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Denn ‚Ich’ ist ein anderes. Wenn das Blech als Trompete aufwacht, dann ist
nicht ihm das anzurechnen. Ich bin beim Aufblühen meines Denkens zugegen, ich schaue ihm zu, ich höre ihm zu. Ich mache einen Strich mit dem
Bogen: schon regt sich die Symphonie in der Tiefe. Es ist falsch zu sagen:
ich denke. Es müsste heißen: ich werde gedacht.
Der Dichter kommt an im Unbekannten, und selbst wenn er seine eigenen
Visionen schließlich nicht mehr begreift, so hat er sie doch geschaut. Mag
er zugrunde gehen an seinem riesigen Sprung durch die ungehörten und
unnennbaren Dinge: andere fruchtbare Arbeiter werden kommen und an
jenen Horizonten anfangen, wo er selbst zusammengebrochen ist.
Arthur Rimbaud
Lettres du voyant
Der Dichter hat nur dies zu tun, dass er geheimnisvoll arbeitet im Hinblick
auf das Niemals.
Stéphane Mallarmé
Unter einer Epiphanie verstand er (Stephan) eine jähe geistige Manifestation, entweder in der Vulgarität von Rede oder Geste oder in einer denkwürdigen Phase des Geistes selbst. Er glaubte, dass es Aufgabe des Schriftstellers sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie
selbst die zerbrechlichsten und lüchtigsten aller Momente seien.
James Joyce
Stephen der Held
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Inhalt
anfang ohne ende
dIe VerführerIn
Versunkene Innenstadt
flüchtIge erlebnIsse
unterwegs
VerwIrrung
JetztzeIt
Verlorener augenblIck
reInes erleben
der abend
dIe entscheIdung
ende Vom lIed
Je est un autre
aestetIcs of Pure exPerIencIng (lIVed exPerIence)
ImPressum
4
anfang ohne ende
Es hatte sich mittlerweile eine Alterslage eingestellt, in der sich die Reihen
lichten. Ohne dass man den Erlebnisbestand so griig und klar geschnitten
artikulieren könnte, so spürt man doch deutlicher, auch stärker, dass das
Selbstsein, in dem man sich beindet, unbegreilich wird. Man erkennt sich in
den Fremdzuschreibungen nicht mehr und wundert sich über den Anspruch
des Einblicks, den andere über einen zu haben meinen. Irgendwie mag man
diesbezüglich auch gar keine Motivforschung mehr betreiben. Man lässt es
auf sich beruhen.
Eine frühere Freundin teilte mir in den 1980er Jahren einmal mit, sie hätte
gehört, das Gesagte bezog sich auf die Zeit Ende der 1970er Jahre,
„Der Preyer kommt doch schon um 14 Uhr betrunken aus dem Pub“.
Das war ein Lokal, in dem ich mich mit einem Freund einmal in der Woche am
Mittag traf. Wie wahr, wir tranken extensiv zwei Stunden. Am Abend waren
wir wieder da. Was man aus diesen Äußerungen alles folgern kann, von den
Motiven und Absichten der Sprecher einmal ganz abgesehen!? Was haben
solche Feststellungen mit einem selbst zu tun: Nicht viel oder gar nichts. Aber
man wird so etikettiert, um handhabbar zu sein. Um in den Verläufen der
Kommunikation zurecht zu kommen, bedarf es der großen Vereinfachungen.
Sonst werden die Zuschreibungen unbestimmt. Wenn man nach weiteren
Motiven fragt, so verläuft sich alles ins Unendliche (und-so-weiter). Wo hört
das Weiterfragen auf? Es können dann keine Antworten mehr gegeben,
sondern nur noch Antworten auf weitere Fragen wiederholt werden.
Von Interesse sind sie als Anlass für literarische Assoziationen. Mit der
Feststellung solcher Äußerungen ist eine etwas bescheidene Psychologie
verbunden, die mit der Aussage keine Momentaufnahme, sondern eine
globale Aussage vorlegt, bei der sich jeder den Teil hinzudenken kann, der ihm
gerade lieb ist. Je globaler und trivialer solche Aussagen sind, um so besser,
da sich um so mehr dazu erinden lässt. Das literarische Problem wäre aber
ein ganz anderes, es liefe eher auf ein Psycho- oder Soziogramm desjenigen
hinaus, der mittags um 14 Uhr betrunken aus dem Pub kommt. Vielleicht ist
er gerade in diesem Zustand durchaus hellsichtig, sensibel, vielleicht auch
ganz abgestumpft. Wie auch immer, die Art der Psychologie ist zu leicht zu
durchschauen.
Das ist nur ein Beispiel unter vielen anderen. Es fällt auf, dass irgendwie auf
geheimnisvolle Weise durch das Älterwerden eine andere, auch neue, Distanz
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zu sich selbst eintritt. Das Problem dabei ist jedoch, so kommt es mir vor, dass
man sich in diesen Zuständen durchaus nicht besser selbst versteht, sondern
sich auf eine vertraute Weise fremder wird.
Wir trafen uns pünktlich um 13 Uhr im Pub. Der alte Freund war etwas
jünger und lesehungrig. Es war ein hochgeschossener junger Mann mit
lebendigen Augen und viel Neugier. Es gab also genug Themen. Es war ein
sich zwei Stunden Hineinreden, Hineinhalluzinieren in alles, was man nicht
selbst war. Dabei wurden bis 15 Uhr etwa fünf große Altbiere und mehrere
Apfelschnäpse abgekippt. Es durchloss einen. Wir wurden durchlossen. Die
junge Frau hinter der Theke war dabei zugleich ein Halluzinationsobjekt,
über das aber nicht gesprochen wurde. Gerade die Distanz zu ihr, in der
Rolle als Gast, trieb das unbewusste Fantasieren an. Man brauchte sich
nicht absichtlich dazu zu veranlassen. Es war ein Spiel der Partialtriebe. Die
junge unerreichbare Frau, eine gefärbte Blondine, bewegte sich in unseren
Gedanken auf uns zu. Sie bediente uns bebend mit Bieren. Lächelte. Sie trug
eine Bluse, leicht aufgeknüpft, die ihre harten Brüste herauspresste. Brachte
sie uns das Bier, so beugte sie sich etwas vor, so sahen wir mehr von ihren
Brüsten. Wir verlängerten unseren Blick und tranken weiter.
Woher wohl die Faszination der weiblichen Brüste und der durch
Nylonstrümpfe verkleideten Frauenbeine kommt? Sehen wir einmal von der
Säuglingsinterpretation im Falle der Brüste ab. Damals waren psychoanalytische
Deutungen im Umlauf: Sie sind phallische Symbole. Die Frau kommuniziert
damit, dass sie auch einen Phallus hat. Sie ist also nicht das kastrierte Wesen.
Das soll auch den Schreck vor dem weiblichen Geschlechtsteil, von dem man
immer wieder hört, erklären. Sie möchte etwas zeigen, das sie nicht hat. Sie
möchte dem Mann damit die Angst vor ihrem Geschlechtsteil nehmen. So
als sage sie:
„Sieh doch, ich habe ihn doch, den Phallus, ich zeige ihn dir. Er ist für jeden
sichtbar. Ich bin die phallische Frau. Ich nehme dir die Kastrationsangst.“
Bei den sich seit den 1940er Jahren verbreitenden Nylonstrümpfen als Symbol
der modernen Frau drängt sich diese Fantasie geradezu auf.
Die Beziehung der Geschlechter kann keine Einfache sein. Sie ist auf
Hervorhebung der Diferenz angelegt. Die damit einhergehenden Vorgänge
sind zwar feststellbar, sie entziehen sich aber unserer Einsicht. Auch
die Notwendigkeit der Fortplanzung erklärt nicht viel. Sie könnte auch
unterbleiben. Darüber täuscht man sich immer wieder. Die Erforschung der
Geschlechter hat nicht viel Erhellendes zu Tage gefördert. Man kann sich
vom Geschlecht nicht befreien, wenn wir einmal von Grenzfällen absehen.
Im Zentrum steht die Diferenz. Die Einheit ist paradox. Die Diferenz ist
zu wiederholen, ohne dass es dabei zur Einheit kommen würde. Sie bleibt
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unsichtbar, nicht-erkennbar und nicht-sagbar. Es bleibt nur übrig: MannFrau. Wenn man damit anfängt darüber nachzudenken, dann stellen sich
unweigerlich Irrtümer ein. Man spürt etwas nach, dem nicht nachspürbar
ist. Die Diferenz verführt dazu, nach der Einheit der Diferenz zu fragen.
Es macht auch keinen Sinn, nach dem Wesen von Männer und Frauen zu
fragen. Die überlieferte Unterscheidung von Tugenden und Lastern in der
Geschlechterbeziehung hilft auch nicht weiter. Wir können die Einheit von
Mann und Frau nicht an ihren körperlichen Merkmalen ablesen, sondern nur
an der Unterscheidung mit der wir sie beobachten.
Wir betreten einen anderen noch nicht erforschten Bereich, nicht nur des
Denkens und Handelns, sondern auch des Erlebens: Selbstreferenz ist von
den zweiwertigen Unterscheidungen der aristotelischen Logik zu trennen.
Die Wahr-Falsch-Unterscheidung hat es leicht: Eine Verneinung macht wahre
Aussagen falsch und falsche Aussagen wahr. Davon sind alle Dualitäten
betrofen. Wenn wir die Trennung von Selbstreferenz und der Wahr-FalschUnterscheidung ernst nehmen und durchführen, stoßen wir an die Grenze
des Umgangs mit uns selbst. Unlust kann man auch genießen. Wie gehen
wir mit dem Durchkreuzen von wahr-falsch um. Das ist keine Frage der Logik,
sondern des Erlebens. Die Logik kann sich nicht selbst durchkreuzen, möchte
sie Logik bleiben. Wenn sich Selbstreferenz von dem Dualisieren trennt, dann
zerfallen die einfachen dualen Zurechnungen. Sie geraten unter Verdacht.
Devotes kann geheuchelt sein, Wahres unaufrichtig kommuniziert werden,
mitgeteilte Aufrichtigkeit gerät unter Verdacht und Hölichkeit kann auch
täuschen. Es bleibt nur das Erleben der Diferenz als Hinweis, um wieder Mann
und Frau zu sein, um immer wieder mehr Mann und mehr Frau zu sein. Aber
wir sollten vorsichtig sein, die Diferenz von Mann-Frau wird nicht gemacht.
Hier könnten wir auf eine Paradoxie aulaufen.
Bei dem Niederschreiben verliere ich die Gedankenfolge. Mir ist gar nicht
bewusst, was sich da ereignet. Es mag die Nacht sein, die einhüllt und der
heranrückende Tag, der sie plötzlich durch Geräusche unterbricht.
Der alte Freund kommt mir wieder in Erinnerung. Es ist so, als sei ich gestern
mit ihm unterwegs gewesen. Die Gespräche mit ihm waren inspirierend,
aber von jugendlicher Naivität. Wir verloren uns nach einigen Jahren aus den
Augen, ohne dass man sagen könnte, warum sich das einstellte. Er las damals
Thomas Mann:
„Der Hans Castrop und der Leverkühn, das sind doch zeitversetzt dieselben
Gestalten. Der Naive, der in den Ersten Weltkrieg zieht und Dr. Adrian Leverkühn, der wahnsinnige Deutsche, der Kühle, sich nur kalt berauschende,
der nicht lieben darf und der in den Wahnsinn tritt und für die nächsten Generationen schaft. Ist das nicht deutsch? Der, der im Wahnsinn kalt erglüht
und das Weltgericht abhält, ist es ein Hegelianer?“
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In diesem Stil ging es weiter. Ich selbst habe mich sehr selten über Thomas
Mann unterhalten. Meine Zugangsweisen waren zu unterschiedlich, einmal
eher positiv, dann wieder einmal gelangweilt, danach wieder erfreut und
unterhalten durch seine Ironie. Ob sie wirklich gelungen ist, mag dahingestellt
bleiben. Im Josephsroman wirkt sie eher künstlich und von der Szene her
gesehen unwirklich. Die Hirten sitzen am Feuer in der Wüste und unterhalten
sich mit ironischen Reden. Das mag von mir ein Vorurteil sein.
In den letzten zwanzig Jahren war ich eher ein rückwärtsgewandter
Auswahlleser. Wenn man einen Autor kennt, dann kann man sich ihm
ausgewählt wieder annähern. Man liest nicht mehr das ganze Buch, sondern
vertieft sich eher in Details. Das geht gut, da der Text bekannt ist. Der alte
Freund redete vom Dr. Faustus und war fasziniert. Dabei stellte die gefärbte
Blondine noch ein Bier vor ihn. Sie bewegte ihre harten Brüste.
„Wohl bekomm’s“,
sagte sie. Sie kannte uns, da wir jede Woche einmal um 15 Uhr das Pub
angetrunken verließen und guter Dinge waren.
Ich selbst war damals eher von Negerinnen aus Somalia angetan. Sie
gehören zu den schönsten Negerinnen, sind feingliedrig und verbinden
eine besondere Mischung von Unterwürigkeit und Stolz. Andere Freunde
bevorzugten Äthiopierinnen. Sie sind nicht hässlich, waren aber nicht mein
Fall. Bei der Negerin begegnet man sexuell dem Tier, aber was macht man mit
ihr danach? So jagen wir unseren Einbildungen nach. Berührungen mögen
zwar beben. Was sind sie aber ohne Einbildungskraft?
Es ist gleich 4 Uhr in der Frühe. Ich höre noch etwas in den Ring hinein.
Vielleicht in den dritten Teil.„Siegfried“: Er führt als erkenntnisblind Handelnder
den Untergang der göttlichen Schöpfung herbei.
Das Heute wird kürzer, da das Morgen schrumpft. Die Gegenwart wird
formlos, da sich die zukünftige Gegenwart entfernt. Es treten immer öfter
Todesängste auf: Gehe dann aus dem Haus, fahre mit der U-Bahn ziellos durch
die Stadt, steige irgendwo aus, laufe umher, ohne dass man dabei noch etwas
aufnimmt. Sieht man eine schöne Frau, so zuckt man zusammen, ohne dass
sich ein Wunsch einstellt.
„Ihr nachgehen, sie verfolgen und beobachten“,
bewegt einen plötzlich. Immer mehr stellt sich aber eine Unlust ein, die Brücke
zu dem Leib des anderen zu begehen. Es ist nicht nur mühevoll, sondern es
fehlt der Antrieb. Das verändert den Blick auf den anderen Leib und sein
Erleben. Fremdheit stellt sich ein. Er ist nicht mehr etwas, dem man nah sein
möchte.
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Leider gibt es in Frankfurt am Main keine Straßenprostitution mehr. Das waren
noch Zeiten! Man handelte schnell eine kleine Nummer aus und hatte etwas
Spaß. Die ganze Prostitution hat sich ins Internet verlagert. Übrig sind die
Türkenpufs geblieben. Sie sind schmutzig und deprimierend. Mittlerweile
sind dort die Osteuropäerinnen eingezogen. Nach zwei Stunden Stadtmarsch
stellt sich Ermüdung ein. Man ist irgendwo und fährt wieder nach hause. So
vergehen die Tage. Es fehlt an Unterhaltung. Das Lesen und Musikhören lenkt
etwas ab. Man geht auf Reise. Aber auch das wird fremd, irgendwie nicht fassbar.
Der Sommer 1968 drängt sich in den letzten Tagen auf. An was erinnert man
sich nach vierzig Jahren, was fällt dem Vergessen anheim? Ist es überhaupt
wichtig, was man erinnert? Die Doors gaben auf dem Römerberg ein Gastspiel.
Es war nicht übermäßig besucht. Sie hatten noch nicht die Bekanntheit, die sie
in der Folge erlangten. Ich saß mit einer Flamme auf der Treppe zum Rathaus.
Wir zogen einen Joint durch. Run with me! Eine expressive Inszenierung war
zu erleben. „Run with me“: Die sexuelle Anspielung drängt sich auf. Der Joint
tat seine Wirkung.
Wir blieben nicht bis zum Ende. Es war ein warmer Sommerabend. Wir
gingen ins Nizza am Main und trieben es. Sie war die Frau mit den goldenen
Brüsten. Guter Sex ist eher selten, aber sie bekam die Note 1. Dafür hätte man
sie promovieren sollen. Danach setzten wir uns in das Lorsbacher Tal, eine
Apfelweinkneipe in Sachsenhausen, ab. Die Apfelweinlokale waren damals
„Heiratsmärkte“, wie man sagte. Jeden Abend waren sie bis zum letzten Platz
besetzt. Es wurde getrunken, gegessen, gelirtet, abgeschleppt. Die Nacht
ergrif uns.
Was wird aus der Frau mit den goldenen Brüsten geworden sein? Wir liefen
nach zwei Monaten auseinander. Ich habe sie nie mehr gesehen. Würde ich
sie wiedererkennen? Man hätte sich, würde man sich zufällig trefen, nicht
viel zu sagen haben. Es würde sich vielleicht ein Gefühl aufdrängen, mit dem
man nicht umgehen kann, das nicht aussprechbar ist. Man kennt das auch aus
anderen Zusammenhängen, zum Beispiel bei Verwandten, von denen man
nicht viel hält, aber denen man sich doch irgendwie verbunden fühlt.
Es kommt gelegentlich vor, dass man jemandem aus der Vergangenheit
zufällig begegnet. Eine Fremde und Distanz tritt dabei ein, die etwas
Unheimliches hat. Man erkennt sich auf einmal nicht mehr in der
vergangenen Geschichte mit demjenigen, der einem über den Weg läuft.
Besonders eindringlich stellte sich dieses Erlebnis vor mehreren Jahren
bei der Beobachtung einer Geliebten aus den 1970er Jahren in der Kleinen
Markthalle ein. Sie kaufte ausgiebig Delikatessen ein. Sie wird so 58/59 Jahre
gewesen sein.
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Sie war eine Nymphomanin.
„Ich brauche Sex mit vielen Männern“,
sagte sie damals. Als ich sie kennenlernte war sie so 28/29 Jahre. Sie war
verheiratet und wohnte mit ihrem Ehemann in einer großzügigen Wohnung
im Frankfurter Nordend. Sie war eine außerordentlich elegante Erscheinung
mit einer besonderen Art sich zu inszenieren, indem sie zugleich Nähe und
Distanz herstellen konnte. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der gerne
Klavier spielte. Er wird so Anfang der 40er Jahre alt gewesen sein.
„Die schöne Kunst reicht zum Leben meistens nicht aus. Um es damit zu etwas zu bringen genügt nicht Talent, Fleiß, sogar Förderung reicht oft nicht
aus. Man hat zum richtigen Zeitpunkt an dem richtigen Platz zu sein. Aber
wer ist das schon“,
sagte er. Er setzte sich ans Klavier und ing an zu spielen. Sehr talentiert und
einfühlsam. Am Beeindrucktesten war, wie einfühlsam die Nymphomanin
mit ihm umging. Es wirkte wie die ideale Beziehung. Oft saßen wir abends
zu dritt zusammen. Er spielte Klavier, rauchte eine Zigarre. Ein Charmeur mit
lebendigen Augen. Mir kam er als der letzten Charmeur der Geschäftswelt vor.
Das erwähnte ich aber ihm gegenüber und anderen nicht.
Die Nymphomanin schien ihm ganz ergeben. Bewunderte ihn. Ihr Mann
war mir sehr zugetan:
„Wenn Sie so weitermachen, dann wird nichts aus Ihnen. Mit der ganzen
Bildung, Philosophie, Literatur, das sind brotlose Künste. Das ist selbstzerstörerisch. Das sollten Sie loslassen. Ich verschafe Ihnen einen Job in New
York. Greifen sie zu. Da können Sie zeigen, was an Ihnen ist.“
„Lass ihn doch, er soll uns noch etwas rezitieren“,
sagte die Nymphomanin.
„Nacht
Durch die Stadt gehen
Nicht aufhören
Straßen voller Licht
Fluss
Dunkles winkt
Fühle, wie es greift
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Bewegt
Ohne Ende: Gehen
Versinke lang“
Bei „Versinke lang“ ing der letzte Charmeur des Geschäftslebens, wie die
Nymphomanin ihren Ehemann nannte, wieder an Klavier zu spielen.
„Kippen wir noch eine Flasche Schampus, es ist noch etwas ganz Feines da,
das vertreibt die lyrische Schwermut“,
sagte er.
Gegen 1 Uhr früh brachte sie mich durch das herrschaftliche hohe
Treppenhaus zur Haustür. Sie machte mir den Hosenlatz auf.
„Mach’s mir schnell von hinten“,
sagte sie.
„Komm schnell, schneller ... Zieh mir den Rock hoch und mach’s mir von
hinten.“
Danach lächelte sie mich an und verabschiedete sich.
„Selig ist, wer vergisst, was mal nicht zu ändern ist. See you.“
Was war mit der angefangenen Nacht zu anzufangen? Ich ging in eines der
Nachtlokale, die bis vier Uhr früh aufhatten. Trank noch ein paar Bier. Lies mich
behangen von dem Geschehen treiben.
Wir sahen uns in der kleinen Markthalle einen Augenblick an, sprachen
aber nicht miteinander. Aber aus ihrem Blick entnahm ich, dass sie sich
an mich erinnerte. „Das war doch der ...“, könnte sie zu sich gesagt haben.
Ich sah ihr dann nach, wie sie, sehr elegant, geplegt und vollgepackt die
Kleine Markthalle verlies. Sie hatte noch eine leidlich gute Figur, ich spürte
ihr Stöhnen, sah sie nackt vor mir liegen. Plötzlich stellte sich der Drang ein,
ihr nachzulaufen und sie anzusprechen. Aber ich ließ es. Ich sah, wie sie sich
entfernte, blickte ihr nach und das aufdringliche Gefühl verlog. Es war kein
unangenehmer oder bedrohlicher Zustand. Plötzlich stellte sich eine innere
Ruhe ein. Ich ging zur Hauptwache. Rauchte ein paar Zigaretten. Es war so, als
ging mich das, was mich umgab, gar nichts an.
Ich fühlte mich an der Hauptwache in das Jahr 1965 zurückversetzt. Da war
sie das Zentrum des städtischen Geschehens. Es fuhren die Straßenbahnen
in alle Richtungen. Mittags im Café Alfa oder im Terrassencafé, am frühen
Abend im Café Kranzler, in dem ein Stehgeiger spielte oder in der Hütten und
Sie Bar. Im Story Ville und im Jazzkeller war der neuste Jazz zu hören. Man
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hatte eine Free-Jazz-Stimmung, der eine metaphysische Bedeutung zukam.
Die Antibabypille, die so seit 1966 in Umlauf kam, eröfnete eine angstfreiere
Sexualität. Die jungen Studentinnen ließen sich in der Universitätsklinik in die
Testgruppe eintragen und bekamen sie so kostenlos.
Es war die Zeit andauernder intellektueller Innovation. Man war bereits in
der Postmoderne angekommen. Der allwissende Erzähler, das erkennende
Ich als Fundament jeder sicheren Erkenntnis, die abgeschlossene Geschichte
und die gute Gesellschaft hatten damals bereits ihre Geltung, Vorbildlichkeit
und Plausibilität verloren. Der Noveaux Roman war die ultima ratio. Autoren
wie zum Beispiel Nathalie Sarraute, Allain Robbe-Grillet, Robert Pinget,
Claude Ollier spürte man nach. Diese Form hat aber in Deutschland weiter
keine Verbreitung gefunden und keine Wirkung nach sich gezogen. Anfang
der 1970er Jahre sprach man kaum mehr von ihm. In Italien war das etwas
anders. Es ist aber auch nicht sonderlich verwunderlich, dass der Noveaux
Roman keine große Verbreitung gefunden hat. Seine Rezeption beschränkte
sich auf kleine Intellektuellenkreise. Er verbleibt an der Oberläche und
überlässt bewusst alles dem Leser (Interpreten). Zudem ermüdet er und ist
nicht sonderlich unterhaltend. Man kann auch nicht nur Anton Webern hören.
Eine Kuriosität aus dieser Zeit kommt mir in Erinnerung. In den intellektuell
ambitionierten Kreisen der akademischen Jugend der zweiten Hälfte der
1960er Jahre hörte man immer wieder, dass man einen Roman schreiben
möchte. Eine Theorie aufstellen oder etwas erforschen galt eher als zu profan,
wenn nicht sogar als banal. Davon hatte man sich nicht viel an Einsicht
erwartet, sondern der Roman sollte geradezu der intellektuelle Höhepunkt
und zeitgemäße Ausdruck, nicht nur der Zeit, sondern des eigenen Selbst
in einem überpersonalen Sinne sein. Aber nicht nur das. Er sollte nicht nur
einfach ein Roman, sondern der Roman des Romans sein. Der Roman, der
sich zugleich selbst relektiert und seine eigene Theorie enthält. Das war eine
romantische Idee der „Athenaeumszeit“ in Weimar von 1798-1800 (F. Schlegel
und seine anspruchsvolle Freunde).
Die Romantiknatur ist eine verzauberte Natur. Das Banale sollte
außergewöhnlich, das Normale sollte sensationell und im Endlichen
sollte etwas Unendliches sichtbar werden. Eine Charakterisierung des
Romantischen, die auf Novalis zurückgeht und wirkungsgeschichtlich wurde.
Dass aus solchen Ansprüchen und Ambitionen nichts wurde, ist eigentlich
naheliegend. Es wurde einer verkehrten Idee nachgejagt. Das Ganze erledigte
sich von selbst. Die Zwänge des Alltags traten ein und taten das Übrige. Wie es
sich auch immer damit verhielt, die Art des Redens hatte etwas Anregendes. Sie
stimulierte, wenn auch nicht gerade dazu, sich dieser Aufgabe anzunehmen.
Der Zufall brachte es mit sich, dass ich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre
als Statist bei den Frankfurter Städtischen Bühnen tätig war. Eine ausgelassene
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Zeit. Fast jeden Abend war Theater oder Oper angesagt. Am Mittag traf
man sich in einer der beiden Kantinen. Der Vorhang fällt und der Applaus
kommt einem entgegen. Die Statisten konnten bei dem letzten Vorhang
auch daran teilhaben. Das Publikum gerät in Ekstase. Eine Ansammlung von
sich unbekannten Besuchern, die zufälliger Weise bei einem Theaterbesuch
in einem Raum sind, tritt in eine außeralltägliche Beziehung. Sie können in
dem Augenblick ihres Applauses anders sein, als sie sonst sind. Treten aus sich
heraus. Wer das einmal erlebt hat, kann nachempinden, dass man danach
süchtig sein kann. Dann wird es plötzlich still. Das Theater leert sich, und man
weiß nicht mehr, was geschah. Es ist so, als sei nichts gewesen. Am darauf
folgenden Tag steht bereits die nächste Veranstaltung an. Es wiederholt
sich, ermüdet, es wird wieder gespielt. Das ist das Geheimnis der Schönen
Kunst, dass immer weiter gespielt wird. Sie darf nicht aufhören. Es ist ein
selbstzerstörender Zwang.
Nach der Auführung saß man mit den Schauspielern zusammen. Sie
gingen damals in den Künstlerkeller zur Toni. Sie war die beliebte Wirtin
im Künstlerkeller. Dort hatten sie ihren Stammtisch. Man sagt den Künstler
Egozentrik, überzogenen Narzissmus und Instrumentalisierung ihrer sozialen
Beziehungen nach – etwas, das ja nicht nur auf sie zutrift --, aber eines muss
man der Künstlergeneration dieser Zeit lassen, feiern konnten sie. Toni hat im
Künstlerkeller wirklich lange durchgehalten. Anfang der 1990er Jahre zog sie
sich nach Sommerhausen, eine kleine Künstlerkolonie am Main, zurück. Der
Ort liegt nicht weit entfernt von Würzburg lussaufwärts.
Es ist wieder früh geworden. Irgendwie blieb die Zeit stehen. Sie war ein
einziger Augenblick. Jetzt tritt wieder das Gegenständliche ein und bringt
einen zurück zur weiterlaufenden Zeit. Ein Satz schießt mir durch den Kopf:
„Einsam ist man erst dann, wenn man merkt, dass man allein mit sich zurecht kommt.“
Das Mit-sich-selbst-vertraut-Sein wird fremd. Man ist sich selbst entzogen.
Wenn man merkt, wie sich das anfühlt, fängt man an abzudriften. Es ist nicht
mitteilbar. Ein dauerndes Fallen. Wenn wir es in der Gegenwart zu erfassen
versuchen, so verschiebt es sich in die Zukunft. In der Zukunft ist es nicht
erreichbar. Die Zukunft ist ohne Anfang und Ende. Ob das dann wirklich – auch
für einen selbst – „gut“ ist, mag dahingestellt bleiben. Es fehlen die Maßstäbe.
Man fängt an, sich über die Schulter zu sehen, aber das wird immer mehr
unerlebbar. Man spürt nur noch etwas, aber es wird nichts mehr gesehen. Es
tritt Leere ein.
29. September 2007
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dIe VerführerIn
Der Einbruch ist früher gekommen, als ich es erwartete. Die körperlichen
Veränderungen sind weniger das Problem. Darauf kann man sich einstellen,
aber die mentalen Vorgänge, wie sie damit auch damit zusammenhängen
mögen, irritieren das bewusste Erleben. Man kann gar nicht so bestimmt
sagen, welche Gäste in die wachen Zustände eintreten. Es verschwimmen Tag
und Nacht, bewusste Gegenwart und Schlaf. In dem Ausmaß, indem Rentner
ihre Alltagsordnung verlieren, stellt sich ein Verlust an Alltagsbewältigung
ein. Sie haben von heute auf morgen auf einmal den ganzen Tag Zeit und
brauchen für Erledigungen, die sie vorher an einem Tag durchführten – ohne
viel darüber nachzudenken – auf einmal eine ganze Woche. Es wird alles
beschwerlich. Man muss sich schon für das Zähneputzen überwinden. Das
alles braucht nicht sonderlich zu überraschen, da man das eigene Leben
hinter sich hat. Die Erwartungen werden kurzfristiger und weniger. Was soll
auf einen schon noch zukommen? Von Alterssex halte ich nicht viel. Es wird
uns da auch Unsinniges angesonnen. Man sagt sich den Goethe-Satz vor
„Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein“.
Dabei bleibt es dann in der Regel. Alte und hinfällige Leiber, die sich
umschlingen, sind kein ästhetisches Bild. Je älter man wird, um so mehr sollte
man in das Musische eintreten. Es bedarf der Exerzitien des reinen Erlebens.
Sie soll aber keine Klage sein. Das Erleben kann auch in andere Dimensionen
eintreten. Je mehr die Zwänge, Erwartungen zurücktreten, umso mehr kann
sich auch das Musische steigern. Vielleicht tritt man erst in einer Situation, in
der der Wille nachlässt in das Musische als ein reines Erleben ein. Etwas haben
wollen, das ist das Charakteristische des Willens, das uns vom reinen Erleben
abhält. Man wird durch das ästhetische reine Erleben stoned. Es ist etwas, das
gar keinen Nutzen mehr hat. Deshalb kann man es nicht kommunizieren. Es
ist wie reines Marijuana. Aber auch Gegenbewegungen treten ein. Man ist
der ganzen Kunst und Literatur überdrüssig. Man mag gar nichts mehr lesen,
nichts hören, sich nicht in Bildern verlieren. Im Kopf fängt es an, dass sich alles
aulöst und formlos ist. Es stellt sich ein Zustand ein, in dem man am liebsten
schläft.
Gegen ein Uhr nachts hörte ich etwas Mahler. Bei dem Adagio der
unvollendeten 10. Symphonie drängte sich die Erinnerung an die Nymphomanin
auf. Irgendwie wirkte das kleine Markthalle-Erlebnis unbewusst nach. Das
überraschte mich, da ich danach gar nicht mehr an sie dachte. Sie trug gerne
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wertvolle Perlenketten.
„Man hört immer wieder, Perlenketten seien etwas für alte Frauen. Das ist
aber eher die jetzt kommende Müslimittelschicht der ungebildeten Gymnasiallehrer. Perlen haben etwas Erotisches. Sie sind wie ein Augenblick, so
wie die Liebe, die nicht für die Ewigkeit zu gewährleisten ist“,
hörte ich sie sagen. Sie war eine außerordentlich gut aussehende und
wohlgebaute Frau. Sie hatte eine Eleganz, der man nicht das Inszenierte
anmerkte und liebte einen aufwendigen Lebensstil. Das war in diesem Fall kein
sonderliches Problem. Ihr Mann sorgte fast etwas zu großzügig dafür. Schon
wie sie rauchte, war ein Erlebnis. Selbstverständlich kamen nur „Botschafter“
in Frage. Die teuersten Zigarettenmarke, die es auf dem Markt gab. Es sind
wirklich vorzügliche Zigaretten. Sie war Akademikerin und gebildet. Zudem
hatte sie eine ins Destruktive gehende Intelligenz. Damit verband sich ein
besonderes Problem, da sie die Akademiker zugleich als geschmacklos
verachtete. In ihrem Aussehen erlebte ich auch etwas Hässliches. Das
Gebildete verbindet sich auch mit etwas Grobem. Vielleicht war es eine
fehlgeleitete Empindsamkeit, dass ich sie so sah. Ihre ganze Psychologie ist
mir immer noch schleierhaft. Sie wirkte in ihren eleganten Kostümen, den
Nylonstrümpfen und den teuren Schuhen ausgesprochen phallisch, so, als
mochte sie ein Schwanz sein. Die Gebildeten sind oft auch sehr banal, trivial
und inszenieren sich vor ihrem Publikum. Man denkt, „das ist aber eine feine
Frau/Mann“ und erlebt, wie sie entgleisen und versteht nicht mehr, was sich
da ereignet.
Mittags, wenn ich sie im Café traf, sagte sie:
„Komm, wir treiben es erst einmal im nächsten Bürolur. Danach können
wir uns noch etwas unterhalten. Dieser ganze deprimierende, ritualisierte
Ablauf: Man trift sich am Abend mit einem Mann, trinkt einen Wein und
danach soll man mit ihm ins Bett gehen. Diese ganze latente sexualisierte
Stimmung, und man weiß schon, was danach alles an Ungeschicklichkeiten
kommt. Was soll das schon bringen?! Wir machen es erst einmal. Dann trinkt
sich doch Café und Cognac etwas entspannter. Treiben kann man es überall, das ist eine Frage der Einstellung, da gibt es nicht viel zu organisieren.
Wenn ich diese Männer mit ihrer verkorksten Sexualität sehe, und arme
Kirchenmäuse sind sie dann auch noch“.
Es konnte auch vorkommen, dass sie in einem Aufzug den Schalter auf „Halt“
stellte:
„Und, was jetzt, sei kein Feigling. Ist etwas an dir dran?“
Zu dem Zeitpunkt hatten sich ihre sexuellen Forderungen derart gesteigert,
dass ich ihnen nicht mehr nachkommen mochte. Das führte vermutlich auch
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zum Ende dieser Liebschaft. Wobei zu berücksichtigen ist, dass es nicht nur
einen einzigen Grund für das Ende von Liebschaften gibt. Ihre Qualität besteht
in der zeitlichen Begrenzung. Sie bekommen dadurch ihren Hauch von
Außerordentlichkeit. Sie sind der Ausnahmezustand der Erotik. Oft hat sich
aber auch etwas erschöpft, die Entscheidung hat eine längere Vorgeschichte.
Es ist nur die Frage, wer dann wem den Schwarzen Peter zuschiebt. Der
Verlassene hat es sogar leichter, da er bedauert werden kann und derjenige,
der den ersten Schritt geht, hat am Ende den Nachteil: Er macht sich Vorwürfe,
steht nicht selten als der Böse dar, seine Entscheidung wird entsprechend
kommentiert, und es werden ihm alle möglichen Motive angesonnen.
Wie gefährlich die Nymphomanin war, zeigte sich erst im Fortgang. Sie
konnte skrupellos sein. Der Konlikt brach plötzlich aus. Meine Absicht, nach
Agadir zu liegen, um einen alten Freund zu trefen, wurde von ihr durch den
Vorschlag durchkreuzt, dass man doch zu dritt den Trip unternehmen könnte.
Das wurde so selbstverständlich geäußert, als sei ein Widerspruch gar nicht
denkbar. Mir war das nicht so lieb, da ich eine Auszeit nehmen mochte, um mich
etwas innerlich zu ordnen. Auch merkte ich einen inneren Widerstand, mit der
Nymphomanin und dem letzten Charmeur der Geschäftswelt unterwegs zu
sein. Beindet man sich in dem Zustand der inneren Sortierung, so bedarf
es auch der Diferenz zu einer vereinnahmenden Nahwelt. Die Diferenz
mündete nun in keinen Konlikt ein, sondern wurde übergangen.
„Wir besprechen dann dein Projekt, wenn du zurück bist, ich habe eine
Idee“,
sagte sie, als sie mich zum Flughafen brachte. Sie verabschiedete sich mit
ihrer einnehmenden Verbindlichkeit. Ich war bei ihr aber bereits ausrangiert.
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre schrieb ich einen kleinen
Gedichtband, Ortung, der Jahre zur Seite gelegt, mich wieder beschäftigte. Ich
habe ihn dann Anfang der 1980er Jahre vernichtet. Einige Verse sortierte ich
aus. Sie hatten noch eine Geschichte, die überraschend begann. Der lyrische
Ausdruck, seine Reduktion und Verdichtung beschäftigte mich in den 1970er
Jahren. Das angesprochene „Projekt“ führte auch zu dem Zerwürfnis, das von
der Nymphomanin nach meiner Rückkehr zügig herbeigeführt wurde. Mir
schwebte damals die Vertonung von Teilen der Ortung vor. Sie hatte einen
jungen talentierten Komponisten und Pianisten an der Hand, der sich gerne
der Aufgabe angenommen hätte. Sein Spiel war wirklich ansprechend. Oft saß
er am Flügel und spielte mit liegenden Händen. Er war ein hochgeschossener
Mann, der gut aussah. Jemanden, mit dem man auch repräsentieren konnte,
der nicht die goldenen Kafeelöfel mitnimmt und es auf das Personal
schiebt. Im schlimmsten Fall schleppt er jemand vom Personal ab. Das wird
nachgesehen und gehört zu den Kavalierverfehlungen, mit denen man sich
gerne identiiziert.
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Die latent vorhandenen Ambivalenzen brachen schlagartig aus. Sie
bestand auf einer Vertonung der Ortung in der Schönbergtradition, was
nicht meinem Zugang zu dem tonalen Ausdruck der Verse entsprach. Die
Ortung war damals so gebaut, dass sie von der formalen Fassung der Verse in
eine freie Form überging. Das sollte aus meiner Sicht in einem melodischen
Übergang vertont werden. Der tonale Ausdruck sollte noch eine Fessel sein,
der im stimmlichen Ausdruck der Verse überwunden wird und zugleich
wieder kehrt.
(Erwartung)
Felder, voll von Traum
Roter Mohn schmückt dunkles Gelb
Messer greifen in sattes Korn
Schwarz-Braun bricht jetzt hervor
Tod zeichnet das Gesicht
Dunkles winkt, so lange schon.
Bei diesen Versen sollte der Ton lange gehalten werden: So, als höre er nicht
auf.
Der talentierte Tonsetzer schlug sich zwar nicht auf ihre Seite, sondern
er enthielt sich so neutral, dass es alles bedeuten konnte. Es gibt eine Art
der Zurückhaltung, mit der man manipulieren kann, ohne weiter in ein
Engagement für die eine oder andere Seite zu gehen.
Zu dem Zeitpunkt wird er schon ihr Liebhaber gewesen sein. Sie äußerte
sich mir gegenüber bei einem unserer letzten Trefen in dieser vernichtenden
Weise:
„Du kommst nicht genug, warum kannst du nicht sechs, sieben Mal schnell
hintereinander, das kenne ich doch anderes“.
Ich brach den Kontakt mit ihr ohne irgendwelches Nachgeplänkel ab. Mit der
Konsequenz meiner Entscheidung hatte sie vermutlich nicht gerechnet, da
sie auf Nachgiebigkeiten und Verführbarkeiten spekulierte. Sie erreichte mich
nach Wochen noch einmal am Telefon:
„Du könntest doch auf der Ausstellung vorbeikommen. Bin mit Freunden
unterwegs. Wir könnten uns dann absetzen“,
aber ich ging darauf nicht ein und legte auf.
Tage später traf ich den Tonsetzer, der mir seine Not anvertraute.
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„Ich kann zehn Mal hintereinander. Das glaubst du nicht. Ich zeige es dir“.
Er holte im nächsten Hauslur seinen Schwanz heraus und ing an. Nach dem
er vier Mal kam, war ich überzeugt.
„Sie macht mich fertig. Was soll ich nur tun? Wir reden noch über die Vertonung.“
Ich legte aber keinen Wert mehr auf die Vertonung, da ich andere Projekte
verfolgte. Irgendwie, ohne es mir erklären zu können, hatte ich das Projekt
innerlich abgeschlossen und für mich beendet. Wenn etwas innerlich
abgeschlossen ist, darf man nicht den Fehler begehen, Sentimentalitäten
aufkommen zu lassen.
Den Tonsetzer, der Mann mit den linken Händen, traf ich in den folgenden
zwanzig Jahren immer wieder einmal. Sein ganzes Talent nutzte ihm nicht
viel. Er war mit mehr als Glück an einer Musikhochschule in der Provinz
untergekommen, an der er Klavier und Komposition unterrichtete, heiratete
und zeugte zwei Kinder mit einer Gymnasiallehrerin. Er sah schlecht und blass
aus. Das wurde noch durch seinen hochgeschossenen Wuchs verstärkt.
„Je mehr man in die Tiefe der musikalischen Konstruktion und Technik einsteigt, umso mehr verliert man das Talent zum spielerischen Komponieren. Ich habe kein Talent zur Vision. Was haben mir die schnellen Hände
und das ganze, nicht aufhörende Klavierspielen geholfen? Wenn ich Frau
und Kinder sehe, wird mir schon schlecht. Der ganze kleinbürgerliche Verwandtschaftsquatsch und Terror. Das geht nur mit Cognac. Man trinkt sich
diese, jedes Talent vernichtende, Verwandtschaft erträglich. Schön, würde
ich nicht sagen, da man sich Frauen für seinen steifen Schwanz schön trinkt.
Die Verwandtschaft kann man nicht „schön“ trinken, die bleibt auch dann
so, wie sie ist. „Erträglich“ wird sie in diesem Zustand, da man ihre Konturen
nicht mehr wahrnimmt. An Krebs werde ich mit dieser Verwandtschaft sterben. Komm, wir kippen noch ein paar Cognacs. Ich erkläre dir, warum die 12
Tontechnik veraltet und nicht erneuerbar, schlicht geschichtlich ist.“
Er sprach noch die Gefährlichkeit der Nymphomanin an, die mich bei allen,
die sie kannte, mit ihrem Gemunkel herabsetzte.
„Sie sagte, du seist ein impotenter Wichtigtuer, auch noch völlig untalentiert. Mich hob sie dann als Genie in den Himmel. Sie hat mich aber auch
abgeschoben und lächerlich gemacht. Wir sind ja ganz gut davongekommen“,
sagte er. Sein Gesicht wirkte dabei noch grauer. Seine ganze Erscheinung hatte
etwas Rührendes. Sie versetzte mich in eine niedergeschlagene Stimmung,
so wie er da redete, wie einem vor Augen geführt wurde, dass sein ganzes
Talent vernichtet wurde. Es wurde aber dann doch, dank der Cognacs und des
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Gesprächslusses, ein gelungener Abend.
Es ist jetzt wieder 5 Uhr früh. Die Schlalosigkeit hat mich wieder besucht.
Ich werde etwas mit der U-Bahn durch die Stadt fahren und vor mich hindösen.
26. Dezember 2007
19
Versunkene Innenstadt
Das letzte Stück des Nachtkonzerts geht zu Ende. Es ist kurz vor 5 Uhr früh.
Eine Niedergeschlagenheit überkommt mich. Ich kann mich kaum bewegen.
Ein Zustand, als ob man im Innern weint. Ein Weinen ohne das Feuchte der
realen Tränen. Der Zustand hat nichts Erhellendes. Er ist kein Zustand der
verklärenden Melancholie. Es kostet mich viel Kraft aufzustehen, um das Radio
abzuschalten. Die Frühnachrichten werden gleich gesendet. Dem möchte ich
mich entziehen. Versuche mich in die Horizontale zu bringen. Schlaf, etwas
Musik und eine schöne Stimme können eine gute Medizin sein.
Unseren Erinnerungen können wir nicht so ganz trauen. Aber auf ganzer
Linie an ihnen zu Zweifeln, macht auch keinen Sinn. Es gibt keine apodiktischen
(nicht erschütterbare) Gewissheiten über vergangene Erfahrungen und
Erlebnisse, die wir uns in Erinnerung rufen. Die Erinnerungen lösen ein Gefühl
aus, haben eine stärkeren und schwächeren Grad an Aufdringlichkeit. Wir
versuchen uns zu erinnern und es stellt sich ein Ablauf von Erinnerungen
ein, den wir als etwas Geschehenes festhalten. So war es, sagen wir uns.
Gelegentlich lösen äußere Ereignisse Erinnerungen aus, ohne dass man dafür
eine Erklärung hat. Wenn man allein vor sich dahin sinnt, schwankt man oft,
dem „so war es“ Urteil zuzustimmen. Man sucht nach äußeren Gegenständen.
Es mag eine Fotograie, ein Buch, ein Ton, ein Tasse sein, an dem man das
Erinnerte festmacht, um es in einen äußeren, versachlichten Zusammenhang
zu stellen. Dass uns Vergangenes nicht mehr ursprünglich gegeben ist, führt
uns auch in die Irre. Streichen wir das Problem!? Gehen wir von der Gegenwart
in die Vergangenheit zurück!
Es wird schon hell, und die Unruhe des Tags kündigt sich an. Gerade
spiele ich eine meiner Lieblingsstellen in Wagners Ring aus der Walküre an.
Siegmund:
„Winterstürme wichen dem Wonnemond, – in mildem Lichte leuchtet der
Lenz; – ...“
und Sieglinde antwortet ihm
„Du bist der Lenz, nach dem ich verlangte in frostigen Winters Frist ...“.
Dass ich diese Stelle immer wieder höre, hat etwas Zwanghaftes, und ich
unterdrücke es auch. Über zwanzig Jahre konnte ich sie gar nicht hören. Sie
führt mich in der Erinnerung zu Ereignissen, die mein Gemüt schwer belasten
und von denen ich mich eigentlich nie erholt habe. Da sollte man sich von der
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Außenansicht nicht täuschen lassen. Man kann nie ganz ausschließen, dass
man dem Thomas Mann Zauberbergtypus begegnet: Durch Höhenluft und
Alpinbestrahlung braun gebrannt und tödlich krank.
Der Agadiraufenthalt bei dem Marokkaner hatte nach dem Abschied von
der Nymphomanin wirklich gut getan. In Agadir zu sein, war eine kleine
Wiedergeburt. Man war den ganzen Tag unterwegs und lies das Fremdartige
auf sich wirken. Mit dem Marokkaner verbindet mich eine lange Freundschaft,
auch wenn ich ihn selten sehe. Ich lernte ihn im Sommer 1964 kennen.
In der Frankfurter Innenstadt gab es damals an der Ecke SchillerstraßeBiebergasse in Sichtweite der Hauptwache das erste Schnellrestaurant
Picknick. In diesen Jahren kamen junge Marokkaner nach Frankfurt. Das
Picknick war auf der unteren Ebene ein Schnellrestaurant und im ersten
Stock wurde noch wie üblich serviert. Die Fensterseite Richtung Café Kranzler
war ofen, so dass man dort in der Sonne stehen und Bier trinken konnte.
Abends wurde dieser Teil dann geschlossen. Im Café Kranzler konnte man die
Frankfurter Hautevolée trefen. Im Sommer konnte man auf einem kleinen
abgegrenzten Raum vor dem Ausgang draußen sitzen. Gegenüber waren
die Straßenbahnhaltestelle Hauptwache Richtung Eschenheimer-Turm
(Eschenheimer Landstraße.) und Hauptbahnhof. Dort tummelten sich die
Frankfurter Durchschnittsexistenzen, Angestellte, Arbeiter und Schüler. Im
Sichtkontakt waren die Hautevolée und der Rest der Frankfurter versammelt.
Er wartete auf die Straßenbahn, stieg aus und ein, nahm die Hautevolée gar
nicht wahr, aber er sah sie unabsichtlich, da er nicht über sie hinwegsehen
konnte. Vor dem Kranzler saß dieser Ausschnitt der Hautevolée, so wie in einem
Reagenzglas, auf einem recht kleinen, etwas sehr zusammengedrängten
Raum. Immer im Geschmack der Zeit gut angezogen. Man kann nicht sagen,
dass die andere Seite sich diesem Publikum gegenüber darstellte, aber sie
saßen einfach auf ihrem abgegrenzten Raum und fühlten sich wohl. Lachten,
tranken Kafee, aßen Kuchen und verabredeten sich. Sie sahen gelegentlich
auf das Hin und Her der Passanten, Straßenbahnen, ein Anblick, dem sie sich
auch nicht entziehen konnten und ließen sich von livrierten Kellnern des
Kranzlers servieren.
Im Kranzler war der Direktor des Frankfurter Zoos Prof. Dr. Bernhard Grzimek
mit stadtbekannten Kurtisanen ein Stammgast. Er trug einen eleganten,
hellen Sommeranzug und gab sich gerne, um es so auszudrücken, distanziertleutselig. Populär ist er durch seine Tier-Fernsehsendungen geworden, die
beliebt waren. Auf mich wirkten diese Sendungen sehr regressiv. Grzimek
war eine elegante Erscheinung. Er ging gerne ins Theater. Er gab einem
aber diskret zu verstehen, dass er im Café Kranzler nicht über Tiere sprechen
möchte. Er hörte sich gerne Klatsch an und klatschte gerne über Schauspieler,
Schauspielerinnen aus dem Theater am Zoo und den Mitarbeitern der
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Fernsehanstalten. Er stieg gerne Frauen nach und beschwerte sich darüber,
wenn er nicht landen konnte.
„Was bilden die sich ein, der alte Grzimek verhilft Ihnen dazu, dass sie einen
Augenblick aus ihrer himmelschreienden Trivialität herausgehoben werden. Hinten sind wir gleich, und vorn passen wir zusammen.“
Dabei lachte er immer. Im Terrassencafé traf man den Generalstaatsanwalt
Fritz Bauer. Er wirkte sehr gesetzt, rauchte iel und hatte eine einfühlsame
Umgangsweise, die einen für ihn einnahm. Man sagte ihm nach, dass
er zuhören, sich auf einen einlassen und einen ein Stück weiterbringen
konnte. Wenn ich mit ihm sprach, ließ er sich meistens über meine neuen
Musikerfahrungen erzählen. Er hörte gerne zu. Er verabschiedete sich gerne
mit dem Satz „Jetzt geht’s wieder zu meinen Problemfällen. Bis die Tage.“
Von Mittags bis zum frühen Abend trafen sich im Picknick kleine Gruppen
Marokkaner, auch Spanier mischten sich in die Runde. Die Frankfurter waren
über diese Erscheinungen sehr verwundert. Sie kamen ihnen exotisch vor.
Man hörte so Äußerungen wie
„Mach’s wie ein Marokkaner an der Hauptwache. Die haben’s gut. Sind bei
uns sind den ganzen Tag an der Sonne“.
Also das Übliche. Wir wissen, dass die Durchschnittsexistenzen in der ganzen
Welt eines gemeinsam haben, sie kommen abends nach Hause, trinken, sind
fremdenfeindlich und hängen Verschwörungstheorien nach. Mittlerweile
sind sie noch an das Fernsehgerät gefesselt, das sie in ihrem hässlichen
Selbstsein bestätigt. Das gilt nahezu kulturübergreifend. Da hilft nur eine
stoische Haltung. Die Grundfrage der stoischen Philosophie ist
„Was kann man ändern und was nicht?“.
Insofern hat man sie immer wieder in Erinnerung gerufen und sie zur
Selbstdeutung und Orientierung genutzt. Das Ergebnis ist, dass man sich ihrer
Art der Selbstreferenz zu eigen macht, die einfach darin besteht, die Stabilität
zu gewinnen, das Geschehen unberührt an sich vorbeiziehen zu lassen, da
man es nicht verändern kann. Ändern kann man allerdings das Ausmaß
von ihm betrofen zu sein. Das gelingt durch Indiferenz. Die Einübung in
den stoischen Blick, der die Einsicht in Veränderbares und Unveränderliches
freigibt. Was unsere alten Frankfurter betrift, so sollten wir ihnen zu Gute
halten, dass sie damals auch ihre freundlichen und liebenswerten Seiten
hatten.
Wenn man jung ist, hat man eine erhöhte Wahrnehmung seiner Umwelt
und sucht Kontakte, soziale Anschlüsse, von denen man erwartet, dass
man etwas Neues erfährt, das einen über die eigene Lage hinausträgt.
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Man nimmt Einladungen an, trift sich, feiert, geht ins Theater und hat eine
wache Außenorientierung. Damals war die Frankfurter Innenstadt noch ein
lebendiges Zentrum. Unsere Rede war
„Lass uns down town gehen!“,
also, auf den Rialto, auf dem man nach Angeboten und Anschlüssen Ausschau
hielt.
Es gab vor allem am Abend eine Innenstadtgeselligkeit, die sich im Sommer
bis spät in die Nacht hineinzog. Es wurde laniert, gelirtet, man traf sich, um
kurz ins Café zu gehen, machte Dates aus. „Hast du für heute Abend schon ein
Rendez-vous?“, war eine geläuige Rede. Das Wort „Rendez-vous“ war damals
noch im Gebrauch. Die Trampelpfade waren von Café Alfa zum Café Kranzler,
am Picknick vorbei zum Terrassen Café und zurück, oder die Fressgasse entlang
zum Café am Opernplatz und zum Café Weiß oder ins Café Wacker. Auf der
Fressgasse trank man im Café Schwille einen Kafee, ein Bier, je nach Laune. Es
war auch ein Szenetref mit gemischtem Publikum. Das Café Weiß wurde von
zwei Frauen bewirtschaftet, der alten Weiß und ihrer Tochter. Das Café Weiß
war eine Mischung zwischen Insidertipp und einem Stammpublikum aus
Angestellten, Intellektuellen und Musikern. Es hatte die Eigenheit, dass man
dort keinen Kuchen bestellen durfte. Der war so hart wie Stein. Die Insider
wussten das und tranken ihren Café. Verirrte sich einmal ein Passant in das
Café, bestellt Kuchen und beschwerte sich bei der alten Weiß, so warf sie ihn
aus dem Café mit dem Kommentar heraus „Solche Kunden brauche sie nicht“.
Die Alte Oper war damals noch eine Ruine. Gegenüber befand sich das eher
geplegte Café am Opernplatz. Ein großer Raum, in dem der Kafee mit einem
Glas Wasser serviert wurde. Die alte Oper wirkte als Ruine, umstellt von einem
Bretterzaun mit Plakaten am Abend ganz romantisch.
Mittags war ich mit meiner Frau oft im Picknick essen. Es gab dort
Erbsensuppe mit etwas Fleischwurst. Das sättigte halbwegs, ging schnell
und man hatte keinen Aufwand. Es war in diesen Jahren nicht unüblich, dass
man früh das Elternhaus verlies, auch oft früh heiratete. Ich heiratete mit
neunzehn Jahren eine gleichaltrige schöne dunkelhaarige Frau. Wir waren
damals, so stellte es sich mir im Rückblick erlebnismäßig dar, sehr verliebt,
waren getrieben nach unseren Körpern. Wir machten uns auch gleich von zu
Hause selbstständig und zogen in eine kleine Altbauwohnung in der Nähe
des Eschenheimer Turms.
Die Eltern steuerten zu unserem Haushalt etwas bei. Ich wusste nicht so
recht, was ich werden sollte, aber meine junge Frau hatte ein bestimmtes
Bild davon, was sie und folgerichtiger Weise auch wir, anstrebten. Sie wollte
eigentlich eine ganz gewöhnliche Existenz sein. Dazu gehörte für sie, ihren
Musikberuf ausüben, ein Kind und Männliches um sich haben. Musizieren,
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das war für sie das A und O. Musik erlebte sie als etwas Enthobenes, in ihrem
Reichtum, ihrer Fülle des Ausdrucks als etwas Immaterielles. Mein Körper
war damals wundervoll. Er hielt fast alles aus. Ich war ein drahtiger junger
Mann. Der Nefe meines Schwiegervaters baute eine Werbeagentur auf. Es
gab in diesen Jahren ein paar kleine erfolgreiche Werbeagenturen, die zwar
den Fortbestand in die 1970er nicht schaften, das war aber zu dem Zeitpunkt
nicht im Horizont, da die Aufträge eingingen und sie Schritt für Schritt am
Markt Fuß fassten. Ich arbeitete mich in zwei Monaten in die empirische
Sozialforschung ein und lektorierte Texte. Zudem konnte ich frei mit der
Arbeitszeit umgehen. Konnte um 13 Uhr anfangen oder um 10 Uhr. Manchmal
kam ich auch erst nachmittags. Lektorierte ein paar Stunden und danach
schaften wir es gerade noch knapp, den Anfang der Oper nicht zu verpassen.
Insofern waren wir leidlich gut gestellt. Es reichte für Konzertkarten, Cafés und
das Essengehen mit Freunden um Mitternacht. Ich selbst trank damals nur aus
Hölichkeit Alkohol, dafür rauchte ich, trank viel Kafee und Tee. Auch ein Auto
für Trips in die Frankfurter Umgebung war im Budget.
Was uns zueinander trieb, war die adoleszente Sexualität mit ihrer
fantastischen Identitätskonstruktion. Man kann drei, vier Mal am Tag und
spürt in der Hosentasche seinen steifen Schwanz. Wir trieben es nach dem
Aufstehen, nachmittags, abends und nachts. Der Samen lief so durch den Tag.
Sie liebte meinen Samen. Dabei dachten wir gar nicht viel nach. Es war für uns
das Erwachsensein: Wir in unserer Wohnung in der Frankfurter Innenstadt,
gingen ins Konzert und die Oper und ließen unser Selbstsein auf uns wirken.
Was sollte besser, schöner sein. Die Sache war rund. Meine Frau wurde schnell
schwanger und bekam ein Kind. Wir hatten jetzt ein Baby und waren glücklich.
So sollte es sein.
Wir standen oft mit dem Marokkaner mit unserer Kleinen im Picknick in
der Sonne und aßen unsere Erbsensuppe. Man lebte so vor sich hin. Ging
in die Konzerte des Hessischen Rundfunks und in die Oper. Damals war ein
Schwarzer, Dean Dixon, der Dirigent des Orchesters. Er war sehr beliebt
und ein wirkliches Talent. Gleichzeitig wirkte durch ihn der Konzertbesuch
exotisch. Die erste Geige spielte eine blonde, junge attraktive Geigerin, die
uns durch ihr Spiel beeindruckte.
„Ein schwarzer Dirigent und eine blonde Geigerin! Mir drängt sich da der
Othello auf. Das ist eine schwierige Rolle, da man sie nicht brüllen darf. Man
hat das Psychologische heraus zu singen“,
sagte sie mir. Es war die große Zeit der Schallplatte und des Tonbandes. Diese
Geräte wurden geplegt. Die Einspielung der Mahler Symphonien von Bruno
Walter waren in. Seine Interpretation war: Die Tempi sind langsam, jeder
Ton ist zu hören. Es gibt aber auch andere gelungene Einspielungen der
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Mahlersymphonien. Beethovens Klavierkonzerte hatten wir auf Band. Musik
kann wie ein Jungbrunnen sein. Man schöpft aus ihm, ohne dass er jemals
leer wird. Es war die Zeit der Wagner-Inszenierungen von Wieland Wagner, der
1966 starb. Die Wagner-Interpretation ist aber im Fortgang weiter innoviert
worden. Patrice Chéreau (Regie) und Pierre Boulez (Dirigent) haben 1976 eine
Entmystiizierung der epischen Größe des Rings vorgenommen. Das ist aber
nur eine unter anderen Optionen. Sie sagte gerne
„Leg noch einmal den Liebestod auf. Ertrinken, versinken, unbewusst
höchste Lust. Das ist schon psychoanalytisch. Ja, die „Lust“ ist nicht nur
etwas, das uns in unserem Erleben gegenwärtig ist. Sie ist im bewussten
Erleben nicht so steigerbar. Aber „unbewusst“, da ist sie unendlich. Was
meinst du?“
Wir tranken regelmäßig mit der Kleinen in der Innenstadt Kafee. Plötzlich
sagte sie
„Komm, wir packen uns nach Hause und hören etwas in die Walküre hinein. Du hast doch auch noch eine neue Jazzplatte, die du mir vorspielen
wolltest. In der Musik darf man nicht dogmatisch sein, und die Kleine soll
das gleich mitbekommen.“
Ich hatte mir eine Hans Koller Platte gekauft. Durch sie, meine junge Frau,
wurde das Alltägliche zur Ausnahme, etwas Besonderes, das ganz alltäglich
war.
Koller und die Jutta Hipp Combo gehört zu der ersten Generation der
deutschen Jazzer aus den 1950er Jahren. Vor allem ihre Konzerte von 1953
würde ich gerne wieder einmal hören. Aber selbst im Internet habe ich sie
nicht gefunden. Ihren Jazz kann man heute noch hören. 2003 ist er gestorben.
Vor mir liegt eine begrenzte Aulage 2002 Hans Koller The Musician of the Year
1955 mit Aufnahmen Hans Kollers New Jazz Stars 54. Mit dabei sind Albert
Mangelsdorf, Bill Russo, Emil Mangelsdorf, Willi Sanner, Roland Kovac,
Shorty Roeder, Johnny Fiser und Rudi Sehring. Das waren begnadete Jazzer.
Es war die Zeit, als der Free Jazz aufkam und sich in der Szene verbreitete.
Die Platte von Ornette Coleman „Free Jazz: A Collective Improvisation“ kam
1960 heraus. Auf dem Cover waren Motive von Bildern Jackson Polloks. Wenn
ich den Jazz aus diesen Jahren höre, kann ich gar nicht fassen, was sich in
der Zwischenzeit ereignet hat. Es ist keine fortlaufende Geschichte, in der
ich mich wiedererkenne. Es ist ein Bruchstück aus der Vergangenheit, dessen
Zusammenhang sich mir entzieht.
Der Marokkaner kellnerte.
„Dabei lerne ich alles, was ich brauche. Ich beobachte alles, bekomme mit,
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wie gekocht und verwaltet wird. Lerne, mit dem Publikum umzugehen. In
zwei Jahren gehe ich nach Agadir zurück und eröfne ein kleines Hotel“.
Das hat er auch wahr gemacht. Er lebte bescheiden, sparte und machte sich
schlau. Das schloss eine lebenslustige Art nicht aus. Ich konnte bei ihm eine
Schlauheit in der Beobachtung und Unterscheidung feststellen, die man bei
diesem Beruf kennt. Die schnelle Einschätzung von Personen, ihrer Stärken
und Schwächen, bringt diese Gaststättenschlauigkeit mit sich. Kellnern ist
sicher auch eine gute Schule für Diebe und bei Frauen für die Prostitution.
Es war Freitag. Ein ausgesprochen schöner Sommertag im Juni 1965. Ein Tag
mit viel Licht, nicht zu heiß und man wurde so richtig körperwarm. Ich holte
die Karten für das Konzert im Hessischen Rundfunk mittags in der Innenstadt,
kaufte noch etwas ein und fuhr mit der Straßenbahn durch die Schillerstraße
Richtung unserer kleinen Wohnung. Die Kleine war für den Abend
untergebracht. Man konnte sich so richtig entspannt auf den Konzertbesuch
einstellen. Ich eilte in der Einbildung den Ereignissen voraus, überlegte, wen
man wohl trefen würde und wen nicht, was für Kommentare zu erwarten
waren und was sonst noch. Im Treppenhaus vor der Wohnungstür standen
zwei Polizisten. Ein jüngerer und ein älterer. Sie machten ausdruckslose
Gesichter, so als wüssten sie nicht so richtig, was sie sagen sollten. Ich dachte
erst gar nicht, dass sie zu mir wollten. Nahm sie gar nicht richtig wahr. War
dabei den Wohnungsschlüssel herauszuholen, als sie mich ansprachen „Sind
sie Herr Gerhard Preyer?“ Auch jetzt war mir noch nicht bewusst, dass sie sich
an mich wendeten. „Wir haben Ihnen etwas mitzuteilen“. Es wirkte etwas steif
und tonlos. „Dürfen wir mit Ihnen in Ihre Wohnung kommen?“. Auch das war
mir gar nicht durchsichtig, und ich wusste nicht, was ich jetzt zu antworten
hätte. Eher aus Verlegenheit antwortete ich den beiden „Ist irgendetwas mit
dem Auto, ist es falsch geparkt?“. Ich hatte die Tür aufgeschlossen, ging in den
Flur und stellte die Einkaufstasche zur Seite. Die beiden folgten mir verlegen.
„Wir haben Ihnen eine Mitteilung zu machen. Ihre Frau ist heute Mittag mit
ihrer Tochter tödlich mit dem Auto verunglückt. Sie haben unser Mitgefühl.
Kommen Sie bitte zur Identiizierung mit“,
sagte der Ältere der beiden.
Was danach geschah, ist mir gar nicht mehr fassbar. Ich dachte, ich bin in
einem Traum, aber es war keiner. Von diesem Zeitpunkt an, war alles anders.
Ich war nicht mehr ich selbst und fand auch nicht mehr zu mir zurück. Mir war
danach zumute, mich vor das nächste Auto zu werfen, aber irgendwie durfte
ich ihr das nicht antun. Das wäre nicht in ihrem Sinn gewesen. Es stellte sich
eine innere Teilnahmslosigkeit ein, die nicht mehr verschwand.
Der Marokkaner war in dieser Zeit wirklich ein Schutzengel. Er löste die
Wohnung auf. Keinen Tag mehr wollte ich in der Wohnung bleiben. Selbst
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die Schallplatten und Bänder nahm ich nicht mit. Nur die Bücher packte ich
geistesabwesend ein. Der Marokkaner konnte mir zwar nicht helfen, da ich
in einen Zustand der Fremdheit versetzt war, aber er versuchte von Außen
abzufedern. Das gelang ihm auch. Er besorgte mir ein Zimmer im Nordend,
was zu der Zeit fast noch ein Arbeiterviertel war. Ich lag den ganzen Tag im
Bett und las. Zuerst die europäische Romanliteratur, dann die amerikanische,
studierte Kunstbände. Am Abend kam nach dem Dienst der Marokkaner mit
Konzertkarten vorbei und versuchte, mich abzulenken.
Spiel des Zufalls: Das Unglück und die damit einhergehende Talfahrt
brachte mir einen gewissen Komfort. Ich wusste nicht, dass auf meine Frau
eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen war, die mich begünstigte.
Sie war wirklich hoch. So war ich erst einmal wirtschaftlich abgesichert und
konnte in mein Unglück hineinleben. Im Nachhinein war das Zusammenleben
mit meiner jungen Frau und der Kleinen die beste Zeit meines Lebens. Es
war ein frühes großes Glück, das mit einem unendlichen Unglück einherging,
von dem ich mich nie mehr erholte. Es verstörte mich. Ein ganz alltäglicher
Vorgang? Mittlerweile ist es so, dass die heranwachsende Generation bis über
ihr dreißigstes Lebensjahr zu hause sitzt und sich von den Müttern bekochen
lässt. Das hält sie in nicht mehr aulösbaren mentalen Abhängigkeiten
und prägt ihr Denken. Wenn man in solchen Beziehungen gefangen ist,
kann man kein Gefühl für Erfolg ausbilden, was nicht ausschließt, dass viel
herumfantasiert wird.
Lange Zeit hatte ich nicht die Kraft, die Walküre zu hören. Erst nach vielen
Jahren konnte ich es wieder. Es versetzte mich in eine nicht ausdrückbare
Stimmung, und ich fühlte, dass meine so jung, so schrecklich verstorbene Frau
und die Kleine ganz in mir waren. Jetzt lege ich es gerade auf
„Winterstürme wichen dem Wonnemond, – in mildem Lichte leuchtet der
Lenz; – ...“
und Sieglinde antwortet ihm
„Du bist der Lenz, nach dem ich verlangte in frostigen Winters Frist ...“.
Ich weiß nicht, was ich dabei empinde. Glück, unendliche Trauer oder
Vergessen. Die Verwandtschaft hat es mir sehr übel genommen, dass ich nie
zu dem Grab gegangen bin. Darüber mag man denken wie man mag.
Es gibt Fälle, wo jemand weiter lebt und doch nicht lebt. Die Zeit stellt eine
Distanz her, die nicht mehr zurückübersprungen werden kann. Es inden in
einem Ereignisse statt, die einem nicht bewusstseinsmäßig zugänglich sind.
Man beindet sich in einer Veränderung, die sich einem bewussten Eingrif
entzieht. Im besten Fall hat man Glück. Es stellt sich zum richtigen Zeitpunkt
der richtige Freund ein, man ist an der passenden Stelle, um jemanden
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kennenzulernen, wird empfohlen, ohne dass man etwas dazu kann. „Spiel des
Zufalls“, ist man geneigt zu sagen. Und doch tastet man sich durch die Zeit.
Entscheidet, hat Vorlieben und Abneigungen, strampelt sich in der Karriere
ab, aber was sich dann ereignet, ist letztlich nicht vorausberechenbar. Es
mag in trivialen Fällen wahrscheinlich sein, aber das ist nur Gleitmasse des
Unverständlichen.
21. Januar 2008
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flüchtIge erlebnIsse
Da ich mich in einen schwer bestimmbaren Zustand beinde, kann ich mir
nicht anders helfen, als etwas niederzuschreiben. Es als einen Zustand der
Verzweilung zu bezeichnen, wäre zu hoch und auch daneben gegrifen. Das
macht ihn zwar nicht besser, aber nicht dramatisch. Es ist eine merkwürdig
Beindlichkeit, die so zwischen Alleinsein und Einsamkeit schwankt, obwohl
ich weder allein noch einsam bin. Vielleicht ist es gerade das, was mir nicht so
gut tut. Wenn es anders wäre, würde man auch nicht zufrieden sein. Vielleicht
fehlt mir einfach eine gute Unterhaltung, die einen etwas anstößt und auf
andere Gedanken bringt. Das ist vermutlich im Alter das größte Problem, die
Gesprächspartner gehen oder sind verloren gegangen. Den Gleichaltrigen
hat man nicht viel zu sagen und zu den Jüngeren kann der emotionale
Zugang nicht mehr hergestellt werden. Etwas niederzuschreiben ist ein
schönes Erlebnis, das ein Brett über ein Loch legt, damit man nicht hineinfällt.
In den letzten Wochen schlafe ich den ganzen Tag und bin nachts auf. In der
Frühe fahre ich zwischen 6 und 7 Uhr mit der U-Bahn durch die Stadt. Das hat
mich immer angeregt. Die Bahnen sind voll. Der Tag beginnt. Man ist unter der
Bevölkerung, die in den Tag tritt. Sie ist wach, vielleicht etwas unausgeschlafen,
aber man merkt an ihren Bewegungen und ihrem Ausdruck, dass ihr Puls zu
schlagen anfängt. Man selbst wird müde, und die Umrisse verschwimmen.
Es versetzt mich in einen Schwebezustand. Aber es wird mir dabei bewusst,
dass ich ein Herumirrender bin. Ein Thomas Mann Bajazzo. Einer, den das,
was er tat, von anderen wegführte, einer, der nirgendwo dazugehört. Insofern
beneide ich etwas die Frühaufsteher, die zu ihrer Beschäftigung eilen, die
sich beklagen, über Ferienkarten von Kollegen freuen oder sie geschmacklos
inden.
Die Nymphomanin ist wirklich etwas schlecht weggekommen. Damit
werde ich ihr nicht gerecht. Sie hatte auch eine einvernehmende Art. Ob
es jemand war, der sich selbst verstand, kann dabei ganz dahingestellt
bleiben. Das spricht aber nicht gegen sie, eigentlich gegen niemand. Wer
versteht sich schon selbst? Beinden wir uns nicht fortlaufend im Zustand der
Selbstverkennung? Die lichten Augenblicke fallen da nicht so ins Gewicht.
Wenn wir soweit sind, uns nicht mehr zu verkennen, ist es dann zu spät. Es
spielt keine Rolle mehr.
In der Mitte der 1970er Jahre, als die Begegnungen mit ihr stattfanden,
wohnte ich in einem etwas größeren Dachzimmer in der Feuerbachstraße
im Frankfurter Westend mit Blick auf einen großen Baum im Hinterhof, der
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zur Meditation einlud. Gleich in der Nähe der Kreuzung Feuerbachstr –
Kettenhofweg. Es war ein Altbau und ein ruhiges Haus. Es gehörte in der Zeit
zu meinen Privilegien, kein Telefon zu benutzen und kein Fernsehgerät zu
besitzen, ohne dass mich das in der Kommunikation einschränkte.
Gelegentlich kam die Nymphomanin mittags vorbei und holte mich zu
einem Trip in die Umgebung Frankfurts ab. Frankfurt war von 1968 – 1985 in
der Innenstadt und darüber hinaus eine Baustelle. Die U-Bahn wurde gebaut.
Die Leipziger Straße, die Bockenheimer Landstraße, die Zeil, die Bergerstraße,
die Schweizerstraße waren Baustellen. Das trieb einen in die Peripherie. Wenn
sie kam, stellte sie sich ans Fenster und sah auf den poetischen Baum.
„Ich habe es mit ihm getrieben. Setzte mich auf ihn. Er spritze in mich. Es ist
sagenhaft, wenn die Schwänze in mich spritzen. Aber er konnte nur zwei
Mal. Dann machte er schlapp“,
sagte sie. Sie zündete sich dabei eine Zigarette an. Drehte sich zu mir um. Ihre
Brustwarze drückte sich etwas durch ihre Bluse hindurch. Ihre Rede schien sie
zu erregen.
„Es ist nicht einfach, Liebhaber zu inden. Man hat selbst aktiv und kreativ
zu sein. Ich lasse sie nach dem zweiten Mal fallen. Ab dem dritten Mal wird
es persönlich. Das ist dann kein Spaß mehr. Ich inde sentimentale Männer
abstoßend. Ich suche sie mir aus und ich schicke sie danach weg.“
Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Inhalierte sie. Dabei bewegte sich
ihre Brust. Sie drehte sich wieder um und sah aus dem Fenster. Die Situation
lud sich auf. Es war ein ruhiger Mittag. Sie stand da mit dem Rücken zu mir
und hatte ihre Kostümjacke ausgezogen und auf den Stuhl gelegt. Durch ihre
Bluse sah man, wie sie atmete. Sie bewegte dabei leicht den Körper.
Ich schob ihren engen Rock hoch und trieb es mit ihr von hinten, während
sie aus dem Fenster sah. Sie schrie als sie kam. Packte sie wie ein Hase am
Knick, schlug sie und warf sie auf das Bett. „Mach mir’s!“, kam über ihre
Lippen und ihr Gesicht verzerrte sich. Ich schlug sie noch einmal. Es erregte
mich. „Komm“, hörte ich sie. Es war kein Hauch mehr zwischen Fühlen und
dem, was geschah. Sie war noch bekleidet, zog ihren Rock herunter, rückte
ihre schwarzen Büstenhalter und ihre Bluse zurecht und zündete sich eine
Zigarette an. So stand sie vor mir, grif nach ihrer Kostümjacke, „Wir sehn uns“
und ich hörte nur noch die Tür ins Schloss fallen. Ich war noch benommen,
noch nicht richtig bei mir, als ich wieder allein in meinem Dachzimmer zu mir
kam. Es war so, als sei nichts gewesen.
Die Jahre zwischen 1974 – 78 waren die freiste Zeit meines Selbstseins.
Ich wohnte in dem geräumigen Dachzimmer in der Feuerbachstraße. Ich
lag tagelang im Bett und las. Das war bis ins Alter meine Lieblingstätigkeit.
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Abends war Theater, Konzert oder Oper angesagt. Am frühen Nachmittag traf
ich mich mit Freunden im Café Laumer auf der Bockenheimer Landstraße.
Danach ging man gelegentlich am frühen Abend ein paar Stunden in einen
Weinkeller im Westend und je nach Stimmung gleich daneben ins Knoblauch.
Das war damals ein Szenelokal, es glühte aber seit Anfang der 1980er Jahre ab.
Ich merke, wie es mir schwer fällt, mir die guten Seiten der Nymphomanin
in Erinnerung zu rufen. Merke, wie ich dazu neige, ihr ungerecht zu werden.
Irgendwie möchte ich sie herabsetzen. Das wirft aber eher ein Licht auf mich,
da ich mich doch nicht so leicht von ihr lösen konnte, wie ich es mir einredete.
Sie konnte durchaus sehr verbindlich und einfühlsam sein.
Eines der Lieblingsziele bei unseren Trips war das Kloster Hildegard
oberhalb von Rüdesheim. Das Rheingau hat einen besonderen Reiz. Die
Landschaft ist artikuliert, man hat von bestimmten Positionen einen in die
Weite gehenden Ausblick mit Höhen und Tiefen, aber sie ist nicht alpin
wuchtig. Das gibt ihr eine gewisse Milde, etwas Sanftes und Ausgewogenes.
Die Wege durch die Weinberge Richtung Binger Loch versetzten einen in eine
andere Stimmung. Man hat von dort aus einen weiten Blick über den Rhein.
Bei gutem Wetter reicht er von bestimmten Positionen bis nach Mainz und
Luxemburg. Die kleinen Schife auf dem Fluss wirken wie Spielzeuge. Das regt
die Einbildungskraft an. „Rebe, Traube, so voll Traum“, drückt das Beinden gut
aus.
Wir waren wieder einmal nach Rüdesheim unterwegs.
„Ist das Rheingau nicht wunderbar! Lass uns durch die Weinberge gehen.
Unter das Gold des Rheins. Wie es funkelt“.
Wir parkten am Kloster Hildegard. Sie holte ein Blatt heraus.
„Habe es gestern meinem Mann vorgelesen. Sogar ihm, diesem alten Wichtigtuer und Besserwisser, hat es gefallen.“
Sie rezitierte:
„ (Häutung)
Fühle die Nacht!
Spüre die Schwingung
Lange schon wartet er auf dich,
der Augenblick.
Dunkel tritt heran
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Jeder Schnitt bringt es hervor
Falle in die Nacht“.
Ihre Pupillen wurden dabei groß.
„Das hast du wirklich gut hinbekommen. Warum dichtest du nicht weiter.
Wenigstens einfach nur für mich oder für alle, für niemand.“
Ihre Äußerungen machten mich etwas unsicher. Das schien sie auch zu
merken, obwohl ich mehr in mich versunken vor mich hin sah.
„Wenn ich dir sage, dass ich mich etwas in dich verliebt habe, dann bekommst du den großen Schreck. Du bist wirklich nichts für mich. Es wäre
auch ganz aussichtslos. Wer sollte uns aushalten? Wir würden uns nach kurzer Zeit wieder trennen. Lassen wir es doch so wie es ist. Frage dich doch
einfach, was hätten wir, was wir nicht schon haben?“
Ich sagte gar nichts. Was sollte ich auch dazu sagen. Sie schien meine
Verlegenheit zu merken, lachte.
„Der erste Vers „Fühle in die Nacht!“ ist deshalb so geglückt, da man die
Nacht nicht „fühlen“ kann. Das „!“ fordert zu etwas auf, das man nicht tun
kann. Es soll damit etwas anderes gesagt werden. Denke an Novalis’ Hymne
an die Nacht, überhaupt an das ganze romantische Nachtherumtreiben.
Am Tag ist alles unterschieden. Der hat seine eigene Konsequenz. Wenn
man nicht eingekauft hat, dann ist der Kühlschrank leer. Aber in der „Nacht“
ist es ganz anders. Da lösen sich die Unterscheidungen und die Grenzen
auf. „Falle in die Nacht“, da fällt man nirgends hin, nicht auf den Boden und
bekommt angestoßene Knie oder bricht sich Arm und Bein, sondern löst
sich auf. Das ist ein Gegenzug gegen die Askese. Eine sinnlich-übersinnliche
Nachtliebe, die nicht zu einem Ende kommt.“
Gescheit konnte sie schon sein.
„Was meinst du. Du sagst gar nichts. Bist wie benommen. Bist du eigentlich
noch neben mir?“
Sie holte einen kleinen Flachmann heraus.
„Lass uns etwas durch die Weinberge gehen“.
Sie reichte mir den Flachmann herüber. Also
„Go on du Nachtwanderer. Du möchtest berührt werden und schreckst davor zurück, da du Angst davor hast. Warum eigentlich?“.
Das verunsicherte mich noch mehr, ich lies es mir aber nicht anmerken. Wie
sollte ich mich aus der Situation herausretten. In solchen Fällen hilft nur die
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Intuition, die auch daneben liegen kann. Ich nahm Ihre Hand.
„Lass uns in die Weinberge gehen. Die Wirkung der Landschaft verwandelt
uns“,
sagte ich ihr, und wir ließen uns treiben, ohne etwas zu sagen. Sie wollte mich
vermutlich nicht weiter in Verlegenheit bringen, lachte und sagte gar nichts
mehr. So wandelten wir zwei Stunden durch die Weinberge und ließen die
Augen auf Reisen gehen.
Am Abend war ein Essen im Schwarzen Bock in Wiesbaden angesagt.
Ein nobles Haus mit Dachgarten. Wir waren eine illustre Runde. Der letzte
Charmeur der Geschäftswelt, die Nymphomanin, eine Freundin der
beiden und ein leitender Angestellter des Charmeurs und seine Frau, eine
hochgeschossene Brünette. Die Freundin, eine Schauspielerin, mit stattlich
langen Beinen, körperlich gut zusammengepackt mit harten Brüsten und
Rotstich im Haar, kam gerade vom Funk. „Heute war wieder Funk, den ganzen
Tag gelesen“, war ihre Begrüßung, das Angestelltenpaar wirkte freundlich
ergeben. Irgendwie so, als wollten sie es dem Charmeur recht machen, ohne
allzu belissen zu wirken. Wir waren untereinander bekannt und waren oft
zusammen in Konzerten und Opern. Die Brünette des Angestellten arbeitete
in einer Redaktion im Hessischen Rundfunk und ich lektorierte für sie. Sie
merkte, dass ich eine kleine Schwäche für sie hatte, hielt zu mir aber eine
ironische Distanz.
„Die Erdichtung der Welt soll die Gesetze der Welt und der Natur übersteigen, aber man wird dabei nicht immer von der Muse geküsst. Vor allem
dann nicht, wenn das Portemonnaie ausgewaschen ist“.
Sie war Germanistin, hatte bei Prof. Friedrich Adolf Kittler dem
Antihermeneutiker in Freiburg ihren Magister abgelegt mit einer Arbeit „Die
Nachtwache des Bonaventura. Romantischer Kitsch und der Kult der Nacht“
und war dann nach Frankfurt gekommen. Dort machte sie ein Praktikum
beim Hessischen Rundfunk, schrieb für Provinzzeitungen Besprechungen
von Filmen, Konzerten und sonstigen Veranstaltungen und promovierte
bei Prof. Dr. Norbert Altenhofer über „Die romantische Universalpoesie.
Eine unglückliche Wirkungsgeschichte und eine nicht zu Ende kommende
Faszination“. Prof. Altenhofer gehörte zu ihren Fans und hat sie dahin gefördert,
dass sie zum Rundfunk kam. Prof. Kittler war für die Brünette die absolute
Autorität, ein Übervater, für den sie wohl alles getan hätte. Er schrieb auch
das zweite Gutachten ihrer Promotion. Ihre badische Herkunft hatte sie schon
früh in die Höhen und Tiefen des Weinschreckens vertraut gemacht. Was ihre
Karriere beim Rundfunk beförderte war ihr lüssiger Schreibstil. Sie konnte
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dabei im Schreibluss fokussieren, ohne dass sie das Thema zum Schmelzen
brachte. Sie hatte eine Konsequenz in ihrem Umgang mit der Welt und eine
Fähigkeit, sich zu arrangieren ohne sich davon dominieren zu lassen, deren
Quelle mir verschlossen war. Mir gegenüber war sie entgegenkommend, aber
distanziert. Das störte mich nicht weiter.
Der Angestellte, ihr Mann, war smart. Er war nicht weniger zielorientiert und
hatte sich durch seinen Umgang mit seinem Freundeskreis eine Mailänder
Bildung zugelegt, wie ich es nannte. Sie lernte ich in entsprechenden
Kreisen des italienischen Nordens bei der Bildungsschickeria kennen. Man
las Zusammenfassungen und bildete sich im geselligen Gespräch am Abend.
Wenn man eine gute Aufassungsgabe hat, bekommt man auf diesem Weg
manches mit, und es reichte zur Unterhaltung. Es war dann mehr der Witz
gefragt als anderes. Dagegen braucht man nichts zu haben. Ansonsten
hatte es etwas von einem Geschäftsmann. Wenn das Spiel aus war, dann
war es für sie nicht mehr interessant. Der Blick richtete sich auf das Nächste.
Der Rückblick belastet nur und blockiert, so wirkte er. Das soll aber nicht
negativ verstanden werden. Was wären wir ohne die Zielstrebigen, die nicht
vergangenheitssentimental sind. Die Schauspielerin war piig. Immer gut
aufgelegt und verstand es, ihr Geschäft zu betreiben.
„Bei der Passion geht’s nur mit Kontakten, sonst ist die Kasse leer“,
sagte sie spitzmündig. Was das Geheimnis der Schauspielerei ist, verriet sie
mir einmal. Aber das möchte ich aus Diskretion nicht mitteilen. Ich wäre nicht
darauf gekommen.
Die Nymphomanin hatte ein weißes Kleid an, die Brünette ein rotes und
die Schauspielerin ein schwarzes. Die Kleider waren igurbetont und eng
anliegend. Alle drei sahen prächtig aus. Sie verfügten über den typisch
fraulichen Narzissmus und gehörten zu denen, die nicht an sich zweifelten.
Die Nymphomanin war wie immer elegant gekleidet, die Brünette hatte
etwas Vornehmes, Schönes, mit einem Hauch einen einzunehmen und
die Schauspielerin war chic. Mich beeindruckte bei den drei, dass sie lässig
rauchten. Es war eine bestimmte Art mit Zigaretten umzugehen, die man
schwer beschreiben kann. So, wie man sie hält, anzündet, in den Mund nimmt,
zieht und die Asche abstreift. Irgendwie sah ich darin etwas Sexuelles, was
ins Erotische überging. So etwas, wie den Umgang mit dem männlichen
Geschlechtsteil und das öfentliche Ausleben von oraler Lust.
Es war eine wohlhabende Runde. Man sah Ihnen ihren Wohlstand an und sie
waren sich dessen bewusst. Ich spielte dabei die Rolle des armen Verwandten
und hatte die Rolle desjenigen, den man einladen kann, da er nicht die
goldenen Kafeelöfel mitnimmt und ansonsten trägt er zur Unterhaltung bei.
Was für diese bessere Gesellschaft sprach, dass sie mich das nicht hat merken
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lassen. Ich bekam also nicht zu spüren, dass ich der arme Verwandte war und
man mich gerne an den Annehmlichkeiten des Lebens teilhaben ließ. Wie
das immer so ist, so hat das seinen Preis, man hatte sich opportunistisch zu
verhalten und die besseren Ränge zu bestätigen. Dass sie großartig waren,
verstand sich von selbst und dass es so war, konnten sie sich durch fortlaufend
vergewissern, ohne dass man ihnen schmeicheln durfte.
Der Charmeur hatte eine zwanglose, einvernehmende Art mit einem zu
kommunizieren, wie es in dem Gedicht von Hugo von Hofmannsthal Der
Kaiser von China heißt:
„In der Mitte aller Dinge wohne ich der Sohn des Himmels ...“.
Damit nahm er ein Amt wahr. Eine Verantwortung für das Wohlergehen.
Um seine Gäste zu motivieren und das Eis der Kommunikation zu brechen,
bestellte er gerne im hohen Preissegment und gab damit die Leitlinie vor.
Darunter durfte man nicht gehen.
„Lasst uns erst einmal einen trockenen Aperitif nehmen, damit wir uns einstimmen. Was meint Ihr?“
„Lieber einen Sekt“,
meite die Nymphomanin.
„Mit Suppe sollten wir nicht anfangen“,
kommentierte die Brünette.
„Und was möchten Sie?“,
fragte mich die Schauspielerin. Da in diesen Situationen die hohe Kunst der
Bewahrung des eigenen Geschmackssinns und zugleich der Anschluss an den
der Anderen angesagt ist, schwenkte ich auf
„Trockener italiensicher Weißwein wäre nicht schlecht. Das macht etwas
locker“
ein.
„Das geht auch, man braucht nicht bei dem Weißwein zu bleiben“
schloss sich die Schauspielerin an. Man stieg an diesen Abenden am besten
gleich gut ein, da der Verlauf dieser Trefen auf erheblichen Alkoholgenuss
hinauslief, der von den prächtigen Frauen getragen wurde.
„Nur keine Antialkoholiker und Nichtraucher, da habe ich, was die Persönlichkeit betrift, bedenken. Wie das so ist, wenn die Persönlichkeit erst ein-
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mal verbogen ist, dann wird’s schwer“,
plegte der Rotstich im Haar zum Besten zu geben.
Zwischen 1968-1974 wurde in jeder Session der Spielzeit der Frankfurter
Oper der Parsifal aufgeführt. Es war eine gelungene Inszenierung. Sie spielte
sich hinter einem Vorhang ab, einem Schleier, aus dem das Geschehen
herausgeleuchtet wurde. Das Gespräch kam gleich am Anfang des Abends
auf die Inszenierung, da die Runde die letzte Auführung sah; ich selbst hatte
sie mir bereits übergesehen und mochte mich dem Besuch nicht anschließen.
Die Brünette legte gleich los:
„Der Parsifal war nicht schlecht. Alles schön und gut. Aber man braucht
einen anderen Zugang. Etwas experimentierfreudiger, gewagter, wäre
besser. Man sollte den Parsifal in Jungenkleider stecken. Parsifal der Naive,
als Kind. Vielleicht in einem Kinderwagen auf die Bühne fahren. Kundry
mit einem männlichen Sänger besetzen. Gurnemanz, Klingsor, Kundry,
Klingsors Zaubermädchen eine homosexuelle Gang, die sich bekriegt. Amfortas sollte man als Frau besetzen. Dann wird mit „Die Wunde schließt der
Speer nur, der sie schlug“ eine andere Aussage getrofen. Fragt sich dann,
welche Szenerie das noch steigern könnte? Es sollten keine Landschaften
angedeutet werden. Vor allem die nicht aufhörende Reproduktion der
missglückten Verständigung zwischen Nietzsche und Wagner geht einem
auf die Nerven. Wir sind von einem mittelmäßigen Publikumsgeschmack
dominiert. Den kann man ja auch bedienen, aber nicht nur.“
Dabei sah sie mich aufordernd an, so, als sollte oder habe ich dazu etwas zu
sagen.
„Nietzsche kontra Wagner erlebten die Zeitgenossen bereits als überspitzt
und unergiebig. Man merkt dem Duktus der Polemik Nietzsches die persönliche Enttäuschung an, dass er von Wagner nicht ernst genommen
wurde. Zu mindestens nicht so, wie er es sich vermutlich erträumte. Gerade bei seinen Triaden gegen den Parsifal merkt man das besonders. Sein
Kommentar „Denn was ihr hört, ist Rom, -- Roms Glaube ohne Worte“, trift
schon deshalb nicht zu, da sich Wagner in Religion und Kunst (1880) nicht
nur von der Kirche distanziert, sondern es ging ihm in seiner synkretistischen Kunstreligion nicht um die Erneuerung des Christlichen.
Nietzsches ganze Philosophie ist ein Sammelsurium. Sein sprachlicher
Duktus hat etwas Gewalthaftes. Es fehlt ihm die Souveränität. Man merkt
seinem fordernden Stil an, dass er ein Außenseiter war, den man nicht ernst
nahm. Damit kam er nicht zurecht. Um das zu erkennen, braucht es nicht
viel Psychologie. Das ist ofensichtlich. Das Größenwahnhafte seiner Gesten läuft leer. Er konnte sich nicht anders helfen, als sich im Wahn immer
mehr zu überbieten, sei es mit Ecce home, dem Antichristen, als Untier und
Dionysos. Seine Selbststilisierungen hören sich doch so an, als würde einer
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sagen „Hier bin ich, warum wollt ihr nichts von mir wissen!“. Auch die Metaphorik im Zarathustra, der Adler, die Schlange, reproduzieren doch nichts
weiter als die abgestandene bildungsbürgerliche Symbolik seiner Zeit,
über die er sich so überlegen glaubte. Da war er dem Deutschen Kaiserreich
näher, als er es sich eingestanden hat. Der Zarathustra ist sicherlich nicht
das, für was er es hielt, „das Tiefste philosophische Buch, das je geschrieben
wurde“. Auch der Selbstkommentar, dass er bei seinem Lesen immer anfängt „zu weinen“, hat doch etwas Lächerliches. Da fehlt es ihm dann doch
an Format. Vermutlich ist er mit zu vielem schlicht nicht halbwegs klargekommen, weder mit seiner Mutter, seiner Schwester, mit Richard Wagner,
mit Cosima Wagner, mit Burckhardt … Nietzsche stilisierte sich gerne als
„Hyperboreer“, eine im Norden lebende Population. Er hätte es bei Ihnen
vermutlich jedoch nicht ausgehalten, da es dort zu einsam und kalt ist. Das
kann nicht gut gehen.
Hugo von Hofmannsthal hat eine tragendere Sensibilität. Das ist seine Poetologie. Wie heißt es da so einnehmend: „Das Wirkliche ist nicht viel mehr
als der feurige Rauch, aus dem die Erscheinungen hervortreten sollen; doch
sind die Erscheinungen Kinder des Rauchs.“ Dichtung ist für ihn keine Spiegelung der Welt, des Lebens, sondern es wird über die Grenzen der Wirklichkeit hinausgesprungen zu einer eigengesetzlich strukturierten Welt, in
der Unmögliches wirklich ist, in der die Naturgesetze keine Geltung haben.
Es ist aber keine unzugängliche Welt. Sie ist mitteilbar, sie wird im Lesen
nachvollziehbar, das dadurch zu neuen Erfahrungen führt. Dichtung setzt
eine „traumhafte Freiheit“ frei, sie vollzieht eine Entgrenzung.“
Am Blick der Brünetten merkte ich, dass ihr meine Auslassungen zu gefallen
schienen. Sie ixierte mich einen Augenblick. Vielleicht war das aber eine
Projektion von mir und ich missdeutete ihren Gesichtsausdruck.
„Das ist leider auch schon Geschichte. Das Nietzscheproblem hatte Hofmannsthal sicher nicht. Dafür war er zu gut situiert und konnte ganz gut
damit leben, dass sich um 1900 Moral und Genuss so ausschlossen, wie
Entgrenzung und Wirklichkeit. Aber das ist schon ganz gut, was du da zum
Besten gibst. Es reicht zwar noch nicht zum Doktorhut, dafür ist noch etwas
zu üben. Dann kann auch so etwas klappen“,
sagte sie. Damit hatte sie mich wieder einmal etwas ironisch in meine Grenzen
verwiesen, mir aber nicht gleich die Tür vor dem Kopf zugeschlagen und noch
einen kleinen Spalt zum Fortgang der Kommunikation ofen gelassen. Ich
mochte ihr in dieser Runde nicht das letzte Wort lassen, um mich nicht als
einer darzustehen, der sich so auf seinen Platz stellen lässt.
„In Kulturkritik ist nichts Neues mehr seit dem in de siècle hinzugekommen. Letztlich zehren wir bis heute von dem kultivierten Zerfall von Innen.
Aber eines brauchen wir nicht über Bord zu werfen: Nicht die fest umschlos-
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sene Individualität und das in sich ruhende Bewusstsein ist das Erstrebenswerte, sondern es sind die Stimmungen und unsere traumhaft, lüchtigen
Zustände, die zu erzeugen sind. Die Betonung liegt auf „erzeugen“. Sie sind
nicht ohne weiteres gegeben.
Es gehen auch mittlerweile Zusammenhänge vergessen, wie der Einluss
Wagners auf Mahler. Man kann nicht von Mahler überzeugt sein und
Wagner ablehnen. Das ist unabhängig davon, ob einen der damalige
Wagnerianismus anspricht, musikalisch geht da kein Weg daran vorbei.
Das trift auch auf Hofmannsthals Beziehung zum Barock in seiner Ariadne
zu. Es gibt kaum eine Dichtung, die im Ton und im Stil dem barocken Bühnenkünstler so nahe gestanden hat. Auch dass der Weg zum Barock über
Wagner führt, ist nicht mehr geläuig.“
„Gescheit, gescheit. Kündigt sich jetzt der entfesselte Prometheus an. Da
bin ich aber gespannt, was aus dem umgekehrten Wagnerianismus, befreit
von Schopenhauer, wird“,
lächelte die Brünette. Nun war mir wieder das letzte Wort genommen. Irgendwie fühlte ich mich dazu gedrängt, die Runde nicht zu enttäuschen, obwohl
dazu gar kein Anlass war. Vielleicht hing es auch mit der Nymphomanin zusammen, die auf Imponieren einen großen Wert legte. Wenn man sie diesbezüglich enttäuschte, war man schnell abgeschrieben.
„Aus dem Gesamtkunstwerk der Verbindung von Musik, Tanz, Malerei,
Plastik, Dialog, Monolog, der Wiederbelebung von Antike, Volkstum und
katholischem Christentum ist dann letztlich doch nichts geworden.
Baudelaire wirkt nach, bis zu uns! Die wahrnehmbare Welt ist eine dunkle,
gefallene Welt. In ihr zu sein heißt Erniedrigung. Wenn es in dem Erlebbaren
einen Hauch von Geist gibt, so hat es eine andere Welt zu geben, eine göttliche oder satanische. Die Fleur du Mal sind Blumen des Leidens.“,
sagte ich etwas gewollt lachend. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt
gemacht. Die Brünette war gut in Form und hatte dann doch das letzte Wort:
„Jetzt wird das magische Evokationsritual gestartet. Steigen wir in die
Artistenkommunikation, die Artistenmetaphysik ein. Die Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit in modernen Zeiten, das ist der größte
Irrtum, der uns aus dem 19. Jahrhundert überliefert ist. Die Zeiten sind nicht
mehr modern. Wir leben nicht mehr nach der ersten Weltausstellung in Paris im Jahre 1860. Bei all den Ambitionen, die ich da höre: Industriezeitalter
und Erlösung durch die Dichtung. Da kann doch irgendetwas nicht stimmen. Nietzsches Wagnerkritik, Kritik kann man das ja nicht nennen, ist eine
Hillosigkeit. Das stimmt schon, ob einem Wagner gefällt oder nicht. Man
sollte Wagners Musik von der ihr zugeschriebenen epischen Größe befreien. Das ist doch eine kleinbürgerlichen Halluzination.“
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Auch das hatte für mein Gehör einen ironischen Unterton, und ich spürte ihre
Überlegenheit. Eine Souveränität, die ich in diesem Kreis nicht hatte.
Der Charmeur, die Nymphomanin, der Rotstich im Haar und der Mann der
Brünetten, sahen und hörten diesem kleinen Duelle etwas spitzbübig zu. Es
schien ihnen zu gefallen. Ich fühlte meine Hillosigkeit und Ausgeliefertheit
an die aufkommende Stimmung. Mir fehlte es an Souveränität, die Einlassung
der Brünetten auf die leichte Schulter zu nehmen. Beabsichtigt oder nicht,
kam mir der Rotstich im Haar zur Hilfe.
„Bevor wir zu „weinen“ anfangen und uns an Doktorhüten verschlucken,
bestellen wir doch lieber noch eine Runde. Bei den Hyperboreern wäre es
mir doch etwas zu kühl, das reißt dann auch der Aufenthalt dieses gut aussehenden Manns Apollons dort im Winter nicht heraus“,
fuhr sie fort. Damit hatte sie die Situation für mich gerettet, zumal gerade die
Bestellungen aufgetragen wurden. So schiften wir ohne weitere gegenseitige
Überbietungen im Brillieren in einen freundlichen Hafen ein.
Der Mann der Brünetten, auch die Nymphomanin, waren zwar nicht
ungesprächig, sie hielten sich an diesem Abend aber etwas zurück. Dagegen
war der Charmeur in Fahrt. Er hatte etwas überraschend Wandelbares, fast
etwas Bohemienhaftes.
„Wir steuern dann die New York Tour an. Die Metropolitan ist angesagt
und im nächsten Monat die Mailänder Scala. Wir brauchen etwas Kurzweil.
Sage morgen der Sekretärin Bescheid, dass sie die Buchungen erledigt. Da
wird es doch keinen Widerspruch geben. Wenn man etwas möchte und es
stehen keine Katastrophen entgegen, dann lässt sich das auch verwirklichen. Kommt mir nicht mit dem Zeitproblem. Das ist der unglaubwürdigste
Vorwand. Jeder weiß das, aber das Zeitargument funktioniert, da es jeder
gebraucht.“
Er sah die Brünette an
„Du trinkst ja gar nichts. Verdirb mir nicht den Abend.“
Die Nymphomanin war mir gegenüber an dem Abend besonders
entgegenkommend.
„Trink doch noch etwas. Ich bestell dir noch einen Krabbencocktail, du
großes Dichtertalent. Auch wenn es nichts mit dem Dichten wird, dass man
etwas Talent hat, macht einen doch im Umgang geschmeidig. Ich fühle
mich heute Abend in Deiner Gesellschaft richtig wohl. Lass dich nicht von
unserer Frau Doktor dominieren, die Doktoren kochen auch nur mit Wasser“,
lachte sie.
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„Aber gekocht haben sollte man, oder? Er macht sich doch schon ganz gut.
Wir sollten die Getränke nicht vernachlässigen. Der Abend hat zwar erst angefangen, aber auf dem Trockenen wollen wir nicht sitzen. Bei der ganzen
Dichterei braucht man auch etwas Stof, damit man abhebt. Sonst ist das
ganze Dichten nichts“,
so die Brünette. Der Mann der Brünetten wollte wohl nicht nur unexponiert
in der Runde ein schlaues Gesicht machen.
„Ja, New York, das gibt eine gute Tour. New York das ist ein Traum. Die New
Yorker fühlen sich gegenüber den anderen Amerikanern als etwas Besonderes. Das gibt eine Tour Tag und Nacht, Nacht und Tag ziehen wir den Trip
durch. Erledige alles. Dann heben wir ab. Das wird was“,
legte er los und sah dabei geschäftstüchtig in die Runde. Der Rotstich brachte
Tratsch aus dem Theater ein und machte sich über ihre Kollegen lustig. So
ging es mehrere Stunden hin und her. Es wurde gegessen und getrunken,
und man war guter Stimmung.
Der Charmeur und die Nymphomanin nahmen den Rotstich im Haar und
mich in ihrer Limousine mit zurück nach Frankfurt. Es war ein gelungener
Abend geworden und alle waren eigentlich guter Dinge. Es ist von Wiesbaden
nach Frankfurt auf der Autobahn nur ein Katzensprung. Der Charmeur gab
Gas und man schwebte dahin. Alle waren gut alkoholisiert, da sie aber
etwas vertrugen, merkte man es ihnen nicht an. Man war so in dieser etwas
abgehobenen, ins sorglos gehenden Weinstimmung, durch die die Ränder
der Wahrnehmung fast verschwinden.
„Nachtlug, andere Blicke, schnelles Erleben“,
sagte der Charmeur.
„Ich liebe das schnelle Fahren, es ist sexy“,
hörte ich die Nymphomanin sagen. Ehe man sich versah, hatten wir den Ort
gewechselt.
„Ihr beide wollt doch sicher noch eine kleine Runde in Frankfurt drehen. Wir
lassen euch am Hauptbahnhof raus. Dann könnt ihr noch in ein Nachtlokal.
Es ist noch nicht früh genug für die Griechen im Imperial, aber ihr werdet
schon noch was inden“,
sagte die Nymphomanin plötzlich, so als wollte sie uns schnell verkuppeln.
Ehe wir uns versahen waren wir am Hauptbahnhof und es wurde scharf
gebremst. Wie unter einem Bann stiegen wir aus, ohne dass das sich vorher
abgezeichnet hätte, stand ich mit dem Rotstich im Haar um 2 Uhr am
Hauptbahnhof. Die Unsicherheit überkam mich, dass ich gar nicht wusste,
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was ich zu dem Rotstich im Haar sagen sollte. Wenigstens Haltung bewahren,
schoss mir durch den Kopf. Die Türen der Limousine schlugen ins Schloss, und
sie startete durch.
„Gehen wir zu mir oder zu dir?“,
sagte ich zu dem Rotstich im Haar.
„Gibt es bei dir noch etwas zu trinken, du wohnst doch gleich in der Nähe“,
sagte der Rotstich.
„Wein ist noch da, kippen wir noch einen“,
hörte ich mich sagen. Dabei setzten wir uns wie fremdgesteuert in Bewegung
und schon liefen wir in die Feuerbachstraße ein.
Ich hatte eigentlich zu dem Zeitpunkt nicht vor, irgendeine Beziehung
einzugehen. Sie stellte sich mit dem Rotstich im Haar ein. Sie ereignete sich
einfach, ohne dass dazu viel getan zu werden brauchte. Hineingezogen wäre
nicht die richtige Beschreibung. Alles lief so ineinander: Der zweite folgte auf
den ersten, der dritte auf den zweiten Schritt und so weiter.
Am nächsten Abend holte ich sie nach der Vorstellung im Fritz Rémond
Theater ab. Das war ein eher zweitklassiges Boulevardtheater am Frankfurter
Zoo, bei dem sie ein Engagement hatte. Vormittags lagen wir im Bett,
nachmittags hatte sie Funk oder war auf der Probe. Wenn nicht, studierte
sie Rollen ein und trug sie mir vor. Sie hatte einen Hang zum Oscar Wilds
Konversationstheater. Ihr Sex war weich, eher blumig und nicht von der
harten, destruktiven Art der Nymphomanin. Sie vögelte gerne.
„Vögele mich, ich hab´s gerne, mach mir’s, du hast einen schönen Schwanz“,
sagte sie. Ich vögelte sie, vormittags, nachts, je nach Stimmung, nachmittags.
Vor allem war sie immer, auch zu Hause, chic angezogen. Zum Frühstück am
Mittag gab es guten italienischen Weißwein, abends trank sie gerne Rotwein
oder Sekt. Ihre Beziehung hängte sie, nach dem wir vierzehn Tage zusammen
waren, ab. Sie reichte ihn durch die kalte Küche.
„Mir hat es einfach gereicht. Er hatte diesen sentimentalen Sex, fängt beim
Vögeln fast an zu weinen. Er war eigentlich ganz nett, großzügig, aber das
hat mich alles gelangweilt. Vor allem diese sentimentale Beziehungskiste
ist mir auf die Nerven gegangen. Die Dissonanzen waren in den letzten
Wochen nicht überhörbar. Er wird zwar herumjammern, aber damit soll er
selbst zu recht kommen. Weißt du, ein Werbefritze. Er ist Etatdirektor und
hält sich für einen Künstler. Er zeichnet ein bisschen herum. Obwohl er kein
„Direktor“ ist, sondern nur ein Budget verwaltet, glaubt er, er könne mich
sentimental dominieren. Das braucht man auf die Dauer nicht. Wir wollen
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uns gar nicht damit belasten. Ich brauch etwas anderes. Besseren Sex, bessere Unterhaltung, etwas Spaß und einen Typ, keinen Mutterixierten. Das
wird es wohl sein, dass er über eine sentimentale, weinerliche Erotik nicht
hinausgekommen ist. Dabei ist er Anfang Vierzig. Dass er ganz stattlich
wirkt, reißt es dann auch nicht heraus“,
war ihr Schlusswort. Damit war für sie die Sache erledigt. Das Wort „vögeln“
auszusprechen, schien ihr zu gefallen. Sie sagte gerne „vögeln wir“ und ing
an, sich langsam auszuziehen.
„Lass den Anfang wirken, erlebe, wie ich mich ausziehe, ich habe gerne
beim Vöglen meine Bluse an. Ich weiß auch nicht, warum mich das reizt“,
war einmal ihr Kommentar.
Die Beziehung mit dem Rotstich im Haar tat ausgesprochen gut. Von ihrem
Verhalten her gesehen, ihr ofensichtlich auch. Sie hatte eine Dachwohnung
im Westend mit Kamin in einem Neubau.
„Den Kamin von der abgenommen zu bekommen, das war ein Aufwand.
Da waren die Wafen einer Frau einzusetzen. Ohne Kamin, das ist kein Lebensstil, das braucht man. Gott sei Dank gibt es zu der Wohnung ein Keller,
damit man das Holz für den Kamin unterbringen kann. Das ist gar nicht so
einfach, Kaminholz zu bekommen. Es ist eine größere Menge zu bestellen,
aber dann, wo hin damit. In dem Fall ist es ja kein Problem. Vor allem nicht
in der Küche herumsitzen. Das war mir nie eingängig, warum man sich von
der Küche so angezogen fühlt. Schon die Stimmung, die da erzeugt wird,
wie kann einem das denn gefallen. Das ist doch stillos.
Der Werbefritze saß abends gern in der Küche. Man aß etwas, trank Wein
und im Nebenzimmer war der Kamin. Ich habe ihn kaum dahinbekommen.
Das kapiere, wem danach ist. Wenn es etwas Stumpfsinniges gibt, dann ist
es das in der Küche sitzen. Vor dem Herd mit den Töpfen, dem eingebauten
Eisschrank. Es gibt einen Küchenfanatismus, der sich immer mehr verbreitet. Die Küche, so wie ein Altar vor dem man betet, in diesem Fall isst. Die
leeren Teller, das ganze Geschirr steht dann natürlich auch noch herum. Da
kommen die Küchensitzer richtig hoch und fühlen sich erst bei sich selbst.
Das ist doch einfach geschmacklos. Man sollte nicht den Banausen nacheifern. Sollen sie doch in der Küche sitzen und sich großartig fühlen“,
war ihre Rede. Das war nicht falsch. Ich lernte die Kaminatmosphäre schätzen.
Wir lagen vor dem Kamin, tranken Rotwein, hörten Musik, sie streckte sich, das
war keine schlechte Stimmung. Man kam sich dabei etwas anders körperlich
näher. Um Mitternacht gab es einen Espresso und Cognac.
„Jetzt noch etwas ausgefallene Musik. Nachts Musik hören und dabei vögeln wir noch etwas. Komm’ richtig, nimm keine Rücksicht auf mich. Lass
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es kommen. Du kannst auch schnell sein. Ich habe es gerne, wenn du dich
gehen lässt. Halte es nicht zwanghaft an. Diese zwanghaften Anhaltekünstler meinen zwar, sie seien die Größten, die Obersexspezialisten, denen man
nicht widerstehen kann, begnadete Glücklichmacher, aber kapieren nicht,
dass man es auch einmal anders möchte. Du machst es schon gut mit deinem schönen Schwanz. Wir können ausschlafen, wenn wir mittags aufstehen, reicht das. Ich habe eh erst um 14 Uhr Funk“,
sagte sie. Spaß hatten wir und viel zu lachen. Sie konnte auch ihre Schauspielerei
nicht ernst nehmen.
„Jetzt mache ich mal einen auf Komödie, und es wird eine Tragödie“
und legte los, mit Verfremdungen zu spielen. Das wirkte wirklich komisch.
„Lachen“ ist in Beziehungen, wie ich hörte, fast selten. Man bringt sich, wenn
es fehlt, um etwas. Vielleicht hat man auch verlernt, Späße zu machen.
So ingen wir an, vor uns hin und durch den Tag und die Nacht zu leben.
So, als gäbe es keine Zeit. Ich war zwar eine „arme Verwandte“, aber das störte
sie nicht.
„Mach dir wegen unserer Lebensführung keine Gedanken. Ich verdiene mit
meinen Sprechkünsten genug. Was soll´s. Besser so ein Typ wie du, mit dem
ich etwas anfangen kann, als den deprimierenden Werbefritzen oder was
man sonst so angeboten bekommt. Der war zwar gut betucht, das hat mir
aber gar nichts gebracht. Man kann zwar viel, aber nicht alles kaufen. Man
denkt, sie sieht gut aus, die hat doch bei den Typen keine Probleme. Das
stimmt auch, aber jemand zu inden, der einen etwas heiter macht, ist auch
nicht einfach. Die Beziehung driftet dann schnell auf die Kompensierschiene ab, einen guten Rotwein, Italiener, teures Parfum. Das war´s dann. Das
wird schnell hohles Getue.“
Im Nachhinein kann ich nicht mehr rekonstruieren, ob die Zuspitzung
des Konlikts mit der Nymphomanin, über meine Dichtungskonzept und
Dichtungskünste ausschließlich poetischer Natur waren oder ob sie auch mit
der Anbahnung der Beziehung mit dem Rotstich im Haar zusammen hingen.
Sie hatte das sehr schnell mitbekommen. Unsere Trefen stellten wir zwar nicht
gleich ein, aber sie wurden doch drastisch weniger. Es waren nach dem Essen
im Schwarzen Bock keine vier Wochen vergangen, da kamen die Diferenzen
zum Ausbruch und die Ambivalenzen brachen aus. Das brachte zwar keine
ganz einfache Situation mit sich, da der Rotstich im Haar mit dem Charmeur
und der Nymphomanin befreundet war, es lies sich aber so einrichten, dass
sie im Fortgang auf eine gewisse Distanz ging, ohne dass sich das für sie
dramatisch auswirkte. Das ist auch eine Sache der Geschicklichkeit. Darüber
verfügte der Rotstich im Haar. Man traf sich aber öfter mit der Brünetten und
ihrem Mann zum Essen. Das brachte das Lancieren der Aufträge beim Funk
ungewollter Weise mit sich. Ich selbst hatte auch mit ihr zu tun, da sie mir
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kleinere Lektorate vermittelte. Man ist dann in einer Situation, in der man
nicht alles absagen kann, und darf den Kontakt nicht verlieren, sonst wird man
vergessen und der nächste der hinter einem steht, rückt nach.
„Ich brauche mal wieder einen Dummen, der sich die sprachlichen Ungelenktheiten unserer Akademiker für den Funk zurechtbiegt. Man glaubt es
nicht, was das für ein Geschreibsel ist. Kittler hätte sie in ihrer Großartigkeit
alle nach Hause geschickt“,
war ihre Rede. Man bekommt dafür mit der Zeit etwas Übung, was mir nicht
allzu schwer iel, da ich mehrere Jahre in der Werbung in verschiedenen
Funktionen tätig war.
Mir tat die Art der Gedankenlosigkeit in Sachen Lebensgestaltung des
Rotstichs im Haar gut. Sie hatte keine Zukunftsplanung, machte sich über
ihre Lebensgestaltung keine Gedanken und lies es sich gerne gut gehen.
„Wir setzen uns ein paar Tage in die Toskana ab. Mit dem Nachtzug sind wir
gleich da. Das bringt etwas Kontrast in das Erleben. Es wird uns gut tun.
Dichten kann man auch in Italien. Vielleicht sind Ortswechsel für die Reizung der Einbildungskraft ganz gut. Es stimmt doch nicht, dass man alles
so aus sich selbst schöpft.“
Gesagt getan. Sie machte da keinen großen Umstände, und wir setzten uns
ein paar Tage in die Toskana ab.
Das Problem, das ich zu verkraften hatte, war ein ganz anderes. Ich merkte,
dass ich kein Dichter und kein Schriftsteller war und würde auch nicht ein
Dichter und Schriftsteller werden. Meine literarischen Ambitionen, mit
denen ich so spielte, waren auf Sand gebaut. Mir fehlte es an Talent. Das
war auch keine Frage des Fleißes. Irgendwie waren meine ganzen Versuche
aussichtslos. Weder hatte ich einen Sinn für das Erzählen, das Prosaische
lag mir gar nicht, noch war die ließende Kreativität vorhanden, die einen
als Schriftsteller trägt. Ich hatte auch nichts zu erzählen, das entsprach nicht
meiner Erlebnisverarbeitung, obwohl ich gerne Prosa las. Vielleicht macht
mir das Schreiben auch keine Freude. Man kann nicht nur ein Gedicht, einen
Roman, fünf Erzählungen schreiben, sondern es hat ein Fortgang einzutreten,
sonst hat man das Schriftsteller-Sein nicht verstanden. Man ist dann keiner.
Die wenigen Ausnahmen, die man als Widerlegungen auführen könnte, sind
vernachlässigbar. Es machte sich vermutlich auch noch negativ bemerkbar,
dass ich als junger Mann zu viel gelesen hatte. Von einem bestimmten Punkt
an wirkt das kontraproduktiv. Auch das Handwerkliche führt dann nicht
weiter, da es nicht so ohne Weiteres die kreative Fantasie befördert. Mir wurde
auch deutlich, dass ich auch an den falschen Vorbildern orientiert war. An
Mallarmé, Trakl und Keats kann man sich eben nicht orientieren. Mich hatte
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auch die spanische Lyrik begeistert, aber das war für die eigene Kreativität
nur ein Hindernis, da mir der kulturelle Hintergrund fehlte. Auch die Neigung
zu einer sehr reduktiven sprachlichen Ausdrucksweise wirkt sich verhindernd
aus. Was sollte man, angesichts dessen, was schon gedichtet war, auch noch
dichten. Vermutlich fehlte mir es auch an dem Gefühl, das den ließenden
Ausdruck trägt. Also insgesamt eine deprimierende Situation und Einsicht,
aber ich fand mich damit ab.
Die Beziehung zum Rotstich im Haar tat mir deshalb besonders gut und
federte manches ab.
„Es gibt doch wirklich Schlimmeres, man hängt an bestimmten Sachen,
aber wenn man sie einmal hinter sich hat, werden sie auch kleiner. Machen
wir uns einen guten Abend, eine schöne und gute Stunde und du wirst
sehen, dass es weitergeht“,
meinte sie. Sie hatte zudem eine lebenspraktische Art mit diesen Dingen
umzugehen.
„Komm wir kaufen dir ein schönes Hemd, das hat sich für trübe Stunden
bewährt“,
sie lachte dabei und wir ließen uns durch die Stadt treiben.
Es war nicht so, dass ich mich von ihr so ganz verstanden fühlte, aber sie
brachte mich auf andere Gedanken. Das ist für Verabschiedungen von etwas,
an dem man auch unbewusst hängt, schon eine Hilfe. Etwas Zerstreuung
ist in dieser Situation eine gute Gegensteuerung. Man sieht das Schif am
Horizont untergehen, aber man steht auf dem festen Boden des Ufers. Wenn
es verschwunden ist, bleibt der Boden unter den Füßen und man geht
weiter. Das bringt einen zwar nicht zu einem selbst, aber es ist auch nicht
selbstentfremdend. So vergingen die Tage, die Schauspielerin hatte etwas zu
spielen, ich bekam meine Lektorate und wir hatten miteinander Spaß und
ließen es uns ganz gut gehen. Das mag nicht das sein, was einen, der mit dem
Dichterwahn geimpft wurde, existenziell zufriedenstellt, aber es ist eigentlich
auch nicht ganz schlecht. Da gilt dann der Satz des Rotstich im Haar
„Wenn die Gleitmasse stimmt, geht so manches“.
1975 gab es einen wirklich goldenen Oktober. Es ging jetzt fast ein Jahr mit
dem Rotstich im Haar. Ich war zwei Tage unterwegs und hatte mich für den
Samstagnachmittag angekündigt. Es sollte eine kleine Überraschung geben.
Ganz gut gestimmt kam ich an, und sie emping mich mit einem etwas
ungewohnten Ausdruck im Gesicht. Da wir uns bei der Begrüßung meistens
nicht umarmten, kam mir ihr Ausdruck gar nicht so zu Bewusstsein. Das ganze
spielte sich in Sekunden ab. Ich ging in die Küche, um eine Falsche Wein zu
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entkorken. Sie folgte mir und stand Abstand haltend in der Tür.
„In München bekomme ich ein Engagement, und es wird etwas beim Fernsehen laufen. Das kam ganz unerwartet. Da heißt es, die Zelte in Frankfurt
abbrechen. Da geht es dann nicht mehr so mit uns weiter. Aber wir brauchen uns nicht aus dem Blick verlieren. Wir sollten nicht böse auseinandergehen. Wir hatten doch eine schöne Zeit“,
sagte sie. Das war ein schöner Empfang. Sie hatte sich richtig chic gemacht.
Der Lippenstift war besonders sorgfältig aufgetragen und nachgezogen.
Sie verzog dabei etwas den Mund. Mit dem „nicht aus dem Blick verlieren“,
versuchte sie der Sache etwas die Härte zu nehmen. Sie war zwar in der
Verfolgung ihrer Interessen konsequent, vermied aber unversöhnliche Brüche
und lies sich gerne noch eine Hintertür ofen. Man weiß nicht, wozu man den
anderen noch einmal braucht, war ihre mir vertraute Haltung. Sie neigte eher
zu den weicheren Übergängen. Am Ergebnis änderte so etwas aber nicht
viel. Ihr war wirklich eine Überraschung gelungen. Mich wunderte es etwas,
dass ich gar nicht erschüttert war. Ich nahm mir ein Schreibmaschinenblatt,
setzte mich an den Küchentisch und schrieb, die Verse laut zu ihr gewandt,
vorsagend:
„Nicht „Trunkener Frühling“,
erlebe die:
Gute Stunde
Schwerelos
Aus dem Spiegel tritt grenzenloser Blick
Jetzt ist die Zeit erfüllt
Spüre jetzt das wahre Leben
das sie mir zurückgeben
Die Stunde ist’s wodurch es dich entzückt, entrückt.
„Trunkener Frühling“ ist eine Anspielung auf Gustav Mahler. Seine Verbindung von Symphonie und Kunstlied“,
merkte ich dazu an. Die Überraschung schien eher auf ihrer Seite zu sein,
denn sie schaute mit etwas aufgerissenen Augen zurück, ing sich aber gleich
wieder.
„Dich poetisch anzuregen, bist du nicht überrascht, perplex, macht dir das
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gar nichts aus, dass unsere Wege auseinanderlaufen?“,
hörte ich sie. Sie dachte vermutlich, ich würde zusammenbrechen und vor ihr
auf den Knien liegen. Mir war mit dem ersten Satz ihrer Ankündigung nach
München zu gehen klar, dass da nichts mehr zu machen war. Diese Chance
wird sie sich nicht entgehen lassen. Was sollte sie sich auch dabei mit mir
belasten, wenn es darum ging ihre Karriere voranzutreiben. Soviel Chancen
gibt es bei solchen Karrieren, die in der Regel nicht allzu erfolgreich sind, nicht.
Es konnte gut sein, dass noch andere Motive eine Rolle spielten, ohne dass
sie ihr bewusst waren. Es kommt oft eine unbemerkte Unterhöhlung von
Beziehungen vor. Das kündigt sich an Kleinigkeiten an, die erst vom Ende
her ihre Bedeutung bekommen. Vielleicht hatte sie auch einfach Lust nach
einem anderen Liebhaber und wollte sich Luft verschafen. Der Wechsel nach
München war da eine gute Gelegenheit, das Feld zu bereinigen. Ich schaute
sie etwas verträumt an, lächelte etwas gewollt und sagte:
„Wir hatten sie, die gute Stunde, was wollen wir mehr“
und machte mich vom Acker. Es konnte gut sein, dass der Rotstich im Haar
der Schritt bei ihrem Durchstarten etwas Leid tat, zumal mit dem nicht sofort
anstehenden Ortswechsel nichts über das Knie zu brechen war. Aber, wie das
einmal so ist, wenn man sich zu sehr vorwagt oder etwas beziehungsmäßig
ausprobieren möchte, führt man eine Situation herbei, in der die Würfel fallen.
Es wäre nicht ganz auszuschließen gewesen, dass mit etwas Gejammere und
Beschwörung meinerseits, der Rotstich im Haar ein paar Runden weiter dabei
geblieben wäre. Auch das hätte durchaus in mein Bild von ihr gepasst.
Was ich bedauere, ist, dass ich meistens nicht richtig allein war, da ich ohne
Unterbrechungen sexuelle Beziehungen hatte. Das lenkt die Einbildungskraft
ab. Das Geschlechtliche stört ihr freies Spiel. Insofern musste ich mich immer
wieder losreißen und auf Reisen gehen, auch wenn es nur kurze Trips waren,
damit die Einbildungskraft in ihr freies Spiel eintreten konnte. Mein alter
Freund Alfred Edel, der in seinem 60isten Lebensjahr an einem Herzschlag
nach einem Theaterbesuch starb, sagte über das Geschlechterverhältnis
„Die Frau nimmt dem Mann auch durch ihre Art der Geschlechtlichkeit seine Kraft. Sie ist in ihrer von der Anlage her grenzenlosen Sexualität eine
Aussaugerin. Sie kann immer, ohne Ende und macht dem Mann glauben,
dass ihr Körper etwas Großartiges sei. Es gibt aber andere Glücke, die keine Frau befriedigen kann. Was uns von den alten Lateinern überliefert ist,
„Omne animal post coitum triste est“, ist schon wahr, aber wie das bei Wahrheiten ist, was folgern wir daraus? Man hat das immer gewusst. Das Wissen
ist aber durch den Terrorismus der Intimität verloren gegangen. Es könnte
sein, dass darin das Geheimnis des Sexismus besteht.“
Alfred Edel wirke als Texter, der Satz „Nachdenken, mit der Bahn fahren“
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geht auf ihn zurück, als Kleinilmschauspieler war er in Frankfurt und
München stadtbekannt. Ihn ein Unikum zu nennen, ist vielleicht zu negativ
konnotiert. Bei Frauen war er zwar erfolgreich, aber nicht beliebt, da er zu
selbstinszenierenden Ausfälligkeiten ihnen gegenüber neigte. Es konnte sein,
dass man mit ihm unterwegs war und er in einem Lokal zu einer Frau rief:
„Mit dir habe ich auch geickt“.
Ab dem 50igsten Lebensjahr wurde er dann, was das betraf, etwas ruhiger.
Seine narzisstische Selbstinszenierung bekam er halbwegs in den Grif. Er
hatte aber in bestimmten Kreisen diesen Ruf weg. Das passte Alfred Edel im
Alter zwar nicht, aber wie das in diesen Fällen so ist, es war nicht mehr viel
daran zu ändern. Ich kannte ihn bereits aus den 1960er Jahren, hielt aber
eine Distanz zu ihm, da ich mich seiner Selbstinszenierungen nicht aussetzen
mochte.
„Ich bin eitel, wie eine Diva“,
sagte er. Seine blauen Augen faszinierten sein Publikum. Ansonsten hatte er
durchaus etwas Väterliches.
1975 hatte er sich auf mich zubewegt und wir trafen uns gelegentlich im
Café Schwille und gingen mittags ins Kino, da er sich auf dem Laufenden
halten wollte. Er schleppt mich dann überall mit. Bei schönen Frauen hatte
er immer wieder Erfolg.
„Baggere die doch an, die kannst du gut abschleppen. Die schönen Frauen
haben’s besonders schwer, da kann man leichter landen als man landläuig
meint. Sie sind oft keine gute Geliebte,
sagte er dann. Mein Baggern machte ihm dann Spaß und schien ihn gut zu
unterhalten. Er stand dabei, sah sich das an, lachte, machte der Schönen
Honneurs und versuchte mir damit in die Hände zu arbeiten. Dabei war er
wirklich sehr geschickt.
Wenn mir eine kleine Nutte im Hauslur einen blies, fühlte ich mich danach
eigentlich in sexuellen Belangen mit am Wohlsten. Wenn das zu seinem
Höhepunkt zulief, hieß es dann
„Abschlucken!“.
Man hat dabei nicht diesen verschlingenden Kontakt mit dem weiblichen
Körper und ist ihm nicht in der gesamten körperlichen Wahrnehmung
ausgeliefert. Das war kurz und intensiv und man ging danach entspannt ein
Bier trinken. Hört man so etwas von jemandem, so wird einem der Sprecher
spontan, in einer im Fortgang der Kommunikation schwer zu korrigierenden
Weise, unsympathisch. Man hält ihn für einen gefühllosen zu verachtenden
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Typ. Dafür ist er selbst der Beleg. Doch der Fall ist nicht so klar geschnitten.
Ich erlebte dabei, dass sich etwas ereignet, von dem ich fremdbestimmt war.
Es führte mich am wenigsten zu mir selbst. Die Frauen haben es insofern
etwas leichter, sie werden Mütter und bekommen dadurch einen Sinn, den
Männer nicht haben. Sie bleiben bloße Erzeuger, aber sie tragen nicht aus.
Da Problem ist mittlerweile für mich Geschichte geworden. Das Interesse an
diesen Vorgängen geht verloren. Das macht vieles einfacher.
Die Frau, das ist die Hexe, die Zeit-Hexe, das Werden. Wir erleben durch sie
den ungeheueren Augenblick. Sie ist der Unsinn als das Mystische, wie Ludwig
Wittgenstein in seinem Tractatus logico philosophicus das Unsagbare nennt.
Er erschien 1921 im letzten Band in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie.
Ein überschätztes und unlesbares Buch.
Höre jetzt noch von Franz Schubert Den Schwanengesang, die Vertonung
von sechs Heine-Liedern. Das vorletzte Lied „Der Doppelgänger“ ist ein
Sprechgesang. Es erschließt sich einem intuitiv, obwohl man dabei nicht
darauf kommt, wie es komponiert ist.
24. Februar 2008
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unterwegs
Wir hören immer wieder und haben auch Beispiele dafür „Alt sein ist noch
etwas anderes, als alt werden“. Gegenwärtig beinde ich mich im Abschnitt
des Alt-Werdens. In diesem Zustand nehmen wir unsere Umwelt und uns
selbst eingeschränkter wahr. Das ist der Anfang zu einem Übergang, zu einer
ganz anderen Beindlichkeit, dem des Alt-Seins. Die Aussichten sind aber gar
nicht so schlecht. Ich sehe mich im Alterswohnheim in einem kleinen Zimmer
sitzen. Eigentlich keine schlecht Position. Man wird versorgt, kann sich auf sich
zurückziehen und ist nicht mehr getrieben. Der Leib ist kalt geworden. Darauf
sind wir schon etwas durch Bilder vorbereitet. Wir sehen einen alten Mann
auf einer Bank sitzen. Er schaut in den Himmel. Es ist ein schöner Sommertag.
Ihm fehlt gar nichts. Sein Blick geht in die Ferne und zugleich nach Innen.
Alte Männer haben eine eigene Faszination, die ich bei alten Frauen nicht so
erlebe. Es zeigt sich dann, wer man ist. Vielleicht ist auch das Blindwerden ein
Glücksfall. Man kann sich dann ganz auf den Klang der Verse einlassen. Borges,
der in seinem Alter fast blind wurde, berichtet von dem Klang der Verse, die er
formulierte, der Aufmerksamkeit, die in seinem fast blinden Zustand eintrat,
bevor er sie diktierte.
Noch vielversprechender wäre es, wenn in diesem Zustand alle Verse und
Klänge verschwinden, ohne dass man sagen könnte, dass man in sich selbst
zurückgeht. Man erlebt die Leere. „Leere“ ist nur ein Wort, dessen Bedeutung
wir nicht kennen. Das führt uns zu dem, was unser Inneres ist. Etwas nicht
Erreichbares, ein Ort, an dem wir nicht ankommen können. Der angesprochene
Zustand bleibt aber unbekannt, da wir von der zukünftigen Gegenwart nicht
in die gegenwärtige Zukunft springen können. Sie ist nur in der Gegenwart
erreichbar und unser Bewusstsein operiert nur in der Gegenwart. Das
Gedächtnis hat viel zu vergessen, um sich erinnern zu können. Die Aussichten
für die Zukunft sind also nicht so schlecht. Mir fällt der schöne Satz eines über
100 Jahre alt gewordenen französischen Diplomaten dazu ein „Bildung ist das,
was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat.“
Ich hörte, wie ich die Zimmertür schloss, so, als ob sie von selbst zuging und
war wieder in meinem Dachzimmer in der Feuerbachstraße. Ich fühlte mich
eigentlich nicht unwohl. Ohne eine Frau zu sein, braucht nicht Einsamkeit zur
Folge zu haben. Das ist auch eine Frage, ob man sich selbst unterhalten kann.
Es war nicht so, dass mir die Trennung von dem Rotstich im Haar gar nichts
ausgemacht hätte. Man verliert dabei auch einen Teil seiner sozialen Umwelt.
Zudem brach der Kontakt mit der Brünetten vom Hessischen Rundfunk
und ihrem Mann fast ganz ab. Sie war im Sommer 1975 befördert worden
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und leitete jetzt eine Abteilung. An ihren Nachfolger hatte sie mich weiter
empfohlen. Es gab aber deshalb mit ihr keine meiner mich positiv irritierenden
Dienstbesprechungen mehr. Ich sah sie gelegentlich von weitem in der Kantine
des Hessischen Rundfunks mit ihren Mitarbeitern, aber der Blickkontakt war
eher lüchtig, und es gab auch weiter keinen Anlass auf sie zuzugehen. Sie
saß in der Mitte und es wirkte so, als hielt sie während der Mittagszeit in einer
unaufdringlichen Weise Hof.
„Sie hat sich gleich einen neuen Kamelhaarmantel gekauft, das hält sie für
chic. Jetzt macht sie wirklich den Dicken“,
kommentierte der Rotstich im Haar. Der Rotstich im Haar hatte zu der
Brünetten eine Beziehung, die sich durch Konkurrenz und Kooperation
auszeichnete. Einerseits gab es Dominierungsversuche, anderseits saßen sie
zusammen, tranken Wein und aßen etwas. Der Rotstich im Haar redete mit
ihr über ihre Rollen und die Brünette gab ihr Ratschläge. Auch Männer waren
wohl gelegentlich Thema. Man bekommt selten mit, wie Frauen über Männer
sprechen. Was man so mitbekommt, so soll es oft über ihre Schwänze gehen,
und wie sie es miteinander treiben. Der Reiz dieser Gespräche besteht darin,
dass sie in einer Unterwelt stattinden, die größere Freiheiten erlaubt als die
öfentliche Kommunikation. Werden sie an die Öfentlichkeit gebracht, wird
sie banal.
Ich merkte, dass mir das Ende der Runde mit dem Charmeur, der
Nymphoman, der Brünetten, ihrem Mann und dem Rotstich im Haar doch
ganz gut tat. Man tritt in eine neue, wiedergewonnen Freiheit ein, ist wieder
auf sich selbst zurückgeworfen, hat weniger soziale Verplichtungen und lässt
die Stimmungen der Tage, Straßen und der Anblicke anders auf sich wirken.
Nicht, dass einem am Ende einer Beziehung nicht auch etwas fehlen würde,
aber man kann sich anders selbst vergewissern und das Erleben fängt an zu
ließen. Es fällt leichter, hinter sich zurückzutreten. Insgesamt fühlte ich mich
nicht unwohl.
Zuerst versorgte ich mich mit Wein, Lebensmittel, Cognac, Kafee, Tee,
Kuchen und richtete mich darauf ein, tagsüber im Bett zu liegen. Stellte die
Klingel ab und las noch einmal die Romane von Joseph Conrad, Herman Melville
und William Faulkner. Conrad hat eine Art sich in andere hineinzuversetzen
und ihre Verstrickungen zu beschreiben, die selten ist. Die Psychologie geht
einem nahe. Melvilles Moby Dick ist ein wirklich philosophisches Buch und ein
völlig unverstandener Roman. Bei Faulkner, dem Senior der amerikanischen
Südstaatenliteratur, erlebt man die heißen Tage des amerikanischen Südens,
die Unendlichkeiten der Landschaft und den Abgrund, in den sie einen
versetzte. Sollte auch wieder einmal die Franzosen lesen, schoss mir durch
den Kopf. André Gides Tagebuch ist wirklich beeindruckend.
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Ab 1975 begann die Weinlokalszene in Frankfurt zu prosperieren. Da gab es,
wenn man darauf aus war, immer die Gelegenheit für einen One Night Stand.
Jetzt war auch wieder genug Zeit, um Nachts im Grüneburg Park spazieren zu
gehen. Das war ein besonderes Erlebnis. Man stand auf der Anhöhe des Parks
und hörte das Rauschen der Stadt. Es war wie ein Meer, eine Brandung. Man
stand dem Erhabenen gegenüber.
„Könnte doch meinen alten MG Sportwagen wieder anmelden und etwas
in die Frankfurter Umgebung fahren“,
kam mir in den Sinn. Der grüne MG war ein Geschenk meines Schwiegervaters
zur Hochzeit 1964. Ich hatte ihn behalten, aber er war meistens abgemeldet
und stand in einer Garage am Stadtrand. So war er noch fast neu. Die Marke
war ein Schrottauto, aber in der zweiten Hälfte der 1950iger Jahre und noch
bis in die 1960iger galt es als absolut chic einen MG zu fahren. Das war etwas
ganz Besonderes, trotz seiner Unbequemlichkeit. Meine verstorbene Frau sah
darin einfach toll aus. Sie mochte ihn sehr. Ich hatte ihn nicht verkauft, obwohl
ich Autos lästig fand, da es für mich ein Gefühl, eine Erinnerung ausdrückte,
mit dem ich im Hinblick auf den Tod meiner Frau nicht umgehen konnte. Es
war die vergegenständlichte Symbolisierung eines Gefühls. Es war so, als
ob die Zeit still sehen würde. In größeren Abständen ging ich in die Garage.
Setzte mich in den MG. Döste etwas vor mich hin. Manchmal nahm ich den
Autoschlüssel in die Hand, und drehte ihn bis zu dem Klick, lies den Wagen
aber nicht an. Verlies das Auto und fuhr mit der Hand über seinen Kühler. Nach
einer halben Stunde ging ich dann wieder.
Goldene Zeiten, in denen es noch kein Telefon gab. Man rief mich an und
teilte mir mit, dass Allain Robbe-Grillet im Februar 2008 starb. Da kam die
MG-Erinnerung über mich. Es war mit dem Auto und meiner Frau ein Stück
auch eine Nouveau Roman-Zeit. Man fuhr mit dem MG im Sommer durch
die Stadt. Hielt an. Ich stieg aus. Ging um den Wagen herum. Rauchte eine
Zigarette. Stieg wieder ein. Schaltete das Radio an. Schaltete es wieder aus.
Setzte die Sonnenbrille auf und lies mich mit meiner jungen schönen Frau
bewundern. Sie hatte zu dem Zeitpunkt zwar schon das Kind im Bauch, aber
das sah man noch nicht. Sie stieg aus. Rauchte eine Zigarette. Setzte sich auf
den Kühler. Schaute in die Sonne. Dabei sprachen wir gar nicht. Lehnten uns
im Auto zurück. Rauchten eine Zigarette. Sahen in den Himmel. Fuhren weiter.
Tankten an einer Tankstelle. Fuhren zur Seite und ließen den Straßenverkehr
auf uns wirken. Fuhren nach Hause und hörten Schallplatten. Sahen aus dem
Fenster. Sie zog ihre Bluse aus und stöberte mit schwarzem BH nach einer
anderen Schallplatte. Legte John Coltrane auf. Das war etwas Exklusives und
daran zeigte sich Geschmack. Sie zog ihre Bluse wieder an und kochte Kafee.
Ich fühlte über ihren Bauch, der ganz leicht etwas größer wurde. Küsste sie
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auf ihren Nabel. Trank Kafee und aß etwas Kuchen. Hörte weiter Musik und
rauchte.
1981 befreite ich mich doch von ihm, da ein gutes Angebot, eigentlich
überteuert, vorlag. Er ing auch an, mich gefühlsmäßig zu belasten. Insofern
war keine große Überwindung erforderlich, die Gelegenheit wahrzunehmen.
Erst am Ende bekommt die Geschichte ihre Struktur, fällt einem dazu ein.
Davor ist man noch mit dabei. Man kennt das Ende noch nicht und in Folge
dessen auch nicht die Struktur der Geschichte.
Es näherte sich Weihnachten 1975-76. Mir war nach einem Ortswechsel
zu mute. Das schaft oft den Einstieg in einen Übergang. Agadir bot sich an.
Zumal der Marokkaner mit mir wieder Kontakt aufnahm und mich einlud.
Das würde eine gute Zeit werden und andere Perspektiven mit sich bringen.
Zudem gab es nicht viel zu organisieren. Es brauchte nur eine Reisetasche
gepackt zu werden und das Flugticket war zu buchen. Das war schon alles.
Man merkt dabei wie eine neue Freiheit eintritt. Man spürt sie leiblich. Sie ist
amorph und nicht greifbar. „Freiheit“ ist auch nicht das trefende Wort, es ist
eine Stimmung, die einen erfasst und einen mitnimmt. Ein Ortswechsel war
auch deshalb wünschenswert, da ich am 3. Januar 1976 31 Jahre alt wurde.
Entfernung tat einfach not. Ich hatte gar nicht gedacht, dass ich dieses Alter
erreichen würde, aber so dramatisch war es dann doch nicht. Die Zeit strich
dahin. Ich war körperlich in guter Verfassung, aufgeweckt und ließ mich von
den Stimmungen, den eigen und denen, die mir entgegenkamen, tragen. Was
wünscht man sich mehr.
Ende Januar 1976 war ich wieder zurück. Der Aufenthalt in Agadir war
meditativ. Meistens hielt ich mich am Strand südlich von Agadir auf oder
rauchte mit dem Marokkaner und seinen Freunden Haschisch. In Marokko
gibt es vorzüglichen Stof. Man sitzt mit den Männern zusammen in einem
Zimmer auf dem Boden. In der Mitte des Zimmers steht die Wasserpfeife
und Pfeferminztee, mit dem man sich von Zeit zu Zeit die Mundschleimhaut
anfeuchtet. Dann geht es tagelang auf Reise. Essen, trinken, auch Sexualität
stört dabei. Es verunreinigt die Wirkung. Man geht auf Reise. Man tritt in
andere Welten ein. Abends geht man noch etwas durch die Stadt. Es umgibt
einen dann Rauschen, ein reines Rauschen. Die Männer sprechen nicht viel. Es
besteht ein Einverständnis unter ihnen, das wortlos bleiben kann. Sprechen
würde nur stören. In Europa nahm ich keine Drogen zu mir, da mir der
Hintergrund dazu fehlte und es war mir zu modisch. In Agadir dagegen war es
etwas anderes. Da gehörten diese Reisen schlicht dazu. Ein Reisen, ohne dass
man den Ort, an dem man sich beindet, verändert. Also in keine Bewegung
eintritt und an der räumlichen Veränderung der Dinge teilhat. Man fuhr dabei
in die Erde, ging auf dem Boden des Meeres herum, reichte durch die Wände
der Häuser Hände. Begegnete man einer Frau, so wird sie reiner Gegenstand
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der Vision des Ungeheuerlichen.
In den ersten Tagen des Februars war etwas herumzuhören, mit dem
Hessischen Rundfunk Kontakt aufzunehmen, einige Briefe zu beantworten,
Bücher zu besorgen, das Theater- und Opernprogramm durchzusehen und
was sonst noch zur Ordnung der Dinge anfällt zu erledigen. Eine hinfällige
Ordnung, aber eine unumgehbare. Das Merkwürdige an diesen Dingen
ist, dass sie zwar einen hohen Spielraum haben, aber im Einzelfall stößt
man schnell an Grenzen. Die Dinge und ihre Anordnung sind die dingliche
Grundlage, die durch den Tag gleiten lässt. Bei der Vergegenwärtigung des
eigenen Tuns, stellen wir fest, dass die Strukturen reversibel sind, die Ereignisse
sind es nicht. Wir können angestellt und entlassen werden und wieder eine
neue Anstellung inden. Insofern ist die Struktur reversibel, aber das Ereignis
ist nicht umkehrbar.
Mein 31. Geburtstag 1976 war im Februar bereits Geschichte. Das neue
Jahr ing bereits an in die Ferne zu rücken, obwohl noch keine vier Wochen
vergangen waren. Ich war in der Innenstadt an der Hautwache unterwegs,
was wegen des U-Bahnbaus abenteuerlich war. Es sollte auch noch etwas
länger so bleiben. Eigentlich dachte ich bewusst nicht an viel. Eher, wie
fremdgesteuert bog ich in die Fressgasse ein, um noch einen Blick ins Café
Schwille zu werfen. Plötzlich hörte ich eine bekannte Stimme:
„Wieder in Gedanken unterwegs und dabei mit diesem zügigen Schritt!“.
Vor mir stand die Brünette, elegant im Kamelhaarmantel, aber ungewöhnlich
blass. Sie sah mich ruhig an. Im ersten Augenblick war ich so überrascht,
dass ich gar antworten konnte, auch keine Belanglosigkeit wie „Ach so was?“,
das einem in einer solchen Situationen eine kleine Brücke zu dem Fortgang
schlägt. Die Brünette gehörte nicht zu denen, die auf den Mund gefallen
waren und nahm den Fortgang des Gesprächs in die Hand.
„Bin gerade in meine neue Wohnung im Westend unterwegs. Der Vertrag
ist unterschrieben und sie ist fast eingerichtet. Es ist also nicht im Kocher
das Wasser für den Kafee zum Sprudeln zu bringen. Es gibt bereits eine
Kafeemaschine.“
Sie legte eine kleine Pause ein, sah mich, sich etwas ausstreckend, von oben
an.
„Ich habe mich getrennt und bin ausgezogen. Wie man es auch ausdrücken
möchte, am Ergebnis ändert das nicht viel. Stelle keine weiteren Fragen.“
Sie hielt wieder etwas inne. Ich war von der Mitteilung so überrascht, dass
ich nichts dazu sagen konnte. Wir blieben aber nicht stehen, sondern gingen
ohne eine bewusste Absicht Richtung Opernplatz. Nach ein paar Schritten,
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sprach sie weiter:
„Lass uns in’s Knoblauch Steaks essen und etwas trinken gehen. Es geht
jetzt gegen 18 Uhr. Das ist nur ein Katzensprung, und wir bekommen den
Tisch rechts neben dem Eingang. Oder passt es dir nicht in deine Abendvorhaben? Etwas Suf kann nicht schaden.“
Dabei gingen wir weiter. So langsam erfasste ich, was mir da mitgeteilt wurde,
was meine Verlegenheit nicht verringerte, sondern verstärkte. Wenn ich etwas
nicht erwartet hätte, dann wäre es eine Trennung der Brünetten von ihrem
geschäftstüchtigen Mann gewesen. Von Außen gesehen, passten die beiden
irgendwie gut zusammen. Die unterschiedlichen Interessen schienen in der
Beziehung kein Problem zu sein. Ich mochte aber gar keine Einzelheiten von
der Trennung und ihren Motiven hören, da es mir gleichgültig war.
Irgendetwas war jetzt doch von mir zu äußern.
„Das ist eine gute Idee, ich habe weiter nichts vor, im Knoblauch inden wir
jetzt, bevor der Trubel anfängt, einen schönen Platz.“
Dabei gingen wir weiter Richtung Opernplatz.
„Dann machen wir keine Umstände, ich lade dich ein.“
Von der Fressgasse zum Knoblauch war es wirklich nicht weit. Vielleicht 10
Minuten, aber die Zeit dahin war zu überbrücken.
„Was wird das für ein Abend geben, ein paar Weine werden vielleicht die
Situation etwas entspannen“,
dachte ich.
Zudem kam, dass ich mit der Brünetten in der Vergangenheit eigentlich
keinen persönlichen Kontakt hatte. Ich sah sie bei den Besprechungen
im Hessischen Rundfunk oder in unserem kleinen Kreis mit dem letzten
Charmeur und den anderen. Da sprach ich zwar gelegentlich mit ihr über
Alltagsereignisse, das blieb aber unpersönlich und trivial. Es gab zwar durch
unsere kleinen Dispute eine Nähe, dem wurde aber am Ende die Spitze
abgebrochen, und sie lösten sich in der Konversation des kleinen Kreises auf.
Insofern bewegte ich mich in einer anderen Situation, die für mich neu und
ungewohnt war.
„Marokko war ein guter Trip, es war ein Hauch von Afrika, dem exotischen
und nicht Begreifbaren nahe“,
setzte ich an, um das Gespräch etwas in die Gänge zu bringen. Bevor ich aber
fortfahren konnte, sah sie auf ein Damenbekleidungsgeschäft und steuerte
es an.
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„Wirklich chic, das Kostüm. Könnte meine Größe sein. Das steht mir doch.
Dazu eine Bluse in einer Kontrastfarbe. Könnte es das sein?“
und unterbrach sie mich und sah mich an. Sie war wirklich blass, aber das
stand ihr. Es gab ihr einen etwas enthobenen, schönen Gesichtszug. Man
sah ihre Blässe, obwohl sie sich geschickt geschminkt hatte. So standen wir
vor dem Schaufenster und ließen die letzte Damenmode auf uns wirken. Um
nicht allzu wortkarg zu sein, fuhr ich fort
„Das sollte man angezogen sehen. Das steht dir doch!“
Bevor ich noch fortfahren konnte, nahm sie wieder das Heft in die Hand:
„Behalte ich im Blick, lass uns aber jetzt in Knoblauch gehen, sonst sind die
besten Plätze besetzt, so viele gibt es da nicht.“
Der Opernplatz kam in den Blick. Schon ging es am Züricher Hochhaus vorbei
und wir nahmen die Türklinke zum Knoblauch in die Hand. Das Züricher
Hochhaus ist mittlerweile abgerissen. Es war das erste Hochhaus in Frankfurt.
Wobei nach unseren gegenwärtigen Maßstäben es sich dabei um kein
„Hochhaus“ handelte. Aus der Perspektive der 1950er und 1960er Jahre war
es für die Frankfurter Insulaner schlicht ein „Hochhaus“.
Wir konnten uns an dem rechten Tisch neben der Eingangstür breit machen.
Soweit klappte alles. Im sitzen, nach dem ersten Wein, die Brünette kippte
ihn etwas schnell ab und ich stand ihr dabei nicht nach, lies die Anspannung
langsam nach. Es wurden die Steaks bestellt.
„Komm, wir nehmen eine Flasche Wein, da haben wir nicht das hin und her.
Was magst du für eine Sorte?“,
sagte sie zu mir und zur Bedienung blickend.
Ich war ganz froh, als die Steaks serviert wurden. Das entlastete die
Kommunikation. Man konnte dann über die Sexualität des Essens die
Kommunikation gestalten.
„Einfach wieder bestens“, „Doch ein guter Wein“, „Da haben wir ja eine Flasche Wein, koste mal an“, „Lass es dir schmecken“.
Also es waren Schienen da, auf denen man gleiten konnte und der persönliche
Bezug war abgeschwächt. Man war dadurch nicht ausweglos mit sich selbst
konfrontiert. Da sie nicht über ihre Trennung sprechen wollte, lies ich das
Nachfragen auf sich beruhen. Bei der Darstellungen von Trennungen ist man
mit einer persönlichen Sichtweise konfrontiert und hört nicht die andere
Seite. Wenn man beide Seiten kennt, ist man oft geneigt zu sagen, dass jede
Seite Recht hat. Zudem wird von den beiden Seiten immer um Zustimmung
geworben oder durch entsprechende Dramatisierung gefordert. Dem kann
56
man sich schwer entziehen. Eine objektive Beurteilung ist da nicht möglich.
Dass es mit dem Rotstich im Haar nicht mehr lief, wird sie gehört haben.
Auch, dass ich mich zurückgezogen hatte. Der Rotstich im Haar nannte sie
gerne etwas ironisch „Heute im Studio“. Nach ihrer Beförderung rollte sie ihre
neue Position ganz auf und sprach mit Vorliebe Sendungen, die sie schrieb.
Sie hatte einen sehr lüssigen Stil. Er erinnerte mich an Jack London. Der ein
genialer Schnellschreiber war, also kein endloses Thomas Mann-Konstruieren,
das schwer in Schwung kommt.
Meine Verlegenheit machte sich auch nach dem Essen und den Weinen
noch durch mangelnden Redeluss bemerkbar. Sie streckte sich etwas und zog
ihre Kostümjacke aus. Das grau des Kostüms stand ihr. Sie trug eine rote Bluse.
Ganz leicht durchsichtig, so dass man etwas ihren schwarzen Büstenhalter sah
und die Formung ihre Brüste sah. Das wurde durch das Strecken ihres Körpers
noch unterstrichen.
Ich konnte davon ausgehen, dass sie genau über die Ereignisse des
Rückzugs aus dem kleinen Kreis und der Trennung des Rotstichs im Haar
informiert war. Darauf zu sprechen zu kommen, wäre nicht ergiebig gewesen,
und ich hätte auch nicht gewusst, was ich der Brünetten darüber mitteilen
mochte. Es trat aber kein Schweigen ein, sondern sie lächelte mich an und
legte wieder los und lachte mich dabei etwas an, so als mochte sie mich in
den Arm nehmen. Vor allem redete sie mich mit du an, was mir unmittelbar
etwas unangenehm war.
„Du kennst doch das alte Sprichwort „Nur Gott steht das Privileg der Einsamkeit zu“. Wenn man göttliche Privilegien in Anspruch nimmt, so kann
das nicht ganz gut gehen. Schriftsteller werden oder gar zu sein, das ist im
buchstäblichen Sinn des Wortes ein „Sein“. Da kann man nicht nur ein Buch,
ein Gedicht schreiben. Das ist nicht mehr so wie im 18. Jahrhundert. Du hast
ein Buch und dann das nächste zu schreiben, danach wieder das nächste.
Schriftsteller, auch nur mit etwas Erfolg, sind ein Unternehmen. Sie haben
vielleicht ein Einfamilienhaus, eine Frau, ein Kind oder zwei. Es stehen zwei
Autos vor der Tür oder sogar in einer Garage. Da ist andauernd zu schreiben.
Nicht nur Romane, sondern Hörspiele, Essays für Funk und Zeitungen. Es
ist sich zu stilisieren. Man gibt sich anti-bürgerlich, grenzt sich aber gegen
die Bohemien-Existenzen ab. Es werden auch Innovationen vermieden. Der
Leser erwartet denselben Ton. Anderes irritiert ihn. Er kann damit nicht viel
anfangen. Der Bohemien hangelt sich mit allem möglichem durch, um
überleben zu können. Schreibt einmal oder nicht und versucht sich mit
Innovationen.
Der Schriftsteller darf seine Leser und Hörer nicht enttäuschen, es sei denn
so, dass es von Ihnen erwartet wird und man es ihm gerne nachsieht. Das
ist ein feiner Unterschied, der aber ein grundsätzlicher ist. Schriftsteller sein
heißt auch, sich als Schriftsteller zu stilisieren. Er braucht Förderer, die ihn
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für unersetzbar und einmalig halten. Je mehr sich etwas Erfolg einstellt,
umso ersetzbarer durch die Nachrückenden wird er letztlich. Man kennt
ihn bereits. Insofern hat er sich als unverwechselbar zu stilisieren. Es hat
viel zusammenzukommen, dass man ein Schriftsteller wird. Erschwerend
ist zudem, dass es so wie bei dem Wein und der Stimme ist, entweder man
indet zwischen seinen 30 und 35 Jahren sein Publikum, oder man indet
es gar nicht. Die Ironie dabei ist, dass er, der Schriftsteller, was sich da mit
ihm, in seinem andauernden Schreiben ereignet, gar nicht erfassen kann.
Er kann diesen ihm selbst nicht durchsichtigen Zustand seinem Leser nur
durch Anspielungen mitteilen. Dadurch wird er umso mehr ein Objekt der
Projektionen seiner Leser. Was noch hinzukommt, literarischer Geschmack
ist etwas sehr vergängliches und von Moden abhängig. Eigentlich hat man
schon verloren, bevor man angefangen hat.
Man hat Goethe und Keller im Schrank stehen, aber gelesen sind sie nicht.
Das ist noch nicht einmal mehr ein Thema für germanistische Seminare.
Goethe und Keller bleiben letztlich viel zu weit entfernt und fremd, ohne
dass sie etwas Exotisches hätten. Auch zum Bildungserlebnis sind unsere
großen Autoren nicht mehr geeignet. Warum sollte man überhaupt etwas
lesen? Schon die öfentliche Inszenierung der schlauen Leser geht einem
doch nur auf die Nerven. Die meisten geben mit den paar Sätzen, die sie
gelesen haben, nur an und meinen, sie könnten einen damit beeindrucken.
Welcher Germanist hat schon die Wahlverwandtschaft gelesen, geschweige
sich dieser wirklich genialen Konstruktion angenähert. Bei meinem Abgott
Kittler konnte man dahin geführt werden.“
Sie hielt etwas inne und trank noch ein Schluck.
„Ich habe in den letzten Tagen etwas von Deinen alten Texten gelesen. Ist
nicht schlecht, aber ich fragte mich, wird daraus ein Schriftsteller oder ist
das nur ein talentierter Nachdenker und Experimentierer, dessen Nachdenken und experimentieren bestenfalls eine schwache Spur hinterlässt.
Du erwartest vielleicht, dass ich jetzt zu dir sage, deine Entscheidung das
Schreiben aufzugeben sei eine falsche gewesen, wünschst dir, dass du verstanden wirst, aber was würde dir das wirklich helfen? Nicht viel. Eigentlich
gar nichts. Es würde dich nur im falschen bestätigen. Als ich hörte, dass du
dich mit deiner letzten Beziehung nur noch den Tagestimmungen hingibst,
dachte ich mir, das war eine gute Entscheidung. Er wird darunter leiden,
aber das geht vorbei.“
Sie machte wieder eine Pause. In solchen Situationen wurde ich ganz leer im
Kopf. Man hört da Dinge, die man auch weiß, aber nicht richtig versteht. Bei
ihrer Rede, anders konnte man das nicht nennen, kam ihr Blut in Wallung.
Das wurde noch durch die eher abgekippten Wein verstärkt. Ich mochte es
auch nicht hören, da ich die Entscheidung, jeden schriftstellerischen Ehrgeiz
aufzugeben, für mich bereit annahm. Irgendwie sollte ich doch jetzt etwas
sagen, während sie Atem holte, um fortzufahren. Aber was? Ich ließ die ganze
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Zeit ihre Figur und ihren Ausdruck auf mich wirken und hatte gar nicht richtig
zugehört. Das Knoblauch hatte sich mittlerweile gefüllt. Die Atmosphäre
wurde unruhig. Einige ankommende Gäste grüßten die Brünette, sie verhielt
sich aber sehr distanziert ihnen gegenüber. Lächelte nur etwas zurück und
wandte sich gleich wieder mir zu. Um meine Unsicherheit zu verbergen,
steckte ich mir eine Zigarette an.
„Mir fehlt der poetische Fluss, die literarische Mitte, die sich erweitert. Mir
schwebte ein zufälliges Schreiben vor, das in alle Richtungen und Zeiten
geht. Nichts fügt sich zu einem Thema zusammen. Nur das Lesen und der
Leser stellen den Zusammenhang des Textes her. Er konstruiert den roten
Faden oder er lässt ihn abbrechen. So wird der Augenblick unendlich vertieft. Wir sollten das im Blick auf mich nicht weiter vertiefen. Es sei denn mit
Ironie: kein tierischer Ernst, das macht depressiv und hässlich“,
brachte ich über die Lippen. Dabei versuchte ich möglichst gelassen zu wirken.
Es war nicht so, dass mich das Thema quälte, aber es war nicht furchtbar.
Unabhängig davon, was man für gescheite Überlegungen dazu anstellen
kann, ing das Gespräch an leer zu laufen. Da aber noch ein Nachtisch bestellt
und Wein nachgeschenkt wurde, glitt das Geschehen doch leicht durch die
Stunden. Es waren auch eher die Blicke und das Ausdrucksverhalten der
Körpersprache, die den Fortgang trugen.
Sie reckte sich wieder.
„Gleiche doch die Rechnung aus und hole noch zwei Flaschen Wein, ich
mag heute etwas Suf, wir gehen zu dir in deine arme Poetenmansarde.
Das erinnert mich an meine Freiburger Zeit. Ich habe die eleganten Wohnungen manchmal über. Man mag zwar nicht auf sie verzichten, aber so
ganz wohl fühlt man sich auch nicht in Ihnen. Zu Änderungen fehlt einem
der Mut und ist dann doch nicht dazu bereit.“
Sie öfnete ihre Tasche, gab mir ihr Portemonnaie. Ich kaufte zwei Flaschen
Wein, lirtete noch etwas mit der Bedienung und wir brachen auf und marschierten Richtung Feuerbachstraße.
„Wir wohnen nicht weit auseinander. Ist zwar kein Katzensprung, aber nicht
mehr als 20 Minuten. Ich bin gleich am Grüneburg Park eingezogen. Ist
noch ein ganz leidlicher Teil dieses maroden Westends. Eigentlich hat es
mir in Sachsenhausen, in der Nähe des Schweizer Platz, besser gefallen. Du
hast uns ja doch gelegentlich abgeholt. Aber ich bin schnell im Funk, und
der Grüneburg Park ist doch ganz schön. Freue mich schon auf die Sommerabende auf einen kleinen Rundgang nach dem Dienst“,
fuhr sie auf dem Weg fort.
Nun dachte ich doch noch einen auf ihre Darlegungen und Ausführungen
darauf zu setzen:
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„Der Schriftsteller schreibt, wirft das Geschriebene in den Papierkorb,
schreibt wieder, schneidet es aus und hängt es an die Wand. Dann fängt er
an zu singen „Nacht ergreife mich. Dunkel komm heran“. Ein Schriftsteller
sollte eine ironische Existenz sein. Nachts durch die Stadt zu gehen, bringt
das Erleben in andere Bereiche. Es regt die Fantasie und die Beobachtung
an. Man ist aufmerksamer, vorsichtiger und leichtsinniger. Du siehst, das
Schreiben kommt zu keinem Ende, aber es hört auf. Ist nur ein halbes Blatt,
dem der Zusammenhang fehlt. Irgendwo sitzt einer, und schreibt vor sich
hin. Dabei ist er ganz bei sich. Es gibt keine Grenze zwischen Erleben und
Tun und doch indet das Ereignis des Schreibens außer ihm statt. Es ist ein
Ereignis in der Welt. Der Schriftsteller ist in diese Art des Alleinseins verliebt.
Wie heißt es bei John Keats meinem alten Liebling in seinem Brief an
Richard Woodhood vom Dienstag, den 17 Oktober 1818, ich hatte ihn einmal
auswendig gelernt und Tage lang vor mir her gesagt:
“… A Poet is the most unpoetical of any thing in existence; because he has
no Identity—he is continually in for—and illing some other Body—The
Sun, the Moon, the Sea and Men and Woman who are creatures of impulse
are poetical and have about them an unchangeable attribute—the poet
has none; no identity—he is certainly the most unpoetical of all God’s Creature. If then he has no self, and if I am a Poet, where is the Wonder that I
should say I would write no more? …”
Sie lachte:
„Wenn das so ist, dann kann es mit der Schriftstellerei nichts werden.
Schriftsteller sind ganz anders. Der arme Keats ist mit 25 Jahren 1820 in Rom
an Schwindsucht gestorben. Bei den intellektuellen Briten wird er noch verehrt, aber er war ein unglücklicher Dichter, kein Schriftsteller. Das sind die
falschen Vorbilder. Man sucht sich die Abwege, das Unwahrscheinliche als
Vorbild, das kann nicht gut gehen.“
So trotteten wir, ich die zwei Weinlaschen in der Hand, zur Feuerbachstraße
und standen vor dem alten Haus. Es war zwar noch nicht spät, etwa 22 Uhr,
aber es war ganz ruhig. Der Vorteil des Hauses war, dass die Mieter oft nicht
dort wohnten, sondern unterwegs waren. Selten sah ich einen der Mieter.
Meist huschte er durch das Treppenhaus und war nicht weiter ansprechbar.
Ein angenehmer Zustand, der auch den Vorteil hatte, dass ich Musik am Abend
laut spielen konnte und niemanden dadurch störte. Der Altbau, vermutlich
aus der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, hatte in seiner Lage in der
Mitte der Stadt etwas Einsames, vielleicht sogar etwas Verwunschenes.
Wir betraten das Mansardenzimmer. Die Brünette verhielt sich so, als ob sie
dort zu Hause wäre. Sie streckte sich etwas.
„Für einen armen Poeten ist aber alles viel zu ordentlich aufgeräumt. Es liegt
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nichts herum, auch keine Bücher. Auf dem Schreibtisch liegt auch weiter
nichts. Alles in Schränken. Gläser gibt es aber?“,
sagte sie und legte ihren Mantel auf den Schreibtisch. Die Weinlasche war
schnell geöfnet. Wir hoben kurz das Glas und kippten ab. So standen wir ein
paar Minuten im Zimmer und tranken. Es wurde nachgegossen. Plötzlich trat
eine beunruhigende Stille ein. Es war so, als wäre man im Null-Zustand des
magischen Augenblicks.
„Was ist das denn für eine riesige Schallplattensammlung!“,
sagte sie plötzlich. Sie ging auf die Platten zu und stöberte etwas in ihnen.
„Da sind ganz alte Jazzaufnahmen dabei. Bruno Walters Einspielung der
Gustav Mahler Symphonien, unsere Frau Christa Ludwig ist auch vertreten. Die 9. Mahler Symphonie von Klemperer eingespielt, ist mir da etwas
entgangen? Leonard Cohen ist auch dabei. Wirklich gut durchmischt. Leg’
etwas Sentimentales auf.“
Die Schallplattensammlung war ein Überbleibsel aus den 1960er Jahren.
Ich legte kaum mehr eine Platte auf. Die Sammlung einschließlich des
Schallplattengeräts diente der Dekoration des Zimmers. Manchmal nahm
ich die eine oder andere Platte in die Hand und ließ sie mir durch die
Einbildungskraft vorspielen. Sie wendete sich von der Plattensammlung ab,
lächelte etwas.
„Schenk noch etwas ein. Zieh mich aus,“
hörte ich sie sagen. Es war mit ihr eine wirklich gute Nummer. Sie hatte nicht
den Masochismus und den sexuellen Wahnsinn der Nymphomanin, auch
nicht diesen ließender Sex des Rotstichs im Haar. Er war hart und weich. Nicht
feurig, aber glühend. Sie konnte nicht genug bekommen und zerloss dabei,
ohne sich ganz zu vergessen. Als sie kam, schossen ihr die Tränen in die Augen.
Die Zeit stand still. Es war nur Gegenwart.
Es war Februar 1976, es wurde früh, die Stadt ing an, sich zu regen. Die
Brünette reckte sich. Sie schien sich wohl zu fühlen.
„Schieße jetzt los. Komme morgen, nein heute, nach dem Dienst bei dir
vorbei. Schlafe jetzt in der neuen Wohnung noch eine Runde. Brauche erst
gegen Mittag im Funk zu sein.“
Ich war noch ganz benommen und hörte nur von der Ferne, wie die Tür in´s
Schloss iel.
Es gilt leider, wenn etwas erinnert werden soll, so muss es meistens
vergessen werden. Keine Gegenwart, kein Jetzt hat Dauer. Es ist nicht sinnvoll
61
auszusprechen:
„Jetzt, jetzt, jetzt, jetzt ...“
ist sinnlos. Erst die Unterbrechung gibt der Äußerung eine nachvollziehbare
Anordnung. Das ist fast Paradox, wenn die Gegenwart„da“ ist, so verschwindet
sie sofort wieder. Es wird wieder vergessen. Die Einheit der Zeit besteht
nur in der Unterscheidung. An ihrem Fluss soll aber kein Zweifel sein!? Das
Zeitbewusstsein ist ein Flussbewusstsein!?
Am Rande notiert:
Lehre vom „Nur-Bewusstsein“:
Alles in der Welt Angehörige ist existent in unserem Augenblick der Gegenwart. Die Augenblickswelt zerfällt im nächsten Augenblick, nur um
abermals existent zu werden. Die jetzt sichtbare Welt ist in jedem nächsten
Augenblick eine andere. Die Welt als Ganzes ist somit Ālaya-Bewusstsein.
Yokio Mishima
Der Tempel in der Morgendämmerung
Bd. 3, Das Meer der Fruchtbarkeit.
Tetralogie
Die Angst der Welt, das ist die Zeit. Die Zeitenangst, das sind die Pyramiden
Ägyptisches Sprichwort
16. März 2008
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VerwIrrung
In den letzten Wochen wird die Niedergeschlagenheit größer. Ich mag gar
nicht mehr aus dem Haus gehen. Zwar zwinge ich mich dazu, es ist aber eine
große Überwindung. Ich mag auch nichts lesen, Musik hören oder etwas
Alkoholisches trinken. Es ödet mich an und erreicht mich kaum noch. Auch
in der Gesellschaft von anderen zu sein, strengt mich an. Mir fällt nicht ein,
was ich sagen soll. Das wird noch dadurch verstärkt, da ich an den Wünschen,
Hofnungen, Glücken und Nöten meiner Umwelt desinteressiert bin. Damit
beinde ich mich in einer Situation, die Heuchelei nahelegt, befördert und
sogar erzwingt. Aber all das führt mich nicht zu mir selbst, sondern löst
eine innere Unruhe aus. Man beindet sich in einem undurchsichtigen und
merkwürdigen Zustand von Niedergeschlagenheit, Unruhe und ziellosem
Umherschweifen. Wenn man sich in bestimmten Zuständen beindet, so geht
auch die Selbstachtung verloren.
Im März 2008 ist der belgische Schriftsteller Hugo Claus mit 78 Jahren
gestorben. Er hat Sterbehilfe in Anspruch genommen, da sich bei ihm
Alzheimer einstellte. Er ist ein sympathischer Autor, da er sich nicht selbst
erklären mochte. Ich werde nicht den Mut zu einer solchen Entscheidung
habe. Mir widerstrebt die Selbsttötung, auch das durch andere getötet
werden, auch dann, wenn das vernünftig, konsequent und würdig sein mag.
Es bleibt bei diesen Entscheidungen auch etwas nicht nachvollziehbares,
da sie Endgültiges herbeiführen. Ein Mystiker des 20. Jahrhunderts schrieb
einmal:
Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man
unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht,
dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos.
Ludwig Wittgenstein
Tractatus logico-philosophicus, 6.4311
Das sind schwer interpretierbare und dunkle Sätze, die ich nicht in meine
Sprache zu übersetzen vermag. Ich nehme sie so hin und lasse sie auf mich
wirken. Mir kommt der Gedanke, dass unser Bewusstsein sein eigenes Ende
nicht denken kann. Wir können jemanden sterben sehen und reden davon,
dass jemand tot ist, wir erwarten und umschreiben ihn. Das sind Wörter und
Redeweisen von denen, wir nicht wissen, was sie bedeuten. Das Bewusstsein
kann nicht aus sich heraustreten und sich von außen beobachten. Als Kind
dominierte mich das Erlebnis des eigenen Todes. Ich konnte ihn mir nicht
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vorstellen, da ich ihn mir sein Erlebnis nicht vorstellen konnte.
„Woher weiß ich, dass ich Tod bin?“
Das war das Rätsel, das nicht zu beantworten war.
Der Tod, das ist die kühle Nacht.
Heinrich Heine
Wenn in sexuellen und erotischen Angelegenheiten unerwartetes eintritt,
löst das eher etwas Unfassbares im Erleben aus. Es sind weniger Irritationen,
die dadurch eintreten, sondern man beindet sich plötzlich in einem Zustand,
der etwas sperrig und nicht leicht handhabbar ist. Das gesamte Körpergefühl
ist davon betrofen, ohne dass einem zugänglich ist, worauf das hinausläuft.
Nachdem die Brünette ihren Absprung gefunden hatte, verbrachte ich
einen unruhigen Schlaf ohne Träume. Am nächsten Tag fand ich erst am
frühen Nachmittag etwas zu mir. Nach einer Kanne Ostfriesentee kam ich
wieder zu mir. Seine Wirkung bringt einen in die Welt, ohne aufzuregen. Das
unterscheidet ihn von dem aufputschenden Kafeegenuss, nachdem ich auch
etwas süchtig war. Ich merkte dabei meine starken Suchtstrukturen, die es
auszubremsen galt. Bewegung ist dazu ganz hilfreich.
Über eine große Zeitstrecke war es ein fester Bestandteil meines
Tagesablaufs 15 Minuten nach dem Frühstück Lyrik zu lesen. Dabei war ich
so versunken, das ich nicht den Fluss der Zeit, den Plusschlag spürte. Das hat
den Vorteil, dass man in eine Distanz zu dem auf einen zukommenden Tag
tritt. Man baut einen Wall ihm gegenüber auf und lässt etwas gelassener das
Tagesgeschehen auf sich zukommen.
Zu Georg Trakl fühlte ich mich hingezogen, obwohl er ein deprimierender
Autor ist, dem man sich mit Vorsicht nähern sollte. Wenn er einen gefangen
hat, lässt er nicht mehr so schnell los. Man kann sich ihm nicht richtig
neutral gegenüber einstellen. Das ist nicht förderlich für die eigene
Gemütsverfassung. Es ist keine Stimmungs- und Empindungslyrik, zu
dem man in einer oberlächlichen Lesart neigen könnte. Sie ist durch seine
Metaphorik gebrochen. Seine Farbsymbolik
„Rotes Laubwerk
Blauer Fluss, blauer Glanz
Braune Kastanien
weiß und kalt
Brauner Weiher
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Schwarz
dunkle Düfte des Grüns
Gold der Tage“
kommunizieren eine Stimmung der Verlorenheit. Wenn man so möchte, eine
höheren Verlorenheit der
„Schwermut“
und des
„purpurnen Lachens“.
Was ist das für ein Lachen, das purpurn ist? Die Farbe
„Grün“, „Gelb“, „Violett“, „Orange“
kommt bei ihm nicht vor. Ich hatte damals ein Trakl Gesamtausgabe, die
leider bei Umzügen verloren gegangen ist. Sie hatte ich mit Anmerkungen,
Interpretationen und Kommentaren versehen, das für mich ganz ungewöhnlich
war.
Die Gedanken wurden bei der Lektüre schnell lüchtig. Mich bewegte
der Umstand, dass mir das, was ich sagen, ausdrücken wollte nicht gelang.
Es war so, als ob eine Barriere zwischen beidem, der Niederschrift und
der Absicht bestand. Zunächst dachte ich, das Misslingen sei eine Sache
der fehlenden Formulierungskunst. Dann kam es mir so vor, als sei eine
unbewusste Sperre vorhanden, ein Verbot, bestimmte Beindlichkeiten
und Erlebnisse niederzuschreiben. Die Jahre davor behalf ich mir durch
Erlebnisaufzeichnungen oder beschrieb irgendetwas das ich sah und hörte.
Erschwert wurde alles, dass mich das Erlebnis selbst gar nicht so interessierte,
sondern sein Ausdruck, sein Klang, seine Melodie. Etwas rätselhaft ausgedrückt,
es fehlte die unbewusste Tätigkeit des Schreibens, die gegenüber allen
Sperren und Zensuren zum Ausdruck kommt.
Ich hing noch Gedanken nach und dachte nicht mehr daran, dass sich
Brünette nach ihrem Dienstschluss angekündigt hatte. Als ich mir das
bewusst machte, war ich doch etwas irritiert. Es konnte aber von ihr auch
nur dahingesagt sein, ohne eine ernste Absicht. Man würde sich dann unter
Umständen gelegentlich auch wieder einmal über den Weg laufen, sich
anlächeln und das Geschehen auf sich beruhen lassen. Das wäre mir das
Liebste gewesen, da ich mich in meiner Situation, ohne eine feste Beziehung,
eigentlich ganz wohl fühlte. Es gab daran vorerst nichts zu ändern, sondern
es war sich in die Zukunft hineinzufühlen, ohne allzu feste Absichten zu
verfolgen.
Aber, wie es so schön heißt,
65
„Unerhoft kommt oft“.
Es klingelt und die Brünette stand wieder vor mir. Sie hatte zwei Flaschen
Rotwein und ein paar Kleinigkeiten zum essen mitgebracht.
„Jetzt wirst du echt überrascht sein. Vermutlich hast du mit mir nicht gerechnet. Aber irgendwie gefällt mir Deine arme Poetenmansarde. Es mag
ein neurotische Sentimentalität sein, aber warum sollte man ihr nicht auch
einmal nachgeben“,
war ihre Begrüßung. Legte ihren Mantel und Jacke ab, und vor mir stand sie mit
einem engen Rock mit einer Seidenbluse, durch die ihr dunkler Büstenhalter
sichtbar war. Sie hatte eine kräftige Brust, die leicht abstand. Das wurde durch
den Büstenhalter noch hervorgehoben.
„Lass Deinen Gast nicht so lange auf dem trocknen sitzen. Ich bin gerade
dabei mich aus dem Tag auszuklinken. Also nichts vom Funk. Er ist für heute
vergangen“,
sagte sie und machte es sich auf der Couch bequem. Sie öfnete die beiden
oberen Blusenknöpfe, streckte sich und lies sich einschenken. Ich setzte mich
auf dem kleinen Sessel ihr gegenüber und prostete ihr zu.
„Leg etwas Musik auf, aber nichts Stürmisches. Wir machen uns einen
durchgemischten Musikabend. Was hältst du von Mahler und Leonard
Cohen. Das klingt abenteuerlich, aber wir sind im Zusammenstellen keine Dogmatiker. Du machst noch einen angeschlagenen Eindruck. Ein Glas
wird dich aufmuntern.“
Für einen Freund brachte ich aus Agadir Haschisch mit. Ich selbst rauchte es
nur dort, da es für mich die Ausnahmesituation „Agadir“ im Erleben zuspitze.
Ich bot ihr einen Joint an, ohne dass es mir bewusst war. In der Verbindung
mit Wein und Essen war das zwar nicht ideal, aber eine Zumutung war es auch
nicht. Sie hätte auch ablehnen können, so sicher war ich mir in der Sache nicht.
Das wäre zwar kein Drama gewesen, aber kommunikationsstörend.
„Habe das immer wieder einmal geraucht, aber bin auf den Wein konditioniert. Man braucht aber nicht alles abzulehnen. Drehe uns halt einen
schönen Joint, das entspannt etwas“,
war ihre Antwort. Es war guter Stof, von dem man nicht viel brauchte, damit
eine Wirkung eintrat. Man könnte sie dadurch dosieren. Sie übermächtige
nicht, so dass man dabei nicht ganz auf sich zurückgeworfen war. Wir
zogen den Joint langsam durch. Seine Wirkung stellt sich schnell ein. Sie
möchte einen zweiten Joint, legte sich zurück, inhalierte ihn intensiv und
atmete entspannt aus. Haschisch verändert die Raum-, Gegenstands- und
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Zeitwahrnehmung. Die Tiefendimension der Gegenstandswahrnehmung tritt
zurück. Die Gegenstände verlieren etwas ihre Kontur. Die Zeitwahrnehmung
verlangsamt sich. Die Selbstwahrnehmung von körperlichen Bewegungen
fängt an, sich auszudehnen. Das Erleben ist weniger von den Dingen und
Ereignissen entfernt. Es ist so, als würde es sie berühren. Etwas was unmöglich
ist. Es ist vergleichbar dem Sehen, der Sehnerv (-reiz) erreicht den Gegenstand
nicht, deshalb können wir sehen, fühlen, hören und tasten.
Wie ich so etwa einen Meter an dem kleinen Rauchtisch ihr gegenüber
saß, verschwamm ihre Wahrnehmung. Sie löste sich in ihren Konturen etwas
auf und war zugleich plakativ. Ihr Atmen lies mich die Bewegungen ihres
Körpers in diesem Zustand plastischer und zugleich verschwindender sehen.
So als würde ich sie fühlen. Ihre dunklen Haare ingen an aus der Gestalt
herauszutreten. Dabei stellte sich eine Dissonanz zwischen der Intensität
des farblichen Eindrucks und dem durch ihre Atmung bewegten Körper ein.
Nachdem wir den zweiten Joint geraucht hatten, zündete sie sich gleich eine
Zigarette an und inhalierte sie tief. Sie lehnte sich etwas weiter zurück und
streckte ihren Unterleib etwas vor.
Nachdem Sie die Zigarette fertig geraucht hatte, nahm sie die Arme hoch,
streckte sich, so dass sich ihre Brüste nach vorne traten. Aus Verlegenheit
nahm ich auch meine Arme hoch und verschränkte sie hinter dem Kopf. Es
war so, als würde gar keine Zeit vergehen. Die Mahlerplatte war abgespielt,
und es iel mir schwer mich in diesem Zustand zu bewegen, aufzustehen und
eine andere Platte aufzulegen. So saßen wir uns jeder durch den veränderten
Körperzustand erfasst gegenüber, ohne dass wir uns direkt anschauten. Ich
versuchte ihr in die Augen zu sehen. Erst glitt der Blick ab, aber dann sah
sie zurück. Ihr Blick kam mir entgegen. Es war nicht greifbar, was sich da
ereignete. Sie blickte mich immer an, legte sich etwas zurück und ing an ihre
Bluse zu öfnen. Sie öfnete sich den Büstenhalter, ohne ihn auszuziehen und
ing mit ihrer Hand an, an ihren Brüsten zu spielen. Erst mit einer Hand, dann
mit beiden. Wir sahen uns immer noch an. Ihre Brustwarze wurde steif. Sie nah
zwei Finger in den Mund, machte sie etwas nass und berührte damit ihre eine
Brustwarze. Unsere Blicke lossen ineinander. Dann ergrif sie meine Hand und
zog mich etwas zu sich heran. Sie nahm sie und führte sie unter ihren Rock
zwischen ihre Beine. Ich spürte einen leichten Slip. Sie führte ihre Hand tiefer.
So nahm die Geschichte ihren Gang. Unvorbereitet, unabsichtlich, gar
nicht dazu vorbereitet und bereit, ing eine andere Beziehung an. Eine, mit
der ich nicht gerechnet hatte. Sie nahm gleich Konsequenzen an. Die Brünette
behielt das Heft in der Hand. Wir sahen uns die folgenden Wochen jeden
Abend. Entweder bei mir oder in ihrer neuen Wohnung. Ihre Dominanz war
nicht unangenehm. Nach dem Dienst kaufte sie ein, so dass ich davon entlastet
war. Es wäre für mich kein Problem gewesen, aber Bequemlichkeiten stellen
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sich oft ungewollt ein, und man wehrt sich nicht dagegen. Überhaupt, sie
organisierte das meiste. Sie führte Regie, ohne dass das aufdringlich gewesen
wäre. Sie gab auch nach. So bewegte ich mich wieder auf sozialen Schienen,
die mich auch in die Plicht nahmen. Das in solchen Fällen unausweichlich. Es
war nicht belastend, da es mich nicht vereinnahmte. Irgendwie schwebte ich
durch diese Festlegungen. Es gab dem Tag einen erwartbaren Ablauf, der aber
auch genug Spielraum lies.
Was mich etwas störte, waren die Anrufe der Brünetten. Das schien sie
irgendwie zu brauchen. Einfach so ein kurzer Durchruf, mit unwichtigen
Informationen, wie
„Ich kaufe dann noch Wein ein“ oder „Bestelle doch in der Bibliothek das
Buch ...“,
dienten weniger der Information als der Herstellung der Anwesenheit von
Abwesendem. Das geht schnell in Kontrolle über und man steht fortwährend
zur Verfügung. Diese Zugrife störten mich, da sie mich in meinen
Tagesfantasien störten, aber es gab im Fluss der Beziehung auch keinen
weiteren Anlass zur Dramatisierung.
Wir hatten Spaß und ließen uns gehen. Wir erlebten es auch nicht als
störend, dass man nicht bei mir oder ihr übernachtete. Wenn sie in die arme
Poetenmansarde kam, brach sie so gegen 23 Uhr auf, war ich bei ihr, so wurde es
nicht viel später. Man hatte dann den Schlaf für sich und war mit dem anderen
nicht beim Aufwachen und am Anfang des nächsten Tages konfrontiert. Der
eingespielte Trott, mit welchen Absonderlichkeiten auch immer, brauchte
mit dem anderen nicht abgestimmt zu werden. Das ist, wenn man darauf
eingestellt ist, ein großer Vorteil, der sich eher stabilisierend als gefährdend
auf die Gestaltung der Beziehung auswirkt.
Die Tage und Wochen verlossen. Es stellte sich ein, dass ich meistens
abends bei der Brünetten war. Gegen 23 Uhr brach ich dann auf. Sie setzte
sich dann noch an den Schreibtisch und wirkte an ihren Sendungen. Dazu
trank sie Wein, obwohl am Abend regelmäßig getrunken wurde. Man kann
es nicht anders ausdrücken, sie hatte das Heft in der Hand. Sie telefonierte,
verabredete sich mit Kollegen, Autoren und hörte sich Sendungen im Funkt
an. Sie hatte den Ehrgeiz zum Fernsehen überzuwechseln. Mich deckte sie mit
genug Lektoratsarbeiten ein. Man konnte fast sagen, dass ich ihre Hilfskraft
war. Sie ließ mich Literatur besorgen, Musikunterlegungen aussuchen und
Texte verbessern. Ihre Kommentare über ihre Autoren waren oft nicht sehr
freundlich. Man konnte da hören
„Das ist ein Professor und begreift nicht, dass er für den Funk, also für das
Hören, zu schreiben hat. Was er uns abgibt, ist ein durchschnittliche Semi-
68
nararbeit. Das werde ich gleich einmal etwas in Schwung bringen.“
Insgesamt mischte sie sich weitgehend bei den Textredaktionen ein. Daraus
folgte aber nicht, dass sie unbeliebt war. Seit ihrer Beförderung hatte sie sich
ein Netzwerk aufgebaut, in dem sie sich sicher bewegte.
Samstags wurden Kollegen und Freunde eingeladen. Man klatsche über
Kollegen und sprach über Bücher, Theater, Filme, Musik. Manchmal etwas
hol, aber im Großen und Ganzen unterhaltend. Der Boss des Hessischen
Rundfunks kam gelegentlich auch zwei Stunden vorbei. Ich konnte es zwar
nicht so ganz verstehen, aber er hat sich bei der Brünetten oft rückversichert.
Das hatte vermutlich mit ihrer Karriere zu tun. Die Abende waren eigentlich
recht angenehm, da man auf easy going eingestellt war, sich über einen
Kollegen einmal klatschen konnte, man hörte gelegentlich auch Musik, sprach
über die Neuigkeiten und der Weinkonsum löste die Zunge. Die Brünette
war in ihrem Element, brachte ihre Projekte an den Mann, was wollte man
mehr. Dennoch fühlte ich mich in dieser Runde nicht so richtig wohl. Es ist
nicht einfach zu erklären. Irgendetwas störte mich an dieser Geselligkeit. Es
war dieses geplegte Insidertum, das man vorgeführt bekam, von dem das
Unbehagen ausging. Mit der Art des Bescheidwissens, des Sichauskennens
und die damit einhergehende elitäre Haltung, die sich gern antielitär gab,
konnte ich nicht so richtig warm werden. Ich selbst habe nichts gegen Eliten
und Autoritäten. Vermutlich bedarf ich ihrer auch, halte mich aber nicht für
autoritätsgläubig. Es fehlte eine gewisse Ironie. Es setzte sich bei allem Witz
eine Betrofenheitshaltung durch, die sich selbst etwas zu ernst nahm.
Die Rolle, die ich in diesem Kreis einnahm, war die des Gefälligen. Einer
der die Weinlaschen öfnete, Wein einschenkte und auf das Wohl der Gäste
achtete. In der Rolle des für Dienste zuständigen, bekommt man schnell
den Kellnerblick. Man indet das in allen Dienstleistungsberufen. Man wird
sensibilisiert für die Schwächen der Kundschaft und bekommt einen Blick für
die Unebenheiten. Eine Krawatte ist nicht gut gebunden, das Hemd passt
nicht zum Anzug. Daraus werden auch die für Bedienstete typisch falschen
Schlüsse gezogen. Es gilt da der bekannte Satz
„Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht weil jener nicht ein
Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht
als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in
der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu tun hat“,
wie Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1806) anmerkte.1 Es ist
1
Hegel, (BB.) Der Geist, C. c. Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung, S. 467-468, 445-472, in: ders., Phänomenologie des Geistes. Nach dem Texte der
Originalausgabe. Herausgegeben von Johannes Hofmeister, Der Philosophischen Bibliothek Band 114, Hamburg: Verlag von Felix Meiner 1952 (sechste Aulage).
69
ein abenteuerliches philosophisches Werk. Wie es sich damit auch verhalten
mag, die Rolle und ihre Perspektive hat gewisse Vorteile, wenn man sich ihrer
Einseitigkeit bewusst ist.
Ansonsten waren schlaue Bemerkungen zu äußern, die aber nicht allzu
schlau ausfallen durften, da das leicht als Überheblichkeit interpretiert wurde.
„Musils Der Mann ohne Eigenschaft ist gerade, wenn auch unabsichtlich,
als Fragment Ausdruck einer Epoche. Wie hätte es abgeschlossen werden
können? Jeder schließt den Text für sich ab. Er versetzt dadurch den Leser
in die Situation seine Einbildungskraft auf Reisen zu schicken. Noch einen
kleinen Schluck von dem italienischen Weißwein. Er ist doch lecker! Das
beste Dessert ist ein guter Schluck“,
überforderte nicht, wenn man etwas nachschenkte, die höheren Ränge des
Hessischen Rundfunk. Von Machs Lehre der Empindungen durfte man aber
nicht sprechen, da das schon zu anstrengend war und nicht ihn den Rahmen
passte.
„Ohne Machs Empindungslehre ist die Psychologie und das Zeitbild Musils
nicht nachvollziehbar. Die Literaturkritiker sind damit schlicht überfordert.
Die Empindung ist für Mach etwas, das grundlegend ist und nicht mehr
weiter auf etwas anderes zurückzuführen ist. Das ist das Zentrum des Romans, das ist der Mann ohne Eigenschaften. Leg noch eine Schallplatte auf,
damit wir aus dem Abend herauskommen. Wir icken lieber jetzt etwas und
werden eigenschaftslos, statt uns in bedrucktes Papier zu verlieren“,
so die Brünette nachdem wir die Gäste verabschiedet hatten.
Die Brünette hatte zu ihren Kollegen bei aller Verbundenheit eine ironische
Distanz. Ihr Kommentar war:
„Die Kollegen, gestandene Redakteure, haben oft die Fantasie, dass sie
nach der Pensionierung anfangen zu schreiben. Sie liebäugeln damit.
Jetzt sind sie eingespannt, aber es sammelt sich in Ihnen an. Einfach
einfältig. Man glaubt es nicht, dass diese Gescheiten solchen Träumen
nachhängen und das ganz ernst nehmen. Vor allem die abhängigen Vergleiche, die da gezogen werden. So als seien sie eine Reinkarnation von
Fontane. Das wird nichts. Der Gescheite träumt, dass er viel zu gescheit
ist, unsere Redakteure träumen ihren Schriftstellertraum, da sie so gescheit sind. Ja! Sie sind gescheiter als die Schriftsteller, da sie alles vor
sich haben. Es wird dann aus ihnen herausströmen und die Schriftsteller werden sie beneiden, dass sie so lange gewartet haben. Etwas was
die gescheiten Schriftsteller gar nicht kennen. Blödsinn, was unsere Gescheiten da fantasieren. Sie kennen, was einen wundert, nicht die Härte
des Selbstseins des Schriftstellers. Jeder sollte froh sein, wenn er keiner ist.“
Auf dem Weg von der Brünetten in die Feuerbachstraße stand dann ein
Abstecher im Liebig Keller an. Dort jagte ich noch einem One Night Stand
70
nach. Das war damals verbreitet und nichts ungewöhnliches. Zwar hatte ich
an den Abenden vorher bereits mit der Brünetten Sex, aber eine Abwechslung
konnte das gute Einvernehmen nur stabilisieren. Der One Night Stand ist die
sexuelle und erotische Ausnahmesituation, die eine besondere Qualität hat.
Man sieht sich nicht mehr wieder, wenn ja, so kennt man sich nicht. Man kann
sich dadurch von einer Seite geben, die sonst verschlossen bleibt. Man tritt
in einen Bereich ein, in dem man keine Hemmung zu haben braucht, ist nicht
emotional gefordert, sondern lebt den Seitensprung aus. Den Frauen schien
dieser Eskapismus gut zu tun. Die meisten waren vermutlich ganz anders als
in ihrem Alltag.
Vielleicht ist das der geheime Zwang der Situation, wenn One Night Stand,
dann sollte es sich auch lohnen. Fehlschläge schließt das zwar nicht aus, aber
es gibt die Chance in diesen außerordentlichen Zustand einzutreten. Mir taten
diese „Stands“ ganz gut, da sich die Anziehungskraft der Sexualität, die auf
mich von derselben Person ausging, schnell erschöpfte. Nach zwei Monaten
trat bereits eine Desinteresse an diesen Vorgängen mit ihr ein. Ich brauchte
dann etwas Wein, um mich zu motivieren. Das hatte aber nur eine begrenzte
Reichweite. Insofern musste man mich für diese Auslüge nicht aufwendig
überzeugen. Dabei galt als Orientierung
„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“
Das Weinlokal lag direkt neben dem Knoblauch. Es war ein Szene-Lokal, das
von den Besuchern durchaus breit durchmischt war. Angestellte, Akademiker,
Studenten, gelegentlich Geschäftsleute, aber auch die Anwohner liefen dort
ein. An der kleinen Theke sammelten sich die notorischen Thekensteher.
Ein Gruppe, die feste Zugangsregeln hatte. Neulinge hatten es schwer,
dort Aufnahme zu inden. Die erste Runde war von 18 – 20 Uhr. Da kamen
die Sekretärinnen. Sie waren zurecht gemacht und leicht parfümiert. Dieser
Abschnitt des Abendgeschehens hatte seine eigene Dynamik, da die
Entscheidungen schnell zu trefen waren. Das hatte einen trivialen Grund. Sie
standen früh auf und gingen früh zu Bett. Insofern hatte der Sex mit ihnen bis
22 Uhr gelaufen zu sein. Ab 20 Uhr stellten sich die Paare ein und es begann
der Austausch mit dem Knoblauch. Man sah sich um, was sonst noch auf dem
Rialto schifte. Die Atomsphäre verdichtete sich. Es wurden Blicke getauscht,
Kontakte angebahnt, aber man legte sich nicht weiter fest, sondern lies die
Situation auf sich zukommen. Ab 22 Uhr stellten sich die Anwohner und die
Spätausgeher ein. Das ging dann so bis gegen 1 Uhr. Jetzt galt es zügiger
vorzugehen. Das traf in der Regel auf Interesse. Die Zeit verdichtete sich.
Man hatte auf die Situation eingestellt zu sein. Etwas, das dem Insider nicht
so schwer iel, da er damit vertraut war. Es wurden Signale gesendet, die zu
verstehen waren. Wenn man entschieden war, dann ging alles eigentlich recht
71
zügig. Man begab sich auf ein Abenteuer. Sie, die Frau, mit einem fremden
Mann; der Mann, mit einer fremden Frau. Man war etwas unsicher, aber es
ergab sich alle ganz von selbst. Man trat in eine Ekstase. Am anderen Tag war
alles vorbei. Es war ein neuer Tag, der keine Verbindung mehr zu dem letzten
hatte. Jeder One Night Stand war etwas Absolutes. Man wollte nicht mehr. Es
war beides, trivial und poetisch, gewöhnlich und ekstatisch.
(Entrückt)
Frauen
Augen blicken voller Sehnsucht
Zärtlich kommt ihr Blick
Traumgestalten treten jetzt heran
In den Augen steht ein Lichterglanz
Der Dichter senkt den Blick
Ergreife ihn, den Augenblick.
Dann war alles vorbei. Stille trat ein. Der nächste Tag begann. Es war
so, als würde die Zeit ließen, aber es war da kein Fluss, sondern nur ein
verschwindendes Innehalten.
Wir erreichen nicht nur nicht das andere Bewusstsein, es ist uns
undurchsichtig, sondern wir erreichen auch nicht unser eigenes Bewusstsein:
Wir sind uns selbst undurchsichtig. Das Gedächtnis ist auf Vergessen
eingestellt. Es würde sich sonst überlasten und zusammenbrechen. Es könnte
sein, dass wir deshalb dem Trugbild der Sexualität erliegen. Sie spiegelt uns
vor, wir könnten den Anderen über unseren Körper (Leib) erreichen.
17. April 2008
72
JetztzeIt
Der Juni 1976 zeichnet sich ein richtiger Sommer ab. Schon im Mai war es
mächtig sonnig. Damals vertrug ich noch heiße Sommer: Hitze, durch die
Knochen warm werden. Das hat sich so geändert, dass ich im Sommer den
Norden vorziehe. Der letzte Hochsommertraum von Juni – September 1984
am Gardasee strapazierte mich so, dass ich dem Aufenthalt in der Hitze
des Sommers abschwor. Der Gardasee ist so in die Ferne gerückt, dass die
Vergegenwärtigung an diese Zeit des Ausnahmezustands des Erlebens
schwer erinnerbar bleibt. Die vergangene Gegenwart und die zukünftige
Gegenwart des Jahres 1984, rückblickend aus dem Jahre 2008 auf das Jahr
1976 und die abgelaufene Zeit bis zu dem Jahre 1984 mit dem Wissen aus dem
Jahr 2008, wird mir immer rätselhafter. Wie kann ich mein Erleben aus dem
Jahr 1976 erreichen, was ereignet sich, wenn ich mein Erleben aus diesem Jahr
nachzuerleben versuche?
Es fehlen uns die Wörter, das zu beschreiben und auszudrücken. Wir
gebrauchen Wörter wie „strömen“, das Erleben ließt durch die Zeit“, „fühlen“,
ich fühle es, wie die Zeit vergeht, auch „empinden“, „Empindest du nicht,
wie schnell du das vergessen hast?“ oder auch „spüren“ und „verlaufen“, dann
hört der Einfallsreichtum schon auf. Man könnte neue Wörter zu erinden
versuchen. Was wäre einem damit geholfen. Ich schreibe ein „x“ auf das
Papier. Wenn ich „x“ sage, tritt ein bestimmtes Erlebnis ein. Wie könnte ich
das überprüfen? Ich müsste jedes einzelne Erlebnis herauspicken und dem „x“
zuordnen. Das kann nur ein mystischer Vorgang sein. Er ist nicht greifbar. Ich
kann ihn mir selbst nicht vor Augen führen. Er ist nicht zu beobachten und mir
fehlen die Begrife, das geschriebene oder gesprochene „x“ den Erlebnissen
zuzuordnen, wie zum Beispiel x1, 2, ...n+1. Selbst wenn die Erlebnisse endlich
wären, würde es nahe dem zehnten schon schwerfallen, sich das nächste
Erlebnis zu merken. Gibt es denn irgendeine Gewissheit, die sicherstellt, dass
ich die Erlebnisse nicht verwechsele? Das alles führt ins Uferlose. Auch das
Nachdenken darüber lässt einen hillos zurück.
Sofern wir die Zeit messen, hinterlässt sie keine Wirkung. Insofern liegt es
für einen Physiker nahe, dass sie nicht springt und gleichmäßig verläuft. Es gibt
deshalb keine zeitlichen Unterschiede im wiederholbaren Ablauf der Zeit als
ein physikalischer Vorgang. Die gemessene Geschwindigkeit eines zeitlichen
Ablaufes, bei der Berücksichtigung des jeweiligen Messinstruments, zu einem
früheren oder späteren Zeitpunkt ist identisch. Drei Stunden bleiben somit
drei Stunden, gleichgültig, ob sie im Jahre 1 vor Christi oder 2008 gemessen
wurden. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass das nur eine Annahme
73
ist, die jeder, der Zeiten misst, als wahr voraussetzt. Die Zeit kann aber auch
„quälen“. Man wird ungeduldig und verlässt das Zimmer. Man möchte in
die Zeit „zurückkehren“, das Vergangene „ungeschehen machen“ und bleibt
dabei nur in der Gegenwart.
Meine junge Frau begab sich im Frühsommer 1965 in die Gustav Mahler
Welt. Die Internationale Mahler Gesellschaft wurde 1955 gegründet. Zu ihr
nahm sie Kontakt auf.
„Mahler ist neu zu entdecken. Er war kein Formalist. Die ersten vier Symphonien sind ein Ganzheit. Sie tragen biograische Züge ohne Biograien
zu sein. Im Zentrum stehen für ihn das musikalische Erlebnis und der musikalische Ausdruck der als Musik Philosophie, Literatur und Malerei ist. Das
hat seine Zeitgenossen irritiert. Mahler ist in seiner Eigentümlichkeit und in
seinem Zeitausdruck für uns neu zu entdecken. Die ersten vier Symphonien
lese ich als Biograie, Mensch, Kosmos und poetisch-philosophische Vision. Wenn man es etwas antiquiert ausdrückt, so hatte er ein „Programm“,
aber er betrieb keine Programmmusik. Der tonsymbolische Zug ist in der
sechsten Symphonie erkennbar. Es ist aus dem Zeithintergrund zu erklären,
dass Mahler für die vier nur instrumentalen Symphonien weiter keine Kommentare mehr abgab. Zur vierten Symphonie hat Mahler einen Kommentar
geschrieben:
„Sinfonie Nr. 4 (Humoreske) Nr. 1. Die Welt als ewige Jetztzeit. G-Dur, Nr. 2.
Das irdische Leben, Es-Moll. Nr. 3. Caritas H-Dur (Adagio). Nr. 4. Morgenglocken, F-Dur. Nr. 5. Die Welt ohne Schwere, D-Dur (Scherzo). Nr. 6. Das himmlische Leben, G-Dur.“
Die Endfassung wurde nicht so verwirklicht, aber die Aufzeichnung gibt einen
aufschlussreichen Hinweis. Vermutlich hat Wittgenstein in seinem Tractatus
diesen Zeitbegrif übernommen: Zeit als Ewigkeit.
„Die Welt als ewige Jetztzeit“ und „Das himmlische Leben“, da gibt es keinen
Zeitunterschied. Es würde mich wundern, wenn Wittgenstein die Symphonien Mahlers unbekannt waren. Das Problem ist, was man unter dem Symbolischen versteht. Da liegt der Schlüssel. Komm wir hören etwas Mahler
und geben uns dem musikalischen Erleben hin. Es verbindet uns mit der
Welt.“
Als sich die Erinnerung einstellte, war ich so wie gelähmt.
Im Juni 1976 kündigte sich schon die Hitze an. Den Mittagscafé hatte ich
vom Café Laumer in des Café Schwille auf der Fressgasse verlegt. Auf der
Fressgasse wurde zwar die U-Bahn gebaut und ein draußen sitzen entiel,
aber man saß in dem großen Fenster des Cafés, konnte auf die Passanten
blicken und gesehen werden. Es war eine illustre Runde. Alfred Edel, ein paar
Jungschriftsteller, Musiker, aber man war gleichzeitig umgeben von Rentnern,
Hausfreuen und Angestellten. Zwischen 13 und 14 Uhr lief man so ein. Das zog
74
sich dann so bis 15.30 Uhr hin. Es gibt Orte, an denen war man immer wieder,
ohne dass es einem etwas Besonderes sagt. Es ist einem gleichgültig, es mag
eine bestimmte Funktion ausüben, man trift irgendjemand und hat eine
Ansprechperson oder wird angesprochen. Man begibt sich an sie oder bleibt
ihnen fern, so als würde man sich die Zähne putzen oder einen Kafee kochen.
Auf dem Weg zur Brünetten nach den Trefen im Café Schwille holte ich erst
den Wein bei ihrem Weinhändler im Westend ab. Sie bevorzugte die besten
Sorten des italienischen Weiß- und Rotweins. Es waren wirklich Köstlichkeiten.
Die Nachmittage in der Innenstadt lösten melancholische Stimmungen aus,
die aber nicht unangenehm waren. Der Tag neigt sich so langsam in den Abend
hinein. Man fühlt, dass sich die Unruhe der Feierabendstimmung ankündigt.
Der Weinhändler ließ mich etwas seines neuen Sortiments probieren,
erzählte ein paar Schweinereien und war ein Prototyp der Ergebenheit
eines Einzelhändlers. Eine Spezies, die bereits damals am Absterben war. In
der Wohnung der Brünetten angekommen, entkorkte ich die Weinlaschen,
damit der Stof aulebt. Es wurde fortlaufend, man kann sagen, den ganzen
Tag getrunken, gegessen und es gab dauernd Sex. Eine Wein-, Ess- und
Sexzeit. Die Brünette trank den ganzen Tag durchgängig Wein, aß und war
sexbedürftig.
„Ficken ist gut, da sollte man nicht sparen, aber die passenden Lover wachsen nicht an den Bäumen, das ist das Problem“,
sagte sie. Das erinnerte mich an die Nymphomanin, obwohl sie nicht
diesen aggressiven Sex forderte. In ihrer Sexbedürftigkeit war ihr Sex eher
warmblütig. Sie konnte Essen und Sex haben, dabei arbeitete sie, wie soll ich
sagen, wie ein Tier. Sie wollte unbedingt ins Fernsehen. Die Nymphomanin
war eine Lebedame, mit der Rainesse sich sozial abzusichern. Sie verstand
es, die Fassade aufrechtzuerhalten und ihre Umwelt zu manipulieren. Die
Schauspielerin war eher eine Opportunistin, die Fortune brauchte, um Erfolg
zu haben. Sie setzte ganz auf die Umstände. Die Brünette war eine Ehrgeizfrau.
Ein Ehrgeiz, der sich mir auch im Nachhinein nicht erschließt. Über das, was
sie direkt betraf, sprach sie, wenn überhaupt, erst nach Tagen. Sie stand oft im
Zimmer und war versunken. Dachte über etwas nach, sah aus dem Fenster, als
sei sie der Welt enthoben. Man durfte sie dann nicht ansprechen. Sie knüpfte
Netze ohne eine Spinne zu sein. Sie war wie ein Netz ohne Spinne.
Gelegentlich kam abends der Boss des Hessischen Rundfunks vorbei.
Die Beziehung war mir etwas undurchsichtig. Sie hielten sich dann in ihrem
Arbeitszimmer auf und besprachen Rundfunkalltag. Der Boss des Hessischen
Rundfunks verstand es zwar, zu repräsentieren, er war aber von bestimmten
Mitarbeiter abhängig. Er suchte ihre Unterstützung, ließ sich von Ihnen beraten.
Die Brünette hatte vermutlich dabei eine Schlüsselposition. Ich bin dem nie
75
nachgegangen. Es hat mich schlicht nicht interessiert. Was hatte ich mir ihren
Intrigen zu tun? Gar nichts. Es war mir auch gleichgültig. Um ihn zu ärgern,
verzog ich mich in die große Küche und ing an Gerichte zuzubereiten, die er
nicht mochte, schmorte zum Beispiel einen Stallhasen und hörte dazu Musik,
zu der er kein Zugang hatte, wie Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“.
Der Geruch von gebratenem Stallhasen und dazu die Meistersänger, das
brachte einen doch in Stimmung. Kam der Boss des Hessischen Rundfunks
dann aus dem Arbeitszimmer der Brünetten und verabschiedete sich, so
sagte er, etwas süßlich:
„Hier riecht es aber köstlich, ein leckerer Stallhase, nicht vergessen, ihn
noch mit etwas Weiswein zu übergießen und dazu Hans Sachs „Verachtet
mir die Meister nicht Und ehrt mir ihre Kunst“, da hebt man einfach ab“.
Das war geheuchelt, aber sympathisch.
„Bleiben sie doch noch zum Essen, ich lege dazu Wagners „Rienzi, der Letzte
der Tribunen“ auf, und wir lassen den Abend zusammen ausklingen?“,
war mein Ansinnen.
„Das wäre schön, aber morgen stehen Sitzungen an, da brauch ich noch
etwas Vorbereitung. Wir sehen uns die nächsten Tage alle zusammen bei
unserem nächsten Umtrunk“,
sagte er und entschwebte. Die Brünette lachte etwas chinesisch, brachte ihn
an die Tür und wir gaben uns den Genüssen des Abends hin, aber nicht mit
Wagnermusik, sondern mit Brahms. Sie hatte zudem eine Platte aufgetrieben,
die etwas Einmaliges war. Etwas, was ich noch nicht hörte: Tango auf
Japanisch. Die Aufnahme habe ich in der Zeit danach nicht mehr inden
können. Gelegentlich klingt sie etwas in mir nach. Ein Kontrast – japanische
Gesang und Tangomusik – der fremdartig-aufregend ist.
Es war, als würde ich durch den Sommer getragen. Es war ein sich-selbstvergessendes Selbstsein. Es wurde nur in der Gegenwart gelebt. Jeder Tag
eine Gegenwart, die nicht endet. Ein Tag, der in die nächste Gegenwart
hineiniel. Da die Tage nicht zu unterscheiden waren, erlebte ich den Sommer
so wie einem einzigen Tag. Eines Abends kam die Brünette etwas unruhig
vom Dienst. Ich habe sie selten unruhig erlebt. Sie stand noch im Flur, und rief
„Wo steckst du?!“. Erst hörte ich es nicht, da ich auf dem Balkon eingeschlafen
war. Plötzlich stand sie vor mir. Sie wirkte etwas erregt, ing sich aber gleich.
„Döse ruhig weiter, ich hole uns einen Wein. Bin etwas in Weinstimmung.“
Das hörte sich für mich auch sehr fern an. Aber ich streckte mich etwas und
hatte umgehend ein Glas Wein vor mir.
76
„Also, einen kippen!“,
hörte ich es. Ich schmeckte nur etwas am Weinglas und stand auf, um in der
Küche einen Türkischen Kafee zu überbrühen. Er brachte einen schnell in eine
wachere Wahrnehmung. Die Brünette ging in ihr Arbeitszimmer, sortierte
irgendetwas, kam wieder zurück und wir setzten uns auf den Balkon. Sie mit
Wein, ich mit Espresso, Wein und etwas Kuchen. Sie streckte sich und sagte
mit größeren Abständen und fast etwas zusammenhanglos
„Ein schöner Sommerabend, wir lassen es uns gut gehen. Ich bin jetzt geschieden“.
Dabei verzog sie etwas die Lippen. Ich hörte nur „geschieden“ und wusste
nicht, was ich sagen sollte. Jede Antwort wäre falsch auslegbar gewesen:
„Also, jetzt ist es abgeschlossen. Bis du erleichtert oder etwas traurig“
oder
„Werfe die Geschichte hinter dich, lass uns anstoßen“
oder
„Es wird dich etwas unglücklich machen, wir leben auch aus der Erinnerung“.
Aber sich gar nicht verhalten hätte auch zur Verstimmung geführt.
Da tat guter Rat not! Die ganze Sache wird dadurch erschwert, da man sich
ganz auf die eigenen Intuitionen zu verlassen hat. Es gibt in diesen Situationen
keinen großen zeitlichen Spielraum sich etwas zurecht zulegen.
„Lass uns doch etwas nach Italien fahren, damit du Distanz gewinnst“,
kam mir über die Lippen. Danach trank ich gleich einen größeren Schluck Wein,
damit die Zeit des Gesprächs etwas gestreckt wurde. Im nächsten Augenblick
war ich innerlich ganz unsicher in der Erwartung, wie das angekommen sei.
Aus Unsicherheit trank ich noch einen Schluck Wein. Mein ganzer Ausdruck
wirkte aber vermutlich nicht unsicher, was auch unglücklich gewesen wäre,
sondern ausgewogen.
„Das ist es doch, gute Aussicht. Vielleicht fahren wir gleich morgen am Freitag, zurzeit ist etwas Ruhe und ein Blick von außen rückt manches zurecht.“
Sie streckte sich etwas und fuhr nach einer Pause fort:
„Er ickte mich immer dreimal von vorne und dreimal von hinten, dann war
er noch nicht fertig. Eine anomale, etwas erschreckende Potenz. Er ickte
mich zur Frau. Das ging so ein paar Jahre. Ich lernte ihn kennen als ich nach
77
Frankfurt kam, und wir heirateten gleich. Das gab uns einen sozialen Status,
der auch für den Beruf gut war. Er stabilisierte uns beide auch. Als wir zu
dem kleinen Kreis stießen war die Beziehung bereits am erliegen. Es gab
keine inneren Fluchtpunkte mehr. Wir hatten Erfolg, aber es trat bei mir ein
Fremdheit ein. Es gab eigentlich keine äußeren Anlässe. Wir waren etabliert,
aber doch waren wir am Ende angekommen. Auch sein anomaler Sex entfremdete mich selbst und gleichzeitig von ihm. Am Anfang fand ich das toll,
aber auf einmal ödete es mich an. Ich weiß gar nicht wie ich das ausdrücken
soll. Es war hohl. Es sagte mir nichts mehr. Es verwirrte mich nur noch.
Letztes Jahr sagte ich ihm von heute auf morgen, dass ich mich von ihm
trenne, ausziehe und die Scheidung einreiche. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Aber es gab für mich kein Weg mehr zurück. Die Entscheidung
war für mich gefallen, so als sei ich durch etwas gelangt setzte sie sich
durch. Nach dem ich ihm das eröfnete, zog ich am nächsten Tag zur Schauspielerin und dann suchte ich die Wohnung. Der Rest ist dir bekannt. Ich
kann auch jetzt weiter dazu gar nichts sagen. Ein Wochenende in Italien ist
eine gute Idee. Wir nehmen den Nachtzug. Auch wenn wir nur noch einen
Notsitz bekommen. Mach noch eine Flasche auf.“
Diese Ofenbarung, wenn es eine war, interessierte mich eigentlich nicht
sonderlich. Was sollte ich schon dazu sagen. Insofern war die Situation noch
nicht ganz gerettet. Erst einmal entkorkte ich einen italienischen Weißwein
und legte etwas Jazz von Dave Brubeck auf. Das schien ihr zu gefallen. Sie
wirkte ganz entspannt. Wir saßen auf dem Balkon, tranken etwas, aßen dazu
Kuchen und sagten gar nichts.
„John Coltrane möchte ich auch wieder einmal hören“,
sagte sie. Es war so, als sei gar nichts gesagt worden.
Aber ich war noch nicht aus dem Schneider, wie sich schnell herausstellte.
Sie schenkte sich noch etwas Wein ein und sah etwas in die Ferne. Sie konnte
einen in die Ferne Blick haben.
„Die Schöne (= die Nymphomanin) war doch etwas verstimmt über deinen
Rückzug, dass du dich so vom Acker gemacht hast. Hattest du etwas mit
ihr? Mir kam das so vor. Man merkt das oft an Kleinigkeiten, wie Blicken,
überhaupt dem Körperverhalten, das sie dir entgegenbrachte. Auch ihre
aufällige bewusste Distanz dir gegenüber hätte darauf hinweisen können.
Keine ofensichtlichen Belege, aber mir teilte sich eine unterschwellige Beziehung zwischen dir und ihr mit, in der man sich zwar auch täuschen kann,
aber es stimmt zu oft, als dass man sie einfach für unbedeutend erklärt.
Euren ästhetischen Konlikt habe ich nicht so ernst genommen, obwohl
er von ihr dramatisiert wurde. Da sie mit ihrer Halbbildung alle dominierte
und vereinnahmte, mag das für den kleinen Kreis verständlich gewesen
sein. Das hat dann, veraltet gesagt, die Komplexion aller direkt und indirekt
78
betrofenen befördert. Was sagte sie noch „Ästhetik der kleinen Häppchen“,
da fehlt die epische Breite, so wie bei dem Südstaatler William Faulkner. Es
mag ganz dahingestellt sein, was sie von Faulkner verstanden hat. Vermutlich kannte sie nur kurze Zusammenfassungen.
Ich hatte auch meinen Mann in Verdacht, dass er mit ihr eine Beziehung
hatte, zumal es mit uns im Auslaufen begrifen war. Zugetraut hätte ich es
ihm. Die Schauspielerin war auch nicht so gut auf dich zu sprechen. Meine alte Busenfreundin wirkte ganz verstimmt „Er hat sich von heute auf
morgen fort gemacht, wer weiß schon, was ihn herumtreibt. Ohne Grund
hat er mich sitzen gelassen. Gerade hatte ich München in Aussicht, und er
machte sich ab. Wer kapiert das schon. München wäre doch nicht schlecht
gewesen. Was soll man schon in Frankfurt.“
Als ich mit ihr letzte Woche telefonierte und ich ihr sagte, dass wir uns öfters
trefen meinte sie,
„Für den Übergang ist das nicht schlecht, aber Übergang bleibt eben Übergang“.
Mir ist auch nicht ganz klar, was du an ihr gefunden hast. Sie ist eine Meisterin der hohlen Gesten, die aber Zuspruch inden. Nur der letzte Charmeur
der Geschäftswelt hat dir etwas die Stange gehalten.
„Er hat Talent, aber zu wenig Ehrgeiz. Ich hatte Ihn gerne um mich“.
Die Schöne hat das dann etwas abfällig kommentiert:
„Man könnte fast meinen hier ist Homosexualität im Spiel“.
Du kennst sie ja, unsere Schöne?“
Es war so, als wollte sie noch weiter sprechen, zündete sich aber eine Zigarette
an.
Da hatte sie mich wirklich in die Ecke gedrängt. Ob sie das beabsichtige
oder nicht war dabei unerheblich. Was man auf diese Fragen wirklich wissen
möchte, ist auch nicht so ganz eindeutig zu beantworten. Vielleicht wollte
die Brünette einfach nur in nachträglichen Abneigungen bestätigt werden.
Sie brachte ihre Rede nicht aggressiv, aber etwas desinteressiert vor. Das
konnte einen leicht zu unglücklichen Antworten verleiten. Wie sollte ich
da herauskommen. Richtigstellungen und Darstellungen aus der eigenen
Sichtweise hätten mich nur in die angedeuteten Geschichten verstrickt. Das
sind so schöne Situationen, in denen das, es besser Wissen, gar Nichts hilft. Die
Wahrheit, wenn es in diesen Dingen überhaupt eine „Wahrheit“ gibt, würde
alle nur ins Unglück stürzen. Vornehme Zurückhaltung, die man mittlerweile
wieder verlernt hat, dürfte der Ausweg sein. Aber wer verfügt schon über sie.
So stand ich in der Ecke, eingekreist und auch ein Vorstürmen wäre nicht klug
79
gewesen, da, auch wenn damit erfolgreich, die Verletzungsgefahren zu groß
gewesen wären. Sie wartete auf eine Antwort. Bevor sie weiter nachfragte,
war eine Antwort zu geben. Was einem in solchen Situationen über die Lippen
kommt, ist ganz den Intuitionen zu überlassen, die passen oder nicht.
„Nein, die Schöne hat mich sexuell nicht interessiert (was gelogen war). Sie
hatte eine ästhetische Intuition, die zwar nicht hilfreich war, aber auch nicht
schadete. Mir tat die Gesellschaft des kleinen Kreis einfach gut und brachte
mich in andere Stimmungen. Es fehlte doch auch nicht an Heiterkeit, die
wir zusammen untereinander verbreiten konnten. Im Nachhinein tat es mir
etwas Leid, die Schauspielerin einfach zu verlassen (was nicht der Wahrheit
entsprach). Irgendwie war es an der Zeit, etwas zu mir zu kommen. Ich fühle
mich unruhig und getrieben. Das wurde durch die Beziehung, obwohl sie
weder unruhig, noch getrieben war, gesteigert. Es gab eigentlich auch gar
keinen besonderen Anlass, mich von ihr zu trennen. Wie du sagst, „Es treten
Selbstentfremdungen ein“, die man in ihrem Zwang nicht erkennt und im
Nachhinein ist man über sich selbst verwundert. Du siehst heute Abend toll
aus. Das helle Sommerkleid steht dir.“
Ich wollte noch weitere Schmeicheleien, die der Wahrheit entsprachen, sagen,
aber sie unterbrach mich:
„Ich rufe gleich unseren Boss an, Freunde von ihm haben ein Anwesen am
Gardasee gekauft. Das steht jetzt leer. Dahin könnten wir einen Wochenendtrip unternehmen. Mit den Zug geht es von Frankfurt – Mailand, Mailand – Brescia. Das ist ein Katzensprung, dann nehmen wir uns ein Taxi.
Amour am Gardasee, wir besuchen das Anwesen deines alten Dichterlieblings Gabriele d’Annunzio, fahren in der Zeit zurück, was hältst du davon.
In eine andere Perspektive gehen, durch Kontraste ändert sich das Erleben.
Er war ein Meister die moderne Gefühlswelt in den Farben der Renaissance
zu beschreiben. In welchen Farben können wir die Gefühlswelt der 1970er
Jahre beschreiben. Aus was für eine historische Zeit könnten wir da zurückgreifen. Mir fällt einfach nichts ein. Man kann nur sagen d’Annunzio hatte
es vielleicht leichter oder? Was meinst du?“.
In den letzten Tagen konnte ich mich nicht dem Gefühl entziehen, dass sich
die Brünette in mich verliebt hatte. Etwas, das mir gar nicht so recht war. Es
kündigte sich zwar nicht am Anfang der Beziehung in der kalten Jahreszeit an,
aber ihr Verhalten veränderte sich in den Monaten danach. Das machte sich
auch dadurch bemerkbar, dass sie mir so manches nachsah. Es gibt die zwei
Betrachtungen „Das Glas ist halb voll oder es ist halb leer“. Für sie war es „halb
voll“, und es konnte nachgegossen werden. Zwar deckte sie mich mit Arbeit
ein und war äußerst großzügig, aber das schien Ausdruck ihrer Zuneigung zu
sein. „Großzügig“ kann man auch aus Indiferenz sein. Zudem wurde ich zu
einer Art Fluchtpunkt zur Regenerierung bei der Verfolgung ihrer ehrgeizigen
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Pläne. Für sie hatte es immer weiter zu gehen. Mir waren solche Gefühle
unheimlich gewesen. In Situationen, wo ich sie verspürte, waren sie mir
fremd oder anders ausgedrückt zugleich entzogen. Ich konnte mich in ihnen
nicht wiedererkennen. Vermutlich gehören sie auch nur teilweise unserem
bewussten Leben an und sind neurophysiologische Heimsuchungen. Sie
mögen uns belügeln, niederschlagen oder zum verzweifeln bringen.
Wenn es Zustände gibt, in denen man unfrei ist, dann gehört das
Verliebtsein sicher mit dazu. Die Brünette äußerte sich zwar nicht darüber,
dass sie verliebt war, aber sie konnte es nichtsprachlich mitteilen. Das machte
es gerade nicht leichter damit umzugehen. Da ich mir aber darüber nicht allzu
viel Gedanken machte, nahm ich den Ball auf und spielte ihn derart zurück,
dass ich mich öfter in ihrer Wohnung aufhielt. Dabei achtete ich darauf, die
Grenzen nicht zu sehr zu verwischen. Das führte dazu, dass ich dort nicht
übernachtete. Der Sommer brachte zudem schöne Abende im Liebig Keller,
so dass einfach alles so dahinloss.
Es war alles wieder vorbei. Die Gardaseetour gehörte bereits der Geschichte
an. Die Brünette war ganz außer sich. Jetzt saß sie mir im Nachtzug Mailand
– Frankfurt gegenüber. Es schien ihr richtig gut zu gehen. Der Gardasee
ist eigentlich nicht mein Fall. Die Landschaft ist mir zu postkartenhaft und
gigantisch. Mir liegt da die Toskana mental näher. Aber man kann sich am
Gardasee schon einmal aufhalten. Es lief, wie gesagt. Freitag mit dem Nachtzug
nach Mailand, dann weiter zum Gardasee. Am Samstag Mittag saßen wir dort
bereits im Café. Die Brünette lachte und sagte:
„Was heißt schon Bildungsnotstand, die nächsten Tage hören wir nur italienische Schlager!“.
Dienstag wieder in Mailand und mit dem Nachtzug zurück. Vormittags hatte
die Brünette eine Sitzung im Rundfunk. „Jetzt“ hörten wir die eintönigen
Zuggeräusche und die Bilder der Gardaseetage wirkten nach. Zu dem Besuch
des Anwesens von d’Annunzio kamen wir gar nicht. Wir saßen im Café, gingen
etwas herum, abends im Restaurant „etwas Suf“, wie die Brünette sagte,
dann ins Bett. An italienischer Schlagermusik fehlte es auch nicht. Es war eine
wirklich-unwirkliche Tour, mit einer ganz eigenen poetischen Qualität. Man
bewegte sich, so wie in einem Bild, einem Film, aber nicht so wie in einem
Theaterstück. Der Vergleich mit einem „Theaterstück“ wäre zu naturalistisch,
da man ins Theater geht, etwas sieht, sich Gedanken macht. Die Bilder und
Filme liegen an uns vorbei. Wir fühlten uns sogar in einem Film.
Das Bild und der Film als ein Medium der Anschauung lässt uns unmittelbar
an dem Geschehen teilnehmen. Es verführt uns durch seine Darstellung zu
einer Wahrnehmung der direkten Teilnahme. So, als könne man von dem
eigenen Alltag in den Alltag des Gesehenen übergehen. Wir nehmen dabei an
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etwas auf derselben Ebene der Alltagswahrnehmung wahr, an das wir durch
die Wahrnehmung nicht direkt teilnehmen können. Wir sehen das ganze
Bild, verfolgen die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende. Wir sehen
ein Flugzeug von allen Seiten, in der normalen Wahrnehmung haben wir nur
einen perspektivischen Zugang.
Die Brünette war also guter Dinge. Leicht gebräunt saß sie vor mir. Wir
eilten wieder Frankfurt entgegen. Es war greifbar, dass uns die dortigen
Angelegenheiten und Nicht-Angelegenheiten am nächsten Tag wieder in
den Arm nehmen werden. Auch das gehört zu den Selbstverständlichkeiten,
in denen wir uns bewegen. Die Tage waren für mich zwar nicht unangenehm,
aber die Daueranwesenheit des anderen Leibes und seines Ausdrucks am Tag
und in der Nacht belastete mich etwas. Es wirkte sich zwar nicht dramatisch
aus, da man den ganzen Tag unterwegs war und die Daueranwesenheit
wurde durch die Eindrücke der Landschaft überspielt, es stellte sich bei mir
aber keine Symbiose ein. Insofern war das ilmhafte gerade das Passende. Die
Wahrnehmungsübergänge im Medium des Films von Seiten des Betrachters
sind nicht tatsächlich, sondern ein Bilderlebnis. Es ist dies die Illusion des
Bildes. Das gilt auch dann, wenn man sich von dem Medium unterscheiden
kann. Das würde so nicht weiter gehen. Das war absehbar. Im ungünstigsten
Fall täuschte sich die Brünette darüber.
Wir fuhren in die Nacht, dem nächsten Tag entgegen. Die Brünette hatte
sich noch nicht für die Nacht entkleidet und umgezogen. Sie trug eine rote,
etwas durchsichtige Bluse mit einem schwarzen Büstenhalter und einen
grauen Rock.
„Mir wird warm. Gib mir etwas zu trinken. Ich möchte mich etwas entspannen. Komm zieh mir die Schuhe aus und massiere mir etwas die Füße.
Das viele Herumlaufen in Mailand, dazu die falschen Schuhe, war etwas
anstrengend.“
Sie machte es sich im Schlafwagen bequem und bekam die Füße massiert.
Das tat ihr gut.
„Deine Massage ist wirklich genau das Richtige. Mir fällt auf, dass du der
einzige Raucher bist, den ich kenne der keine feste Zigarettenmarke raucht.
Du rauchst alle Marken. Mit der Zigarettenmarke verbindet man doch intuitiv einen bestimmten Geschmack eines Rauchers und darüber hinaus der
Person. Sie ist so etwas wie ein Merkmal, das man mit jemanden verbindet.
Bei dir ist das gar nicht so?“,
fragte sie mich plötzlich. Ich hatte uns gerade zwei Zigaretten angezündet
und reichte ihr eine. Dabei sah sie mich etwas abwesend an. So, als sei das
eine unwichtige Frage, die man auch übergehen könnte. Das mag so gewesen
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sein, aber es kam mir doch als eine gefährliche Frage vor, von deren Antwort
man mehr Aufschluss über diesen Raucher ohne feste Zigarettenmarke zu
bekommen beabsichtigte. Dem war auszuweichen, ohne eine Antwort zu
umgehen. Sie schien gar keine Antwort zu erwarten und lehnte sich, mit der
Zigarette etwas in der Hand spielend zurück. Sie nahm sie dann in die Mitte
des Mundes, zog an ihr, inhalierte den Rauch und drehte etwas den Kopf zur
Seite.
„Das ist die Nikotinsucht, wenn man einmal davon abhängig ist, dann
kommt es für einen Raucher nicht auf die Zigarettenmarke an. Es ist die Art
der Nervosität, die einen überfällt, wenn man nicht raucht. Ich mache mir
darüber weiter keine Gedanken. Ich massiere dir noch etwas deine Füße.
Morgen ist der Tag vollgepackt“,
war meine Antwort. Ob sie überzeugend war oder nicht, sie fragte weiter nicht
nach und wir eilten der Nacht entgegen. „Reise an den Rand der Nacht“, um es
mit Salin auszudrücken, wenn auch mit einer etwas anderen Absicht.
Müdigkeit überkam uns. Wir waren vor der Abfahrt in Mailand noch in
der „Mama Italia“, einem Künstlerlokal in Mailand in der Nähe des Mailänder
Bahnhofs, sie hatte dorthin Kontakte und telefonierte durch ganz Mailand,
um noch einen Redakteur kurz zu trefen. Das klappte sogar. Ich ließ sie allein.
Es war eine willkommene Gelegenheit, mich noch etwas durch Mailand
treiben zu lassen. Holte sie dann ab. Es gab noch etwas Small-Talk, dann
ging es zum Bahnhof. Der Mailänder Bahnhof ist in seinem futuristischen Stil
beeindruckend. Ich kannte Mailand, insofern nahm ich die Bahnhofsszene als
eine Fotograie wahr. Man entspannte sich im Schlafwagen des Nachtzugs, aß
und trank etwas gegen die Müdigkeit.
„Wenn ich etwas müde und leicht angetrunken bin, mache ich gerne Sex“,
sagte sie. Am Mittwoch 6.30 Uhr war man wieder am Frankfurter Bahnhof. Die
Brünette nahm ein Taxi zum Funk
„Wir sehen uns heute Abend, erledige noch, was ich dir aufgeschrieben
habe“,
und schon war sie verschwunden. Ich hörte nur noch das Anfahren des Taxis.
Es ist wieder früh am Morgen geworden. Es war so, als sei keine Zeit
vergangen. Ich lege jetzt noch Mahler’s Vertonung von Rückerts „Ich bin der
Welt abhandengekommen“ auf, trinke einen Frühwein und esse noch etwas
Schokolade. Ein Stück, das man auf eine einsame Insel mitnehmen sollte. Es
ist schön traurig.
Der Sommer kündigt sich bereits im Mai 2008 an. Es wird bereits warm. Das
erlaubt es, am Morgen in die Stadt zu fahren und umherzugehen. Es beruhigt
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und man erlebt sich in dem Betrieb der Stadt, dem Tagesleben der Stadt, das
man nicht sieht, allein. Um 9.30 Uhr öfnen die Kaufhäuser. Sie sind dann noch
nicht besucht. Man geht durch sie hindurch, so wie durch ein Wohnzimmer.
Bereits gegen Mittag verändert sich in der Stadt die Stimmung.
19. Mai 2008
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Verlorener augenblIck
Zwischen 2 – 3 Uhr gab es eine Sendung, die Christa Ludwig moderierte. Sie ist
vermutlich mittlerweile um die 80 Jahre alt. Ihre Stimme war noch eindrucksvoll
und einnehmend. Selbstredend sang sie nicht, sondern ließ in die Kommentare
der von ihr für die Sendung ausgewählten Stücke biograische Erinnerungen
einließen. Sie gehört zu den großen Konservativen in der Opernszene nach
dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe sie gerne gehört. Auf YouTube wird es Videos
von ihr geben. Ich sehe gleich einmal nach.
Immer wieder war ich durch Musik dominiert. In bestimmten Abschnitten
meines auf der Erde Umherwanderns, konnte ich ohne Musik gar nicht sein.
Sie war aber auch ein Kommunikationsmedium, das mir den Umgang mit
dem Widerfahrenen etwas erleichtert. Ein imaginäres und zugleich leibliches
Erlebnis. Vor allem Franz Schubert und Robert Schumann beschäftigten
mich. Schumann sah in Schubert einen geistig Verwandten. Schumanns
Intermezzi sind eine geniale Sammlung von sehr schnell abfolgenden
Stücken. Sie blieben leider nicht angemessen beachtet. Es gibt auch bei
ihnen – im 2. Intermezzo – eine Querverbindung zu Schubert. Schubert war
einer der Ersten, der Stücke komponierte, bei dem das Klavier die Singstimme
begleitet. Es ist für den Hörer nicht leicht, Zugang zu den Intermezzi zu inden.
Sie erschließen sich nicht vom Hören, sondern von der Partitur. Man spürt
bei ihnen die Selbstsicherheit, die den jungen Schumanns trug. Er war der
Überzeugung, dass der Musiker der sich im Einklang mit der Welt beindet,
der Vergangenheit angehört. In seiner Musik kommt etwas Unverständliches
zur Sprache. Die beiden Komponisten sind für mich mittlerweile ganz in die
Ferne gerückt. Es geht ein Gestimmtsein für etwas verloren, das nicht mehr
zurückkommt.
In der deutschen Sprache können wir zwischen „Leib“ und „Körper“
unterscheiden. Wir haben einen Körper als ein Teil der Welt, aber die
Beziehung, die wir durch unseren Körper zur Welt haben, verläuft über
unseren Körper als Leib, der keine Beziehung zu einer bloß physischen Entität
ist. Die Unterscheidung wurde erste in der Philosophie des 20. Jahrhunderts
thematisiert. Wir drücken unsere Gestimmtheit in leiblichen Ausdrücken
und Bewegungen aus, die wir nicht total steuern können. Die Augen der
Anderen nehmen nicht nur diesen unseren Leib wahr, sondern erfassen
ihn auch in seiner besonderen Position. Sitzend, gehend, lächelnd werden
wir in einer besonderen Haltung wahrgenommen. Sie ist der Ausdruck des
Eigenpsychischen.
Am Tag nach dem Auslug mit der Brünetten an den Gardasee traf ich erst
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einmal am Nachmittag im Café Schwille Alfred Edel. Er überiel mich geradezu
mit seinen narzisstischen Zuständen.
„Komm heute Abend in’s „Knoblauch“. Ich bin mit zwei Schönheiten dort.
Die werden dir gefallen, und ich werde etwas in der Konversation entlastet“.
Das war mir gerade recht, da ich eigentlich nicht den ganzen Abend mit der
Brünetten verbringen mochte.
Man kommt nach Auslügen, die einen aus dem Trott des Alltags
herausbringen, schnell wieder in die sozialen Schienen zurück. So besorgte
ich wieder, nach dem Café Schwille den Wein und machte es mir bei der
Brünetten auf dem Balkon etwas bequem. Der Gardasee log noch einmal an
mir vorbei. Der Auslug war bereits unwirklich geworden. Ehe ich noch etwas
zu mir kam, stand die Brünette wieder vor mir.
„Im September wandern wir an der Chinque Terre. Das sind fünf Ortschaften südlich von Genua. Die kennst du sicher noch nicht. Endstation ist La
Spezia. Dann noch einen Schritt zu der Küste, südlich von La Spezia, an der
sich Byron aufhielt. Das wäre doch etwas. Wir beide stoßen auf Lord Byron
und den armen Shelley, der dort 1822 ertrunken ist, an?“.
Sie wirkte ganz angetan von diesem Unternehmen. Darauf war ich gar nicht
gefasst. Mir war die Art des sich auf mich Zubewegens etwas unheimlich.
Es hatte etwas Einvernehmendes, vor dem ich zurückschreckte. Irgendwie
fühlte ich mich davon bedroht, und es trat eine innere Leere ein. Es hätte
aber den Abend gestört, hätte ich mich von ihrer Zuwendung abgegrenzt.
So lossen die nächsten Stunden dahin. Es fügte sich ganz glücklich, dass die
Brünette noch etwas vorzubereiten hatte, so konnte ich gegen 22 Uhr den
Weg in Knoblauch einschlagen. Sie gab mir noch ein paar Erledigungen für
den nächsten Tag auf und wirkte insgesamt entspannt und ausgeglichen. So
wie das bei Frauen ist, denen der Umgang mit dem männlichen Geschlecht
nicht fehlt.
Im Knoblauch waren wie jeden Abend gegen 22 Uhr die guten Plätze
bereits vergeben. Alfred Edel saß in Gesellschaft von zwei Schönheiten an
meinem Stammplatz. Es waren außerordentlich gut aussehende Frauen.
Wohlgeformte Figuren und elegant gekleidet. Es war, so wie im Bilderbuch:
Eine Schwarzhaarige und eine Blonde. Alfred in der Mitte wirkte durch seinen
körperlichen Ausdruck massiv. Er hatte etwas Fülle, da er gerne aß. Er sprach
lebendig auf die Schönheiten ein. Sie wirkten dabei etwas unsicher. Er winkte
mich an den Tisch und stellte mich mit der Rede vor
„Das ist unser jugendlicher Held. Etwas zu schöngeistig für einen wirklichen
„Helden“. Setz dich doch. Wie war das doch mit den Opern von Händel,
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bevor er zu den Oratorien umgestellt hat. War er nicht pleite? Du solltest
meinen beiden Damen etwas bieten. Lass uns doch runter in den Weinkeller gehen. Da ist etwas mehr Luft.“
Ich war etwas verunsichert, was den Fortgang betraf. Am liebsten hätte
ich mich gleich abgesetzt. Aber das wollte ich Alfred Edel nicht antun. Wir
fanden uns also im Weinlokal wieder. Alfred Edel monologisierte erst einmal
weiter und verschlang mit seinen Augen die Schönheiten. Sie hörten ihm
interessiert-desinteressiert zu. Es ging dabei um alles Mögliche. Aus der
Situation konnte ich nicht entnehmen, in welcher Beziehung Alfred Edel zu
den beiden Schönheiten stand und was es mit den beiden auf sich hatte.
Beim Pinkeln weihte mich Alfred Edel dann ein. Unser Strahl war
eindrucksvoll. Er hätte gut gegen einen Wind angehen können. Da gilt der
Satz
„Ein Schwein, der nicht mit Freunden gepisst hat!“.
Alfred Edel war ganz leutselig.
„Das sind zwei Models aus München, die mit Aufnahmen in Frankfurt zu
Gange sind. Schöne, aber doch irgendwie unglückliche Frauen. Sie sind zu
sehr auf sich ixiert. Wie das mit den „schönen Frauen“ aus dieser Branche
nun einmal ist. Sie sind zu sehr daran gewöhnt im Mittelpunkt zu stehen
und haben gar nichts davon. Es ist ein leerer Mittelpunkt. Oft kommen sie
über ihre narzisstischen Inszenierungen nicht hinaus. Sie sitzen zu Hause und schauen sich ihre Fotos an. Sie blockieren sich selbst. Man kann
aber auch nicht viel mit ihnen anfangen. Grab dir die Schwarzhaarige ab.
Ich sehe mal zu, dass ich mit der Blonden abziehe. Die schönen Frauen
brauchen etwas Sex. Ihre Typen bringen es oft nicht. Sie werden von ihnen
schikaniert, aber das macht unsere Schönen dann auch nicht glücklich. Die
beiden sind bald zu verheiraten. Sie icken etwas mit dem Beleuchter und
heiratet dann einen Unternehmer mittleren Alters, der etwas zum Ansehen
und Vorzeigen braucht. Das ist das Beste, das ihnen passieren kann. Vorher
sollten sie aber noch etwas erleben. Oder? Wir sehen uns dann morgen im
Café Schwille.“
So Alfred Edel während wir uns an unserem Strahl erfreuten.
Ein paar Minuten später stand ich der Schwarzhaarigen allein gegenüber.
Sie war eine feingliedrige Schönheit. Alfred Edel hatte sich mit der Blonden
etwas abgewandt. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Sie stand da,
bestellte sich noch einen Wein und schwieg. Sie sah mich so an, als wollte
sie sagen
„Was nun, hast du etwas zu bieten? Oder bist du nicht einer dieser Langweiler, die mir auf die Nerven gehen“.
Wie konnte man ihr imponieren? Ich ing an, etwas vom Gardasee zu erzählen.
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Irgendetwas über den„Monte Baldo“ und seiner Poesie, die daran besteht, dass
er zu jeder Tageszeit anders wirkt. Dabei verhielt ich mich ganz desinteressiert,
versuchte aber einen Blickkontakt zu ihr herzustellen. Sah sie kurz an, nahm
den Blick wieder zurück, redete weiter, hielt inne und wartete wie sich die
Schwarzhaarige verhält. Sah ihr wieder in die Augen, sie sah zurück, dann
wieder ein ofenes, aber ins Leere gehende anblicken. Das konnte aber nicht
so weiter gehen. Da sie vor mir stand, holte ich einen Barhocker von der Theke
und bot ihn ihr an. Sie setzte sich etwas auf ihn, dabei legte ich meine Hand
auf ihren Oberschenkel und fragte:
„Gehen wir noch zu mir und hören etwas Musik?“.
In solchen Situationen bestätigt sich oft der Satz „Das Unwahrscheinliche
klappt!“. Sie nahm ihre Handtasche, und wir setzten uns in Bewegung. Alfred
Edel wendete sich kurz um, obwohl er mit dem Rücken zu uns stand, hatte
er den Gang der Dinge unweigerlich mitbekommen, und lachte freundlich:
„Wir sehen uns morgen im Café Schwille. Übernehme die Rechnung“.
Es war eine erotisierende Sommernacht, in der wir durch’s Frankfurter Westend
gingen. Ich nahm ihre Hand
„Rennen wir ein Stück?“.
„Das geht nicht mit meinen Schuhen“,
sagte sie.
„Wir sind gleich da“,
war meine Antwort. Es geht in solchen Situationen nicht um die „Umwertung
aller Werte“, sondern um eine Haltung, die bereit ist, sich von einer Stimmung
tragen zu lassen. Es stellt sich kein Wunsch nach Etwas ein, sondern die
Ereignisse geschehen, ohne dass man etwas dazu absichtlich beiträgt. Ehe
wir uns versahen, waren wir in meinem Zimmer. In der letzten Nacht war ich
noch mit der Brünetten in dem Zug von Mailand nach Frankfurt. Der ganze
Tag und Abend war plötzlich in eine unendliche Ferne gerückt. Ich stellte die
Stehlampe an und drehte ihre Lichtkegel gegen das ofene Fenster. So stand
ich der Schwarzhaarigen gegenüber und sagte ihr
„Zieh dich aus.“
„Ich habe morgen Vormittag noch Aufnahmen“,
sagte sie, zog ihre Schuhe und ihr Kleid aus. Die Schwarzhaarige machte
einen weichen, aber sehr intensiven Sex. Es schien ihr Spaß zu machen. Es
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war ein bewusstloses Geschehen. Etwas wobei nichts erkannt, erwartet und
erschlossen wurde.
Es war schon früh als wir zur Ruhe kamen. Ganz benommen bekam ich mit,
als Sie sich am nächsten Morgen wieder anzog.
„Nächste Woche bin ich wieder zwei Tage zu Aufnahmen in Frankfurt, treffen wir uns dann? Ich schreibe dir meine Telefonnummer auf, unter der du
mich erreichen kannst.“
Sie warf noch einen Blick auf das Nachtlager und verschwand.
Am anderen Tag erzählte ich Alfred Edel den Fortgang des Abends. Er war
sehr erfreut:
„Sie ist nächste Woche in Frankfurt, du solltest sie wieder trefen. Lass es
dann am Besten wellenhaft abklingen. Sie ist viel unterwegs. Wie weit sie
kommt ist schwer zu sagen. Ihre Karriere kann auch schnell nach unten
gehen. Freu’ dich an „der Lust des Werdens“, aber sie wird bald irgendwo unterzubringen sein. Habe schon jemanden im Blick. Übe dich in die stoische
Haltung gegenüber den Afairen ein, das steigert das Erleben.“
Mir fehlen die Ausdrucksmittel, um zu erinnern, was in den nächsten Monaten
geschah. Wir versuchen aus der Gegenwart der Erinnerung in einer zeitlichen
Abfolge das Vergangene zurecht zu legen. Aber das ist die Nacherzählung einer
Geschichte, die zu dem Zeitpunkt in dem sie erinnert wird aufhört. Es gibt viele
Zeitreihen, die in die Vergangenheit führen und bei ganz unterschiedlichen
Ereignissen enden. Der Zeitpunkt, als sich die Schwarzhaarige verabschiedete
oder als ich Alfred Edel im Café Schwille traf oder der Abend, als ich bei der
Brünetten nach unserer Rückkehr vom Gardasee auf dem Balkon saß. Ich
erinnere die Ereignisse, aber mir fehlt ein Bild. Ich kann die „Brünette“ nicht
mehr vor mir sehen, nicht mehr vorstellen. Die Erinnerung an die Ereignisse
tritt ein, aber es fehlt mir von ihnen ein Bild. Ich kann die „Brünette“ nicht
mehr vor mir sehen, nicht mehr vorstellen. Aber dennoch stellt sich das Gefühl
ein, wenn ich mir den Namen „Brünette“ sage, mit etwas vertraut zu sein. Es
fällt uns schwer, etwas als bloße Gegenwart in Erinnerung zu rufen, ohne
eine zeitliche Reihenfolge. Kommt dadurch „das metaphysische Bedürfnis“
zu seinem Ende? Erdenken wir bei diesem Zurückgehen in der Zeit, was da
erinnert wird? Gibt es dabei „Gutes“ und „Schlechtes“? Woraus schöpft sich die
Selbstbesinnung? Sind die Erinnerungen schlecht verständlich? Wir haben ein
Selbstgefühl und das bleibt dasselbe? Das Selbst kann kein Ich sein? Fragen,
die man nicht beantworten kann!?
Die Ereignisse nahmen ihren Gang. Es könnte sein, dass mich meine
starke Verinnerlichung des Selbstbefriedigungsverbots in meinem Verhalten
gegenüber Frauen dominierte. Ich rief die Schwarzhaarige am nächsten
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Mittwoch an. Das weitere gestaltete sich zwangsläuig. Sie kam in den
nächsten Monaten, wenn sie in Frankfurt zu Aufnahmen oder mit dem Zug
unterwegs war nachts zu mir. Es war ein unproblematisches Zusammensein.
Sie sprach nur kurz von ihrer Beziehung:
„Mein Typ erfasst mich nicht so richtig. Er ist ansonsten in Ordnung. Ich
komme mit ihm gut aus, aber er sagt mir nichts. Das ist nicht störend, da
man dann nicht gefühlsmäßig gebunden ist. Das brauche ich auch nicht.
Wir sollten uns weiter nichtabsolut trefen.“
„Nichtabsolut“ war die Weichenstellung, die mir entgegen kam. Viel zu sagen
hatten wir uns nicht, aber ihre visuelle Gestalt sprach mich an. Es war wirklich
eine schwarzhaarige Schönheit und zum Fotograieren erschafen.
Die Sommermonate Juli und August zogen dahin. Da zu dieser Zeit
die meisten Bekannten und Freunde unterwegs waren, ielen keine
Geselligkeiten an. Das tat auch gut, da mich in den letzten Monaten das
dauernde Zusammensein mit Anderen auch etwas belastete. Ich war nach
dem Marokkoaufenthalt gar nicht mehr zu mir selbst gekommen. Lesen war
für mich ein Weg, mich mit mir zurecht zu kommen. Es stellte mich auf meine
Umwelt neu ein und rief in mir vergangene Zustände meines Bewusstseins
hervor. Das vergangene war dabei so wie ein Traumerlebnis. Es versetzte mich
zudem in eine Beindlichkeit, dass meine Wahrnehmungen und Erlebnisse
ihre Gewissheit verloren. Sie waren neu auszulegen. Ein Zustand, in dem
man vom Verständlichen zum Unverständlichen und vom Unverständlichen
zum Verständlichen überging. Psychologisch ist daran erwähnenswert,
dass sich das in einem festgefügten Rahmen von sozialen Kontakten und
Beziehungen abspielte. Man war in sie verstrickt und doch zugleich außerhalb
des Geschehens. Durch das Lesen stellte sich ein Diferenzerleben zu ein, das
als solches nicht begreifbar war. Es ist da, aber nicht fassbar.
Mit der Brünetten lebte ich in den Tag hinein. Die Tage waren so, wie
ein einziger Tag. Es ereignete sich scheinbar täglich dasselbe. Sie war mir
zugewandt und doch erlebte ich sie als fern. Ansonsten beschäftigte sie sich
mit ihrer berulichen Karriere. Das entlastete gleichzeitig unser Zusammensein,
da sie sich dabei auch verinnerlichte. Sie telefonierte fortwährend mit dem
Boss des Hessischen Rundfunks. Danach lachte sie. Irgendwie schien etwas in
der Luft zu liegen. Sie sprach aber nicht darüber. Ich mochte es auch gar nicht
wissen, da mich diese Machenschaften nicht interessierten. Ansonsten nahm
sich die Brünette sehr engagiert die Chinque Terre Unternehmung vor. Man
fantasierte sich in die gegenwärtige Zukunft hinein.
Die Brünette legte gesteigerten Wert auf ihre elegante Erscheinung.
Als ich sie kennenlernte, ielen mir ihre ausgewählte Kleidung und die fast
ausgeklügelten farblichen Zusammenstellung auf. Die Art der Kleidung hatte
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für sie eine besondere Bedeutung. Wenn sie aus dem Dienst nach Hause kam,
nahm sie ein kurzes Bad und zog sich um. Sie zog sich überhaupt gerne um.
Sofern sie es einrichten konnte wechselte die Kleidung drei Mal am Tag.
„Jede Tageszeit hat ihre eigene Stimmung, ihre eigene Fantasie, dazu gehört auch die eigene Erscheinung und ein bestimmtes Verhalten sich selbst
gegenüber, das macht den Umgang mit anderen leichter“,
sagte sie. Sie verstand es, ihre Kleidung mit ihrem Körper in Einklang zu bringen.
Die ästhetischen Entscheidungen traf sie ohne weitere Überlegungen. Sie
hatte dafür eine sichere Intuition. Sie fragte nicht, was nicht so selten ist, wie
sie aussieht, ob ihr etwas steht, sondern ging einfach davon aus, dass das so
sei. Das hatte zwar etwas Dominierendes, aber es störte mich nicht, sondern
ich fand mich in diesem Sommer in der Stimmung, dass es mir geiel, wie sie
sich kleidete, sich auszog und hingab. Ihr schien es gut zu tun. Sie verhielt sich
so, als sei das alles selbstverständlich und schon immer so gewesen.
Die schwarzhaarige Schönheit meldete sich immer wieder einmal und
kam nachts vorbei. Sie brachte ihre neusten Fotos mit, auf denen sie gerne
bewundert wurde. Dabei wirkte sie ganz glücklich.
„Wenn ich mich auf den Fotos sehe, könnte ich mich gerade in dieses Bild
von mir verlieben. Das steht mir doch wirklich toll. Sieh mal, wie ich da blicke! Ich könnte die Fotos andauernd ansehen. Aber es gibt nächste Woche
wieder neue“,
sagte sie. So lief alles zusammen und auseinander, ohne dass dabei ein
Problem auftauchte. Es war ein guter Sommer, in den dahingelebt und man,
ohne es zu merken, gelebt wurde. Ich hatte damals noch nicht das Bewusstsein
der Wiederholung, das zu einem ermüdenden existenziellen Beinden und
Zustand führt.
Es sollte alles anders kommen, als erwartet. Das ist auch das Beste, was
einem passieren kann. Wir erkennen in diesen Situationen nicht, was sich so
anbahnt, und das ist gut so.
25. August 2008
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reInes erleben
Man sagt, dass wir gelebt werden. Die Erindung des Unbewussten ist
neueren Datums. Wenn man von Leibniz einmal absieht, geht sie auf das 19.
Jahrhundert zurück. Ob es eine Entdeckung ist, mag man für überzeugend
halten oder nicht, ich habe einen Widerstand gegen diese Betrachtungsweise.
Das Problem besteht eher darin, dass man sich verdeutlicht, was in diesen
Zusammenhängen behauptet und bestritten wird.
Unsere Erlebnisse sind uns vertraut. Sie mögen auch dazu veranlassen,
etwas zu tun oder zu unterlassen. Man ist etwas deprimiert, verlässt die
Wohnung, läuft etwas umher und eine Erleichterung mag sich einstellen.
Vertraut sind uns aber auch Zustände, die uns überfallen, die sich so wie von
selbst einstellen. Es ist vermutlich aussichtslos in diesen Zusammenhängen
einen kausalen Ablauf auszumachen. Das gilt für beide Seiten der Betrachtung,
der Innen und der Außenperspektive. Von Außen neigen wir dazu, den
Grundsatz der Konsequenzen anzuwenden. Er besagt, dass alle Ereignisse
durch vorhergehende Ereignisse verursacht sind. Alle vorhergehenden
Ereignisse sind ihrerseits durch dieselbe Bedingung verursacht. Wir können
aber vom Außenstandpunkt nicht erforschen, wie unsere Wünsche und
Überzeugungen unsere Handlungen verursachen, da wir für jeden Beobachter
eine schwarze Schachtel sind. Das schließt es nicht aus, dass wir nur dann
kommunizieren können, wenn wir solche Zuschreibungen vornehmen. Was es
mit der Existenz des Unbewussten auch auf sich haben mag, wir sind uns nicht
durchgängig selbstdurchsichtig. Wir sind uns selbst auch immer entzogen.
Die Unterscheidung zwischen bewusst-unbewusst und von Ursache und
Wirkung sind die Unterscheidungen eines Beobachters.
Der August 1976 eilte seinem Ende entgegen. In der letzten Augustwoche
war bereits der Herbst spürbar, obwohl die sonnigen Tage anhielten. Die
Brünette mochte am Abend nicht zu Hause sein. So gingen wir jeden Abend
bei einem der Italiener in der Nähe essen. Gegen 18.30 liefen wir ein und
gegen 22 Uhr wurde an den Aufbruch gedacht.
„Wir haben noch etwas vor“,
sagte sie dann gerne. Es waren ausgeglichene Abende. Man aß in Ruhe
mehrere Gänge, trank Wein, Kafee und dazu Cognac. Der Ablauf war jeden
Abend nahezu derselbe. Ich trug eine dunkle Hose, ein rotes oder ein grünes
Poloshirt, leichte Schuhe und ein Sommerjackett. Mein Anblick schien
die Brünette zu erfreuen, da sie mich mit einem Lächeln ansah, das etwas
Einvernehmendes hatte. Damals befand ich mich noch nicht in dem Zustand
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der gewissen Altersgleichgültigkeit dem eigenen Aussehen und seiner
Wirkung gegenüber. Die gute Verfassung der Brünetten machte sich auch
dadurch bemerkbar, dass sie fast den ganzen Abend redete.
„Wer ist Paul Valéry’s Monsieur Teste? Man neigt dazu, Paul Valéry selbst,
aber er setzt in diesem Text Mallarmé ein Denkmal. Valéry’s Dichtung ist
durch einen Erkenntnisnihilismus motiviert. Dadurch kommt ihr die Rolle
zu, das Nichts zu vermehren. Bestell mir noch einen Wein“,
dann sprach sie weiter über die Dichtung, die aus dem Unbewussten, aus dem
Wach- und dem Schlaftraum hervortritt.
„Das ganze läuft sich aber tot und ist nicht fortführbar. Die Dichtung scheitert an sich selbst. Lese doch einmal Cesare Pavese. Den kennst du vermutlich nicht und er ist bei uns kaum bekannt. In den 1960er Jahre wurde er
noch eher gelesen. Fang aber nicht mit seinem Tagebuch Handwerk des
Lebens an, das macht einen und erschwert eher den Zugang. Auch nicht
mit Gespräche mit Leuko. Am besten liest du erst einmal seine Romane
und fängst mit Unter Bauern an. Auch seine Schriften zur Literatur. Die Entdeckung Amerikas Literatur und Gesellschaft. Er gehört zu den wenigen
Europäern, die einen Zugang zu Herman Melville, Walt Whitman, Sinclair
Lewis und William Faulkner haben. Überlege mir schon die ganze Zeit, eine
Sendung über ihn zu schreiben. Bestell dir doch auch noch ein Glas Wein.
Ich mag nicht alleine trinken“,
sagte sie und wandte sich ihrem Wein zu.
Ich kannte zwar Pavese, den ich schon in den 1960er Jahre las, aber ich widersprach der Brünetten nicht. Das hätte zu nichts geführt und die Stimmung
verdorben. Paveses Schriften zur Literatur schätzte ich besonders, da er ein
sehr einfühlsamer und nachdenklicher Literaturvermittler ist. Sein trauriges
Ende sollte keinen Schatten auf seine Literatur werfen, da es in uns und unserer Lebensgeschichte Unstimmigkeiten gibt, die, wenn sie sich vermehren,
zu keinem guten Ende führen.
Als wir nach dem Italiener bei ihr waren, war sie sexbedürftig. Mir machte
das weiter nichts aus, da ich körperlich gut funktionierte. Sie war wirklich gut
und hatte es gerne, wenn ich mich bei ihr sexuell auslebte, aber die Beziehung
zu ihr versetzte mich in einen merkwürdigen Zustand. Alles lief harmonisch
ab, aber es stellte sich eine Fremdheit und Niedergeschlagenheit ein, für die es
keine sichtbaren äußeren Anlässe gab. Je besser sich scheinbar die Beziehung
gestaltete, umso mehr kam es mir vor, dass sich eine Ungerührtheit und eine
Gleichgültigkeit einstellte. Ein Zustand, den ich nicht artikulieren konnte.
Er sollte mich weiter begleiten und ich konnte für ihn keine Beschreibung
inden. Es fehlten mir die Ausdrücke.
Die Brünette schätze Alfred Edel nicht besonders. Sie hielt ihn für
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inkompetent und einen narzisstischen Wichtigtuer. Sie äußerte sich zwar nicht
negativ, aber sie verstand es, ihre Einstellung zu verstehen zu geben. Sie war
zwar mit ihm lüchtig bekannt, aber wenn wir ihn im Knoblauch trafen, sprach
sie mit ihm nur über Trivialitäten und ließ sich auf weiter nichts ein. Sie hatte
bestimmten Personen ein Verhalten einer unverbindlichen Verbindlichkeit,
durch das alles an ihr abglitt. Zudem stand hinter ihr die Autorität des
Hessischen Rundfunks. Da gab es nicht viel zu diskutieren. Da galt der Satz:
„Rom hat gesprochen“. Auch wenn das nicht so formuliert wurde, lief es darauf
hinaus. Alfred Edel dagegen war vor „der Autorität des Hessischen Rundfunks“
eingeschüchtert und etwas hillos. Er konnte sich nur mit leicht ironischen
Bemerkungen zur Wehr setzen, wie
„Wie geht es der Verwalterin der Horizonte der Weltliteratur?“.
Das war eine rhetorische Frage, da er keine Antwort darauf erwartete. Es
konnte ihr ja nicht schlecht gehen. Ich gab ihm auch keine, sondern sagte
dann, so etwas wie
„die Geschichte der Literatur ist ohne Ende. Das bedarf der Päpste.“
Die Brünette wäre auch nicht auf die Idee gekommen, Alfred Edel zu ihren
Freitags- und Samstagsgesellschaften einzuladen. Sie wusste zwar, dass ich
ihn öfters traf, aber es interessierte sie weiter nicht. Es wurden auch nicht
Fragen der Art gestellt, wie
„Wen hast du heute im Café Schwille getrofen?“, „Gibt es etwas Interessantes zu erzählen?“.
Wenn ich etwas erzählte, hörte sie zwar zu, sagte dazu auch das eine oder
andere, war aber desinteressiert. Trotz des im Fortgang eintretenden Erfolgs
als Kleindarsteller im Film und der Fernsehwerbung blieb Alfred Edel
unzufrieden. Er wirkte etwas gehetzt. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahren
traf ich ihn gelegentlich wieder. Wir saßen im Café am Opernplatz oder gingen
etwas in der Stadt spazieren. Er starb mit 60 Jahren an einem Herzschlag nach
einem Theaterbesuch. Es muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein.
Es kündigte sich ein warmer September 1976 an. Die Cinque Terre Tour
schien ganz aus dem Blick zu geraten. In der Mitte der 1970er Jahre waren
die fünf Ortschaften Monterosso al Mare, Vernazza, Corniglia, Manarola und
Riomggiore noch ein Geheimtipp. Es waren fast noch verwunschene Plätze.
Die Brünette bereitete in der ersten Septemberwoche ihre in den Blick
genommene Sendung zu Pavese vor und gab mir Leseaufträge. Ich konnte
mich aber nicht mehr so richtig in die Texte hineininden. Da Pavese der Autor
der großen Sparsamkeit der sprachlichen Mittel ist, war die Festlegung einer
Leitlinie für die Sendung keine große Anstrengung. Die Brünette war auch
94
damit einverstanden, Pavese äußerst unglückliche Beziehung zu Frauen nicht
auszumünzen, sondern ihn als „Den Entdecker der amerikanischen Literatur“
vorzustellen.
Die Brünette war immer für eine Überraschung gut.
„Lass uns die Chinque Terre Tour wahr machen. Ich kann mich problemlos
noch ein paar Tage vom Rundfunk absetzen. Es läuft irgendwie zu gut. Besorge die Billetts, Rotwein und etwas Leckeres für den Nachtzug. Wir nehmen keine Lektüre mit. Lass uns schön icken. Sonniger September 1976 im
Süden, das ist ein guter Kontrast zu dem Frankfurter Provinznest, das wir
alle so toll inden. Oder? Du wirst es nicht glauben, aber wir erleben das
Ende des modernistischen Frankfurt der 1950er und 1960er Jahre mit Jazz
und zugleich Kammermusik“,
kam ihre Rede wellenartig zu mir. Zwar war ich gerade nicht mehr für die Tour
gestimmt, aber es gab auch keinen zwingenden Grund, ihr zu widersprechen.
Die Kommunikation der Motivgründe für „Ja“ oder „Nein“ führt meistens zu
Missverständnissen. Wie sollte ich der Brünetten kommunizieren, dass ich
lieber zu Hause meinen Gedanken nachgehen mochte? Also war angesagt:
Gesagt und getan. Eine kleine Tour schadet wiederum auch nicht und bringt
auf andere Gedanken. Die Bahnhöfe und Flugplätze versetzten mich in eine
Nervosität, die beschwingte und beruhigte. Schon bei dem Kauf der Billetts
für den Zug Frankfurt – Mailand – Genua – Monterosso war ich überzeugt,
dass die Tour eine gute Entscheidung war. Es galt der Satz von Heinz von
Foerster (Ethics and Second-Order Cybernetics 1991)
„… „metaphysical postulate:“
Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.
Why? Simply because the decidable questions are already decided by the
choice of the framework in which they are asked, and by the choice of the
rules used to connect what we label “the question” with what we take for
an „answer.““
Man mag das Postulat für etwas mysteriös halten, aber es ist vielleicht eine
hilfreiche Orientierung. In diesem Fall wurde vom Zustand der Brünetten
entschieden, und sie versetzte uns in Bewegung. Ihr Zustand war das
„Unentscheidbare“. Der Rest ergab sich von selbst.
Es war ein sehr ausgelassener Trip. Ein „Trip“ in die Transzendenz. Die Brünette lies sich gehen und war ganz verwandelt. Sie himmelte mich geradezu
an und war fortlaufend auf Sex gestimmt. Das hätte mich bedenklich stimmen
sollen, aber ich machte mir keine Gedanken. In La Spezia mieteten wir uns ein
Automobil und nahmen einen Abstecher in die Toskana in den Blick.
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„Mich treibt es weiter. Ich möchte bis an die Stiefelspitze fahren und mit
dem Blick auf Sizilien icken wir mit dem Geruch von Afrika in der Nase,“
sagte die Brünette. Die Blicke auf die Landschaft logen an uns vorbei,
sie war bloße Erscheinung. Man hielt irgendwo an, trank einen Café und
es gab keine Ziele. Jeden Abend war man an einem Ort, speiste in einem
anspruchsvollen Lokal, kostete Weine, trat in den Zustand der „Weinseligkeit“
ein und lies den Augenblick auf sich wirken. Ein Schwebezustand, der einen
von der Schwerkraft des Raumschifs Erde abhebt. Gelegentlich machte ich
mir Notizen und schrieb mir Namen von Ortschaften, Straßen und Kirchen auf.
Das störte die Brünette. Sie sagte nur:
„Die Bewegung ist die Sichtweise. Es gibt nichts zu notieren. Die ortsgebundene Empindung lenkt uns ab. Die „Bewegung“ streift die eigenschaftsbezogene Empindung ab. Sie verwandelt in reines Erleben. Ein „Erleben“
ohne Selbst.“
Mir fällt während ich das niederschreibe, der Satz aus meiner Jugend ein,
in dem wir uns befanden, „Es ist der Trip und nicht die Ankunft“, worauf es
ankommt.
Die Tage rannten an uns vorbei. Ohne dass es uns so bewusst war, befanden
wir uns wieder in dem Zug von Genua nach Frankfurt. Man wurde wieder von
der Routine des Alltags in die Arme genommen. Der Übergang war ließend.
Der Trip war zu ende. Man sprach nicht mehr davon. Die Tage liefen unter
der Hand weiter wie bisher. Die Brünette sprach davon, dass man sich zu
Weihnachten auch wieder absetzten sollte.
„Madeira, das wäre einmal etwas anderes. An Silvester wird dort ein fantastisches Feuerwerk veranstaltet. Wir sollten öfter abtauchen“,
sagte sie, eher vor sich hin, als zu mir. Es war eine Art des Redens, von der
man nicht wusste, ob sie etwas zu sich selbst sagte oder wirklich zu jemanden
sprach. Zu verstehen gibt es ja nur dann etwas, sofern eine Fremdorientierung
vorliegt. Ob man sich selbst verstehen und missverstehen kann, mag einmal
dahingestellt bleiben. Man mag in bestimmten Situationen zu sich sagen, „Ich
verstehe mich selbst nicht mehr“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, da man
sich nicht selbst erforschen kann und im Umgang mit sich nicht etwas lernt.
Man äußert damit eine Entfremdung von sich; ist mit sich nicht im Einklang.
Es ist dann abzuwarten, was sich einstellt.
Es lief zwar alles so weiter, aber Veränderungen im Tagesablauf traten
unmerklich ein. Mittags ging ich nicht mehr ins Café Schwille und traf
Alfred Edel nicht mehr regelmäßig. Zwar sah ich ihn im Knoblauch, aber da
er meistens in Begleitung war, nickten wir uns nur kurz zu. Das bedeutete
aber keine Unterbrechung unserer ganz guten Beziehung. Gelegentlich
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kam er spät in den Liebig Keller und man tauschte sich aus. Dort begann die
Wintersaison. Er füllte sich jetzt und, wie es Alfred ausdrückte, „Umverteilung
war im Gang“. Im Nachhinein bedacht, hatte die sexuelle Freizügigkeit etwas
Fantastisches. Man war an das Venedig des 18. Jahrhundert erinnert und die
aristokratische Permissivität jener Zeit.
Die Abende mit der Brünetten beim Italiener wurden eingestellt. Sie
mochte Abends nicht mehr so gerne weggehen. Was mir erst einmal nicht
auiel war, dass sie noch größeren Wert auf ihr Äußeres legte und den Kontakt
mit ihren Kollegen ausbaute. Die Samstagtrefen wurden zu einer festen
Einrichtung. Freitags waren Konzert-, Oper und Theaterbesuche angesagt.
Ansonsten aßen wir nach ihrem Dienst zusammen und hörten Musik. Die
Klavierkonzerte Beethovens waren angesagt. Auch mochte sie gerne wieder
Brahms hören. Man darf sich bei den Abendessen aber keine normale „Essen“
vorstellen. Sie stand auf, ging umher, telefonierte, trank Wein und rauchte.
Plötzlich wollte sie Sex. Danach beschäftige sie sich mit ihren redaktionellen
Arbeiten. Sie sprach halblaut vor sich hin und schrieb mir auf, was die Tage
aus der Bibliothek auszuleihen war.
Manchmal ergibt sich ein Thema im Gespräch, ohne dass man ausmachen
könnte, wie man auf es kam. Es stellt sich durch das undurchsichtige
Zusammenspiel zwischen Reden und dem dabei ablaufenden Assoziationsluss
ein, bei dem sich die Gedanken aneinanderreihen. Insofern kann man nicht so
ohne weiteres von dem Urheber eines Gedankens sprechen. Die Gedanken, die
wir haben, sind uns selbst undurchsichtig. Sie stellen sich ein oder bleiben aus.
So kam man darauf, eine Sendung über Ezra Pound zu planen. Das war nicht
ganz unproblematisch, da man sich aufgrund seiner politischen Ambitionen
seiner Texte nur schwer vorurteilsfrei zuwenden konnte. Die Brünette hatte
aber einen Ausweg aus diesem Dilemma.
„Wir nehmen die Perspektiven von Dos Passos, Gertrude von Stein, James
Joyce, Ernest Hemingway und Ezra Pound im Paris der 1920er Jahre, wo sie
sich aufhielten und kontrastieren das Intellektuellen- und Künstlermilieu
in Paris mit ihren Texten. Ein Film darüber wäre eine gute Idee. Es sollte
im Film eine Collage der unterschiedlichsten Perspektiven sein, die durch
Orte zusammengebunden werden. Orte, die keine mehr sind, sondern nur
noch Übergänge in der Zeit. Der Ort wirft sein Bild in das Nichts als einer
unendlich verschlingenden Vielheit. Die Stimmen der Sprecher gehen in
Bilder über, „Bilder“, die Anfangen zu singen! Das wäre verrückt. Das Bild
wird zu einem „metaphorischen Bild“, das Ideen auslöst! Oder, was meinst
du, wie ist das auszudrücken? Die Metapher ist ein Ausdruck, ein Mittel der
Identiikation.“
Darauf war nicht so ganz einfach zu antworten. Es war das Beste, die Antwort
zu umgehen.
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„Ich suche schon einmal Textstellen heraus, und wir fangen an zu montieren. Dann ergibt sich das eine aus dem anderen. Man darf dabei nicht
soviel vorplanen“,
war eine geschickte Antwort. Ansonsten war der Besuch in der Frankfurter
Oper von Wagners „Tristan und Isolde“ im Gespräch, die sehr gelungen war.
Wagner gibt der Philosophie Schopenhauers darin eine besondere Wendung,
die fast vergessen ist. Der Wille als essentia rei wird darin durch die körperliche
Liebe versinnlicht. Das kann kein gutes Ende nehmen.
Öfters als vor dem „Trip“ übernachtete ich bei der Brünetten. Sie hatte ein
Gastzimmer, so dass man in seinen Träumen nicht durch die Anwesenheit
des Anderen gestört wurde. Es konnte aber auch sein, dass ich nach 23 Uhr
noch wegging und mich dann in die Feuerbachstraße begab, allein oder in
Gesellschaft. Gelegentlich auch mit Freunden. Man trank dann noch, tauschte
sich aus und hörte Musik. Es war dieses sich in die Nacht hineinreden und
halluzinieren, dass einen den Tag vergessen machte.
Der Boss des Hessischen Rundfunks nahm mich an einem der
Samstagstrefen zur Seite und fragte mich, ob ich nicht eine feste Anstellung
bei ihm haben wollte. Er suchte einen Mitarbeiter, dem er vertrauen konnte.
Es konnte gut sein, dass das von der Brünetten angestoßen war, obwohl sie
mich nicht darauf ansprach. Da ich aber mit meinen Verhältnissen zufrieden
war, hatte ich keine Neigung mich berulich fest zu binden. Das konnte ich ihm
zwar so nicht sagen, sondern verhielt mich diplomatisch. Insofern tat ich zwar
geehrt, verschob eine weitere Besprechung darüber aber auf des kommende
Jahr. Zudem war ich mit Lektoraten eingedeckt. Das brachte es mit sich, dass
ich öfters im Hessischen Rundfunk zu tun hatte und gegen 14 Uhr dort in der
Kantine zu Mittag aß. Mit der Brünette traf ich mich dort nicht, da sie nicht
regelmäßig in der Kantine aß. Wenn, dann kam sie meistens mit Mitarbeitern.
Da hätte ich nur gestört. Ich mochte von ihren Belangen auch nichts hören
und in sie, wenn auch unbeabsichtigt, hineingezogen werden. So war bereits
die zweite Hälfte des November 1976 erreicht. Man lebte von Abend zu Abend,
von Woche zu Woche, so als sei das ohne ein Ende.
Etwas abwesend suchte ich mir in der Kantine des Hessischen Rundfunks
an einem November Mittwoch meine Beilagen aus und eilte gedanklich
schon in den Nachmittag hinein. Da hörte ich neben mir
„Nehmen sie doch auch von dieser Nachspeise“.
Ich hörte zwar die Äußerung, nahm sie aber gar nicht auf.
„Das schmeckt lecker“,
ging es weiter. Ich sah zur Seite und neben mir stand eine rot getönte, stattliche
jüngere Frau und lachte mich an. Sie mochte so 26 Jahre sein. Mehr unbewusst
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nahm ich mir auch einen Nachtisch.
„Gegen 14 Uhr ist es hier bereits ruhig. Fast etwas zu einsam. Man denkt gar
nicht, dass man im Rundfunk ist. Das stellt man sich ganz anders vor. Den
ganzen Tag überall betrieb. Technik, reden, hin und hergehen.“
Sie hatte schon alles auf ihrem Tablett und ging zu einem Tisch.
„Kommen sie doch mit, wenn man um diese Urzeit allein in der leeren, einsamen Kantine isst, da kann es einem doch nicht schmecken. Das Essen ist
doch toll hier.“
Ohne dass ich mir weitere Gedanken machte, saß ich mit der rot getönten an
einem Tisch und wir ingen an, uns dem Mittagstisch zuzuwenden. Sie aß und
redete. Innerhalb von 20 Minuten hatte sie mir ihre ganzen Lebensumstände
mitgeteilt. Sie hatte in diesem Jahr ihr Schauspielschulexamen abgeschlossen,
war auf der Suche nach einem ersten Engagement, hatte ein zweijähriges Baby,
sprach im Hessischen RundfunkWerbespots, ihre Mutter hatte in der Innenstadt
ein Lebensmittelgeschäft und sie wohnte in einer Zweizimmerwohnung auf
dem mittleren Teil der Berger Straße. Dabei atmete sie so durch, dass sich
ihre Brüste bewegten. Sie trug eine Bluse mit einem sichtbaren Büstenhalter.
Wir saßen vor leeren Tellern und plötzlich stellte sich ein Schweigen ein. Aus
Verlegenheit fragte ich sie, ob noch man noch einen Kafee zusammen trinkt.
Sie nickte. So wurde die von mir empfundene Verlegenheit etwas überbrückt,
da ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
„Wir können uns heute Abend trefen. Ich habe weiter nichts vor. Oder bist
du kein Treftyp.“
Das brachte mich noch mehr in Verlegenheit, aber ich stimmte zu und
wir verabredeten uns bei ihr um 23 Uhr. Das passte mir ganz gut, da die
Brünette in dieser Woche mit ihrer Funkarbeit zugepackt war und ich mich
ihr im Laufe des Abends bei Zeiten entziehen konnte. Zudem war man von
der Wohnung der Brünetten im Westend in gut dreißig Minuten auf der
Berger Straße. Das Fotomodell meldete sich die letzten Wochen nicht mehr.
Irgendwann würde sie schon wieder einmal auftauchen, und man konnte sich
entgegenlächeln. Gegen einen Besuch brauchte man nichts zu haben. Das
war eine Unterbrechung der eingespielten Abläufe, unabhängig davon, was
sich bei ihnen auch ereignete.
Sie emping mich in einem schwarzen Kleid mit besonders Rot
aufgetragenen Lippen. Im Hintergrund liefen die The Supremes. Diana Ross
sang, „Where did our love go“.
“Kennst du das, ist toll. Ich spiel dir gleich noch etwas anderes vor, den
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California Sound der Beach Boys von Brian Wilson und seinen Brüdern. Die
Platte heißt „Pet Sounds“.“
Das war im Dezember 1976. Nach meinem Geschmack war das tiefe 1960er
Jahre. Ich kannte diese beiden Gruppen. Die „Pet Sounds“ waren die Antwort
auf die Platte der Beatles „Rubber Soul“ 1966. Sie gehört zu dem Besten im
Pop-Genre. Aber ich sagte nur, dass der Sound anturnt und die Platten eine
Entdeckung seien.
„Ich bring dir eine Platte mit Billy Holiday mit, das wird dir gefallen“,
sagte ich ihr und sah sie direkt an. Das war zwar tiefste 1940er Jahre, aber ein
guter Sound.
So saßen wir nebeneinander auf ihrer bequemen, vielleicht etwas zu
bequemen, Couch in der Wohnlandschaft eines ihrer Zimmer. Es war das
der typische ambitionierte 1970er Jahre Geschmack. Die Couch war auf
Bodenhöhe. Sie glich einem Lager. Man konnte sie auch durch das dazustellen
von Teilen vergrößern. Sie öfnete noch eine trinkbare Flasche Rotwein und
machte es sich bequem. Da man auf diesen Couchen nicht richtig sitzen kann,
wird man unweigerlich in eine mehr liegende Lage hineingezogen, da ein
aufrechtes Sitzen zu unbequem ist. Ich selbst schätze diese Wohnlandschaften
nicht, da ich gegen das Wohnen in Bodennähe eine Abneigung habe. Nicht
nur, dass ich nicht so erzogen war, sondern irgendwie kam mir diese Stellung
zunehmend einschränkend vor, da man sich von dieser Stelle ohne Ausblick
nicht zu seiner Nahwelt verhalten kann. Darin stimmte ich mit der Brünetten
zwanglos überein. Sie sagte gerne
„Wir sind Tischerscheinungen, das macht den Geist und alles was dazu gehört frei. Geist ist trocken, aber er bedarf der Geste.“
Aber es gibt Situationen, wo einen die Wohnlandschaftsperspektive auch
nicht dramatisch stört. Der Sound und der Wein spielten zusammen und man
versank etwas in der Couch der Wohnlandschaft. Sie zog ihre schwarzen Pumps
aus, trank etwas und berührte mit dem Fuß meinen unteren Oberschenkel. So
lag man da, trank Wein, hörte Musik und verinnerlichte sich. Wir rückten dabei
unmerklich näher. Sie knüpfte ihre Bluse auf und der Sex mit ihr wollte nicht
zu seinem Ende kommen.
„Lass dich gehen, so mag ich’s am Liebsten“,
sagte sie. So ergab sich ganz unbeabsichtigt ein neues Verhältnis ein. Ich war
gar nicht so darauf eingestellt, aber ich ließ es geschehen. Es stellte sich so ein,
dass ich mich Mittwoch gegen 22 Uhr zu der Bergerstraße zu der rotgetönten
stattlichen jungen Frau aufmachte. So rannte die Zeit dem Jahresende 1976
entgegen. Das neue Verhältnis hatte eine ganz unbeabsichtigte Wirkung, dass
100
sich meine innere Anspannung gegenüber der Brünetten löste und wir mit
viel Vergnügen den Madeira-Trip an Weihnachten in den Blick nahmen.
Das Erleben wird ungreifbarer. Meistens schlafe ich tagsüber und stehe
erst am frühen Nachmittag auf. Fahre dann mit der U-Bahn in die Stadt. Im
Vorbeigehen in der U-Bahn hörte ich am Nachmittag:
„Unveränderbar ist nur das, was so schnell vergeht, dass für Änderungen
keine Zeit bleibt“.
Das größte evolutionäre Unglück ist, dass man zu alt wird. Das wirkt sich auf das
Zeiterleben aus. Ich selbst habe nicht den Mut zur Selbsttötung. Wir werden
von den Alten übermächtigt. Die Welt ist überbevölkert. Die Weltbevölkerung
ist von 2,4 Mrd. 1945 auf 6 Mrd. 1999 gestiegen. Man hört, dass sie in den
nächsten 50 Jahren weiter steigt und sich bei 10 Mrd. einpendeln wird. Ein
Viertel davon würde genügen. Uns umgibt eine Altengesellschaft. Das wertet
das Selbstsein ab. Leben ist nur dort, wo es kurz und durchdringend ist.
Dadurch tritt man aus sich heraus. Die veränderte Situation verbreitet Blödheit.
Die Alten basteln, plegen sich und sind Objekte der Gesundheitspolitik,
wollen sich ab ihrem 65igsten Lebensjahr bilden und treten in Talk-Shows
auf, in denen sie sich über ihre Magenbeschwerden, Rückenschmerzen und
andere Gebrechen äußern. Dabei möchten sie vor allem wichtig genommen
werden. Das Tollste ist: Die 70jährigen verlieben sich neu. Was soll man dazu
sagen!? Man mag sich gar nicht vorstellen, wenn sie sich zum Sex ausziehen.
Insgesamt ein unwürdiges Sein. Jack London (1876-1916) wurde 40 Jahre alt
und hatte ein ekstatisches Leben.
15. Dezember 2008
101
der abend
Leben ohne Zeit. Der Sekundentakt verstummt. Was für ein Zustand! Der Blick
fällt auf den Kalender. Es ist bereits September 2009. Was ereignete sich in
den letzten Monaten? Ich irrte in der Vergangenheit umher, ohne irgendwo
anzukommen. Blieb bei dem Jahresanfang 1977 hängen, ohne eine Erklärung
dafür zu haben.
Der Madeiratrip mit der Brünetten war wunderbar. Silvester erlebten wir
ein einmaliges Feuerwerk und feierten noch meinen 32. Geburtstag am 3.
Januar. Zwei Tage später logen wir in guter Stimmung zurück.
Am 22. Dezember traf ich die rot Getönte noch einmal. Besuchte sie mittags.
Sie hatte gerade ihr Kind abgeholt.
„Januar spreche ich in Mainz vor. Du drückst mir die Daumen.“
sagte sie. Ihr Kind spielte im Kinderzimmer. Wir rauchten noch einen Joint. Sie
hatte einen schwarzen Pullover an. Darunter keinen BH. Ich zog etwas tiefer
an dem Joint. Es überkam mich die Stimmung aufzubrechen und durch die
Stadt zu gehen.
„Ich habe noch etwas für den Weihnachtstrip zu packen. Es wird etwas
knapp“,
sagte ich ihr. Wir standen auf und sie begleitete mich zur Tür ins Treppenhaus.
Alles war ruhig. Sie sah mir in die Augen als wollte sie sagen
„Kommst du wieder?“.
Ich sah wie sich ihre Brüste bewegten. So standen wir mittags um 14 Uhr im
Treppenhaus. Sie schloss die Tür zur Wohnung hinter sich. Wir trieben es im
Treppenhaus. Sie war nur schweigendes Gefühl und Blick. Sie zerloss. Ich kam
mehrere Male. Sie lehnte sich an den Treppenaufgang. Sie atmete langsam als
sie kam. Dann war alles vorbei. Mir wurde kühl. Sie sah mich nur an.
„Ruf mich an, wenn du zurück bist“.
Mir wurde ganz anders. Es gibt Augenblicke, in denen das Unglück über einen
fällt. Man weiß nicht, warum, woher, wozu. Ich wusste, dass es mit ihr nicht
weitergehen würde. Vielleicht würde ich mich bei ihr gar nicht mehr melden.
Es war so, als ob sich ein Schatten über mein Gemüt legt.
„Wir schalten uns kurz“,
sagte ich ihr. Ich sah ihren glücklich, traurigen Blick. Dann war ich schon
102
auf der Berger Straße; ging, so wie von unsichtbaren Fäden gezogen, in die
Innenstadt.
In den nächsten Monaten verdichteten sich die Ereignisse. Alles kam, um
es so auszudrücken, Schlag auf Schlag. Zunächst ging es aber so weiter, wie
bisher. Erst im Nachhinein iel mir das Entgegenkommen der Brünetten auf.
Sie zog sich für ihre Vorbereitungen für den Funk zwar oft zurück, mir kam das
aber entgegen, da ich mich in die Texte zurückziehen konnte. Die Nachmittage
ging ich seltener in’s Café. Das brachte es mit sich, dass der Kontakt mit den
Freunden etwas verloren ging. Sie brachen aber nicht absolut ab, da man sich
gelegentlich im Liebig Keller gegen Mitternacht traf. Wenn wir zusammen
waren, wurde nach einem Kafee gleich Wein aufgemacht und sie wollte Sex.
„Das tut mir gut, mach’s mir von Hinten“,
sagte sie. Das belastete mich zwar zunächst nicht, aber es stellte sich
eine Entfremdung in dem Erleben meiner leiblichen Verfasstheit ein. Das
Entgegenkommen der Brünetten wurde noch dadurch verstärkt, wenn nicht
sogar vergoldet, dass sie mich in meinen literarischen und ästhetischen
Ambitionen bestärkte. Die Zeit wurde dafür zwar dadurch eingeschränkt, da
sie mich jede Woche mit genug Lektoratsarbeiten versorgte, aber wir sahen
uns seltener. So gab es für den Rückzug etwas Spielraum.
„Kurz und intensiv und doch lang anhaltend mit den Gefühlen“,
war ihr neuer Leitspruch. Zudem plante sie bereits für den nächsten Trip.
Was die Ambitionen betraf, so war ich durch ihr entgegenkommen wirklich
überrascht. Vor allem bestärkte sie mich in dem wiederholten Studium der
Schriften Schellings.
„Daraus kann man etwas machen. Habe das an einem bestimmten Punkt
meiner Romantikstudie nicht mehr weiter verfolgt und zur Seite gelegt.
Gebe dir meine Aufzeichnungen über das System der Transzendentalphilosophie (1800). Vielleicht kann es dich etwas orientieren. Vielleicht ist Schelling doch die Vollendung des deutschen Idealismus und nicht Hegel. Hegel
ist überschätzt. Eine unglückliche Erbschaft. Ich werde mich damit nicht
mehr beschäftigen. Tempi passati!“,
so ihr Kommentar. Sie suchte in ihrem Bücherschrank und gab mir einen Text.
„Gut, vieles ist veraltet, man verirrt sich und gerät in Verwirrung. Es wäre die
Relevanz für die Ästhetik herauszuschälen. Im Fortgang hat Schopenhauer
und Nietzsche diese Tradition destruiert und sie wirkt doch zugleich bei
ihnen weiter. Aber mach jetzt eine Flasche Wein auf, bevor wir uns damit
weiter belasten“,
sie sah mir dabei in die Augen und überreichte mir die Bögen.
103
Es waren fünf Seiten, die mit ihrer zierlichen Schrift beschrieben waren. Der
Text war auf das Jahr 1970 datiert. Es handelte sich um eine Zusammenfassung
von Schellings System der Transzendentalphilosophie. Bei der Dechifrierung
dieser Texte sind die Archäologen des Wissens gefragt. Ich selbst habe mich
damit schwer getan. Die Brünette hatte mir einmal einen kurzen Überblick
über seine Philosophie vorgetragen. Sie war aber darauf nicht mehr zu
sprechen gekommen, da sie davon überzeugt war, dass man das mittlerweile
nicht mehr ausbuchstabieren könnte. Es würde schlicht die Muse, die innere
Distanz und die Selbstbezüglichkeit fehlen. In dieser Richtung äußerte sie sich
auch im Hinblick auf Nietzsche.
„Wir können uns schwer zurückversetzen. Wir verlieren zu viel Zeit, zu viel
von uns Selbst. Schelling wird bei Schopenhauer, Nietzsche und Wagner
wirkungsgeschichtlich.
Wollen als Ursein=Wille zur Macht=Weltwille=Trieb=höhere Objektivität
des Kunstwerks.
Die Romantik ist in Wagners Ring überwunden. Das Kunstwerk ist als Organismus zugleich Fragment. Die Willensmetaphysik wirkt sich bis zu Wittgenstein aus – obwohl er ein Anti-Wagnerianer ist.
Der Wille ist die Spitze: „Tun scheint selbst kein Volumen der Erfahrung zu
haben. Es scheint wie ein ausdehnungsloser Punkt, die Spitze einer Nadel.
Diese Spitze scheint das eigentliche Agens. Und das Geschehen in der Erscheinung nur Folge dieses Tuns. „Ich tue“ scheint einen bestimmten Sinn
zu haben, abgelöst von jeder Erfahrung“ (Wittgenstein, Philosophische
Untersuchungen, 620.) In dem nächsten Absatz wird das wieder in Frage
gestellt: „621. Aber vergessen wir eines nicht: wenn ‚ich meinen Arm hebe’,
hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrig bleibt,
wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass
mein Arm sich hebt? ((Sind nun die kinaesthetischen Empindungen mein
Wollen?))“ Wenn man sich einmal auf diese Fragen eingelassen hat, so hat
man schon verloren. Es ist letztlich „tote Literatur“, soll ein Oxford Philosoph
einmal kommuniziert haben. Aber lassen wir das auf sich beruhen.
Wagner führt im Ring den Fragmentismus fort, aber er überwindet die Romantik im Ring. Das Tragische tritt an uns heran. Das hat Nietzsche von
Wagner. In der Beziehung von Siegfried und Brünnhilde gibt es keine Romantik mehr. Brünnhilde wird sterblich: Die Ewigkeit/das Unendliche und
das „Streben nach dem Unendlichen“ hat ein Ende. Davon werden die Götter selbst betrofen. Alle Beteiligten sind die Handlanger des Betrugs und
in ihn verstrickt.
Es hat sich mir immer wieder aufgedrängt, dass die Problematiken des 19.
Jahrhunderts historisch geworden sind. Uns trennt mittlerweile zu viel von
104
dieser Zeit. Ein mutiger Regisseur sollte den Ring mit Jazz musikalisch einrahmen “,
hörte ich sie noch sagen. Auf der letzten Seite stand:
„Angst und Kreativität schließen sich aus. Angst vor einer heißen Herdplatte dient dem Überleben, aber sie blockiert Kreativität. Wenn ich zu mir
selbst sage „Ich habe Angst ...“, „Das kann ich nicht ...“, dann wird es auch so
sein. Es fehlt existenziell die positive Emotion.
Die Kunst bleibt genauso wenig stehen, wie die Zeit. Lassen wir ihr Platz.
Anders ausgedrückt, treten wir in die Kommunikation mit ihr ein.
Die Anschauung ist nicht der Ausgangspunkt des Erkennens. Sie ist auch
nicht der Endpunkt. Wenn wir anschauen, sehen wir nicht den blinden
Fleck der Wahrnehmung.
Meine Ästhetik ist eine der Irritation und des Ausdrucks, damit wir fühlen,
dass wir leben. Da ist man in guter Gesellschaft.
Das Schreiben arbeitet mit bei der Bewusstmachung der Gedanken.
Auch in der Dichtung auf die Musik des Ganzen achten. Dem „Ganzen“ an
den Übergängen nachspüren. Das Ganze ist ein Rätsel geblieben. Es ist rätselhaft geblieben, wie die Teile das Ganze repräsentieren? Welcher Teil
ist befugt das Ganze zu repräsentieren? Insofern ist auf die Übergänge zu
achten.“
Mir war das alles ganz unverständlich. Da konnte, wenn überhaupt nur Dr.
Günther Auerbach weiterhelfen. Ich nahm mir vor, ihn bei Gelegenheit einmal
auf die Hintergründe anzusprechen. Am nächsten Tag kopierte ich die Seiten.
Als ich am Nachmittag zur Brünetten kam, war sie bereits vom Funk zurück.
Das war eher selten. Sie wirkte bereits in der Küche. Ich gab ihr das Original
zurück.
„Habe die Seiten kopiert und werde sie lesen, lass sie auf mich wirken.
Brauche etwas Zeit. Ich habe mir Schellings „System des transzendentalen
Idealismus“ aus dem Jahre 1800 in der Bibliothek bestellt. Es ist etwas lange
her. Mir fehlt da oft die Einbildungskraft, um mich in die Denkkonstellation
hineinzuinden.“
Sie legte sie zu den anderen Aufzeichnungen. Ihre Dissertation war
gegenüber der Menge ihrer Aufzeichnungen ein schmaler Band. Kittler hatte
eine Einleitung dazu geschrieben. Sie hatte ihren Doktortitel verdient. Das
war ihr auch bewusst. Ich las sie erst zehn Jahre später. Zu dem Zeitpunkt war
sie bereits tot.
105
„Versetze dich nicht zu sehr hinein. Ich selbst erkenne mich nicht mehr in
ihnen. Es ist zulange her. Tausend Seiten schreiben, und sie auf 50 Seiten zurückführen. Das ist der Weg. Wir sollten auch jetzt nicht darüber sprechen.
Bleiben wir lieber bei der Realpoesie. Es kommt etwas auf uns zu, aber wir
wollen nicht dramatisieren. Lassen wir es so, wie es ist. Habe schon etwas
angerichtet. Ich brauche etwas Musik. Lege etwas auf, das uns beschwingt“.
Mir waren die Äußerungen zwar etwas rätselhaft, aber in solchen Situationen
ist es auch nicht hilfreich nachzufragen. Es war wieder Sommer. Ein warmer
früher Sommerabend, den man nicht belasten sollte.
Die Brünette war von der Chéreau-Jubiläumsinzenierung des Rings 1976
begeistert. Das war etwas nach ihrem Geschmack. Wotan als Zivilist, Siegfried
trägt die Werbung von Gunter bei Brünnhilde im Frack vor. Wagner wurde
wieder einmal zum Streitobjekt einer weltweiten Öfentlichkeit. Zu seiner
besonderen Kreativität gehörte auch der WAHN, ein über die eigenen
Verhältnisse und Kräfte leben, ein Herstellen von Distanz, ein sich in eine
Fantasiewelt hineinbegeben. Die Höhepunkte der Wagnerinszenierungen
nach 1952 werden auch etwas überschätzt. Man verliert dadurch die
anderen äußerst gelungenen Auführungen aus dem Blick. Es spielt sich eine
Überspitzungsrhetorik von intellektuellen Halbgebildeten ein, die etwas
Subalternes hat. Es wird geschmäcklerisch.
Gerade in diesem Augenblick als ich das niederschreibe höre ich
Catarina Ligendza. Ihr Gesang wird mir auf einmal ganz deutlich. So als er
unmittelbar in seinem nachschwingen gegenwärtig. Das führt zum Problem
des Zeitbewusstsein zurück. Catarina Ligendza war zwischen 1971-1987 in
Bayreuth im Engagement. Wirklich eine großartige Sängerin. Sie hatte als
junge Sängerin den Ehrgeiz Wagner zu singen und wurde wohl die jüngste
Interpretin. Mit 50 Jahren nahm sie ihren Abschied von ihrer Gesangskarriere
und kaufte sich mit ihrem Mann einen Bauernhof in Schweden. Ihr Kommentar
war:
„Sich noch einmal etwas anderem zuwenden.“
Der Sommer 1977 gestaltete sich anders als erwartet. Die Brünette war mit ihren
berulichen Plänen befasst, die sie nicht kommunizierte. Sie beabsichtigte
erst im Oktober eine gemeinsame Reise. Mir war das eigentlich ganz recht.
Wir sahen uns seltener, aber das tat der Beziehung keinen Schaden an.
Irgendwie ging es so weiter, wie bisher. Ich hatte den alten MG im Hinterhof
abgestellt und fuhr tagsüber gerne in die Peripherie von Frankfurt. Dort
wo die Stadt aufhört und sie in die Felder übergeht. Von der Heerstraße
konnte man Richtung Steinbach gehen. Man begab sich durch Felder. Die
Elektroleitungen mit ihren großen Aufhängungen regten meine Fantasie
an. Es war ein weiter Himmel zu sehen. Im Hintergrund lag der Taunus. Er
106
wirkte so, als sei er aus einem Spielbaukasten, den man nach belieben auch
versetzen konnte. Durch die Felder verlief die Autobahn in Richtung Kassel,
in den Norden. In diesem Sommer hielt ich mich am Tage gerne dort auf. Man
war allein. Es war so, als würde einen alles umrauschen. Am Nachmittag fuhr
ich wieder zurück. Gegen 17 Uhr war ich wieder in der Feuerbachstraße. Vorher
ging ich noch gelegentlich ins Café Laumer. Dort traf man den einen oder
anderen und tauschte sich aus. So blieb ich wenigstens vordergründig auf
dem Laufenden. Mir lag zwar nicht sonderlich iel daran, aber die Kontraste
rückten mich etwas zu recht, bevor ich mich in die Stille und die Fantasiewelt
des Mansardenzimmers zurückzog.
Die letzten Wochen kam ich mit den Versen gut voran. Mich beschäftigte
die Umsetzung der Blickwinkel in eine reduzierte Sprache. Der Leitfaden war
mir schon lang eingefallen:
Jede Monade hat ihren eigenen Gesichtspunkt
Die Perspektive stellt die Wirkung der Anordnung der Dinge im Raum dar
Blick auf die Dinge
Die Dinge kehren zurück
Es war kein dickes Buch, sondern eher zwanzig Seiten mit Versen. Dr. Auerbach
geielen sie. Merkwürdigerweise war auch die Brünette davon angetan,
obwohl sie es für eine brotlose Kunst hielt.
„Wir sollten eine kleine Lesung an unseren Freitag- oder Samstagabenden
veranstalten. Lade ruhig auch den Dr. Auerbach dazu ein. Er wird sich sicherlich anstellig dazu äußern.“
Das war ein großes Entgegenkommen der Brünetten, da ich wusste, dass sie
Dr. Auerbach zwar intellektuell schätze, aber mit ihm nicht viel zu tun haben
mochte. So wurde ein Freitagtermin vor der Sommerpause in den Blick
genommen. Da waren die meisten Freunde der Brünetten noch im Lande.
Ab September wurde wieder alles neu aufgemischt. Man wusste nicht, was
dann war. Sicher, das war spekulativ, da in der Regel alles so weiterging
wie es war. Aber man fantasierte sich gerne in die Wintersaison mit ihren
ganzen Unwägbarkeiten. Auch Dr. Auerbach war damit einverstanden. Mir
war das eigentlich recht, da er mir zugetan war. Trotz der Unterbrechungen
unserer Kontakte gab es ein Grundeinverständnis, das sich einer genaueren
Erforschung entzog.
Der Freitagtermin war ixiert. Dr. Auerbach war eingeladen. Er beabsichtigte
nach der Lesung etwas Anstelliges zu sagen. Von dort her drohte keine
Gefahr, eher eine Rückendeckung. Ich war auch vor dem Abend nicht weiter
107
beunruhigt. Es kann vorkommen, dass es nicht gelingt, seine Gedanken
auszudrücken, so substanziell sie auch sein mögen und solche, bei denen
leer, aber dramatisch wirksam, geredet wird. Merkwürdiger Weise nahm ich
den Abend auf die leichte Schulter. Es kam eigentlich von meiner Seite eher
auf eine geschickte Inszenierung an. Dafür würde die Brünette schon sorgen.
Gerne verstieß ich gegen meine Gewohnheiten. Das waren kleine
Kontraste, durch die sich die Wahrnehmung etwas anders einstellt. Spiel des
Zufalls, um mit Joseph Conrad zu reden, am Mittwoch vor dem Freitag ging
ich schon gegen 12 Uhr am Mittag ins Café Laumer. Am Mittag gab es dort
einen Mittagstisch. Insofern war das Café gut besucht. Meist von Angestellten,
die in der Nähe beschäftigt waren. Die Art der Nervosität lenkte angenehm
ab. Gelegentlich wechselte ich auch ein paar Worte mit einem Gast, da es
oft keinen unbesetzten Tisch mehr gab. Ich war aber nicht besonders daran
interessiert und mochte lieber vor mich hinsinnen.
Gegen 13 Uhr brach ich an diesem Mittwoch vom Café auf. Irgendwie
etwas gedankenversunken bog ich gerade in die Feuerbachstraße ab, als mir
eine junge Frau entgegenkam. Plötzlich richtete sich der Blick auf sie, als sie
gerade über den Zebrastreifen kam. Vor zwei Tagen bemerkte ich sie bereits
im Liebig Keller mit einer Freundin und einem jungen Mann. Wir nahmen
zwar Blickkontakt auf, sahen uns in die Augen, aber in der Situation war
kein Kontakt aufnehmbar. Zudem war ich bereits dabei, bei der Nachbarin
‚an Land zu gehen’. Da ich merkte, dass sie mich abschleppen mochte. Jetzt
kam sie gerade, wie aus dem Nichts aufgetaucht auf mich zu. Sie trug ihre
blonden Haare hochgesteckt, hatte eine rote Sommerbluse an, unter der man
den schwarzen Büstenhalter sah. Manche Dinge ereignen sich in Sekunden.
Ich sah sie an, sie zum Kafee im Laumer einzuladen wäre etwas ungeschickt
gewesen, da ich gerade dort war. Was sollte ich überhaupt sagen:
„Auf dem Rialto? Jetzt am Meer sein!“
Sie sah mich lachend an und antwortete:
„Wir beiden am Meer!?“.
„Könnte man versuchen, wird aber nicht leicht realisierbar sein. Das Café ist
heute besonders stark besucht, bin gerade auf dem Sprung in die Peripherie. Wie wär’s, kommen sie mit. Fahre die letzten Tage Mittags eine Stunde
ins Steinbacher Hohl mit Blick auf den Taunus. Das ist ein Kontrast zur Stadt
mit einem spektakulären Blick auf Stromleitungen auf denen Vögel sitzen.
Durch die Landschaft verläuft eine Autobahn. Fahren mit meinem MG hin.
Das ist ein Erlebnis aus den 1950er, 1960er Jahren.“,
war darauf die Antwort, ohne dass an etwas gedacht wurde. Wir erleben
oft eine Vorgestimmtheit beim Kontakt zu Frauen, aus der sich alles Weitere
108
ergibt. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass dem zugestimmt worden wäre,
aber ich hörte:
„Jetzt sind sie gleich überrascht, dann fahren wir in diese Peripherie. Mit so
etwas rechnet man nicht? Oder? Wie weit haben wir es denn?“.
Augenblicklich waren wir in die Feuerbachstraße. eingebogen. Der Ablauf
spielte sich in ein paar Sekunden ab. Ich konnte es gar nicht fassen: Wir
liefen zusammen die Feuerbachstraße hinunter. Sie teilte mir mit, dass sie
Germanistik studierte, an einem Seminar von Prof. Ralph-Rainer Wuthenow
über Stadtliteratur teilnahm und ein Referat über Die verlorene Illusion
schrieb, sie 22 Jahre alt war und noch nicht lange in Frankfurt studierte. Nach
5 Minuten standen wir vor dem alten MG. Die Germanistin war nicht schlecht
überrascht. So ein Mobil kannte sie noch nicht.
„Ist aber nicht bequem. Die Sitze sind für Nylonstrümpfe nicht geeignet“,
kommentierte ich ihr erstaunen.
„Habe keine an. Dann kann es ja los gehen“,
war ihr Kommentar. Die Art wie sie sich in den MG setzte, erinnerte mich einen
Augenblick an meine erste Frau, aber der Eindruck verlog gleich wieder. Wir
rauschten in Richtung Steinbacher Hohl. Es war ein Katzensprung. Wir ließen
uns durch die Felder treiben. Die Zeit schien still zu stehn. Die Germanistin
erzählte begeistert von dem Seminar über die Stadtliteratur. Das war ein
Thema, das sie faszinierte. Als wir zu dem Mobil zurückkamen frage ich sie
eher beiläuig:
„Gehen wir noch zu mir und trinken einen Tee und runden den Nachmittag
ab?“.
„Aber ohne Rum, das passt nicht zu den Sommertagen“,
sagte sie vor sich hin ohne mich anzusehen.
Wenn eine Frau mit einem Mann zu ihm geht, ist die Entscheidung
schon gefallen. Das war mir augenblicklich klar. Zwar rechnete ich so ohne
Weiteres nicht damit, aber es überraschte mich auch nicht. Es war so ein
Gefühl. Ein Gefühl, das sie schon fühlte. Der Rest ist dann Routine. Als wir das
Zimmer betraten, ing ich gleich an den Tee zu zelebrieren.
„Mach’s dir’s auf der Couchs bequem. Leg etwas Musik auf.“
sagte ich ihr. Ganz selbstverständlich grif in den nächsten Stunden alles
ineinander. Wir tranken Tee, aßen etwas und hörten Musik. Es baute sich eine
dichte Atmosphäre auf. Man fühlte die Spannung, die zu lösen war.
109
„Zieh dich aus, ich möchte Deine Brustwarze spüren“.
„Mach doch“,
sagte sie. Wir ielen ineinander. Sie machte einen guten Sex, obwohl sie noch
etwas unerfahren war. Danach tranken wir noch Wein und es ging weiter.
„Es ist toll, lass ihn in mir, komm dabei hoch,“
sage sie. Dann war alles vorbei. Erschöpfung stellte sich ein. Es war mittlerweile
18 Uhr. Ich war noch mit der Brünetten verabredet, insofern war zu einem
Ende zu kommen.
„Komm am Freitag mit Dr. Auerbach zu meiner Lesung. Da lernst du die
Rundfunkleute kennen. Es lassen sich bei dieser Gelegenheit gut Kontakte
für ein Praktikum anbahnen. Ich rufe gleich den Dr. Auerbach an, ob er dich
mitnimmt.“
Sie schien davon gar nicht überrascht zu sein. Anscheinend begrif sie die
Zusammenhänge, ohne darauf zu sprechen zu kommen. Der Anruf mit Dr.
Auerbach war gleich erledigt. Er war bereit sich auf die Sache einzulassen.
Diesbezüglich konnte man sich auf ihn verlassen. Für den nächsten Tag verabredeten wir uns Mittags im Café Laumer. Der Fortgang der Geschichte war
vorgezeichnet. Auf dem Weg zur Brünetten schmeckte ich noch den Geruch
der Germanistin nach. Es war ein wirklich-unwirklicher Tag.
Der Freitagabend lief wie am Schnürchen. Die Brünette hatte mehr Kollegen eingeladen, als ich erwartete. Dr. Auerbach brachte die Germanistin
mit. Sie macht sich gleich nützlich und half beim Servieren. Das schien ihr gar
nichts auszumachen. Sie verhielt sich außerordentlich anstellig. Sie tat so, als
hätte sie mich noch nie gesehen. Ihr Verhalten war fast etwas unterwürig,
aber irgendwie einschmeichelnd. Sie sah absolut gut aus. Die Brünette nahm
keinen Anstoß daran, dass Dr. Auerbach noch eine Begleitung im Schlepptau
hatte. Das überraschte mich etwas. Gegen 20.30 Uhr begann die Lesung. Die
Brünette hatte die Sitzanordnung sehr geschickt arrangiert. Ich saß an einem
kleinen Tisch vor einem ofenen Fenster. Die Gedichte schrieb ich am Vormittag auf einzelne Blätter. Legte sie vor mich, faltete etwas die Hände und trug
die Verse frei vor ohne sie von den einzelnen Bögen abzulesen. Dabei variierte
ich sie. Nach zwanzig Minuten kam ich zum Ende. Verneigte mich leicht, um
das Ende zu signalisieren und zündete mir eine Zigarette an. Zuerst trat eine
Stille ein, dann klatschte man.
Dr. Auerbach zog zwei Seiten aus der Brusttasche seines Jacketts. Seine
kleine Ansprache war beeindruckend. Er begann mit einem Zitat von Versen
F. García Lorca:
110
„Sanfte Bücher mit Versen sind Sterne, die ziehen durch Stille und Schweigen im Reiche des Nichts und schreiben auf den Himmel ihre Strophen
aus Silber“.
Er sprach von„Sprachmagie“, dem„absoluten Blick“ und dem„Zusammenbruch
des Intellekts in der poetischen Konstruktion der Welt“. Er endete mit:
„Die Dichtung ist ein großes Märchen, das uns verzaubert.“
Auch das kam an. Dr. Auerbach konnte sehr anstellig sein, die Wörter schön
setzten und sie mit seinem Körperausdruck gelungen unterstreichen.
„Das wird eine gute Sendung“,
ließ sich der Boss des Hessischen Rundfunks hören. Er war mir im Gespräch
ganz zugetan, was mich etwas wunderte. Dann stellte er der Germanistin mit
Blicken nach und suchte das Gespräch mit ihr.
„Eine junge Germanistin. Da sollte sich etwas machen lassen. Das ist doch
eine gute Idee, rufen sie mich doch die Tage an“,
hörte ich ihn sagen. Vermutlich ging es um das Praktikum. Der Abend löste
sich in Wohlgefallen auf. Es wurde getrunken und man unterhielt sich gut.
Gegen Mitternacht waren die Gäste gegangen. Die Brünette war so rundum
zufrieden machte eine Flasche Schampus auf.
„Auf dich mein Schatz, Liebe vergeht. Der Schampus wird sie noch etwas
beleben“,
war ihre Rede beim Anstoßen.
Die nächsten Wochen im Juli-August rannten dahin. Mittags kam die
Germanistin. Da die Brünette im Rundfunk sehr engagiert war, sah ich sie
nicht oft an den Wochentagen. Die Germanistin überraschte mich durch ihre
Absicht, eine Eigentumswohnung im Westend zu kaufen. Eine Dachwohnung
in einem Neubau, in der man einen Kamin einbauen kann, mit einem kleinen
Blick auf die Dächer der Westendszene, kam ihr in den Sinn. Sie erbte von
einer verstorbenen Tante ein kleines Vermögen. Sie wusste gar nicht, wie ihr
geschah. Mit einer schönen Dachwohnung als Rückzug kann man besser
studieren. Das macht das Studentenleben etwas erträglicher.
Die Privilegien in diesem Zustand sind zwar ganz schön, eine kleine
Verantwortungslosigkeit, die man genießen sollte, aber so ganz ohne
etwas Komfort fehlt der Schutz der „Vorhölle“, wie es Camus darstellt. Sie
hatte gerade das kleine Buch Der Fall (1956) gelesen. Ein Buch von Camus,
das mir nicht so gut geiel. Es drängt sich bei Camus immer der Vergleich
111
zu Sartre auf. Dazu ist zu sagen, dass beide unterschiedliche Philosophien
haben. Camus hat schon 1945 kommuniziert, dass er kein Existenzialist im
Sinne Sartres ist. Davon sollte man ausgehen, sonst sind die Irrtümer nicht
mehr auszuräumen. Camus begann philosophisch mit Plotin und geht einen
anderen philosophischen Weg als Sartre. Wer das nicht erkennt, der kann Der
Fremde (1942) nicht angemessen lesen.
So wanderten wir tagsüber durchs Westende damit sie es besser kennen
lernte. Alles lief am Schnürchen. Die Germanistin fand über einen Makler
in der Schwindstr. im Westend eine gut geschnittene und recht große
Dachwohnung in einem Neubau, die sie kurzfristig beziehen konnte.
Die Gedichte mit dem Kommentar von Dr. Auerbach wurden gesendet. Er
konnte dadurch einen Kontakt zum Hessischen Rundfunk herstellen. Zeichen
und Wunder, die Germanisten schaltete sich gleich mit dem Boss in der Woche
nach der Lesung kurz und hatte ab Oktober ein Praktikum in Aussicht. Das
Ganze sprach sie an. Sie meinte, dass verdanke sie unabsichtlicher Weise mir
und alles grif gut ineinander. Sie sprach auch im Rundfunk mit der Brünetten,
die ihr Praktikum befürwortete. Ob sie das auch durchgewunken hätte, wenn
sie wüsste, dass wir es täglich treiben, war, nach dem alles unter Dach und
Fach, der erste Gedanke der Germanistin. Ich lies das auf sich beruhen und
lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Zudem bot Prof. Ralph-Rainer
Wuthenow der Germanistin eine Stelle als Hilfskraft am Germanistischen
Seminar an. Ihr Referat über Die verlorene Illusion beeindruckte ihn. Sie
hatte zu dem Thema Stadtliteratur noch einen Kontrapunkt gesetzt und
verglich den Roman mit der ganz anderen Beobachtereinstellung in Ernest
Hemingways Paris ein Fest fürs Leben (1965).
„Der Beobachter ist zu beobachten. Wie wär’s, wenn wir im September nach
Paris fahren“,
sagte sie.
Dr. Auerbach drängte mich, die Verse für eine Veröfentlichung
vorzubereiten. Er hatte gleich seinen kleinen Vortrag zu einem längeren Text
bearbeitet. Dabei gab er sich wirklich Mühe. Aber ich verlor an den Versen das
Interesse. Der kleine Erfolg machte mich gleichgültig. Normaler Weise würde
man das Gegenteil erwarten, aber ich hatte zu den Versen keinen mentalen
Zugang mehr. Irgendwie kam mir alles misslungen vor. Zudem war ich nicht
in der Lage eine Komposition zu entwerfen. Dr. Auerbach war zwar behillich
und ermutigte mich, aber es gelang mir keine zufriedenstellende Fassung
des Textes. Die Melodie der Verse ging mir verloren. Ich sang die Verse vor
mich hin und versuchte sie zu vertonen, aber es stellte sich für-mich keine
Ton-Bild-Vers-Sprache ein.
112
Fern steht das Tier
Es fällt der Blick auf eine Wunde
Es fallen lange Schatten in die Nacht
Nebel steigt empor
Er umfasst die Dinge zart
Das war nicht fortführbar. Es versetzte in Stimmungen, die, so sie die wie die
Farbzusammenstellung von Grün und Rot, einen bedrückten. Ich mochte mich
damit nicht mehr beschäftigen und schob das Projekt in eine unbestimmte
Zukunft.
„Wirklich schade, dass du dich nicht überwinden kannst. Es könnte ein wirklich schöner Band werden. Lass es halt im Unbewussten weiter wirken“,
tröstete Dr. Auerbach.
Die Beziehung zur Brünetten gestaltete sich aufällig problemlos.
„Wenn du Lust hast, mache es einfach mit mir. Ich bin zurzeit mit anderen
Dingen beschäftigt und kann mich anderen nicht so emotional Zuwenden.
Wir sehen uns in den nächsten Wochen nicht so oft, da können wir, wenn
du kommst, gleich Sex machen. Lass dich da von meinem Zustand nicht
irgendwie abschrecken. Wenn wir’s treiben, so tut mir das doch gut“,
so ihre Rede.
September 2009: Ein alter Freund rief an und überredete mich dazu, die im
Centre Georges Pompidou, Paris stattindende Ausstellung von 200 Fotos der
Surrealisten aus der heroischen Phase der 1920-30 Jahre zu besuchen.
Sie ist die Künstlergruppe, die sich für die Fotograie begeisterte. Für sie
funktioniert die Fotograie so wie das automatische Schreiben. Die Subversion
der Bilder bedeutete auch einen subversiven Umgang mit der Technik. Die
Fotograie ist ein Lieblingsspielzeug der Surrealisten. Man bringt zwei Dinge
zusammen, die nichts miteinander zu tun haben und wartet auf den Funken.
Keine schlechte ästhetische Einstellung. „Schule Deine Augen, indem du sie
schließt.“ André Breton.
Bei dem Aussteigen auf der Rückreise wurde wieder die Erinnerung an
den September 1977 ausgelöst. Bei dem Weg aus der Bahnhofshalle erlebte
ich die Rückkehr aus Paris mit der Germanistin. Die Brünette hatte gar
nichts dagegen als ich ihr mittelte, dass ich die Absicht hegte, ein paar Tage
nach Paris zu fahren. Ich sollte mich ruhig eine Woche absetzen. Sie sei im
September richtig zugepackt. Es war mit der Germanistin in Paris eine fast
etwas zu zwanglose Zeit. Alles ging so ineinander über. Vor allem war sie nicht
nur von den Bildersammlungen, sondern auch vom Lido beeindruckt. Als wir
113
nahezu an derselben Stelle die Frankfurter Bahnhofshalle verließen sagte sie:
„Jetzt geht’s in nächste Semester und darüber hinaus. Einen Doktortitel
möchte ich aber. Und dann vielleicht, sogar an den Funk. Grüß mir die
oder Deine, so etwas ähnliches, Brünette. Die wird dich etwas mit leicht
bestimmten Blick heute Abend empfangen. Schade, dass du ihr nicht sagen
darfst, dass wir beide einen, ja was, absoluten Trip nach Paris hinter uns
haben. Schlaf dich dann aus und wir sehen uns übermorgen. Hole dich
ab. Danach trefe ich meinen Chef für die Besprechung für das Praktikum
im Rundfunk. Küssen dürfen wir uns ja nicht vor dem Bahnhof, es könnte
rein zufällig ein unerwünschter Blick vorbeihuschen und morgen weiß es
halb Frankfurt.“
Ich ging dann noch ins Café Schwille und sah der Germanistin nach, als sie sich
auf den Weg zur Straßenbahn machte. Manchmal sah ich Frauen auch gerne
von hinten, wenn sie von einem weggingen. Am Gang erlebt man etwas von
ihrem Ausdruck, gerade dann, wenn man sie nicht in der Frontansicht auf einen
zukommen. Am frühen Abend hatte ich mich bei der Brünetten angekündigt.
Im Café Schwille fand ich Alfred Edel vor, der sich zwar in Gesellschaft befand,
sich mir aber schnell zuwandte. Er war ganz neugierig und ließ mich über die
Ausstellung erzählen. Er mochte sich wieder gelegentlich mit mir trefen und
austauschen. Wie nicht anders zu erwarten, sah er mich bereits tagsüber mit
der Germanistin und fragte mich aus. Das störte mich weiter nicht, und er kam
auf seine Kosten. Dann machte ich mich zur Brünetten auf. Es war kurz vor 17
Uhr als ich dort ankam und erwartete nicht, dass sie schon da war. Eine Stunde
zu mir Selbstkommen würde gut tun.
Als ich etwas abwesend den Schlüssel zur Wohnungstür herausholte, so als
hätte die Brünette es geahnt, öfnete sie die Tür und stand vor mir. Sie strahlte
mich an. So locker sah ich sie schon lange nicht mehr.
„Zurück von deinem Paristrip. Komm rein du alter Fremdgeher. Das traue
ich dir zu, aber da ich dich schön mit Arbeit eindecke, kommst du ja nicht
dazu“,
waren ihre Worte. Sie lachte.
„Also: Das Unwahrscheinliche ist eingetreten. Du wirst es nicht glauben.
Habe schon etwas für uns zum Essen angerichtet und Schampus kalt gestellt. Heute Abend wird angestoßen. Am kommenden Dienstag ist es soweit: Du darfst mich auf dem Bildschirm bewundern. Es wird vom Rundfunk
zum Fernsehen gewechselt. Jeden Abend um 21 Uhr. Bin ich nicht toll. Erzähle dir dann auch etwas darüber „Kabale und Liebe“ oder „Gott sei Dank,
dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“, obwohl die Geschichte
mit dem „Rumpelstilzchen“ nicht gut endete. Das beschreibt es ganz gut“,
so ihre Worte. Sie umarmte mich, und wir gingen den Schampus öfnen. Ich
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war wirklich sprachlos. Der Schampus wurde geöfnet. Die Brünette erzählte
und lachte.
„Bin ich nicht toll“,
sagte sie immer wieder. Das war wirklich nicht zu beschreiten.
Die nächsten Tage gingen ganz selbstverständlich ihren Gang. Am
Dienstag 21 Uhr war die Brünette auf dem Bildschirm. Man merkte ihr an, dass
sie sich dabei gut fühlte. Ich kam nicht umhin, an diesem Abend mit dabei
zu sein. Nach der Sendung gab es mit den Kollegen einen kleinen Umtrunk.
Der Boss des Hessischen Rundfunks gratulierte ihr etwas unterwürig. In
unserer Beziehung gab es eine Unstimmigkeit, die sich auch unter guten
Bedingungen nicht aulösen ließ. So endete unsere Kommunikation meistens
mit einer gewissen Distanz, die man auch dann noch spürte, wenn man
sich entgegenkam. Sie stand in der Mitte ihrer Kollegen und strahlte. Alle
fanden sie toll. Ich hielt mich mehr im Hintergrund. Mein Verhalten war eher
zurückhaltend, fast etwas indiferent. Das wurde aber nicht unangenehm
aufgenommen, sondern passte als kleiner Kontrapunkt in die gute Stimmung.
Auch die Germanistin war anwesend. Sie lirtete mit dem Boss und warf mir
zwischendurch Blicke zu. Das waren Blicke für Eingeweihte, die zugleich
Distanz signalisierten. Das machte sie wirklich gut. Als sie kurz demonstrativ
zu dem Boss sagte
„Bin gleich wieder da“,
folgte ich ihr in Richtung Toilette. In dem Gang davor wartete sie.
„Wir sehen uns aber morgen bei dir, bin um 15 Uhr da. Ist ja eine tolle Veranstaltung. Da bekomme ich viel Kontakte“,
sagte sie. Ich grif ihr an die Brust.
„Ich merk dich schon, also bis morgen, schwirre jetzt wieder zu den Anderen, damit nichts aufällt“,
war ihre Rede. Ich ging noch etwas in den Gängen umher und mischte mich
dann wieder unter die Anwesenden. Als ich wieder zurückkam, gesellte ich
mich mit einem Kollegen vom Funk zu dem Boss und der Germanistin für
einen Plausch. Der Boss war von der Germanistin völlig eingenommen. Als wir
zu den beiden traten, gab er sich gleich als einer, der das Füllhorn ausschüttet:
„Ja mein Lieber, deine Lesung war wirklich toll, wir hätten dir weiter zuhören können. Jetzt warten wir aber auf das Buch. Dichtung bedarf keiner
dicken Bücher. Da kommt es auf das Essenzielle an. Habe mir die Sendung
bei uns noch einmal angehört. Aber was sage ich da! Stoßen wir an. Denk
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an das Feature über die Szene in Frankfurt 1965. Cafés, Straßenbahnen, das
Café Alfa nicht vergessen. Da wird bei dir so einiges im Unbewussten gespeichert sein. Bau’ auch etwas von den Versen ein. Kontrastieren! Aber jetzt
auf deine Chein – so nannte er die Brünette gelegentlich – und unseren
jungen Nachwuchs – dabei sah er die Germanistin an“.
Er konnte in diesem Stil stundenlang reden. Ich fand das geschmacklos,
hohl, ein typisches Vorgesetztenschwadronieren, eine himmelschreiende
Geistlosigkeit und Selbstbeweihräucherung. Dazu kam noch der Gestus, der
die Gaben an seine Günstlinge verteilte. Es kam aber an und förderte die
Abhängigkeit. Er wusste zwar, dass mir das nicht imponierte, doch die Situation
war günstig, um sich mit seinem Redestrom uns gegenüber auszuleben. Vor
allem legte er es darauf an, die Germanistin zu beeindrucken. Ich habe ihn für
halbgebildet gehalten, aber da mochte ich ihn auch unterschätzen. Er hatte
auch seine argumentativen Stärken. Dazu gehörte es, Probleme autoritativ
auf einen Punkt zu bringen. Das bringt zwar Vereinseitigung mit sich, aber
verdeutlicht und bindet die Aufmerksamkeit. Das braucht sich auch nicht
dramatisch auszugestalten, wenn man auch wieder einen Schritt zurücktreten
kann. Mich störte weniger dieser Umstand, der situativ gar nicht zu vermeiden
ist, sondern der Gestus. Dann wandte er sich der Germanistin zu und legte
gleich weiter los:
„So, eine Germanistin bei unserem Ralph-Rainer Wuthenow. Montaigne ist
sein Liebling. Lese gerade ein Essay für uns von ihm über Rousseau. Ein
großes Essay ist. Einfach genial. Ein guter Freund. Ich spreche mal mit ihm.
Er braucht Talente. Beklagt sich darüber, dass sich die Seminaristen nicht
engagieren. Wir werden uns ja auch in den nächsten Monaten über den
Weg laufen, wenn sie bei uns sind. Wenn etwas ist, kommen sie einfach bei
mir vorbei. Gleich zum Chef gehen. Dann weiß man schon Bescheid. Also
keine Hemmung.“
Der neu einsetzende Redestrom wurde Gott sei dank dadurch unterbrochen,
dass die Brünette die Arme etwas reckend zu uns kam und aufbrechen mochte.
„Wir setzen uns jetzt ab. Morgen geht’s gleich weiter. Stoßt noch einmal an.“
So gesagt, getan. Es gab auch weiter keinen Widerstand, der auch zwecklos
gewesen wäre. Von außen wirkte es wohl so, dass mich die Brünette aulas.
Dem war schwer entgegenzuwirken. Mir machte das auch weiter nichts aus.
Sie sprach noch kurz wohlwollend ein paar Sätze mit der Germanistin, der
Boss war vor allem von ihr höchst eingenommen. Es wird wohl ein etwas
merkwürdiges Daherkommen gewesen sein, als die Brünette mich abholte.
Er mag so ausgesehen haben, als würde sie noch ein paar Zigaretten im
Tabakladen auf dem Weg zum Zug kaufen und wir beide zusammen kein Taxi
zum Westend nahmen, sondern einer zum Taxi mitgenommen wurde.
16. Oktober 2009
116
dIe entscheIdung
Mir kommt das Erleben ganz unwirklich vor. In der Erinnerung stellen sich
die Jahre 1977 und 1978 ein. Sie treten so wie aus einem Schleier hervor. Ein
verschleierte Bühne, die punktuell ausgeleuchtet wird. Der Scheinwerfer
richtet sich auf eine Stelle in diesem unbestimmten Bühnenraum. Es taucht
etwas auf, um dann wieder zu verschwinden. Die Beleuchtung kennzeichnet
eine unmarkierte Welt und etwas Bestimmtes tritt hervor. Eine Inszenierung
beginnt, ohne dass man sagen könnte, es gäbe dabei eine Regie. Da Erleben
kennt keinen Chef.
Alles rannte auf Weihnachten 1978 zu. Die Brünette war jetzt abends auf dem
Bildschirm. Sozusagen pausenlos. Das geiel ihr. Es iel etwas von ihr ab. Die
veränderte Situation hatte jedoch zur Folge, dass unser Alltag grundsätzlich
neu zu regeln war, da wir uns an den Wochentagen abends gar nicht mehr
sahen. Sie ing dann auch an, länger am Vormittag zu schlafen. Zuerst traten
keine merkbaren Einschnitte ein. Die Brünette wurde mir gegenüber etwas
betont großzügig. Im Oktober logen wir am Wochenende zweimal nach Rom.
„Kurzer Trip zum Tapetenwechsel“,
war jetzt ihre Orientierung. Gelegentlich lagen wir samstags tagsüber im Bett
und hörten Musik. Es war also genug Zeit mich mit der Germanistin zu trefen.
Zudem eigneten sich die Rundfunkarbeiten als gute Ausrede für meine
„Dates“, wie man damals sagte, während der Woche. Es galt der Marcel ProustSatz aus der Suche nach der verlorenen Zeit, mit dem Monsieur Charlus die
Telegramme von Saint-Loups gegenüber Gilberte kommentiere:
„Komme erst morgen, Lüge folgt gleich“.
Die Germanistin hatte sich in ihrer Eigentumswohnung schnell eingelebt,
ging ihren Studien nach, war studentische Hilfskraft und ing ihr Praktikum
an. Es fällt einem dabei der bekannte Thomas Mann-Satz auf dem JosephsRoman ein
„Ich gönne, wem ich gönne, sprach der Herr“.
Literatur war ohne Ende Tagesthema. Das wurde noch dadurch begünstigt,
dass ich mich mit der Germanistin und Dr. Auerbach öfter in der Woche traf. Er
war von dem Feature-Projekt ganz angetan und bot seine Unterstützung an.
Man wird es nicht glauben, ich ing wirklich mit dem Feature Frankfurt 1965
an. Dass ich gewaltige Widerstände zu überwinden hatte, lag nahe. Es war
117
durch den Tod meiner ersten Frau die schrecklichste Zeit in meinem Leben. Die
Germanistin und Dr. Auerbach wirkten dabei mit, das machte es erträglicher,
da Dr. Auerbach seine Zeitperspektive einbrachte und die Germanistin auf
Entdeckungsreise in die Vergangenheit ging. Sie konnte aus ihrer Sicht etwas
dazudichten. Wir hatten viel Spaß das Feature zu arrangieren. Tagsüber rief
ich die Brünette an und sagte ihr
„Bin mit Dr. Auerbach mit dem Feature zugange“.
Sie hatte damit kein Problem. Das war nicht gelogen, da ich mich mit Dr.
Auerbach am Abend bei der Germanistin traf und wir am Feature wirkten.
Das Ganze hatte aber, was für einen nicht Betrofenen ofensichtlich ist, mehr
als einen Schönheitsfehler. Die Brünette war auch so mit ihrer neuen Aufgabe
beschäftigt, dass es nicht viel dagegen einwand. Die Germanistin beeindruckte
das außerordentlich. Sie fand das alles toll. Gegen Mitternacht machte sich Dr.
Auerbach vom Acker. Er schifte sich dann auf dem Homosexuellenwackel in
der Anlage zwischen dem alten Opernhaus und dem Eschenheimer Turm ein.
Dort ging er auf Fang. Er brauchte jeden Tag ein anderes sexuelles Erlebnis.
Das hat er in den 1980er Jahren mit Aids bezahlt. Der Germanistin wurde
gegen Mitternacht noch einmal richtig wohl, warf noch einen auf den Kamin,
entkorkte eine Flasche Wein und „versinke lang“ war angesagt.
Die Tage von Oktober bis zum Jahresende grifen ineinander, ohne dass
irgendein Problem auftauchte. Die Brünette entschied an Weihnachten in
Frankfurt zu bleiben, die Germanistin fuhr zu ihren Eltern. Das Jahr 1977 löste
sich in Wohlgefallen auf. Aber der Geist der Veränderung arbeitete unter der
Erde. Er war unsichtbar, aber doch wirksam. Es war immer etwas los. Das
Verhalten der Brünetten hatte sich, neben ihrer Großzügigkeit, auch dahin
geändert, dass sie fortlaufend sprach. Vom Fernsehen, den Kollegen und
was ihr so durch den Kopf schoss. Sie war auch gegenüber dem Boss des
Hessischen Rundfunks positiv gestimmt. Sonst neigte sie zu einer ironischen
Distanz. Ich hörte mir das gelassen an. Es machte mir eigentlich nicht viel aus,
obwohl es mir auch zu viel wurde. Aber es gab dafür von der Brünetten genug
Kompensationen. Eigentlich konnte ich mich beklagen. Im Nachhinein kommt
es mir so vor, als ob man gelebt wurde, sich die Ereignisse aneinanderreihten,
ohne dass der Faden, an dem sie hingen für die Beteiligten sichtbar gewesen
wäre.
Ehe ich mich versah war Weihnachten 1977 vergangen. Die Brünette
mochte nicht vereisen. Wir blieben meistens in ihrer Wohnung, aßen und
tranken über die Massen, hörten Musik und gingen tagsüber eine Stunde
durch die Stadt ohne weitere Verabredungen zu trefen. Da Dr. Auerbach und
die Brünette mich in den Wochen davor zunehmend bearbeiten, einen Band
mit Versen zusammenzustellen, gab ich ihnen was ich so hatte. Sie stellten
118
einen kleinen Band mit einem Beitrag von Dr. Auerbach zusammen. Zwischen
den Jahren las die Brünette den Text noch einmal und schlug Verbesserungen
vor. Sie waren nicht so grundsätzlich, aber, wie nicht anders zu erwarten,
professionell und hilfreich. Dr. Auerbach gab sich außerordentlich viel Mühe,
die mich anrührte. Bei einem unserer Sitzungen interpretierte er mir die
Verse von Arthur Rimbaud Marin (Seestück). Dabei war er ganz verwandelt.
Er sprach über die Baudelaire und Rimbaud. Die Marin-Verse (Seestück) sind
die ersten freien Verse, die wir in der französischen Sprache kennen. Sie sind
aus dem Jahre 1872. Man glaubt es nicht, wie da gedichtet wurde. Ich sagte sie
mir immer wieder vor, im Französischen klingen sie noch anders:
„Seestück
Die silbernen und kupfernen Wagen –
Die stählernen und silbernen Buge –
Schlagen den Schaum, -Heben die Strünke der Dornen empor.
Die ströme der Heide,
Die unermesslichen Furchen der Ebbe
Ziehen kreisend gen Osten,
Hin zu den Pfeilern des Waldes,
Hin zu den Stämmen des Damms,
Den an der Kante die Lichtwirbel stoßen.“
„Martine
Les chars d’argent et de cuivre –
Les proues d’acier et d’argent –
Battent l’écume –
Soulèvent les souces des ronces.
Le courants de la lande,
Et les ornières immense du relux,
119
Filent circulairement vers l’est
Vers les piliers de la forèt,
Vers le fûts de la jetée,
Don’t l’angle et heurté par des tourbillons
de lumière.”
Dr. Auerbach rezitierte sie noch einmal ganz ruhig und langsam auf
Französisch. Plötzlich hielt er inne. Sein Gesicht wurde einen Augenblick
ganz ausdruckslos, so als sei er gar nicht anwesend. Es war ein paar Sekunden
ganz ruhig. Wir hörten nur in uns hinein. Dann bekam sein Gesicht wieder die
vertraute Lebendigkeit.
„Rimbauds „Je est un autre“ ist eine selbstreferenzielle Poetologie, die Negation des persönlichen Ich, durch die der Dichter zum Seher wird. Er handelt im höheren Auftrag, ohne von einer höheren Instanz ermächtigt zu
sein. Es ist eine, auch extatische, Selbstermächtigung der Einbildungskraft,
die in eine andere Welt verweist, die uns im Alltag verschlossen ist.
Es ist die Ermächtigung des Traums als eine neue Realität. Die Beschäftigung mit Träumen ist nicht etwas Besonderes. Das Rimbaud Problem ist
anders gelagert: Er schneidet uns das Sein im Diesseits ab. Aber es gibt
kein Jenseits, keine Transzendenz. Er führt uns zu dem Unbekannten, das
nur im Traum wirklich ist. Die Freiheit der Einbildungskraft bricht in eine
unlogische Poesie auf. Sie bricht in ihr zusammen.
Seine Schweigen, seine uns so fremde Biograie ist kein Rätsel. Du erinnerst
mich an Rimbaud. Es ist Deine Unruhe, die mich an ihn erinnert. Achte bei
den Versen auf die Einblendungstechnik. Sie verbindet die Dichtung mit
der Malerei.“
so sprach Dr. Auerbach noch weiter, bis sich seine kleine inspirierende
Darlegung in unser weiteres Gespräch aulöste. Die Germanistin holte noch
eine Flasche Weiswein. Sie wurde begutachtet. Wir kamen vom einen zum
anderen. Rimbaud rückte in den Hintergrund. Es war so, als sei nichts gewesen.
Mir waren die Verse mittlerweile ganz fremd geworden. Ich tat mich sehr
schwer, sie für eine größere Öfentlichkeit freizugeben. Das lag weniger
an einer Unzufriedenheit mit dem zustande gekommenen Text, sondern
das Desinteresse verstärkte sich zunehmend. Irgendwie führte mich etwas
davon weg, das nicht zu beschreiben war. Insofern gab ich die Sache aus der
Hand und überlies es der Brünetten und Dr. Auerbach den Text in die Welt zu
bringen. Meine Einlassung
120
„Es sollte ein Geheimbuch bleiben“
wurde von der Brünetten nicht ernst genommen. Sie sagte nur
„George! Abstrus!, Typisch! Komm zum Ende! Das wird Dein Unglück sein:
Unruhe und nicht zum Ende kommen. Du bist ein Verlorener. Du hast aber
einen Vorteil, bei dir kann man regredieren ohne sich zu verlieren. Das geht
nur bei Indiferenten. Aber wem sag ich das!“.
Die Brünette unterbrach sich, wandte sich einem anderen Thema zu und
lenkte dadurch ein. Sie sprach auch nicht so ganz ernst. Lachte dabei und
schenkte sich ein Glas Wein ein.
Ich selbst nahm die Rede auch nicht ernst, da sie vom Fortgang des Abends
keinen Weiteren Einluss hatte. Man ging dann zu einem anderen Thema
über. Was den Gedichtband betraf, so ließ ich sie gewähren. Ich war mit den
Gedanken bei meinen Zeichnungen, die mich aber auch nicht mehr innerlich
bewegten. Dr. Auerbach gab mir Empfehlungen aus der französischen
Literatur des 18. Jahrhundert mit der Bemerkung:
„Das kennt man hier nicht, das sind Fundgruben. Das wird dir gefallen. Das
Französisch hat eine Musikalität, die einen auf andere Gedanken kommen
lässt“.
Zu der Zeit war lesen eine gute Flucht, die mich ein Stück weit zu mir selbst
kommen ließ. In der Winterzeit bedarf es der guten Unterhaltung, die einem
über das fehlende Licht hinweg verhilft. Man fühlt sich oft so, als würde man
schrumpfen. In meinen Jahren ist aber die Unterhaltung eher selten. Man
muss sich selbst unterhalten. Dazu fehlen oft die Stimmung und der Antrieb.
Die Wochen strichen im Januar und Februar 1978 so dahin. Die Germanistin
war leißig und fand eine etwas übertriebene Anerkennung. Die Brünette
ging in ihrer neuen Position und Rolle auf. Mir kam es so vor, als bewegte sie
so etwas wie ein etwas schlechtes Gewissen mir gegenüber. Das zeigte sich
in ihrer Großzügigkeit. Es kam mir so vor, als beabsichtige sie damit, sich für
ihre spektakuläre Karriere zu entschuldigen. Dafür war zwar gar kein Anlass,
aber es schlichen sich kleine Unstimmigkeiten in die Beziehung ein. So erlebte
ich ihren Hang zum plötzlichen punktuellen ausbrechen aus ihrem Alltag als
Zwangshaft. Sei es, dass sie an freien Tagen nach Paris fahren mochte oder mir
etwas schenkte. Sie machten sich zwar nicht dramatisch bemerkbar, es stellte
sich irgendwie eine gefühlmäßige Dissonanz ein. Im Nachhinein kommt es
mir so vor, als lag es gar nicht so sehr an ihrem Verhalten, sondern dass mich
ihre Sexualität nicht mehr anzog. Das lag wiederum nicht an der Beziehung zu
der Germanistin, die zunehmend zu erotischen Forderungen neigte, sondern
ich verlor beiden gegenüber nicht nur ein sexuelles Interesse, sondern
mochte mich gar nicht in diese Richtung betätigen. Irgendwie wurde ich
121
von beiden weggetrieben. Daraus folgte aber in den kommenden Monaten
nicht, dass ich selbst an den Beziehungen etwas veränderte. Es stellte sich
eine Gleichgültigkeit ein. Ich ing an, mir selbst über die Schulter zu sehen. Es
wirkte im Unbewussten, ohne dass zugänglich gewesen wäre, was sich dort
vorbereitet. Nur die Intensität, von dem, was da geschah, war zu spüren. Es
versetzte mich in einen nicht begreifbaren Zustand von Fremdheiten.
Die Germanistin hatte wirklich eine glückliche Hand. Am Ende ihres
Semesters war sie stimmungsmäßig oben auf.
„Jetzt geht es vorwärts. Fange an zu planen. Mache erst mein Staatsexamen für die Schule und das Referendariat. Da bin ich auf der sicheren Seite.
Mein Professor hat mich schon für eine Doktorarbeit vorgesehen. Er meint
„Das kann nicht anders sein. Da kann ich gleich Kontakt halten. Auch im
Rundfunk komm’ ich an. Bin auch ganz anstellig. Lass aber keinen an mich
ran. Mit Sex kann man keine Karriere machen. Das sind Märchen. Du wirst
sehen, das wird klappen. Das verdank ich nur dir. Ich bin gar nicht eifersüchtig auf deine Brünette. Sollte man eigentlich sein. Aber wir haben ja beide
unsere Präferenzen. So wie es jetzt ist, gefällt es mir.“
Sie ing an, sich auf mich zu ixieren. Das passte mir, bei allem, was ich mit ihr
erleben durfte, nicht so. Ich ing an mich von ihr zu beansprucht zu fühlen.
Das Schreiben der Verse zog mich in den letzten Monaten in die Traumwelt
hinein. Die Einbildungskraft ging auf Reisen. Es waren die Farben, die Töne
und der Rhythmus der Verse, der mich ganz gefangen hielt. Die diktatorische
Einbildungskraft ing an, mich zu irritieren. Um den Zugang zum Tag zu
inden, nahm ich nach dem Aufstehen eine kalte Dusche. Das versetzte in
einen anderen Bewusstseinszustand. Ich kam erst dann zu mir, nachdem ich
die Brünette oder die Germanistin verlies, noch einmal in die Stadt ging, etwas
umherstreifte und mich dann in die Feuerbachstraße zurückzog. Dort hörte
ich etwas Musik und sah aus dem Fenster.
Im September 1977 nahm der Marokkaner wieder mit mir Kontakt auf. Sein
Hotel lief ausgesprochen zufriedenstellend. Er plante, ein weiteres Haus zu
eröfnen.
„Komm doch ein Jahr und helfe mir beim Management. Brauche jemand,
auf den ich mich verlassen kann. Das wird toll. Dein Französisch ist leidlich.
Es wird dich auch poetisch inspirieren“,
so das Angebot des Marokkaners. Mir kam das nicht ungelegen, da ich in
der Stimmung war, den Ort zu wechseln, um mich von den Beziehungen, in
denen ich mich bewegte, zu befreien. Aber mir fehlte die Entschiedenheit,
den Schritt zu tun. Es war keine Ängstlichkeit, für einige Zeit nach Agadir
zu gehen, es hätte mir andere Horizonte eröfnet. Mit dem Marokkaner
verband mich ein gegenseitiges Verständnis, das uns beide in Zuständen der
122
Niedergeschlagenheit wieder aufrichtete. Wir konnten zu zweit Dinge tun, die
wir als Einzelne nicht vermocht hätten.
Der Zustand, in dem ich mich befand, bannte mich jedoch. So sagte ich
dem Marokkaner zwar mehr oder weniger zu, verschob die Entscheidung
aber auf das kommende Jahr. Wir telefonierten regelmäßig, so war ich auf dem
Laufenden, aber ich war zu schwach, mich von Frankfurt und allem, was für
mich dazugehörte, loszureißen. Es hatte sich eine unsichtbare Abhängigkeit
an die Zuneigungen, die ich erlebte, eingestellt. Gegen sie konnte ich mich nur
schwer wehren. Ich ahnte aber, dass die Beziehungen zur Brünetten und der
Germanistin sich zu verändern begannen. Das war kein bestätigtes Wissen,
sondern ein Geschehen, das sich aus dem Umgang mit ihnen einstellte.
Dr. Auerbach arbeitete an seinem Rundfunkessay zu der Entdeckung
des französischen Blickwinkels, wie er es nannte. Es ging um die neue
Anthropologie des Plaisir und um die Unterscheidung zwischen Plaisir und
Amour. Darüber sprach er mit der Germanistin und mir an einem unserer
Abende.
„Es geht nicht mehr um das gute Leben. Plaisir hat, wie das Cartesianische
ego cogito, keine weiteren Kriterien. Es ist unbestreitbar und unmoralisch.
Es ist Selbstreferenz ohne eine weitere Bestimmung und besteht nur in
dem Erlebnisaugenblick. Nur durch Plaisir sind wir wirklich Menschen. Eine
neue Anthropologie, die den Aristoteles ablöst. Die Art de Plaire ist eine
neue Kunst des Umgangs, die dem Verhalten eine Deckung gibt. Insofern
kann man gar nicht damit aufhören: Plaisir ist reine Selbstgewissheit. Liebe
kann dann keine Dauer mehr haben. Was wird dann aus der Tugend?
Tugendhaftigkeit war keine Zier, wie in Lessings „Minna von Barnhelm“, einer Gegenbewegung gegen die französische Permissivität. Die Sexualität
wird durch den Übergang zur sozialen Beobachtung von ihrer religiösen
Überwachung befreit. Das macht es aber schwer, sie in Liebe und auch sozial einzufangen. Es bedarf dann der Freundschaft als Kompensationen. Die
Antwort darauf war die Victorianische Prüderie. In der Erregung wird die
Selbstgewissheit des Plaisir zu einem Unbestimmten X. Es wird zum reinen
Selbsterleben des Leibes von Mann und Frau. Sicher, das hat im Fortgang
durch die neue Kasernierung der Sexualität in der Ehe abgefangen zu werden. Plaisir, Sexualität und Gewissheit wird zum Inkommunikablen. Es wird
zu einer fortlaufenden Tilgung der Zeit, die kein Anfang und Ende hat. Was
wird aus der amour passion? Wird sie zur fortlaufenden Selbstentfremdung,
Eroberung und Selbstunterwerfung in der sie sich darstellt?“,
so die Ausführungen von Dr. Auerbach.
Er sprach dann noch über Individualität und Selbstreferenz, die einem
Nullpunkt entgegenstrebt. Einem Punkt, an dem die Magie anfängt und eine
Verzauberung des Augenblicks eintritt.
123
„Dann hört das Plaisir aber nicht auf, es sei denn Erschöpfung tritt ein. Eine
sich erschöpfende Selbstgewissheit, die nicht aufhören kann. Eine creatio
ex nihilo, eine Schöpfung aus sich selbst. Können wir uns darin selbst inden? Das wird so nicht eintreten, da das Plaisir zu keinem Ende kommt.
Kann das Plaisir sich selbst bewusst sein? Wir können uns doch gar nicht
in ihm erkennen, da es als Selbstgewissheit zeitlos und ohne Anfang und
Ende ist. Es bleibt nur der Sex. Sex ist endlich und erschöpft sich. Er ist zu
wiederholen. Sein Höhepunkt ist sein Ende. Die Selbstgewissheit darf aber
nicht aufhören“,
so die Germanistin.
Das beeindruckte Dr. Auerbach. Er lehnte sich etwas zurück und schwieg
einen Augenblick bevor er antwortete:
„Wenn wir anfangen, uns mit der Unterscheidung Plaisir/Nicht-Plaisir zu
beobachten, dann wird Plaisir verzeitlicht. Es besteht ein früher und später,
ein Anfang und Ende. Der Chorismos ist dann nicht mehr zu überbrücken,
auch nicht durch Amour. Es bedarf eines weiteren Ereignisses, um anzufangen, aufzuhören und fortzufahren. Die sexuelle Ausschweifung ist dann
der magische Nullpunkt, der immer wieder eintritt. Er ist eine Urgewalt der
Selbstschöpfung und Selbstzerstörung. Was sich dabei ereignet ist eine
Vergeblichkeit, die von sich nicht lassen kann. Ein wirkliches Dilemma. Es
bedarf dann der Ästhetik, um die Plaisir-Ereignisse erlebbar zu machen:
Plaisir wird in ein schönes Plaisir verwandelt. Ich kann es schwer fassen. Mir
fehlen die Wörter. Plaisir ist nicht kommunikabel. Das teilt es mit Descartes
ego cogito, der Gewissheit von der aus der Zugang zur Welt erfolgt.“
Dr. Auerbach wirkte plötzlich eher unsicher, so als wüsste er nicht weiter. Die
Germanistin half ihm aus der Verlegenheit, indem sie noch Wein und Gebäck
auftischte.
Von Dr. Auerbachs Rede, seiner Wortwahl und Gebärde war die Germanistin
beeindruckt. Mir war das von ihm geläuig, und ich konnte mich oft auf seine
Ausführungen nicht konzentrieren.
„Schade, dass der Dr. schwul ist, das wäre doch einmal eine Plaisir“,
sagte mir die Germanistin als wir zu zweit den Abend mit Brahms ausklingen
ließen.
„Brahms, Plaisir und zum guten Schluss noch etwas abkippen. So stelle ich
mir das Leben vor, aber der Rahmen sollte stimmen“,
kam über ihre Lippen.
Dr. Auerbachs kleine Plaisirvorlesung war ein Teil seines Essays, das er für
den Hessischen Rundfunk fertigstellte. Er war mittlerweile dort gut eingeführt
und man schätzte ihn. Auch die Brünette äußerte sich wohlwollend,
obwohl man es ihr schwer recht machen konnte. Sie lud ihn aber nicht zu
124
ihren Abenden ein. Darin hatte sie eine Unnachgiebigkeit, die oft schwer
nachzuvollziehen war. Es hing vermutlich damit zusammen, dass ihre Gäste
ganz auf sie selbst abzustimmen waren und sie sich keinen Irritationen
aussetzen mochte. Es ist schwer zu sagen, ob sich darin ihre Stabilität oder
eine Anfälligkeit für Irritationen ausdrückte. Wie es sich auch verhalten
mochte, ihre Kommunikation war sehr ausgewählt. Vermutlich verfolgte
sie damit auch ihre Interessen. Das schloss es wiederum nicht aus, dass sie
ganz unerwartete Einladungen aussprach. Nachdem sie regelmäßig auf
dem Bildschirm gegenwärtig war, verstärkten sich noch ihre persönlichen
Abgrenzungen. Sie hatte eine Art, Nähe und Distanz herzustellen, die einen
vereinnahmte.
Wie das so ist, der Zufall spielt mit. Dr. Auerbachs Essay stieß im Funk auf
Interesse. Das war Anlass ihn dazu zu motivieren, es an einem Abend vor
seiner Sendung bei der Brünetten vorzustellen.
„Ist doch eine Abwechslung. Wir laden noch Redakteure ein. Sehe die alten
Kollegen jetzt kaum noch. Bin auch nicht mehr in der Kantine. So verliert
man den Kontakt. In der Fernsehredaktion sind andere Typen. Die sind alle
auf die bewegten Bilder ixiert. Auf den Budenzauber der großen Rituale
unserer Republik, sei es die Tagesschau, die Sportschau am Wochenende
oder das Wort zum Sonntag. Das läuft zwangsläuig auf den Abbau von
Niveau hinaus. Ein akademisches Thema kann nicht schaden. Was meinst
du dazu?“.
Was sollte ich schon dagegen haben. Es klang auch nach einer rhetorischen
Frage. Mir geielen die Abende schon eine ganze Zeit nicht mehr, obwohl
ich gar keine Erklärung für das Unbehagen hatte, das sich bei mir einstellte.
Von Außen gesehen waren sie gelungen. Es wäre schwer gefallen, einen Anlass zu irgendwelchem Unbehagen auszumachen. Die Abende hatten einen
Unterhaltungswert und waren ein Kontrast zum Wochenablauf. Den Gästen
geielen sie besonders gut. Es war für sie eine Gelegenheit, unter sich zu sein.
Sie konnten sich zwanglos untereinander verhalten. So fühlten sie sich aufgehoben. Irgendwie konnte ich mich aber bei diesen Abenden nicht mehr
wiederinden. Sie limmerten an mir so wie ein Film vorbei. Es war alles nah
und doch unendlich fern. Wenn sich die Brünette etwas vornahm, so wurde
das zügig durchgeführt. Es war somit angesagt: Gesagt, getan. Die Brünette
sprach mehr Einladungen aus, als ich erwartete. Mir kam es so vor, dass sie
den Abend etwas aufzumischen beabsichtigte.
Nach 19.30 Uhr füllte sich das Wohnzimmer der Brünetten. Meine Rolle war
dabei, für den Service zuständig zu sein. Das war mir lieb. Da es mir beim
Weinlaschenöfnen und einschenken eine oberlächliche Konversation
erlaubte. Man befand sich dabei in einer Zwischenwelt, einem Da-zwischen.
Dr. Auerbach war gut in Form. Er endete seinen Vortrag mit einem Zitat:
125
„Between the idea
And the reality
Between the motion
And the act
Falls the Shadow”
(T. S. Eliot, The Hollow Men, verse V, line 31)”
und kommentierte:
“Plaisir ist jenseits aller Schatten. Überschreite die Linie. Sei bewusstlos
selbstbewusst!“
Vor allem der Boss des Hessischen Rundfunks war beeindruckt.
„Sie sollten mehr für uns schreiben“,
konnte man ihn durch das Zimmer hören. Er hatte sich neben die Germanistin
gesetzt und ging den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite.
„Bringe sie gerne nach Hause“,
sagte er ihr immer wieder. Die Brünette verstand es aber, dem vorzubeugen.
Gegen 23 Uhr wandte sie sich an mich:
„Bring doch unser germanistisches Talent nach Hause, es ist ja ein Katzensprung zu ihr“.
Das kam der Germanistin gelegen. Gesagt, getan, brach ich mit ihr auf. Dem
Boss des Hessischen Rundfunks war das gar nicht Recht. Er fasste sich aber
und ließ sich seinen Unmut darüber nicht anmerken.
„Wir sehen uns ja demnächst. Bin für sie da“,
verabschiedete er sich von ihr. Dr. Auerbach brachte zwar die Germanistin
mit, aber wie sie mir später mitteilte, hatte der Boss des Hessischen Rundfunks
sie mehrmals angerufen und sie zum Mitkommen durch Süßholzraspeln
geradezu gedrängt. Wir standen in einer warmen Sommernacht auf der
Straße und gingen Richtung Bockenheimer Landstraße.
„Großartig! Durch die nächtliche Stadt zu gehen tut gut. Jetzt vögeln wir
erst einmal bei mir. Oder möchtest du gleich wieder zu deiner Fernsehfrau?“.
Was sollte man dazu schon sagen.
Wir rechnen uns selbst Entscheidungen zu und bekommen unsere Taten
126
als Entscheidungen zugerechnet. Damit machen wir sie uns verständlich. Wir
erkennen uns in ihnen selbst. Aber wie kommt es zu diesen Entscheidungen.
Entscheidungen legen uns auf etwas fest. Es ist aber ein Rätsel, wie sie
zustande kommen und wie sie etwas bewirken. Wir sind darauf konditioniert,
dass eine Entscheidung eine Wahl zwischen Alternativen ist. Wer ist der
Beobachter, der uns Entscheidungen zuschreibt? Beobachten wir uns selbst
beim Entscheiden? Jede Entscheidung unterscheidet das Kontinuum der Zeit.
Sie unterscheidet zwischen Vergangenheit und Zukunft. Entscheidung setzt
voraus, dass Vergangenheit und Zukunft voneinander abweichen. Wäre das
nicht so, so gäbe es nichts zu entscheiden. Auch dieselben Entscheidungen
zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachten ZEIT. Aber um die Zeit zu
unterscheiden, bedarf es der Alternativen. Mit jeder Entscheidung beginnt
eine neue Geschichte, die wir in ihrem Fortgang nicht kennen. Auf sie
lassen wir uns mit der Entscheidung ein. Es beginnt damit zugleich die
Unbestimmtheit der Zukunft. Man hält an seinen Entscheidungen fest oder
ändert sie. Insofern gibt es nicht nur eine einzige Entscheidung, sondern ein
fortlaufendes Entscheiden. Die Frage drängt sich wieder auf:
Wer ist der Beobachter der Entscheidung?
Wir neigen dazu, vom Inhalt der Entscheidung her zu denken. Wir
schreiben sie uns selbst zu und bekommen sie zugeschrieben. Das ist eine
Illusion. Die Unterscheidung der Zeit ist der Beobachter. Nur dadurch haben
wir die Gegenwart von Etwas, das wir uns in der Zeit immer wieder zu
vergegenwärtigen haben.
Der Zustand, in dem ich mich seit Mai 1978 befand, war mit dem Goethes
vor seiner ersten Italienischen Reise zu vergleichen. Es war ein Zustand des
nach allen Seiten hingezogen seins. Er hatte etwas haltloses, obwohl dieses
Beinden nicht von Außen zu erkennen war. Ich erlebte mich hin und her
bewegt, sei es von der Brünetten, der Germanistin oder den Freunden. Der
Zustand drängte nach einer Veränderung, einer Entscheidung. Aber ich
wusste nicht wohin und was zu verändern sei? Das Beinden, in dem ich mich
befand, war nicht unangenehm, es hatte auch nicht etwas Quälendes, sondern
es stellten sich ohne einen besonderen Anlass plötzlich Fremdheiten zu mir
selbst ein. Es stellten sich Unterbrechungen der unmittelbaren Vertrautheit
mit dem Selbsterleben ein. Es war ein Zustand der Überwirklichkeit, so wie ein
Traum, durch den etwas taumelt. Es war ein Zustand von einsam und fern sein.
So etwas wie der absolute Blick. Ein Sehen, das Nichts sieht. Das ist etwas, das
sich kaum durch Beeinlussungen von Außen beseitigen lässt. Der dadurch
eintretende Zustand mag durch Sex, Alkohol oder Drogen überspielbar sein,
aber das ist eine Selbsttäuschung. Er stellte sich in kürzeren Abständen wieder
ein.
Die Entscheidung war schon längst gefallen, bevor ich den Entschluss
127
fasste, nach Agadir zu gehen. Selbst der Marokkaner war überrascht, dass ich
ihm plötzlich zusagte. Er war darüber höchst erfreut, zumal im seine beiden
Hotels aningen, ihm über den Kopf zu wachsen. Dr. Auerbach weihte ich in
die Absicht ein, Frankfurt zu verlassen. Er war vertrauenswürdig und würde
es für sich behalten. So ganz war er davon nicht überzeugt. Er sah mich an,
bewegte den Kopf hin und her, verzog etwas das Gesicht als mochte er sagen
„Das wird vieles, wenn nicht alles ändern“. Er enthielt sich aber eines weiteren
Kommentars und bemerkte nur:
„Ich weiß nicht, was dich so bewegt, entscheide nichts voreilig. Ansonsten
kannst du dich auf mich verlassen.“
Als ich der Brünetten Anfang Juni meine Entscheidung mitteilte, reagierte sie
gelassen. Es war etwas zu gelassen.
„Das ist doch eine gute Idee. Eine Auszeit wird dir gut tun. Da siehst du, wie
privilegiert du bist. Ich kann das gut nachvollziehen. Mir ist immer auch einmal danach. Tapetenwechsel kann doch nicht schaden. Bin ab September
zudem voll zugepackt. Jede Veränderung ist eine Chance. Überweise dir
noch etwas auf dein Konto, damit du dich nicht einzuschränken brauchst.
Machen wir uns einen guten Sommer.“ Man wird es nicht glauben, die
Sommermonate 1978 mit der Brünetten waren wirklich gelungen.
Wir hörten viel Musik, fuhren ins Umland und hatten viel Spaß. Die
Germanistin reagierte nicht so gelassen. Sie schaute mich entsetzt
an.
„Das ist das Ende. Was willst du denn dort. Bleib doch hier. Mich stört deine
Fernsehfrau nicht. Ich bin auch nicht eifersüchtig. Hauptsache du bist da“,
sagte sie. Ihre ganze Sicherheit brach zusammen. Die Zeit mit der Germanistin
war danach eine Belastung. Sie versuchte mich von meiner Absicht
abzubringen, indem sie mir alle möglichen Zugeständnisse machte. Sie
versuchte es vor allem durch Dauersex. Wenn wir uns trafen, sagte sie:
„Komm lass es uns zusammen machen“.
Der Sex mit ihr konnte sich schon sehen lassen, aber das brachte mich nicht
von der Entscheidung ab. Es war so, als ob sie sich ereignete. Im August fuhr die
Germanistin zu ihren Eltern und ich sah sie bis zu meinem Ablug nicht mehr.
Am 1. September 1978 folg ich ohne viel Gepäck und ohne Bücher nach Agadir.
5. Januar 2010
128
ende Vom lIed
Am 9. März 2010 wurde Ornette Coleman 80 Jahre alt. Sein Jazz wird zum
Sound. Die Noten und Melodie treten zurück. Man berichtet, dass er bei
seinen Auftritten gar nichts Antiquiertes hat. Er tritt auf und spielt. Dabei ist
er einfach gegenwärtig. Den ganzen Tag hörte ich seinen Jazz. Es versetzte
in einen schwebenden Zustand. Er war nicht greifbar. Er löste ein Rauschen
aus. Es hörte sich so wie ein Flugzeugmotor an. Es stellte sich ein Zustand
ein, in dem etwas nachklang. Es limmerte vor den Augen. Bilder traten ein: 1.
September 1979 auf dem Flug nach Agadir.
Mir war die Zeit gar nicht mehr gegenwärtig. Jetzt spürte ich sie. Sie
war fremd und nah. Es war ein schwebender Zustand. Der Marokkaner
war ganz außer sich, als er mich am Flugplatz abholte. Es hat etwas schwer
nachvollziehbares, aber die Zeit in Agadir verging, so wie im Flug. Der
Aufenthalt iel länger aus als beabsichtigt. Erst im Oktober 1979 kam ich
wieder nach Frankfurt zurück. Am nächsten Tag nach der Ankunft in Agadir
ing ich gleich mit dem Dienst im Hotel an. Meine Zuständigkeit war von 13 –
18 Uhr die Rezeption und am Abend bis in die Nacht die Bar des Hotels. Zwar
waren keine Bücher im Reisegepäck, aber einen Stapel von Jazzplatten. In der
Bar wurden sie als Hintergrundgestaltung aufgelegt. Das hatte einen ganz
unerwarteten Erfolg: Jazz in Agadir. Eine meiner Zusammenstellung war:
Benny Goodman: Clarinet a la King, 1941 (komponiert von Eddie Sauter)
Stan Brenders: Opus 13, 1943 (Brüssel)
Dizzy Gillespie: Rays Idea, 1946
Telomonius Monk: Around Midnight 1947
Charlie Parker with Strings, 1950
Gil Evans, Miles Davis: Birth of the Cool 1953/57
Kurt Edelhagen: Easy in Love, 1954
Wes Montgomery: Full House, 1962
Max Greger: Take the A-Train, 1965
Combo
Lester Young: You’ re Driving me Crazy, 1946
Charly Parker & Dizzy Gillespie: A Night in Tunesia, 1946
Lennie Tristano & Lee Konitz: Progression, 1949
Hans Koller: Kollers Idea, 1954
Barney Willem: All the Things You Are,1959
Ende der 1970er Jahre war der islamische Fundamentalismus noch nicht
in Erscheinung getreten. Man glaubt es nicht, in den 1950er und 1960er
Jahren waren die arabischen Emirate Hochburgen des Jazz. Erst das
129
Aufeinandertrefen von Jazzer und Publikum bringt den Sound hervor. CoolJazz war eine Gegenwelt der 1950er Jahre. Cool bedeutet dabei nicht „cool“.
Es ist eine Rückwendung nach Innen. Lenni Tristano (Klavier) gehörte zu einer
meinen Lieblings-Cool-Jazzer. Naheliegender Weise gehörte aus deutscher
Perspektive Hans Koller mit dazu. Im Jahre 2005 bekam ich von einem Freund
zwei Koller-CDs: The Musican of the Year 1955 und Out on the Rim 1991. Wenn
Koller im Frankfurter Jazzkeller und im Story Ville spielte, versäumte ich keine
Veranstaltung. Der Cool-Jazz komponiert mit den gleichen Grundsätzen, wie
der amerikanische Abstrakte Expressionismus. Das Zentrum des Cool-Jazz
ist das Solo. Paris war in Europa in den 1950 - 60er Jahren das Jazzzentrum.
In Frankreich wurden die schwarzen Jazzer in den 1920er Jahren akzeptiert.
Daran konnte angeschlossen werden. Aber auch Frankfurt spielte eine Rolle.
Das wurde dadurch begünstigt, da in Frankfurt und in Wiesbaden CI stationiert
waren. Nächtelang wurde Jazz gehört. Man wurde dadurch zum Aussteiger.
Am Fenster stehend sah man auf die nächtliche Stadt. Rauchte, trank etwas,
sann vor sich hin. War in einem schwebenden Zustand. Die Freundin lag schon
im Bett. Fern hörte man sie:
„Wann kommst du denn endlich!“.
Nach diesem ganz unerwarteten Erfolg rief ich Dr. Auerbach an, dass er mir
meine ganze Sammlung Jazzplatten gut verpackt nach Agadir schickt. Es war
eine umfangreiche Sammlung mit Platten aus den 1950er Jahren. Sie sollten
in Agadir bleiben. Wenn man sich von etwas trennt, an dem man sehr hängt,
erlebt man oft ein Gefühl der Erleichterung. Es tritt in eine Verklärung ein, man
verwandelt sich und es wächst einem etwas zu. Es wird verinnerlicht und so
Teil von einem selbst.
Von der Rezeption und der Bar aus befand man sich in einem günstigen
Beobachtungsblickwinkel. Es hatte etwas Surrealistisches. Man nahm
eine feste Position ein, an der alles vorbei loss. Gestalten tauchen auf und
verschwinden. Sie werden in einem Übergangsstadium wahrgenommen. Es
war ein kommen und gehen an dem man teilnahm, ohne beteiligt zu sein.
Insgesamt kein schlechter Zustand. Vormittags rauchte ich etwas Marihuana
und war am Strand südlich von Agadir. Schon nach ein paar Tagen stellte es
sich ein, dass die Frankfurter Zustände zurückwichen. Sie traten in die Ferne.
Es war so, als würden diese Zustände von mir abfallen. Die Germanistin und
die Brünette kannten nicht meine Adresse. Ich hatte auch nicht vor, mit ihnen
in Kontakt zu treten. Es war aus ihrem Leben herauszutreten. Nur Dr. Auerbach
konnte mich erreichen.
Je größer die Distanz zu den Frankfurter Zuständen wurde, umso mehr
kam ich zu mir. Ein merkwürdiger Zustand, das Zu-sich-selbst-kommen. Man
kann es gar nicht beschreiben. Es ist so wie ein Eindruck, eine Empindung von
130
sich, die keine Anschauung von etwas ist. Es war ein vernehmen von sich. Man
spürt den Atem und steht still. Es spricht sich einem etwas zu, das sich zugleich
entzieht. Ein Erleben ohne Innen- und Außengrenze und zugleich ein Zustand
des In-der-Welt-seins. Wohldosierte Mengen von Marihuana können bei der
Reise behillich sein. Man tritt in die Traumwelten ein. Man sieht Gestalten. Der
Übergang zwischen Traum und Wachzustand wird ließend.
Mit Gedichten verhält es sich so, wie mit dem Kunstlied. Es gibt nichts
Schwierigeres. Es setzt einen entsprechend gebildeten Leser voraus.
Die lyrische Einbildungskraft hat geschult zu sein. Man merkt sofort die
Unebenheiten. Der Lyrikleser ist unnachgiebig und verzeiht keinen Fehlgrif.
Dr. Auerbach schickte mir an Weihnachten den Gedichtband. Er hatte seine
Einleitung noch einmal bearbeitet und verbessert. Er schrieb über
„das Erlebnis des Augenblick der Erschütterung“,
durch das
„die Cartesianische Selbstvergewisserung“
verschwindet. Eine „Erschütterung“, die sich in der Dekomposition der
Dichtung aus.
„Beim Lesen des Gedichts treten Gestalten auf. Sie haben eine eigene
Melodie. Die Cartesianische ego cogito implodiert. War es überhaupt da?“
Es stellte sich bei mir eine Irritation ein, aber ich las weiter:
„In der Dichtung spricht sich etwas Überpersönliches aus. Wir dürfen sie
nicht vom individuellen Autor aus verstehen. Liegt hier nicht ein Vergleich
mit den anonymen Baumeister der gotischen Kathedralen nahe? Es spricht
sich etwas Ungegenständliches aus: Der absolute Blick, das Selbstsein, dem
wir nur Innewerden können. Ist das eine Epiphanie? Sind es die Moments of
Being (Virgina Woolf )? Es entzieht sich uns in seinen Gestalten.
Insofern hat sich der Autor zu entpersonalisieren. Er darf sich nicht mehr
als Urheber verstehen. Es kommt dann auf die Stimmung an. Sie ist der
Wegweiser. Ein Zustand, den wir nicht als idiosynkratisch deuten dürfen.
Philosophie ist zugleich Poesie, Sprachmagie. Sie bedarf dazu einer anderen Ausdruckweise. Fängt sie an zu singen? Der Dichter sollte auch Tonsetzer sein.“
Der Brief endete mit:
„Die Weltliteratur ist eine große Baustelle. Wir schneiden aus den Texten
Passagen heraus und verwenden sie als Zitat. Das könnte eine andere neue
Kreativität sein. Der überlieferte Stilbegrif ist veraltet.“
131
Dann kam ein Absatz und als Schluss war zu lesen:
„Ich rauche, trinke, bin high, treibe mich nachts in der Innenstadt herum
und arbeite an den Texten. Lebe wie der junge Mark Twain zwischen Sicherheit und Gefahr, aber in der Mitte des Stroms.“
Ich las den Text ruhig durch. Lies ihn auf mich wirken, aber mochte nicht darüber nachdenken. Es war die romantische „Sympoesie“ („Symphilosophie“)
der Jenaer Romantiker mit der es mir schwer iel umzugehen. Irgendetwas
sperrte sich in mir. Eingestehen möchte ich aber, dass ich unterstellte, dass
auch die Brünette dabei mitwirkte (?!). Legte den Brief zur Seite und nahm
mir vor, ihn in den nächsten Tagen noch einmal durchzulesen. Dann könnte
der Zugang ein anderer sein. So würde ich ihm am Besten gerecht werden.
Der Rücklug von Agadir nach Frankfurt war mir kaum bewusst. Auf einmal
befand ich wieder auf dem Frankfurter Flugplatz. Mit Dr. Auerbach telefonierte
ich an Weihnachten 1978, an Ostern 1979 und kurz vor dem Rücklug am 15.
September 1979. Er holte mich vom Flugplatz ab. Als ich ihm gegenüberstand
war ich doch etwas überrascht. Er wirkte äußerst gediegen, trug eine Brille
und hatte einen eleganten Anzug an. Irgendwie war ich doch gerührt, ihn
wieder zu sehen und Frankfurt zu spüren, obwohl es mir fern war. Es ist ein
schwer ausdrückbares Gefühl, wenn man Orten und Personen ganz fern
und doch irgendwie nahe ist. Alles ist vertraut und doch fremd. Es ist so, als
erlebe man das Fremde in sich, obwohl man sich an Orten und in Zeiten in
der Außenwelt bewegt.
„Bin mit dem Auto da, wir fahren jetzt ins Nordend und gehen dort etwas
essen. Dann bring ich dich nach hause und am Abend sind wir im Schwarzen Bock in Wiesbaden. Lass dich ansehen, bist du es wirklich. Du warst
lange weg. Es gibt viele Neuigkeiten“,
war die Begrüßung von Dr. Auerbach. Er nahm meinen Kofer, und wir
machten uns auf. Dr. Auerbach machte etwas her. Beim Chauieren wirkte er
ganz autoritativ. Er war dabei konzentriert und gleichzeitig sehr entspannt. An
Neuigkeiten war ich nicht interessiert, da sie meine Einbildungskraft störten.
Unsere Kommunikation war so eingespielt, dass sich das auf Dr. Auerbach
übertrug und er sie nicht ansprach. „Sie haben Zeit“, dachte ich. Es ist ein guter
Anschnitt, wenn man sich ihnen aus er Distanz annähert und nicht von ihnen
überfallen wird. Das macht den Umgang mit ihnen etwas leichter. Zudem
konnte man sich das eine oder andere auch denken.
Der Tag und die Tage danach verliefen ganz reibungslos. Am Abend waren
wir mit einem Lover von Dr. Auerbach in Wiesbaden. Es war eine lustige
Runde mit vielen literarischen Späßen und Anspielungen. Sie mochten
viel von meinen Erlebnissen in Agadir hören. Zwar hatte ich kein großes
132
Mitteilungsbedürfnis, aber ich erzählte das eine oder andere. Die Tage danach
hielt ich mich in der Feuerbachstraße auf und verlies nur am späten Abend
das Zimmer, um etwas herumzustreuen. Dabei vermied ich es in Lokale
zu gehen, in denen ich Bekannte hätte trefen können. Dr. Auerbach hatte
mir Lektoratsarbeiten besorgt, die ich in den Wochen danach durchführte.
Irgendwie war mir Frankfurt fremd geworden. Es war sich erneut zurecht
zu inden. Ich vermied es auch in den Hessischen Rundfunk zu gehen und
erledigte das dort für mich anfallende über das Telefon. Im Oktober schlug
Dr. Auerbach vor, vierzehn Tage nach Paris zu fahren. Dort hatte er eine
Beziehung und man konnte sich in einer größeren Wohnung aufhalten. Da
das Wetter gut war, machten wir uns auf. Wir besuchten ausgiebig Galerien
und beschäftigen uns mit Bildern. Tagsüber war man draußen in Cafés. Wir
ließen die Atmosphäre und ihre Stimmungen auf uns wirken. Aber auch das
lies mich leer. Dr. Auerbach machte sich richtig Sorgen. Er schlug vor, dass
ich zu einem Freund von ihm nach Rom fahren sollte. Dr. Auerbach hatte, so
konnte es einem vorkommen, in ganz Europa irgendwelche Beziehungen,
Liebhaber, Freunde und „Freunde von Freunden“ von Liebhabern. Zudem war
er ein leidenschaftlicher Telefonierer. Etwas, das mir ganz abging. So konnte er
vermitteln, jemanden gefällig sein oder einen Kontakt herstellen.
Nachdem wir aus Paris zurück waren, reiste ich noch Anfang November
nach Rom. Rom hat mir immer gut getan. Das Erleben wurde leichter. An
der spanischen Treppe gab es damals eine verdeckte Prostitution. Es waren
junge Italienerinnen, die sich etwas dazu verdienen mochten. Sie machten
einen ganz guten Sex und wären am liebsten geheiratet worden. Aber auch
diese Erlebnisse gaben mir keinen Halt. Rom ist ein großes Museum, in der
man immer wieder etwas Bewunderungswürdiges indet. Das Interesse an
Architektur wurde geweckt. Sie inspirierte zum Zeichnen. Die Dichtung war
ganz in die Ferne gerückt. Zwar hatte ich eine Auswahl von Gedichten von
Rudolf Borchardt dabei, lass aber nur gelegentlich in ihm. Dass gerade dieser
Band eingepackt wurde, war wohl durch ein unbewusstes Motiv zu erklären:
Alle Heimatlosen überbewerten die Heimat.
Die Zeit in Rom wurde haltlos. Im Januar 1980 ging ich fast jeden Tag zu
einer anderen italienischen Prostituierten. Es war wie ein Zwang, eine Sucht,
eine Selbstvergessenheit, die nicht aufhören wollte: Es war als würde in ein
mystisches Geschehen eingetaucht, das einen plötzlich zurück lässt. Man
steht auf der Straße, geht noch einen süßen Espresso und etwas Wein trinken,
beindet sich wieder in einem Zimmer. Es ist Tag oder Nacht. Die Geräusche
der Stadt umgreifen einen. Alles ist anders und doch so, wie es jeden Tag, jede
Nacht, jede Minute war. Ein Gedicht Borchardts kommt dem Zustand nahe:
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„Pause
Hinter den tiefsten Erinnerungen
Verwächst die Zeit;
Die alten Wege waren frei und breit,
Nun hat die Welt sie überdrungen.
O Rauschen tief in mir,
Was aber hast du, das ich gerne hörte?
Ist denn ein Ton in dir,
Der mich nicht stört?“
„Ich habe nichts als Rauschen,
Kein Deutliches erwarte dir,
Sei dir am Schmerz genug, in dich zu lauschen.“
Suche nach Worten für den Ausdruck von Zuständen, die der Regularitäten
des Alltags und ihrer Berechnung entgegenstehen. Die Zeit war verlossen,
wie man sagt. Der Zustand war so, wie ein Schweben, aber ohne Halt.
Im Februar 1980 fuhr ich nach einem kurzen Aufenthalt in Mailand und
Venedig wieder nach Frankfurt zurück. Mit Dr. Auerbach telefonierte ich noch
am Abend von Mailand aus, dass wir uns am anderen Tag nachmittags trefen.
Der Nachtzug war schon gegen 6.30 Uhr in Frankfurt und ich war in ein paar
Minuten wieder in der Feuerbachstraße. Ein paar Stunden Besinnung taten
gut, um sich wieder an einem anderen Ort zu recht zu inden.
Nachmittags traf ich mich mit Dr. Auerbach in dem Apfelweinlokal„Wagner“
in Sachsenhausen. Das war ein wohltuender Kontrast zur Romszene. Die
letzten Monate nachdem ich wieder aus Agadir zurückkam verschloss ich mich
gegenüber dem Mitteilungsbedürfnis von Dr. Auerbach, was die Neuigkeiten
in unserem sozialen Kreis betraf. Es ist die eine etwas befremdliche Fähigkeit
zu vergessen und Vergangenes zu löschen, das ich bei mir als etwas Fremdes
erlebte. Es stellte sich ein und trug einen fort. Diesmal mochte ich mich aber
dem Mitteilungsbedürfnis von Dr. Auerbach nicht verschließen, zumal er
außerordentlich gut gestimmt war und er sich über meine Rückkehr freute.
Er konnte dann sehr charmant und auch unterhaltend komisch sein. Was die
Neuigkeiten betraf, so stellte ich sie erst einmal zurück und lies mir über das
laufende Theater- und die Opern berichten. Aber dann war es doch nicht
134
mehr aufzuschieben. Es brach fast etwas aus Dr. Auerbach heraus:
„Deine Brünette wird im Mai den Boss des Hessischen Rundfunks heiraten.
Man hat mich eingeladen. Wir waren völlig überrascht, aber es ist amtlich.
Aber es kommt noch toller. Deine Germanistin bekommt ein Kind von
einem Dozenten an der Musikhochschule. Sie wird also bald den Kinderwagen schieben. Wer hätte mit so etwas gerechnet. Sie haben mich nach
deiner Adresse gefragt, aber ich durfte ja nichts sagen. Vermutlich haben
sie es mir nicht so ganz abgenommen. Du bist jetzt vermutlich überrascht
und dir fehlen erst einmal die Worte. Aber irgend so etwas ist jetzt wiederum auch nicht so ganz ungewöhnlich. Hatte so etwas schon vermutet. So
ganz wundern wird es dich dann doch nicht.“
Mir sagten die Neuigkeiten, die mir eröfnet wurden, gar nichts. Es war so
als würde von etwas gesprochen, zudem gar kein Zugang bestand. Es stellte
sich weder Überraschung noch Verwunderung ein. Es war von mir entfernt.
Insofern iel mir dazu auch gar nicht ein. Mag sein, dass ich etwas verlegen
wirkte, da ich bei der Mitteilung Apfelwein trank. Es war eine Leere in mir,
so dass meinen Wörtern die innere Anteilnahme fehlte. Dadurch wirkten sie
zwangsläuig etwas unglaubwürdig und gekünstelt. Über die Lippen kam
eine karge Äußerung:
„Das ist doch für beide eine gute Lösung. So haben sie den äußeren Halt,
den sie benötigen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Mir ist auch gar nicht
danach mit den beiden Kontakt aufzunehmen, obwohl wir doch alle eine
gute Zeit hatten. Durch ihre neuen Beziehungen beinden sie sich in einem
sozialen Zusammenhang und treiben nicht dahin. Da kann man den Halt
verlieren und wird sich, ohne dass man das möchte, fremd. Wir können
nicht in die Vergangenheit zurück. Es bleibt dann nur die Sentimentalität
über das Gestern zurück.“
Da Dr. Auerbach keine getrübte Stimmung aufkommen lassen mochte, deckte
er über diesen Graben ein Brett zum hinübergehen:
„Du wirst schon etwas anderes inden. Wir leben ja nicht in der Wildnis. Hier
bracht man nicht lange ohne Sex zu sein. Tempi passati.“
Das war wohl auch so. Dr. Auerbach hatte Situation in die richtige Bahn
gelenkt.
Das Frühjahr 1980 lies sich gut an. Es war fast sommerlich warm. Man
konnte nach draußen gehen. Dr. Auerbach hatte einen neuen Freundeskreis.
Das war durchaus wohltuend, da man viel am Abend unterwegs war. Er
schleppte mich in Vorträge, ins Theater und zu Konzerten. Das alles kam
mir ganz gelegen, da es ablenkte. Dass es mit der Brünetten noch nicht zu
ende war, spürte ich. Absichtlich vermied ich die Orte, an denen ich ihr hätte
begegnen können. Vormittags blieb ich meistens im Bett liegen und sann
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vor mich hin. Die Gedanken mochten sich aber nicht ordnen und waren nicht
fassbar. Sie waren in einem Fluss. Auch lagen mir weitere Projekte fern.
Es war Anfang Mai vormittags. Ich war schon etwas früher aufgestanden
und lass in Ezra Pound Cantos 1917-1966 (canto lat. ich singe). Es sind CXVI
Gesänge, so 800 Seiten. Eine Auswahl ist 1966 bei dtv Deutscher Taschenbuch
Verlag erschienen. Sie wurde von Eva Hesse übersetzt. Die Übersetzung ist
sehr gelungen, obwohl der englische Text einfacher ist. Dr. Auerbach schenkte
ihn mir 1966 als wir mit unserem damaligen Freundeskreis in die Frankfurter
Oper gingen. Man liest den Text sein ganzes Leben. Oft legt man ihn zur
Seite. Es fehlt nicht nur die Stimmung, sondern auch das Verständnis. Der
Text verschließt sich. Es mag sein, dass man nicht mehr zu ihm zurück indet.
Seit den 1970er Jahren gab ich der englischen Version den Vorzug.
Der Zugang ist auch kein bloßes Sprachproblem. Odysseus bricht am
Anfang auf. Er weiß nicht, wo er ankommen wird. Er verfügt über keine
Seekarten. Es könnte eine Reise ohne Ende sein. Odysseus ist zugleich die
Maske, die sich der Dichter aufsetzt. Der Leser hat mehrere Perspektiven
einzunehmen: Die Fahrt des Odysseus ist zugleich das Wagnis der Irrfahrt, die
der Autor beginnt. Im Cantos gibt es keine Heimkehr. Nur der Gesang bleibt
von seiner Fahrt zurück. Wer hört ihn? James Joycs kannte die Texte aus den
Jahren von 1916 – 1927. Er war mit Pount befreundet, und er engagierte sich
dafür, dass sich die zeitweise aussichtslose wirtschaftliche Lebenslage von
Joycs verbesserte.
Pount nannte die Texte im Rückblick auch Palimpsest. Das ist ein
handschriftlich niedergelegter Text mit vielen Überschreibungen. Es gibt nicht
den fertigen Text. Er hat kein Anfang und kein Ende. Die erste Niederschrift
wird überschrieben. Sie ist vielleicht gar nicht mehr im Nachhinein feststellbar.
Es gibt keinen Anfang und kein Ende der Niederschrift, sondern ein vorher
und nachher, das nicht aufhört. Der Autor selbst verschwindet in seinen
Niederschriften. Pount war ein Freund der chinesischen Schriftzeichen, ihres
Ausdrucks und der damit einhergehenden Kommunikation. Das Gesagte und
Mitgeteilte wird in einer Bildschrift kommuniziert.
Die chinesische Bildschrift (Ideogramm) ist für Pount eine Darstellung,
durch die allgemeine Sachverhalte durch Bilder mitgeteilt werden.
Dadurch sollen sie anschaulich sein. Das Verfahren besteht darin, mehrere
unterschiedliche Bestandteile zueinander zuzuordnen. Durch die Spannung
(die Unverträglichkeit), die dadurch zwischen den Bestandteilen eintritt, wird
ihre Aussage und Mitteilung dargestellt. Die Zeichen eine Anleitung zum
Sehen:
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„’From the colour the nature & by the nature the sign’“
(„’Aus der Farbe das Wesen und aus dem Wesen die Zeichnung!’“)
(Cantos XC),
aber das Verstehen von Zeichen ist kein Blicken auf etwas. Es wird nichts
gesehen. Die Zeichen erschließen nicht die WELT. Sie bleiben zurück. Die
Betonung liegt nicht auf dem dinglichen Sein:
„in the light is virtù‚ sunt lumina’ said Erigena Scotus“ ...
„’sunt lumina’ said the Oirisma to King Carolus,
‚OMNIA,
all things that are lights’“
(im Licht des Lichtes ist die virtù
“’sunt lumina’ sagte der Irländer zu König Carolus,
„OMNIA (alles, d.V.),
alle seienden Dinge sind Lichter““
(Cantos LXXIV).
Der erkenntnistheoretische Zweifel des Descartes läuft leer. Für Pount war er
Frevel.
Mir geiel am Cantos, dass er unabgeschlossen, ein Fragment, war.
Auch seine scheinbare Ungeordnetheit empfand ich nicht störend. Die
Zeichenbilder sind die Kritik am Logozentrismus der Alteuropäischen
Tradition und neoplatonisch motiviert. Für Plotin gab es ein Realitätsproblem.
Für ihn war die WELT nicht naiv selbstverständlich gegeben. Es gab für ihn ein
nicht-triviales Erkenntnisproblem.
Das Fenster war ofen und es kündigte sich ein sonniger Tag an. Etwas
Toast mit Orangenmarmelade und Ostfriesentee machten gute Stimmung.
Man glaubt es nicht, aber eine gute Orangenmarmelade ist seltener als man
denkt. Die britische Version sagte mir gar nicht zu. Am besten fand ich das
Angebot aus Südafrika. Die hohe Kunst ist, das Herbe und das Süße in eine
Mischung zu bringen. Ich erinnere mich an ein Rezept, das zu den Orangen
eine Grapefrucht gab. In solchen Geschmackseigenheiten ist man aber
auch oft irregeleitet, da sich Sein und Schein für das Erleben kaum noch
unterscheiden lassen, sondern ununterscheidbar vermengt sind.
Es war so gegen 11 Uhr als es klingelte. Das wird der Briefträger sein, dachte
ich, drückte auf den Türsummer, damit er die Pakete auf die Treppe legt. Mir
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war gar nicht danach, nachzusehen, ob die Post für mich oder ein anderen
Hausbewohner war. Insofern war ich überrascht, als es an die Tür klopfte. Ich
ging zur Tür und öfnete sie. Vor mir stand die Brünette. Sie trug ein hellrotes
Kleid und hatte einen hellgrünen Mantel auf dem Arm. Sie trat ins Zimmer.
Wir sagten gar nichts und sahen uns nur an. Es gab auch nicht viel zu sagen.
Sie lächelte, legte den Mantel auf den Stuhl und stellte sich mit dem Rücken
zum Fenster. Ich setzte mich auf die Couch. Dabei sah ich sie von unter nach
oben an. Sie sagte nichts. Auch ich mochte nichts sagen. So sahen wir uns an.
Tasteten uns mit den Blicken ab. Fingen an, uns mit den Blicken auszuziehen.
Es waren so zehn Minuten vergangen als sie auf mich zu trat und ihr Kleid
auszog. Ich hatte gar nicht mehr ihre wohlgeformte Brust in Erinnerung, die
aning sich aufzustellen. Sie beugte sich über mich, nahm meinen Kopf und
führe ihn zu ihrer Brustwarze. Im Laufe des Jahres trafen wir uns bei mir in
zwei Wochenabständen.
Wir sprachen nicht viel, hörten etwas Musik, tranken etwas Wein oder auch
ein paar Cognac und ließen unsere Stimmung auf uns wirken. Die Brünette
bevorzugte deutschen Weißwein. Vor allem die „Großen Gewächse“, wie die
besten deutschen Weißwein genannt werden, mochte sie. Die deutschen
Weißweine gehörten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den
weltbesten Weißweinen. Vor allem mochte die Brünette die Stelle aus dem
Ersten Aufzug aus Wagners Walküre:
„Sigmund
Winterstürme wichen
Dem Wonnemond, -In mildem Lichte
Leuchtet der Lenz; -Auf linden Lüften
Leicht und lieblich
Wunder webend
Er sich wiegt
...
Sieglinde
Du bist der Lenz ,
138
nach dem ich verlangte
in frostigen Winters Frist.“
Das ist nicht gut gegangen und konnte es auch nicht.
Gerne hörte sie Gustav Mahler 6. Symphonie, die auch „Die Tragische“
genannt wird. Man weiß nicht, ob er sie so nannte. Unter der 5., 6. und 7.
Symphonie ist die 6. Symphonie ganz zentral. Die letzte, sogenannte
unvollendete, 10. Symphonie ist aus Mahlers Sicht nahezu abgeschlossen.
Das Adagio der 9. Symphonie ist reiner Klang. Es ist so, wie, wenn Schnee auf
Schnee fällt, der ein leichtes Geräusch hörbar macht.
„Er sagte von ihr:
„Sie wird Rätsel aufgeben“.
Sie enthält keine Kommentare. Zwei Instrumente fallen auf, ein Hammer
und zwei Kuhglocken. Das wurde entsprechend nach ihrer Auführung karikiert. Die Symphonie durchzieht ein Leitmotiv von Dur nach Moll. Das
halbstündige Finale ist geradezu ein Werk für sich. In sie fährt der Hammerschlag.
Er ist etwas Absolutes. Den dritten Schlag hat Mahler aus der Partitur gestrichen. Einige Dirigenten fügen ihn wieder hinzu. Sie hat wirklich ein pessimistisches nicht aufbauendes Ende.
Vielleicht komponiert Mahler seine auf ihn zu kommenden Schicksalsschläge. Man sagte auch, es kündigt sich darin das 20. Jahrhundert an. Ich habe
das für überzogen gehalten. Vielleicht sogar ein Irrtum.
„Ich leb allein in meinem Lied“ (Friedrich Rückert)
könnte als Titel über ihr stehen.“
Ihr Gesicht wirkte plötzlich etwas verinnerlicht, so als bewegte sie etwas,
das mit dem Ort, an dem sie sich befand wenig zu tun hatte. Sie verzog das
Gesicht und begann zu reden, so als würde sie es zu sich sagen: Sie zuckte mit
ihren Augen, die auf einmal groß wurden. Es war so, als würde sie aus einem
versunkenen Zustand heraustreten, als sie sich mir zuwandte:
„Sprung: Von Anton Bruckner 6. Symphonie gibt es nur eine Fassung. Sie
fängt ohne Einleitung und Vorbereitungstakte an. Der zweite Satz heißt
„Adagio“, der aus einem Grundton besteht, aber der Satz wirkt nicht monoton oder langweilig. Bruckner ist ein Sonderfall. Ohne Selbstbewusstsein. Ein völlig Verunsicherter. Seine 9. Symphonie widmete er „Dem liegen
Gott“. Man weiß nicht, ob das komisch ist oder etwas Tragisches hat. Jetzt
gerade möchte ich sie hören. Lieber nicht. Beide Symphonien sollte man
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einmal vergleichen. Sie haben mehr gemeinsam als man so vordergründig annimmt. Warum emotionalisiert uns Musik so? Lässt uns nicht zu uns
kommen? Wir möchten jetzt aber nicht schwermütig werden. Hole doch
das Große Gewächs aus dem Eisschrank. Lass dich ein, was wir nicht gerne
haben, was uns auf die dunkle Seite entgleisen lässt,“
sagte sie.
Ich selbst glaube zwar nicht an mystische Kausalitäten, aber irgendwie
nahm sie mit ihrer Hingebung an diese Symphonien etwas vorweg. Wenn sie
sprach, so sprach sie weniger mit mir, sondern zu mir. Gelegentlich redete sie
ganz ekstatisch:
„Straße
Licht des Mondes
Licht geschüttet aus Fenstern
Glanz der Nacht
Farben des lachenden Glücks
Fluss ohne Anfang und Ende
Jetzt:
Taumle von Augenblick zu Augenblick
Schnelligkeit der Städte
Stimme ohne Schatten
Der Mädchentraum wird schwarz
Wohin fällt der Blick
Es ist heiß
Blick auf das Meer
Jetzt:
Stellt er sich ein, der lang ersehnte Augenblick
Das Zittern und Beben verliert sich.
Zünde uns Zigaretten an. Bevor wir uns verlieren. Ich bin allein und fühle
mich einsam. Wie wäre es mit uns jetzt am Strand. Leg doch Steve Wonder
auf und danach von Ella Fitzgerhald „I got your number“, dabei vögeln wir.“
140
So konnte sie fortlaufend Reden. Es löste sie. Ihre Züge entspannten sich. Sie
klatschte in die Hände und ing an zu tanzen. Mir geiel das. Dabei fühlte ich
mich ihr ganz nah.
Es ist wieder 4 Uhr geworden. Langsam wird es hell. Die Tagesgeräusche
kündigen sich an. Ganz leise spielt im Hintergrund das Nachtkonzert. Der
nächste Tag kündigt sich an. Ich höre mit dem Schreiben auf. Irgendwie läuft
etwas in mir ganz schnell ab. Man spürt es, kann es aber nicht fassen. Es tritt
wieder dieses Schuldgefühl ein, versagt zu haben. Davon konnte ich mich die
ganzen folgenden Jahre nicht freimachen. Es trat ganz unvorhersehbar ein.
Es überkam einen.
Das Ende vom Lied ist so wie ein plötzlicher Schlussakkord nach einem
Musikstück, dessen Anfang man nicht mehr erinnert. Es war die der
Hammerschlag in Mahlers 6. Symphonie. Hat es überhaupt angefangen?
Ich hatte nie ein Interesse daran, einen Einblick in die Beziehung zwischen
der Brünetten und dem Boss des Hessischen Rundfunks zu bekommen. Wir
thematisierten das auch nicht, wenn wir zusammen waren. Ich weiß auch
nicht, wie und ob sie ihre Ehe führten. Formal waren sie verheiratet und lebten
zusammen. Alles war recht aufwendig. Sie zeigten sich in den ersten Jahren
auch gerne in der Öfentlichkeit. Doch dann ging alles ganz schnell. Es kommt
mir im Nachhinein so vor, als sei es von heute auf morgen gewesen, obwohl
sich die Ereignisse zwei Jahre hinzogen. Der Boss des Hessischen Rundfunks
war 25 Jahre älter als die Brünette. 1982 gab er seine Position auf. Er wird so
um die Mitte der 50 Jahre gewesen sein. Er zog sich auf sein Anwesen am
Gardasee zurück. Seitdem pendelte die Brünette zwischen Gardasee und den
Aufnahmestudios hin und her. Damals bemerkte, eher nebenbei, die Brünette:
„Er hat jetzt vor, zu schreiben. Daraus wird aber nichts. Er hat sein Wissen
verwaltet, aber keinen Satz geschrieben. Das wird nicht klappen. Warten
wir’s ab.“
Das war auch dann so. Bei seinen ganzen Kenntnissen kam nichts zustande.
Die Versuche blieben schon im Ansatz stecken. Das schloss es nicht aus, dass
das Ganze dann schön geredet wurde. An Intelligenz und Bildung fehlte es
dem Boss des Hessischen Rundfunks nicht. Das sind oft Großmeister von
psychologischen Rationalisierungen. Es indet sich dann schnell ein Anlass,
die ganze Situation anders darzustellen als sie ist. Wenn das noch von Anderen
bestätigt wird, so liegt es dann auch nicht an ihnen, sondern an unglücklichen
Zufällen, die doch auch anders hätten sein können. Sie seien auch einfach zu
korrigieren und man sei schon dabei.
„Jetzt hören wir erst einmal diese schöne Stimme und lassen uns dadurch
davontragen. Dazu noch ein Wein, sich einfach noch etwas Gutes tun, dann
141
gelingt es wie von selbst“,
hört man dann oft. Die Ergebnisse davon sind aber nicht ermutigend.
Den großzügigen Einladungen an den Gardasee des Bosses und der
Brünetten war ich nicht gefolgt. Sie bemerkte gelegentlich:
„Wenn du auch einmal wieder an den Gardasee möchtest, das ist wirklich
kein Problem. Wir können dort auch zu dritt eine gute Zeit haben. Zudem
ist für Kurzweil gesorgt.“
Mir lag der Gardasee auf längere Zeit nicht. Er war mir zu hochalpin
und gigantisch. Mir war es ganz fern, zum Beispiel den Himalaja zu
durchwandern und mich im Anblick der höchsten Berge der Welt innerlich
zu erheben. Die Dauergegenwart des Erhabenen der Natur bereitete mir
Erlebnisschwierigkeiten. Das war nicht lange auszuhalten. Schon nach einer
Woche war mir alles zu viel. Da gab es keine Ausnahme. Auch die Erwartung
mich in den Hofstaat des Bosses des Hessischen Rundfunks einzureichen, war
nicht gerade das, was mich zu einem Aufenthalt hätte bewegen können. Es
war dort fortlaufend Besuch, der mit der Selbstrepräsentation der Erfolge
und Nichterfolge der Anwesenden einherging. Zudem trat bei ihm eine
Verhaltensänderung derart ein, dass er sich, nach dem er nicht mehr der
„Boss“ von Amtswegen war, so verhielt, als sei er noch der Chef, während er
in seiner Dienstzeit das Understatement plegte.
Aber wie sich das oft verhält, man verstößt gegen seine Vorbehalte. Im
Frühjahr 1984 sagte ich für einen Besuch im Sommer zu. Es war nicht zu
erwarten, dass es der letzte Sommer der Brünetten sein würde. Im Nachhinein
fallen dann Anzeichen auf, denen man sich in der Situation nicht in ihrer
Konsequenz bewusst war. Man merkt zwar eine gewisse Unebenheit, schreibt
sie aber den Umständen zu. Es kam alles anders, als erwartet.
Die Brünette stürzte sich während meines Aufenthalts von einer Aktivität in
die andere. Jeden Tag waren Auslüge, Besuche und der Empfang von Gästen
angesagt. Dabei lebte sie auf. Nur durch erheblichen Protest war einmal ein
Ruhetag mit ihr auszuhandeln. Da waren dann Erschöpfungen größeren
Ausmaßes einzuklagen. So schleifte sie mich um den ganzen Gardasee
herum und stellte mich bei Ihren Bekannten vor. Sei es mit Auto, Mopeds
oder mit Wanderungen von Bergdorf zu Bergdorf. Sie trank viel und kochte
Köstlichkeiten aus der einheimischen Küche.
„Auf Goethes Spuren“,
sagte sie. Der Boss des Hessischen Rundfunks nahm mich zur Seite und
lüsterte mir ins Ohr:
„Lass sie, wenn es ihr Spaß macht. Sie hat viel Stress in der letzten Zeit und
142
hat auch noch zu repräsentieren. Da braucht es einmal eine Auszeit, in der
sie nicht reglementiert ist. Wir möchten Doch, dass sie sich wohlfühlt.“
Anfang August kommt am Gardasee die Hitze, die sich in der letzten Juliwoche
ankündigt. Erst der September ist wieder erträglich. Ende August war mir
der Sommer zu viel. Aber ich konnte mich auch nicht dazu entschließen,
den Besuch vorzeitig abzubrechen. Irgendwie war ich der Situation auch
ausgeliefert. So ganz unangenehm war es auch nicht. Für Unterhaltung war
gesorgt. Der Gardasee hat schon etwas zu bieten. Es war eine kurze Zeit, in
der sich das Erleben verdichtete. Das eine Ereignis ging in das andere über, so
als seien sie ein einziges Ereignis.
Wir feierten noch am vorletzten Abend meiner Rückfahrt in einem
Restaurant in den Bergen mit Freunden vom Fernsehen, die auf einem Trip am
Gardasee unterwegs waren. Bei dem Rückweg verzögerte die Brünette ihre
Schritte, so dass wir uns von den anderen trennten. Wir standen in Berggärten
und sahen auf den nächtlichen Gardasee.
„Ich möchte nicht zu lange mehr hier bleiben. Wir trefen uns spätestens
Ende September. Ich bin den Aufenthalt hier etwas müde geworden. Die
Schönheit des Gardasee hat etwas Totes. Eigentlich nervt mich hier sehr
schnell das ganze Getue. Wir sollten uns im Herbst wieder einmal für ein
paar Tage in eine Stadt absetzen. Lissabon wäre doch einmal ein Kontrasterlebnis. Mir wird meine Gesellschaft in der letzten Zeit schnell überdrüssig. Es bedarf der Kompensation, um nicht von dem ganzen Unsinn
verschlungen zu werden. Melde mich, wenn ich in Frankfurt zurück bin.
Danach bin ich kurz in Berlin und Köln. Ich fahre mit Dir nach Mailand. Es
wird dich nicht umbringen, wenn wir dort noch zwei Tage bleiben. Du bist
von dort mit dem Nachtzug im Katzensprung in Frankfurt.“
Ich war erleichtert, wieder in Frankfurt zurück zu sein, da mich plötzlich der
Gardasee und alles was mich da umgab, in einen niedergeschlagenen, einen
nicht fassbaren Zustand versetzte. Zudem hatte ich zu dieser Zeit wieder viele
Kontakte in Frankfurt, die mich trugen und anregten.
Der Satz der Brünetten, mit dem die Geschichte mit ihr begann „Ungewollt
kommt oft“ sollte eine traurige Bewahrheitung erfahren. Im Oktober rief mich
der Boss des Hessischen Rundfunks an. Ich war nicht schlecht überrascht, als
ich seine Stimme hörte. Mit Anrufe von ihm, hätte ich nicht erwartet. Er kam
auch gleich zur Sache.
„Sie ist tot krank. Es ist die Lunge. Sie wird es nicht überleben. Sie möchte,
dass du kommst“,
sagte er. Seine Stimme war zu merkbar ruhig und gefasst, so dass man merkte,
dass er damit nicht zu recht kam. In diesem Augenblick überiel mich eine
Angst als sei ich davon selbst betrofen. Es war so, als sagte eine Stimme in mir:
143
„Nur nicht. Fliehe!“.
Am Telefon redete ich mich heraus.
Dabei blieb es auch bei den nächsten Anrufen, obwohl er mich bekniete, doch zu kommen. Im Januar 1985 kam sie ins Krankenhaus. Im daraufolgenden Mai verstarb sie. Ich war nicht in der Lage, zu ihr zu gehen. Ihr noch
einmal in die Augen zu sehen, was ich doch so gern tat und das sie immer
wieder mochte. Ich versagte auf der ganzen Linie. Dr. Auerbach traf ein Jahr
später der Aidstod. Auch zu ihm fand ich nicht den Weg. Mir fehlte der Mut.
Ich war ein Feigling, ein Versager. Es war alles anders gekommen. Hätte es
so kommen müssen?! Zwangsläuig verketten sich die Ereignisse. Wenn die
Kette unterbrochen ist, so treten wir in den Ausnahmezustand. Das erfordert
Entscheidung. Da erleben wir, was an uns ist. An mir war ofensichtlich nicht
viel. Da war nichts mehr auszugleichen und gut zu machen.
Die Brünette gehörte nicht zu den Frauen, die ihre„schwachen Stunden“, die
jeder einmal hat, mitteilten. Dazu war sie zu berechnend und selbstkontrolliert.
Es ist spekulativ, vielleicht war das der Auslöser ihrer tödlichen Krankheit. Das
ist nicht erforschbar.
„Was tot ist, das kann man vergegenständlichen, solange man lebt ist man
irgendwie dabei“,
sagte sie einmal.
Die Brünette überkamen aber, von außen dargestellt, vermutlich solche
Zustände. An einem frühen Sommerabend, wir bereiteten uns auf einen
Opernbesuch vor, ging sie zum Fenster, von dem aus man auf die Dächer des
Frankfurter Westends blicken konnte. Sie zündete sich eine Zigarette an und
blickte auf den sich ankündigenden Abend. Es war das Tageslicht, das in den
Sommertagen zu dem Licht des Abends übergeht.
„Wenn man berechnend ist, so hat man keine Freunde ...“
sagte sie, zog an ihrer Zigarette. Anscheinend beabsichtige sie den Satz
fortzuführen. Sie sah noch eine Sekunde in den aufdämmernden Abend und
brach ab.
„Bestelle das Taxi, wir fahren zur Oper, wir gehen noch vor der Auführung
eine halbe Stunde Richtung Main“.
So war es dann auch. Es wurde ein gelungener Abend.
„Ende vom Lied“,
es war vorbei. Man blieb übrig. Irgendwo, irgendwie.
Erst vom Ende her, bekommt die Geschichte ihre Struktur.
10. Mai 2010
144
Je est un autre
Mitte Juni ing der Sommer an. Es wurde sofort drückend. Frankfurt ist im
Sommer kein vorteilhafter Aufenthaltsort. Die Stadt liegt in einem Tal und
die Luft staut sich. Anfang Juli stellte sich Hitze. Es iel mir schwer am Tag
das Zimmer zu verlassen. Meistens schlief ich tagsüber. Erst am frühen
Abend kam ich so langsam zu mir. Auch zu diesem Zeitpunkt quälte noch die
angestiegene Temperatur. Die warme Luft hüllte einen ein. Es war so, als ob sie
nach einem grif. Immer mehr begab ich mich in einen Zustand, der mich von
der Außenwelt entfernte. Erinnerung, Traum und Einbildungskraft spielten
ineinander. Schloss ich die Augen, so traten bildhafte Zustände ein. Stimmen
sprachen, ohne dass sie einen ansprachen. Es war jetzt fast 25 und 24 Jahre
her, als die Brünette und Dr. Auerbach starben. Mir tat es nicht leid, sie nicht
tot gesehen zu haben. Beide hätten sich mir dadurch entfremdet. Ich merkte
nur diesen Zustand. Es war so, als würden sie neben mir stehen. Es war kein
Gefühl, sondern eine Wirklichkeit. Traum und Realität verschmolzen sich im
Erleben. Es bedarf dann eines Schocks, um die Innen-Außenunterscheidung
wieder ins Bewusstsein zu heben.
Trotz der andauernden Hitze am Tag, waren die Nächte erträglich.
Gelegentlich wagte ich mich dann zu Fuß in die Innenstadt. Es war bei solchen
kleinen Auslügen vorsichtig zu sein. Die Grundsituation war eine veränderte.
Kleine Banden überielen einzelne Nachtwanderer. Sie waren meist zu dritt
oder viert und mit Messern und Schlagringen ausgestattet. Zu einem Kampf
durfte es da nicht mehr kommen. Das wäre aussichtslos gewesen. Es war
ihnen im Vorfeld der Schneid abzukaufen. Gelang das, so konnte man davon
kommen. Die Verwaltung gab bereits Warnungen heraus. Man begegnete in
der Innenstadt niemanden. Gelegentlich einem Radfahrer. Der Autoverkehr
war gering.
Dr. Auerbachs Karriere war beim Hessischen Rundfunk nicht so groß,
wie sie sich nach Außen darstellte, aber er hatte Erfolg. Seine Sendungen
kamen an und er bekam mittlerweile auch von anderen Rundfunkanstalten
Aufträge. Er nahm jeden Auftrag an. Es entsprach seinen Fähigkeiten und
Interessen. Zudem entdeckte er sein Geschick als Netzwerker. Er benötigte
aber jemanden, mit dem er Reden konnte. Jemanden, demgegenüber er sich
über seine Themen aussprechen konnte. Das hatte zur Folge, dass wir in den
Jahren zwischen 1980-1984 öfters Trefen vereinbarten. Er entdeckte wieder
sein Interesse für Musik und ing an, kleine Essays zu schreiben.
„Die Idiosynkrasien der Vergangenheit hinter sich lassen. Sie wirken sich er-
145
kenntnishemmend und blockierend aus. Vor allem. Ganz groß schreiben: Es
gibt zwei Wege in die moderne Musik. Das ist oft verkannt worden. Schreibe jetzt etwas über Bartok als Musiklehrer“,
waren die Leitlinien. Das Ganze ging damit einher, dass sein Lebemannsein
aufwendiger wurde. Gerne fuhr er zu irgendwelchen Lover nach Paris oder in
eine andere Stadt. Dabei mochte er nicht allein fahren. Nach Paris und London
schleifte er mich mit. Seine Sucht nach sexuellen Abenteuern kannte keine
Grenze.
„Schwänze sind etwa Schönes, du bist ja ein zwanghafter Heterosexueller.
Schwer nachzuvollziehen, was einem an den Geschlechtsteilen einer Frau
gefallen kann. Was einen da verrückt machen soll! Das ist doch zwanghaft.
Mir soll’s recht sein, so lange ich nicht verstoßen werde. Steck ihn halt irgendwo hinein. Verliere dich in dem Gewimmer der Frauen. „Erbarmen mit
den Frauen““,
sagte er. Dabei sang er den letzten Satz.
So pendelten wir regelmäßig zwischen Frankfurt und Paris. Ich hatte ihm
nicht verschwiegen, dass sich die Brünette wieder gemeldet hatte. Zudem
traf er sich oft mit ihr. Sie besprachen Projekte. Da sollte er informiert sein. Die
Brünette hatte zwar ihm gegenüber lange Vorbehalte und war gerade nicht
entgegenkommend, aber es stellte sich für ihn eine kleine Karriere bei ihr
ein. Das hing auch mit ihrer veränderten Situation der Ehe mit dem Boss des
Hessischen Rundfunks zusammen. Sie hatte überall ihre Hände im Spiel, ohne
dass auf den ersten Blick auszumachen gewesen wäre, was damit beabsichtigt
war. Ihre sozialen Netze brachten eine unbeabsichtigte Folge mit sich, dass
sie sich in ihnen in eine isolierte Position brachte. Zu dem wiederbelebten
Kontakt mit der Brünetten äußerte sich Dr. Auerbach weiter nicht, sondern
sah mich mit etwas drehenden Augen an, so, als wolle er sagen:
„Kein Wunder!“
Es kam aber noch ein anderer Umstand hinzu, dass die Brünette mit Dr. Auerbach
Kontakt hielt. Dr. Auerbach schrieb an einem Essay über Gustav Mahler. Wie
ich die Beziehung einschätzte, beabsichtigte sie, ihre Mahlerinterpretation
in’s Spiel zu bringen. Das war ihr in der Vergangenheit ein Anliegen gewesen.
Es fand sich aber keine Gelegenheit, ihren Zugang so richtig an den Mann
zu bringen. Dazu eignete sich Dr. Auerbach durchaus. Sie konnte bei der
Verfolgung solcher Absichten sehr geschickt und einnehmend sein. Es war
dann so, dass man gar nicht merkte, dass sie ein Kuckucksei legte. Es mag mir
ihrer Art der Selbstbeziehung zu tun zu haben, dass dieser Ehrgeiz sie nicht
losließ. Mir war das von ihr vertraut. Ich selbst hatte dagegen gar nichts und
ließ es geschehen, da es mein Verständnis von mir Fremden erweiterte. Dr.
146
Auerbach schien sich durch den Kontakt mit ihr etwas, fast unmerklich, zu
verändern. Er wurde distinguierter. Vor allem, wenn er sprach, schien er ganz
in sich gegangen zu sein, bekam plötzlich einen lebendigen Ausdruck und die
Augen wurden größer. Wenn wir unterwegs waren dozierte er gerne.
„Das Mahler-Essay wird besser. Es wird feiner. Nein, eher sollte es ein Kristall
sein. Aber das passt nicht zu Mahler. Habe den ganzen Tag an nur einer Seite
geschrieben. Sie verworfen, neu geschrieben, bin im Zimmer hin und her
gegangen. Hörte die Symphonien wieder zwei Tage durch. Morgen trefe
ich Deine, wie soll ich sagen, verlossene Brünette. So richtig verlossen ist
sie ja noch nicht, oder? Wie ließt sie dahin? Mach es ihr schön. Ich sehe an
ihren Augen, wenn du sie gevögelt hast. Sie haben dann einen Ausdruck,
der kaum zu beschreiben ist. In ihnen drückt sich ein Zustand der Bestimmung, des bestimmt worden seins aus. Alles wirkt dann an ihrem Körper
anders. Mir fehlen die Wörter. Man kann davon sprechen, aber es gehört
zu den Fällen, die man gesehen haben muss, um sie zu verstehen. Vom
Hörensagen kommt man da nicht weiter. Wir kommen vom Thema ab.
Ich bin etwas weiter gekommen. Mahler war der Überzeugung, dass sich
nach Richard Wagner die Symphonik und die Dramatik trennen. Deshalb
seine Rückwendung zu Beethoven. Die Verzweilung der 6. setzt sich in der
7. Symphonie fort. Die 8. Symphonie vereint noch einmal WELT und Symphonie. Sie ist der Abschluss. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Das,
was unbeschreibbar ist, kann wiederum nur in Gleichnissen beschrieben
werden. Das Universum beginnt zu klingen. Mahlers Musik ist Mystik. Sie
führt uns dem Verständnis der Zeit näher. Vermutlich ist Husserl Zeitanalyse, auch Wittgenstein Äußerungen zurzeit im Umkreis des Tractatus, durch
Mahler beeinlusst. Je mehr ich mich mit Mahler beschäftige, umso mehr
entdecke ich mich selbst. Seine Wagner Inszenierungen waren eine Innovation. Die Oper wurde durch ihn wieder zu einem sakralen Ort. Von ihm
ist ein schöner Satz überliefert:
„Was ihr Tradition nennt, ist nichts anderes als Bequemlichkeit.“
Aber auch:
„Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht der Asche.““
Als Dirigent wendete er sich mit allen seinen Sinnen den Instrumenten zu.“
„Krisen sind nicht nur der Ausdruck einer Depression, das ist kleinbürgerliche Psychologie, sie haben etwas mit Verdichtung zu tun. 1907 beginnt
Mahlers Spätwerk die 9., das Fragment der 10. Symphonie, das „Lied von
der Erde“. Die Vertonung der Lieder ist keine Begleitung mehr. Sie bezeichnete Mahler als seine 9. Symphonie. Der traurige Ton indet sich erst bei
den „Kindertotenlieder“. Mahlers 9. Symphonie bedeutet das ENDE. WELT
und Traum fallen auseinander. Am Ende der 9. Symphonie verschwindet
147
die Musik im Nichts, so wie sie in der 1. Symphonie aus ihm heraustrat.
Danach kommt das lange Adagio der unvollendeten 10. Symphonie. Es
ist eine Ironie, dass gerade die Urauführung der 8. Symphonie Mahlers
persönlich größter Erfolg war. Wird so 1910 gewesen sein. Am 18. Mai 1911
starb er in Wien. Der Künstler ist zu einem Doppelleben zwischen WELT und
Traum (Einbildungskraft) verurteilt, wenn sich beides vereint stürzt er ab.
Ja, WELT und Traum, das ist es. Jetzt hab’ ich’s. Vergleiche noch die beiden 4.
Symphonien von Robert Schumann und Mahler. Schreibe auch noch etwas
über Beethovens letztes Streichquartett in F-Dur. Das ist nicht überboten
worden. Großartig! Ich kann es nicht fassen, dass so etwas möglich ist.
Tippe noch heute alles in die Schreibmaschine und bringe es dir vorbei.
Lass den Text auf dich Wirken. Aber jetzt kippen wir schnell noch einen. Du
kommst doch noch mit?“
Trotz seines extensiven Lebensstils konnte Dr. Auerbach diszipliniert arbeiten.
Seine Beziehung zu Texten hatte etwas Sexuelles. Er konnte sich in sie ganz
versenken, so als gäbe es keinen Hauch zwischen Lesen und dem Erfassen des
Gehalts von Geschriebenen. Er war dabei Selbstvergessen.
„Das Sexuelle verbindet den Leser und Schreiber mit dem Da-Sein. Aber das
sind nur Augenblicke, in denen wir Erleben, was wir sind, ohne es erfassen
zu können“,
hörte ich von Dr. Auerbach gelegentlich sagen. Er bemerkte es eher so
nebenbei im Café oder bei unseren Touren durch die Stadt.
Es stellen sich Erinnerungsbruchstücke ein, die aber nur bewusst werden,
wenn ich sie niederschreibe. Es ist so, als würden sie dabei gezeichnet, ohne
dass es Bilder wären. Bei geschlossenen Augen treten die Figuren ein. Sie
sind wirklich-unwirklich. Dann verschwinden sie plötzlich. Das Leiberleben
stellt sich ein. Zum Sitzen sind wir anatomisch nicht konstruiert. Hin- und
hergehen und sei es nur im Zimmer. Dabei ordnen sich die Gedanken. Aber
dabei verschwinden sie sofort wieder. Sie sind nicht mehr fassbar. Es ist so, als
seien sie nicht gewesen.
Ab 1982 häuften sich unsere Parisaufenthalte. Wir mochten zeitweise von
dort gar nicht weggehen.
„Man lebt in diesen Städten wie Paris, London, New York auf. Es tritt sofort
eine Verwandlung ein, wenn ich dort ankomme. Wir sollten uns das nicht
entgehen lassen. Es ist so, als würden wir einen überpersonalen Blickwinkel
einnehmen. So fühlt man sich“,
waren seine Worte. Die Brünette sah ich in diesem Jahr nur zweimal. Sie kam
erst wieder Anfang 1983 vorbei.
Dr. Auerbach bedachte mich fortlaufend mit Aufgaben. Gerne recherchierte
ich für ihn und bereitete Texte vor. Es regte meine Einbildungskraft an, ihm
148
diesen Dienst zu erweisen. Als Autor war ich nicht beteiligt. Das gab mehr
Spielraum, auf der Reise in die so sperrigen Gegenstände, die man Bücher
nennt.
Wenn wir in Paris waren, sah ich Dr. Auerbach meistens am Abend bei einer
Fete. Tagsüber hielt ich mich in Galerien und Bibliotheken auf. Gelegentlich
stand ein Auslug in die Landschaft der Impressionisten an. Ich begab mich
mit ihnen auf den Weg in die Landschaft. Das war ein reichhaltiger Kontrast
von der Stadt „Paris“ auf das Land und vom Land zurück nach „Paris“. Es stellte
sich Aufgewühltsein und zugleich von Gelassenheit ein. Dr. Auerbach hatte
Kontakte zur Pariser Kunstszene geknüpft. Das war bei seinen Neigungen
einfacher als man sich das auf den ersten Blick denkt. So lies es sich nicht
vermeiden, dass Einladungen auf Vernissagen anstanden.
„Heute habe ich etwas Besonderes. Wir gehen zur Galeristin. Da werden
sich neue Kontakte ergeben. Kommst du mit?“,
fragte er. Mir war gar nicht danach, da ich durch die Auslüge in die Umgebung
von Paris etwas erschöpft war und mich danach gerne zurückzog. Aber wie
sich das in solchen Fällen oft verhält, ich mochte es ihm auch nicht abschlagen.
Also kam ich etwas angeschlagen mit.
Mir iel die Galeristin gleich auf. Sie war etwas jünger als ich. Vielleicht
34 oder 35 Jahre, dunkelhaarig und trug eine körperbetontes Kostüm. Ihrer
guten Figur konnte man sich nicht entziehen. Sie drängte sich geradezu auf.
Geschäftig sprach sie mit den Besuchern. Als wir den Raum betraten kam
sie auf uns zu. Sie war neugierig auf die Begleitung, die Dr. Auerbach im
Schlepptau hatte. Sie musterte mich, lachte etwas und setzte zu einer Triade
an:
„Was hast du denn da für einen Schluck Wasser dabei? Aus dem Krankenhaus kommt er doch nicht? Dem kann man doch abhelfen. Dagegen gibt
es doch bei uns Mittel. Wir sollten ihm gleich einen Espresso und einen
Cognac einlössen“.
Um aus der verlegenen Situation heraus zu kommen, ing ich einfach an
mit ihr zu Reden. Es war irgendetwas. Vor allem beeindruckte sie mein lüssiges Französisch.
„Kommt doch die Tage einmal bei mir in der Galerie vorbei“,
sagte sie, als sie sich wieder den anderen Gästen zuwandte. Ich sah ihr dabei
kurz in die Augen. Es blitzte kurz ihr Blick zurück. Es war so, als ob er mich
berührte, wir uns beide berührten. Als wir gingen hörte ich Dr. Auerbach:
„Geh ruhig die Tage bei ihr vorbei. Irgendetwas ist zwischen euch abgegan-
149
gen. Vermute, dass sie Liebhaber hat. Unsereins hat das im Urin. Da weiß
man gleich Bescheid. Erwarte interessante Spiele.“
Drei Tage später ging ich nachmittags in die Galerie. Die Galeristin war gar
nicht überrascht, als ich auftauchte. Sie hatte nichts Weiteres vor. Wir tranken
Kafee und gingen dann zu Wein über. Nach zwei Flaschen sagte sie
„Jetzt steuern wir die Passhöhe des Geschmacks an. Lassen wir die Hemmungen fallen.“
So kam es auch. Sie machte einen tollen Sex. Sie trat aus sich heraus und
konnte nicht genug bekommen. So rastete eine Beziehung ein. Zwar war die
Galeristin mit einem erfolgreichen Unternehmer verheiratet, aber sie hatten
sich arrangiert. Dr. Auerbach war ganz gierig auf meinen Bericht. Er war von
den Ereignissen ganz angetan und erfreut.
Im Rückblick rennen die Ereignisse an mir vorbei. Ich kann sie nicht
fassen. Zudem überschlugen sich in den Jahren zwischen 1983-1986 die
Ereignisse. Da die Galeristin eine Hilfskraft in der Galerie suchte, bot ich mich
ihr an. Das brachte es mit sich, dass ich fast täglich in der Galerie war. Die
Galeristin schätzte meine Anstelligkeit. Regelmäßig folgen wir nach Nizza.
Am Wochenende war sie auf dem Land und plegte ihre Ehe. Montags Mittag
tauchte sie in der Galerie auf. Sie schaute mich dann etwas undurchsichtig an.
Sie brauchte dann etwas anderes.
Zwischen 1984-86 ing ich wieder an zu zeichnen. Es ging mir dabei um den
Ausdruck des Unbegrilichen. Das was sich plötzlich im Erleben einstellt. Dabei
saß ich selbstversunken da und lies den Stift einfach über das Papier gleiten,
ohne dabei nachzudenken. Jedes Nachdenken blockiert den Ausdruck.
Ich merke, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Die Erinnerung brechen
plötzlich ab. Es treten Erinnerungslücken ein. Auch die Abfolge der Ereignisse
verschwimmt. Ich schließe die Augen und versuche weiter zu schreiben. Es
reihen sich Wörter an Wörter. Erinnerungsbilder stellen sich ein. Sind es wirklich
„Bilder“ oder liegt da eine Täuschung vor? Sie haben keine Entsprechung.
Die Beziehung zu der Galeristin hatte etwas Unwirkliches. Es war so, als
seien wir nur für unser Vergnügen dar. Sie neigte zu einer Erlebnissüchtigkeit
und brauchte Sensationen, wie sie sich ausdrückte. Man durfte bei ihr kein
Langweiler sein. Ihre dominante Art störte mich nicht. Wenn man sich auf
Dominanz einstellt, so eröfnet das Optionen, die man sonst nicht hat. So
rannten die Tage dahin. Ich wusste nicht, wo ich überhaupt war. Das Zeichnen
war ein Fluchtpunkt. Der Galeristin geielen die Zeichnungen. Sie dachte an
eine Ausstellung, aber das hätte mich gestört.
„Du bist irgendwie verrückt. Mit dir kann man so manches machen. Das
ging bei Anderen nicht. Unsere Zeit ist begrenzt. Das gibt dem Erleben eine
150
Konzentration, die ungewöhnlich ist. Das lässt uns aus dem Beziehungstrott heraustreten. Vielleicht möchte ich dich morgen nicht mehr sehen
oder du brennst mit irgendeinem kleinen Mädchen durch. Das wäre nichts
Ungewöhnliches. Wir sollten nichts versäumen.“
sagte sie.
Die Ereignisse überschlugen sich wirklich. Der Tod der Brünetten und
von Dr. Auerbach veränderte meine Situation, da mir auf einmal die
Bezugspunkte fehlten. Das war mir vorher gar nicht bewusst gewesen. Es war
kein Trauma, sondern ein Zustand der Verwirrung. Irgendwie fühlte ich mich
als zurückgelassen und wusste nicht, was ich anfangen sollte. Die Galeristin
half mir, die Zeit zu überbrücken und sorgte für Abwechslung. Sie war sehr
einfühlend und machte mir das Leben komfortabel. Ihren Ehemann lernte ich
nicht kennen. Sie erwähnte ihn auch weiter nicht. Ab 1986 blieb ich längere
Zeit wieder in Frankfurt und fuhr nur gelegentlich nach Paris. Die Galeristin
hatte einen neuen Liebhaber. Ihre Rede war:
„Das soll uns nicht behindern. Rufe durch und sage mir, wann du kommst.
Dann lässt sich irgendetwas arrangieren. Wir können es auch auf einer Parkbank machen. Wir sollten unseren Kontakt nicht ganz verlieren. Machen wir
uns doch keine Probleme, wo keine sind. Wir treten in den Ausnahmezustand. Die Ausnahme erfordert die Entscheidung: hier und jetzt. Und dann
ist es plötzlich vorbei. Es geht weiter. Wir inden uns irgendwo wieder.“
So war es dann auch. Mein Zustand wurde unwirklicher. Die Unruhe vergrößerte sich. Irgendwie zog sich zwischen mein Erleben und der Außenwelt ein
Schleier. Am Anfang der 1990er Jahren verlor ich den Kontakt zur Galeristin,
ohne dass es dafür eine Erklärung gab.
Der August 2010 geht zu ende. Vor mir auf dem Schreibtisch liegen die
Hefte, in die ich den Text niederschrieb. Mir ist nicht so bewusst, warum
ich Schreibhefte für Niederschriften verwende. Zettel würden mich aus der
Fassung bringen. Sind es ihre weißen Seiten oder ihre Handhabbarkeit,
die mich zu Heften greifen lässt? An den Seitenrändern sah ich die kleinen
Zeichnungen. Auf manchen ganzen Seiten war auch eine Skizze von
Stadtmotiven zu sehen. Das Talent zum Zeichnen war mein Unglück, kam mir
in den Sinn. Das fasst nicht die Gedanken. Sie verlaufen in alle Richtungen
und werden durch die Zeichnungen gar nicht dargestellt. Verfolge ich die
Striche, so stellen sich andere Gedanken ein. Die Erlebnisse verlieren ihren
Umweltbezug.
„Die sogenannte Moderne, die Neuzeit oder wie man das auch nennen
mag, hat uns eine Absurdität beschert. Die Welt ist nicht erkennbar, aber
eine unendliche Erforschung des Selbst soll möglich sein“,
151
sagte Dr. Auerbach einmal.
Ich schrieb die Jahreszahlen der Niederschriften auf eine neue Seite:
29. September 2007, 26. Dezember 2007, 21. Januar 2008, 24. Februar 2008,
16. März 2008, 17. April 2008, 19. Mai 2008, 25. August 2008, 15. Dezember
2008, 16. Oktober 2009, 5. Januar 2010, 10. Mai 2010, 20. August 2010.
Was ist dabei festgehalten worden?
Mit den Zeitangaben ist gar nichts mehr anzufangen. Kann die Vergangenheit
als abgelegte Zeit erlebt werden? Ist sie in der Abfolge von zwei Augenblicken
(jetzt, jetzt) erlebbar? Oder gehören Erinnerung und Vergangenheit nicht
zum Erleben? Erleben wir nur Abschattungen?
Marcel Proust würde annehmen, dass es so etwas wie die Wiedergefundene
Zeit gibt, die wir in der Abfolge von Augenblicken erleben. Nach Henri Bergson
erleben wir die Vergangenheit nicht. Wir haben nur Erinnerungsbilder.
Was ist dabei mit „Bildern“ gemeint?
Erinnerungen, die sich einstellen, sind keine Fotograie, die sich für eine
Autobiograie eignen würden. Bilder tauchen plötzlich auf. Sie lösen sich auch
durch Blicke, Stimmen, Geschmäcke, Geräusche und Töne aus. Die Bilder der
Einbildungskraft sind auf einmal da. Sie klingen unmerklich nach und sind
wieder verschwunden. Dem Erinnern fehlt das verbindende Band. Husserl
fügte Retentionsketten ein um die Verbindung herzustellen.
Die bildlichen Vorstellungen sind nicht aneinandergereiht. Treten sie ein, so
sind sie fremde Gäste, die auf einmal vor einem stehen? Diese Vorstellungen
sind auch keine Bilder, die wir uns länger oder kürzer anzusehen mögen.
Sie sind auch keine Allegorie. Es sind Gestalten ohne Gestalt. Ihnen fehlt die
Einheit als Anfang und Ende eines Ablaufs. Aber was ist diese Einheit? Ist die
Einheit der fortlaufende Abschluss und Wiederanfang, der nur in sich kreisen
kann, aus dem wir nicht heraustreten können!
Jedes Ereignis kann nur in die Gegenwart eintreten, um zu verschwinden.
Das gilt auch für Neues und jeden neuen Tag. Sie können nicht in die Gegenwart
eintreten, ohne ihren Charakter des Neuen zu verlieren. Die erlebte Gegenwart
kann nur als etwas in einer vergangenen Zukunft beschrieben werden.
Wenn Gegenwart als eine Unterscheidung der Nichtübereinstimmung von
Vergangenheit und Zukunft zu begreifen ist, dann sind in der Gegenwart nur
noch Entscheidungen zu einem Und-so-weiter zu kennzeichnen. Es kann und
mag ofen bleiben, wann und wem sie in der zukünftigen Gegenwart in der
vergangenen Zukunft zuzurechnen sind.
Die Gegenwart ist kein einzelner Zeitpunkt. Wir können nicht festhalten,
wo er anfängt und aufhört. Die Störung fängt da an, wo wir die Zeit nicht
152
mehr als früher und später erfassen können. Unser Selbst ist auf die Zukunft
ausgerichtet. Durch die Verschriftlichung der Zeit geht sie in eine räumliche
Struktur über. Die Abfolge der Augenblicke wird unterbrochen. Ihre
Bestandteile sind beeinluss- und austauschbar. Wenn wir etwas erinnern,
schreiben wir eine Geschichte neu. Wir schreiben sie um. Man sagt: Erinnerung
hat eine Richtung nach vorn. Aber das ist ein Trugbild. Erinnerung ist eine
Erindung. Das Gedächtnis erindet seine Geschichte, da es zeitlich ist. Wir
können uns nicht selbst erfassen. Wir bleiben uns letztlich verborgen. Die Zeit
täuscht darüber hinweg, da sie vorgibt, es gebe ein Anfang und ein Ende. Das
sind aber nur Setzungen, die wir vornehmen. Wir sind bereits tot, wenn wir
geboren werden. Wir sind nicht. Wir sind nur als uns selbst undurchsichtig, als
ixiert an das Später, die Erwartung. Wenn das Erwartete eintritt, ist es zugleich
vergangen.
Die vor mir liegenden Hefte irritieren mich. Lese einzelne Seiten durch.
Fange an, am Text zu korrigieren. Die Korrekturen gehen in Umschreibung
über. Es gibt nicht nur einen Text, auch nicht den ersten Text. Der Text setzt
sich selbst voraus. Er unterläuft die Unterscheidung zwischen Geschriebenem
und Nichtgeschriebenem. Er kann nicht anfangen und nicht aufhören. Jedes
Aufhören ist vorübergehend. Auf einmal stellt sich ein, dass sich nicht nur der
Text neu schreibt, sondern, dass er anfängt, sich selbst zu beschreiben. Was
er darstellt, mitteilt und ausdrückt, unterscheidet er in sich selbst. Insofern
gibt es keine Welt außerhalb des Textes. Der Text kann seine Grenze zu seiner
anderen Seite nicht überschreiten. Er kann sein Aufhören nur im Text durch
eine Textende markieren.
Es tritt eine Paradoxie im Objekt auf:
Der Text ist kein Dokument des Autors, sonst könnte er den Leser nicht
erreichen. Wenn sich der Text nur selbst beobachten kann, so kann er nur
paradox kommunizieren, da sich seine Mitteilung und seine Darstellung
miteinander zu verschwören haben. Insofern hat er auch Unverständliches
zu kommunizieren.
Der Text kann sich nicht selbst-ofenbaren. Wäre das so, so würde er seinen
Ausdruck wechseln und wäre kein Text mehr. Der Text kann sich nur als
Text mitteilen. Kann er sich in der Textevolution selbstdekonstruieren?
Dekonstruiert er den Autor, wie bei Stephan Mallarmé, dann bleibt nicht die
Darstellung, sondern die Operation zurück. Wird dagegen die Darstellung
dekonstruiert, so löst er Ausdrucksformen -- die Form des Romans -- auf, wie
in John Dos Passos’ Manhattan Transfer. Beides kann nur durch Selbstreferenz
erfolgen. Eine Selbst- ohne Fremdreferenz gibt es aber nicht. Wir können
nicht an den Rand des Textes gehen und seine Grenze zu seiner anderen
Seite überschreiten. Er kann sich nur selbstirritieren. Das kann der Text aber
153
wiederum nur durch die Unterscheidung zwischen Text und Umwelt, die nur
im Text vorzunehmen ist.
Rosa Ausländer (1901-88) konnte nur leben, wenn sie schreibt.
„Wer bin ich, wenn ich nicht schreibe?“
war ihre Selbstseins-Frage. Ihre Dichtung lernte ich erst in der zweiten Hälfte
der 1970er Jahre durch die Brünette kennen. Sie kannte sie selbstredend.
„Da gibt’s ja etwas nachzuholen“,
sagte sie. Spät, aber nicht zu spät. Sie ist ein Meister der Reduktion mit einer
Nähe zum Expressionismus. Dichtung ist für sie Existenzerhellung. Sie lag die
letzten zehn Jahre ihres Lebens im Bett und schrieb. Sie arbeitete ihre Dichtung
immer wieder um. Eine Art „Handwerk des Lebens“, um es mit Cesare Pavese
auszudrücken. Es wird berichtet, dass der Titel ihrer letzten Gedichtsammlung
„Der Traum hat ofene Augen“ (1987)
ihre letzte Niederschrift war. Nachdem sie aufhörte zu schreiben wartete sie
gelassen auf den Tod. Sie hatte nichts mehr niederzuschreiben.
„Ich bin kein Schriftsteller, sondern jemand der schreibt.“
Thomas Bernhard,
schießt mir dabei durch den Kopf.
Als ich die Schönheit vor über zwanzig Jahren das erste Mal erlebte, stand
das Bild von Burne Jones „Der König und die Bettlerin“ vor meinen Augen. Es
hängt in der Tate Gallery in London. Es ist ein typisches Bild der Prärafaeliten.
Auf ihm wird das Gestimmtsein dieser Künstlergruppe aus der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts sichtbar. Das Weltvertrauen ist verloren gegangen. Man
tritt in eine Verklärung ein, die symbolisch ausgedrückt wird. Der Prinz kauert
an einem Brunnen und in der oberen Bildhälfte steht eine blasse, schlanke und
langhaarige junge Frau. Sie wirkt so, als kommt sie gerade von einem anderen
Stern. Ich war von diesem Bild gerührt gewesen. In einem Augenblick stand
die Frau aus dem Bild vor mir. So, als wäre sie aus dem Bild herausgetreten und
zu einer greifbaren Fantasie geworden. Etwas, dass es nicht gibt.
Vermutlich wird keine Psychologie, die man inden könnte, erklären, dass sie
mich nicht schon sehr bald verlassen hat, zumal sie zwanzig Jahre jünger war,
sondern bei mir bleiben mochte. Ich konnte sie auch nicht davon abbringen.
Im alten China war es üblich, dass Bilder hinter Vorhänge aufzuhängen. Wenn
man ein Bild sehen mochte, zog man ihn auf. Dahinter steht ein wirklich
tiefe Einsicht, die uns im Westen abhanden gekommen ist: Man kann auch
Bilder, die einen bewegen und in einen anderen Zustand versetzten, nicht
154
fortlaufend ertragen. Es bedarf der Unterbrechung. Da ich von einem Bild
gerührt war, ist die lange Zeit vielleicht nicht so wichtig. Das Bild stellt sich
plötzlich ein und verschwindet wieder. Die Dauer des sich wiederholenden
Augenblicks zieht dabei eine gewisse unbeabsichtigte Beharrlichkeit nach
sich. Die Bilder bleiben kleben, und so reiht sich das eine an das andere Bild.
So tritt man in einen Bilderstrom ein. Etwas, das einem entzogen ist, da wir
uns in diesem „Strom“ nicht selbst erfassen können.
„... und doch erleben wir die Geschwindigkeit der Zeit, die an uns vorbeiliegt, wir erleben sie als etwas Äußeres, wir beobachten Veränderungen, aber unsere Bewusstseinszeit soll ein „Strom“ sein, in dem wir uns
selbst erfassen? Rätselhaft!?
Malstrom,
Wahrnehmungsangst,
Der magische Nullpunkt ist erreicht,
Ästhetik der Katastrophe, des reinen Erlebens“
sagte Dr. Auerbach einmal.
Es ist spät geworden. Nicht„spät“, sondern früh. Die Tagesgeräusche fangen
an, breiten sich aus und umfassen. Eine Geräuschglocke, die sich grenzenlos
ausdehnt.
Das Ende tritt nahe. Vielleicht ist noch etwas ZEIT. Aber das entzieht
sich dem Erleben. Das Bewusstsein läuft solange weiter, bis es wie eine
Uhr stehen bleibt. Es kann sich in jedem Augenblick ereignen. Es ist wieder
Frühjahr. Ungewöhnlich Wärme kündigt sich in diesem Jahr an. Ab Juli legte
sich eine unerträgliche Hitze über die Stadt. Gehe vormittags in die Stadt.
Laufe zu Fuß. Irgendwo hin. Stelle mich an den Straßenrand und sehe den
Autos nach. Eine poetische Situation. Stehe da und sehe den Autos nach.
Die Autofahrer wirken ganz fremd. Ihr Blick ist angespannt. Die Haltung
verkrampft. Irgendwie ist es unangenehm mit dem Auto zu fahren. Nehme
dann eine U-Bahn, die vormittags nicht übermäßig benutzt werden. Fahre bis
zu irgendeiner Endstation. Steige aus. Laufe etwas herum. Wenn es irgendwo
eine Bank gibt, was eher selten ist, lege mich auf sie und schlafe. Rauschen
umgibt mich. Höre in das Rauschen hinein. Ein schönes ENDE. Wer weiß, ob
es mir so geschenkt wird. Es kann jeden Tag geschehen, aber es könnte sich
auch noch etwas hinziehen. Es ist mir gleichgültig.
Ich erwachte. Rieb mir die Augen. War das Erlebte geträumt. Träumte ich
mich selbst. Träume reichen in das Wachbewusstsein hinein. Es stellten sich
liesende Übergänge ein. Träume sind kurz, obwohl wir sie als lange erleben.
Ich wusste nicht mehr, ob ich mein Leben lebte oder man es mir erzählte.
155
Es iel mir der Satz ein: Die ZEIT ist es, die nicht zu erfassen ist und in den
Abgrund stürzt.
Vor mir stand ein lachendes Gesicht. Die Schönheit, die so aussah, wie die
Bettlerin auf dem Bild von Edward Burne-Jones „Der König und die Bettlerin“
stand vor mir:
„Du liegst ja noch im Bett. Es ist Mittag. Hier sind Deine Tabletten. Stehe
doch jetzt auf! Oder soll ich mich zu Dir legen? Lieber nicht, da ist der alte
Mann gleich etwas überfordert. Das verschieben wir lieber etwas. Wann
bist du denn in die Horizontale gegangen? Habe schon Kafee gekocht.
Ohne Kofein.“
Es drängt mich mehr dazu, die Augen wieder zu schließen, da ich von einer
Küste irgendwo träumte. Aber was blieb mir anderes übrig, als aufzustehen.
Der Kafee wird gut tun. Der Schönheit mochte ich mich nicht verweigern. Die
Brünette hatte schon Recht, als sie einmal sagte, dass mir für das Tragische
das Verständnis fehlt.
Wer denkt, das Leben sei ewig, dessen Erlebnis/Gefühl des Zugangs zu sich
SELBST nimmt ab. Er ist SELBSTVERGESSEN.
„Ich/er/GPreyer/sie/dieBrünette/dieGermanistin/Dr.Auerbach/die Nymphomanin/der Rotstich im Haar/der Mann neben der Tür/der Gefangene/
der Verlorene ...“ ist ein anderer.
20. August 2010
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Impressum
Gerhard Preyer
der Verlorene
Volkmar Taube
tItelseIte
Reuß-Markus Krauße
abschlussbIld
Prof. Dr. phil. Gerhard Preyer
Professor of Sociology
Editor-In-Chief
ProtoSociology
An International Journal of Interdisciplinary Research
and Project
Goethe-University Frankfurt am Main
D-60054 Frankfurt a. M.
Gerhard Preyer
Academia.edu
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