Die Schweiz und das literarische Exil (1933–1945)
Von
Von Kristina Schulz
Seit dem Erscheinen des so genannten Bergier-Berichts im Jahre 2001/2002
kann die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg als weitgehend erforscht
gelten1. Der Bericht ermöglichte es auch, einen Gesamtüberblick über die
schweizerische Flüchtlingspolitik zu gewinnen2. Doch obwohl der Einberufung der Expertenkommission im Jahre 1996 historische Arbeiten vorausgingen, welche die vorherrschende Vorstellung der Schweiz als ein seiner humanitären Tradition folgendes Asylland und Bewahrerin der Demokratie
kritisch hinterfragten und als Teil einer nationalen „Rechtfertigungsideologie“3 betrachteten, damit auf der Ebene von in den 1930er Jahren offiziell
propagierten – und bis heute wirksamen – Werten, Leitbildern und Ideen
ansetzten, befasste sich die Bergier-Kommission nicht mit deren Vermittlern:
hommes des lettres, Gelehrten und Schriftstellern4. Gerade an der Schnittstelle zwischen einer – unten noch auszuführenden – Kultur der „Geistigen
Landesverteidigung“, die zu stärken die schweizerischen Schriftsteller von
den politischen Autoritäten aufgerufen waren, und der Haltung gegenüber
Flüchtlingen jedoch lässt sich, so die These des vorliegenden Beitrags, zeigen, wie komplex und kontrovers das Verhältnis der Schweiz zu Deutschland
auch im Feld der kulturellen Produktion war und welche Schwierigkeiten
sich aus dem doppelten Selbstverständnis des Alpenlandes, einerseits als ein
1 Die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ (UEK) hat in 25
Monographien mit insgesamt mehr als 25 000 Seiten umfassende Analysen der politischen,
militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus vorgelegt. Eine stark gekürzte Version liegt vor: Pietro BOSCHETTI, Les Suisses et
les nazis. Le rapport Bergier pour tous, Genève 2004.
2 Kurt IMHOF [u. a.], Die Flüchtlings- und Außenwirtschaftspolitik 1930–1948 im Kontext der öffentlichen politischen Kommunikation 1938–1950, sowie Unabhängige Expertenkommission, Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, beide:
Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg,
Zürich 2001–2002. Weitere Einzelstudien nuancieren diesen Überblick, wie kürzlich: Jörg
KRUMMENACHER, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur
Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2005.
3 Georg KREIS, Die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1933–1945, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1997), S. 552–579, hier: S. 571.
4 Eine einzige Teilstudie befasst sich mit dem kulturellen Bereich: Esther FRANCINI
[u. a.], Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–
1945 und die Frage der Restitution, Zürich 2002. Einen vorbildlichen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke leistet Ursula AMREIN, „Los von Berlin“. Die Literatur- und
Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich“, Zürich 2004.
2
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
Ort der Zuflucht für Fremde, andererseits als eine selbständige, sich von den
sie umgebenden totalitären Regimen abgrenzende helvetische Gemeinschaft,
ergaben.
Fokussiert auf die Jahre 1933 bis 1945, bezieht der vorliegende Beitrag die
Ergebnisse der neueren Forschungen zur Flüchtlingsfrage (I) auf die Situation des kulturellen, genauer: des literarischen Feldes der deutschsprachigen
Schweiz. Denn hier, in der Propagierung einer „Geistigen Landesverteidigung“, manifestierte sich das politische Konzept der Schweiz als Willensnation (II)5. Vor diesem Hintergrund wird schließlich die Haltung gegenüber
literarischen Flüchtlingen betrachtet (III).
I. Die Schweiz als Flüchtlingsland
Das Thema der Flüchtlingspolitik der Jahre 1933 und 1945 hat seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs Konjunkturen der öffentlichen Aufmerksamkeit
durchlaufen und seine Aufarbeitung bzw. deren Ausbleiben unterlag zeitgebundenen Erkenntnisinteressen, wie dem Bedürfnis nach moralischer Stabilisierung (ausbleibende Auseinandersetzung im Nachkriegsjahrzehnt), der
Suche nach den „Tätern“ (1960er Jahre6) oder schließlich dem Ziel, an die
seit zwei Jahrzehnten international geführte Debatte über Schuld und Mitschuld (1980er und 1990er Jahre7) anzuschließen. Auf der Grundlage der
vorliegenden Arbeiten lassen sich Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsströme
charakterisieren.
Bereits im Kontext des Ersten Weltkriegs ging die Schweiz zu einer Politik
der Grenzkontrolle und Grenzschließung über8. Diese richtete sich insbesondere auch gegen Juden, deren Anträge auf Einbürgerung wesentlich strenger
5
Die Studie, aus welcher der vorliegende Beitrag über das literarische Feld der deutschsprachigen Schweiz hervor geht, untersucht die Auswirkungen der Aufnahme französischer und deutscher Autoren auf das Ankunftsland.
6 Alfred A. HÄSLER, Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge, Zürich 1967.
7 Z. B. André LASSERRE, Frontières et camps. Le refuge en Suisse de 1945 à 1945,
Lausanne 1995; Georg KREIS, Die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1933–
1945, Basel 1997; Jürg STADELMANN, Umgang mit Fremden in bedrängter Zeit.
Schweizerische Flüchtlingspolitik 1940–1945 und ihre Rezeption bis heute, Zürich 1998.
Auch die Arbeit der Bergier-Kommission, deren öffentliche Finanzierung durch den
schweizerischen Bundesrat gebilligt wurde, sowie Veröffentlichungen wie der eher journalistische Essay von Anne WEILL-LEVY [u. a.], La discrimination, principe directeur de la
politique d’immigration, 2 Bde., Genève 1999 und 2003, stehen im Kontext dieses auflebenden Interesses. Einen grundlegenden Überblick über die jüngere Forschungsentwicklung gibt Georg KREIS, Die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1933–1945, in:
Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1997), S. 552–579.
8 Die Eidgenössische Zentrale für Fremdenpolizei wurde 1917 als Einheit des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) gegründet um, gegen die „ausländische
Überbevölkerung“ zu kämpfen.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
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behandelt wurden als die anderer Einreisewilligen. Die wirtschaftliche Krise
der Zwischenkriegszeit führte zu einer Radikalisierung in der Ausländerpolitik, die jedoch zunächst keine gezielte Flüchtlingspolitik vorsah. Für den
Aufenthaltsstatus des weit überwiegenden Teils der (zivilen) Flüchtlinge war
das 1931 beschlossene und 1934 in Kraft getretene „Bundesgesetz über den
Aufenthalt und die Niederlassung der Ausländer“ (ANAG) maßgeblich, das
zwischen drei Aufenthaltskategorien unterschied: der unbeschränkten Niederlassung und einer zeitlich begrenzten Aufenthaltsgenehmigung (beide
Kategorien setzten das Vorhandensein gültiger Ausweispapiere des Heimatstaats voraus) sowie einer von den kantonalen Instanzen zugesprochenen, auf
drei bis sechs Monate beschränkten Autorisierung des Aufenthalts (sogenannte Toleranzbewilligung). Letzterer Status, der für die zumeist ohne gültige Dokumente in die Schweiz eingereisten Flüchtlinge als einziger in Frage
kam, wurde auf die Mehrheit der geschätzten 60 000 Zivilflüchtlinge in der
Zeit des Krieges angewandt9. Damit galt für die Flüchtlinge ein Regelwerk,
das ursprünglich die Einwanderungsfrage regeln sollte und auf die besondere
Situation durch die totalitaristischen Regime der Nachbarstaaten Verfolgten
keine Rücksicht nahm. Erst 1942 führten die Behörden den Status des
„Flüchtlings“ ein. Diese Flüchtlinge (auch „internierte Flüchtlinge“) wurden
bei ihrer Ankunft in die Schweiz in Flüchtlingslager eingewiesen und unterlagen der Arbeitspflicht10.
Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen macht es schwer,
ein einheitliches Bild der Gewährungspraxis zu zeichnen. Für alle Instanzen
galt jedoch vor und während des ganzen Zweiten Weltkrieges die Maxime,
dass die Schweiz wesentlich ein Durchgangsland darstelle und die Flüchtlinge gehalten seien, möglichst schnell ihre Ausreise in ein anderes „sicheres“ Land vorzubereiten. Mit der Zuspitzung der politischen Situation in
Europa nach 1938 und der immer radikaleren Judenverfolgung in Deutschland sowie den im Krieg von Deutschland besetzten Ländern verringerten
sich die Möglichkeiten einer solchen Weiterreise immer mehr, so dass es
zunehmend schwieriger wurde, diese Maxime in der Praxis beizubehalten.
Auf den „Anschluss“ Österreichs reagierte die Schweiz mit einer Verschärfung der Grenzkontrollen, einer Zunahme der Ausweisungen und einer rigorosen Politik der Ablehnung insbesondere jüdischer Flüchtlinge aus dem
9 BOSCHETTI, Les Suisses (Anm. 1), S. 57. Boschetti, der auf die Schwierigkeiten hinweist, zuverlässige Zahlen zu erhalten, differenziert zwischen 51 129 zivilen Flüchtlingen,
etwa 2 000 Inhabern einer vorübergehenden kantonalen Toleranzbewilligung und 7 000 bis
8 000 Emigranten, die bereits vor Kriegsausbruch in der Schweiz lebten. Dazu kamen circa
104 000 militärische Flüchtlinge, die, gemäß der Konventionen von La Haye aus dem Jahre 1907, in der Schweiz interniert waren.
10 Im Anschluss an die Benennungspraxis der UEK wird im vorliegenden Beitrag der
Begriff des Flüchtlings zusammenfassend für politische Flüchtlinge, Emigranten und internierte Flüchtlinge benutzt.
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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
„Reich“11. Angestrebt wurde von Seiten der schweizerischen Autoritäten eine
Ausweitung der Visumspflicht für sämtliche Deutschen, die eine Einreise in
die Schweiz begehrten. Diese Lösung, von der eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen zu erwarten gewesen wäre, da das Empfängerland, also die
Schweiz, in jedem Fall einzeln über Genehmigung oder Zurückweisung hätte
entscheiden können, war im Hinblick auf die diplomatischen (und auch wirtschaftlichen) Beziehungen zu Deutschland nicht durchsetzbar. Schließlich
verzichteten die schweizerischen Autoritäten auf die uneingeschränkte Visumspflicht. Im Gegenzug kennzeichneten die deutschen Behörden die Pässe
deutscher Juden mit einem deutlich sichtbaren „J“. Wenn auch auf Seiten der
schweizerischen Behörden durchaus Bedenken gegen diese Form der Ausweisung bestanden, weil sie – sollte Deutschland die Gegenseitigkeit der
Maßnahme einfordern – auch schweizerische Juden treffen konnte und sie
zudem Gefahr lief, Widerstand aus der Öffentlichkeit zu provozieren, unterzeichneten die deutsche und die schweizerische Seite am 29. September 1938
ein entsprechendes Protokoll. Folgt man dem Bergier-Bericht, führten der
Bundesrat mit der Billigung dieses Beschlusses die rassistische Konzeption
der nationalsozialistischen Gesetzgebung in das Verwaltungsrecht der
Schweiz ein12.
Mit dem Kriegsausbruch erlebte die Eidgenossenschaft die Heimkehr von
(bis 1945) insgesamt über 50 000 Auslandsschweizern und sah sich dem
Drängen auf Einreise zehntausender von Flüchtlingen ausgesetzt. Da das
Selbstverständnis als Transitland sich nun nicht mehr als wirklichkeitsgerecht
erwies13, bedurfte es aus der Sicht der schweizerischen Autoritäten einer
noch strengeren Zurückweisung von „illegalen“, d. h. ohne Visa eingereisten
Flüchtlingen14.
Gleichzeitig, besonders aber seit 1942, als man die Juden in Deutschland
nicht mehr aufforderte, das Land zu verlassen, sondern sie verhaftete, vor Ort
tötete oder aber in die Gaskammern der Vernichtungslager brachte, stieg die
Anzahl der Flüchtlinge, die versuchten, die Grenze zur Schweiz „illegal“ zu
überqueren. Für diesen Fall sah das schweizerische Fremdenpolizeireglement
die sofortige Zurückweisung und – bei nochmaliger Festnahme – die Auslie11 Der österreichische „Anschluss“ wurde am 12. März 1938 entschieden. Am 28. März
beschloss der schweizerische Bundesrat die Visumspflicht für Inhaberinnen und Inhaber
des österreichischen Passes. Bis zum 1. April 1938 reisten, Schätzungen entsprechend,
3 000 bis 4 000 Flüchtlinge aus Österreich in die Schweiz ein.
12 BOSCHETTI, Les Suisses (Anm. 1), S. 36. Am 18./19. August 1938 beschloss der Bundesrat, dass sämtliche Flüchtlinge ohne Visa zurückzuweisen seien, selbst wenn ihr Leben
dadurch in Gefahr war. Am 4. Oktober 1938 wurde eine Visumspflicht für „Nicht-Arier“
eingeführt.
13 Für jene, die, größtenteils vor dem Krieg, eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten, die Schweiz aber nach Ausbruch des Krieges nicht mehr verlassen
konnten, schuf man im Oktober 1939 den rechtlichen Status des Emigranten.
14 Ab September 1939 galt die allgemeine Visumspflicht.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
5
ferung an die Behörden des Herkunftslandes vor15. Dies traf wiederum die
am stärksten von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik Betroffenen:
Juden, aber auch Osteuropäer sowie Roma und Sinti, auf die der Status des
„politischen Flüchtlings“ nicht angewendet wurde, galten sie doch als Flüchtlinge aufgrund rassischer oder antisemitischer, nicht aber aufgrund politischer Verfolgung.
Zahlreich sind die Belege dafür, dass die strengen Regelungen in einzelnen
Kantonen, in bestimmten Grenzabschnitten sowie unter dem Einfluss vieler
lokaler Verantwortlicher und der lokalen Bevölkerung nicht eingehalten und
auf diese Weise viele Menschen gerettet wurden16. Im Herbst 1943 wurde
auch von offizieller Seite für eine Mäßigung der Aus- und Rückweisungspraxis plädiert. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als nach dem Fall des faschistischen Regimes in Italien und der Besetzung Norditaliens durch Hitlers
Truppen Tausende von Flüchtlingen von Süden her versuchten, die schweizerisch-italienische Grenze zu überschreiten. Doch erst im Juli 1944 wurde die
Gesetzgebung entsprechend geändert und der Status des Flüchtlings auch auf
Juden angewandt17. Die Zahl der im Zweiten Weltkrieg an der Grenze Abgewiesenen wird – unter Vorbehalt – insgesamt auf mindestens 24 500 geschätzt18.
II. Die „Geistige Landesverteidigung“ der Schweiz
Die Erforschung der „Geistigen Landesverteidigung“ ist Produkt und Produzent zugleich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Selbstbild der
Schweiz als „einig in der Vielheit“19. Eine sich seit den 1970er Jahren konturierende reflexive Wende in der schweizerischen Historiographie der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs hat dazu geführt, die reale Exi15 Vgl. Kreisschreiben des EJDP, Mésures contre l’affux des réfugiées étrangers civils et
militaires. Berne, 13 août 1942, Confidentiel, N° 296; dazu WEILL-LÉVY, Discrimination
(Anm. 7), S. 21 ff.
16 Dazu auch: Jean-Pierre RICHARDOT, Die andere Schweiz. Eidgenössischer Widerstand
1940–1944, Berlin 2005.
17 Als Grund für die Öffnung vermutet Stadelmann (STADELMANN, Umgang [Anm. 7],
S. 94 ff.), dass aufgrund der nachlassenden Kriegserfolge Deutschlands der Druck der
Deutschen auf die Schweiz nachließ, ferner die Lebensbedingungen von Regimegegnern in
Deutschland und die Verfolgung der Juden immer mehr bekannt wurden. Von einem völligen Gesinnungswandel könne jedoch, auch angesichts der Kontinuität der „Überfremdungsabwehr“ nach 1945, nicht gesprochen werden. Etwas weniger als die Hälfte der
Flüchtlinge, die in die Schweiz gelangten, waren Juden.
18 UEK, Flüchtlinge (wie Anm. 1), S. 31. Diese Schätzung bezieht sich auf jene Abweisungen, die Spuren hinterlassen haben. Die Zahl der tatsächlich Zurückgewiesenen dürfte um
vieles höher liegen.
19 Emblematisch: Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität, hrsg. von Guy
P. Marchal und Aram Mattioli, Zürich 1989.
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stenz der Einheit zu hinterfragen. Bis heute ist der Begriff der „Geistigen
Landesverteidigung“ Gegenstand konkurrierender Geschichtsinterpretationen20. Je nach Erkenntnisinteresse und Wertverhaftung der Forschenden wird
dabei die „Geistige Landesverteidigung“ entweder als „heroisches Kollektiverlebnis“ des Widerstandes gegen die faschistische Herrschaft gedeutet oder,
mit dem Blick auf die restriktive Flüchtlingspolitik, als „Anpassung“21. Der
Historiker Hans-Ulrich Jost und der Literaturwissenschaftler Charles Linsmayer zählen zu den frühen Vertretern der These, die Schweiz habe sich
noch in der Abwehr an dem nationalsozialistischen Feind orientiert, indem
sie „selbst im Streben nach nationaler Unabhängigkeit [...] Elemente der
politischen Kultur des Gegners“22 übernahm. Bestrebt, sich von einer Interpretation der geistigen Landesverteidigung als anti-totalitäre Haltung abzugrenzen, schlugen sie den Begriff des „helvetischen Totalitarismus“23 bzw.
des „demokratischen Totalitarismus“24 vor. Mit dem Hinweis auf die vielfältigen Bedeutungszuschreibungen des Wortes streben neuere Forschungen an
zu zeigen, wie das Schlagwort von unterschiedlichen historischen Akteuren
benutzt und gedeutet wurde. Im Folgenden geht es zum einen darum, in Abgrenzung zu anderen konkurrierenden Definitionen der „Geistigen Landesverteidigung“ die wesentlichen Elemente jener zeitgenössische Interpretation
zu charakterisieren, die sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als dominierendes Konzept durchsetzte; zum anderen zu zeigen, auf welchen Wegen
sich über den Begriff der „Geistigen Landesverteidigung“ das politische
Konzept der Willensnation kulturalisieren ließ.
Ein Begriff – divergierende Interpretationen
Gelang es, mit dem Stichwort der „Geistigen Landesverteidigung“ nach außen ein Bild der Einheit zu vermitteln, stellte es, Mooser folgend, zumindest
bis 1939 innenpolitisch nur einen Minimalkonsens dar, der auf dem Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt, zur dezentralen Organisations- und Entschei20 Vgl. im folgenden bes. Joseph MOOSER, Die „Geistige Landesverteidigung“ in den
1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen
politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte
47 (1997), S. 685–708. Zur Problematik ebenfalls: Hans AMSTUTZ, Das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Schweiz in den Jahren 1930–1945, Aarau 1996.
21 Vgl. MOOSER, Geistige Landsverteidigung (Anm. 20), hier: S. 686 f.
22 Ebd., S. 687.
23 Hans-Ulrich JOST, Bedrohung und Enge (1914–1945), in: Geschichte der Schweiz und
der Schweizer, Basel 1986, S. 731–819, hier: S. 761. Jost lehnt allerdings die Ausschließlichkeit von „Widerstand“ versus „Anpassung“ ab.
24 Charles LINSMAYER, Die Krise der Demokratie als Krise ihrer Literatur. Die Literatur
der deutschen Schweiz im Zeitalter der Geistigen Landesverteidigung, in: Frühling der
Gegenwart. Deutschschweizer Erzählungen 1890–1950, hrsg. von Andrea Linsmayer und
Charles Linsmayer, Frankfurt a. M. 1990, S. 436–493, hier: S. 463.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
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dungsstruktur sowie eine Abwehrhaltung nach außen beruhte25. Die Verwendung des Begriffs der „kulturellen Landesverteidigung“ wurde bereits für die
ausgehenden 1920er Jahre nachgewiesen26. Benutzt wurde er von einem
radikal-demokratischen Nationalrat, Jakob Zimmerli, der einen Antrag auf
Subventionen des SSV verteidigte mit dem Argument, es gelte, gegen die
„Überfremdung“ des literarischen Marktes anzukämpfen. Ab 1933 eigneten
sich unterschiedliche politische Strömungen den Begriff der „Geistigen Landesverteidigung“ an und gaben ihm eine jeweils andere Deutungsvariante27.
Idealtypisch sind eine neokonservative, eine liberale und eine linke Interpretation zu unterscheiden. Dargestellt werden ihr jeweiliger historischer Bezugspunkt, die Erwartungen an die gesellschaftliche Organisation, die anzustrebende Staatsform sowie die Definition des Verhältnisses zwischen Bürger
und Staat.
Historischer Bezugspunkt: Der positive Bezugspunkt für den seit Anfang
des 20. Jahrhunderts sich entfaltenden neuen Konservativismus war die Gesellschaft der Vormoderne. Die am exponiertesten durch den reaktionären
Freiburger Gelehrten und Schriftsteller Gonzague de Reynolds (1880–1970)
hervorgebrachte Modernisierungskritik betrachtete die Französische Revolution als Anfang vom Ende bewährter Werte und Ordnungen, ein Prozess, der
aus dieser Sicht mit einer schädlichen Urbanisierung und Kapitalisierung
einer ehemals „heilen“, ländlichen Welt einherging. Im Gegensatz zu dieser
rückwärts gewandten Vision bezogen Vertreter des bürgerlich-liberalen Bürgertums, die ihr Sprachrohr in alten bürgerlichen Zeitungen wie der „Neuen
Zürcher Zeitung“ hatten, sich zwar ebenfalls auf die Französische Revolution, deuteten diese aber als Beginn einer demokratischen, bürgerlichen Revolution, die ihre erfolgreiche Weiterführung 1848 fand. Hierin trafen sich
ihre Vorstellungen mit denen der Sozialdemokratischen Partei, die, wenngleich sie an der Eigenständigkeit der Arbeiterinteressen festhielt, mit ihrem
Parteiprogramm von 1935 auf das Ziel einer von der Arbeiterklasse getragenen Revolution der Gesellschaft verzichtete und sich zum „Arbeitsfrieden“
bekannte.
25 Jakob Tanner weist auf unumstritten geltende Orientierungsmuster hin, die eine gewisse
Übereinstimmung und Kontinuität erklären: die „Anerkennung einer kulturellen Kraftfeldervielfalt, eine ausgeprägte bottom-up Organisation der politischen Willensbildung sowie
dezentralisierte Entscheidungsprozesse“, verbunden mit struktureller „Führerlosigkeit“.
Vgl. Jakob TANNER, „Die Ereignisse marschieren schnell“. Die Schweiz im Sommer
1940, in: Struktur und Ereignis, hrsg. von Andreas Suter und Manfred Hettling, Göttingen
2001, S. 257–282, hier: S. 261.
26 Ulrich NIEDERER, Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Kulturpolitik und individuelle Förderung: Jakob Bührer als Beispiel, Tübingen 1994, S. 118.
27 Ich folge im wesentlichen der Argumentation von MOOSER, Geistige Landesverteidigung (Anm. 20), S. 690 ff.
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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
Gesellschaftliche Organisation: Diejenigen, die die Legitimation der geistigen Landesverteidigung aus Formen traditioneller gesellschaftlicher Organisation bezogen, plädierten für eine „neue ‚Einheit‘ von Gesellschaft und
Politik im Zeichen der Autorität“28. Hauptträger der angestrebten Gesellschaft waren aus dieser Sicht die ländliche Gesellschaft mit der traditionellen
Bauernschaft sowie die alten patrizischen Eliten. Dagegen sprachen sich die
Anhänger einer liberalen Sichtweise für eine dynamische demokratische
Staatsform aus, in die sich auch die Arbeiterbewegung integrieren sollte. Sie
setzten auf die Repräsentanten der technisch-wirtschaftlichen Moderne als
Träger des angestrebten Wandels. Die linke Deutungsvariante der geistigen
Landesverteidigung rückten soziale Sicherheit als Schlüsselelement der anzustrebenden Gesellschaft ins Zentrum und verband ihr Plädoyer für gesellschaftliche Reformen – die Revolutionsaspiration war in den Hintergrund
getreten – mit wirtschafts- und sozialpolitischen Erwartungen und der Hoffnung auf einen Abbau von Klassenunterschieden. Wenngleich keine der drei
Deutungsvarianten sich auf ein rassistisches oder völkisches Konzept berief,
vertraten einzig die Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung einen explizit antifaschistischen Standpunkt.
Staatsform und Verhältnis zwischen Bürger und Staat: Die antiliberale und
antidemokratische Denkströmung des Neokonservatismus setzte nicht auf
demokratisch gewählte Institutionen des Verfassungsstaats, dessen Aufgabe
es war, die staatsbürgerlichen Rechte des Individuums zu garantieren, sondern auf die föderalen Strukturen des Gemeinwesens. Die Eidgenossenschaft
wurde im Sinne einer „bündischen Gemeinschaft“ interpretiert, in der die
einzelnen Bestandteile des Bundes gegenüber einem liberalen Bundesstaat
die Oberhand behalten sollten. Das Verhältnis vom Bürger zum Staat sollte
durch Autorität und Gehorsam geprägt sein und alle Bereiche des Lebens
umfassen („totale Demokratie“29). Abgelehnt wurde demgegenüber alles,
was von außen kam. Besonders der Marxismus wurde auf schädliche ausländische Einflüsse zurück geführt30.
Die liberale Sichtweise verteidigte die demokratischen Institutionen, die als
„positives Erbe“ der bürgerlichen Revolution galten31. Man setzte auf eine
Staatsform, in der die mündigen Bürger auf der Grundlage vorgesehener
Kanäle der Interessensäußerung über das Schicksal des Landes verhandeln
sollten. Eine solche Sichtweise war nicht zwangsläufig anti-föderal, stellte
jedoch die Interessen der Nation über die partikularen Anliegen der Kantone.
In Abgrenzung zum Neokonservatismus wurde das Verhältnis zwischen
28
29
Ebd., S. 691.
Der Begriff tauchte erstmals im Schweizer Spiegel auf; vgl. Für die totale Demokratie,
in: Schweizer Spiegel, Oktober 1938, S. 30–35.
30 LINSMAYER, Krise (Anm. 24), S. 442.
31 Ebd., S. 100.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
9
Bürger und Staat explizit als nicht autoritär und nicht interventionistisch
definiert. Die linke Deutungsvariante schließlich strebte eine Volksgemeinschaft an, in deren Mittelpunkt soziale Gerechtigkeit stand und in der das
Streben des Staates dem Abbau von Arbeitslosigkeit und die Überwindung
der wirtschaftlichen Krise galt.
Angesichts einer zunehmenden Bedrohung durch deutsche Expansionsbestrebungen in den 1930er Jahren gewann die neokonservative Deutung der
geistigen Landesverteidigung als Rückbesinnung auf genuin „schweizerische“ Werte an Überzeugungskraft. Basierend auf der Annahme einer spezifisch schweizerischen Kultur und Wesensart, avancierte eine so verstandene
„Geistige Landesverteidigung“ zum „Schlüsselbegriff der innenpolitischen
Integrations- und der außenpolitischen Abgrenzungsbemühungen“32. „Verteidigt“ wurde damit unter anderem der schweizerische Binnenmarkt, den es für
kulturelle Güter attraktiver zu machen galt, nachdem der deutsche Markt mit
der nationalsozialistischen Politik der „Gleichschaltung“ in starkem Maß
eingeschränkt war33.
32
33
AMREIN, Los von Berlin (Anm. 4), S. 91.
Dazu: Martin DAHINDEN, Das Schweizerbuch im Zeitalter von Nationalsozialismus
und Geistiger Landesverteidigung, Bern 1987; Julian SCHÜTT, Germanistik und Politik.
Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, 2. Aufl. Zürich 1997.
10
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
Übersicht: Deutungsvarianten der „geistigen Landesverteidigung“
Bezugspunkt
Neokonservative
Liberale
Linke
Vormoderne, radikale
Kritik der Moderne,
die Werte und Ordnung zerstöre
Revolutionen von
1789 und 1848 als
demokratische,
bürgerliche Revolutionen gedeutet
Prospektiv
Dynamische demokratische Staatsform
Soziale Sicherheit
Negativer Bezugspunkt Französische
Revolution
Ziel/Erwartung
Einheit von Gesellschaft und Politik im
Zeichen der Autorität
Harmonisierte Vorstellung einer alle
Kräfte vereinenden
Demokratie
Integration der Arbeiterbewegung
Staatsform
Verhältnis
Bürger-Staat
Förderalistische
Strukturen
Liberaler Bundesstaat
„Totale Demokratie“
Nicht autoritär
autoritäre Demokratie
Nicht
interventionistisch
Autorität und Gehorsam
Trägerschaft
Ländliche Gesellschaft
Patrizische Eliten
Soziale und
politische Revolution
Wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen
Abbau von Klassenunterschieden
Explizit antifaschistisch
Volksgemeinschaft
mit sozialer Gerechtigkeit
Klassenlose Gesellschaft
Verhandlung
mündiger Bürger
Vertreter der technisch-wirtschaftlichen Moderne
Arbeiterschaft
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
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Nationale Manifestationen der kulturellen Eigenständigkeit der Schweiz
Am 9. Dezember 1938 adressierte der Bundesrat an das Parlament eine Botschaft, die unter der Federführung des katholisch-konservativen Bundesrates
Philipp Etter entstanden war34. Diese Botschaft legte die Prinzipien der
schweizerischen Kulturpolitik dar und war gleichzeitig ein Plädoyer dafür,
die Kulturförderung trotz, ja gerade wegen der angespannten außenpolitischen Situation stark zu machen. Welche Bedeutung wird der geistigen Landesverteidigung in diesem Schlüsseldokument der schweizerischen Kulturpolitik Ende der 1930er Jahre gegeben?
Zunächst wird betont, dass die geistige Landesverteidigung eine unverzichtbare Ergänzung zur „bewaffneten und wirtschaftlichen Landesverteidigung“35 darstelle, gehe es doch darum, „die geistigen Kräfte des Landes zu
mobilisieren und für die geistige und politische Selbstbehauptung“36 einzusetzen. Der Anspruch der Autoren auf öffentliche Unterstützung gründet auf
der Schlüsselfunktion der Kulturschaffenden als Wahrer „schweizerischer
Kulturwerte“ und Werber dieser Werte „im In- und Ausland“37. Nebeneinander werden zwei Grundsätze der Kulturpolitik des Bundes hervorgehoben:
die Freiheit der Kultur als Bedingung für ein fruchtbares, schöpferisches
Geistesleben sowie die Kulturhoheit der Kantone. Ein die freie Persönlichkeit
schützender kultureller Föderalismus wird so – ohne Deutschland direkt zu
nennen – in Anschlag gebracht gegen eine „staatlich diktierte und dirigierte
Kultur“38.
Die besondere Bedeutung einer geistigen Verteidigung des Landes wird
aus dessen spezieller geographischer Lage und den spezifischen kulturellen
Verhältnissen, der Zugehörigkeit zu drei Sprach- und Kulturräumen, abgeleitet. Zurückgewiesen wird „eine Auffassung vom Staat, wonach die staatlichen Grenzen mit dem sprachlichen Gebiet zusammenfallen müssen“39. Die
lange Geschichte der Schweiz habe gezeigt, dass die Einheit der Eidgenossenschaft nicht auf der Einheit der Sprache sondern auf dem gemeinsamen
Willen zur staatlichen Gemeinschaft beruhe. Diesen Willen im Sinne einer
„positiven Besinnung auf die geistigen Grundlagen unserer schweizerischen
Eigenart“ zu stärken und „unschweizerisches Gedankengut“40 abzuwehren,
34
35
MOOSER, Geistige Landesverteidigung (Anm. 20), S. 690.
Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die
Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung (im folgenden: Botschaft), in: Bundesblatt N° 50 vom 14. 12. 1938, Bd. 2, S. 985–1035, hier: S. 985.
36 Ebd., S. 985 f.
37 Ebd., S. 996.
38 Ebd., S. 994.
39 Ebd., S. 996.
40 Ebd.
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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
sei die eigentliche Aufgabe der geistigen Landesverteidigung. Was aber prägt
den so evozierten schweizerischen Geist?
Drei Konstanten werden hervorgehoben: Erstens, die Zugehörigkeit der
Schweiz „zu drei großen geistigen Lebensräumen des Abendlandes und Zusammenfassung des Geistigen dieser drei Lebensräume in einen gemeinsamen Lebensraum“41, zweitens, die „bündische Gemeinschaft“ sowie die
Besonderheit der schweizerischen Demokratie, schließlich drittens, die „Ehrfurcht vor der Würde und Freiheit des Menschen“42. Untermauert mit dem
Hinweis auf einen gemeinsamen geographischen Bezug, die Verbundenheit
zu den Alpen und insbesondere zum St. Gotthard, verschmelzen in diesem
Selbstbild kulturelle (kulturelle Vielfalt), gesellschaftliche (Wille zur staatlichen Gemeinschaft in der Form einer Eidgenossenschaft) und politische
(Demokratie und Freiheit des Menschen) Aspekte.
Zweifellos trägt die Kulturbotschaft die Handschrift einer neo-konservativen Deutung der geistigen Landesverteidigung. Sie fordert zum einen auf, die
traditionellen Werte zu wahren und an bewährten Konstanten festzuhalten.
Zum anderen postuliert sie – entgegen aller Beteuerungen im Hinblick auf
die Eigenständigkeit der Kultur – die Einheit von Gesellschaft und Politik,
indem sie gleichsam selbstverständlich davon ausgeht, dass die Kultur in den
Dienst der Politik zu nehmen sei. Kultur für politische Zwecke zu instrumentalisieren, scheint den Autoren nicht bedenklich43. Bemerkenswert ist
schließlich die fortlaufende Betonung der föderalen Organisation des kulturellen Lebens der Schweiz. Der Föderalismus gilt als „der stärkste Wall gegen geistige Gleichschaltung“44 und als Garant der schweizerischen Demokratie, die gleichsam „organisch“ von unten her aufgebaut sei.
Wenngleich Deutschland namentlich nur am Rande der Kulturbotschaft
genannt wird, scheint so das Schreckbild einer auf Expansion gerichteten
deutschen Kultur doch zwischen den Zeilen unübersehbar durch45. Die akute
Gefahr Deutschlands für die Schweiz wird in der Tatsache gesehen, dass die
totalitäre Organisation und Zentralisierung des deutschen kulturellen Lebens
mit einer Schließung des deutschen Marktes für Kultur-, besonders Literaturerzeugnisse aus der deutschsprachigen Schweiz einhergehe und deren Rezeption damit auf den kleinen Binnenabsatzmarkt beschränkt werde. Folglich
gelte es, die inländische Literaturproduktion zu stützen, um ein „vom Aus41 Das Rätoromanische wird erst im Zuge dieser Aufwertung der Regionen als vierte
Landessprache anerkannt. Kulturell wird es dem romanischen Raum zugerechnet.
42 Botschaft (Anm. 35), S. 998.
43 An der deutschen Kulturpolitik wird allerdings gerade diese Vereinnahmung kritisiert.
Vgl. ebd., S. 994.
44 Botschaft (Anm. 35), S. 999.
45 Der Einmarsch der Wehrmacht in Österreich und dessen „Anschluss“ ans „Reich“ lag
ein gutes halbes Jahr zurück. Seitdem waren zahlreiche Kulturschaffende vor den Auswirkungen der kulturellen „Gleichschaltung“ aus Österreich in die Schweiz geflohen.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
13
land unabhängiges schweizerisches Schrifttum im Sinne unserer geistigen
Selbstbehauptung“46 sicher zu stellen. Dies solle für Bücher und Zeitschriften
ebenso gelten wie für das Theater, den Film und das Radio. Angeregt wird
ferner eine Belebung des Austauschs von Kulturgütern (Ausstellungen, Vorträge, Sprachaufenthalte, Übersetzungen) zwischen den verschiedenen
Sprachgemeinschaften in der Schweiz, um das gegenseitige Verständnis zu
fördern und die „schweizerische Geistesgemeinschaft mehr denn je zum
Erlebnis werden zu lassen“47. Die Kulturbotschaft mündete in den Entwurf
einer bundesstaatlich geförderten Einrichtung, die – in Form einer Stiftung
„Pro Helvetia“ – der dargelegten kulturpolitischen Linie zur Realisierung
verhelfen sollte.
Vorbereitet wurde die Vorlage zum Bundesbeschluss über die Gründung
der Stiftung durch Diskussionen, die bereits seit 1935 in kultur-politisch
offenen Kreisen geführt wurden und an denen die führenden Vertreter des
bundesweit organisierten „Schweizerischen Schriftstellerverbandes“ (SSV),
Felix Moeschlin (1882–1969) und Karl Naef (1894–1969), beteiligt waren48.
Etter schien es zu diesem Zeitpunkt noch nicht dringlich, auf eine gesamtschweizerische Kulturpolitik hinzuarbeiten, er ließ vielmehr durchblicken,
dass die Kulturpflege in erster Line Sache der Kantone und nicht des Bundes
sei49. Der SSV und die „Neue Helvetische Gesellschaft“ (NHG), deren Mitglied Karl Naef war, drängten weiter auf die Formulierung von Richtlinien
für eine nationale kulturelle Politik, wobei die Abwehr von Fremden für sie
zentral war50. Die Debatten zur Gründung einer nationalen Institution zur
Koordination kulturpolitischer Maßnahmen wurden in den Kreisen um die
NHG und den SSV weitergeführt. Im April 1938 legte Naef einen Entwurf
für ein entsprechendes Institut vor, der auch vom Departement des Inneren,
dem Bundesrat Etter vorsaß, wahrgenommen wurde51. Die Vorschläge gin46
47
Botschaft (Anm. 35), S. 1003.
Ebd., S. 1008. Vergleichbare Maßnahmen werden auch für die Kulturwerbung im Ausland vorgeschlagen sowie in Bezug auf das Erziehung- und Bildungswesen. Hier wird
insbesondere die föderale Kompetenzverteilung hervorgehoben.
48 Schweizerischer Schriftstellerverein, Grundsätze für eine eidgenössische Kulturpolitik,
20. Juni 1935, Bundesarchiv Bern: E 3001 (A) 3, Bd. 26; vgl. hierzu AMREIN, Los von
Berlin (Anm. 4), S. 89.
49 Philippe ETTER, Bemerkungen zu den Grundsätzen für eine eidgenössische Kulturpolitik. Aktennotiz zur Sitzung mit Moeschlin und Naef vom 26. Juni 1935, Bundesarchiv
Bern: E 3001 (###) 3, Bd. 26, zitiert nach AMREIN, Los von Berlin (Anm. 4), S. 90 f.
50 Neue Helvetische Gesellschaft, Wirken für schweizerische Eigenart im Auslande, vom
15. Juli 1936 an Giuseppe Motta, Bundesarchiv Bern: E 3001 (A) 3, Bd. 36, zitier nach
ebd., S. 92 f. Die Autoren definierten Geistige Landesverteidigung u. a. als „Kampf gegen
das unerwünschte fremde Kulturgut“, „Kampf gegen die artfremden ausländischen Bühnenleiter und Bühnenkünstler“ und „Kampf gegen die ausländische Schund und Kitschliteratur“.
51 Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch Franz KESSLER, Die Schweizerische Kulturstiftung „Pro Helvetia“, Zürich 1993.
14
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
gen direkt in die bereits zitierte Botschaft des Bundesrates vom 9. Dezember
1938 ein. Beantragt wurde mit dem beigefügten Entwurf „Bundesbeschluss
betreffend Schweizerische Kulturwahrung und Kulturwerbung“ eine jährliche
finanzielle Zuwendung „für die Zwecke schweizerischer Kulturwahrung und
Kulturwerbung“52. Um das Geld zu verwalten, sollte eine privatrechtliche
Stiftung mit dem Namen „Pro Helvetia“ gegründet werden, die rechtlich dem
Eidgenössischen Departement des Inneren unterstehen sollte. Die Bundesversammlung nahm die Vorlage am 5. April 1939 an. Generalsekretär von „Pro
Helvetia“ wurde Karl Naef53.
Noch während der vorbereitenden Diskussionen über die Kulturstiftung
engagierten sich Naef und Etter für ein weiteres Projekt54, mit dem die Besinnung auf das Schweizerische und die Darstellung der Nation als Willensgemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden sollte: die schweizerische Landesausstellung, die, seit Anfang 1936 geplant, im Sommer 1939 in Zürich
stattfand.
Ziel der am 6. Mai 1939 in Zürich eröffneten „Landi“55 war es, zu einer
positiven Darstellung der schweizerischen Identität beizutragen. Die Ausstellung strebte an, wirtschaftliche, technische und kulturelle Errungenschaften zu präsentieren und damit nach innen und nach außen die Stärke der
Schweiz zu demonstrieren. Dabei galt es, einerseits die Schweiz als Land des
technischen Fortschritts darzustellen (dazu trug beispielsweise eine eigens
errichtete Seilbahn bei, mit der die verschiedenen Ausstellungsorte in Zürich
zu erreichen waren), andererseits aber, traditionelle Werte und Konstanten
stark zu machen. Angestrebt wurde „die Beförderung einer zukunftsgerichteten Entwicklung, die sich innerhalb der tradierten Normen und Wertvorstellungen zu vollziehen hatte“56. Dabei wurde bei vielfältigen Gelegenheiten
die Schweiz als Nation dargestellt, deren Einheit nicht auf „Blut, Rasse,
Sprache“57 gegründet war, sondern einerseits auf einer der Schweiz spezifi-
52
53
Botschaft (Anm. 35), S. 1014.
Allerdings wurde „Pro Helvetia“ zunächst nicht als Stiftung gegründet, sondern funktionierte bis Kriegsende als „Arbeitsgemeinschaft Pro Helvetia“. Diese umfasste nach der
Mobilmachung im September 1939 die zwei relativ unabhängig voneinander arbeitenden
Abteilungen „Volk“ und „Armee“. Die Abeilung „Armee“ wurde als Sektion „Heer und
Haus“ der Propagandasektion der Armee unterstellt. Erst 1949 fand die „Arbeitsgemeinschaft Pro Helvetia“ als Kulturstiftung ihre ursprünglich geplante Form.
54 Als Vorsitzender des Departments des Inneren war Etter an der Planung zentral beteiligt.
Naef wurde 1937 in das künstlerische Komitee gewählt.
55 Die Ausstellung schloss am 29. Oktober 1939.
56 AMREIN, Los von Berlin (Anm. 4), S. 124.
57 Schrifttum, Musik und bildende Künste, in: Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939, Bd. IV: Die Aussteller der LA: Vollständiges Verzeichnis der Fachgruppenkomitees, der Aussteller und des Ausstellungsguts, Zürich 1939, S. 433–443.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
15
schen Vielfalt eben dieser Kriterien („einig in der Vielheit“) und andererseits
durch den Bezug auf den gemeinsamen Lebensraum, die Alpen58.
Die schweizerischen Schriftsteller waren auf der Landesausstellung ebenfalls präsent: in der Abteilung „Buch und Schrifttum“59. In Form einer Autorenschau mit 320 Einzelporträts wurden die „Schweizerdichter“ in einem
dreibändigen Werk der Öffentlichkeit vorgestellt. Exilautoren dagegen hatten
in der Ausstellung keinen Platz. Auf sie wurde allenfalls indirekt verwiesen,
indem „Überfremdung“ und „Fremdeninvasion“ als Bedrohung für die Einheit des Landes evoziert wurden.
III. Willkommene kulturelle Elite oder „wesensfremde Elemente“60?
Deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen im schweizerischen Exil
Es wird angenommen, dass zwischen 1933 und 1945 zwischen 1 500 und
2 500 Literaten gezwungen wurden, Deutschland zu verlassen, rund 160 von
ihnen fanden den Weg in die Schweiz61. Die ersten, darunter Thomas Mann
und ein Teil seiner Familie, trafen bereits Anfang 1933 ein, eine zweite
Flüchtlingswelle wurde durch die Bücherverbrennungen ausgelöst, die am
10. Mai 1933 in Berlin und anderen deutschen Universitätsstädten stattfanden. Weitere Schriftsteller und Intellektuelle folgten, mit einem erneuten
Höhepunkt 193862.
Ihre Einreise und ihr Aufenthalt in der Schweiz unterlag Bedingungen, die
durch das oben beschriebene Regelwerk festgeschrieben wurden. Doch fielen
58 Dazu: Georg KREIS, Der „homo alpinus helveticus“. Zum schweizerischen Rassendiskurs der 30er Jahre, in: Erfundene Schweiz (Anm. 19), S. 175–190.
59 Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939, Bd. II, S. 535–542.
60 „Wir dürfen uns von unserer bisherigen fremdenpolizeilichen Praxis trotz der heutigen
Ereignisse nicht abweichen und müssen uns vor allem gegen eine Festsetzung wesensfremder Elemente mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln wehren“. EJDP an die kantonalen Polizeidirektionen und an die schweizerischen Gesandtschaften und Konsulate in
Europa, „betr. Einreise von Israeliten“, März 1933, zitiert nach: Heimat Los Schweiz.
Deutschsprachige Literatur im Schweizer Exil 1933–1950, Ausstellung im Strauhof, Zürich. Vgl. dazu auch: Deutschsprachige Schriftsteller im Schweizer Exil 1933–1950. Eine
Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945, Begleitbuch, Wiesbaden 2002.
61 Ebd., S. 9. Als Schriftsteller werden im Anschluss an diese Darstellung Menschen bezeichnet, „die im Hauptberuf schreiben und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten“, ebd.,
S. 7.
62 Zur quantitativen Auswertung der Einreisewellen vgl. Jeanne LÄTT, Refuge et écriture,
Neuchâtel 2003, S. 122 f. Unter den in der Schweiz (vorübergehend) Zuflucht suchenden
Literaten befanden sich bekannte Schriftsteller wie Bertolt Brecht (1898–1956, kurzer
Aufenthalt 1933 in Zürich, Weiterreise nach Dänemark), Alfred Döblin (1878–1957, kurzer Aufenthalt 1933, Weiterreise nach Frankreich) oder Robert Musil (1880–1942, 1938
bis 1942 Aufenthalt in Zürich, dann Genf, wo er 1942 starb), aber auch zahlreiche weniger
bekannte Frauen und Männer, die in Deutschland oder Österreich als Schriftsteller gelebt
hatten.
16
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
die Literaten, die Deutschland verlassen hatten, weil sie unter den Bedingungen der „Gleichschaltung“ nicht arbeiten konnten, ja oft an Leib und Leben
bedroht waren, unter eine – nur sehr vage definierte – Sonderkategorie. Im
April 1933, drei Tage nach dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte in
Deutschland, erging ein Memorandum des Polizeidivisionschefs Heinrich
Rothmund an seinen Chef Häberlein, in dem es um die Frage ging, wie man
mit dem zu erwartenden Flüchtlingsstrom umzugehen habe. Erwogen wurde
der Begriff des „politischen Flüchtlings“, worunter „die Führer der Parteien,
die Mitglieder der Parlamente des Reichs, der Länder und der Städte, die
Gewerkschaftsfunktionäre sowie die Arbeiter, Angestellten und Studenten“
zu fassen seien, „die aktiv an den Auseinandersetzungen der Parteien teilgenommen haben, und auch die Intellektuellen wie Redakteure, Schriftsteller,
Anwälte und Lehrer“63. Unter diese 1933 neu eingeführte, „relativ“ privilegierte Kategorie64 fielen zwischen 1933 und 1945 lediglich 644 Personen65,
schloss sie doch Kommunisten, Juden und jene aus, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten eine Verfolgung im Heimatland zwar befürchteten, aber
noch nicht offen davon betroffen waren66. Dass die Verweigerung, dem
Reichsverband deutscher Schriftsteller beizutreten, bereits genügte, um von
den politischen Autoritäten in Deutschland als Regimegegner angesehen zu
werden, der bloße Nicht-Beitritt somit bereits als politisches Bekenntnis galt,
wurde in der Schweiz nicht in Rechnung gestellt. Eine literarische Tätigkeit
allein reichte nicht aus, um diesen Status zu erhalten, sie musste nachweislich
mit einem politischen Engagement verbunden sein. Zudem war lediglich der
Aufenthalt von in der Schweiz bekannten Persönlichkeiten erwünscht. In
allen anderen Fällen war eine individuelle Prüfung des Antrags notwendig67.
Insgesamt blieb der Status der literarischen Flüchtlinge sehr unscharf. Während manche eine Aufenthalts- und selbst eine beschränkte Arbeitsgenehmigung erhielten, wich die Behandlung anderer nicht von derjenigen ab, die alle
anderen Flüchtlinge erfuhren. Die Entscheidungen wurden je nach (außen)politischer Situation, ausführender Person/Instanz und Renommee des
Zuflucht Suchenden einer strengeren oder einer weniger strengen Auslegung
der Regelungen folgend, gefällt.
63 Documents Diplomatiqes Suisses, Bd.10, Bern 1982, S. 626 f., zitiert nach LÄTT,
Refuge (Anm. 62), S. 36 (Übersetzung von K. S).
64 Mit der Anerkennung als politischer Flüchtling ging die Ausstellung einer (regelmäßig
zu erneuenden) Toleranzbewilligung einher. Politische Tätigkeiten waren ihnen unter Androhung der sofortigen Ausweisung untersagt.
65 BOSCHETTI, Les Suisses (Anm. 1), S. 8.
66 Zudem musste nach einer Anordnung des Bundesrates am 4. April 1933 jeder, der den
Status als politischer Flüchtling in Anspruch nehmen wollte, sich im innerhalb von 48
Stunden nach der Einreise bei der Polizei melden, danach war die Möglichkeit der Anerkennung als politischer Flüchtling verwirkt.
67 Vgl. LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 34.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
17
So gab es Erfahrungen wie die von Thomas Mann, der im Mai 1933 in seinem Tagebuch festhielt: „Beim Chef des Polizei-Departements [...] Größtes
Entgegenkommen, Dispens von der Beibringung üblicher Papiere. Schon
beim Empfang bedankte er sich für unseren Besuch“68. Thomas Mann war
am 26. Februar 1933 in die Schweiz eingereist. Der Aufenthalt war ursprünglich als Vortragsreise geplant, doch als deutlich wurde, dass die politische Situation sich in Deutschland vorerst nicht ändern würde, ließ er sich
mit seiner Familie Ende 1933 in Küsnacht, am Ufer des Zürisees, nieder.
Während seines Aufenthalts in der Schweiz, von wo aus er 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte, erfuhr Thomas Mann keine nennenswerten Einschränkungen seiner schriftstellerischen Tätigkeiten: er schrieb in dieser Zeit
an den „Joseph-Romanen“, hielt Vorträge und zu seinem 60. Geburtstag fand
im Corso-Theater in Zürich eine Festveranstaltung statt69.
Demgegenüber standen Erlebnisse wie diejenige des jüdischen Schriftstellers Hans Sahl, der, 1934 in die Schweiz eingereist, nur eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung erhielt und es nach deren Ablauf nicht wagte, „am Tage
auf die Strassen zu gehen aus Angst, man könnte mich verhaften und, wie es
damals zu geschehen pflegte, über die deutsche Grenze stellen“70.
Wie Thomas Mann die berufliche Tätigkeit als Schriftsteller fortführen zu
können, war ein Privileg, das bei weitem nicht alle literarischen Flüchtlinge
hatten. Wenn sie nicht als Ausnahmefälle behandelt wurden, beispielsweise
aufgrund einer langen Verbundenheit mit dem Land oder vorhergehenden
Publikationsaktivitäten in der Schweiz, unterlagen sie wie alle anderen
Flüchtlinge einem strikten Berufsverbot. Angehalten, die Schweiz so schnell
wie möglich wieder zu verlassen, sollten sie sich weder in den schweizerischen Arbeitsmarkt noch in das damit oft einhergehende soziale Leben integrieren. Ab 1940 konnten Emigranten dagegen zum Arbeitsdienst in ein
Arbeitslager eingezogen werden. Dass es ihnen untersagt war, sich politisch
zu betätigen oder auch nur zu äußern, war für viele Schriftsteller, zu deren
Selbstbild es gehörte, in der Rolle von Intellektuellen in politische Debatten
einzugreifen, schon schlimm genug. Aber überhaupt nicht mehr literarisch
tätig zu sein, war für die meisten eine kaum ertragbare Situation. Die zahlreichen Erzeugnisse des literarischen Exils, zeigen, dass viele Schriftsteller
weiterhin schrieben und es ihnen mitunter auch gelang, in schweizerischen
68 Thomas Mann, Tagebuch vom 2. 5. 1933; vgl. auch Deutschsprachige Schriftsteller
(Anm. 60), S. 32.
69 Zu Thomas Mann in der Schweiz vgl. u. a. Rolf KIESER, Erzwungene Symbiose. Thomas Mann, Robert Musil, Georg Kaiser und Berthold Brecht im Schweizer Exil, Bern
1984; Thomas SPRECHER, Thomas Mann in Zürich, Zürich 1992; sowie die auf der
Auswertung der Archivdokumente der Bundes- und Kantonalbehörden basierende Studie
von Patricia DVORACEK, „meinetwegen“ – Der Musteremigrant Thomas Mann, in: Prominente Flüchtlinge in der Schweiz, Bern 2003, S. 68–97.
70 Hans SAHL, Das Exil im Exil, Frankfurt a. M. 1990, S. 55.
18
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
Verlagen zu erscheinen oder Artikel in Zeitschriften unterzubringen71. Ein
weiteres Zeugnis dieser Produktivität im Exil waren die über zwanzig in der
Schweiz gedruckten Exilanten-Zeitschriften72. Am stärksten traf es jene, die
nach 1942 das Land betraten und direkt interniert wurden. Im Flüchtlingslager waren beispielsweise der in antifaschistischen Organisationen tätigen
Manès Sperber (1905– ), der 1942 aus Angst vor der Deportation die Grenze
von Frankreich her überquerte, der jüdische Schriftsteller Stephan Hermlin
(1915–1997, sein bürgerlicher Name lautete Rudolf Leder) und der 1936 aus
Deutschland ausgebürgerte Schriftsteller und expressionistische Dichter Jakob Haringer (1898–1948). Haringer wurde 1938 dem Flüchtlingslager Bellechasse übergeben und kommentierte von dort aus: „Dieser Aufenthalt in
Straflagern und im Zuchthaus bedeutet für mich doch vor allem deshalb mein
Unglück, weil ich in dieser Massenumgebung weder lesen noch schreiben
konnte und Tag und Nacht keine Ruhe hatte und unter diesem ständigen
Zuchthausdruck stehe“73. Insgesamt drückt die Haltung der Einwanderungsbehörden ein Misstrauen gegenüber den literarischen Flüchtlingen aus. Sie
standen unter dem doppelten Verdacht, einerseits zu einer „kulturellen Überfremdung“ der Schweiz beizutragen und andererseits den einheimischen
Schriftstellern die Arbeit wegzunehmen74. Gegen eine solche, äußerst restriktive Politik waren aus den Rängen der schweizerischen Autoren kaum nennenswerte Proteste zu vernehmen.
Dass der Diskurs der „Geistigen Landesverteidigung“ in Schriftstellerkreisen an den Überfremdungsdiskurs anschloss und die Gestalt eines Ausgrenzungsdiskurses annahm, hing unter anderem mit den wirtschaftlichen Bedingungen der Krise der 1930er Jahre zusammen, welche die Situation der Autoren generell schwierig machte und die Angst vor Konkurrenz schürte. Wie
die meisten im Feld der Kulturproduktion Tätigen waren die Schriftsteller in
hohem Maß mit kulturellem Kapital ausgestattet, nur wenige aber verfügten
über ökonomisches Kapital. Von kleinen Honoraren für Zeitungsartikel lebend, die nach Zeilen bezahlt wurden, klagten viele Autoren über Verschuldung, Verarmung oder schlicht Hunger. So bemerkte der Zürcher Dichter und
Chronist Kurt Guggenheim in einem Briefentwurf an den Berner Radiodi71 Hier ist insbesondere auf die Rolle des Verlegers Emil Oprecht hinzuweisen, in dessen
Verlagen die Mehrheit der knapp 500 Bücher geflohener Schriftsteller erschienen, die
zwischen 1933 und 1945 in der Schweiz gedruckt wurden. Für eine Auflistung der Verlage
s. LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 237 f.
72 Eine Liste der in der Schweiz erschienen Zeitschriften des deutschen Exils zwischen
1933–1945 findet sich ebd., S. 233 ff.
73 Hans HARINGER, an die Polizeiabteilung Bern, undatierter Brief, zitiert nach: Deutschsprachige Schriftsteller (Anm. 60), S. 215.
74 Auch die Abweisung von deutschen Verlagen, die vergeblich versuchten, sich vorübergehend in der Schweiz niederzulassen, wie der S. Fischer Verlag oder der Rhein-Verlag,
wurde mit diesen Argumenten begründet.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
19
rektor Kurt Schenker: „ [...] Und nun hat es sich gezeigt, dass die Berufskrankheit des Schriftstellers – des Nur-Schriftstellers, ohne Nebenberuf, ohne
Posten, ohne Vermögen – unfehlbar die Unterernährung ist“75. Das Wort von
Proletarisierung der Literaten machte die Runde.
Das Phänomen des armen Literaten war auch in der Schweiz nicht neu, jedoch verschlechterten sich ab 1933 die Bedingungen: Der deutsche Literaturbetrieb schloss nach und nach seine Pforten für schweizerische Autoren. Die
traditionell engen Beziehungen zwischen dem Börsenverein der deutschen
Buchhändler und den schweizerischen Buchhändlerorganisationen, die eine
gewisse Öffnung des deutschen Absatzmarktes für deutschsprachige Autoren
aus der Schweiz ermöglich hatten, durchliefen nach der „Gleichschaltung“
eine Krise76. Auch die Eingliederung des Reichsverbands deutscher Schriftsteller in die Reichsschrifttumskammer, die, als Teil der Reichskulturkammer
direkt dem deutschen Propagandaministerium unterstand, löste in kulturpolitisch interessierten Kreisen der Schweiz Bedenken aus, sah die deutsche Seite
doch vor, dass jeder Autor und jede Autorin, die in Deutschland gedruckt und
verbreitet wurde, Mitglied des Reichsverbandes sein musste77. Während also
der deutsche Markt für schweizerische Autoren enger wurde, blieb rechtlich
der schweizerische Markt für deutsche Literaturerzeugnisse weiterhin offen.
Gerade im Bereich des Journalismus und des Feuilleton war die Angst vor
literarischen Produktionen aus deutscher Feder groß, denn mit zunehmenden
Druck in Deutschland boten selbst bekanntere Autoren aus Deutschland ihre
Texte und ihr Können in der Schweiz an und dies vielfach billiger als die
schweizerischen Kollegen. Das Überangebot wirkte sich auf die Publikations- und Preispolitik der Zeitschriften und Zeitungen aus: längere Wartezeiten und niedrigere Löhne waren in Kauf zu nehmen. Das Sekretariat des
SSV, der sich seit seiner Gründung im Jahre 1912 als Sprachrohr der schweizerischen Autoren verstand, berechnete 1935 den Preis, den Autoren pro
veröffentlichter Zeile in Zeitungen und Zeitschriften durchschnittlich erhielten. Er belief sich auf 15 Rappen/Zeile, ein Drittel von dem, was noch wenige
Jahre zuvor gezahlt worden war78. Eine weitere Verschlechterung der ökonomischen Situation zeichnete sich mit dem Anstieg des Papierpreises Ende der
1930er Jahre ab. Die Zeitschriften begannen Papier zu sparen, indem sie zu
allererst die Seiten des Feuilletons und der Kulturberichterstattung zusammen
75
Vgl. Gustav HUONKER, Literaturszene Zürich. Menschen, Geschichten und Bilder
1914 bis 1945, Zürich 1985, hier: S. 126.
76 Vgl. Martin DAHINDEN, Das Schweizerbuch im Zeitalter von Nationalsozialismus und
Geistiger Landesverteidigung, Bern 1987.
77 Vgl. AMREIN, Los von Berlin (Anm. 4), S.65 ff. Die Repräsentanten des SSV konnten
in langen Diskussionen erreichen, dass die Beitrittspflicht für Schweizer nicht verpflichtend gemacht wurde.
78 HUONKER, Literaturszene (Anm. 75), S. 128.
20
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
strichen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Politik des SVV gegenüber den
Exilliteraten zu betrachten.
Der Schweizerische Schriftstellerverband
In den meisten Fällen unsicher, wie mit Einreisegesuchen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern umzugehen und welcher Status zuzuweisen sei,
wandte sich die Fremdenpolizei im Frühjahr 1933 an den SSV. Der SSV riet
der Fremdenpolizei im Mai 1933, wenige Tage nach den Bücherverbrennungen in Deutschland, prominenten ausländischen Autoren die Bewilligung
zum Aufenthalt und zur Ausübung einer literarischen Tätigkeit zu erteilen,
literarisch tätigen Personen, die aus politischen Gründen verfolgt werden,
Asyl zu gewähren, alle übrigen literarischen Flüchtlinge jedoch zurückzuweisen und dafür zu sorgen, „dass sie den schweizerischen Markt mit ihren Erzeugnissen in keiner Weise belasten“79.
In einem Brief an die Eidgenössische Fremdenpolizei in Bern begründete
der SVV seine harte Linie mit wirtschaftlichen Erwägungen. „Der schweizerische Schriftsteller ist [...] mehr denn je auf den Inlandsabsatz seiner literarischen Erzeugnisse angewiesen. [...] Der Aufenthalt jedes ausländischen
Schriftstellers bedeutet daher für den schweizerischen Autor eine Konkurrenz“80. Doch wird das Argument der Konkurrenz abgeschwächt im Falle
prominenter Autoren „von wirklich hervorragender Bedeutung“, da ihre
Anwesenheit „für jedes Gastland eine Bereicherung des künstlerischen Lebens“ darstelle, sie der Schweiz „an geistigen Werten reichlich wiedergeben,
was sie uns vielleicht an wirtschaftlichen nehmen werden“81. Scharf wehrte
sich dagegen der SSV gegen die Einreise derjenigen Schriftsteller, die im
Verdacht standen, aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz kommen
zu wollen. „Wir wenden uns gegen die kleinen Zeilenschreiber [...], die weder zu den Prominenten noch zu den politischen Verfolgten zu zählen sind,
und die in die Schweiz kommen, weil sie glauben, hier ein bequemes Leben
führen zu können“82. Das Schreckbild der drohenden Konkurrenz wird verstärkt durch das einer Gefahr für das Geistesleben des Landes durch fremde
Elemente, die „unsere inneren Auseinandersetzungen [...] von außen her“83
beeinflussen könnten. Umfassende Analysen der Korrespondenz zwischen
dem SSV und den Autoritäten der Fremdenpolizei haben gezeigt, dass die
Prinzipien der Abwendung von Konkurrenz und der Ablehnung von „un79
80
Ebd.
Schweizerischer Schriftstellerverein, Brief an die Eidgenössische Fremdenpolizei vom
25. Mai 1933, abgeruckt in LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 242–244, hier: S. 242.
81 Ebd.
82 Ebd., S. 244.
83 Ebd.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
21
schweizerischem“ Gedankengut während des gesamten Zeitraums leitend für
die Begutachtung der Flüchtlingsdossiers durch den SSV waren84. Zwischen
1933 und 1945 begutachtete der SSV unter der Führung von Moeschlin und
Naef 114 Dossiers, befürwortete die Einreise in 39 Fällen und riet in 31 Fällen der Fremdenpolizei davon ab, eine Autorisierung auszustellen. In den
übrigen Fällen war die Fürsprache zumeist mit bestimmten Bedingungen
verknüpft85. In der Regel – wenn auch nicht in allen Fällen – folgte die Fremdenpolizei den Vorschlägen des SSV.
Die Entscheidungen des SSV gegenüber den Flüchtlingen wurden überwiegend von den Vorsitzenden des Vereins gefällt, ohne dass die Meinung
der Vereinsmitglieder eingeholt wurde86. Doch sind Proteste aus den Reihen
der Mitglieder gegen die literaturpolitische Linie der Vereinsspitze nicht
belegt, ein stiller Konsens schien darüber vorzuherrschen, dass den Interessen
der schweizerischen Autoren Vorrang einzuräumen sei gegenüber dem Postulat einer den tagespolitischen Interessen übergeordneten Wahrung der Freiheit des Wortes. Die Angst, keinen Verlag zu finden, von der Zensur verboten zu werden oder aber etwas zu schreiben, dass sich nicht verkaufte, weil es
den ästhetischen Kriterien der „Geistigen Landesverteidigung“ nicht gerecht
wurde, führten dazu, dass die öffentlichen Interventionen zugunsten von
literarischen Flüchtlingen die Ausnahme blieben, zumindest schien der SSV
nicht der Ort, an dem die schweizerischen Schriftsteller sich solidarisch an
die Seite ihrer verfolgten Kolleginnen und Kollegen stellten87. Alles in allem
verhielten sich die schweizerischen Autoren konform zur Politik ihres Interessenverbandes. Sie widerstanden nur selten ihrem verinnerlichten „Zen84
Vgl. die umfassende Analyse in ebd., bes. S. 93 ff.; sowie AMREIN, Los von Berlin
(Anm. 4), S. 39 ff.
85 Bei 13 Anträgen ist das Urteil nicht eindeutig.
86 LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 126 f.
87 Doch sind auch zahlreiche Beispiele von offener Aufnahme und Hilfestellung zu nennen. Emil Oprecht (1895–1952), Zürcher Verleger und Bruder des sozialdemokratischen
Politikers Hans Oprecht, war eine der Schlüsselfiguren im literarischen Bereich. Er ermöglichte 1933 die Übersiedlung der „Büchergilde Gutenberg“ in die Schweiz, die unter dem
Namen „Europa Verlags- und Aktiengesellschaft“ neu ins Leben gerufen wurde mit dem
Ziel, die Bücher der Gilde auf dem schweizerischen Buchmarkt zu vertreiben. Emil
Oprecht war auch einer der Mitbegründer der „Neuen Schauspiel AG“, die 1938 ins Leben
gerufen wurde, um das Zürcher Schauspielhaus, seit 1933 ein Anlaufpunkt der Emigrantenkultur und Arbeitgeber vieler emigrierter Schauspieler aus Deutschland, vor dem Konkurs zu retten. Zur Geschichte des Schauspielhauses in der Zeit des Nationalsozialismus
vgl. Ute KRÖGER und Peter EXINGER, „In welchen Zeiten leben wir“ Das Schauspielhaus Zürich (1938–1998), Zürich 1998; Schweizertheater. Drama und Bühne der Deutschschweiz, hrsg. von Hans Amstutz [u. a.], Zürich 2000. Auch traten einige schweizerische
Autoren oder Autoren als Garanten für die Asyl Suchenden auf und intervenierten zu ihren
Gunsten bei den politischen Autoritäten. Das war zum Beispiel der Fall bei Robert Lejeunes, der sich für Robert Musil einsetzte oder bei Caesar von Arx, der Georg Kaiser unterstütze. Eine umfassende Untersuchung der Solidaritätsgesten steht noch aus.
22
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
sor“88, der sie vor dem Selbstausschluss aus der Gemeinschaft der „guten
Schweizer“ bewahrte und die literarisch-ästhetischen Werte der „Geistigen
Landesverteidigung“ als verbindliche Norm akzeptieren ließ.
IV. Ausblick
Führte die spezifische Situation der Jahre 1933–1945 und die Präsenz zahlreicher ausländischer Schriftsteller zu einer Internationalisierung des literarischen Feldes der Schweiz oder überwog eine kulturelle Schließung?
Obwohl, ist zunächst festzuhalten, die Schweiz Ziel vieler Literaten war,
die aus Deutschland und Österreich, aber auch aus Frankreich und Italien
flohen, kann man direkt kaum von einer Öffnung des literarischen Feldes
sprechen. Zu einem Dialog zwischen schweizerischen Autoren und literarischen Flüchtlingen kam es kaum. Dies lag unter anderem in dem flüchtlingspolitischen Selbstbild der Schweiz als Transitland begründet. Nur wenige
Flüchtlinge konnten sich auf einen längeren Aufenthalt einstellen, wurden sie
doch immer wieder aufgefordert auszureisen. Längerfristige Kooperationen
waren so schwierig aufzubauen. Zu diesem Ergebnis kommt man jedenfalls,
betrachtet man die deutschsprachige Schweiz. Zieht man die Romandie
hinzu, stellt sich das Bild differenzierter dar. Das französischsprachige literarische Feld der Schweiz öffnete sich in den Kriegsjahren für literarische Einflüsse aus Frankreich, empfing zahlreiche nach dem Einmarsch der deutschen
Truppen in Nord- und der Etablierung des Vichy Regimes in Südfrankreich
geflohene Autoren und gab ihnen die Möglichkeit, Bücher und Artikel in
schweizerischen Verlagshäusern und Zeitschriften zu veröffentlichen. Damit
wurde, besonders nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich
im Sommer 1940, die Schweiz zu einem literarischen Zentrum der französischsprachigen Literatur, für einen kurzen Moment war die vom literarischen
Zentrum Paris so betrachtete „Provinz“ nicht mehr „Provinz“89. Allerdings
war diese Öffnung nicht dauerhaft; nach dem Krieg nahm das Verhältnis
zwischen den beiden Nachbarländern schnell wieder seine alte Gestalt an90.
Blickt man indes auf Ideen und Konzepte einer zukünftigen europäischen
Friedensordnung, die in der Schweiz in Abgrenzung zum totalitären Denken,
aber auch in Angrenzung zur offiziellen Politik der „Geistigen Landesverteidigung“ entstanden, kann man von einer Öffnung allerdings durchaus sprechen. Die bisherigen Ausführungen haben sich im wesentlichen auf den Be88
89
LINSMAYER, Krise (Anm. 24), S. 471.
Vgl. Alain CLAVIEN [u. a.], „La province n’est plus la province“: les relations culturelles franco-suisse à l’épreuve de la Seconde Guerre mondiale (1935–1950), Lausanne
2003.
90 Vgl. ebd., S. 325.
Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil
23
reich des offiziellen Umgangs mit kulturellen Belangen und mit der Flüchtlingsfrage bezogen. Doch gab es, wie auch an vereinzelten Beispielen gezeigt
wurde, auch individuelle Initiativen, die der Linie der Autoritäten nicht entsprachen. Es handelt sich um Gesten der Solidarität, in denen Beziehungen
zwischen schweizerischen und ausländischen Autoren aufgebaut wurden,
Bande, welche die Zeit des Krieges überdauerten und die Schweiz auch längerfristig durchaus zu einem Treffpunkt internationaler literarischer Strömungen und Einflüsse machte91.
Darüber hinaus sind auf dem Boden der Schweiz Ideen entstanden, die,
wenn sie auch dem einenden Wert der Neutralität der Schweiz verpflichtet
waren, so doch mit einem Plädoyer an die Öffentlichkeit traten für eine
Schweiz, in welcher der Ideenaustausch mit den europäischen Nachbarländern gefördert und die kulturellen Beziehungen zu den drei Nachbarländern
gepflegt werden müssten. Für ein solches Denken steht beispielsweise die
Person Denis de Rougemonts (1906–1985). Für ihn legitimiert sich die Neutralität der Schweiz nur über ihre Vorbildfunktion für ein künftiges Europa
der Föderationen. Die Schweiz habe die Aufgabe und – aufgrund ihrer Erfahrungen – auch die Mission, die europäische Föderation zu fördern. „Der ‚internationale Schweizer‘“, so Rougemont in einem Artikel in „Mass und
Wert“, „ist ein Mensch, der kraft Tradition und kraft Notwendigkeit Europa
kennen muss und kennen kann. Europa kennen, nicht um es dem einen oder
anderen Imperialismus dienstbar zu machen, sondern um es zustande zu
bringen. Nicht um sich seiner zu bedienen, sondern um ihm zu dienen“92. Es
bleibt anzufügen, dass Rougemont, der seit 1939 in der Propagandasektion
„Heer und Haus“ der schweizerischen Armee tätig war, 1940 von den politischen Autoritäten mit Nachdruck aufgefordert wurde, das Land mit dem Ziel
einer längeren Vortragsreise in die USA zu verlassen, da seine kritischen
Äußerungen gegen die deutsche Regierung sich mit dem offiziellen Standpunkt der Neutralität der Schweiz nicht vereinen ließen93.
Nach dem Krieg knüpften Einzelne an solche Ideen über ein europäisches
Gemeinwesen und die Rolle der Schweiz darin wieder an, beispielsweise in
der Gründung des „Centre Européen de la Culture“ 1950 in Genf, dem
Rougemont, der 1946 wieder nach Europa zurückkehrte, vorstand, und in
zahlreichen Initiativen zur Verteidigung und Stärkung einer europäischen
91 Hier kann die Bedeutung des Zürcher Schauspielhauses, eines Treffpunkts der Emigrantenkultur unmittelbar vor, aber auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgehoben werden. Vgl. z. B. die dortige Tätigkeit Bertolt Brechts ab 1947.
92 Denis DE ROUGEMONT, Gedanken über den Föderalismus, in: Mass und Wert. Zweimonatsschrift, hrsg. von Thomas Mann und Konrad Falke 3 (1940), H. 3 (März/April), S.
291–299, hier: S. 298.
93 Vgl. zu Rougemont: Bruno ACKERMANN, Denis de Rougemont. Une biographie intellectuelle, Bd. 1: De la révolte à l’engagement. L’intellectuel responsible, Bd. 2: Combats
pour la liberté. Journal d’une époque, Lausanne 1996.
24
Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)
Kultur. Jedoch zeichneten sich auch diese Initiativen durch eine ambivalente
Haltung in der Frage nach Schließung oder Öffnung aus. Die Idee der „Geistigen Landesverteidigung“ war auch in den 1950er Jahren ein politisches
Leitmotiv. Zwischen den „Fronten“ des Kalten Krieges, sah die Schweiz sich
erneut vor die Aufgabe gestellt, ihre Spezifizität zu bestätigen. Auf der Suche
nach einer Haltung, die zugleich das Prinzip der Neutralität beibehielt und die
Solidarität mit dem Westblock erlaubte, schlug sie auf militärischer, politischer und wirtschaftlicher Ebene sowie in der öffentlichen Meinung eine
Politik der Internationalisierung ein (Gründung und Empfang zahlreicher
internationaler Organisationen auf dem Boden der Eidgenossenschaft). Sie
beanspruchte aber gleichwohl den „Sonderfall Schweiz“, der sich auf die
spezifisch schweizerischen Errungenschaften der direkten Demokratie, des
Föderalismus und der aktiven militärischen Verteidigung gründete94. Damit
grenzte sie sich insbesondere gegen das etatistisch-zentralistische Modell der
Sowjetunion ab. Diese Ablehnung schlug sich innenpolitisch in einer rigiden
Politik der Ausgrenzung und Denunzierung sozialistischer und kommunistischer Tendenzen nieder, eine Politik, deren Opfer auch linke Schriftsteller,
ausländische wie einheimische, waren.
Die Geschichte der „Geistigen Landesverteidigung“ war, kann man daraus
schließen, nach dem Krieg nicht zu Ende. Ihre Erforschung könnte nicht nur
dazu beitragen, die vielfältigen Ausdeutungen der „Geistigen Landesverteidigung“ in den 1930er und 1940er Jahren zu systematisieren, sondern auch aus
einer Langzeitperspektive einen Bezug zwischen diesem Konzept und seiner
Kritik durch eine „neue“ Historiographie der Schweiz seit den 1970er Jahren
herzustellen.
94
Joseph JURT, La Suisse dans la Guerre Froide, in: Emigration et Guerre Froide, hrsg.
von Anne-Marie Corbin, Maine 2004, S. 33–44. Vgl. auch: Kurt IMHOF, Die Schweiz im
Kalten Krieg oder der „Sonderfall“ im Westblock, in: Itinera 18 (1996), Die Schweiz im
internationalen System der Nachkriegszeit, 1943–1950, hrsg. von Georg Kreis, S. 180–183.