hat sich gewissermaßen auf
die Hälfte abgebaut, und der Schrecken des Vortags ist dadurch minimiert. Dass
diese „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“ aber weiterhin wirksam
bleibt, belegt die Tatsache, dass die Geschehnisse Jahrzehnte später detailliert
erinnert und als Granit erzählt werden – so jedenfalls behauptet es der Erzähler.
Während der Großvater also vordergründig eine metaphysische Deutung des
Geschehens vertritt, praktiziert er de facto eine gleichermaßen medizinisch wie
tragödientheoretisch informierte säkulare Praxis des Erzählens. Elisabeth Strowick hat in Stifters Erzählung eine „Poetik des Unreinen“ diagnostiziert. Während
Stifter als Privatmann und Autor der Erzählung Aus dem Bairischen Walde „vom
Signifikanten der ‚Reinheit‘, den er mit Gesundheit assoziiert, geradezu besessen
ist“,75 werde de facto Ansteckung als poetisches Verfahren praktiziert. Strowick
zeigt das v. a. an Grenzüberschreitungen und Kontaminationen der Erzählräume
und der „Infektion mit dem Erzählen“ selbst,76 das vom Großvater auf den Enkel
übergeht. Ihre These kulminiert in der Feststellung, Stifters Erzählverfahren lasse
sich als „Poetik der Ansteckung“ beschreiben: „Nicht heilend also, sondern
heillos ist das Erzählen, das Stifters Granit praktiziert“.77 Bei aller Nähe zu dieser
suggestiven These scheint mir doch, dass Stifters Erzählverfahren auf eine andere
Pointe hinausläuft, denn das Moment der Ansteckung als Impfung gerät hier
nicht in den Blick. Zunächst würde ich eher behaupten, dass sich bei Stifter eine
Interferenz einer Poetik des Unreinen mit einer Poetik des Reinen zeigt, letztere
greifbar etwa in den Reinigungsritualen des Textes ebenso wie in den sprachlichbegrifflichen Separierungen der wahrgenommenen einzelnen Dinge auf dem Weg
durch die Landschaft. Mit Blick auf das Impfparadigma könnte man sagen, dass
die Poetik des Unreinen in den Dienst der Poetik des Reinen genommen wird.
Tatsächlich lässt Stifter das Reinheitsbegehren der Pechbrenner, die sich in der
reinen Luft des Hochwaldes (HKG 2/2, S. 46 f.) durch räumliche Distanzierung der
Ansteckungsgefahr entziehen zu können glauben, kollabieren – ein Verfahren,
das der ansteckungsphobische Autor übrigens Jahre später angesichts der Cholera in Linz selbst noch praktiziert. An seine Frau Amalia schreibt er am 17./
74
75
76
77
Simon: Eine strukturale Lektüre zu Stifters Granit (Anm. 3), S. 35.
Strowick: Stifters ‚Poetik des Unreinen‘ (Anm. 33), S. 74.
Strowick: Stifters ‚Poetik des Unreinen‘ (Anm. 33), S. 79.
Strowick: Stifters ‚Poetik des Unreinen‘ (Anm. 33), S. 78.
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Christian Begemann
18. August 1866 unter Berufung auf Andreas Baumgartner: „‚Vor der Cholera, gibt
es nur ein sicheres Schutzmittel, nicht dort zu sein, wo sie ist‘“,78 sondern an
einem ‚immunen Ort‘. Da das aber, wie Granit zeigt, nicht funktioniert, hilft nur
das Verfahren eines „strategischen Einschlusses“,79 einer kontrollierten Kontamination mit einer immunisierenden Dosis der Krankheit – im Medium des Erzählens. An die Stelle der älteren Praxis des Aus- und Abschlusses tritt die handlungsleitende Vorstellung vom eingeschlossenen Ausgeschlossenen. Immunität
soll durch gezielte Verunreinigung erreicht werden, und es ist signifikant, dass
gerade die Geschichte eines falschen Immunisierungsversuchs gegen die Krankheit selbst zum Impfstoff wird.
Vielleicht ist noch eine Differenz zwischen medizinischen und poetischen
Inokulationen festzuhalten. Letztere sind zwar nach dem Vorbild der Ersteren
modelliert, springen aber gerade dort ein, wo diese versagen. Gegen die Pest gibt
es bis heute keine zuverlässige Impfung, die Impfung gegen die Cholera entwickelte Louis Pasteur erst Jahre nach Stifters Tod (seit etwa 1880). Aber gerade
weil diese Krankheiten auf diesem Weg (noch) nicht bekämpfbar waren, musste
die mentale und psychische Inokulation gegen das unvermeidliche Schicksal
überhaupt in die Bresche springen. Das impfende Erzählen ist die Kompensation
einer fehlenden medizinischen Impfung. Es ist insofern keineswegs „heillos“,
sondern bei all seinen schaurigen Momenten ein Mittel der Heilung und der
Rettung – auch wenn die Impfwirkung dem, wogegen sie schützen soll, verdächtig ähnlich sieht: Gegen den Tod und die permanent und unabweislich
drohende Zerstörung der Ordnung hilft nur, dieses Faktum zu inkorporieren.
Die letzten Sätze von Stifters Erzählung lauten:
Wie es aber auch seltsame Dinge in der Welt gibt, die ganze Geschichte des Großvaters weiß
ich […] aber von den Pechspuren, die alles einleiteten, weiß ich nichts mehr, ob sie durch
Waschen oder durch Abhobeln weggegangen sind, und oft, wenn ich eine Heimreise
beabsichtigte, nahm ich mir vor die Mutter zu fragen, aber auch das vergaß ich jedes Mal
wieder. (HKG 2/2, S. 60)
Das ist kein Widerspruch gegen meine These vom Gedächtnisraum. Im Gegenteil.
Denn wer sich die Strategie des Großvaters derart ‚eingefleischt‘ hat, dass er sie
noch nach Jahrzehnten wörtlich wiedergeben kann, bedarf keiner Pechspuren auf
den Dielen mehr. Diese Spuren haben sich vielmehr als Gedächtnistext und als
Erzähltext verewigt.
78 PRA, Bd. 21, S. 273.
79 Zumbusch: Immunität der Klassik (Anm. 30), S. 18. Vgl. auch Türk: Die Immunität der
Literatur (Anm. 30), S. 47, 125.