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2018, Der Verlorene

Denn ‚Ich’ ist ein anderes. Wenn das Blech als Trompete aufwacht, dann ist nicht ihm das anzurechnen. Ich bin beim Aufblühen meines Denkens zugegen, ich schaue ihm zu, ich höre ihm zu. Ich mache einen Strich mit dem Bogen: schon regt sich die Symphonie in der Tiefe. Es ist falsch zu sagen: ich denke. Es müsste heißen: ich werde gedacht. Der Dichter kommt an im Unbekannten, und selbst wenn er seine eigenen Visionen schließlich nicht mehr begreift, so hat er sie doch geschaut. Mag er zugrunde gehen an seinem riesigen Sprung durch die ungehörten und unnennbaren Dinge: andere fruchtbare Arbeiter werden kommen und an jenen Horizonten anfangen, wo er selbst zusammengebrochen ist. Arthur Rimbaud Lettres du voyant Der Dichter hat nur dies zu tun, dass er geheimnisvoll arbeitet im Hinblick auf das Niemals. Stéphane Mallarmé Unter einer Epiphanie verstand er (Stephan) eine jähe geistige Manifestation, entweder in der Vulgarität von Rede oder Geste oder in einer denkwürdigen Phase des Geistes selbst. Er glaubte, dass es Aufgabe des Schriftstellers sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und flüchtigsten aller Momente seien. James Joyce, Stephen der Held

2 Denn ‚Ich’ ist ein anderes. Wenn das Blech als Trompete aufwacht, dann ist nicht ihm das anzurechnen. Ich bin beim Aufblühen meines Denkens zugegen, ich schaue ihm zu, ich höre ihm zu. Ich mache einen Strich mit dem Bogen: schon regt sich die Symphonie in der Tiefe. Es ist falsch zu sagen: ich denke. Es müsste heißen: ich werde gedacht. Der Dichter kommt an im Unbekannten, und selbst wenn er seine eigenen Visionen schließlich nicht mehr begreift, so hat er sie doch geschaut. Mag er zugrunde gehen an seinem riesigen Sprung durch die ungehörten und unnennbaren Dinge: andere fruchtbare Arbeiter werden kommen und an jenen Horizonten anfangen, wo er selbst zusammengebrochen ist. Arthur Rimbaud Lettres du voyant Der Dichter hat nur dies zu tun, dass er geheimnisvoll arbeitet im Hinblick auf das Niemals. Stéphane Mallarmé Unter einer Epiphanie verstand er (Stephan) eine jähe geistige Manifestation, entweder in der Vulgarität von Rede oder Geste oder in einer denkwürdigen Phase des Geistes selbst. Er glaubte, dass es Aufgabe des Schriftstellers sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und lüchtigsten aller Momente seien. James Joyce Stephen der Held 3 Inhalt anfang ohne ende dIe VerführerIn Versunkene Innenstadt flüchtIge erlebnIsse unterwegs VerwIrrung JetztzeIt Verlorener augenblIck reInes erleben der abend dIe entscheIdung ende Vom lIed Je est un autre aestetIcs of Pure exPerIencIng (lIVed exPerIence) ImPressum 4 anfang ohne ende Es hatte sich mittlerweile eine Alterslage eingestellt, in der sich die Reihen lichten. Ohne dass man den Erlebnisbestand so griig und klar geschnitten artikulieren könnte, so spürt man doch deutlicher, auch stärker, dass das Selbstsein, in dem man sich beindet, unbegreilich wird. Man erkennt sich in den Fremdzuschreibungen nicht mehr und wundert sich über den Anspruch des Einblicks, den andere über einen zu haben meinen. Irgendwie mag man diesbezüglich auch gar keine Motivforschung mehr betreiben. Man lässt es auf sich beruhen. Eine frühere Freundin teilte mir in den 1980er Jahren einmal mit, sie hätte gehört, das Gesagte bezog sich auf die Zeit Ende der 1970er Jahre, „Der Preyer kommt doch schon um 14 Uhr betrunken aus dem Pub“. Das war ein Lokal, in dem ich mich mit einem Freund einmal in der Woche am Mittag traf. Wie wahr, wir tranken extensiv zwei Stunden. Am Abend waren wir wieder da. Was man aus diesen Äußerungen alles folgern kann, von den Motiven und Absichten der Sprecher einmal ganz abgesehen!? Was haben solche Feststellungen mit einem selbst zu tun: Nicht viel oder gar nichts. Aber man wird so etikettiert, um handhabbar zu sein. Um in den Verläufen der Kommunikation zurecht zu kommen, bedarf es der großen Vereinfachungen. Sonst werden die Zuschreibungen unbestimmt. Wenn man nach weiteren Motiven fragt, so verläuft sich alles ins Unendliche (und-so-weiter). Wo hört das Weiterfragen auf? Es können dann keine Antworten mehr gegeben, sondern nur noch Antworten auf weitere Fragen wiederholt werden. Von Interesse sind sie als Anlass für literarische Assoziationen. Mit der Feststellung solcher Äußerungen ist eine etwas bescheidene Psychologie verbunden, die mit der Aussage keine Momentaufnahme, sondern eine globale Aussage vorlegt, bei der sich jeder den Teil hinzudenken kann, der ihm gerade lieb ist. Je globaler und trivialer solche Aussagen sind, um so besser, da sich um so mehr dazu erinden lässt. Das literarische Problem wäre aber ein ganz anderes, es liefe eher auf ein Psycho- oder Soziogramm desjenigen hinaus, der mittags um 14 Uhr betrunken aus dem Pub kommt. Vielleicht ist er gerade in diesem Zustand durchaus hellsichtig, sensibel, vielleicht auch ganz abgestumpft. Wie auch immer, die Art der Psychologie ist zu leicht zu durchschauen. Das ist nur ein Beispiel unter vielen anderen. Es fällt auf, dass irgendwie auf geheimnisvolle Weise durch das Älterwerden eine andere, auch neue, Distanz 5 zu sich selbst eintritt. Das Problem dabei ist jedoch, so kommt es mir vor, dass man sich in diesen Zuständen durchaus nicht besser selbst versteht, sondern sich auf eine vertraute Weise fremder wird. Wir trafen uns pünktlich um 13 Uhr im Pub. Der alte Freund war etwas jünger und lesehungrig. Es war ein hochgeschossener junger Mann mit lebendigen Augen und viel Neugier. Es gab also genug Themen. Es war ein sich zwei Stunden Hineinreden, Hineinhalluzinieren in alles, was man nicht selbst war. Dabei wurden bis 15 Uhr etwa fünf große Altbiere und mehrere Apfelschnäpse abgekippt. Es durchloss einen. Wir wurden durchlossen. Die junge Frau hinter der Theke war dabei zugleich ein Halluzinationsobjekt, über das aber nicht gesprochen wurde. Gerade die Distanz zu ihr, in der Rolle als Gast, trieb das unbewusste Fantasieren an. Man brauchte sich nicht absichtlich dazu zu veranlassen. Es war ein Spiel der Partialtriebe. Die junge unerreichbare Frau, eine gefärbte Blondine, bewegte sich in unseren Gedanken auf uns zu. Sie bediente uns bebend mit Bieren. Lächelte. Sie trug eine Bluse, leicht aufgeknüpft, die ihre harten Brüste herauspresste. Brachte sie uns das Bier, so beugte sie sich etwas vor, so sahen wir mehr von ihren Brüsten. Wir verlängerten unseren Blick und tranken weiter. Woher wohl die Faszination der weiblichen Brüste und der durch Nylonstrümpfe verkleideten Frauenbeine kommt? Sehen wir einmal von der Säuglingsinterpretation im Falle der Brüste ab. Damals waren psychoanalytische Deutungen im Umlauf: Sie sind phallische Symbole. Die Frau kommuniziert damit, dass sie auch einen Phallus hat. Sie ist also nicht das kastrierte Wesen. Das soll auch den Schreck vor dem weiblichen Geschlechtsteil, von dem man immer wieder hört, erklären. Sie möchte etwas zeigen, das sie nicht hat. Sie möchte dem Mann damit die Angst vor ihrem Geschlechtsteil nehmen. So als sage sie: „Sieh doch, ich habe ihn doch, den Phallus, ich zeige ihn dir. Er ist für jeden sichtbar. Ich bin die phallische Frau. Ich nehme dir die Kastrationsangst.“ Bei den sich seit den 1940er Jahren verbreitenden Nylonstrümpfen als Symbol der modernen Frau drängt sich diese Fantasie geradezu auf. Die Beziehung der Geschlechter kann keine Einfache sein. Sie ist auf Hervorhebung der Diferenz angelegt. Die damit einhergehenden Vorgänge sind zwar feststellbar, sie entziehen sich aber unserer Einsicht. Auch die Notwendigkeit der Fortplanzung erklärt nicht viel. Sie könnte auch unterbleiben. Darüber täuscht man sich immer wieder. Die Erforschung der Geschlechter hat nicht viel Erhellendes zu Tage gefördert. Man kann sich vom Geschlecht nicht befreien, wenn wir einmal von Grenzfällen absehen. Im Zentrum steht die Diferenz. Die Einheit ist paradox. Die Diferenz ist zu wiederholen, ohne dass es dabei zur Einheit kommen würde. Sie bleibt 6 unsichtbar, nicht-erkennbar und nicht-sagbar. Es bleibt nur übrig: MannFrau. Wenn man damit anfängt darüber nachzudenken, dann stellen sich unweigerlich Irrtümer ein. Man spürt etwas nach, dem nicht nachspürbar ist. Die Diferenz verführt dazu, nach der Einheit der Diferenz zu fragen. Es macht auch keinen Sinn, nach dem Wesen von Männer und Frauen zu fragen. Die überlieferte Unterscheidung von Tugenden und Lastern in der Geschlechterbeziehung hilft auch nicht weiter. Wir können die Einheit von Mann und Frau nicht an ihren körperlichen Merkmalen ablesen, sondern nur an der Unterscheidung mit der wir sie beobachten. Wir betreten einen anderen noch nicht erforschten Bereich, nicht nur des Denkens und Handelns, sondern auch des Erlebens: Selbstreferenz ist von den zweiwertigen Unterscheidungen der aristotelischen Logik zu trennen. Die Wahr-Falsch-Unterscheidung hat es leicht: Eine Verneinung macht wahre Aussagen falsch und falsche Aussagen wahr. Davon sind alle Dualitäten betrofen. Wenn wir die Trennung von Selbstreferenz und der Wahr-FalschUnterscheidung ernst nehmen und durchführen, stoßen wir an die Grenze des Umgangs mit uns selbst. Unlust kann man auch genießen. Wie gehen wir mit dem Durchkreuzen von wahr-falsch um. Das ist keine Frage der Logik, sondern des Erlebens. Die Logik kann sich nicht selbst durchkreuzen, möchte sie Logik bleiben. Wenn sich Selbstreferenz von dem Dualisieren trennt, dann zerfallen die einfachen dualen Zurechnungen. Sie geraten unter Verdacht. Devotes kann geheuchelt sein, Wahres unaufrichtig kommuniziert werden, mitgeteilte Aufrichtigkeit gerät unter Verdacht und Hölichkeit kann auch täuschen. Es bleibt nur das Erleben der Diferenz als Hinweis, um wieder Mann und Frau zu sein, um immer wieder mehr Mann und mehr Frau zu sein. Aber wir sollten vorsichtig sein, die Diferenz von Mann-Frau wird nicht gemacht. Hier könnten wir auf eine Paradoxie aulaufen. Bei dem Niederschreiben verliere ich die Gedankenfolge. Mir ist gar nicht bewusst, was sich da ereignet. Es mag die Nacht sein, die einhüllt und der heranrückende Tag, der sie plötzlich durch Geräusche unterbricht. Der alte Freund kommt mir wieder in Erinnerung. Es ist so, als sei ich gestern mit ihm unterwegs gewesen. Die Gespräche mit ihm waren inspirierend, aber von jugendlicher Naivität. Wir verloren uns nach einigen Jahren aus den Augen, ohne dass man sagen könnte, warum sich das einstellte. Er las damals Thomas Mann: „Der Hans Castrop und der Leverkühn, das sind doch zeitversetzt dieselben Gestalten. Der Naive, der in den Ersten Weltkrieg zieht und Dr. Adrian Leverkühn, der wahnsinnige Deutsche, der Kühle, sich nur kalt berauschende, der nicht lieben darf und der in den Wahnsinn tritt und für die nächsten Generationen schaft. Ist das nicht deutsch? Der, der im Wahnsinn kalt erglüht und das Weltgericht abhält, ist es ein Hegelianer?“ 7 In diesem Stil ging es weiter. Ich selbst habe mich sehr selten über Thomas Mann unterhalten. Meine Zugangsweisen waren zu unterschiedlich, einmal eher positiv, dann wieder einmal gelangweilt, danach wieder erfreut und unterhalten durch seine Ironie. Ob sie wirklich gelungen ist, mag dahingestellt bleiben. Im Josephsroman wirkt sie eher künstlich und von der Szene her gesehen unwirklich. Die Hirten sitzen am Feuer in der Wüste und unterhalten sich mit ironischen Reden. Das mag von mir ein Vorurteil sein. In den letzten zwanzig Jahren war ich eher ein rückwärtsgewandter Auswahlleser. Wenn man einen Autor kennt, dann kann man sich ihm ausgewählt wieder annähern. Man liest nicht mehr das ganze Buch, sondern vertieft sich eher in Details. Das geht gut, da der Text bekannt ist. Der alte Freund redete vom Dr. Faustus und war fasziniert. Dabei stellte die gefärbte Blondine noch ein Bier vor ihn. Sie bewegte ihre harten Brüste. „Wohl bekomm’s“, sagte sie. Sie kannte uns, da wir jede Woche einmal um 15 Uhr das Pub angetrunken verließen und guter Dinge waren. Ich selbst war damals eher von Negerinnen aus Somalia angetan. Sie gehören zu den schönsten Negerinnen, sind feingliedrig und verbinden eine besondere Mischung von Unterwürigkeit und Stolz. Andere Freunde bevorzugten Äthiopierinnen. Sie sind nicht hässlich, waren aber nicht mein Fall. Bei der Negerin begegnet man sexuell dem Tier, aber was macht man mit ihr danach? So jagen wir unseren Einbildungen nach. Berührungen mögen zwar beben. Was sind sie aber ohne Einbildungskraft? Es ist gleich 4 Uhr in der Frühe. Ich höre noch etwas in den Ring hinein. Vielleicht in den dritten Teil.„Siegfried“: Er führt als erkenntnisblind Handelnder den Untergang der göttlichen Schöpfung herbei. Das Heute wird kürzer, da das Morgen schrumpft. Die Gegenwart wird formlos, da sich die zukünftige Gegenwart entfernt. Es treten immer öfter Todesängste auf: Gehe dann aus dem Haus, fahre mit der U-Bahn ziellos durch die Stadt, steige irgendwo aus, laufe umher, ohne dass man dabei noch etwas aufnimmt. Sieht man eine schöne Frau, so zuckt man zusammen, ohne dass sich ein Wunsch einstellt. „Ihr nachgehen, sie verfolgen und beobachten“, bewegt einen plötzlich. Immer mehr stellt sich aber eine Unlust ein, die Brücke zu dem Leib des anderen zu begehen. Es ist nicht nur mühevoll, sondern es fehlt der Antrieb. Das verändert den Blick auf den anderen Leib und sein Erleben. Fremdheit stellt sich ein. Er ist nicht mehr etwas, dem man nah sein möchte. 8 Leider gibt es in Frankfurt am Main keine Straßenprostitution mehr. Das waren noch Zeiten! Man handelte schnell eine kleine Nummer aus und hatte etwas Spaß. Die ganze Prostitution hat sich ins Internet verlagert. Übrig sind die Türkenpufs geblieben. Sie sind schmutzig und deprimierend. Mittlerweile sind dort die Osteuropäerinnen eingezogen. Nach zwei Stunden Stadtmarsch stellt sich Ermüdung ein. Man ist irgendwo und fährt wieder nach hause. So vergehen die Tage. Es fehlt an Unterhaltung. Das Lesen und Musikhören lenkt etwas ab. Man geht auf Reise. Aber auch das wird fremd, irgendwie nicht fassbar. Der Sommer 1968 drängt sich in den letzten Tagen auf. An was erinnert man sich nach vierzig Jahren, was fällt dem Vergessen anheim? Ist es überhaupt wichtig, was man erinnert? Die Doors gaben auf dem Römerberg ein Gastspiel. Es war nicht übermäßig besucht. Sie hatten noch nicht die Bekanntheit, die sie in der Folge erlangten. Ich saß mit einer Flamme auf der Treppe zum Rathaus. Wir zogen einen Joint durch. Run with me! Eine expressive Inszenierung war zu erleben. „Run with me“: Die sexuelle Anspielung drängt sich auf. Der Joint tat seine Wirkung. Wir blieben nicht bis zum Ende. Es war ein warmer Sommerabend. Wir gingen ins Nizza am Main und trieben es. Sie war die Frau mit den goldenen Brüsten. Guter Sex ist eher selten, aber sie bekam die Note 1. Dafür hätte man sie promovieren sollen. Danach setzten wir uns in das Lorsbacher Tal, eine Apfelweinkneipe in Sachsenhausen, ab. Die Apfelweinlokale waren damals „Heiratsmärkte“, wie man sagte. Jeden Abend waren sie bis zum letzten Platz besetzt. Es wurde getrunken, gegessen, gelirtet, abgeschleppt. Die Nacht ergrif uns. Was wird aus der Frau mit den goldenen Brüsten geworden sein? Wir liefen nach zwei Monaten auseinander. Ich habe sie nie mehr gesehen. Würde ich sie wiedererkennen? Man hätte sich, würde man sich zufällig trefen, nicht viel zu sagen haben. Es würde sich vielleicht ein Gefühl aufdrängen, mit dem man nicht umgehen kann, das nicht aussprechbar ist. Man kennt das auch aus anderen Zusammenhängen, zum Beispiel bei Verwandten, von denen man nicht viel hält, aber denen man sich doch irgendwie verbunden fühlt. Es kommt gelegentlich vor, dass man jemandem aus der Vergangenheit zufällig begegnet. Eine Fremde und Distanz tritt dabei ein, die etwas Unheimliches hat. Man erkennt sich auf einmal nicht mehr in der vergangenen Geschichte mit demjenigen, der einem über den Weg läuft. Besonders eindringlich stellte sich dieses Erlebnis vor mehreren Jahren bei der Beobachtung einer Geliebten aus den 1970er Jahren in der Kleinen Markthalle ein. Sie kaufte ausgiebig Delikatessen ein. Sie wird so 58/59 Jahre gewesen sein. 9 Sie war eine Nymphomanin. „Ich brauche Sex mit vielen Männern“, sagte sie damals. Als ich sie kennenlernte war sie so 28/29 Jahre. Sie war verheiratet und wohnte mit ihrem Ehemann in einer großzügigen Wohnung im Frankfurter Nordend. Sie war eine außerordentlich elegante Erscheinung mit einer besonderen Art sich zu inszenieren, indem sie zugleich Nähe und Distanz herstellen konnte. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der gerne Klavier spielte. Er wird so Anfang der 40er Jahre alt gewesen sein. „Die schöne Kunst reicht zum Leben meistens nicht aus. Um es damit zu etwas zu bringen genügt nicht Talent, Fleiß, sogar Förderung reicht oft nicht aus. Man hat zum richtigen Zeitpunkt an dem richtigen Platz zu sein. Aber wer ist das schon“, sagte er. Er setzte sich ans Klavier und ing an zu spielen. Sehr talentiert und einfühlsam. Am Beeindrucktesten war, wie einfühlsam die Nymphomanin mit ihm umging. Es wirkte wie die ideale Beziehung. Oft saßen wir abends zu dritt zusammen. Er spielte Klavier, rauchte eine Zigarre. Ein Charmeur mit lebendigen Augen. Mir kam er als der letzten Charmeur der Geschäftswelt vor. Das erwähnte ich aber ihm gegenüber und anderen nicht. Die Nymphomanin schien ihm ganz ergeben. Bewunderte ihn. Ihr Mann war mir sehr zugetan: „Wenn Sie so weitermachen, dann wird nichts aus Ihnen. Mit der ganzen Bildung, Philosophie, Literatur, das sind brotlose Künste. Das ist selbstzerstörerisch. Das sollten Sie loslassen. Ich verschafe Ihnen einen Job in New York. Greifen sie zu. Da können Sie zeigen, was an Ihnen ist.“ „Lass ihn doch, er soll uns noch etwas rezitieren“, sagte die Nymphomanin. „Nacht Durch die Stadt gehen Nicht aufhören Straßen voller Licht Fluss Dunkles winkt Fühle, wie es greift 10 Bewegt Ohne Ende: Gehen Versinke lang“ Bei „Versinke lang“ ing der letzte Charmeur des Geschäftslebens, wie die Nymphomanin ihren Ehemann nannte, wieder an Klavier zu spielen. „Kippen wir noch eine Flasche Schampus, es ist noch etwas ganz Feines da, das vertreibt die lyrische Schwermut“, sagte er. Gegen 1 Uhr früh brachte sie mich durch das herrschaftliche hohe Treppenhaus zur Haustür. Sie machte mir den Hosenlatz auf. „Mach’s mir schnell von hinten“, sagte sie. „Komm schnell, schneller ... Zieh mir den Rock hoch und mach’s mir von hinten.“ Danach lächelte sie mich an und verabschiedete sich. „Selig ist, wer vergisst, was mal nicht zu ändern ist. See you.“ Was war mit der angefangenen Nacht zu anzufangen? Ich ging in eines der Nachtlokale, die bis vier Uhr früh aufhatten. Trank noch ein paar Bier. Lies mich behangen von dem Geschehen treiben. Wir sahen uns in der kleinen Markthalle einen Augenblick an, sprachen aber nicht miteinander. Aber aus ihrem Blick entnahm ich, dass sie sich an mich erinnerte. „Das war doch der ...“, könnte sie zu sich gesagt haben. Ich sah ihr dann nach, wie sie, sehr elegant, geplegt und vollgepackt die Kleine Markthalle verlies. Sie hatte noch eine leidlich gute Figur, ich spürte ihr Stöhnen, sah sie nackt vor mir liegen. Plötzlich stellte sich der Drang ein, ihr nachzulaufen und sie anzusprechen. Aber ich ließ es. Ich sah, wie sie sich entfernte, blickte ihr nach und das aufdringliche Gefühl verlog. Es war kein unangenehmer oder bedrohlicher Zustand. Plötzlich stellte sich eine innere Ruhe ein. Ich ging zur Hauptwache. Rauchte ein paar Zigaretten. Es war so, als ging mich das, was mich umgab, gar nichts an. Ich fühlte mich an der Hauptwache in das Jahr 1965 zurückversetzt. Da war sie das Zentrum des städtischen Geschehens. Es fuhren die Straßenbahnen in alle Richtungen. Mittags im Café Alfa oder im Terrassencafé, am frühen Abend im Café Kranzler, in dem ein Stehgeiger spielte oder in der Hütten und Sie Bar. Im Story Ville und im Jazzkeller war der neuste Jazz zu hören. Man 11 hatte eine Free-Jazz-Stimmung, der eine metaphysische Bedeutung zukam. Die Antibabypille, die so seit 1966 in Umlauf kam, eröfnete eine angstfreiere Sexualität. Die jungen Studentinnen ließen sich in der Universitätsklinik in die Testgruppe eintragen und bekamen sie so kostenlos. Es war die Zeit andauernder intellektueller Innovation. Man war bereits in der Postmoderne angekommen. Der allwissende Erzähler, das erkennende Ich als Fundament jeder sicheren Erkenntnis, die abgeschlossene Geschichte und die gute Gesellschaft hatten damals bereits ihre Geltung, Vorbildlichkeit und Plausibilität verloren. Der Noveaux Roman war die ultima ratio. Autoren wie zum Beispiel Nathalie Sarraute, Allain Robbe-Grillet, Robert Pinget, Claude Ollier spürte man nach. Diese Form hat aber in Deutschland weiter keine Verbreitung gefunden und keine Wirkung nach sich gezogen. Anfang der 1970er Jahre sprach man kaum mehr von ihm. In Italien war das etwas anders. Es ist aber auch nicht sonderlich verwunderlich, dass der Noveaux Roman keine große Verbreitung gefunden hat. Seine Rezeption beschränkte sich auf kleine Intellektuellenkreise. Er verbleibt an der Oberläche und überlässt bewusst alles dem Leser (Interpreten). Zudem ermüdet er und ist nicht sonderlich unterhaltend. Man kann auch nicht nur Anton Webern hören. Eine Kuriosität aus dieser Zeit kommt mir in Erinnerung. In den intellektuell ambitionierten Kreisen der akademischen Jugend der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hörte man immer wieder, dass man einen Roman schreiben möchte. Eine Theorie aufstellen oder etwas erforschen galt eher als zu profan, wenn nicht sogar als banal. Davon hatte man sich nicht viel an Einsicht erwartet, sondern der Roman sollte geradezu der intellektuelle Höhepunkt und zeitgemäße Ausdruck, nicht nur der Zeit, sondern des eigenen Selbst in einem überpersonalen Sinne sein. Aber nicht nur das. Er sollte nicht nur einfach ein Roman, sondern der Roman des Romans sein. Der Roman, der sich zugleich selbst relektiert und seine eigene Theorie enthält. Das war eine romantische Idee der „Athenaeumszeit“ in Weimar von 1798-1800 (F. Schlegel und seine anspruchsvolle Freunde). Die Romantiknatur ist eine verzauberte Natur. Das Banale sollte außergewöhnlich, das Normale sollte sensationell und im Endlichen sollte etwas Unendliches sichtbar werden. Eine Charakterisierung des Romantischen, die auf Novalis zurückgeht und wirkungsgeschichtlich wurde. Dass aus solchen Ansprüchen und Ambitionen nichts wurde, ist eigentlich naheliegend. Es wurde einer verkehrten Idee nachgejagt. Das Ganze erledigte sich von selbst. Die Zwänge des Alltags traten ein und taten das Übrige. Wie es sich auch immer damit verhielt, die Art des Redens hatte etwas Anregendes. Sie stimulierte, wenn auch nicht gerade dazu, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Der Zufall brachte es mit sich, dass ich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als Statist bei den Frankfurter Städtischen Bühnen tätig war. Eine ausgelassene 12 Zeit. Fast jeden Abend war Theater oder Oper angesagt. Am Mittag traf man sich in einer der beiden Kantinen. Der Vorhang fällt und der Applaus kommt einem entgegen. Die Statisten konnten bei dem letzten Vorhang auch daran teilhaben. Das Publikum gerät in Ekstase. Eine Ansammlung von sich unbekannten Besuchern, die zufälliger Weise bei einem Theaterbesuch in einem Raum sind, tritt in eine außeralltägliche Beziehung. Sie können in dem Augenblick ihres Applauses anders sein, als sie sonst sind. Treten aus sich heraus. Wer das einmal erlebt hat, kann nachempinden, dass man danach süchtig sein kann. Dann wird es plötzlich still. Das Theater leert sich, und man weiß nicht mehr, was geschah. Es ist so, als sei nichts gewesen. Am darauf folgenden Tag steht bereits die nächste Veranstaltung an. Es wiederholt sich, ermüdet, es wird wieder gespielt. Das ist das Geheimnis der Schönen Kunst, dass immer weiter gespielt wird. Sie darf nicht aufhören. Es ist ein selbstzerstörender Zwang. Nach der Auführung saß man mit den Schauspielern zusammen. Sie gingen damals in den Künstlerkeller zur Toni. Sie war die beliebte Wirtin im Künstlerkeller. Dort hatten sie ihren Stammtisch. Man sagt den Künstler Egozentrik, überzogenen Narzissmus und Instrumentalisierung ihrer sozialen Beziehungen nach – etwas, das ja nicht nur auf sie zutrift --, aber eines muss man der Künstlergeneration dieser Zeit lassen, feiern konnten sie. Toni hat im Künstlerkeller wirklich lange durchgehalten. Anfang der 1990er Jahre zog sie sich nach Sommerhausen, eine kleine Künstlerkolonie am Main, zurück. Der Ort liegt nicht weit entfernt von Würzburg lussaufwärts. Es ist wieder früh geworden. Irgendwie blieb die Zeit stehen. Sie war ein einziger Augenblick. Jetzt tritt wieder das Gegenständliche ein und bringt einen zurück zur weiterlaufenden Zeit. Ein Satz schießt mir durch den Kopf: „Einsam ist man erst dann, wenn man merkt, dass man allein mit sich zurecht kommt.“ Das Mit-sich-selbst-vertraut-Sein wird fremd. Man ist sich selbst entzogen. Wenn man merkt, wie sich das anfühlt, fängt man an abzudriften. Es ist nicht mitteilbar. Ein dauerndes Fallen. Wenn wir es in der Gegenwart zu erfassen versuchen, so verschiebt es sich in die Zukunft. In der Zukunft ist es nicht erreichbar. Die Zukunft ist ohne Anfang und Ende. Ob das dann wirklich – auch für einen selbst – „gut“ ist, mag dahingestellt bleiben. Es fehlen die Maßstäbe. Man fängt an, sich über die Schulter zu sehen, aber das wird immer mehr unerlebbar. Man spürt nur noch etwas, aber es wird nichts mehr gesehen. Es tritt Leere ein. 29. September 2007 13 dIe VerführerIn Der Einbruch ist früher gekommen, als ich es erwartete. Die körperlichen Veränderungen sind weniger das Problem. Darauf kann man sich einstellen, aber die mentalen Vorgänge, wie sie damit auch damit zusammenhängen mögen, irritieren das bewusste Erleben. Man kann gar nicht so bestimmt sagen, welche Gäste in die wachen Zustände eintreten. Es verschwimmen Tag und Nacht, bewusste Gegenwart und Schlaf. In dem Ausmaß, indem Rentner ihre Alltagsordnung verlieren, stellt sich ein Verlust an Alltagsbewältigung ein. Sie haben von heute auf morgen auf einmal den ganzen Tag Zeit und brauchen für Erledigungen, die sie vorher an einem Tag durchführten – ohne viel darüber nachzudenken – auf einmal eine ganze Woche. Es wird alles beschwerlich. Man muss sich schon für das Zähneputzen überwinden. Das alles braucht nicht sonderlich zu überraschen, da man das eigene Leben hinter sich hat. Die Erwartungen werden kurzfristiger und weniger. Was soll auf einen schon noch zukommen? Von Alterssex halte ich nicht viel. Es wird uns da auch Unsinniges angesonnen. Man sagt sich den Goethe-Satz vor „Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein“. Dabei bleibt es dann in der Regel. Alte und hinfällige Leiber, die sich umschlingen, sind kein ästhetisches Bild. Je älter man wird, um so mehr sollte man in das Musische eintreten. Es bedarf der Exerzitien des reinen Erlebens. Sie soll aber keine Klage sein. Das Erleben kann auch in andere Dimensionen eintreten. Je mehr die Zwänge, Erwartungen zurücktreten, umso mehr kann sich auch das Musische steigern. Vielleicht tritt man erst in einer Situation, in der der Wille nachlässt in das Musische als ein reines Erleben ein. Etwas haben wollen, das ist das Charakteristische des Willens, das uns vom reinen Erleben abhält. Man wird durch das ästhetische reine Erleben stoned. Es ist etwas, das gar keinen Nutzen mehr hat. Deshalb kann man es nicht kommunizieren. Es ist wie reines Marijuana. Aber auch Gegenbewegungen treten ein. Man ist der ganzen Kunst und Literatur überdrüssig. Man mag gar nichts mehr lesen, nichts hören, sich nicht in Bildern verlieren. Im Kopf fängt es an, dass sich alles aulöst und formlos ist. Es stellt sich ein Zustand ein, in dem man am liebsten schläft. Gegen ein Uhr nachts hörte ich etwas Mahler. Bei dem Adagio der unvollendeten 10. Symphonie drängte sich die Erinnerung an die Nymphomanin auf. Irgendwie wirkte das kleine Markthalle-Erlebnis unbewusst nach. Das überraschte mich, da ich danach gar nicht mehr an sie dachte. Sie trug gerne 14 wertvolle Perlenketten. „Man hört immer wieder, Perlenketten seien etwas für alte Frauen. Das ist aber eher die jetzt kommende Müslimittelschicht der ungebildeten Gymnasiallehrer. Perlen haben etwas Erotisches. Sie sind wie ein Augenblick, so wie die Liebe, die nicht für die Ewigkeit zu gewährleisten ist“, hörte ich sie sagen. Sie war eine außerordentlich gut aussehende und wohlgebaute Frau. Sie hatte eine Eleganz, der man nicht das Inszenierte anmerkte und liebte einen aufwendigen Lebensstil. Das war in diesem Fall kein sonderliches Problem. Ihr Mann sorgte fast etwas zu großzügig dafür. Schon wie sie rauchte, war ein Erlebnis. Selbstverständlich kamen nur „Botschafter“ in Frage. Die teuersten Zigarettenmarke, die es auf dem Markt gab. Es sind wirklich vorzügliche Zigaretten. Sie war Akademikerin und gebildet. Zudem hatte sie eine ins Destruktive gehende Intelligenz. Damit verband sich ein besonderes Problem, da sie die Akademiker zugleich als geschmacklos verachtete. In ihrem Aussehen erlebte ich auch etwas Hässliches. Das Gebildete verbindet sich auch mit etwas Grobem. Vielleicht war es eine fehlgeleitete Empindsamkeit, dass ich sie so sah. Ihre ganze Psychologie ist mir immer noch schleierhaft. Sie wirkte in ihren eleganten Kostümen, den Nylonstrümpfen und den teuren Schuhen ausgesprochen phallisch, so, als mochte sie ein Schwanz sein. Die Gebildeten sind oft auch sehr banal, trivial und inszenieren sich vor ihrem Publikum. Man denkt, „das ist aber eine feine Frau/Mann“ und erlebt, wie sie entgleisen und versteht nicht mehr, was sich da ereignet. Mittags, wenn ich sie im Café traf, sagte sie: „Komm, wir treiben es erst einmal im nächsten Bürolur. Danach können wir uns noch etwas unterhalten. Dieser ganze deprimierende, ritualisierte Ablauf: Man trift sich am Abend mit einem Mann, trinkt einen Wein und danach soll man mit ihm ins Bett gehen. Diese ganze latente sexualisierte Stimmung, und man weiß schon, was danach alles an Ungeschicklichkeiten kommt. Was soll das schon bringen?! Wir machen es erst einmal. Dann trinkt sich doch Café und Cognac etwas entspannter. Treiben kann man es überall, das ist eine Frage der Einstellung, da gibt es nicht viel zu organisieren. Wenn ich diese Männer mit ihrer verkorksten Sexualität sehe, und arme Kirchenmäuse sind sie dann auch noch“. Es konnte auch vorkommen, dass sie in einem Aufzug den Schalter auf „Halt“ stellte: „Und, was jetzt, sei kein Feigling. Ist etwas an dir dran?“ Zu dem Zeitpunkt hatten sich ihre sexuellen Forderungen derart gesteigert, dass ich ihnen nicht mehr nachkommen mochte. Das führte vermutlich auch 15 zum Ende dieser Liebschaft. Wobei zu berücksichtigen ist, dass es nicht nur einen einzigen Grund für das Ende von Liebschaften gibt. Ihre Qualität besteht in der zeitlichen Begrenzung. Sie bekommen dadurch ihren Hauch von Außerordentlichkeit. Sie sind der Ausnahmezustand der Erotik. Oft hat sich aber auch etwas erschöpft, die Entscheidung hat eine längere Vorgeschichte. Es ist nur die Frage, wer dann wem den Schwarzen Peter zuschiebt. Der Verlassene hat es sogar leichter, da er bedauert werden kann und derjenige, der den ersten Schritt geht, hat am Ende den Nachteil: Er macht sich Vorwürfe, steht nicht selten als der Böse dar, seine Entscheidung wird entsprechend kommentiert, und es werden ihm alle möglichen Motive angesonnen. Wie gefährlich die Nymphomanin war, zeigte sich erst im Fortgang. Sie konnte skrupellos sein. Der Konlikt brach plötzlich aus. Meine Absicht, nach Agadir zu liegen, um einen alten Freund zu trefen, wurde von ihr durch den Vorschlag durchkreuzt, dass man doch zu dritt den Trip unternehmen könnte. Das wurde so selbstverständlich geäußert, als sei ein Widerspruch gar nicht denkbar. Mir war das nicht so lieb, da ich eine Auszeit nehmen mochte, um mich etwas innerlich zu ordnen. Auch merkte ich einen inneren Widerstand, mit der Nymphomanin und dem letzten Charmeur der Geschäftswelt unterwegs zu sein. Beindet man sich in dem Zustand der inneren Sortierung, so bedarf es auch der Diferenz zu einer vereinnahmenden Nahwelt. Die Diferenz mündete nun in keinen Konlikt ein, sondern wurde übergangen. „Wir besprechen dann dein Projekt, wenn du zurück bist, ich habe eine Idee“, sagte sie, als sie mich zum Flughafen brachte. Sie verabschiedete sich mit ihrer einnehmenden Verbindlichkeit. Ich war bei ihr aber bereits ausrangiert. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre schrieb ich einen kleinen Gedichtband, Ortung, der Jahre zur Seite gelegt, mich wieder beschäftigte. Ich habe ihn dann Anfang der 1980er Jahre vernichtet. Einige Verse sortierte ich aus. Sie hatten noch eine Geschichte, die überraschend begann. Der lyrische Ausdruck, seine Reduktion und Verdichtung beschäftigte mich in den 1970er Jahren. Das angesprochene „Projekt“ führte auch zu dem Zerwürfnis, das von der Nymphomanin nach meiner Rückkehr zügig herbeigeführt wurde. Mir schwebte damals die Vertonung von Teilen der Ortung vor. Sie hatte einen jungen talentierten Komponisten und Pianisten an der Hand, der sich gerne der Aufgabe angenommen hätte. Sein Spiel war wirklich ansprechend. Oft saß er am Flügel und spielte mit liegenden Händen. Er war ein hochgeschossener Mann, der gut aussah. Jemanden, mit dem man auch repräsentieren konnte, der nicht die goldenen Kafeelöfel mitnimmt und es auf das Personal schiebt. Im schlimmsten Fall schleppt er jemand vom Personal ab. Das wird nachgesehen und gehört zu den Kavalierverfehlungen, mit denen man sich gerne identiiziert. 16 Die latent vorhandenen Ambivalenzen brachen schlagartig aus. Sie bestand auf einer Vertonung der Ortung in der Schönbergtradition, was nicht meinem Zugang zu dem tonalen Ausdruck der Verse entsprach. Die Ortung war damals so gebaut, dass sie von der formalen Fassung der Verse in eine freie Form überging. Das sollte aus meiner Sicht in einem melodischen Übergang vertont werden. Der tonale Ausdruck sollte noch eine Fessel sein, der im stimmlichen Ausdruck der Verse überwunden wird und zugleich wieder kehrt. (Erwartung) Felder, voll von Traum Roter Mohn schmückt dunkles Gelb Messer greifen in sattes Korn Schwarz-Braun bricht jetzt hervor Tod zeichnet das Gesicht Dunkles winkt, so lange schon. Bei diesen Versen sollte der Ton lange gehalten werden: So, als höre er nicht auf. Der talentierte Tonsetzer schlug sich zwar nicht auf ihre Seite, sondern er enthielt sich so neutral, dass es alles bedeuten konnte. Es gibt eine Art der Zurückhaltung, mit der man manipulieren kann, ohne weiter in ein Engagement für die eine oder andere Seite zu gehen. Zu dem Zeitpunkt wird er schon ihr Liebhaber gewesen sein. Sie äußerte sich mir gegenüber bei einem unserer letzten Trefen in dieser vernichtenden Weise: „Du kommst nicht genug, warum kannst du nicht sechs, sieben Mal schnell hintereinander, das kenne ich doch anderes“. Ich brach den Kontakt mit ihr ohne irgendwelches Nachgeplänkel ab. Mit der Konsequenz meiner Entscheidung hatte sie vermutlich nicht gerechnet, da sie auf Nachgiebigkeiten und Verführbarkeiten spekulierte. Sie erreichte mich nach Wochen noch einmal am Telefon: „Du könntest doch auf der Ausstellung vorbeikommen. Bin mit Freunden unterwegs. Wir könnten uns dann absetzen“, aber ich ging darauf nicht ein und legte auf. Tage später traf ich den Tonsetzer, der mir seine Not anvertraute. 17 „Ich kann zehn Mal hintereinander. Das glaubst du nicht. Ich zeige es dir“. Er holte im nächsten Hauslur seinen Schwanz heraus und ing an. Nach dem er vier Mal kam, war ich überzeugt. „Sie macht mich fertig. Was soll ich nur tun? Wir reden noch über die Vertonung.“ Ich legte aber keinen Wert mehr auf die Vertonung, da ich andere Projekte verfolgte. Irgendwie, ohne es mir erklären zu können, hatte ich das Projekt innerlich abgeschlossen und für mich beendet. Wenn etwas innerlich abgeschlossen ist, darf man nicht den Fehler begehen, Sentimentalitäten aufkommen zu lassen. Den Tonsetzer, der Mann mit den linken Händen, traf ich in den folgenden zwanzig Jahren immer wieder einmal. Sein ganzes Talent nutzte ihm nicht viel. Er war mit mehr als Glück an einer Musikhochschule in der Provinz untergekommen, an der er Klavier und Komposition unterrichtete, heiratete und zeugte zwei Kinder mit einer Gymnasiallehrerin. Er sah schlecht und blass aus. Das wurde noch durch seinen hochgeschossenen Wuchs verstärkt. „Je mehr man in die Tiefe der musikalischen Konstruktion und Technik einsteigt, umso mehr verliert man das Talent zum spielerischen Komponieren. Ich habe kein Talent zur Vision. Was haben mir die schnellen Hände und das ganze, nicht aufhörende Klavierspielen geholfen? Wenn ich Frau und Kinder sehe, wird mir schon schlecht. Der ganze kleinbürgerliche Verwandtschaftsquatsch und Terror. Das geht nur mit Cognac. Man trinkt sich diese, jedes Talent vernichtende, Verwandtschaft erträglich. Schön, würde ich nicht sagen, da man sich Frauen für seinen steifen Schwanz schön trinkt. Die Verwandtschaft kann man nicht „schön“ trinken, die bleibt auch dann so, wie sie ist. „Erträglich“ wird sie in diesem Zustand, da man ihre Konturen nicht mehr wahrnimmt. An Krebs werde ich mit dieser Verwandtschaft sterben. Komm, wir kippen noch ein paar Cognacs. Ich erkläre dir, warum die 12 Tontechnik veraltet und nicht erneuerbar, schlicht geschichtlich ist.“ Er sprach noch die Gefährlichkeit der Nymphomanin an, die mich bei allen, die sie kannte, mit ihrem Gemunkel herabsetzte. „Sie sagte, du seist ein impotenter Wichtigtuer, auch noch völlig untalentiert. Mich hob sie dann als Genie in den Himmel. Sie hat mich aber auch abgeschoben und lächerlich gemacht. Wir sind ja ganz gut davongekommen“, sagte er. Sein Gesicht wirkte dabei noch grauer. Seine ganze Erscheinung hatte etwas Rührendes. Sie versetzte mich in eine niedergeschlagene Stimmung, so wie er da redete, wie einem vor Augen geführt wurde, dass sein ganzes Talent vernichtet wurde. Es wurde aber dann doch, dank der Cognacs und des 18 Gesprächslusses, ein gelungener Abend. Es ist jetzt wieder 5 Uhr früh. Die Schlalosigkeit hat mich wieder besucht. Ich werde etwas mit der U-Bahn durch die Stadt fahren und vor mich hindösen. 26. Dezember 2007 19 Versunkene Innenstadt Das letzte Stück des Nachtkonzerts geht zu Ende. Es ist kurz vor 5 Uhr früh. Eine Niedergeschlagenheit überkommt mich. Ich kann mich kaum bewegen. Ein Zustand, als ob man im Innern weint. Ein Weinen ohne das Feuchte der realen Tränen. Der Zustand hat nichts Erhellendes. Er ist kein Zustand der verklärenden Melancholie. Es kostet mich viel Kraft aufzustehen, um das Radio abzuschalten. Die Frühnachrichten werden gleich gesendet. Dem möchte ich mich entziehen. Versuche mich in die Horizontale zu bringen. Schlaf, etwas Musik und eine schöne Stimme können eine gute Medizin sein. Unseren Erinnerungen können wir nicht so ganz trauen. Aber auf ganzer Linie an ihnen zu Zweifeln, macht auch keinen Sinn. Es gibt keine apodiktischen (nicht erschütterbare) Gewissheiten über vergangene Erfahrungen und Erlebnisse, die wir uns in Erinnerung rufen. Die Erinnerungen lösen ein Gefühl aus, haben eine stärkeren und schwächeren Grad an Aufdringlichkeit. Wir versuchen uns zu erinnern und es stellt sich ein Ablauf von Erinnerungen ein, den wir als etwas Geschehenes festhalten. So war es, sagen wir uns. Gelegentlich lösen äußere Ereignisse Erinnerungen aus, ohne dass man dafür eine Erklärung hat. Wenn man allein vor sich dahin sinnt, schwankt man oft, dem „so war es“ Urteil zuzustimmen. Man sucht nach äußeren Gegenständen. Es mag eine Fotograie, ein Buch, ein Ton, ein Tasse sein, an dem man das Erinnerte festmacht, um es in einen äußeren, versachlichten Zusammenhang zu stellen. Dass uns Vergangenes nicht mehr ursprünglich gegeben ist, führt uns auch in die Irre. Streichen wir das Problem!? Gehen wir von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück! Es wird schon hell, und die Unruhe des Tags kündigt sich an. Gerade spiele ich eine meiner Lieblingsstellen in Wagners Ring aus der Walküre an. Siegmund: „Winterstürme wichen dem Wonnemond, – in mildem Lichte leuchtet der Lenz; – ...“ und Sieglinde antwortet ihm „Du bist der Lenz, nach dem ich verlangte in frostigen Winters Frist ...“. Dass ich diese Stelle immer wieder höre, hat etwas Zwanghaftes, und ich unterdrücke es auch. Über zwanzig Jahre konnte ich sie gar nicht hören. Sie führt mich in der Erinnerung zu Ereignissen, die mein Gemüt schwer belasten und von denen ich mich eigentlich nie erholt habe. Da sollte man sich von der 20 Außenansicht nicht täuschen lassen. Man kann nie ganz ausschließen, dass man dem Thomas Mann Zauberbergtypus begegnet: Durch Höhenluft und Alpinbestrahlung braun gebrannt und tödlich krank. Der Agadiraufenthalt bei dem Marokkaner hatte nach dem Abschied von der Nymphomanin wirklich gut getan. In Agadir zu sein, war eine kleine Wiedergeburt. Man war den ganzen Tag unterwegs und lies das Fremdartige auf sich wirken. Mit dem Marokkaner verbindet mich eine lange Freundschaft, auch wenn ich ihn selten sehe. Ich lernte ihn im Sommer 1964 kennen. In der Frankfurter Innenstadt gab es damals an der Ecke SchillerstraßeBiebergasse in Sichtweite der Hauptwache das erste Schnellrestaurant Picknick. In diesen Jahren kamen junge Marokkaner nach Frankfurt. Das Picknick war auf der unteren Ebene ein Schnellrestaurant und im ersten Stock wurde noch wie üblich serviert. Die Fensterseite Richtung Café Kranzler war ofen, so dass man dort in der Sonne stehen und Bier trinken konnte. Abends wurde dieser Teil dann geschlossen. Im Café Kranzler konnte man die Frankfurter Hautevolée trefen. Im Sommer konnte man auf einem kleinen abgegrenzten Raum vor dem Ausgang draußen sitzen. Gegenüber waren die Straßenbahnhaltestelle Hauptwache Richtung Eschenheimer-Turm (Eschenheimer Landstraße.) und Hauptbahnhof. Dort tummelten sich die Frankfurter Durchschnittsexistenzen, Angestellte, Arbeiter und Schüler. Im Sichtkontakt waren die Hautevolée und der Rest der Frankfurter versammelt. Er wartete auf die Straßenbahn, stieg aus und ein, nahm die Hautevolée gar nicht wahr, aber er sah sie unabsichtlich, da er nicht über sie hinwegsehen konnte. Vor dem Kranzler saß dieser Ausschnitt der Hautevolée, so wie in einem Reagenzglas, auf einem recht kleinen, etwas sehr zusammengedrängten Raum. Immer im Geschmack der Zeit gut angezogen. Man kann nicht sagen, dass die andere Seite sich diesem Publikum gegenüber darstellte, aber sie saßen einfach auf ihrem abgegrenzten Raum und fühlten sich wohl. Lachten, tranken Kafee, aßen Kuchen und verabredeten sich. Sie sahen gelegentlich auf das Hin und Her der Passanten, Straßenbahnen, ein Anblick, dem sie sich auch nicht entziehen konnten und ließen sich von livrierten Kellnern des Kranzlers servieren. Im Kranzler war der Direktor des Frankfurter Zoos Prof. Dr. Bernhard Grzimek mit stadtbekannten Kurtisanen ein Stammgast. Er trug einen eleganten, hellen Sommeranzug und gab sich gerne, um es so auszudrücken, distanziertleutselig. Populär ist er durch seine Tier-Fernsehsendungen geworden, die beliebt waren. Auf mich wirkten diese Sendungen sehr regressiv. Grzimek war eine elegante Erscheinung. Er ging gerne ins Theater. Er gab einem aber diskret zu verstehen, dass er im Café Kranzler nicht über Tiere sprechen möchte. Er hörte sich gerne Klatsch an und klatschte gerne über Schauspieler, Schauspielerinnen aus dem Theater am Zoo und den Mitarbeitern der 21 Fernsehanstalten. Er stieg gerne Frauen nach und beschwerte sich darüber, wenn er nicht landen konnte. „Was bilden die sich ein, der alte Grzimek verhilft Ihnen dazu, dass sie einen Augenblick aus ihrer himmelschreienden Trivialität herausgehoben werden. Hinten sind wir gleich, und vorn passen wir zusammen.“ Dabei lachte er immer. Im Terrassencafé traf man den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Er wirkte sehr gesetzt, rauchte iel und hatte eine einfühlsame Umgangsweise, die einen für ihn einnahm. Man sagte ihm nach, dass er zuhören, sich auf einen einlassen und einen ein Stück weiterbringen konnte. Wenn ich mit ihm sprach, ließ er sich meistens über meine neuen Musikerfahrungen erzählen. Er hörte gerne zu. Er verabschiedete sich gerne mit dem Satz „Jetzt geht’s wieder zu meinen Problemfällen. Bis die Tage.“ Von Mittags bis zum frühen Abend trafen sich im Picknick kleine Gruppen Marokkaner, auch Spanier mischten sich in die Runde. Die Frankfurter waren über diese Erscheinungen sehr verwundert. Sie kamen ihnen exotisch vor. Man hörte so Äußerungen wie „Mach’s wie ein Marokkaner an der Hauptwache. Die haben’s gut. Sind bei uns sind den ganzen Tag an der Sonne“. Also das Übliche. Wir wissen, dass die Durchschnittsexistenzen in der ganzen Welt eines gemeinsam haben, sie kommen abends nach Hause, trinken, sind fremdenfeindlich und hängen Verschwörungstheorien nach. Mittlerweile sind sie noch an das Fernsehgerät gefesselt, das sie in ihrem hässlichen Selbstsein bestätigt. Das gilt nahezu kulturübergreifend. Da hilft nur eine stoische Haltung. Die Grundfrage der stoischen Philosophie ist „Was kann man ändern und was nicht?“. Insofern hat man sie immer wieder in Erinnerung gerufen und sie zur Selbstdeutung und Orientierung genutzt. Das Ergebnis ist, dass man sich ihrer Art der Selbstreferenz zu eigen macht, die einfach darin besteht, die Stabilität zu gewinnen, das Geschehen unberührt an sich vorbeiziehen zu lassen, da man es nicht verändern kann. Ändern kann man allerdings das Ausmaß von ihm betrofen zu sein. Das gelingt durch Indiferenz. Die Einübung in den stoischen Blick, der die Einsicht in Veränderbares und Unveränderliches freigibt. Was unsere alten Frankfurter betrift, so sollten wir ihnen zu Gute halten, dass sie damals auch ihre freundlichen und liebenswerten Seiten hatten. Wenn man jung ist, hat man eine erhöhte Wahrnehmung seiner Umwelt und sucht Kontakte, soziale Anschlüsse, von denen man erwartet, dass man etwas Neues erfährt, das einen über die eigene Lage hinausträgt. 22 Man nimmt Einladungen an, trift sich, feiert, geht ins Theater und hat eine wache Außenorientierung. Damals war die Frankfurter Innenstadt noch ein lebendiges Zentrum. Unsere Rede war „Lass uns down town gehen!“, also, auf den Rialto, auf dem man nach Angeboten und Anschlüssen Ausschau hielt. Es gab vor allem am Abend eine Innenstadtgeselligkeit, die sich im Sommer bis spät in die Nacht hineinzog. Es wurde laniert, gelirtet, man traf sich, um kurz ins Café zu gehen, machte Dates aus. „Hast du für heute Abend schon ein Rendez-vous?“, war eine geläuige Rede. Das Wort „Rendez-vous“ war damals noch im Gebrauch. Die Trampelpfade waren von Café Alfa zum Café Kranzler, am Picknick vorbei zum Terrassen Café und zurück, oder die Fressgasse entlang zum Café am Opernplatz und zum Café Weiß oder ins Café Wacker. Auf der Fressgasse trank man im Café Schwille einen Kafee, ein Bier, je nach Laune. Es war auch ein Szenetref mit gemischtem Publikum. Das Café Weiß wurde von zwei Frauen bewirtschaftet, der alten Weiß und ihrer Tochter. Das Café Weiß war eine Mischung zwischen Insidertipp und einem Stammpublikum aus Angestellten, Intellektuellen und Musikern. Es hatte die Eigenheit, dass man dort keinen Kuchen bestellen durfte. Der war so hart wie Stein. Die Insider wussten das und tranken ihren Café. Verirrte sich einmal ein Passant in das Café, bestellt Kuchen und beschwerte sich bei der alten Weiß, so warf sie ihn aus dem Café mit dem Kommentar heraus „Solche Kunden brauche sie nicht“. Die Alte Oper war damals noch eine Ruine. Gegenüber befand sich das eher geplegte Café am Opernplatz. Ein großer Raum, in dem der Kafee mit einem Glas Wasser serviert wurde. Die alte Oper wirkte als Ruine, umstellt von einem Bretterzaun mit Plakaten am Abend ganz romantisch. Mittags war ich mit meiner Frau oft im Picknick essen. Es gab dort Erbsensuppe mit etwas Fleischwurst. Das sättigte halbwegs, ging schnell und man hatte keinen Aufwand. Es war in diesen Jahren nicht unüblich, dass man früh das Elternhaus verlies, auch oft früh heiratete. Ich heiratete mit neunzehn Jahren eine gleichaltrige schöne dunkelhaarige Frau. Wir waren damals, so stellte es sich mir im Rückblick erlebnismäßig dar, sehr verliebt, waren getrieben nach unseren Körpern. Wir machten uns auch gleich von zu Hause selbstständig und zogen in eine kleine Altbauwohnung in der Nähe des Eschenheimer Turms. Die Eltern steuerten zu unserem Haushalt etwas bei. Ich wusste nicht so recht, was ich werden sollte, aber meine junge Frau hatte ein bestimmtes Bild davon, was sie und folgerichtiger Weise auch wir, anstrebten. Sie wollte eigentlich eine ganz gewöhnliche Existenz sein. Dazu gehörte für sie, ihren Musikberuf ausüben, ein Kind und Männliches um sich haben. Musizieren, 23 das war für sie das A und O. Musik erlebte sie als etwas Enthobenes, in ihrem Reichtum, ihrer Fülle des Ausdrucks als etwas Immaterielles. Mein Körper war damals wundervoll. Er hielt fast alles aus. Ich war ein drahtiger junger Mann. Der Nefe meines Schwiegervaters baute eine Werbeagentur auf. Es gab in diesen Jahren ein paar kleine erfolgreiche Werbeagenturen, die zwar den Fortbestand in die 1970er nicht schaften, das war aber zu dem Zeitpunkt nicht im Horizont, da die Aufträge eingingen und sie Schritt für Schritt am Markt Fuß fassten. Ich arbeitete mich in zwei Monaten in die empirische Sozialforschung ein und lektorierte Texte. Zudem konnte ich frei mit der Arbeitszeit umgehen. Konnte um 13 Uhr anfangen oder um 10 Uhr. Manchmal kam ich auch erst nachmittags. Lektorierte ein paar Stunden und danach schaften wir es gerade noch knapp, den Anfang der Oper nicht zu verpassen. Insofern waren wir leidlich gut gestellt. Es reichte für Konzertkarten, Cafés und das Essengehen mit Freunden um Mitternacht. Ich selbst trank damals nur aus Hölichkeit Alkohol, dafür rauchte ich, trank viel Kafee und Tee. Auch ein Auto für Trips in die Frankfurter Umgebung war im Budget. Was uns zueinander trieb, war die adoleszente Sexualität mit ihrer fantastischen Identitätskonstruktion. Man kann drei, vier Mal am Tag und spürt in der Hosentasche seinen steifen Schwanz. Wir trieben es nach dem Aufstehen, nachmittags, abends und nachts. Der Samen lief so durch den Tag. Sie liebte meinen Samen. Dabei dachten wir gar nicht viel nach. Es war für uns das Erwachsensein: Wir in unserer Wohnung in der Frankfurter Innenstadt, gingen ins Konzert und die Oper und ließen unser Selbstsein auf uns wirken. Was sollte besser, schöner sein. Die Sache war rund. Meine Frau wurde schnell schwanger und bekam ein Kind. Wir hatten jetzt ein Baby und waren glücklich. So sollte es sein. Wir standen oft mit dem Marokkaner mit unserer Kleinen im Picknick in der Sonne und aßen unsere Erbsensuppe. Man lebte so vor sich hin. Ging in die Konzerte des Hessischen Rundfunks und in die Oper. Damals war ein Schwarzer, Dean Dixon, der Dirigent des Orchesters. Er war sehr beliebt und ein wirkliches Talent. Gleichzeitig wirkte durch ihn der Konzertbesuch exotisch. Die erste Geige spielte eine blonde, junge attraktive Geigerin, die uns durch ihr Spiel beeindruckte. „Ein schwarzer Dirigent und eine blonde Geigerin! Mir drängt sich da der Othello auf. Das ist eine schwierige Rolle, da man sie nicht brüllen darf. Man hat das Psychologische heraus zu singen“, sagte sie mir. Es war die große Zeit der Schallplatte und des Tonbandes. Diese Geräte wurden geplegt. Die Einspielung der Mahler Symphonien von Bruno Walter waren in. Seine Interpretation war: Die Tempi sind langsam, jeder Ton ist zu hören. Es gibt aber auch andere gelungene Einspielungen der 24 Mahlersymphonien. Beethovens Klavierkonzerte hatten wir auf Band. Musik kann wie ein Jungbrunnen sein. Man schöpft aus ihm, ohne dass er jemals leer wird. Es war die Zeit der Wagner-Inszenierungen von Wieland Wagner, der 1966 starb. Die Wagner-Interpretation ist aber im Fortgang weiter innoviert worden. Patrice Chéreau (Regie) und Pierre Boulez (Dirigent) haben 1976 eine Entmystiizierung der epischen Größe des Rings vorgenommen. Das ist aber nur eine unter anderen Optionen. Sie sagte gerne „Leg noch einmal den Liebestod auf. Ertrinken, versinken, unbewusst höchste Lust. Das ist schon psychoanalytisch. Ja, die „Lust“ ist nicht nur etwas, das uns in unserem Erleben gegenwärtig ist. Sie ist im bewussten Erleben nicht so steigerbar. Aber „unbewusst“, da ist sie unendlich. Was meinst du?“ Wir tranken regelmäßig mit der Kleinen in der Innenstadt Kafee. Plötzlich sagte sie „Komm, wir packen uns nach Hause und hören etwas in die Walküre hinein. Du hast doch auch noch eine neue Jazzplatte, die du mir vorspielen wolltest. In der Musik darf man nicht dogmatisch sein, und die Kleine soll das gleich mitbekommen.“ Ich hatte mir eine Hans Koller Platte gekauft. Durch sie, meine junge Frau, wurde das Alltägliche zur Ausnahme, etwas Besonderes, das ganz alltäglich war. Koller und die Jutta Hipp Combo gehört zu der ersten Generation der deutschen Jazzer aus den 1950er Jahren. Vor allem ihre Konzerte von 1953 würde ich gerne wieder einmal hören. Aber selbst im Internet habe ich sie nicht gefunden. Ihren Jazz kann man heute noch hören. 2003 ist er gestorben. Vor mir liegt eine begrenzte Aulage 2002 Hans Koller The Musician of the Year 1955 mit Aufnahmen Hans Kollers New Jazz Stars 54. Mit dabei sind Albert Mangelsdorf, Bill Russo, Emil Mangelsdorf, Willi Sanner, Roland Kovac, Shorty Roeder, Johnny Fiser und Rudi Sehring. Das waren begnadete Jazzer. Es war die Zeit, als der Free Jazz aufkam und sich in der Szene verbreitete. Die Platte von Ornette Coleman „Free Jazz: A Collective Improvisation“ kam 1960 heraus. Auf dem Cover waren Motive von Bildern Jackson Polloks. Wenn ich den Jazz aus diesen Jahren höre, kann ich gar nicht fassen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Es ist keine fortlaufende Geschichte, in der ich mich wiedererkenne. Es ist ein Bruchstück aus der Vergangenheit, dessen Zusammenhang sich mir entzieht. Der Marokkaner kellnerte. „Dabei lerne ich alles, was ich brauche. Ich beobachte alles, bekomme mit, 25 wie gekocht und verwaltet wird. Lerne, mit dem Publikum umzugehen. In zwei Jahren gehe ich nach Agadir zurück und eröfne ein kleines Hotel“. Das hat er auch wahr gemacht. Er lebte bescheiden, sparte und machte sich schlau. Das schloss eine lebenslustige Art nicht aus. Ich konnte bei ihm eine Schlauheit in der Beobachtung und Unterscheidung feststellen, die man bei diesem Beruf kennt. Die schnelle Einschätzung von Personen, ihrer Stärken und Schwächen, bringt diese Gaststättenschlauigkeit mit sich. Kellnern ist sicher auch eine gute Schule für Diebe und bei Frauen für die Prostitution. Es war Freitag. Ein ausgesprochen schöner Sommertag im Juni 1965. Ein Tag mit viel Licht, nicht zu heiß und man wurde so richtig körperwarm. Ich holte die Karten für das Konzert im Hessischen Rundfunk mittags in der Innenstadt, kaufte noch etwas ein und fuhr mit der Straßenbahn durch die Schillerstraße Richtung unserer kleinen Wohnung. Die Kleine war für den Abend untergebracht. Man konnte sich so richtig entspannt auf den Konzertbesuch einstellen. Ich eilte in der Einbildung den Ereignissen voraus, überlegte, wen man wohl trefen würde und wen nicht, was für Kommentare zu erwarten waren und was sonst noch. Im Treppenhaus vor der Wohnungstür standen zwei Polizisten. Ein jüngerer und ein älterer. Sie machten ausdruckslose Gesichter, so als wüssten sie nicht so richtig, was sie sagen sollten. Ich dachte erst gar nicht, dass sie zu mir wollten. Nahm sie gar nicht richtig wahr. War dabei den Wohnungsschlüssel herauszuholen, als sie mich ansprachen „Sind sie Herr Gerhard Preyer?“ Auch jetzt war mir noch nicht bewusst, dass sie sich an mich wendeten. „Wir haben Ihnen etwas mitzuteilen“. Es wirkte etwas steif und tonlos. „Dürfen wir mit Ihnen in Ihre Wohnung kommen?“. Auch das war mir gar nicht durchsichtig, und ich wusste nicht, was ich jetzt zu antworten hätte. Eher aus Verlegenheit antwortete ich den beiden „Ist irgendetwas mit dem Auto, ist es falsch geparkt?“. Ich hatte die Tür aufgeschlossen, ging in den Flur und stellte die Einkaufstasche zur Seite. Die beiden folgten mir verlegen. „Wir haben Ihnen eine Mitteilung zu machen. Ihre Frau ist heute Mittag mit ihrer Tochter tödlich mit dem Auto verunglückt. Sie haben unser Mitgefühl. Kommen Sie bitte zur Identiizierung mit“, sagte der Ältere der beiden. Was danach geschah, ist mir gar nicht mehr fassbar. Ich dachte, ich bin in einem Traum, aber es war keiner. Von diesem Zeitpunkt an, war alles anders. Ich war nicht mehr ich selbst und fand auch nicht mehr zu mir zurück. Mir war danach zumute, mich vor das nächste Auto zu werfen, aber irgendwie durfte ich ihr das nicht antun. Das wäre nicht in ihrem Sinn gewesen. Es stellte sich eine innere Teilnahmslosigkeit ein, die nicht mehr verschwand. Der Marokkaner war in dieser Zeit wirklich ein Schutzengel. Er löste die Wohnung auf. Keinen Tag mehr wollte ich in der Wohnung bleiben. Selbst 26 die Schallplatten und Bänder nahm ich nicht mit. Nur die Bücher packte ich geistesabwesend ein. Der Marokkaner konnte mir zwar nicht helfen, da ich in einen Zustand der Fremdheit versetzt war, aber er versuchte von Außen abzufedern. Das gelang ihm auch. Er besorgte mir ein Zimmer im Nordend, was zu der Zeit fast noch ein Arbeiterviertel war. Ich lag den ganzen Tag im Bett und las. Zuerst die europäische Romanliteratur, dann die amerikanische, studierte Kunstbände. Am Abend kam nach dem Dienst der Marokkaner mit Konzertkarten vorbei und versuchte, mich abzulenken. Spiel des Zufalls: Das Unglück und die damit einhergehende Talfahrt brachte mir einen gewissen Komfort. Ich wusste nicht, dass auf meine Frau eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen war, die mich begünstigte. Sie war wirklich hoch. So war ich erst einmal wirtschaftlich abgesichert und konnte in mein Unglück hineinleben. Im Nachhinein war das Zusammenleben mit meiner jungen Frau und der Kleinen die beste Zeit meines Lebens. Es war ein frühes großes Glück, das mit einem unendlichen Unglück einherging, von dem ich mich nie mehr erholte. Es verstörte mich. Ein ganz alltäglicher Vorgang? Mittlerweile ist es so, dass die heranwachsende Generation bis über ihr dreißigstes Lebensjahr zu hause sitzt und sich von den Müttern bekochen lässt. Das hält sie in nicht mehr aulösbaren mentalen Abhängigkeiten und prägt ihr Denken. Wenn man in solchen Beziehungen gefangen ist, kann man kein Gefühl für Erfolg ausbilden, was nicht ausschließt, dass viel herumfantasiert wird. Lange Zeit hatte ich nicht die Kraft, die Walküre zu hören. Erst nach vielen Jahren konnte ich es wieder. Es versetzte mich in eine nicht ausdrückbare Stimmung, und ich fühlte, dass meine so jung, so schrecklich verstorbene Frau und die Kleine ganz in mir waren. Jetzt lege ich es gerade auf „Winterstürme wichen dem Wonnemond, – in mildem Lichte leuchtet der Lenz; – ...“ und Sieglinde antwortet ihm „Du bist der Lenz, nach dem ich verlangte in frostigen Winters Frist ...“. Ich weiß nicht, was ich dabei empinde. Glück, unendliche Trauer oder Vergessen. Die Verwandtschaft hat es mir sehr übel genommen, dass ich nie zu dem Grab gegangen bin. Darüber mag man denken wie man mag. Es gibt Fälle, wo jemand weiter lebt und doch nicht lebt. Die Zeit stellt eine Distanz her, die nicht mehr zurückübersprungen werden kann. Es inden in einem Ereignisse statt, die einem nicht bewusstseinsmäßig zugänglich sind. Man beindet sich in einer Veränderung, die sich einem bewussten Eingrif entzieht. Im besten Fall hat man Glück. Es stellt sich zum richtigen Zeitpunkt der richtige Freund ein, man ist an der passenden Stelle, um jemanden 27 kennenzulernen, wird empfohlen, ohne dass man etwas dazu kann. „Spiel des Zufalls“, ist man geneigt zu sagen. Und doch tastet man sich durch die Zeit. Entscheidet, hat Vorlieben und Abneigungen, strampelt sich in der Karriere ab, aber was sich dann ereignet, ist letztlich nicht vorausberechenbar. Es mag in trivialen Fällen wahrscheinlich sein, aber das ist nur Gleitmasse des Unverständlichen. 21. Januar 2008 28 flüchtIge erlebnIsse Da ich mich in einen schwer bestimmbaren Zustand beinde, kann ich mir nicht anders helfen, als etwas niederzuschreiben. Es als einen Zustand der Verzweilung zu bezeichnen, wäre zu hoch und auch daneben gegrifen. Das macht ihn zwar nicht besser, aber nicht dramatisch. Es ist eine merkwürdig Beindlichkeit, die so zwischen Alleinsein und Einsamkeit schwankt, obwohl ich weder allein noch einsam bin. Vielleicht ist es gerade das, was mir nicht so gut tut. Wenn es anders wäre, würde man auch nicht zufrieden sein. Vielleicht fehlt mir einfach eine gute Unterhaltung, die einen etwas anstößt und auf andere Gedanken bringt. Das ist vermutlich im Alter das größte Problem, die Gesprächspartner gehen oder sind verloren gegangen. Den Gleichaltrigen hat man nicht viel zu sagen und zu den Jüngeren kann der emotionale Zugang nicht mehr hergestellt werden. Etwas niederzuschreiben ist ein schönes Erlebnis, das ein Brett über ein Loch legt, damit man nicht hineinfällt. In den letzten Wochen schlafe ich den ganzen Tag und bin nachts auf. In der Frühe fahre ich zwischen 6 und 7 Uhr mit der U-Bahn durch die Stadt. Das hat mich immer angeregt. Die Bahnen sind voll. Der Tag beginnt. Man ist unter der Bevölkerung, die in den Tag tritt. Sie ist wach, vielleicht etwas unausgeschlafen, aber man merkt an ihren Bewegungen und ihrem Ausdruck, dass ihr Puls zu schlagen anfängt. Man selbst wird müde, und die Umrisse verschwimmen. Es versetzt mich in einen Schwebezustand. Aber es wird mir dabei bewusst, dass ich ein Herumirrender bin. Ein Thomas Mann Bajazzo. Einer, den das, was er tat, von anderen wegführte, einer, der nirgendwo dazugehört. Insofern beneide ich etwas die Frühaufsteher, die zu ihrer Beschäftigung eilen, die sich beklagen, über Ferienkarten von Kollegen freuen oder sie geschmacklos inden. Die Nymphomanin ist wirklich etwas schlecht weggekommen. Damit werde ich ihr nicht gerecht. Sie hatte auch eine einvernehmende Art. Ob es jemand war, der sich selbst verstand, kann dabei ganz dahingestellt bleiben. Das spricht aber nicht gegen sie, eigentlich gegen niemand. Wer versteht sich schon selbst? Beinden wir uns nicht fortlaufend im Zustand der Selbstverkennung? Die lichten Augenblicke fallen da nicht so ins Gewicht. Wenn wir soweit sind, uns nicht mehr zu verkennen, ist es dann zu spät. Es spielt keine Rolle mehr. In der Mitte der 1970er Jahre, als die Begegnungen mit ihr stattfanden, wohnte ich in einem etwas größeren Dachzimmer in der Feuerbachstraße im Frankfurter Westend mit Blick auf einen großen Baum im Hinterhof, der 29 zur Meditation einlud. Gleich in der Nähe der Kreuzung Feuerbachstr – Kettenhofweg. Es war ein Altbau und ein ruhiges Haus. Es gehörte in der Zeit zu meinen Privilegien, kein Telefon zu benutzen und kein Fernsehgerät zu besitzen, ohne dass mich das in der Kommunikation einschränkte. Gelegentlich kam die Nymphomanin mittags vorbei und holte mich zu einem Trip in die Umgebung Frankfurts ab. Frankfurt war von 1968 – 1985 in der Innenstadt und darüber hinaus eine Baustelle. Die U-Bahn wurde gebaut. Die Leipziger Straße, die Bockenheimer Landstraße, die Zeil, die Bergerstraße, die Schweizerstraße waren Baustellen. Das trieb einen in die Peripherie. Wenn sie kam, stellte sie sich ans Fenster und sah auf den poetischen Baum. „Ich habe es mit ihm getrieben. Setzte mich auf ihn. Er spritze in mich. Es ist sagenhaft, wenn die Schwänze in mich spritzen. Aber er konnte nur zwei Mal. Dann machte er schlapp“, sagte sie. Sie zündete sich dabei eine Zigarette an. Drehte sich zu mir um. Ihre Brustwarze drückte sich etwas durch ihre Bluse hindurch. Ihre Rede schien sie zu erregen. „Es ist nicht einfach, Liebhaber zu inden. Man hat selbst aktiv und kreativ zu sein. Ich lasse sie nach dem zweiten Mal fallen. Ab dem dritten Mal wird es persönlich. Das ist dann kein Spaß mehr. Ich inde sentimentale Männer abstoßend. Ich suche sie mir aus und ich schicke sie danach weg.“ Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Inhalierte sie. Dabei bewegte sich ihre Brust. Sie drehte sich wieder um und sah aus dem Fenster. Die Situation lud sich auf. Es war ein ruhiger Mittag. Sie stand da mit dem Rücken zu mir und hatte ihre Kostümjacke ausgezogen und auf den Stuhl gelegt. Durch ihre Bluse sah man, wie sie atmete. Sie bewegte dabei leicht den Körper. Ich schob ihren engen Rock hoch und trieb es mit ihr von hinten, während sie aus dem Fenster sah. Sie schrie als sie kam. Packte sie wie ein Hase am Knick, schlug sie und warf sie auf das Bett. „Mach mir’s!“, kam über ihre Lippen und ihr Gesicht verzerrte sich. Ich schlug sie noch einmal. Es erregte mich. „Komm“, hörte ich sie. Es war kein Hauch mehr zwischen Fühlen und dem, was geschah. Sie war noch bekleidet, zog ihren Rock herunter, rückte ihre schwarzen Büstenhalter und ihre Bluse zurecht und zündete sich eine Zigarette an. So stand sie vor mir, grif nach ihrer Kostümjacke, „Wir sehn uns“ und ich hörte nur noch die Tür ins Schloss fallen. Ich war noch benommen, noch nicht richtig bei mir, als ich wieder allein in meinem Dachzimmer zu mir kam. Es war so, als sei nichts gewesen. Die Jahre zwischen 1974 – 78 waren die freiste Zeit meines Selbstseins. Ich wohnte in dem geräumigen Dachzimmer in der Feuerbachstraße. Ich lag tagelang im Bett und las. Das war bis ins Alter meine Lieblingstätigkeit. 30 Abends war Theater, Konzert oder Oper angesagt. Am frühen Nachmittag traf ich mich mit Freunden im Café Laumer auf der Bockenheimer Landstraße. Danach ging man gelegentlich am frühen Abend ein paar Stunden in einen Weinkeller im Westend und je nach Stimmung gleich daneben ins Knoblauch. Das war damals ein Szenelokal, es glühte aber seit Anfang der 1980er Jahre ab. Ich merke, wie es mir schwer fällt, mir die guten Seiten der Nymphomanin in Erinnerung zu rufen. Merke, wie ich dazu neige, ihr ungerecht zu werden. Irgendwie möchte ich sie herabsetzen. Das wirft aber eher ein Licht auf mich, da ich mich doch nicht so leicht von ihr lösen konnte, wie ich es mir einredete. Sie konnte durchaus sehr verbindlich und einfühlsam sein. Eines der Lieblingsziele bei unseren Trips war das Kloster Hildegard oberhalb von Rüdesheim. Das Rheingau hat einen besonderen Reiz. Die Landschaft ist artikuliert, man hat von bestimmten Positionen einen in die Weite gehenden Ausblick mit Höhen und Tiefen, aber sie ist nicht alpin wuchtig. Das gibt ihr eine gewisse Milde, etwas Sanftes und Ausgewogenes. Die Wege durch die Weinberge Richtung Binger Loch versetzten einen in eine andere Stimmung. Man hat von dort aus einen weiten Blick über den Rhein. Bei gutem Wetter reicht er von bestimmten Positionen bis nach Mainz und Luxemburg. Die kleinen Schife auf dem Fluss wirken wie Spielzeuge. Das regt die Einbildungskraft an. „Rebe, Traube, so voll Traum“, drückt das Beinden gut aus. Wir waren wieder einmal nach Rüdesheim unterwegs. „Ist das Rheingau nicht wunderbar! Lass uns durch die Weinberge gehen. Unter das Gold des Rheins. Wie es funkelt“. Wir parkten am Kloster Hildegard. Sie holte ein Blatt heraus. „Habe es gestern meinem Mann vorgelesen. Sogar ihm, diesem alten Wichtigtuer und Besserwisser, hat es gefallen.“ Sie rezitierte: „ (Häutung) Fühle die Nacht! Spüre die Schwingung Lange schon wartet er auf dich, der Augenblick. Dunkel tritt heran 31 Jeder Schnitt bringt es hervor Falle in die Nacht“. Ihre Pupillen wurden dabei groß. „Das hast du wirklich gut hinbekommen. Warum dichtest du nicht weiter. Wenigstens einfach nur für mich oder für alle, für niemand.“ Ihre Äußerungen machten mich etwas unsicher. Das schien sie auch zu merken, obwohl ich mehr in mich versunken vor mich hin sah. „Wenn ich dir sage, dass ich mich etwas in dich verliebt habe, dann bekommst du den großen Schreck. Du bist wirklich nichts für mich. Es wäre auch ganz aussichtslos. Wer sollte uns aushalten? Wir würden uns nach kurzer Zeit wieder trennen. Lassen wir es doch so wie es ist. Frage dich doch einfach, was hätten wir, was wir nicht schon haben?“ Ich sagte gar nichts. Was sollte ich auch dazu sagen. Sie schien meine Verlegenheit zu merken, lachte. „Der erste Vers „Fühle in die Nacht!“ ist deshalb so geglückt, da man die Nacht nicht „fühlen“ kann. Das „!“ fordert zu etwas auf, das man nicht tun kann. Es soll damit etwas anderes gesagt werden. Denke an Novalis’ Hymne an die Nacht, überhaupt an das ganze romantische Nachtherumtreiben. Am Tag ist alles unterschieden. Der hat seine eigene Konsequenz. Wenn man nicht eingekauft hat, dann ist der Kühlschrank leer. Aber in der „Nacht“ ist es ganz anders. Da lösen sich die Unterscheidungen und die Grenzen auf. „Falle in die Nacht“, da fällt man nirgends hin, nicht auf den Boden und bekommt angestoßene Knie oder bricht sich Arm und Bein, sondern löst sich auf. Das ist ein Gegenzug gegen die Askese. Eine sinnlich-übersinnliche Nachtliebe, die nicht zu einem Ende kommt.“ Gescheit konnte sie schon sein. „Was meinst du. Du sagst gar nichts. Bist wie benommen. Bist du eigentlich noch neben mir?“ Sie holte einen kleinen Flachmann heraus. „Lass uns etwas durch die Weinberge gehen“. Sie reichte mir den Flachmann herüber. Also „Go on du Nachtwanderer. Du möchtest berührt werden und schreckst davor zurück, da du Angst davor hast. Warum eigentlich?“. Das verunsicherte mich noch mehr, ich lies es mir aber nicht anmerken. Wie sollte ich mich aus der Situation herausretten. In solchen Fällen hilft nur die 32 Intuition, die auch daneben liegen kann. Ich nahm Ihre Hand. „Lass uns in die Weinberge gehen. Die Wirkung der Landschaft verwandelt uns“, sagte ich ihr, und wir ließen uns treiben, ohne etwas zu sagen. Sie wollte mich vermutlich nicht weiter in Verlegenheit bringen, lachte und sagte gar nichts mehr. So wandelten wir zwei Stunden durch die Weinberge und ließen die Augen auf Reisen gehen. Am Abend war ein Essen im Schwarzen Bock in Wiesbaden angesagt. Ein nobles Haus mit Dachgarten. Wir waren eine illustre Runde. Der letzte Charmeur der Geschäftswelt, die Nymphomanin, eine Freundin der beiden und ein leitender Angestellter des Charmeurs und seine Frau, eine hochgeschossene Brünette. Die Freundin, eine Schauspielerin, mit stattlich langen Beinen, körperlich gut zusammengepackt mit harten Brüsten und Rotstich im Haar, kam gerade vom Funk. „Heute war wieder Funk, den ganzen Tag gelesen“, war ihre Begrüßung, das Angestelltenpaar wirkte freundlich ergeben. Irgendwie so, als wollten sie es dem Charmeur recht machen, ohne allzu belissen zu wirken. Wir waren untereinander bekannt und waren oft zusammen in Konzerten und Opern. Die Brünette des Angestellten arbeitete in einer Redaktion im Hessischen Rundfunk und ich lektorierte für sie. Sie merkte, dass ich eine kleine Schwäche für sie hatte, hielt zu mir aber eine ironische Distanz. „Die Erdichtung der Welt soll die Gesetze der Welt und der Natur übersteigen, aber man wird dabei nicht immer von der Muse geküsst. Vor allem dann nicht, wenn das Portemonnaie ausgewaschen ist“. Sie war Germanistin, hatte bei Prof. Friedrich Adolf Kittler dem Antihermeneutiker in Freiburg ihren Magister abgelegt mit einer Arbeit „Die Nachtwache des Bonaventura. Romantischer Kitsch und der Kult der Nacht“ und war dann nach Frankfurt gekommen. Dort machte sie ein Praktikum beim Hessischen Rundfunk, schrieb für Provinzzeitungen Besprechungen von Filmen, Konzerten und sonstigen Veranstaltungen und promovierte bei Prof. Dr. Norbert Altenhofer über „Die romantische Universalpoesie. Eine unglückliche Wirkungsgeschichte und eine nicht zu Ende kommende Faszination“. Prof. Altenhofer gehörte zu ihren Fans und hat sie dahin gefördert, dass sie zum Rundfunk kam. Prof. Kittler war für die Brünette die absolute Autorität, ein Übervater, für den sie wohl alles getan hätte. Er schrieb auch das zweite Gutachten ihrer Promotion. Ihre badische Herkunft hatte sie schon früh in die Höhen und Tiefen des Weinschreckens vertraut gemacht. Was ihre Karriere beim Rundfunk beförderte war ihr lüssiger Schreibstil. Sie konnte 33 dabei im Schreibluss fokussieren, ohne dass sie das Thema zum Schmelzen brachte. Sie hatte eine Konsequenz in ihrem Umgang mit der Welt und eine Fähigkeit, sich zu arrangieren ohne sich davon dominieren zu lassen, deren Quelle mir verschlossen war. Mir gegenüber war sie entgegenkommend, aber distanziert. Das störte mich nicht weiter. Der Angestellte, ihr Mann, war smart. Er war nicht weniger zielorientiert und hatte sich durch seinen Umgang mit seinem Freundeskreis eine Mailänder Bildung zugelegt, wie ich es nannte. Sie lernte ich in entsprechenden Kreisen des italienischen Nordens bei der Bildungsschickeria kennen. Man las Zusammenfassungen und bildete sich im geselligen Gespräch am Abend. Wenn man eine gute Aufassungsgabe hat, bekommt man auf diesem Weg manches mit, und es reichte zur Unterhaltung. Es war dann mehr der Witz gefragt als anderes. Dagegen braucht man nichts zu haben. Ansonsten hatte es etwas von einem Geschäftsmann. Wenn das Spiel aus war, dann war es für sie nicht mehr interessant. Der Blick richtete sich auf das Nächste. Der Rückblick belastet nur und blockiert, so wirkte er. Das soll aber nicht negativ verstanden werden. Was wären wir ohne die Zielstrebigen, die nicht vergangenheitssentimental sind. Die Schauspielerin war piig. Immer gut aufgelegt und verstand es, ihr Geschäft zu betreiben. „Bei der Passion geht’s nur mit Kontakten, sonst ist die Kasse leer“, sagte sie spitzmündig. Was das Geheimnis der Schauspielerei ist, verriet sie mir einmal. Aber das möchte ich aus Diskretion nicht mitteilen. Ich wäre nicht darauf gekommen. Die Nymphomanin hatte ein weißes Kleid an, die Brünette ein rotes und die Schauspielerin ein schwarzes. Die Kleider waren igurbetont und eng anliegend. Alle drei sahen prächtig aus. Sie verfügten über den typisch fraulichen Narzissmus und gehörten zu denen, die nicht an sich zweifelten. Die Nymphomanin war wie immer elegant gekleidet, die Brünette hatte etwas Vornehmes, Schönes, mit einem Hauch einen einzunehmen und die Schauspielerin war chic. Mich beeindruckte bei den drei, dass sie lässig rauchten. Es war eine bestimmte Art mit Zigaretten umzugehen, die man schwer beschreiben kann. So, wie man sie hält, anzündet, in den Mund nimmt, zieht und die Asche abstreift. Irgendwie sah ich darin etwas Sexuelles, was ins Erotische überging. So etwas, wie den Umgang mit dem männlichen Geschlechtsteil und das öfentliche Ausleben von oraler Lust. Es war eine wohlhabende Runde. Man sah Ihnen ihren Wohlstand an und sie waren sich dessen bewusst. Ich spielte dabei die Rolle des armen Verwandten und hatte die Rolle desjenigen, den man einladen kann, da er nicht die goldenen Kafeelöfel mitnimmt und ansonsten trägt er zur Unterhaltung bei. Was für diese bessere Gesellschaft sprach, dass sie mich das nicht hat merken 34 lassen. Ich bekam also nicht zu spüren, dass ich der arme Verwandte war und man mich gerne an den Annehmlichkeiten des Lebens teilhaben ließ. Wie das immer so ist, so hat das seinen Preis, man hatte sich opportunistisch zu verhalten und die besseren Ränge zu bestätigen. Dass sie großartig waren, verstand sich von selbst und dass es so war, konnten sie sich durch fortlaufend vergewissern, ohne dass man ihnen schmeicheln durfte. Der Charmeur hatte eine zwanglose, einvernehmende Art mit einem zu kommunizieren, wie es in dem Gedicht von Hugo von Hofmannsthal Der Kaiser von China heißt: „In der Mitte aller Dinge wohne ich der Sohn des Himmels ...“. Damit nahm er ein Amt wahr. Eine Verantwortung für das Wohlergehen. Um seine Gäste zu motivieren und das Eis der Kommunikation zu brechen, bestellte er gerne im hohen Preissegment und gab damit die Leitlinie vor. Darunter durfte man nicht gehen. „Lasst uns erst einmal einen trockenen Aperitif nehmen, damit wir uns einstimmen. Was meint Ihr?“ „Lieber einen Sekt“, meite die Nymphomanin. „Mit Suppe sollten wir nicht anfangen“, kommentierte die Brünette. „Und was möchten Sie?“, fragte mich die Schauspielerin. Da in diesen Situationen die hohe Kunst der Bewahrung des eigenen Geschmackssinns und zugleich der Anschluss an den der Anderen angesagt ist, schwenkte ich auf „Trockener italiensicher Weißwein wäre nicht schlecht. Das macht etwas locker“ ein. „Das geht auch, man braucht nicht bei dem Weißwein zu bleiben“ schloss sich die Schauspielerin an. Man stieg an diesen Abenden am besten gleich gut ein, da der Verlauf dieser Trefen auf erheblichen Alkoholgenuss hinauslief, der von den prächtigen Frauen getragen wurde. „Nur keine Antialkoholiker und Nichtraucher, da habe ich, was die Persönlichkeit betrift, bedenken. Wie das so ist, wenn die Persönlichkeit erst ein- 35 mal verbogen ist, dann wird’s schwer“, plegte der Rotstich im Haar zum Besten zu geben. Zwischen 1968-1974 wurde in jeder Session der Spielzeit der Frankfurter Oper der Parsifal aufgeführt. Es war eine gelungene Inszenierung. Sie spielte sich hinter einem Vorhang ab, einem Schleier, aus dem das Geschehen herausgeleuchtet wurde. Das Gespräch kam gleich am Anfang des Abends auf die Inszenierung, da die Runde die letzte Auführung sah; ich selbst hatte sie mir bereits übergesehen und mochte mich dem Besuch nicht anschließen. Die Brünette legte gleich los: „Der Parsifal war nicht schlecht. Alles schön und gut. Aber man braucht einen anderen Zugang. Etwas experimentierfreudiger, gewagter, wäre besser. Man sollte den Parsifal in Jungenkleider stecken. Parsifal der Naive, als Kind. Vielleicht in einem Kinderwagen auf die Bühne fahren. Kundry mit einem männlichen Sänger besetzen. Gurnemanz, Klingsor, Kundry, Klingsors Zaubermädchen eine homosexuelle Gang, die sich bekriegt. Amfortas sollte man als Frau besetzen. Dann wird mit „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“ eine andere Aussage getrofen. Fragt sich dann, welche Szenerie das noch steigern könnte? Es sollten keine Landschaften angedeutet werden. Vor allem die nicht aufhörende Reproduktion der missglückten Verständigung zwischen Nietzsche und Wagner geht einem auf die Nerven. Wir sind von einem mittelmäßigen Publikumsgeschmack dominiert. Den kann man ja auch bedienen, aber nicht nur.“ Dabei sah sie mich aufordernd an, so, als sollte oder habe ich dazu etwas zu sagen. „Nietzsche kontra Wagner erlebten die Zeitgenossen bereits als überspitzt und unergiebig. Man merkt dem Duktus der Polemik Nietzsches die persönliche Enttäuschung an, dass er von Wagner nicht ernst genommen wurde. Zu mindestens nicht so, wie er es sich vermutlich erträumte. Gerade bei seinen Triaden gegen den Parsifal merkt man das besonders. Sein Kommentar „Denn was ihr hört, ist Rom, -- Roms Glaube ohne Worte“, trift schon deshalb nicht zu, da sich Wagner in Religion und Kunst (1880) nicht nur von der Kirche distanziert, sondern es ging ihm in seiner synkretistischen Kunstreligion nicht um die Erneuerung des Christlichen. Nietzsches ganze Philosophie ist ein Sammelsurium. Sein sprachlicher Duktus hat etwas Gewalthaftes. Es fehlt ihm die Souveränität. Man merkt seinem fordernden Stil an, dass er ein Außenseiter war, den man nicht ernst nahm. Damit kam er nicht zurecht. Um das zu erkennen, braucht es nicht viel Psychologie. Das ist ofensichtlich. Das Größenwahnhafte seiner Gesten läuft leer. Er konnte sich nicht anders helfen, als sich im Wahn immer mehr zu überbieten, sei es mit Ecce home, dem Antichristen, als Untier und Dionysos. Seine Selbststilisierungen hören sich doch so an, als würde einer 36 sagen „Hier bin ich, warum wollt ihr nichts von mir wissen!“. Auch die Metaphorik im Zarathustra, der Adler, die Schlange, reproduzieren doch nichts weiter als die abgestandene bildungsbürgerliche Symbolik seiner Zeit, über die er sich so überlegen glaubte. Da war er dem Deutschen Kaiserreich näher, als er es sich eingestanden hat. Der Zarathustra ist sicherlich nicht das, für was er es hielt, „das Tiefste philosophische Buch, das je geschrieben wurde“. Auch der Selbstkommentar, dass er bei seinem Lesen immer anfängt „zu weinen“, hat doch etwas Lächerliches. Da fehlt es ihm dann doch an Format. Vermutlich ist er mit zu vielem schlicht nicht halbwegs klargekommen, weder mit seiner Mutter, seiner Schwester, mit Richard Wagner, mit Cosima Wagner, mit Burckhardt … Nietzsche stilisierte sich gerne als „Hyperboreer“, eine im Norden lebende Population. Er hätte es bei Ihnen vermutlich jedoch nicht ausgehalten, da es dort zu einsam und kalt ist. Das kann nicht gut gehen. Hugo von Hofmannsthal hat eine tragendere Sensibilität. Das ist seine Poetologie. Wie heißt es da so einnehmend: „Das Wirkliche ist nicht viel mehr als der feurige Rauch, aus dem die Erscheinungen hervortreten sollen; doch sind die Erscheinungen Kinder des Rauchs.“ Dichtung ist für ihn keine Spiegelung der Welt, des Lebens, sondern es wird über die Grenzen der Wirklichkeit hinausgesprungen zu einer eigengesetzlich strukturierten Welt, in der Unmögliches wirklich ist, in der die Naturgesetze keine Geltung haben. Es ist aber keine unzugängliche Welt. Sie ist mitteilbar, sie wird im Lesen nachvollziehbar, das dadurch zu neuen Erfahrungen führt. Dichtung setzt eine „traumhafte Freiheit“ frei, sie vollzieht eine Entgrenzung.“ Am Blick der Brünetten merkte ich, dass ihr meine Auslassungen zu gefallen schienen. Sie ixierte mich einen Augenblick. Vielleicht war das aber eine Projektion von mir und ich missdeutete ihren Gesichtsausdruck. „Das ist leider auch schon Geschichte. Das Nietzscheproblem hatte Hofmannsthal sicher nicht. Dafür war er zu gut situiert und konnte ganz gut damit leben, dass sich um 1900 Moral und Genuss so ausschlossen, wie Entgrenzung und Wirklichkeit. Aber das ist schon ganz gut, was du da zum Besten gibst. Es reicht zwar noch nicht zum Doktorhut, dafür ist noch etwas zu üben. Dann kann auch so etwas klappen“, sagte sie. Damit hatte sie mich wieder einmal etwas ironisch in meine Grenzen verwiesen, mir aber nicht gleich die Tür vor dem Kopf zugeschlagen und noch einen kleinen Spalt zum Fortgang der Kommunikation ofen gelassen. Ich mochte ihr in dieser Runde nicht das letzte Wort lassen, um mich nicht als einer darzustehen, der sich so auf seinen Platz stellen lässt. „In Kulturkritik ist nichts Neues mehr seit dem in de siècle hinzugekommen. Letztlich zehren wir bis heute von dem kultivierten Zerfall von Innen. Aber eines brauchen wir nicht über Bord zu werfen: Nicht die fest umschlos- 37 sene Individualität und das in sich ruhende Bewusstsein ist das Erstrebenswerte, sondern es sind die Stimmungen und unsere traumhaft, lüchtigen Zustände, die zu erzeugen sind. Die Betonung liegt auf „erzeugen“. Sie sind nicht ohne weiteres gegeben. Es gehen auch mittlerweile Zusammenhänge vergessen, wie der Einluss Wagners auf Mahler. Man kann nicht von Mahler überzeugt sein und Wagner ablehnen. Das ist unabhängig davon, ob einen der damalige Wagnerianismus anspricht, musikalisch geht da kein Weg daran vorbei. Das trift auch auf Hofmannsthals Beziehung zum Barock in seiner Ariadne zu. Es gibt kaum eine Dichtung, die im Ton und im Stil dem barocken Bühnenkünstler so nahe gestanden hat. Auch dass der Weg zum Barock über Wagner führt, ist nicht mehr geläuig.“ „Gescheit, gescheit. Kündigt sich jetzt der entfesselte Prometheus an. Da bin ich aber gespannt, was aus dem umgekehrten Wagnerianismus, befreit von Schopenhauer, wird“, lächelte die Brünette. Nun war mir wieder das letzte Wort genommen. Irgendwie fühlte ich mich dazu gedrängt, die Runde nicht zu enttäuschen, obwohl dazu gar kein Anlass war. Vielleicht hing es auch mit der Nymphomanin zusammen, die auf Imponieren einen großen Wert legte. Wenn man sie diesbezüglich enttäuschte, war man schnell abgeschrieben. „Aus dem Gesamtkunstwerk der Verbindung von Musik, Tanz, Malerei, Plastik, Dialog, Monolog, der Wiederbelebung von Antike, Volkstum und katholischem Christentum ist dann letztlich doch nichts geworden. Baudelaire wirkt nach, bis zu uns! Die wahrnehmbare Welt ist eine dunkle, gefallene Welt. In ihr zu sein heißt Erniedrigung. Wenn es in dem Erlebbaren einen Hauch von Geist gibt, so hat es eine andere Welt zu geben, eine göttliche oder satanische. Die Fleur du Mal sind Blumen des Leidens.“, sagte ich etwas gewollt lachend. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Brünette war gut in Form und hatte dann doch das letzte Wort: „Jetzt wird das magische Evokationsritual gestartet. Steigen wir in die Artistenkommunikation, die Artistenmetaphysik ein. Die Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit in modernen Zeiten, das ist der größte Irrtum, der uns aus dem 19. Jahrhundert überliefert ist. Die Zeiten sind nicht mehr modern. Wir leben nicht mehr nach der ersten Weltausstellung in Paris im Jahre 1860. Bei all den Ambitionen, die ich da höre: Industriezeitalter und Erlösung durch die Dichtung. Da kann doch irgendetwas nicht stimmen. Nietzsches Wagnerkritik, Kritik kann man das ja nicht nennen, ist eine Hillosigkeit. Das stimmt schon, ob einem Wagner gefällt oder nicht. Man sollte Wagners Musik von der ihr zugeschriebenen epischen Größe befreien. Das ist doch eine kleinbürgerlichen Halluzination.“ 38 Auch das hatte für mein Gehör einen ironischen Unterton, und ich spürte ihre Überlegenheit. Eine Souveränität, die ich in diesem Kreis nicht hatte. Der Charmeur, die Nymphomanin, der Rotstich im Haar und der Mann der Brünetten, sahen und hörten diesem kleinen Duelle etwas spitzbübig zu. Es schien ihnen zu gefallen. Ich fühlte meine Hillosigkeit und Ausgeliefertheit an die aufkommende Stimmung. Mir fehlte es an Souveränität, die Einlassung der Brünetten auf die leichte Schulter zu nehmen. Beabsichtigt oder nicht, kam mir der Rotstich im Haar zur Hilfe. „Bevor wir zu „weinen“ anfangen und uns an Doktorhüten verschlucken, bestellen wir doch lieber noch eine Runde. Bei den Hyperboreern wäre es mir doch etwas zu kühl, das reißt dann auch der Aufenthalt dieses gut aussehenden Manns Apollons dort im Winter nicht heraus“, fuhr sie fort. Damit hatte sie die Situation für mich gerettet, zumal gerade die Bestellungen aufgetragen wurden. So schiften wir ohne weitere gegenseitige Überbietungen im Brillieren in einen freundlichen Hafen ein. Der Mann der Brünetten, auch die Nymphomanin, waren zwar nicht ungesprächig, sie hielten sich an diesem Abend aber etwas zurück. Dagegen war der Charmeur in Fahrt. Er hatte etwas überraschend Wandelbares, fast etwas Bohemienhaftes. „Wir steuern dann die New York Tour an. Die Metropolitan ist angesagt und im nächsten Monat die Mailänder Scala. Wir brauchen etwas Kurzweil. Sage morgen der Sekretärin Bescheid, dass sie die Buchungen erledigt. Da wird es doch keinen Widerspruch geben. Wenn man etwas möchte und es stehen keine Katastrophen entgegen, dann lässt sich das auch verwirklichen. Kommt mir nicht mit dem Zeitproblem. Das ist der unglaubwürdigste Vorwand. Jeder weiß das, aber das Zeitargument funktioniert, da es jeder gebraucht.“ Er sah die Brünette an „Du trinkst ja gar nichts. Verdirb mir nicht den Abend.“ Die Nymphomanin war mir gegenüber an dem Abend besonders entgegenkommend. „Trink doch noch etwas. Ich bestell dir noch einen Krabbencocktail, du großes Dichtertalent. Auch wenn es nichts mit dem Dichten wird, dass man etwas Talent hat, macht einen doch im Umgang geschmeidig. Ich fühle mich heute Abend in Deiner Gesellschaft richtig wohl. Lass dich nicht von unserer Frau Doktor dominieren, die Doktoren kochen auch nur mit Wasser“, lachte sie. 39 „Aber gekocht haben sollte man, oder? Er macht sich doch schon ganz gut. Wir sollten die Getränke nicht vernachlässigen. Der Abend hat zwar erst angefangen, aber auf dem Trockenen wollen wir nicht sitzen. Bei der ganzen Dichterei braucht man auch etwas Stof, damit man abhebt. Sonst ist das ganze Dichten nichts“, so die Brünette. Der Mann der Brünetten wollte wohl nicht nur unexponiert in der Runde ein schlaues Gesicht machen. „Ja, New York, das gibt eine gute Tour. New York das ist ein Traum. Die New Yorker fühlen sich gegenüber den anderen Amerikanern als etwas Besonderes. Das gibt eine Tour Tag und Nacht, Nacht und Tag ziehen wir den Trip durch. Erledige alles. Dann heben wir ab. Das wird was“, legte er los und sah dabei geschäftstüchtig in die Runde. Der Rotstich brachte Tratsch aus dem Theater ein und machte sich über ihre Kollegen lustig. So ging es mehrere Stunden hin und her. Es wurde gegessen und getrunken, und man war guter Stimmung. Der Charmeur und die Nymphomanin nahmen den Rotstich im Haar und mich in ihrer Limousine mit zurück nach Frankfurt. Es war ein gelungener Abend geworden und alle waren eigentlich guter Dinge. Es ist von Wiesbaden nach Frankfurt auf der Autobahn nur ein Katzensprung. Der Charmeur gab Gas und man schwebte dahin. Alle waren gut alkoholisiert, da sie aber etwas vertrugen, merkte man es ihnen nicht an. Man war so in dieser etwas abgehobenen, ins sorglos gehenden Weinstimmung, durch die die Ränder der Wahrnehmung fast verschwinden. „Nachtlug, andere Blicke, schnelles Erleben“, sagte der Charmeur. „Ich liebe das schnelle Fahren, es ist sexy“, hörte ich die Nymphomanin sagen. Ehe man sich versah, hatten wir den Ort gewechselt. „Ihr beide wollt doch sicher noch eine kleine Runde in Frankfurt drehen. Wir lassen euch am Hauptbahnhof raus. Dann könnt ihr noch in ein Nachtlokal. Es ist noch nicht früh genug für die Griechen im Imperial, aber ihr werdet schon noch was inden“, sagte die Nymphomanin plötzlich, so als wollte sie uns schnell verkuppeln. Ehe wir uns versahen waren wir am Hauptbahnhof und es wurde scharf gebremst. Wie unter einem Bann stiegen wir aus, ohne dass das sich vorher abgezeichnet hätte, stand ich mit dem Rotstich im Haar um 2 Uhr am Hauptbahnhof. Die Unsicherheit überkam mich, dass ich gar nicht wusste, 40 was ich zu dem Rotstich im Haar sagen sollte. Wenigstens Haltung bewahren, schoss mir durch den Kopf. Die Türen der Limousine schlugen ins Schloss, und sie startete durch. „Gehen wir zu mir oder zu dir?“, sagte ich zu dem Rotstich im Haar. „Gibt es bei dir noch etwas zu trinken, du wohnst doch gleich in der Nähe“, sagte der Rotstich. „Wein ist noch da, kippen wir noch einen“, hörte ich mich sagen. Dabei setzten wir uns wie fremdgesteuert in Bewegung und schon liefen wir in die Feuerbachstraße ein. Ich hatte eigentlich zu dem Zeitpunkt nicht vor, irgendeine Beziehung einzugehen. Sie stellte sich mit dem Rotstich im Haar ein. Sie ereignete sich einfach, ohne dass dazu viel getan zu werden brauchte. Hineingezogen wäre nicht die richtige Beschreibung. Alles lief so ineinander: Der zweite folgte auf den ersten, der dritte auf den zweiten Schritt und so weiter. Am nächsten Abend holte ich sie nach der Vorstellung im Fritz Rémond Theater ab. Das war ein eher zweitklassiges Boulevardtheater am Frankfurter Zoo, bei dem sie ein Engagement hatte. Vormittags lagen wir im Bett, nachmittags hatte sie Funk oder war auf der Probe. Wenn nicht, studierte sie Rollen ein und trug sie mir vor. Sie hatte einen Hang zum Oscar Wilds Konversationstheater. Ihr Sex war weich, eher blumig und nicht von der harten, destruktiven Art der Nymphomanin. Sie vögelte gerne. „Vögele mich, ich hab´s gerne, mach mir’s, du hast einen schönen Schwanz“, sagte sie. Ich vögelte sie, vormittags, nachts, je nach Stimmung, nachmittags. Vor allem war sie immer, auch zu Hause, chic angezogen. Zum Frühstück am Mittag gab es guten italienischen Weißwein, abends trank sie gerne Rotwein oder Sekt. Ihre Beziehung hängte sie, nach dem wir vierzehn Tage zusammen waren, ab. Sie reichte ihn durch die kalte Küche. „Mir hat es einfach gereicht. Er hatte diesen sentimentalen Sex, fängt beim Vögeln fast an zu weinen. Er war eigentlich ganz nett, großzügig, aber das hat mich alles gelangweilt. Vor allem diese sentimentale Beziehungskiste ist mir auf die Nerven gegangen. Die Dissonanzen waren in den letzten Wochen nicht überhörbar. Er wird zwar herumjammern, aber damit soll er selbst zu recht kommen. Weißt du, ein Werbefritze. Er ist Etatdirektor und hält sich für einen Künstler. Er zeichnet ein bisschen herum. Obwohl er kein „Direktor“ ist, sondern nur ein Budget verwaltet, glaubt er, er könne mich sentimental dominieren. Das braucht man auf die Dauer nicht. Wir wollen 41 uns gar nicht damit belasten. Ich brauch etwas anderes. Besseren Sex, bessere Unterhaltung, etwas Spaß und einen Typ, keinen Mutterixierten. Das wird es wohl sein, dass er über eine sentimentale, weinerliche Erotik nicht hinausgekommen ist. Dabei ist er Anfang Vierzig. Dass er ganz stattlich wirkt, reißt es dann auch nicht heraus“, war ihr Schlusswort. Damit war für sie die Sache erledigt. Das Wort „vögeln“ auszusprechen, schien ihr zu gefallen. Sie sagte gerne „vögeln wir“ und ing an, sich langsam auszuziehen. „Lass den Anfang wirken, erlebe, wie ich mich ausziehe, ich habe gerne beim Vöglen meine Bluse an. Ich weiß auch nicht, warum mich das reizt“, war einmal ihr Kommentar. Die Beziehung mit dem Rotstich im Haar tat ausgesprochen gut. Von ihrem Verhalten her gesehen, ihr ofensichtlich auch. Sie hatte eine Dachwohnung im Westend mit Kamin in einem Neubau. „Den Kamin von der abgenommen zu bekommen, das war ein Aufwand. Da waren die Wafen einer Frau einzusetzen. Ohne Kamin, das ist kein Lebensstil, das braucht man. Gott sei Dank gibt es zu der Wohnung ein Keller, damit man das Holz für den Kamin unterbringen kann. Das ist gar nicht so einfach, Kaminholz zu bekommen. Es ist eine größere Menge zu bestellen, aber dann, wo hin damit. In dem Fall ist es ja kein Problem. Vor allem nicht in der Küche herumsitzen. Das war mir nie eingängig, warum man sich von der Küche so angezogen fühlt. Schon die Stimmung, die da erzeugt wird, wie kann einem das denn gefallen. Das ist doch stillos. Der Werbefritze saß abends gern in der Küche. Man aß etwas, trank Wein und im Nebenzimmer war der Kamin. Ich habe ihn kaum dahinbekommen. Das kapiere, wem danach ist. Wenn es etwas Stumpfsinniges gibt, dann ist es das in der Küche sitzen. Vor dem Herd mit den Töpfen, dem eingebauten Eisschrank. Es gibt einen Küchenfanatismus, der sich immer mehr verbreitet. Die Küche, so wie ein Altar vor dem man betet, in diesem Fall isst. Die leeren Teller, das ganze Geschirr steht dann natürlich auch noch herum. Da kommen die Küchensitzer richtig hoch und fühlen sich erst bei sich selbst. Das ist doch einfach geschmacklos. Man sollte nicht den Banausen nacheifern. Sollen sie doch in der Küche sitzen und sich großartig fühlen“, war ihre Rede. Das war nicht falsch. Ich lernte die Kaminatmosphäre schätzen. Wir lagen vor dem Kamin, tranken Rotwein, hörten Musik, sie streckte sich, das war keine schlechte Stimmung. Man kam sich dabei etwas anders körperlich näher. Um Mitternacht gab es einen Espresso und Cognac. „Jetzt noch etwas ausgefallene Musik. Nachts Musik hören und dabei vögeln wir noch etwas. Komm’ richtig, nimm keine Rücksicht auf mich. Lass 42 es kommen. Du kannst auch schnell sein. Ich habe es gerne, wenn du dich gehen lässt. Halte es nicht zwanghaft an. Diese zwanghaften Anhaltekünstler meinen zwar, sie seien die Größten, die Obersexspezialisten, denen man nicht widerstehen kann, begnadete Glücklichmacher, aber kapieren nicht, dass man es auch einmal anders möchte. Du machst es schon gut mit deinem schönen Schwanz. Wir können ausschlafen, wenn wir mittags aufstehen, reicht das. Ich habe eh erst um 14 Uhr Funk“, sagte sie. Spaß hatten wir und viel zu lachen. Sie konnte auch ihre Schauspielerei nicht ernst nehmen. „Jetzt mache ich mal einen auf Komödie, und es wird eine Tragödie“ und legte los, mit Verfremdungen zu spielen. Das wirkte wirklich komisch. „Lachen“ ist in Beziehungen, wie ich hörte, fast selten. Man bringt sich, wenn es fehlt, um etwas. Vielleicht hat man auch verlernt, Späße zu machen. So ingen wir an, vor uns hin und durch den Tag und die Nacht zu leben. So, als gäbe es keine Zeit. Ich war zwar eine „arme Verwandte“, aber das störte sie nicht. „Mach dir wegen unserer Lebensführung keine Gedanken. Ich verdiene mit meinen Sprechkünsten genug. Was soll´s. Besser so ein Typ wie du, mit dem ich etwas anfangen kann, als den deprimierenden Werbefritzen oder was man sonst so angeboten bekommt. Der war zwar gut betucht, das hat mir aber gar nichts gebracht. Man kann zwar viel, aber nicht alles kaufen. Man denkt, sie sieht gut aus, die hat doch bei den Typen keine Probleme. Das stimmt auch, aber jemand zu inden, der einen etwas heiter macht, ist auch nicht einfach. Die Beziehung driftet dann schnell auf die Kompensierschiene ab, einen guten Rotwein, Italiener, teures Parfum. Das war´s dann. Das wird schnell hohles Getue.“ Im Nachhinein kann ich nicht mehr rekonstruieren, ob die Zuspitzung des Konlikts mit der Nymphomanin, über meine Dichtungskonzept und Dichtungskünste ausschließlich poetischer Natur waren oder ob sie auch mit der Anbahnung der Beziehung mit dem Rotstich im Haar zusammen hingen. Sie hatte das sehr schnell mitbekommen. Unsere Trefen stellten wir zwar nicht gleich ein, aber sie wurden doch drastisch weniger. Es waren nach dem Essen im Schwarzen Bock keine vier Wochen vergangen, da kamen die Diferenzen zum Ausbruch und die Ambivalenzen brachen aus. Das brachte zwar keine ganz einfache Situation mit sich, da der Rotstich im Haar mit dem Charmeur und der Nymphomanin befreundet war, es lies sich aber so einrichten, dass sie im Fortgang auf eine gewisse Distanz ging, ohne dass sich das für sie dramatisch auswirkte. Das ist auch eine Sache der Geschicklichkeit. Darüber verfügte der Rotstich im Haar. Man traf sich aber öfter mit der Brünetten und ihrem Mann zum Essen. Das brachte das Lancieren der Aufträge beim Funk ungewollter Weise mit sich. Ich selbst hatte auch mit ihr zu tun, da sie mir 43 kleinere Lektorate vermittelte. Man ist dann in einer Situation, in der man nicht alles absagen kann, und darf den Kontakt nicht verlieren, sonst wird man vergessen und der nächste der hinter einem steht, rückt nach. „Ich brauche mal wieder einen Dummen, der sich die sprachlichen Ungelenktheiten unserer Akademiker für den Funk zurechtbiegt. Man glaubt es nicht, was das für ein Geschreibsel ist. Kittler hätte sie in ihrer Großartigkeit alle nach Hause geschickt“, war ihre Rede. Man bekommt dafür mit der Zeit etwas Übung, was mir nicht allzu schwer iel, da ich mehrere Jahre in der Werbung in verschiedenen Funktionen tätig war. Mir tat die Art der Gedankenlosigkeit in Sachen Lebensgestaltung des Rotstichs im Haar gut. Sie hatte keine Zukunftsplanung, machte sich über ihre Lebensgestaltung keine Gedanken und lies es sich gerne gut gehen. „Wir setzen uns ein paar Tage in die Toskana ab. Mit dem Nachtzug sind wir gleich da. Das bringt etwas Kontrast in das Erleben. Es wird uns gut tun. Dichten kann man auch in Italien. Vielleicht sind Ortswechsel für die Reizung der Einbildungskraft ganz gut. Es stimmt doch nicht, dass man alles so aus sich selbst schöpft.“ Gesagt getan. Sie machte da keinen großen Umstände, und wir setzten uns ein paar Tage in die Toskana ab. Das Problem, das ich zu verkraften hatte, war ein ganz anderes. Ich merkte, dass ich kein Dichter und kein Schriftsteller war und würde auch nicht ein Dichter und Schriftsteller werden. Meine literarischen Ambitionen, mit denen ich so spielte, waren auf Sand gebaut. Mir fehlte es an Talent. Das war auch keine Frage des Fleißes. Irgendwie waren meine ganzen Versuche aussichtslos. Weder hatte ich einen Sinn für das Erzählen, das Prosaische lag mir gar nicht, noch war die ließende Kreativität vorhanden, die einen als Schriftsteller trägt. Ich hatte auch nichts zu erzählen, das entsprach nicht meiner Erlebnisverarbeitung, obwohl ich gerne Prosa las. Vielleicht macht mir das Schreiben auch keine Freude. Man kann nicht nur ein Gedicht, einen Roman, fünf Erzählungen schreiben, sondern es hat ein Fortgang einzutreten, sonst hat man das Schriftsteller-Sein nicht verstanden. Man ist dann keiner. Die wenigen Ausnahmen, die man als Widerlegungen auführen könnte, sind vernachlässigbar. Es machte sich vermutlich auch noch negativ bemerkbar, dass ich als junger Mann zu viel gelesen hatte. Von einem bestimmten Punkt an wirkt das kontraproduktiv. Auch das Handwerkliche führt dann nicht weiter, da es nicht so ohne Weiteres die kreative Fantasie befördert. Mir wurde auch deutlich, dass ich auch an den falschen Vorbildern orientiert war. An Mallarmé, Trakl und Keats kann man sich eben nicht orientieren. Mich hatte 44 auch die spanische Lyrik begeistert, aber das war für die eigene Kreativität nur ein Hindernis, da mir der kulturelle Hintergrund fehlte. Auch die Neigung zu einer sehr reduktiven sprachlichen Ausdrucksweise wirkt sich verhindernd aus. Was sollte man, angesichts dessen, was schon gedichtet war, auch noch dichten. Vermutlich fehlte mir es auch an dem Gefühl, das den ließenden Ausdruck trägt. Also insgesamt eine deprimierende Situation und Einsicht, aber ich fand mich damit ab. Die Beziehung zum Rotstich im Haar tat mir deshalb besonders gut und federte manches ab. „Es gibt doch wirklich Schlimmeres, man hängt an bestimmten Sachen, aber wenn man sie einmal hinter sich hat, werden sie auch kleiner. Machen wir uns einen guten Abend, eine schöne und gute Stunde und du wirst sehen, dass es weitergeht“, meinte sie. Sie hatte zudem eine lebenspraktische Art mit diesen Dingen umzugehen. „Komm wir kaufen dir ein schönes Hemd, das hat sich für trübe Stunden bewährt“, sie lachte dabei und wir ließen uns durch die Stadt treiben. Es war nicht so, dass ich mich von ihr so ganz verstanden fühlte, aber sie brachte mich auf andere Gedanken. Das ist für Verabschiedungen von etwas, an dem man auch unbewusst hängt, schon eine Hilfe. Etwas Zerstreuung ist in dieser Situation eine gute Gegensteuerung. Man sieht das Schif am Horizont untergehen, aber man steht auf dem festen Boden des Ufers. Wenn es verschwunden ist, bleibt der Boden unter den Füßen und man geht weiter. Das bringt einen zwar nicht zu einem selbst, aber es ist auch nicht selbstentfremdend. So vergingen die Tage, die Schauspielerin hatte etwas zu spielen, ich bekam meine Lektorate und wir hatten miteinander Spaß und ließen es uns ganz gut gehen. Das mag nicht das sein, was einen, der mit dem Dichterwahn geimpft wurde, existenziell zufriedenstellt, aber es ist eigentlich auch nicht ganz schlecht. Da gilt dann der Satz des Rotstich im Haar „Wenn die Gleitmasse stimmt, geht so manches“. 1975 gab es einen wirklich goldenen Oktober. Es ging jetzt fast ein Jahr mit dem Rotstich im Haar. Ich war zwei Tage unterwegs und hatte mich für den Samstagnachmittag angekündigt. Es sollte eine kleine Überraschung geben. Ganz gut gestimmt kam ich an, und sie emping mich mit einem etwas ungewohnten Ausdruck im Gesicht. Da wir uns bei der Begrüßung meistens nicht umarmten, kam mir ihr Ausdruck gar nicht so zu Bewusstsein. Das ganze spielte sich in Sekunden ab. Ich ging in die Küche, um eine Falsche Wein zu 45 entkorken. Sie folgte mir und stand Abstand haltend in der Tür. „In München bekomme ich ein Engagement, und es wird etwas beim Fernsehen laufen. Das kam ganz unerwartet. Da heißt es, die Zelte in Frankfurt abbrechen. Da geht es dann nicht mehr so mit uns weiter. Aber wir brauchen uns nicht aus dem Blick verlieren. Wir sollten nicht böse auseinandergehen. Wir hatten doch eine schöne Zeit“, sagte sie. Das war ein schöner Empfang. Sie hatte sich richtig chic gemacht. Der Lippenstift war besonders sorgfältig aufgetragen und nachgezogen. Sie verzog dabei etwas den Mund. Mit dem „nicht aus dem Blick verlieren“, versuchte sie der Sache etwas die Härte zu nehmen. Sie war zwar in der Verfolgung ihrer Interessen konsequent, vermied aber unversöhnliche Brüche und lies sich gerne noch eine Hintertür ofen. Man weiß nicht, wozu man den anderen noch einmal braucht, war ihre mir vertraute Haltung. Sie neigte eher zu den weicheren Übergängen. Am Ergebnis änderte so etwas aber nicht viel. Ihr war wirklich eine Überraschung gelungen. Mich wunderte es etwas, dass ich gar nicht erschüttert war. Ich nahm mir ein Schreibmaschinenblatt, setzte mich an den Küchentisch und schrieb, die Verse laut zu ihr gewandt, vorsagend: „Nicht „Trunkener Frühling“, erlebe die: Gute Stunde Schwerelos Aus dem Spiegel tritt grenzenloser Blick Jetzt ist die Zeit erfüllt Spüre jetzt das wahre Leben das sie mir zurückgeben Die Stunde ist’s wodurch es dich entzückt, entrückt. „Trunkener Frühling“ ist eine Anspielung auf Gustav Mahler. Seine Verbindung von Symphonie und Kunstlied“, merkte ich dazu an. Die Überraschung schien eher auf ihrer Seite zu sein, denn sie schaute mit etwas aufgerissenen Augen zurück, ing sich aber gleich wieder. „Dich poetisch anzuregen, bist du nicht überrascht, perplex, macht dir das 46 gar nichts aus, dass unsere Wege auseinanderlaufen?“, hörte ich sie. Sie dachte vermutlich, ich würde zusammenbrechen und vor ihr auf den Knien liegen. Mir war mit dem ersten Satz ihrer Ankündigung nach München zu gehen klar, dass da nichts mehr zu machen war. Diese Chance wird sie sich nicht entgehen lassen. Was sollte sie sich auch dabei mit mir belasten, wenn es darum ging ihre Karriere voranzutreiben. Soviel Chancen gibt es bei solchen Karrieren, die in der Regel nicht allzu erfolgreich sind, nicht. Es konnte gut sein, dass noch andere Motive eine Rolle spielten, ohne dass sie ihr bewusst waren. Es kommt oft eine unbemerkte Unterhöhlung von Beziehungen vor. Das kündigt sich an Kleinigkeiten an, die erst vom Ende her ihre Bedeutung bekommen. Vielleicht hatte sie auch einfach Lust nach einem anderen Liebhaber und wollte sich Luft verschafen. Der Wechsel nach München war da eine gute Gelegenheit, das Feld zu bereinigen. Ich schaute sie etwas verträumt an, lächelte etwas gewollt und sagte: „Wir hatten sie, die gute Stunde, was wollen wir mehr“ und machte mich vom Acker. Es konnte gut sein, dass der Rotstich im Haar der Schritt bei ihrem Durchstarten etwas Leid tat, zumal mit dem nicht sofort anstehenden Ortswechsel nichts über das Knie zu brechen war. Aber, wie das einmal so ist, wenn man sich zu sehr vorwagt oder etwas beziehungsmäßig ausprobieren möchte, führt man eine Situation herbei, in der die Würfel fallen. Es wäre nicht ganz auszuschließen gewesen, dass mit etwas Gejammere und Beschwörung meinerseits, der Rotstich im Haar ein paar Runden weiter dabei geblieben wäre. Auch das hätte durchaus in mein Bild von ihr gepasst. Was ich bedauere, ist, dass ich meistens nicht richtig allein war, da ich ohne Unterbrechungen sexuelle Beziehungen hatte. Das lenkt die Einbildungskraft ab. Das Geschlechtliche stört ihr freies Spiel. Insofern musste ich mich immer wieder losreißen und auf Reisen gehen, auch wenn es nur kurze Trips waren, damit die Einbildungskraft in ihr freies Spiel eintreten konnte. Mein alter Freund Alfred Edel, der in seinem 60isten Lebensjahr an einem Herzschlag nach einem Theaterbesuch starb, sagte über das Geschlechterverhältnis „Die Frau nimmt dem Mann auch durch ihre Art der Geschlechtlichkeit seine Kraft. Sie ist in ihrer von der Anlage her grenzenlosen Sexualität eine Aussaugerin. Sie kann immer, ohne Ende und macht dem Mann glauben, dass ihr Körper etwas Großartiges sei. Es gibt aber andere Glücke, die keine Frau befriedigen kann. Was uns von den alten Lateinern überliefert ist, „Omne animal post coitum triste est“, ist schon wahr, aber wie das bei Wahrheiten ist, was folgern wir daraus? Man hat das immer gewusst. Das Wissen ist aber durch den Terrorismus der Intimität verloren gegangen. Es könnte sein, dass darin das Geheimnis des Sexismus besteht.“ Alfred Edel wirke als Texter, der Satz „Nachdenken, mit der Bahn fahren“ 47 geht auf ihn zurück, als Kleinilmschauspieler war er in Frankfurt und München stadtbekannt. Ihn ein Unikum zu nennen, ist vielleicht zu negativ konnotiert. Bei Frauen war er zwar erfolgreich, aber nicht beliebt, da er zu selbstinszenierenden Ausfälligkeiten ihnen gegenüber neigte. Es konnte sein, dass man mit ihm unterwegs war und er in einem Lokal zu einer Frau rief: „Mit dir habe ich auch geickt“. Ab dem 50igsten Lebensjahr wurde er dann, was das betraf, etwas ruhiger. Seine narzisstische Selbstinszenierung bekam er halbwegs in den Grif. Er hatte aber in bestimmten Kreisen diesen Ruf weg. Das passte Alfred Edel im Alter zwar nicht, aber wie das in diesen Fällen so ist, es war nicht mehr viel daran zu ändern. Ich kannte ihn bereits aus den 1960er Jahren, hielt aber eine Distanz zu ihm, da ich mich seiner Selbstinszenierungen nicht aussetzen mochte. „Ich bin eitel, wie eine Diva“, sagte er. Seine blauen Augen faszinierten sein Publikum. Ansonsten hatte er durchaus etwas Väterliches. 1975 hatte er sich auf mich zubewegt und wir trafen uns gelegentlich im Café Schwille und gingen mittags ins Kino, da er sich auf dem Laufenden halten wollte. Er schleppt mich dann überall mit. Bei schönen Frauen hatte er immer wieder Erfolg. „Baggere die doch an, die kannst du gut abschleppen. Die schönen Frauen haben’s besonders schwer, da kann man leichter landen als man landläuig meint. Sie sind oft keine gute Geliebte, sagte er dann. Mein Baggern machte ihm dann Spaß und schien ihn gut zu unterhalten. Er stand dabei, sah sich das an, lachte, machte der Schönen Honneurs und versuchte mir damit in die Hände zu arbeiten. Dabei war er wirklich sehr geschickt. Wenn mir eine kleine Nutte im Hauslur einen blies, fühlte ich mich danach eigentlich in sexuellen Belangen mit am Wohlsten. Wenn das zu seinem Höhepunkt zulief, hieß es dann „Abschlucken!“. Man hat dabei nicht diesen verschlingenden Kontakt mit dem weiblichen Körper und ist ihm nicht in der gesamten körperlichen Wahrnehmung ausgeliefert. Das war kurz und intensiv und man ging danach entspannt ein Bier trinken. Hört man so etwas von jemandem, so wird einem der Sprecher spontan, in einer im Fortgang der Kommunikation schwer zu korrigierenden Weise, unsympathisch. Man hält ihn für einen gefühllosen zu verachtenden 48 Typ. Dafür ist er selbst der Beleg. Doch der Fall ist nicht so klar geschnitten. Ich erlebte dabei, dass sich etwas ereignet, von dem ich fremdbestimmt war. Es führte mich am wenigsten zu mir selbst. Die Frauen haben es insofern etwas leichter, sie werden Mütter und bekommen dadurch einen Sinn, den Männer nicht haben. Sie bleiben bloße Erzeuger, aber sie tragen nicht aus. Da Problem ist mittlerweile für mich Geschichte geworden. Das Interesse an diesen Vorgängen geht verloren. Das macht vieles einfacher. Die Frau, das ist die Hexe, die Zeit-Hexe, das Werden. Wir erleben durch sie den ungeheueren Augenblick. Sie ist der Unsinn als das Mystische, wie Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico philosophicus das Unsagbare nennt. Er erschien 1921 im letzten Band in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. Ein überschätztes und unlesbares Buch. Höre jetzt noch von Franz Schubert Den Schwanengesang, die Vertonung von sechs Heine-Liedern. Das vorletzte Lied „Der Doppelgänger“ ist ein Sprechgesang. Es erschließt sich einem intuitiv, obwohl man dabei nicht darauf kommt, wie es komponiert ist. 24. Februar 2008 49 unterwegs Wir hören immer wieder und haben auch Beispiele dafür „Alt sein ist noch etwas anderes, als alt werden“. Gegenwärtig beinde ich mich im Abschnitt des Alt-Werdens. In diesem Zustand nehmen wir unsere Umwelt und uns selbst eingeschränkter wahr. Das ist der Anfang zu einem Übergang, zu einer ganz anderen Beindlichkeit, dem des Alt-Seins. Die Aussichten sind aber gar nicht so schlecht. Ich sehe mich im Alterswohnheim in einem kleinen Zimmer sitzen. Eigentlich keine schlecht Position. Man wird versorgt, kann sich auf sich zurückziehen und ist nicht mehr getrieben. Der Leib ist kalt geworden. Darauf sind wir schon etwas durch Bilder vorbereitet. Wir sehen einen alten Mann auf einer Bank sitzen. Er schaut in den Himmel. Es ist ein schöner Sommertag. Ihm fehlt gar nichts. Sein Blick geht in die Ferne und zugleich nach Innen. Alte Männer haben eine eigene Faszination, die ich bei alten Frauen nicht so erlebe. Es zeigt sich dann, wer man ist. Vielleicht ist auch das Blindwerden ein Glücksfall. Man kann sich dann ganz auf den Klang der Verse einlassen. Borges, der in seinem Alter fast blind wurde, berichtet von dem Klang der Verse, die er formulierte, der Aufmerksamkeit, die in seinem fast blinden Zustand eintrat, bevor er sie diktierte. Noch vielversprechender wäre es, wenn in diesem Zustand alle Verse und Klänge verschwinden, ohne dass man sagen könnte, dass man in sich selbst zurückgeht. Man erlebt die Leere. „Leere“ ist nur ein Wort, dessen Bedeutung wir nicht kennen. Das führt uns zu dem, was unser Inneres ist. Etwas nicht Erreichbares, ein Ort, an dem wir nicht ankommen können. Der angesprochene Zustand bleibt aber unbekannt, da wir von der zukünftigen Gegenwart nicht in die gegenwärtige Zukunft springen können. Sie ist nur in der Gegenwart erreichbar und unser Bewusstsein operiert nur in der Gegenwart. Das Gedächtnis hat viel zu vergessen, um sich erinnern zu können. Die Aussichten für die Zukunft sind also nicht so schlecht. Mir fällt der schöne Satz eines über 100 Jahre alt gewordenen französischen Diplomaten dazu ein „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat.“ Ich hörte, wie ich die Zimmertür schloss, so, als ob sie von selbst zuging und war wieder in meinem Dachzimmer in der Feuerbachstraße. Ich fühlte mich eigentlich nicht unwohl. Ohne eine Frau zu sein, braucht nicht Einsamkeit zur Folge zu haben. Das ist auch eine Frage, ob man sich selbst unterhalten kann. Es war nicht so, dass mir die Trennung von dem Rotstich im Haar gar nichts ausgemacht hätte. Man verliert dabei auch einen Teil seiner sozialen Umwelt. Zudem brach der Kontakt mit der Brünetten vom Hessischen Rundfunk und ihrem Mann fast ganz ab. Sie war im Sommer 1975 befördert worden 50 und leitete jetzt eine Abteilung. An ihren Nachfolger hatte sie mich weiter empfohlen. Es gab aber deshalb mit ihr keine meiner mich positiv irritierenden Dienstbesprechungen mehr. Ich sah sie gelegentlich von weitem in der Kantine des Hessischen Rundfunks mit ihren Mitarbeitern, aber der Blickkontakt war eher lüchtig, und es gab auch weiter keinen Anlass auf sie zuzugehen. Sie saß in der Mitte und es wirkte so, als hielt sie während der Mittagszeit in einer unaufdringlichen Weise Hof. „Sie hat sich gleich einen neuen Kamelhaarmantel gekauft, das hält sie für chic. Jetzt macht sie wirklich den Dicken“, kommentierte der Rotstich im Haar. Der Rotstich im Haar hatte zu der Brünetten eine Beziehung, die sich durch Konkurrenz und Kooperation auszeichnete. Einerseits gab es Dominierungsversuche, anderseits saßen sie zusammen, tranken Wein und aßen etwas. Der Rotstich im Haar redete mit ihr über ihre Rollen und die Brünette gab ihr Ratschläge. Auch Männer waren wohl gelegentlich Thema. Man bekommt selten mit, wie Frauen über Männer sprechen. Was man so mitbekommt, so soll es oft über ihre Schwänze gehen, und wie sie es miteinander treiben. Der Reiz dieser Gespräche besteht darin, dass sie in einer Unterwelt stattinden, die größere Freiheiten erlaubt als die öfentliche Kommunikation. Werden sie an die Öfentlichkeit gebracht, wird sie banal. Ich merkte, dass mir das Ende der Runde mit dem Charmeur, der Nymphoman, der Brünetten, ihrem Mann und dem Rotstich im Haar doch ganz gut tat. Man tritt in eine neue, wiedergewonnen Freiheit ein, ist wieder auf sich selbst zurückgeworfen, hat weniger soziale Verplichtungen und lässt die Stimmungen der Tage, Straßen und der Anblicke anders auf sich wirken. Nicht, dass einem am Ende einer Beziehung nicht auch etwas fehlen würde, aber man kann sich anders selbst vergewissern und das Erleben fängt an zu ließen. Es fällt leichter, hinter sich zurückzutreten. Insgesamt fühlte ich mich nicht unwohl. Zuerst versorgte ich mich mit Wein, Lebensmittel, Cognac, Kafee, Tee, Kuchen und richtete mich darauf ein, tagsüber im Bett zu liegen. Stellte die Klingel ab und las noch einmal die Romane von Joseph Conrad, Herman Melville und William Faulkner. Conrad hat eine Art sich in andere hineinzuversetzen und ihre Verstrickungen zu beschreiben, die selten ist. Die Psychologie geht einem nahe. Melvilles Moby Dick ist ein wirklich philosophisches Buch und ein völlig unverstandener Roman. Bei Faulkner, dem Senior der amerikanischen Südstaatenliteratur, erlebt man die heißen Tage des amerikanischen Südens, die Unendlichkeiten der Landschaft und den Abgrund, in den sie einen versetzte. Sollte auch wieder einmal die Franzosen lesen, schoss mir durch den Kopf. André Gides Tagebuch ist wirklich beeindruckend. 51 Ab 1975 begann die Weinlokalszene in Frankfurt zu prosperieren. Da gab es, wenn man darauf aus war, immer die Gelegenheit für einen One Night Stand. Jetzt war auch wieder genug Zeit, um Nachts im Grüneburg Park spazieren zu gehen. Das war ein besonderes Erlebnis. Man stand auf der Anhöhe des Parks und hörte das Rauschen der Stadt. Es war wie ein Meer, eine Brandung. Man stand dem Erhabenen gegenüber. „Könnte doch meinen alten MG Sportwagen wieder anmelden und etwas in die Frankfurter Umgebung fahren“, kam mir in den Sinn. Der grüne MG war ein Geschenk meines Schwiegervaters zur Hochzeit 1964. Ich hatte ihn behalten, aber er war meistens abgemeldet und stand in einer Garage am Stadtrand. So war er noch fast neu. Die Marke war ein Schrottauto, aber in der zweiten Hälfte der 1950iger Jahre und noch bis in die 1960iger galt es als absolut chic einen MG zu fahren. Das war etwas ganz Besonderes, trotz seiner Unbequemlichkeit. Meine verstorbene Frau sah darin einfach toll aus. Sie mochte ihn sehr. Ich hatte ihn nicht verkauft, obwohl ich Autos lästig fand, da es für mich ein Gefühl, eine Erinnerung ausdrückte, mit dem ich im Hinblick auf den Tod meiner Frau nicht umgehen konnte. Es war die vergegenständlichte Symbolisierung eines Gefühls. Es war so, als ob die Zeit still sehen würde. In größeren Abständen ging ich in die Garage. Setzte mich in den MG. Döste etwas vor mich hin. Manchmal nahm ich den Autoschlüssel in die Hand, und drehte ihn bis zu dem Klick, lies den Wagen aber nicht an. Verlies das Auto und fuhr mit der Hand über seinen Kühler. Nach einer halben Stunde ging ich dann wieder. Goldene Zeiten, in denen es noch kein Telefon gab. Man rief mich an und teilte mir mit, dass Allain Robbe-Grillet im Februar 2008 starb. Da kam die MG-Erinnerung über mich. Es war mit dem Auto und meiner Frau ein Stück auch eine Nouveau Roman-Zeit. Man fuhr mit dem MG im Sommer durch die Stadt. Hielt an. Ich stieg aus. Ging um den Wagen herum. Rauchte eine Zigarette. Stieg wieder ein. Schaltete das Radio an. Schaltete es wieder aus. Setzte die Sonnenbrille auf und lies mich mit meiner jungen schönen Frau bewundern. Sie hatte zu dem Zeitpunkt zwar schon das Kind im Bauch, aber das sah man noch nicht. Sie stieg aus. Rauchte eine Zigarette. Setzte sich auf den Kühler. Schaute in die Sonne. Dabei sprachen wir gar nicht. Lehnten uns im Auto zurück. Rauchten eine Zigarette. Sahen in den Himmel. Fuhren weiter. Tankten an einer Tankstelle. Fuhren zur Seite und ließen den Straßenverkehr auf uns wirken. Fuhren nach Hause und hörten Schallplatten. Sahen aus dem Fenster. Sie zog ihre Bluse aus und stöberte mit schwarzem BH nach einer anderen Schallplatte. Legte John Coltrane auf. Das war etwas Exklusives und daran zeigte sich Geschmack. Sie zog ihre Bluse wieder an und kochte Kafee. Ich fühlte über ihren Bauch, der ganz leicht etwas größer wurde. Küsste sie 52 auf ihren Nabel. Trank Kafee und aß etwas Kuchen. Hörte weiter Musik und rauchte. 1981 befreite ich mich doch von ihm, da ein gutes Angebot, eigentlich überteuert, vorlag. Er ing auch an, mich gefühlsmäßig zu belasten. Insofern war keine große Überwindung erforderlich, die Gelegenheit wahrzunehmen. Erst am Ende bekommt die Geschichte ihre Struktur, fällt einem dazu ein. Davor ist man noch mit dabei. Man kennt das Ende noch nicht und in Folge dessen auch nicht die Struktur der Geschichte. Es näherte sich Weihnachten 1975-76. Mir war nach einem Ortswechsel zu mute. Das schaft oft den Einstieg in einen Übergang. Agadir bot sich an. Zumal der Marokkaner mit mir wieder Kontakt aufnahm und mich einlud. Das würde eine gute Zeit werden und andere Perspektiven mit sich bringen. Zudem gab es nicht viel zu organisieren. Es brauchte nur eine Reisetasche gepackt zu werden und das Flugticket war zu buchen. Das war schon alles. Man merkt dabei wie eine neue Freiheit eintritt. Man spürt sie leiblich. Sie ist amorph und nicht greifbar. „Freiheit“ ist auch nicht das trefende Wort, es ist eine Stimmung, die einen erfasst und einen mitnimmt. Ein Ortswechsel war auch deshalb wünschenswert, da ich am 3. Januar 1976 31 Jahre alt wurde. Entfernung tat einfach not. Ich hatte gar nicht gedacht, dass ich dieses Alter erreichen würde, aber so dramatisch war es dann doch nicht. Die Zeit strich dahin. Ich war körperlich in guter Verfassung, aufgeweckt und ließ mich von den Stimmungen, den eigen und denen, die mir entgegenkamen, tragen. Was wünscht man sich mehr. Ende Januar 1976 war ich wieder zurück. Der Aufenthalt in Agadir war meditativ. Meistens hielt ich mich am Strand südlich von Agadir auf oder rauchte mit dem Marokkaner und seinen Freunden Haschisch. In Marokko gibt es vorzüglichen Stof. Man sitzt mit den Männern zusammen in einem Zimmer auf dem Boden. In der Mitte des Zimmers steht die Wasserpfeife und Pfeferminztee, mit dem man sich von Zeit zu Zeit die Mundschleimhaut anfeuchtet. Dann geht es tagelang auf Reise. Essen, trinken, auch Sexualität stört dabei. Es verunreinigt die Wirkung. Man geht auf Reise. Man tritt in andere Welten ein. Abends geht man noch etwas durch die Stadt. Es umgibt einen dann Rauschen, ein reines Rauschen. Die Männer sprechen nicht viel. Es besteht ein Einverständnis unter ihnen, das wortlos bleiben kann. Sprechen würde nur stören. In Europa nahm ich keine Drogen zu mir, da mir der Hintergrund dazu fehlte und es war mir zu modisch. In Agadir dagegen war es etwas anderes. Da gehörten diese Reisen schlicht dazu. Ein Reisen, ohne dass man den Ort, an dem man sich beindet, verändert. Also in keine Bewegung eintritt und an der räumlichen Veränderung der Dinge teilhat. Man fuhr dabei in die Erde, ging auf dem Boden des Meeres herum, reichte durch die Wände der Häuser Hände. Begegnete man einer Frau, so wird sie reiner Gegenstand 53 der Vision des Ungeheuerlichen. In den ersten Tagen des Februars war etwas herumzuhören, mit dem Hessischen Rundfunk Kontakt aufzunehmen, einige Briefe zu beantworten, Bücher zu besorgen, das Theater- und Opernprogramm durchzusehen und was sonst noch zur Ordnung der Dinge anfällt zu erledigen. Eine hinfällige Ordnung, aber eine unumgehbare. Das Merkwürdige an diesen Dingen ist, dass sie zwar einen hohen Spielraum haben, aber im Einzelfall stößt man schnell an Grenzen. Die Dinge und ihre Anordnung sind die dingliche Grundlage, die durch den Tag gleiten lässt. Bei der Vergegenwärtigung des eigenen Tuns, stellen wir fest, dass die Strukturen reversibel sind, die Ereignisse sind es nicht. Wir können angestellt und entlassen werden und wieder eine neue Anstellung inden. Insofern ist die Struktur reversibel, aber das Ereignis ist nicht umkehrbar. Mein 31. Geburtstag 1976 war im Februar bereits Geschichte. Das neue Jahr ing bereits an in die Ferne zu rücken, obwohl noch keine vier Wochen vergangen waren. Ich war in der Innenstadt an der Hautwache unterwegs, was wegen des U-Bahnbaus abenteuerlich war. Es sollte auch noch etwas länger so bleiben. Eigentlich dachte ich bewusst nicht an viel. Eher, wie fremdgesteuert bog ich in die Fressgasse ein, um noch einen Blick ins Café Schwille zu werfen. Plötzlich hörte ich eine bekannte Stimme: „Wieder in Gedanken unterwegs und dabei mit diesem zügigen Schritt!“. Vor mir stand die Brünette, elegant im Kamelhaarmantel, aber ungewöhnlich blass. Sie sah mich ruhig an. Im ersten Augenblick war ich so überrascht, dass ich gar antworten konnte, auch keine Belanglosigkeit wie „Ach so was?“, das einem in einer solchen Situationen eine kleine Brücke zu dem Fortgang schlägt. Die Brünette gehörte nicht zu denen, die auf den Mund gefallen waren und nahm den Fortgang des Gesprächs in die Hand. „Bin gerade in meine neue Wohnung im Westend unterwegs. Der Vertrag ist unterschrieben und sie ist fast eingerichtet. Es ist also nicht im Kocher das Wasser für den Kafee zum Sprudeln zu bringen. Es gibt bereits eine Kafeemaschine.“ Sie legte eine kleine Pause ein, sah mich, sich etwas ausstreckend, von oben an. „Ich habe mich getrennt und bin ausgezogen. Wie man es auch ausdrücken möchte, am Ergebnis ändert das nicht viel. Stelle keine weiteren Fragen.“ Sie hielt wieder etwas inne. Ich war von der Mitteilung so überrascht, dass ich nichts dazu sagen konnte. Wir blieben aber nicht stehen, sondern gingen ohne eine bewusste Absicht Richtung Opernplatz. Nach ein paar Schritten, 54 sprach sie weiter: „Lass uns in’s Knoblauch Steaks essen und etwas trinken gehen. Es geht jetzt gegen 18 Uhr. Das ist nur ein Katzensprung, und wir bekommen den Tisch rechts neben dem Eingang. Oder passt es dir nicht in deine Abendvorhaben? Etwas Suf kann nicht schaden.“ Dabei gingen wir weiter. So langsam erfasste ich, was mir da mitgeteilt wurde, was meine Verlegenheit nicht verringerte, sondern verstärkte. Wenn ich etwas nicht erwartet hätte, dann wäre es eine Trennung der Brünetten von ihrem geschäftstüchtigen Mann gewesen. Von Außen gesehen, passten die beiden irgendwie gut zusammen. Die unterschiedlichen Interessen schienen in der Beziehung kein Problem zu sein. Ich mochte aber gar keine Einzelheiten von der Trennung und ihren Motiven hören, da es mir gleichgültig war. Irgendetwas war jetzt doch von mir zu äußern. „Das ist eine gute Idee, ich habe weiter nichts vor, im Knoblauch inden wir jetzt, bevor der Trubel anfängt, einen schönen Platz.“ Dabei gingen wir weiter Richtung Opernplatz. „Dann machen wir keine Umstände, ich lade dich ein.“ Von der Fressgasse zum Knoblauch war es wirklich nicht weit. Vielleicht 10 Minuten, aber die Zeit dahin war zu überbrücken. „Was wird das für ein Abend geben, ein paar Weine werden vielleicht die Situation etwas entspannen“, dachte ich. Zudem kam, dass ich mit der Brünetten in der Vergangenheit eigentlich keinen persönlichen Kontakt hatte. Ich sah sie bei den Besprechungen im Hessischen Rundfunk oder in unserem kleinen Kreis mit dem letzten Charmeur und den anderen. Da sprach ich zwar gelegentlich mit ihr über Alltagsereignisse, das blieb aber unpersönlich und trivial. Es gab zwar durch unsere kleinen Dispute eine Nähe, dem wurde aber am Ende die Spitze abgebrochen, und sie lösten sich in der Konversation des kleinen Kreises auf. Insofern bewegte ich mich in einer anderen Situation, die für mich neu und ungewohnt war. „Marokko war ein guter Trip, es war ein Hauch von Afrika, dem exotischen und nicht Begreifbaren nahe“, setzte ich an, um das Gespräch etwas in die Gänge zu bringen. Bevor ich aber fortfahren konnte, sah sie auf ein Damenbekleidungsgeschäft und steuerte es an. 55 „Wirklich chic, das Kostüm. Könnte meine Größe sein. Das steht mir doch. Dazu eine Bluse in einer Kontrastfarbe. Könnte es das sein?“ und unterbrach sie mich und sah mich an. Sie war wirklich blass, aber das stand ihr. Es gab ihr einen etwas enthobenen, schönen Gesichtszug. Man sah ihre Blässe, obwohl sie sich geschickt geschminkt hatte. So standen wir vor dem Schaufenster und ließen die letzte Damenmode auf uns wirken. Um nicht allzu wortkarg zu sein, fuhr ich fort „Das sollte man angezogen sehen. Das steht dir doch!“ Bevor ich noch fortfahren konnte, nahm sie wieder das Heft in die Hand: „Behalte ich im Blick, lass uns aber jetzt in Knoblauch gehen, sonst sind die besten Plätze besetzt, so viele gibt es da nicht.“ Der Opernplatz kam in den Blick. Schon ging es am Züricher Hochhaus vorbei und wir nahmen die Türklinke zum Knoblauch in die Hand. Das Züricher Hochhaus ist mittlerweile abgerissen. Es war das erste Hochhaus in Frankfurt. Wobei nach unseren gegenwärtigen Maßstäben es sich dabei um kein „Hochhaus“ handelte. Aus der Perspektive der 1950er und 1960er Jahre war es für die Frankfurter Insulaner schlicht ein „Hochhaus“. Wir konnten uns an dem rechten Tisch neben der Eingangstür breit machen. Soweit klappte alles. Im sitzen, nach dem ersten Wein, die Brünette kippte ihn etwas schnell ab und ich stand ihr dabei nicht nach, lies die Anspannung langsam nach. Es wurden die Steaks bestellt. „Komm, wir nehmen eine Flasche Wein, da haben wir nicht das hin und her. Was magst du für eine Sorte?“, sagte sie zu mir und zur Bedienung blickend. Ich war ganz froh, als die Steaks serviert wurden. Das entlastete die Kommunikation. Man konnte dann über die Sexualität des Essens die Kommunikation gestalten. „Einfach wieder bestens“, „Doch ein guter Wein“, „Da haben wir ja eine Flasche Wein, koste mal an“, „Lass es dir schmecken“. Also es waren Schienen da, auf denen man gleiten konnte und der persönliche Bezug war abgeschwächt. Man war dadurch nicht ausweglos mit sich selbst konfrontiert. Da sie nicht über ihre Trennung sprechen wollte, lies ich das Nachfragen auf sich beruhen. Bei der Darstellungen von Trennungen ist man mit einer persönlichen Sichtweise konfrontiert und hört nicht die andere Seite. Wenn man beide Seiten kennt, ist man oft geneigt zu sagen, dass jede Seite Recht hat. Zudem wird von den beiden Seiten immer um Zustimmung geworben oder durch entsprechende Dramatisierung gefordert. Dem kann 56 man sich schwer entziehen. Eine objektive Beurteilung ist da nicht möglich. Dass es mit dem Rotstich im Haar nicht mehr lief, wird sie gehört haben. Auch, dass ich mich zurückgezogen hatte. Der Rotstich im Haar nannte sie gerne etwas ironisch „Heute im Studio“. Nach ihrer Beförderung rollte sie ihre neue Position ganz auf und sprach mit Vorliebe Sendungen, die sie schrieb. Sie hatte einen sehr lüssigen Stil. Er erinnerte mich an Jack London. Der ein genialer Schnellschreiber war, also kein endloses Thomas Mann-Konstruieren, das schwer in Schwung kommt. Meine Verlegenheit machte sich auch nach dem Essen und den Weinen noch durch mangelnden Redeluss bemerkbar. Sie streckte sich etwas und zog ihre Kostümjacke aus. Das grau des Kostüms stand ihr. Sie trug eine rote Bluse. Ganz leicht durchsichtig, so dass man etwas ihren schwarzen Büstenhalter sah und die Formung ihre Brüste sah. Das wurde durch das Strecken ihres Körpers noch unterstrichen. Ich konnte davon ausgehen, dass sie genau über die Ereignisse des Rückzugs aus dem kleinen Kreis und der Trennung des Rotstichs im Haar informiert war. Darauf zu sprechen zu kommen, wäre nicht ergiebig gewesen, und ich hätte auch nicht gewusst, was ich der Brünetten darüber mitteilen mochte. Es trat aber kein Schweigen ein, sondern sie lächelte mich an und legte wieder los und lachte mich dabei etwas an, so als mochte sie mich in den Arm nehmen. Vor allem redete sie mich mit du an, was mir unmittelbar etwas unangenehm war. „Du kennst doch das alte Sprichwort „Nur Gott steht das Privileg der Einsamkeit zu“. Wenn man göttliche Privilegien in Anspruch nimmt, so kann das nicht ganz gut gehen. Schriftsteller werden oder gar zu sein, das ist im buchstäblichen Sinn des Wortes ein „Sein“. Da kann man nicht nur ein Buch, ein Gedicht schreiben. Das ist nicht mehr so wie im 18. Jahrhundert. Du hast ein Buch und dann das nächste zu schreiben, danach wieder das nächste. Schriftsteller, auch nur mit etwas Erfolg, sind ein Unternehmen. Sie haben vielleicht ein Einfamilienhaus, eine Frau, ein Kind oder zwei. Es stehen zwei Autos vor der Tür oder sogar in einer Garage. Da ist andauernd zu schreiben. Nicht nur Romane, sondern Hörspiele, Essays für Funk und Zeitungen. Es ist sich zu stilisieren. Man gibt sich anti-bürgerlich, grenzt sich aber gegen die Bohemien-Existenzen ab. Es werden auch Innovationen vermieden. Der Leser erwartet denselben Ton. Anderes irritiert ihn. Er kann damit nicht viel anfangen. Der Bohemien hangelt sich mit allem möglichem durch, um überleben zu können. Schreibt einmal oder nicht und versucht sich mit Innovationen. Der Schriftsteller darf seine Leser und Hörer nicht enttäuschen, es sei denn so, dass es von Ihnen erwartet wird und man es ihm gerne nachsieht. Das ist ein feiner Unterschied, der aber ein grundsätzlicher ist. Schriftsteller sein heißt auch, sich als Schriftsteller zu stilisieren. Er braucht Förderer, die ihn 57 für unersetzbar und einmalig halten. Je mehr sich etwas Erfolg einstellt, umso ersetzbarer durch die Nachrückenden wird er letztlich. Man kennt ihn bereits. Insofern hat er sich als unverwechselbar zu stilisieren. Es hat viel zusammenzukommen, dass man ein Schriftsteller wird. Erschwerend ist zudem, dass es so wie bei dem Wein und der Stimme ist, entweder man indet zwischen seinen 30 und 35 Jahren sein Publikum, oder man indet es gar nicht. Die Ironie dabei ist, dass er, der Schriftsteller, was sich da mit ihm, in seinem andauernden Schreiben ereignet, gar nicht erfassen kann. Er kann diesen ihm selbst nicht durchsichtigen Zustand seinem Leser nur durch Anspielungen mitteilen. Dadurch wird er umso mehr ein Objekt der Projektionen seiner Leser. Was noch hinzukommt, literarischer Geschmack ist etwas sehr vergängliches und von Moden abhängig. Eigentlich hat man schon verloren, bevor man angefangen hat. Man hat Goethe und Keller im Schrank stehen, aber gelesen sind sie nicht. Das ist noch nicht einmal mehr ein Thema für germanistische Seminare. Goethe und Keller bleiben letztlich viel zu weit entfernt und fremd, ohne dass sie etwas Exotisches hätten. Auch zum Bildungserlebnis sind unsere großen Autoren nicht mehr geeignet. Warum sollte man überhaupt etwas lesen? Schon die öfentliche Inszenierung der schlauen Leser geht einem doch nur auf die Nerven. Die meisten geben mit den paar Sätzen, die sie gelesen haben, nur an und meinen, sie könnten einen damit beeindrucken. Welcher Germanist hat schon die Wahlverwandtschaft gelesen, geschweige sich dieser wirklich genialen Konstruktion angenähert. Bei meinem Abgott Kittler konnte man dahin geführt werden.“ Sie hielt etwas inne und trank noch ein Schluck. „Ich habe in den letzten Tagen etwas von Deinen alten Texten gelesen. Ist nicht schlecht, aber ich fragte mich, wird daraus ein Schriftsteller oder ist das nur ein talentierter Nachdenker und Experimentierer, dessen Nachdenken und experimentieren bestenfalls eine schwache Spur hinterlässt. Du erwartest vielleicht, dass ich jetzt zu dir sage, deine Entscheidung das Schreiben aufzugeben sei eine falsche gewesen, wünschst dir, dass du verstanden wirst, aber was würde dir das wirklich helfen? Nicht viel. Eigentlich gar nichts. Es würde dich nur im falschen bestätigen. Als ich hörte, dass du dich mit deiner letzten Beziehung nur noch den Tagestimmungen hingibst, dachte ich mir, das war eine gute Entscheidung. Er wird darunter leiden, aber das geht vorbei.“ Sie machte wieder eine Pause. In solchen Situationen wurde ich ganz leer im Kopf. Man hört da Dinge, die man auch weiß, aber nicht richtig versteht. Bei ihrer Rede, anders konnte man das nicht nennen, kam ihr Blut in Wallung. Das wurde noch durch die eher abgekippten Wein verstärkt. Ich mochte es auch nicht hören, da ich die Entscheidung, jeden schriftstellerischen Ehrgeiz aufzugeben, für mich bereit annahm. Irgendwie sollte ich doch jetzt etwas sagen, während sie Atem holte, um fortzufahren. Aber was? Ich ließ die ganze 58 Zeit ihre Figur und ihren Ausdruck auf mich wirken und hatte gar nicht richtig zugehört. Das Knoblauch hatte sich mittlerweile gefüllt. Die Atmosphäre wurde unruhig. Einige ankommende Gäste grüßten die Brünette, sie verhielt sich aber sehr distanziert ihnen gegenüber. Lächelte nur etwas zurück und wandte sich gleich wieder mir zu. Um meine Unsicherheit zu verbergen, steckte ich mir eine Zigarette an. „Mir fehlt der poetische Fluss, die literarische Mitte, die sich erweitert. Mir schwebte ein zufälliges Schreiben vor, das in alle Richtungen und Zeiten geht. Nichts fügt sich zu einem Thema zusammen. Nur das Lesen und der Leser stellen den Zusammenhang des Textes her. Er konstruiert den roten Faden oder er lässt ihn abbrechen. So wird der Augenblick unendlich vertieft. Wir sollten das im Blick auf mich nicht weiter vertiefen. Es sei denn mit Ironie: kein tierischer Ernst, das macht depressiv und hässlich“, brachte ich über die Lippen. Dabei versuchte ich möglichst gelassen zu wirken. Es war nicht so, dass mich das Thema quälte, aber es war nicht furchtbar. Unabhängig davon, was man für gescheite Überlegungen dazu anstellen kann, ing das Gespräch an leer zu laufen. Da aber noch ein Nachtisch bestellt und Wein nachgeschenkt wurde, glitt das Geschehen doch leicht durch die Stunden. Es waren auch eher die Blicke und das Ausdrucksverhalten der Körpersprache, die den Fortgang trugen. Sie reckte sich wieder. „Gleiche doch die Rechnung aus und hole noch zwei Flaschen Wein, ich mag heute etwas Suf, wir gehen zu dir in deine arme Poetenmansarde. Das erinnert mich an meine Freiburger Zeit. Ich habe die eleganten Wohnungen manchmal über. Man mag zwar nicht auf sie verzichten, aber so ganz wohl fühlt man sich auch nicht in Ihnen. Zu Änderungen fehlt einem der Mut und ist dann doch nicht dazu bereit.“ Sie öfnete ihre Tasche, gab mir ihr Portemonnaie. Ich kaufte zwei Flaschen Wein, lirtete noch etwas mit der Bedienung und wir brachen auf und marschierten Richtung Feuerbachstraße. „Wir wohnen nicht weit auseinander. Ist zwar kein Katzensprung, aber nicht mehr als 20 Minuten. Ich bin gleich am Grüneburg Park eingezogen. Ist noch ein ganz leidlicher Teil dieses maroden Westends. Eigentlich hat es mir in Sachsenhausen, in der Nähe des Schweizer Platz, besser gefallen. Du hast uns ja doch gelegentlich abgeholt. Aber ich bin schnell im Funk, und der Grüneburg Park ist doch ganz schön. Freue mich schon auf die Sommerabende auf einen kleinen Rundgang nach dem Dienst“, fuhr sie auf dem Weg fort. Nun dachte ich doch noch einen auf ihre Darlegungen und Ausführungen darauf zu setzen: 59 „Der Schriftsteller schreibt, wirft das Geschriebene in den Papierkorb, schreibt wieder, schneidet es aus und hängt es an die Wand. Dann fängt er an zu singen „Nacht ergreife mich. Dunkel komm heran“. Ein Schriftsteller sollte eine ironische Existenz sein. Nachts durch die Stadt zu gehen, bringt das Erleben in andere Bereiche. Es regt die Fantasie und die Beobachtung an. Man ist aufmerksamer, vorsichtiger und leichtsinniger. Du siehst, das Schreiben kommt zu keinem Ende, aber es hört auf. Ist nur ein halbes Blatt, dem der Zusammenhang fehlt. Irgendwo sitzt einer, und schreibt vor sich hin. Dabei ist er ganz bei sich. Es gibt keine Grenze zwischen Erleben und Tun und doch indet das Ereignis des Schreibens außer ihm statt. Es ist ein Ereignis in der Welt. Der Schriftsteller ist in diese Art des Alleinseins verliebt. Wie heißt es bei John Keats meinem alten Liebling in seinem Brief an Richard Woodhood vom Dienstag, den 17 Oktober 1818, ich hatte ihn einmal auswendig gelernt und Tage lang vor mir her gesagt: “… A Poet is the most unpoetical of any thing in existence; because he has no Identity—he is continually in for—and illing some other Body—The Sun, the Moon, the Sea and Men and Woman who are creatures of impulse are poetical and have about them an unchangeable attribute—the poet has none; no identity—he is certainly the most unpoetical of all God’s Creature. If then he has no self, and if I am a Poet, where is the Wonder that I should say I would write no more? …” Sie lachte: „Wenn das so ist, dann kann es mit der Schriftstellerei nichts werden. Schriftsteller sind ganz anders. Der arme Keats ist mit 25 Jahren 1820 in Rom an Schwindsucht gestorben. Bei den intellektuellen Briten wird er noch verehrt, aber er war ein unglücklicher Dichter, kein Schriftsteller. Das sind die falschen Vorbilder. Man sucht sich die Abwege, das Unwahrscheinliche als Vorbild, das kann nicht gut gehen.“ So trotteten wir, ich die zwei Weinlaschen in der Hand, zur Feuerbachstraße und standen vor dem alten Haus. Es war zwar noch nicht spät, etwa 22 Uhr, aber es war ganz ruhig. Der Vorteil des Hauses war, dass die Mieter oft nicht dort wohnten, sondern unterwegs waren. Selten sah ich einen der Mieter. Meist huschte er durch das Treppenhaus und war nicht weiter ansprechbar. Ein angenehmer Zustand, der auch den Vorteil hatte, dass ich Musik am Abend laut spielen konnte und niemanden dadurch störte. Der Altbau, vermutlich aus der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, hatte in seiner Lage in der Mitte der Stadt etwas Einsames, vielleicht sogar etwas Verwunschenes. Wir betraten das Mansardenzimmer. Die Brünette verhielt sich so, als ob sie dort zu Hause wäre. Sie streckte sich etwas. „Für einen armen Poeten ist aber alles viel zu ordentlich aufgeräumt. Es liegt 60 nichts herum, auch keine Bücher. Auf dem Schreibtisch liegt auch weiter nichts. Alles in Schränken. Gläser gibt es aber?“, sagte sie und legte ihren Mantel auf den Schreibtisch. Die Weinlasche war schnell geöfnet. Wir hoben kurz das Glas und kippten ab. So standen wir ein paar Minuten im Zimmer und tranken. Es wurde nachgegossen. Plötzlich trat eine beunruhigende Stille ein. Es war so, als wäre man im Null-Zustand des magischen Augenblicks. „Was ist das denn für eine riesige Schallplattensammlung!“, sagte sie plötzlich. Sie ging auf die Platten zu und stöberte etwas in ihnen. „Da sind ganz alte Jazzaufnahmen dabei. Bruno Walters Einspielung der Gustav Mahler Symphonien, unsere Frau Christa Ludwig ist auch vertreten. Die 9. Mahler Symphonie von Klemperer eingespielt, ist mir da etwas entgangen? Leonard Cohen ist auch dabei. Wirklich gut durchmischt. Leg’ etwas Sentimentales auf.“ Die Schallplattensammlung war ein Überbleibsel aus den 1960er Jahren. Ich legte kaum mehr eine Platte auf. Die Sammlung einschließlich des Schallplattengeräts diente der Dekoration des Zimmers. Manchmal nahm ich die eine oder andere Platte in die Hand und ließ sie mir durch die Einbildungskraft vorspielen. Sie wendete sich von der Plattensammlung ab, lächelte etwas. „Schenk noch etwas ein. Zieh mich aus,“ hörte ich sie sagen. Es war mit ihr eine wirklich gute Nummer. Sie hatte nicht den Masochismus und den sexuellen Wahnsinn der Nymphomanin, auch nicht diesen ließender Sex des Rotstichs im Haar. Er war hart und weich. Nicht feurig, aber glühend. Sie konnte nicht genug bekommen und zerloss dabei, ohne sich ganz zu vergessen. Als sie kam, schossen ihr die Tränen in die Augen. Die Zeit stand still. Es war nur Gegenwart. Es war Februar 1976, es wurde früh, die Stadt ing an, sich zu regen. Die Brünette reckte sich. Sie schien sich wohl zu fühlen. „Schieße jetzt los. Komme morgen, nein heute, nach dem Dienst bei dir vorbei. Schlafe jetzt in der neuen Wohnung noch eine Runde. Brauche erst gegen Mittag im Funk zu sein.“ Ich war noch ganz benommen und hörte nur von der Ferne, wie die Tür in´s Schloss iel. Es gilt leider, wenn etwas erinnert werden soll, so muss es meistens vergessen werden. Keine Gegenwart, kein Jetzt hat Dauer. Es ist nicht sinnvoll 61 auszusprechen: „Jetzt, jetzt, jetzt, jetzt ...“ ist sinnlos. Erst die Unterbrechung gibt der Äußerung eine nachvollziehbare Anordnung. Das ist fast Paradox, wenn die Gegenwart„da“ ist, so verschwindet sie sofort wieder. Es wird wieder vergessen. Die Einheit der Zeit besteht nur in der Unterscheidung. An ihrem Fluss soll aber kein Zweifel sein!? Das Zeitbewusstsein ist ein Flussbewusstsein!? Am Rande notiert: Lehre vom „Nur-Bewusstsein“: Alles in der Welt Angehörige ist existent in unserem Augenblick der Gegenwart. Die Augenblickswelt zerfällt im nächsten Augenblick, nur um abermals existent zu werden. Die jetzt sichtbare Welt ist in jedem nächsten Augenblick eine andere. Die Welt als Ganzes ist somit Ālaya-Bewusstsein. Yokio Mishima Der Tempel in der Morgendämmerung Bd. 3, Das Meer der Fruchtbarkeit. Tetralogie Die Angst der Welt, das ist die Zeit. Die Zeitenangst, das sind die Pyramiden Ägyptisches Sprichwort 16. März 2008 62 VerwIrrung In den letzten Wochen wird die Niedergeschlagenheit größer. Ich mag gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Zwar zwinge ich mich dazu, es ist aber eine große Überwindung. Ich mag auch nichts lesen, Musik hören oder etwas Alkoholisches trinken. Es ödet mich an und erreicht mich kaum noch. Auch in der Gesellschaft von anderen zu sein, strengt mich an. Mir fällt nicht ein, was ich sagen soll. Das wird noch dadurch verstärkt, da ich an den Wünschen, Hofnungen, Glücken und Nöten meiner Umwelt desinteressiert bin. Damit beinde ich mich in einer Situation, die Heuchelei nahelegt, befördert und sogar erzwingt. Aber all das führt mich nicht zu mir selbst, sondern löst eine innere Unruhe aus. Man beindet sich in einem undurchsichtigen und merkwürdigen Zustand von Niedergeschlagenheit, Unruhe und ziellosem Umherschweifen. Wenn man sich in bestimmten Zuständen beindet, so geht auch die Selbstachtung verloren. Im März 2008 ist der belgische Schriftsteller Hugo Claus mit 78 Jahren gestorben. Er hat Sterbehilfe in Anspruch genommen, da sich bei ihm Alzheimer einstellte. Er ist ein sympathischer Autor, da er sich nicht selbst erklären mochte. Ich werde nicht den Mut zu einer solchen Entscheidung habe. Mir widerstrebt die Selbsttötung, auch das durch andere getötet werden, auch dann, wenn das vernünftig, konsequent und würdig sein mag. Es bleibt bei diesen Entscheidungen auch etwas nicht nachvollziehbares, da sie Endgültiges herbeiführen. Ein Mystiker des 20. Jahrhunderts schrieb einmal: Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos. Ludwig Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus, 6.4311 Das sind schwer interpretierbare und dunkle Sätze, die ich nicht in meine Sprache zu übersetzen vermag. Ich nehme sie so hin und lasse sie auf mich wirken. Mir kommt der Gedanke, dass unser Bewusstsein sein eigenes Ende nicht denken kann. Wir können jemanden sterben sehen und reden davon, dass jemand tot ist, wir erwarten und umschreiben ihn. Das sind Wörter und Redeweisen von denen, wir nicht wissen, was sie bedeuten. Das Bewusstsein kann nicht aus sich heraustreten und sich von außen beobachten. Als Kind dominierte mich das Erlebnis des eigenen Todes. Ich konnte ihn mir nicht 63 vorstellen, da ich ihn mir sein Erlebnis nicht vorstellen konnte. „Woher weiß ich, dass ich Tod bin?“ Das war das Rätsel, das nicht zu beantworten war. Der Tod, das ist die kühle Nacht. Heinrich Heine Wenn in sexuellen und erotischen Angelegenheiten unerwartetes eintritt, löst das eher etwas Unfassbares im Erleben aus. Es sind weniger Irritationen, die dadurch eintreten, sondern man beindet sich plötzlich in einem Zustand, der etwas sperrig und nicht leicht handhabbar ist. Das gesamte Körpergefühl ist davon betrofen, ohne dass einem zugänglich ist, worauf das hinausläuft. Nachdem die Brünette ihren Absprung gefunden hatte, verbrachte ich einen unruhigen Schlaf ohne Träume. Am nächsten Tag fand ich erst am frühen Nachmittag etwas zu mir. Nach einer Kanne Ostfriesentee kam ich wieder zu mir. Seine Wirkung bringt einen in die Welt, ohne aufzuregen. Das unterscheidet ihn von dem aufputschenden Kafeegenuss, nachdem ich auch etwas süchtig war. Ich merkte dabei meine starken Suchtstrukturen, die es auszubremsen galt. Bewegung ist dazu ganz hilfreich. Über eine große Zeitstrecke war es ein fester Bestandteil meines Tagesablaufs 15 Minuten nach dem Frühstück Lyrik zu lesen. Dabei war ich so versunken, das ich nicht den Fluss der Zeit, den Plusschlag spürte. Das hat den Vorteil, dass man in eine Distanz zu dem auf einen zukommenden Tag tritt. Man baut einen Wall ihm gegenüber auf und lässt etwas gelassener das Tagesgeschehen auf sich zukommen. Zu Georg Trakl fühlte ich mich hingezogen, obwohl er ein deprimierender Autor ist, dem man sich mit Vorsicht nähern sollte. Wenn er einen gefangen hat, lässt er nicht mehr so schnell los. Man kann sich ihm nicht richtig neutral gegenüber einstellen. Das ist nicht förderlich für die eigene Gemütsverfassung. Es ist keine Stimmungs- und Empindungslyrik, zu dem man in einer oberlächlichen Lesart neigen könnte. Sie ist durch seine Metaphorik gebrochen. Seine Farbsymbolik „Rotes Laubwerk Blauer Fluss, blauer Glanz Braune Kastanien weiß und kalt Brauner Weiher 64 Schwarz dunkle Düfte des Grüns Gold der Tage“ kommunizieren eine Stimmung der Verlorenheit. Wenn man so möchte, eine höheren Verlorenheit der „Schwermut“ und des „purpurnen Lachens“. Was ist das für ein Lachen, das purpurn ist? Die Farbe „Grün“, „Gelb“, „Violett“, „Orange“ kommt bei ihm nicht vor. Ich hatte damals ein Trakl Gesamtausgabe, die leider bei Umzügen verloren gegangen ist. Sie hatte ich mit Anmerkungen, Interpretationen und Kommentaren versehen, das für mich ganz ungewöhnlich war. Die Gedanken wurden bei der Lektüre schnell lüchtig. Mich bewegte der Umstand, dass mir das, was ich sagen, ausdrücken wollte nicht gelang. Es war so, als ob eine Barriere zwischen beidem, der Niederschrift und der Absicht bestand. Zunächst dachte ich, das Misslingen sei eine Sache der fehlenden Formulierungskunst. Dann kam es mir so vor, als sei eine unbewusste Sperre vorhanden, ein Verbot, bestimmte Beindlichkeiten und Erlebnisse niederzuschreiben. Die Jahre davor behalf ich mir durch Erlebnisaufzeichnungen oder beschrieb irgendetwas das ich sah und hörte. Erschwert wurde alles, dass mich das Erlebnis selbst gar nicht so interessierte, sondern sein Ausdruck, sein Klang, seine Melodie. Etwas rätselhaft ausgedrückt, es fehlte die unbewusste Tätigkeit des Schreibens, die gegenüber allen Sperren und Zensuren zum Ausdruck kommt. Ich hing noch Gedanken nach und dachte nicht mehr daran, dass sich Brünette nach ihrem Dienstschluss angekündigt hatte. Als ich mir das bewusst machte, war ich doch etwas irritiert. Es konnte aber von ihr auch nur dahingesagt sein, ohne eine ernste Absicht. Man würde sich dann unter Umständen gelegentlich auch wieder einmal über den Weg laufen, sich anlächeln und das Geschehen auf sich beruhen lassen. Das wäre mir das Liebste gewesen, da ich mich in meiner Situation, ohne eine feste Beziehung, eigentlich ganz wohl fühlte. Es gab daran vorerst nichts zu ändern, sondern es war sich in die Zukunft hineinzufühlen, ohne allzu feste Absichten zu verfolgen. Aber, wie es so schön heißt, 65 „Unerhoft kommt oft“. Es klingelt und die Brünette stand wieder vor mir. Sie hatte zwei Flaschen Rotwein und ein paar Kleinigkeiten zum essen mitgebracht. „Jetzt wirst du echt überrascht sein. Vermutlich hast du mit mir nicht gerechnet. Aber irgendwie gefällt mir Deine arme Poetenmansarde. Es mag ein neurotische Sentimentalität sein, aber warum sollte man ihr nicht auch einmal nachgeben“, war ihre Begrüßung. Legte ihren Mantel und Jacke ab, und vor mir stand sie mit einem engen Rock mit einer Seidenbluse, durch die ihr dunkler Büstenhalter sichtbar war. Sie hatte eine kräftige Brust, die leicht abstand. Das wurde durch den Büstenhalter noch hervorgehoben. „Lass Deinen Gast nicht so lange auf dem trocknen sitzen. Ich bin gerade dabei mich aus dem Tag auszuklinken. Also nichts vom Funk. Er ist für heute vergangen“, sagte sie und machte es sich auf der Couch bequem. Sie öfnete die beiden oberen Blusenknöpfe, streckte sich und lies sich einschenken. Ich setzte mich auf dem kleinen Sessel ihr gegenüber und prostete ihr zu. „Leg etwas Musik auf, aber nichts Stürmisches. Wir machen uns einen durchgemischten Musikabend. Was hältst du von Mahler und Leonard Cohen. Das klingt abenteuerlich, aber wir sind im Zusammenstellen keine Dogmatiker. Du machst noch einen angeschlagenen Eindruck. Ein Glas wird dich aufmuntern.“ Für einen Freund brachte ich aus Agadir Haschisch mit. Ich selbst rauchte es nur dort, da es für mich die Ausnahmesituation „Agadir“ im Erleben zuspitze. Ich bot ihr einen Joint an, ohne dass es mir bewusst war. In der Verbindung mit Wein und Essen war das zwar nicht ideal, aber eine Zumutung war es auch nicht. Sie hätte auch ablehnen können, so sicher war ich mir in der Sache nicht. Das wäre zwar kein Drama gewesen, aber kommunikationsstörend. „Habe das immer wieder einmal geraucht, aber bin auf den Wein konditioniert. Man braucht aber nicht alles abzulehnen. Drehe uns halt einen schönen Joint, das entspannt etwas“, war ihre Antwort. Es war guter Stof, von dem man nicht viel brauchte, damit eine Wirkung eintrat. Man könnte sie dadurch dosieren. Sie übermächtige nicht, so dass man dabei nicht ganz auf sich zurückgeworfen war. Wir zogen den Joint langsam durch. Seine Wirkung stellt sich schnell ein. Sie möchte einen zweiten Joint, legte sich zurück, inhalierte ihn intensiv und atmete entspannt aus. Haschisch verändert die Raum-, Gegenstands- und 66 Zeitwahrnehmung. Die Tiefendimension der Gegenstandswahrnehmung tritt zurück. Die Gegenstände verlieren etwas ihre Kontur. Die Zeitwahrnehmung verlangsamt sich. Die Selbstwahrnehmung von körperlichen Bewegungen fängt an, sich auszudehnen. Das Erleben ist weniger von den Dingen und Ereignissen entfernt. Es ist so, als würde es sie berühren. Etwas was unmöglich ist. Es ist vergleichbar dem Sehen, der Sehnerv (-reiz) erreicht den Gegenstand nicht, deshalb können wir sehen, fühlen, hören und tasten. Wie ich so etwa einen Meter an dem kleinen Rauchtisch ihr gegenüber saß, verschwamm ihre Wahrnehmung. Sie löste sich in ihren Konturen etwas auf und war zugleich plakativ. Ihr Atmen lies mich die Bewegungen ihres Körpers in diesem Zustand plastischer und zugleich verschwindender sehen. So als würde ich sie fühlen. Ihre dunklen Haare ingen an aus der Gestalt herauszutreten. Dabei stellte sich eine Dissonanz zwischen der Intensität des farblichen Eindrucks und dem durch ihre Atmung bewegten Körper ein. Nachdem wir den zweiten Joint geraucht hatten, zündete sie sich gleich eine Zigarette an und inhalierte sie tief. Sie lehnte sich etwas weiter zurück und streckte ihren Unterleib etwas vor. Nachdem Sie die Zigarette fertig geraucht hatte, nahm sie die Arme hoch, streckte sich, so dass sich ihre Brüste nach vorne traten. Aus Verlegenheit nahm ich auch meine Arme hoch und verschränkte sie hinter dem Kopf. Es war so, als würde gar keine Zeit vergehen. Die Mahlerplatte war abgespielt, und es iel mir schwer mich in diesem Zustand zu bewegen, aufzustehen und eine andere Platte aufzulegen. So saßen wir uns jeder durch den veränderten Körperzustand erfasst gegenüber, ohne dass wir uns direkt anschauten. Ich versuchte ihr in die Augen zu sehen. Erst glitt der Blick ab, aber dann sah sie zurück. Ihr Blick kam mir entgegen. Es war nicht greifbar, was sich da ereignete. Sie blickte mich immer an, legte sich etwas zurück und ing an ihre Bluse zu öfnen. Sie öfnete sich den Büstenhalter, ohne ihn auszuziehen und ing mit ihrer Hand an, an ihren Brüsten zu spielen. Erst mit einer Hand, dann mit beiden. Wir sahen uns immer noch an. Ihre Brustwarze wurde steif. Sie nah zwei Finger in den Mund, machte sie etwas nass und berührte damit ihre eine Brustwarze. Unsere Blicke lossen ineinander. Dann ergrif sie meine Hand und zog mich etwas zu sich heran. Sie nahm sie und führte sie unter ihren Rock zwischen ihre Beine. Ich spürte einen leichten Slip. Sie führte ihre Hand tiefer. So nahm die Geschichte ihren Gang. Unvorbereitet, unabsichtlich, gar nicht dazu vorbereitet und bereit, ing eine andere Beziehung an. Eine, mit der ich nicht gerechnet hatte. Sie nahm gleich Konsequenzen an. Die Brünette behielt das Heft in der Hand. Wir sahen uns die folgenden Wochen jeden Abend. Entweder bei mir oder in ihrer neuen Wohnung. Ihre Dominanz war nicht unangenehm. Nach dem Dienst kaufte sie ein, so dass ich davon entlastet war. Es wäre für mich kein Problem gewesen, aber Bequemlichkeiten stellen 67 sich oft ungewollt ein, und man wehrt sich nicht dagegen. Überhaupt, sie organisierte das meiste. Sie führte Regie, ohne dass das aufdringlich gewesen wäre. Sie gab auch nach. So bewegte ich mich wieder auf sozialen Schienen, die mich auch in die Plicht nahmen. Das in solchen Fällen unausweichlich. Es war nicht belastend, da es mich nicht vereinnahmte. Irgendwie schwebte ich durch diese Festlegungen. Es gab dem Tag einen erwartbaren Ablauf, der aber auch genug Spielraum lies. Was mich etwas störte, waren die Anrufe der Brünetten. Das schien sie irgendwie zu brauchen. Einfach so ein kurzer Durchruf, mit unwichtigen Informationen, wie „Ich kaufe dann noch Wein ein“ oder „Bestelle doch in der Bibliothek das Buch ...“, dienten weniger der Information als der Herstellung der Anwesenheit von Abwesendem. Das geht schnell in Kontrolle über und man steht fortwährend zur Verfügung. Diese Zugrife störten mich, da sie mich in meinen Tagesfantasien störten, aber es gab im Fluss der Beziehung auch keinen weiteren Anlass zur Dramatisierung. Wir hatten Spaß und ließen uns gehen. Wir erlebten es auch nicht als störend, dass man nicht bei mir oder ihr übernachtete. Wenn sie in die arme Poetenmansarde kam, brach sie so gegen 23 Uhr auf, war ich bei ihr, so wurde es nicht viel später. Man hatte dann den Schlaf für sich und war mit dem anderen nicht beim Aufwachen und am Anfang des nächsten Tages konfrontiert. Der eingespielte Trott, mit welchen Absonderlichkeiten auch immer, brauchte mit dem anderen nicht abgestimmt zu werden. Das ist, wenn man darauf eingestellt ist, ein großer Vorteil, der sich eher stabilisierend als gefährdend auf die Gestaltung der Beziehung auswirkt. Die Tage und Wochen verlossen. Es stellte sich ein, dass ich meistens abends bei der Brünetten war. Gegen 23 Uhr brach ich dann auf. Sie setzte sich dann noch an den Schreibtisch und wirkte an ihren Sendungen. Dazu trank sie Wein, obwohl am Abend regelmäßig getrunken wurde. Man kann es nicht anders ausdrücken, sie hatte das Heft in der Hand. Sie telefonierte, verabredete sich mit Kollegen, Autoren und hörte sich Sendungen im Funkt an. Sie hatte den Ehrgeiz zum Fernsehen überzuwechseln. Mich deckte sie mit genug Lektoratsarbeiten ein. Man konnte fast sagen, dass ich ihre Hilfskraft war. Sie ließ mich Literatur besorgen, Musikunterlegungen aussuchen und Texte verbessern. Ihre Kommentare über ihre Autoren waren oft nicht sehr freundlich. Man konnte da hören „Das ist ein Professor und begreift nicht, dass er für den Funk, also für das Hören, zu schreiben hat. Was er uns abgibt, ist ein durchschnittliche Semi- 68 nararbeit. Das werde ich gleich einmal etwas in Schwung bringen.“ Insgesamt mischte sie sich weitgehend bei den Textredaktionen ein. Daraus folgte aber nicht, dass sie unbeliebt war. Seit ihrer Beförderung hatte sie sich ein Netzwerk aufgebaut, in dem sie sich sicher bewegte. Samstags wurden Kollegen und Freunde eingeladen. Man klatsche über Kollegen und sprach über Bücher, Theater, Filme, Musik. Manchmal etwas hol, aber im Großen und Ganzen unterhaltend. Der Boss des Hessischen Rundfunks kam gelegentlich auch zwei Stunden vorbei. Ich konnte es zwar nicht so ganz verstehen, aber er hat sich bei der Brünetten oft rückversichert. Das hatte vermutlich mit ihrer Karriere zu tun. Die Abende waren eigentlich recht angenehm, da man auf easy going eingestellt war, sich über einen Kollegen einmal klatschen konnte, man hörte gelegentlich auch Musik, sprach über die Neuigkeiten und der Weinkonsum löste die Zunge. Die Brünette war in ihrem Element, brachte ihre Projekte an den Mann, was wollte man mehr. Dennoch fühlte ich mich in dieser Runde nicht so richtig wohl. Es ist nicht einfach zu erklären. Irgendetwas störte mich an dieser Geselligkeit. Es war dieses geplegte Insidertum, das man vorgeführt bekam, von dem das Unbehagen ausging. Mit der Art des Bescheidwissens, des Sichauskennens und die damit einhergehende elitäre Haltung, die sich gern antielitär gab, konnte ich nicht so richtig warm werden. Ich selbst habe nichts gegen Eliten und Autoritäten. Vermutlich bedarf ich ihrer auch, halte mich aber nicht für autoritätsgläubig. Es fehlte eine gewisse Ironie. Es setzte sich bei allem Witz eine Betrofenheitshaltung durch, die sich selbst etwas zu ernst nahm. Die Rolle, die ich in diesem Kreis einnahm, war die des Gefälligen. Einer der die Weinlaschen öfnete, Wein einschenkte und auf das Wohl der Gäste achtete. In der Rolle des für Dienste zuständigen, bekommt man schnell den Kellnerblick. Man indet das in allen Dienstleistungsberufen. Man wird sensibilisiert für die Schwächen der Kundschaft und bekommt einen Blick für die Unebenheiten. Eine Krawatte ist nicht gut gebunden, das Hemd passt nicht zum Anzug. Daraus werden auch die für Bedienstete typisch falschen Schlüsse gezogen. Es gilt da der bekannte Satz „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu tun hat“, wie Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1806) anmerkte.1 Es ist 1 Hegel, (BB.) Der Geist, C. c. Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung, S. 467-468, 445-472, in: ders., Phänomenologie des Geistes. Nach dem Texte der Originalausgabe. Herausgegeben von Johannes Hofmeister, Der Philosophischen Bibliothek Band 114, Hamburg: Verlag von Felix Meiner 1952 (sechste Aulage). 69 ein abenteuerliches philosophisches Werk. Wie es sich damit auch verhalten mag, die Rolle und ihre Perspektive hat gewisse Vorteile, wenn man sich ihrer Einseitigkeit bewusst ist. Ansonsten waren schlaue Bemerkungen zu äußern, die aber nicht allzu schlau ausfallen durften, da das leicht als Überheblichkeit interpretiert wurde. „Musils Der Mann ohne Eigenschaft ist gerade, wenn auch unabsichtlich, als Fragment Ausdruck einer Epoche. Wie hätte es abgeschlossen werden können? Jeder schließt den Text für sich ab. Er versetzt dadurch den Leser in die Situation seine Einbildungskraft auf Reisen zu schicken. Noch einen kleinen Schluck von dem italienischen Weißwein. Er ist doch lecker! Das beste Dessert ist ein guter Schluck“, überforderte nicht, wenn man etwas nachschenkte, die höheren Ränge des Hessischen Rundfunk. Von Machs Lehre der Empindungen durfte man aber nicht sprechen, da das schon zu anstrengend war und nicht ihn den Rahmen passte. „Ohne Machs Empindungslehre ist die Psychologie und das Zeitbild Musils nicht nachvollziehbar. Die Literaturkritiker sind damit schlicht überfordert. Die Empindung ist für Mach etwas, das grundlegend ist und nicht mehr weiter auf etwas anderes zurückzuführen ist. Das ist das Zentrum des Romans, das ist der Mann ohne Eigenschaften. Leg noch eine Schallplatte auf, damit wir aus dem Abend herauskommen. Wir icken lieber jetzt etwas und werden eigenschaftslos, statt uns in bedrucktes Papier zu verlieren“, so die Brünette nachdem wir die Gäste verabschiedet hatten. Die Brünette hatte zu ihren Kollegen bei aller Verbundenheit eine ironische Distanz. Ihr Kommentar war: „Die Kollegen, gestandene Redakteure, haben oft die Fantasie, dass sie nach der Pensionierung anfangen zu schreiben. Sie liebäugeln damit. Jetzt sind sie eingespannt, aber es sammelt sich in Ihnen an. Einfach einfältig. Man glaubt es nicht, dass diese Gescheiten solchen Träumen nachhängen und das ganz ernst nehmen. Vor allem die abhängigen Vergleiche, die da gezogen werden. So als seien sie eine Reinkarnation von Fontane. Das wird nichts. Der Gescheite träumt, dass er viel zu gescheit ist, unsere Redakteure träumen ihren Schriftstellertraum, da sie so gescheit sind. Ja! Sie sind gescheiter als die Schriftsteller, da sie alles vor sich haben. Es wird dann aus ihnen herausströmen und die Schriftsteller werden sie beneiden, dass sie so lange gewartet haben. Etwas was die gescheiten Schriftsteller gar nicht kennen. Blödsinn, was unsere Gescheiten da fantasieren. Sie kennen, was einen wundert, nicht die Härte des Selbstseins des Schriftstellers. Jeder sollte froh sein, wenn er keiner ist.“ Auf dem Weg von der Brünetten in die Feuerbachstraße stand dann ein Abstecher im Liebig Keller an. Dort jagte ich noch einem One Night Stand 70 nach. Das war damals verbreitet und nichts ungewöhnliches. Zwar hatte ich an den Abenden vorher bereits mit der Brünetten Sex, aber eine Abwechslung konnte das gute Einvernehmen nur stabilisieren. Der One Night Stand ist die sexuelle und erotische Ausnahmesituation, die eine besondere Qualität hat. Man sieht sich nicht mehr wieder, wenn ja, so kennt man sich nicht. Man kann sich dadurch von einer Seite geben, die sonst verschlossen bleibt. Man tritt in einen Bereich ein, in dem man keine Hemmung zu haben braucht, ist nicht emotional gefordert, sondern lebt den Seitensprung aus. Den Frauen schien dieser Eskapismus gut zu tun. Die meisten waren vermutlich ganz anders als in ihrem Alltag. Vielleicht ist das der geheime Zwang der Situation, wenn One Night Stand, dann sollte es sich auch lohnen. Fehlschläge schließt das zwar nicht aus, aber es gibt die Chance in diesen außerordentlichen Zustand einzutreten. Mir taten diese „Stands“ ganz gut, da sich die Anziehungskraft der Sexualität, die auf mich von derselben Person ausging, schnell erschöpfte. Nach zwei Monaten trat bereits eine Desinteresse an diesen Vorgängen mit ihr ein. Ich brauchte dann etwas Wein, um mich zu motivieren. Das hatte aber nur eine begrenzte Reichweite. Insofern musste man mich für diese Auslüge nicht aufwendig überzeugen. Dabei galt als Orientierung „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“ Das Weinlokal lag direkt neben dem Knoblauch. Es war ein Szene-Lokal, das von den Besuchern durchaus breit durchmischt war. Angestellte, Akademiker, Studenten, gelegentlich Geschäftsleute, aber auch die Anwohner liefen dort ein. An der kleinen Theke sammelten sich die notorischen Thekensteher. Ein Gruppe, die feste Zugangsregeln hatte. Neulinge hatten es schwer, dort Aufnahme zu inden. Die erste Runde war von 18 – 20 Uhr. Da kamen die Sekretärinnen. Sie waren zurecht gemacht und leicht parfümiert. Dieser Abschnitt des Abendgeschehens hatte seine eigene Dynamik, da die Entscheidungen schnell zu trefen waren. Das hatte einen trivialen Grund. Sie standen früh auf und gingen früh zu Bett. Insofern hatte der Sex mit ihnen bis 22 Uhr gelaufen zu sein. Ab 20 Uhr stellten sich die Paare ein und es begann der Austausch mit dem Knoblauch. Man sah sich um, was sonst noch auf dem Rialto schifte. Die Atomsphäre verdichtete sich. Es wurden Blicke getauscht, Kontakte angebahnt, aber man legte sich nicht weiter fest, sondern lies die Situation auf sich zukommen. Ab 22 Uhr stellten sich die Anwohner und die Spätausgeher ein. Das ging dann so bis gegen 1 Uhr. Jetzt galt es zügiger vorzugehen. Das traf in der Regel auf Interesse. Die Zeit verdichtete sich. Man hatte auf die Situation eingestellt zu sein. Etwas, das dem Insider nicht so schwer iel, da er damit vertraut war. Es wurden Signale gesendet, die zu verstehen waren. Wenn man entschieden war, dann ging alles eigentlich recht 71 zügig. Man begab sich auf ein Abenteuer. Sie, die Frau, mit einem fremden Mann; der Mann, mit einer fremden Frau. Man war etwas unsicher, aber es ergab sich alle ganz von selbst. Man trat in eine Ekstase. Am anderen Tag war alles vorbei. Es war ein neuer Tag, der keine Verbindung mehr zu dem letzten hatte. Jeder One Night Stand war etwas Absolutes. Man wollte nicht mehr. Es war beides, trivial und poetisch, gewöhnlich und ekstatisch. (Entrückt) Frauen Augen blicken voller Sehnsucht Zärtlich kommt ihr Blick Traumgestalten treten jetzt heran In den Augen steht ein Lichterglanz Der Dichter senkt den Blick Ergreife ihn, den Augenblick. Dann war alles vorbei. Stille trat ein. Der nächste Tag begann. Es war so, als würde die Zeit ließen, aber es war da kein Fluss, sondern nur ein verschwindendes Innehalten. Wir erreichen nicht nur nicht das andere Bewusstsein, es ist uns undurchsichtig, sondern wir erreichen auch nicht unser eigenes Bewusstsein: Wir sind uns selbst undurchsichtig. Das Gedächtnis ist auf Vergessen eingestellt. Es würde sich sonst überlasten und zusammenbrechen. Es könnte sein, dass wir deshalb dem Trugbild der Sexualität erliegen. Sie spiegelt uns vor, wir könnten den Anderen über unseren Körper (Leib) erreichen. 17. April 2008 72 JetztzeIt Der Juni 1976 zeichnet sich ein richtiger Sommer ab. Schon im Mai war es mächtig sonnig. Damals vertrug ich noch heiße Sommer: Hitze, durch die Knochen warm werden. Das hat sich so geändert, dass ich im Sommer den Norden vorziehe. Der letzte Hochsommertraum von Juni – September 1984 am Gardasee strapazierte mich so, dass ich dem Aufenthalt in der Hitze des Sommers abschwor. Der Gardasee ist so in die Ferne gerückt, dass die Vergegenwärtigung an diese Zeit des Ausnahmezustands des Erlebens schwer erinnerbar bleibt. Die vergangene Gegenwart und die zukünftige Gegenwart des Jahres 1984, rückblickend aus dem Jahre 2008 auf das Jahr 1976 und die abgelaufene Zeit bis zu dem Jahre 1984 mit dem Wissen aus dem Jahr 2008, wird mir immer rätselhafter. Wie kann ich mein Erleben aus dem Jahr 1976 erreichen, was ereignet sich, wenn ich mein Erleben aus diesem Jahr nachzuerleben versuche? Es fehlen uns die Wörter, das zu beschreiben und auszudrücken. Wir gebrauchen Wörter wie „strömen“, das Erleben ließt durch die Zeit“, „fühlen“, ich fühle es, wie die Zeit vergeht, auch „empinden“, „Empindest du nicht, wie schnell du das vergessen hast?“ oder auch „spüren“ und „verlaufen“, dann hört der Einfallsreichtum schon auf. Man könnte neue Wörter zu erinden versuchen. Was wäre einem damit geholfen. Ich schreibe ein „x“ auf das Papier. Wenn ich „x“ sage, tritt ein bestimmtes Erlebnis ein. Wie könnte ich das überprüfen? Ich müsste jedes einzelne Erlebnis herauspicken und dem „x“ zuordnen. Das kann nur ein mystischer Vorgang sein. Er ist nicht greifbar. Ich kann ihn mir selbst nicht vor Augen führen. Er ist nicht zu beobachten und mir fehlen die Begrife, das geschriebene oder gesprochene „x“ den Erlebnissen zuzuordnen, wie zum Beispiel x1, 2, ...n+1. Selbst wenn die Erlebnisse endlich wären, würde es nahe dem zehnten schon schwerfallen, sich das nächste Erlebnis zu merken. Gibt es denn irgendeine Gewissheit, die sicherstellt, dass ich die Erlebnisse nicht verwechsele? Das alles führt ins Uferlose. Auch das Nachdenken darüber lässt einen hillos zurück. Sofern wir die Zeit messen, hinterlässt sie keine Wirkung. Insofern liegt es für einen Physiker nahe, dass sie nicht springt und gleichmäßig verläuft. Es gibt deshalb keine zeitlichen Unterschiede im wiederholbaren Ablauf der Zeit als ein physikalischer Vorgang. Die gemessene Geschwindigkeit eines zeitlichen Ablaufes, bei der Berücksichtigung des jeweiligen Messinstruments, zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt ist identisch. Drei Stunden bleiben somit drei Stunden, gleichgültig, ob sie im Jahre 1 vor Christi oder 2008 gemessen wurden. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass das nur eine Annahme 73 ist, die jeder, der Zeiten misst, als wahr voraussetzt. Die Zeit kann aber auch „quälen“. Man wird ungeduldig und verlässt das Zimmer. Man möchte in die Zeit „zurückkehren“, das Vergangene „ungeschehen machen“ und bleibt dabei nur in der Gegenwart. Meine junge Frau begab sich im Frühsommer 1965 in die Gustav Mahler Welt. Die Internationale Mahler Gesellschaft wurde 1955 gegründet. Zu ihr nahm sie Kontakt auf. „Mahler ist neu zu entdecken. Er war kein Formalist. Die ersten vier Symphonien sind ein Ganzheit. Sie tragen biograische Züge ohne Biograien zu sein. Im Zentrum stehen für ihn das musikalische Erlebnis und der musikalische Ausdruck der als Musik Philosophie, Literatur und Malerei ist. Das hat seine Zeitgenossen irritiert. Mahler ist in seiner Eigentümlichkeit und in seinem Zeitausdruck für uns neu zu entdecken. Die ersten vier Symphonien lese ich als Biograie, Mensch, Kosmos und poetisch-philosophische Vision. Wenn man es etwas antiquiert ausdrückt, so hatte er ein „Programm“, aber er betrieb keine Programmmusik. Der tonsymbolische Zug ist in der sechsten Symphonie erkennbar. Es ist aus dem Zeithintergrund zu erklären, dass Mahler für die vier nur instrumentalen Symphonien weiter keine Kommentare mehr abgab. Zur vierten Symphonie hat Mahler einen Kommentar geschrieben: „Sinfonie Nr. 4 (Humoreske) Nr. 1. Die Welt als ewige Jetztzeit. G-Dur, Nr. 2. Das irdische Leben, Es-Moll. Nr. 3. Caritas H-Dur (Adagio). Nr. 4. Morgenglocken, F-Dur. Nr. 5. Die Welt ohne Schwere, D-Dur (Scherzo). Nr. 6. Das himmlische Leben, G-Dur.“ Die Endfassung wurde nicht so verwirklicht, aber die Aufzeichnung gibt einen aufschlussreichen Hinweis. Vermutlich hat Wittgenstein in seinem Tractatus diesen Zeitbegrif übernommen: Zeit als Ewigkeit. „Die Welt als ewige Jetztzeit“ und „Das himmlische Leben“, da gibt es keinen Zeitunterschied. Es würde mich wundern, wenn Wittgenstein die Symphonien Mahlers unbekannt waren. Das Problem ist, was man unter dem Symbolischen versteht. Da liegt der Schlüssel. Komm wir hören etwas Mahler und geben uns dem musikalischen Erleben hin. Es verbindet uns mit der Welt.“ Als sich die Erinnerung einstellte, war ich so wie gelähmt. Im Juni 1976 kündigte sich schon die Hitze an. Den Mittagscafé hatte ich vom Café Laumer in des Café Schwille auf der Fressgasse verlegt. Auf der Fressgasse wurde zwar die U-Bahn gebaut und ein draußen sitzen entiel, aber man saß in dem großen Fenster des Cafés, konnte auf die Passanten blicken und gesehen werden. Es war eine illustre Runde. Alfred Edel, ein paar Jungschriftsteller, Musiker, aber man war gleichzeitig umgeben von Rentnern, Hausfreuen und Angestellten. Zwischen 13 und 14 Uhr lief man so ein. Das zog 74 sich dann so bis 15.30 Uhr hin. Es gibt Orte, an denen war man immer wieder, ohne dass es einem etwas Besonderes sagt. Es ist einem gleichgültig, es mag eine bestimmte Funktion ausüben, man trift irgendjemand und hat eine Ansprechperson oder wird angesprochen. Man begibt sich an sie oder bleibt ihnen fern, so als würde man sich die Zähne putzen oder einen Kafee kochen. Auf dem Weg zur Brünetten nach den Trefen im Café Schwille holte ich erst den Wein bei ihrem Weinhändler im Westend ab. Sie bevorzugte die besten Sorten des italienischen Weiß- und Rotweins. Es waren wirklich Köstlichkeiten. Die Nachmittage in der Innenstadt lösten melancholische Stimmungen aus, die aber nicht unangenehm waren. Der Tag neigt sich so langsam in den Abend hinein. Man fühlt, dass sich die Unruhe der Feierabendstimmung ankündigt. Der Weinhändler ließ mich etwas seines neuen Sortiments probieren, erzählte ein paar Schweinereien und war ein Prototyp der Ergebenheit eines Einzelhändlers. Eine Spezies, die bereits damals am Absterben war. In der Wohnung der Brünetten angekommen, entkorkte ich die Weinlaschen, damit der Stof aulebt. Es wurde fortlaufend, man kann sagen, den ganzen Tag getrunken, gegessen und es gab dauernd Sex. Eine Wein-, Ess- und Sexzeit. Die Brünette trank den ganzen Tag durchgängig Wein, aß und war sexbedürftig. „Ficken ist gut, da sollte man nicht sparen, aber die passenden Lover wachsen nicht an den Bäumen, das ist das Problem“, sagte sie. Das erinnerte mich an die Nymphomanin, obwohl sie nicht diesen aggressiven Sex forderte. In ihrer Sexbedürftigkeit war ihr Sex eher warmblütig. Sie konnte Essen und Sex haben, dabei arbeitete sie, wie soll ich sagen, wie ein Tier. Sie wollte unbedingt ins Fernsehen. Die Nymphomanin war eine Lebedame, mit der Rainesse sich sozial abzusichern. Sie verstand es, die Fassade aufrechtzuerhalten und ihre Umwelt zu manipulieren. Die Schauspielerin war eher eine Opportunistin, die Fortune brauchte, um Erfolg zu haben. Sie setzte ganz auf die Umstände. Die Brünette war eine Ehrgeizfrau. Ein Ehrgeiz, der sich mir auch im Nachhinein nicht erschließt. Über das, was sie direkt betraf, sprach sie, wenn überhaupt, erst nach Tagen. Sie stand oft im Zimmer und war versunken. Dachte über etwas nach, sah aus dem Fenster, als sei sie der Welt enthoben. Man durfte sie dann nicht ansprechen. Sie knüpfte Netze ohne eine Spinne zu sein. Sie war wie ein Netz ohne Spinne. Gelegentlich kam abends der Boss des Hessischen Rundfunks vorbei. Die Beziehung war mir etwas undurchsichtig. Sie hielten sich dann in ihrem Arbeitszimmer auf und besprachen Rundfunkalltag. Der Boss des Hessischen Rundfunks verstand es zwar, zu repräsentieren, er war aber von bestimmten Mitarbeiter abhängig. Er suchte ihre Unterstützung, ließ sich von Ihnen beraten. Die Brünette hatte vermutlich dabei eine Schlüsselposition. Ich bin dem nie 75 nachgegangen. Es hat mich schlicht nicht interessiert. Was hatte ich mir ihren Intrigen zu tun? Gar nichts. Es war mir auch gleichgültig. Um ihn zu ärgern, verzog ich mich in die große Küche und ing an Gerichte zuzubereiten, die er nicht mochte, schmorte zum Beispiel einen Stallhasen und hörte dazu Musik, zu der er kein Zugang hatte, wie Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“. Der Geruch von gebratenem Stallhasen und dazu die Meistersänger, das brachte einen doch in Stimmung. Kam der Boss des Hessischen Rundfunks dann aus dem Arbeitszimmer der Brünetten und verabschiedete sich, so sagte er, etwas süßlich: „Hier riecht es aber köstlich, ein leckerer Stallhase, nicht vergessen, ihn noch mit etwas Weiswein zu übergießen und dazu Hans Sachs „Verachtet mir die Meister nicht Und ehrt mir ihre Kunst“, da hebt man einfach ab“. Das war geheuchelt, aber sympathisch. „Bleiben sie doch noch zum Essen, ich lege dazu Wagners „Rienzi, der Letzte der Tribunen“ auf, und wir lassen den Abend zusammen ausklingen?“, war mein Ansinnen. „Das wäre schön, aber morgen stehen Sitzungen an, da brauch ich noch etwas Vorbereitung. Wir sehen uns die nächsten Tage alle zusammen bei unserem nächsten Umtrunk“, sagte er und entschwebte. Die Brünette lachte etwas chinesisch, brachte ihn an die Tür und wir gaben uns den Genüssen des Abends hin, aber nicht mit Wagnermusik, sondern mit Brahms. Sie hatte zudem eine Platte aufgetrieben, die etwas Einmaliges war. Etwas, was ich noch nicht hörte: Tango auf Japanisch. Die Aufnahme habe ich in der Zeit danach nicht mehr inden können. Gelegentlich klingt sie etwas in mir nach. Ein Kontrast – japanische Gesang und Tangomusik – der fremdartig-aufregend ist. Es war, als würde ich durch den Sommer getragen. Es war ein sich-selbstvergessendes Selbstsein. Es wurde nur in der Gegenwart gelebt. Jeder Tag eine Gegenwart, die nicht endet. Ein Tag, der in die nächste Gegenwart hineiniel. Da die Tage nicht zu unterscheiden waren, erlebte ich den Sommer so wie einem einzigen Tag. Eines Abends kam die Brünette etwas unruhig vom Dienst. Ich habe sie selten unruhig erlebt. Sie stand noch im Flur, und rief „Wo steckst du?!“. Erst hörte ich es nicht, da ich auf dem Balkon eingeschlafen war. Plötzlich stand sie vor mir. Sie wirkte etwas erregt, ing sich aber gleich. „Döse ruhig weiter, ich hole uns einen Wein. Bin etwas in Weinstimmung.“ Das hörte sich für mich auch sehr fern an. Aber ich streckte mich etwas und hatte umgehend ein Glas Wein vor mir. 76 „Also, einen kippen!“, hörte ich es. Ich schmeckte nur etwas am Weinglas und stand auf, um in der Küche einen Türkischen Kafee zu überbrühen. Er brachte einen schnell in eine wachere Wahrnehmung. Die Brünette ging in ihr Arbeitszimmer, sortierte irgendetwas, kam wieder zurück und wir setzten uns auf den Balkon. Sie mit Wein, ich mit Espresso, Wein und etwas Kuchen. Sie streckte sich und sagte mit größeren Abständen und fast etwas zusammenhanglos „Ein schöner Sommerabend, wir lassen es uns gut gehen. Ich bin jetzt geschieden“. Dabei verzog sie etwas die Lippen. Ich hörte nur „geschieden“ und wusste nicht, was ich sagen sollte. Jede Antwort wäre falsch auslegbar gewesen: „Also, jetzt ist es abgeschlossen. Bis du erleichtert oder etwas traurig“ oder „Werfe die Geschichte hinter dich, lass uns anstoßen“ oder „Es wird dich etwas unglücklich machen, wir leben auch aus der Erinnerung“. Aber sich gar nicht verhalten hätte auch zur Verstimmung geführt. Da tat guter Rat not! Die ganze Sache wird dadurch erschwert, da man sich ganz auf die eigenen Intuitionen zu verlassen hat. Es gibt in diesen Situationen keinen großen zeitlichen Spielraum sich etwas zurecht zulegen. „Lass uns doch etwas nach Italien fahren, damit du Distanz gewinnst“, kam mir über die Lippen. Danach trank ich gleich einen größeren Schluck Wein, damit die Zeit des Gesprächs etwas gestreckt wurde. Im nächsten Augenblick war ich innerlich ganz unsicher in der Erwartung, wie das angekommen sei. Aus Unsicherheit trank ich noch einen Schluck Wein. Mein ganzer Ausdruck wirkte aber vermutlich nicht unsicher, was auch unglücklich gewesen wäre, sondern ausgewogen. „Das ist es doch, gute Aussicht. Vielleicht fahren wir gleich morgen am Freitag, zurzeit ist etwas Ruhe und ein Blick von außen rückt manches zurecht.“ Sie streckte sich etwas und fuhr nach einer Pause fort: „Er ickte mich immer dreimal von vorne und dreimal von hinten, dann war er noch nicht fertig. Eine anomale, etwas erschreckende Potenz. Er ickte mich zur Frau. Das ging so ein paar Jahre. Ich lernte ihn kennen als ich nach 77 Frankfurt kam, und wir heirateten gleich. Das gab uns einen sozialen Status, der auch für den Beruf gut war. Er stabilisierte uns beide auch. Als wir zu dem kleinen Kreis stießen war die Beziehung bereits am erliegen. Es gab keine inneren Fluchtpunkte mehr. Wir hatten Erfolg, aber es trat bei mir ein Fremdheit ein. Es gab eigentlich keine äußeren Anlässe. Wir waren etabliert, aber doch waren wir am Ende angekommen. Auch sein anomaler Sex entfremdete mich selbst und gleichzeitig von ihm. Am Anfang fand ich das toll, aber auf einmal ödete es mich an. Ich weiß gar nicht wie ich das ausdrücken soll. Es war hohl. Es sagte mir nichts mehr. Es verwirrte mich nur noch. Letztes Jahr sagte ich ihm von heute auf morgen, dass ich mich von ihm trenne, ausziehe und die Scheidung einreiche. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Aber es gab für mich kein Weg mehr zurück. Die Entscheidung war für mich gefallen, so als sei ich durch etwas gelangt setzte sie sich durch. Nach dem ich ihm das eröfnete, zog ich am nächsten Tag zur Schauspielerin und dann suchte ich die Wohnung. Der Rest ist dir bekannt. Ich kann auch jetzt weiter dazu gar nichts sagen. Ein Wochenende in Italien ist eine gute Idee. Wir nehmen den Nachtzug. Auch wenn wir nur noch einen Notsitz bekommen. Mach noch eine Flasche auf.“ Diese Ofenbarung, wenn es eine war, interessierte mich eigentlich nicht sonderlich. Was sollte ich schon dazu sagen. Insofern war die Situation noch nicht ganz gerettet. Erst einmal entkorkte ich einen italienischen Weißwein und legte etwas Jazz von Dave Brubeck auf. Das schien ihr zu gefallen. Sie wirkte ganz entspannt. Wir saßen auf dem Balkon, tranken etwas, aßen dazu Kuchen und sagten gar nichts. „John Coltrane möchte ich auch wieder einmal hören“, sagte sie. Es war so, als sei gar nichts gesagt worden. Aber ich war noch nicht aus dem Schneider, wie sich schnell herausstellte. Sie schenkte sich noch etwas Wein ein und sah etwas in die Ferne. Sie konnte einen in die Ferne Blick haben. „Die Schöne (= die Nymphomanin) war doch etwas verstimmt über deinen Rückzug, dass du dich so vom Acker gemacht hast. Hattest du etwas mit ihr? Mir kam das so vor. Man merkt das oft an Kleinigkeiten, wie Blicken, überhaupt dem Körperverhalten, das sie dir entgegenbrachte. Auch ihre aufällige bewusste Distanz dir gegenüber hätte darauf hinweisen können. Keine ofensichtlichen Belege, aber mir teilte sich eine unterschwellige Beziehung zwischen dir und ihr mit, in der man sich zwar auch täuschen kann, aber es stimmt zu oft, als dass man sie einfach für unbedeutend erklärt. Euren ästhetischen Konlikt habe ich nicht so ernst genommen, obwohl er von ihr dramatisiert wurde. Da sie mit ihrer Halbbildung alle dominierte und vereinnahmte, mag das für den kleinen Kreis verständlich gewesen sein. Das hat dann, veraltet gesagt, die Komplexion aller direkt und indirekt 78 betrofenen befördert. Was sagte sie noch „Ästhetik der kleinen Häppchen“, da fehlt die epische Breite, so wie bei dem Südstaatler William Faulkner. Es mag ganz dahingestellt sein, was sie von Faulkner verstanden hat. Vermutlich kannte sie nur kurze Zusammenfassungen. Ich hatte auch meinen Mann in Verdacht, dass er mit ihr eine Beziehung hatte, zumal es mit uns im Auslaufen begrifen war. Zugetraut hätte ich es ihm. Die Schauspielerin war auch nicht so gut auf dich zu sprechen. Meine alte Busenfreundin wirkte ganz verstimmt „Er hat sich von heute auf morgen fort gemacht, wer weiß schon, was ihn herumtreibt. Ohne Grund hat er mich sitzen gelassen. Gerade hatte ich München in Aussicht, und er machte sich ab. Wer kapiert das schon. München wäre doch nicht schlecht gewesen. Was soll man schon in Frankfurt.“ Als ich mit ihr letzte Woche telefonierte und ich ihr sagte, dass wir uns öfters trefen meinte sie, „Für den Übergang ist das nicht schlecht, aber Übergang bleibt eben Übergang“. Mir ist auch nicht ganz klar, was du an ihr gefunden hast. Sie ist eine Meisterin der hohlen Gesten, die aber Zuspruch inden. Nur der letzte Charmeur der Geschäftswelt hat dir etwas die Stange gehalten. „Er hat Talent, aber zu wenig Ehrgeiz. Ich hatte Ihn gerne um mich“. Die Schöne hat das dann etwas abfällig kommentiert: „Man könnte fast meinen hier ist Homosexualität im Spiel“. Du kennst sie ja, unsere Schöne?“ Es war so, als wollte sie noch weiter sprechen, zündete sich aber eine Zigarette an. Da hatte sie mich wirklich in die Ecke gedrängt. Ob sie das beabsichtige oder nicht war dabei unerheblich. Was man auf diese Fragen wirklich wissen möchte, ist auch nicht so ganz eindeutig zu beantworten. Vielleicht wollte die Brünette einfach nur in nachträglichen Abneigungen bestätigt werden. Sie brachte ihre Rede nicht aggressiv, aber etwas desinteressiert vor. Das konnte einen leicht zu unglücklichen Antworten verleiten. Wie sollte ich da herauskommen. Richtigstellungen und Darstellungen aus der eigenen Sichtweise hätten mich nur in die angedeuteten Geschichten verstrickt. Das sind so schöne Situationen, in denen das, es besser Wissen, gar Nichts hilft. Die Wahrheit, wenn es in diesen Dingen überhaupt eine „Wahrheit“ gibt, würde alle nur ins Unglück stürzen. Vornehme Zurückhaltung, die man mittlerweile wieder verlernt hat, dürfte der Ausweg sein. Aber wer verfügt schon über sie. So stand ich in der Ecke, eingekreist und auch ein Vorstürmen wäre nicht klug 79 gewesen, da, auch wenn damit erfolgreich, die Verletzungsgefahren zu groß gewesen wären. Sie wartete auf eine Antwort. Bevor sie weiter nachfragte, war eine Antwort zu geben. Was einem in solchen Situationen über die Lippen kommt, ist ganz den Intuitionen zu überlassen, die passen oder nicht. „Nein, die Schöne hat mich sexuell nicht interessiert (was gelogen war). Sie hatte eine ästhetische Intuition, die zwar nicht hilfreich war, aber auch nicht schadete. Mir tat die Gesellschaft des kleinen Kreis einfach gut und brachte mich in andere Stimmungen. Es fehlte doch auch nicht an Heiterkeit, die wir zusammen untereinander verbreiten konnten. Im Nachhinein tat es mir etwas Leid, die Schauspielerin einfach zu verlassen (was nicht der Wahrheit entsprach). Irgendwie war es an der Zeit, etwas zu mir zu kommen. Ich fühle mich unruhig und getrieben. Das wurde durch die Beziehung, obwohl sie weder unruhig, noch getrieben war, gesteigert. Es gab eigentlich auch gar keinen besonderen Anlass, mich von ihr zu trennen. Wie du sagst, „Es treten Selbstentfremdungen ein“, die man in ihrem Zwang nicht erkennt und im Nachhinein ist man über sich selbst verwundert. Du siehst heute Abend toll aus. Das helle Sommerkleid steht dir.“ Ich wollte noch weitere Schmeicheleien, die der Wahrheit entsprachen, sagen, aber sie unterbrach mich: „Ich rufe gleich unseren Boss an, Freunde von ihm haben ein Anwesen am Gardasee gekauft. Das steht jetzt leer. Dahin könnten wir einen Wochenendtrip unternehmen. Mit den Zug geht es von Frankfurt – Mailand, Mailand – Brescia. Das ist ein Katzensprung, dann nehmen wir uns ein Taxi. Amour am Gardasee, wir besuchen das Anwesen deines alten Dichterlieblings Gabriele d’Annunzio, fahren in der Zeit zurück, was hältst du davon. In eine andere Perspektive gehen, durch Kontraste ändert sich das Erleben. Er war ein Meister die moderne Gefühlswelt in den Farben der Renaissance zu beschreiben. In welchen Farben können wir die Gefühlswelt der 1970er Jahre beschreiben. Aus was für eine historische Zeit könnten wir da zurückgreifen. Mir fällt einfach nichts ein. Man kann nur sagen d’Annunzio hatte es vielleicht leichter oder? Was meinst du?“. In den letzten Tagen konnte ich mich nicht dem Gefühl entziehen, dass sich die Brünette in mich verliebt hatte. Etwas, das mir gar nicht so recht war. Es kündigte sich zwar nicht am Anfang der Beziehung in der kalten Jahreszeit an, aber ihr Verhalten veränderte sich in den Monaten danach. Das machte sich auch dadurch bemerkbar, dass sie mir so manches nachsah. Es gibt die zwei Betrachtungen „Das Glas ist halb voll oder es ist halb leer“. Für sie war es „halb voll“, und es konnte nachgegossen werden. Zwar deckte sie mich mit Arbeit ein und war äußerst großzügig, aber das schien Ausdruck ihrer Zuneigung zu sein. „Großzügig“ kann man auch aus Indiferenz sein. Zudem wurde ich zu einer Art Fluchtpunkt zur Regenerierung bei der Verfolgung ihrer ehrgeizigen 80 Pläne. Für sie hatte es immer weiter zu gehen. Mir waren solche Gefühle unheimlich gewesen. In Situationen, wo ich sie verspürte, waren sie mir fremd oder anders ausgedrückt zugleich entzogen. Ich konnte mich in ihnen nicht wiedererkennen. Vermutlich gehören sie auch nur teilweise unserem bewussten Leben an und sind neurophysiologische Heimsuchungen. Sie mögen uns belügeln, niederschlagen oder zum verzweifeln bringen. Wenn es Zustände gibt, in denen man unfrei ist, dann gehört das Verliebtsein sicher mit dazu. Die Brünette äußerte sich zwar nicht darüber, dass sie verliebt war, aber sie konnte es nichtsprachlich mitteilen. Das machte es gerade nicht leichter damit umzugehen. Da ich mir aber darüber nicht allzu viel Gedanken machte, nahm ich den Ball auf und spielte ihn derart zurück, dass ich mich öfter in ihrer Wohnung aufhielt. Dabei achtete ich darauf, die Grenzen nicht zu sehr zu verwischen. Das führte dazu, dass ich dort nicht übernachtete. Der Sommer brachte zudem schöne Abende im Liebig Keller, so dass einfach alles so dahinloss. Es war alles wieder vorbei. Die Gardaseetour gehörte bereits der Geschichte an. Die Brünette war ganz außer sich. Jetzt saß sie mir im Nachtzug Mailand – Frankfurt gegenüber. Es schien ihr richtig gut zu gehen. Der Gardasee ist eigentlich nicht mein Fall. Die Landschaft ist mir zu postkartenhaft und gigantisch. Mir liegt da die Toskana mental näher. Aber man kann sich am Gardasee schon einmal aufhalten. Es lief, wie gesagt. Freitag mit dem Nachtzug nach Mailand, dann weiter zum Gardasee. Am Samstag Mittag saßen wir dort bereits im Café. Die Brünette lachte und sagte: „Was heißt schon Bildungsnotstand, die nächsten Tage hören wir nur italienische Schlager!“. Dienstag wieder in Mailand und mit dem Nachtzug zurück. Vormittags hatte die Brünette eine Sitzung im Rundfunk. „Jetzt“ hörten wir die eintönigen Zuggeräusche und die Bilder der Gardaseetage wirkten nach. Zu dem Besuch des Anwesens von d’Annunzio kamen wir gar nicht. Wir saßen im Café, gingen etwas herum, abends im Restaurant „etwas Suf“, wie die Brünette sagte, dann ins Bett. An italienischer Schlagermusik fehlte es auch nicht. Es war eine wirklich-unwirkliche Tour, mit einer ganz eigenen poetischen Qualität. Man bewegte sich, so wie in einem Bild, einem Film, aber nicht so wie in einem Theaterstück. Der Vergleich mit einem „Theaterstück“ wäre zu naturalistisch, da man ins Theater geht, etwas sieht, sich Gedanken macht. Die Bilder und Filme liegen an uns vorbei. Wir fühlten uns sogar in einem Film. Das Bild und der Film als ein Medium der Anschauung lässt uns unmittelbar an dem Geschehen teilnehmen. Es verführt uns durch seine Darstellung zu einer Wahrnehmung der direkten Teilnahme. So, als könne man von dem eigenen Alltag in den Alltag des Gesehenen übergehen. Wir nehmen dabei an 81 etwas auf derselben Ebene der Alltagswahrnehmung wahr, an das wir durch die Wahrnehmung nicht direkt teilnehmen können. Wir sehen das ganze Bild, verfolgen die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende. Wir sehen ein Flugzeug von allen Seiten, in der normalen Wahrnehmung haben wir nur einen perspektivischen Zugang. Die Brünette war also guter Dinge. Leicht gebräunt saß sie vor mir. Wir eilten wieder Frankfurt entgegen. Es war greifbar, dass uns die dortigen Angelegenheiten und Nicht-Angelegenheiten am nächsten Tag wieder in den Arm nehmen werden. Auch das gehört zu den Selbstverständlichkeiten, in denen wir uns bewegen. Die Tage waren für mich zwar nicht unangenehm, aber die Daueranwesenheit des anderen Leibes und seines Ausdrucks am Tag und in der Nacht belastete mich etwas. Es wirkte sich zwar nicht dramatisch aus, da man den ganzen Tag unterwegs war und die Daueranwesenheit wurde durch die Eindrücke der Landschaft überspielt, es stellte sich bei mir aber keine Symbiose ein. Insofern war das ilmhafte gerade das Passende. Die Wahrnehmungsübergänge im Medium des Films von Seiten des Betrachters sind nicht tatsächlich, sondern ein Bilderlebnis. Es ist dies die Illusion des Bildes. Das gilt auch dann, wenn man sich von dem Medium unterscheiden kann. Das würde so nicht weiter gehen. Das war absehbar. Im ungünstigsten Fall täuschte sich die Brünette darüber. Wir fuhren in die Nacht, dem nächsten Tag entgegen. Die Brünette hatte sich noch nicht für die Nacht entkleidet und umgezogen. Sie trug eine rote, etwas durchsichtige Bluse mit einem schwarzen Büstenhalter und einen grauen Rock. „Mir wird warm. Gib mir etwas zu trinken. Ich möchte mich etwas entspannen. Komm zieh mir die Schuhe aus und massiere mir etwas die Füße. Das viele Herumlaufen in Mailand, dazu die falschen Schuhe, war etwas anstrengend.“ Sie machte es sich im Schlafwagen bequem und bekam die Füße massiert. Das tat ihr gut. „Deine Massage ist wirklich genau das Richtige. Mir fällt auf, dass du der einzige Raucher bist, den ich kenne der keine feste Zigarettenmarke raucht. Du rauchst alle Marken. Mit der Zigarettenmarke verbindet man doch intuitiv einen bestimmten Geschmack eines Rauchers und darüber hinaus der Person. Sie ist so etwas wie ein Merkmal, das man mit jemanden verbindet. Bei dir ist das gar nicht so?“, fragte sie mich plötzlich. Ich hatte uns gerade zwei Zigaretten angezündet und reichte ihr eine. Dabei sah sie mich etwas abwesend an. So, als sei das eine unwichtige Frage, die man auch übergehen könnte. Das mag so gewesen 82 sein, aber es kam mir doch als eine gefährliche Frage vor, von deren Antwort man mehr Aufschluss über diesen Raucher ohne feste Zigarettenmarke zu bekommen beabsichtigte. Dem war auszuweichen, ohne eine Antwort zu umgehen. Sie schien gar keine Antwort zu erwarten und lehnte sich, mit der Zigarette etwas in der Hand spielend zurück. Sie nahm sie dann in die Mitte des Mundes, zog an ihr, inhalierte den Rauch und drehte etwas den Kopf zur Seite. „Das ist die Nikotinsucht, wenn man einmal davon abhängig ist, dann kommt es für einen Raucher nicht auf die Zigarettenmarke an. Es ist die Art der Nervosität, die einen überfällt, wenn man nicht raucht. Ich mache mir darüber weiter keine Gedanken. Ich massiere dir noch etwas deine Füße. Morgen ist der Tag vollgepackt“, war meine Antwort. Ob sie überzeugend war oder nicht, sie fragte weiter nicht nach und wir eilten der Nacht entgegen. „Reise an den Rand der Nacht“, um es mit Salin auszudrücken, wenn auch mit einer etwas anderen Absicht. Müdigkeit überkam uns. Wir waren vor der Abfahrt in Mailand noch in der „Mama Italia“, einem Künstlerlokal in Mailand in der Nähe des Mailänder Bahnhofs, sie hatte dorthin Kontakte und telefonierte durch ganz Mailand, um noch einen Redakteur kurz zu trefen. Das klappte sogar. Ich ließ sie allein. Es war eine willkommene Gelegenheit, mich noch etwas durch Mailand treiben zu lassen. Holte sie dann ab. Es gab noch etwas Small-Talk, dann ging es zum Bahnhof. Der Mailänder Bahnhof ist in seinem futuristischen Stil beeindruckend. Ich kannte Mailand, insofern nahm ich die Bahnhofsszene als eine Fotograie wahr. Man entspannte sich im Schlafwagen des Nachtzugs, aß und trank etwas gegen die Müdigkeit. „Wenn ich etwas müde und leicht angetrunken bin, mache ich gerne Sex“, sagte sie. Am Mittwoch 6.30 Uhr war man wieder am Frankfurter Bahnhof. Die Brünette nahm ein Taxi zum Funk „Wir sehen uns heute Abend, erledige noch, was ich dir aufgeschrieben habe“, und schon war sie verschwunden. Ich hörte nur noch das Anfahren des Taxis. Es ist wieder früh am Morgen geworden. Es war so, als sei keine Zeit vergangen. Ich lege jetzt noch Mahler’s Vertonung von Rückerts „Ich bin der Welt abhandengekommen“ auf, trinke einen Frühwein und esse noch etwas Schokolade. Ein Stück, das man auf eine einsame Insel mitnehmen sollte. Es ist schön traurig. Der Sommer kündigt sich bereits im Mai 2008 an. Es wird bereits warm. Das erlaubt es, am Morgen in die Stadt zu fahren und umherzugehen. Es beruhigt 83 und man erlebt sich in dem Betrieb der Stadt, dem Tagesleben der Stadt, das man nicht sieht, allein. Um 9.30 Uhr öfnen die Kaufhäuser. Sie sind dann noch nicht besucht. Man geht durch sie hindurch, so wie durch ein Wohnzimmer. Bereits gegen Mittag verändert sich in der Stadt die Stimmung. 19. Mai 2008 84 Verlorener augenblIck Zwischen 2 – 3 Uhr gab es eine Sendung, die Christa Ludwig moderierte. Sie ist vermutlich mittlerweile um die 80 Jahre alt. Ihre Stimme war noch eindrucksvoll und einnehmend. Selbstredend sang sie nicht, sondern ließ in die Kommentare der von ihr für die Sendung ausgewählten Stücke biograische Erinnerungen einließen. Sie gehört zu den großen Konservativen in der Opernszene nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe sie gerne gehört. Auf YouTube wird es Videos von ihr geben. Ich sehe gleich einmal nach. Immer wieder war ich durch Musik dominiert. In bestimmten Abschnitten meines auf der Erde Umherwanderns, konnte ich ohne Musik gar nicht sein. Sie war aber auch ein Kommunikationsmedium, das mir den Umgang mit dem Widerfahrenen etwas erleichtert. Ein imaginäres und zugleich leibliches Erlebnis. Vor allem Franz Schubert und Robert Schumann beschäftigten mich. Schumann sah in Schubert einen geistig Verwandten. Schumanns Intermezzi sind eine geniale Sammlung von sehr schnell abfolgenden Stücken. Sie blieben leider nicht angemessen beachtet. Es gibt auch bei ihnen – im 2. Intermezzo – eine Querverbindung zu Schubert. Schubert war einer der Ersten, der Stücke komponierte, bei dem das Klavier die Singstimme begleitet. Es ist für den Hörer nicht leicht, Zugang zu den Intermezzi zu inden. Sie erschließen sich nicht vom Hören, sondern von der Partitur. Man spürt bei ihnen die Selbstsicherheit, die den jungen Schumanns trug. Er war der Überzeugung, dass der Musiker der sich im Einklang mit der Welt beindet, der Vergangenheit angehört. In seiner Musik kommt etwas Unverständliches zur Sprache. Die beiden Komponisten sind für mich mittlerweile ganz in die Ferne gerückt. Es geht ein Gestimmtsein für etwas verloren, das nicht mehr zurückkommt. In der deutschen Sprache können wir zwischen „Leib“ und „Körper“ unterscheiden. Wir haben einen Körper als ein Teil der Welt, aber die Beziehung, die wir durch unseren Körper zur Welt haben, verläuft über unseren Körper als Leib, der keine Beziehung zu einer bloß physischen Entität ist. Die Unterscheidung wurde erste in der Philosophie des 20. Jahrhunderts thematisiert. Wir drücken unsere Gestimmtheit in leiblichen Ausdrücken und Bewegungen aus, die wir nicht total steuern können. Die Augen der Anderen nehmen nicht nur diesen unseren Leib wahr, sondern erfassen ihn auch in seiner besonderen Position. Sitzend, gehend, lächelnd werden wir in einer besonderen Haltung wahrgenommen. Sie ist der Ausdruck des Eigenpsychischen. Am Tag nach dem Auslug mit der Brünetten an den Gardasee traf ich erst 85 einmal am Nachmittag im Café Schwille Alfred Edel. Er überiel mich geradezu mit seinen narzisstischen Zuständen. „Komm heute Abend in’s „Knoblauch“. Ich bin mit zwei Schönheiten dort. Die werden dir gefallen, und ich werde etwas in der Konversation entlastet“. Das war mir gerade recht, da ich eigentlich nicht den ganzen Abend mit der Brünetten verbringen mochte. Man kommt nach Auslügen, die einen aus dem Trott des Alltags herausbringen, schnell wieder in die sozialen Schienen zurück. So besorgte ich wieder, nach dem Café Schwille den Wein und machte es mir bei der Brünetten auf dem Balkon etwas bequem. Der Gardasee log noch einmal an mir vorbei. Der Auslug war bereits unwirklich geworden. Ehe ich noch etwas zu mir kam, stand die Brünette wieder vor mir. „Im September wandern wir an der Chinque Terre. Das sind fünf Ortschaften südlich von Genua. Die kennst du sicher noch nicht. Endstation ist La Spezia. Dann noch einen Schritt zu der Küste, südlich von La Spezia, an der sich Byron aufhielt. Das wäre doch etwas. Wir beide stoßen auf Lord Byron und den armen Shelley, der dort 1822 ertrunken ist, an?“. Sie wirkte ganz angetan von diesem Unternehmen. Darauf war ich gar nicht gefasst. Mir war die Art des sich auf mich Zubewegens etwas unheimlich. Es hatte etwas Einvernehmendes, vor dem ich zurückschreckte. Irgendwie fühlte ich mich davon bedroht, und es trat eine innere Leere ein. Es hätte aber den Abend gestört, hätte ich mich von ihrer Zuwendung abgegrenzt. So lossen die nächsten Stunden dahin. Es fügte sich ganz glücklich, dass die Brünette noch etwas vorzubereiten hatte, so konnte ich gegen 22 Uhr den Weg in Knoblauch einschlagen. Sie gab mir noch ein paar Erledigungen für den nächsten Tag auf und wirkte insgesamt entspannt und ausgeglichen. So wie das bei Frauen ist, denen der Umgang mit dem männlichen Geschlecht nicht fehlt. Im Knoblauch waren wie jeden Abend gegen 22 Uhr die guten Plätze bereits vergeben. Alfred Edel saß in Gesellschaft von zwei Schönheiten an meinem Stammplatz. Es waren außerordentlich gut aussehende Frauen. Wohlgeformte Figuren und elegant gekleidet. Es war, so wie im Bilderbuch: Eine Schwarzhaarige und eine Blonde. Alfred in der Mitte wirkte durch seinen körperlichen Ausdruck massiv. Er hatte etwas Fülle, da er gerne aß. Er sprach lebendig auf die Schönheiten ein. Sie wirkten dabei etwas unsicher. Er winkte mich an den Tisch und stellte mich mit der Rede vor „Das ist unser jugendlicher Held. Etwas zu schöngeistig für einen wirklichen „Helden“. Setz dich doch. Wie war das doch mit den Opern von Händel, 86 bevor er zu den Oratorien umgestellt hat. War er nicht pleite? Du solltest meinen beiden Damen etwas bieten. Lass uns doch runter in den Weinkeller gehen. Da ist etwas mehr Luft.“ Ich war etwas verunsichert, was den Fortgang betraf. Am liebsten hätte ich mich gleich abgesetzt. Aber das wollte ich Alfred Edel nicht antun. Wir fanden uns also im Weinlokal wieder. Alfred Edel monologisierte erst einmal weiter und verschlang mit seinen Augen die Schönheiten. Sie hörten ihm interessiert-desinteressiert zu. Es ging dabei um alles Mögliche. Aus der Situation konnte ich nicht entnehmen, in welcher Beziehung Alfred Edel zu den beiden Schönheiten stand und was es mit den beiden auf sich hatte. Beim Pinkeln weihte mich Alfred Edel dann ein. Unser Strahl war eindrucksvoll. Er hätte gut gegen einen Wind angehen können. Da gilt der Satz „Ein Schwein, der nicht mit Freunden gepisst hat!“. Alfred Edel war ganz leutselig. „Das sind zwei Models aus München, die mit Aufnahmen in Frankfurt zu Gange sind. Schöne, aber doch irgendwie unglückliche Frauen. Sie sind zu sehr auf sich ixiert. Wie das mit den „schönen Frauen“ aus dieser Branche nun einmal ist. Sie sind zu sehr daran gewöhnt im Mittelpunkt zu stehen und haben gar nichts davon. Es ist ein leerer Mittelpunkt. Oft kommen sie über ihre narzisstischen Inszenierungen nicht hinaus. Sie sitzen zu Hause und schauen sich ihre Fotos an. Sie blockieren sich selbst. Man kann aber auch nicht viel mit ihnen anfangen. Grab dir die Schwarzhaarige ab. Ich sehe mal zu, dass ich mit der Blonden abziehe. Die schönen Frauen brauchen etwas Sex. Ihre Typen bringen es oft nicht. Sie werden von ihnen schikaniert, aber das macht unsere Schönen dann auch nicht glücklich. Die beiden sind bald zu verheiraten. Sie icken etwas mit dem Beleuchter und heiratet dann einen Unternehmer mittleren Alters, der etwas zum Ansehen und Vorzeigen braucht. Das ist das Beste, das ihnen passieren kann. Vorher sollten sie aber noch etwas erleben. Oder? Wir sehen uns dann morgen im Café Schwille.“ So Alfred Edel während wir uns an unserem Strahl erfreuten. Ein paar Minuten später stand ich der Schwarzhaarigen allein gegenüber. Sie war eine feingliedrige Schönheit. Alfred Edel hatte sich mit der Blonden etwas abgewandt. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Sie stand da, bestellte sich noch einen Wein und schwieg. Sie sah mich so an, als wollte sie sagen „Was nun, hast du etwas zu bieten? Oder bist du nicht einer dieser Langweiler, die mir auf die Nerven gehen“. Wie konnte man ihr imponieren? Ich ing an, etwas vom Gardasee zu erzählen. 87 Irgendetwas über den„Monte Baldo“ und seiner Poesie, die daran besteht, dass er zu jeder Tageszeit anders wirkt. Dabei verhielt ich mich ganz desinteressiert, versuchte aber einen Blickkontakt zu ihr herzustellen. Sah sie kurz an, nahm den Blick wieder zurück, redete weiter, hielt inne und wartete wie sich die Schwarzhaarige verhält. Sah ihr wieder in die Augen, sie sah zurück, dann wieder ein ofenes, aber ins Leere gehende anblicken. Das konnte aber nicht so weiter gehen. Da sie vor mir stand, holte ich einen Barhocker von der Theke und bot ihn ihr an. Sie setzte sich etwas auf ihn, dabei legte ich meine Hand auf ihren Oberschenkel und fragte: „Gehen wir noch zu mir und hören etwas Musik?“. In solchen Situationen bestätigt sich oft der Satz „Das Unwahrscheinliche klappt!“. Sie nahm ihre Handtasche, und wir setzten uns in Bewegung. Alfred Edel wendete sich kurz um, obwohl er mit dem Rücken zu uns stand, hatte er den Gang der Dinge unweigerlich mitbekommen, und lachte freundlich: „Wir sehen uns morgen im Café Schwille. Übernehme die Rechnung“. Es war eine erotisierende Sommernacht, in der wir durch’s Frankfurter Westend gingen. Ich nahm ihre Hand „Rennen wir ein Stück?“. „Das geht nicht mit meinen Schuhen“, sagte sie. „Wir sind gleich da“, war meine Antwort. Es geht in solchen Situationen nicht um die „Umwertung aller Werte“, sondern um eine Haltung, die bereit ist, sich von einer Stimmung tragen zu lassen. Es stellt sich kein Wunsch nach Etwas ein, sondern die Ereignisse geschehen, ohne dass man etwas dazu absichtlich beiträgt. Ehe wir uns versahen, waren wir in meinem Zimmer. In der letzten Nacht war ich noch mit der Brünetten in dem Zug von Mailand nach Frankfurt. Der ganze Tag und Abend war plötzlich in eine unendliche Ferne gerückt. Ich stellte die Stehlampe an und drehte ihre Lichtkegel gegen das ofene Fenster. So stand ich der Schwarzhaarigen gegenüber und sagte ihr „Zieh dich aus.“ „Ich habe morgen Vormittag noch Aufnahmen“, sagte sie, zog ihre Schuhe und ihr Kleid aus. Die Schwarzhaarige machte einen weichen, aber sehr intensiven Sex. Es schien ihr Spaß zu machen. Es 88 war ein bewusstloses Geschehen. Etwas wobei nichts erkannt, erwartet und erschlossen wurde. Es war schon früh als wir zur Ruhe kamen. Ganz benommen bekam ich mit, als Sie sich am nächsten Morgen wieder anzog. „Nächste Woche bin ich wieder zwei Tage zu Aufnahmen in Frankfurt, treffen wir uns dann? Ich schreibe dir meine Telefonnummer auf, unter der du mich erreichen kannst.“ Sie warf noch einen Blick auf das Nachtlager und verschwand. Am anderen Tag erzählte ich Alfred Edel den Fortgang des Abends. Er war sehr erfreut: „Sie ist nächste Woche in Frankfurt, du solltest sie wieder trefen. Lass es dann am Besten wellenhaft abklingen. Sie ist viel unterwegs. Wie weit sie kommt ist schwer zu sagen. Ihre Karriere kann auch schnell nach unten gehen. Freu’ dich an „der Lust des Werdens“, aber sie wird bald irgendwo unterzubringen sein. Habe schon jemanden im Blick. Übe dich in die stoische Haltung gegenüber den Afairen ein, das steigert das Erleben.“ Mir fehlen die Ausdrucksmittel, um zu erinnern, was in den nächsten Monaten geschah. Wir versuchen aus der Gegenwart der Erinnerung in einer zeitlichen Abfolge das Vergangene zurecht zu legen. Aber das ist die Nacherzählung einer Geschichte, die zu dem Zeitpunkt in dem sie erinnert wird aufhört. Es gibt viele Zeitreihen, die in die Vergangenheit führen und bei ganz unterschiedlichen Ereignissen enden. Der Zeitpunkt, als sich die Schwarzhaarige verabschiedete oder als ich Alfred Edel im Café Schwille traf oder der Abend, als ich bei der Brünetten nach unserer Rückkehr vom Gardasee auf dem Balkon saß. Ich erinnere die Ereignisse, aber mir fehlt ein Bild. Ich kann die „Brünette“ nicht mehr vor mir sehen, nicht mehr vorstellen. Die Erinnerung an die Ereignisse tritt ein, aber es fehlt mir von ihnen ein Bild. Ich kann die „Brünette“ nicht mehr vor mir sehen, nicht mehr vorstellen. Aber dennoch stellt sich das Gefühl ein, wenn ich mir den Namen „Brünette“ sage, mit etwas vertraut zu sein. Es fällt uns schwer, etwas als bloße Gegenwart in Erinnerung zu rufen, ohne eine zeitliche Reihenfolge. Kommt dadurch „das metaphysische Bedürfnis“ zu seinem Ende? Erdenken wir bei diesem Zurückgehen in der Zeit, was da erinnert wird? Gibt es dabei „Gutes“ und „Schlechtes“? Woraus schöpft sich die Selbstbesinnung? Sind die Erinnerungen schlecht verständlich? Wir haben ein Selbstgefühl und das bleibt dasselbe? Das Selbst kann kein Ich sein? Fragen, die man nicht beantworten kann!? Die Ereignisse nahmen ihren Gang. Es könnte sein, dass mich meine starke Verinnerlichung des Selbstbefriedigungsverbots in meinem Verhalten gegenüber Frauen dominierte. Ich rief die Schwarzhaarige am nächsten 89 Mittwoch an. Das weitere gestaltete sich zwangsläuig. Sie kam in den nächsten Monaten, wenn sie in Frankfurt zu Aufnahmen oder mit dem Zug unterwegs war nachts zu mir. Es war ein unproblematisches Zusammensein. Sie sprach nur kurz von ihrer Beziehung: „Mein Typ erfasst mich nicht so richtig. Er ist ansonsten in Ordnung. Ich komme mit ihm gut aus, aber er sagt mir nichts. Das ist nicht störend, da man dann nicht gefühlsmäßig gebunden ist. Das brauche ich auch nicht. Wir sollten uns weiter nichtabsolut trefen.“ „Nichtabsolut“ war die Weichenstellung, die mir entgegen kam. Viel zu sagen hatten wir uns nicht, aber ihre visuelle Gestalt sprach mich an. Es war wirklich eine schwarzhaarige Schönheit und zum Fotograieren erschafen. Die Sommermonate Juli und August zogen dahin. Da zu dieser Zeit die meisten Bekannten und Freunde unterwegs waren, ielen keine Geselligkeiten an. Das tat auch gut, da mich in den letzten Monaten das dauernde Zusammensein mit Anderen auch etwas belastete. Ich war nach dem Marokkoaufenthalt gar nicht mehr zu mir selbst gekommen. Lesen war für mich ein Weg, mich mit mir zurecht zu kommen. Es stellte mich auf meine Umwelt neu ein und rief in mir vergangene Zustände meines Bewusstseins hervor. Das vergangene war dabei so wie ein Traumerlebnis. Es versetzte mich zudem in eine Beindlichkeit, dass meine Wahrnehmungen und Erlebnisse ihre Gewissheit verloren. Sie waren neu auszulegen. Ein Zustand, in dem man vom Verständlichen zum Unverständlichen und vom Unverständlichen zum Verständlichen überging. Psychologisch ist daran erwähnenswert, dass sich das in einem festgefügten Rahmen von sozialen Kontakten und Beziehungen abspielte. Man war in sie verstrickt und doch zugleich außerhalb des Geschehens. Durch das Lesen stellte sich ein Diferenzerleben zu ein, das als solches nicht begreifbar war. Es ist da, aber nicht fassbar. Mit der Brünetten lebte ich in den Tag hinein. Die Tage waren so, wie ein einziger Tag. Es ereignete sich scheinbar täglich dasselbe. Sie war mir zugewandt und doch erlebte ich sie als fern. Ansonsten beschäftigte sie sich mit ihrer berulichen Karriere. Das entlastete gleichzeitig unser Zusammensein, da sie sich dabei auch verinnerlichte. Sie telefonierte fortwährend mit dem Boss des Hessischen Rundfunks. Danach lachte sie. Irgendwie schien etwas in der Luft zu liegen. Sie sprach aber nicht darüber. Ich mochte es auch gar nicht wissen, da mich diese Machenschaften nicht interessierten. Ansonsten nahm sich die Brünette sehr engagiert die Chinque Terre Unternehmung vor. Man fantasierte sich in die gegenwärtige Zukunft hinein. Die Brünette legte gesteigerten Wert auf ihre elegante Erscheinung. Als ich sie kennenlernte, ielen mir ihre ausgewählte Kleidung und die fast ausgeklügelten farblichen Zusammenstellung auf. Die Art der Kleidung hatte 90 für sie eine besondere Bedeutung. Wenn sie aus dem Dienst nach Hause kam, nahm sie ein kurzes Bad und zog sich um. Sie zog sich überhaupt gerne um. Sofern sie es einrichten konnte wechselte die Kleidung drei Mal am Tag. „Jede Tageszeit hat ihre eigene Stimmung, ihre eigene Fantasie, dazu gehört auch die eigene Erscheinung und ein bestimmtes Verhalten sich selbst gegenüber, das macht den Umgang mit anderen leichter“, sagte sie. Sie verstand es, ihre Kleidung mit ihrem Körper in Einklang zu bringen. Die ästhetischen Entscheidungen traf sie ohne weitere Überlegungen. Sie hatte dafür eine sichere Intuition. Sie fragte nicht, was nicht so selten ist, wie sie aussieht, ob ihr etwas steht, sondern ging einfach davon aus, dass das so sei. Das hatte zwar etwas Dominierendes, aber es störte mich nicht, sondern ich fand mich in diesem Sommer in der Stimmung, dass es mir geiel, wie sie sich kleidete, sich auszog und hingab. Ihr schien es gut zu tun. Sie verhielt sich so, als sei das alles selbstverständlich und schon immer so gewesen. Die schwarzhaarige Schönheit meldete sich immer wieder einmal und kam nachts vorbei. Sie brachte ihre neusten Fotos mit, auf denen sie gerne bewundert wurde. Dabei wirkte sie ganz glücklich. „Wenn ich mich auf den Fotos sehe, könnte ich mich gerade in dieses Bild von mir verlieben. Das steht mir doch wirklich toll. Sieh mal, wie ich da blicke! Ich könnte die Fotos andauernd ansehen. Aber es gibt nächste Woche wieder neue“, sagte sie. So lief alles zusammen und auseinander, ohne dass dabei ein Problem auftauchte. Es war ein guter Sommer, in den dahingelebt und man, ohne es zu merken, gelebt wurde. Ich hatte damals noch nicht das Bewusstsein der Wiederholung, das zu einem ermüdenden existenziellen Beinden und Zustand führt. Es sollte alles anders kommen, als erwartet. Das ist auch das Beste, was einem passieren kann. Wir erkennen in diesen Situationen nicht, was sich so anbahnt, und das ist gut so. 25. August 2008 91 reInes erleben Man sagt, dass wir gelebt werden. Die Erindung des Unbewussten ist neueren Datums. Wenn man von Leibniz einmal absieht, geht sie auf das 19. Jahrhundert zurück. Ob es eine Entdeckung ist, mag man für überzeugend halten oder nicht, ich habe einen Widerstand gegen diese Betrachtungsweise. Das Problem besteht eher darin, dass man sich verdeutlicht, was in diesen Zusammenhängen behauptet und bestritten wird. Unsere Erlebnisse sind uns vertraut. Sie mögen auch dazu veranlassen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Man ist etwas deprimiert, verlässt die Wohnung, läuft etwas umher und eine Erleichterung mag sich einstellen. Vertraut sind uns aber auch Zustände, die uns überfallen, die sich so wie von selbst einstellen. Es ist vermutlich aussichtslos in diesen Zusammenhängen einen kausalen Ablauf auszumachen. Das gilt für beide Seiten der Betrachtung, der Innen und der Außenperspektive. Von Außen neigen wir dazu, den Grundsatz der Konsequenzen anzuwenden. Er besagt, dass alle Ereignisse durch vorhergehende Ereignisse verursacht sind. Alle vorhergehenden Ereignisse sind ihrerseits durch dieselbe Bedingung verursacht. Wir können aber vom Außenstandpunkt nicht erforschen, wie unsere Wünsche und Überzeugungen unsere Handlungen verursachen, da wir für jeden Beobachter eine schwarze Schachtel sind. Das schließt es nicht aus, dass wir nur dann kommunizieren können, wenn wir solche Zuschreibungen vornehmen. Was es mit der Existenz des Unbewussten auch auf sich haben mag, wir sind uns nicht durchgängig selbstdurchsichtig. Wir sind uns selbst auch immer entzogen. Die Unterscheidung zwischen bewusst-unbewusst und von Ursache und Wirkung sind die Unterscheidungen eines Beobachters. Der August 1976 eilte seinem Ende entgegen. In der letzten Augustwoche war bereits der Herbst spürbar, obwohl die sonnigen Tage anhielten. Die Brünette mochte am Abend nicht zu Hause sein. So gingen wir jeden Abend bei einem der Italiener in der Nähe essen. Gegen 18.30 liefen wir ein und gegen 22 Uhr wurde an den Aufbruch gedacht. „Wir haben noch etwas vor“, sagte sie dann gerne. Es waren ausgeglichene Abende. Man aß in Ruhe mehrere Gänge, trank Wein, Kafee und dazu Cognac. Der Ablauf war jeden Abend nahezu derselbe. Ich trug eine dunkle Hose, ein rotes oder ein grünes Poloshirt, leichte Schuhe und ein Sommerjackett. Mein Anblick schien die Brünette zu erfreuen, da sie mich mit einem Lächeln ansah, das etwas Einvernehmendes hatte. Damals befand ich mich noch nicht in dem Zustand 92 der gewissen Altersgleichgültigkeit dem eigenen Aussehen und seiner Wirkung gegenüber. Die gute Verfassung der Brünetten machte sich auch dadurch bemerkbar, dass sie fast den ganzen Abend redete. „Wer ist Paul Valéry’s Monsieur Teste? Man neigt dazu, Paul Valéry selbst, aber er setzt in diesem Text Mallarmé ein Denkmal. Valéry’s Dichtung ist durch einen Erkenntnisnihilismus motiviert. Dadurch kommt ihr die Rolle zu, das Nichts zu vermehren. Bestell mir noch einen Wein“, dann sprach sie weiter über die Dichtung, die aus dem Unbewussten, aus dem Wach- und dem Schlaftraum hervortritt. „Das ganze läuft sich aber tot und ist nicht fortführbar. Die Dichtung scheitert an sich selbst. Lese doch einmal Cesare Pavese. Den kennst du vermutlich nicht und er ist bei uns kaum bekannt. In den 1960er Jahre wurde er noch eher gelesen. Fang aber nicht mit seinem Tagebuch Handwerk des Lebens an, das macht einen und erschwert eher den Zugang. Auch nicht mit Gespräche mit Leuko. Am besten liest du erst einmal seine Romane und fängst mit Unter Bauern an. Auch seine Schriften zur Literatur. Die Entdeckung Amerikas Literatur und Gesellschaft. Er gehört zu den wenigen Europäern, die einen Zugang zu Herman Melville, Walt Whitman, Sinclair Lewis und William Faulkner haben. Überlege mir schon die ganze Zeit, eine Sendung über ihn zu schreiben. Bestell dir doch auch noch ein Glas Wein. Ich mag nicht alleine trinken“, sagte sie und wandte sich ihrem Wein zu. Ich kannte zwar Pavese, den ich schon in den 1960er Jahre las, aber ich widersprach der Brünetten nicht. Das hätte zu nichts geführt und die Stimmung verdorben. Paveses Schriften zur Literatur schätzte ich besonders, da er ein sehr einfühlsamer und nachdenklicher Literaturvermittler ist. Sein trauriges Ende sollte keinen Schatten auf seine Literatur werfen, da es in uns und unserer Lebensgeschichte Unstimmigkeiten gibt, die, wenn sie sich vermehren, zu keinem guten Ende führen. Als wir nach dem Italiener bei ihr waren, war sie sexbedürftig. Mir machte das weiter nichts aus, da ich körperlich gut funktionierte. Sie war wirklich gut und hatte es gerne, wenn ich mich bei ihr sexuell auslebte, aber die Beziehung zu ihr versetzte mich in einen merkwürdigen Zustand. Alles lief harmonisch ab, aber es stellte sich eine Fremdheit und Niedergeschlagenheit ein, für die es keine sichtbaren äußeren Anlässe gab. Je besser sich scheinbar die Beziehung gestaltete, umso mehr kam es mir vor, dass sich eine Ungerührtheit und eine Gleichgültigkeit einstellte. Ein Zustand, den ich nicht artikulieren konnte. Er sollte mich weiter begleiten und ich konnte für ihn keine Beschreibung inden. Es fehlten mir die Ausdrücke. Die Brünette schätze Alfred Edel nicht besonders. Sie hielt ihn für 93 inkompetent und einen narzisstischen Wichtigtuer. Sie äußerte sich zwar nicht negativ, aber sie verstand es, ihre Einstellung zu verstehen zu geben. Sie war zwar mit ihm lüchtig bekannt, aber wenn wir ihn im Knoblauch trafen, sprach sie mit ihm nur über Trivialitäten und ließ sich auf weiter nichts ein. Sie hatte bestimmten Personen ein Verhalten einer unverbindlichen Verbindlichkeit, durch das alles an ihr abglitt. Zudem stand hinter ihr die Autorität des Hessischen Rundfunks. Da gab es nicht viel zu diskutieren. Da galt der Satz: „Rom hat gesprochen“. Auch wenn das nicht so formuliert wurde, lief es darauf hinaus. Alfred Edel dagegen war vor „der Autorität des Hessischen Rundfunks“ eingeschüchtert und etwas hillos. Er konnte sich nur mit leicht ironischen Bemerkungen zur Wehr setzen, wie „Wie geht es der Verwalterin der Horizonte der Weltliteratur?“. Das war eine rhetorische Frage, da er keine Antwort darauf erwartete. Es konnte ihr ja nicht schlecht gehen. Ich gab ihm auch keine, sondern sagte dann, so etwas wie „die Geschichte der Literatur ist ohne Ende. Das bedarf der Päpste.“ Die Brünette wäre auch nicht auf die Idee gekommen, Alfred Edel zu ihren Freitags- und Samstagsgesellschaften einzuladen. Sie wusste zwar, dass ich ihn öfters traf, aber es interessierte sie weiter nicht. Es wurden auch nicht Fragen der Art gestellt, wie „Wen hast du heute im Café Schwille getrofen?“, „Gibt es etwas Interessantes zu erzählen?“. Wenn ich etwas erzählte, hörte sie zwar zu, sagte dazu auch das eine oder andere, war aber desinteressiert. Trotz des im Fortgang eintretenden Erfolgs als Kleindarsteller im Film und der Fernsehwerbung blieb Alfred Edel unzufrieden. Er wirkte etwas gehetzt. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahren traf ich ihn gelegentlich wieder. Wir saßen im Café am Opernplatz oder gingen etwas in der Stadt spazieren. Er starb mit 60 Jahren an einem Herzschlag nach einem Theaterbesuch. Es muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein. Es kündigte sich ein warmer September 1976 an. Die Cinque Terre Tour schien ganz aus dem Blick zu geraten. In der Mitte der 1970er Jahre waren die fünf Ortschaften Monterosso al Mare, Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomggiore noch ein Geheimtipp. Es waren fast noch verwunschene Plätze. Die Brünette bereitete in der ersten Septemberwoche ihre in den Blick genommene Sendung zu Pavese vor und gab mir Leseaufträge. Ich konnte mich aber nicht mehr so richtig in die Texte hineininden. Da Pavese der Autor der großen Sparsamkeit der sprachlichen Mittel ist, war die Festlegung einer Leitlinie für die Sendung keine große Anstrengung. Die Brünette war auch 94 damit einverstanden, Pavese äußerst unglückliche Beziehung zu Frauen nicht auszumünzen, sondern ihn als „Den Entdecker der amerikanischen Literatur“ vorzustellen. Die Brünette war immer für eine Überraschung gut. „Lass uns die Chinque Terre Tour wahr machen. Ich kann mich problemlos noch ein paar Tage vom Rundfunk absetzen. Es läuft irgendwie zu gut. Besorge die Billetts, Rotwein und etwas Leckeres für den Nachtzug. Wir nehmen keine Lektüre mit. Lass uns schön icken. Sonniger September 1976 im Süden, das ist ein guter Kontrast zu dem Frankfurter Provinznest, das wir alle so toll inden. Oder? Du wirst es nicht glauben, aber wir erleben das Ende des modernistischen Frankfurt der 1950er und 1960er Jahre mit Jazz und zugleich Kammermusik“, kam ihre Rede wellenartig zu mir. Zwar war ich gerade nicht mehr für die Tour gestimmt, aber es gab auch keinen zwingenden Grund, ihr zu widersprechen. Die Kommunikation der Motivgründe für „Ja“ oder „Nein“ führt meistens zu Missverständnissen. Wie sollte ich der Brünetten kommunizieren, dass ich lieber zu Hause meinen Gedanken nachgehen mochte? Also war angesagt: Gesagt und getan. Eine kleine Tour schadet wiederum auch nicht und bringt auf andere Gedanken. Die Bahnhöfe und Flugplätze versetzten mich in eine Nervosität, die beschwingte und beruhigte. Schon bei dem Kauf der Billetts für den Zug Frankfurt – Mailand – Genua – Monterosso war ich überzeugt, dass die Tour eine gute Entscheidung war. Es galt der Satz von Heinz von Foerster (Ethics and Second-Order Cybernetics 1991) „… „metaphysical postulate:“ Only those questions that are in principle undecidable, we can decide. Why? Simply because the decidable questions are already decided by the choice of the framework in which they are asked, and by the choice of the rules used to connect what we label “the question” with what we take for an „answer.““ Man mag das Postulat für etwas mysteriös halten, aber es ist vielleicht eine hilfreiche Orientierung. In diesem Fall wurde vom Zustand der Brünetten entschieden, und sie versetzte uns in Bewegung. Ihr Zustand war das „Unentscheidbare“. Der Rest ergab sich von selbst. Es war ein sehr ausgelassener Trip. Ein „Trip“ in die Transzendenz. Die Brünette lies sich gehen und war ganz verwandelt. Sie himmelte mich geradezu an und war fortlaufend auf Sex gestimmt. Das hätte mich bedenklich stimmen sollen, aber ich machte mir keine Gedanken. In La Spezia mieteten wir uns ein Automobil und nahmen einen Abstecher in die Toskana in den Blick. 95 „Mich treibt es weiter. Ich möchte bis an die Stiefelspitze fahren und mit dem Blick auf Sizilien icken wir mit dem Geruch von Afrika in der Nase,“ sagte die Brünette. Die Blicke auf die Landschaft logen an uns vorbei, sie war bloße Erscheinung. Man hielt irgendwo an, trank einen Café und es gab keine Ziele. Jeden Abend war man an einem Ort, speiste in einem anspruchsvollen Lokal, kostete Weine, trat in den Zustand der „Weinseligkeit“ ein und lies den Augenblick auf sich wirken. Ein Schwebezustand, der einen von der Schwerkraft des Raumschifs Erde abhebt. Gelegentlich machte ich mir Notizen und schrieb mir Namen von Ortschaften, Straßen und Kirchen auf. Das störte die Brünette. Sie sagte nur: „Die Bewegung ist die Sichtweise. Es gibt nichts zu notieren. Die ortsgebundene Empindung lenkt uns ab. Die „Bewegung“ streift die eigenschaftsbezogene Empindung ab. Sie verwandelt in reines Erleben. Ein „Erleben“ ohne Selbst.“ Mir fällt während ich das niederschreibe, der Satz aus meiner Jugend ein, in dem wir uns befanden, „Es ist der Trip und nicht die Ankunft“, worauf es ankommt. Die Tage rannten an uns vorbei. Ohne dass es uns so bewusst war, befanden wir uns wieder in dem Zug von Genua nach Frankfurt. Man wurde wieder von der Routine des Alltags in die Arme genommen. Der Übergang war ließend. Der Trip war zu ende. Man sprach nicht mehr davon. Die Tage liefen unter der Hand weiter wie bisher. Die Brünette sprach davon, dass man sich zu Weihnachten auch wieder absetzten sollte. „Madeira, das wäre einmal etwas anderes. An Silvester wird dort ein fantastisches Feuerwerk veranstaltet. Wir sollten öfter abtauchen“, sagte sie, eher vor sich hin, als zu mir. Es war eine Art des Redens, von der man nicht wusste, ob sie etwas zu sich selbst sagte oder wirklich zu jemanden sprach. Zu verstehen gibt es ja nur dann etwas, sofern eine Fremdorientierung vorliegt. Ob man sich selbst verstehen und missverstehen kann, mag einmal dahingestellt bleiben. Man mag in bestimmten Situationen zu sich sagen, „Ich verstehe mich selbst nicht mehr“. Was damit gemeint ist, bleibt unklar, da man sich nicht selbst erforschen kann und im Umgang mit sich nicht etwas lernt. Man äußert damit eine Entfremdung von sich; ist mit sich nicht im Einklang. Es ist dann abzuwarten, was sich einstellt. Es lief zwar alles so weiter, aber Veränderungen im Tagesablauf traten unmerklich ein. Mittags ging ich nicht mehr ins Café Schwille und traf Alfred Edel nicht mehr regelmäßig. Zwar sah ich ihn im Knoblauch, aber da er meistens in Begleitung war, nickten wir uns nur kurz zu. Das bedeutete aber keine Unterbrechung unserer ganz guten Beziehung. Gelegentlich 96 kam er spät in den Liebig Keller und man tauschte sich aus. Dort begann die Wintersaison. Er füllte sich jetzt und, wie es Alfred ausdrückte, „Umverteilung war im Gang“. Im Nachhinein bedacht, hatte die sexuelle Freizügigkeit etwas Fantastisches. Man war an das Venedig des 18. Jahrhundert erinnert und die aristokratische Permissivität jener Zeit. Die Abende mit der Brünetten beim Italiener wurden eingestellt. Sie mochte Abends nicht mehr so gerne weggehen. Was mir erst einmal nicht auiel war, dass sie noch größeren Wert auf ihr Äußeres legte und den Kontakt mit ihren Kollegen ausbaute. Die Samstagtrefen wurden zu einer festen Einrichtung. Freitags waren Konzert-, Oper und Theaterbesuche angesagt. Ansonsten aßen wir nach ihrem Dienst zusammen und hörten Musik. Die Klavierkonzerte Beethovens waren angesagt. Auch mochte sie gerne wieder Brahms hören. Man darf sich bei den Abendessen aber keine normale „Essen“ vorstellen. Sie stand auf, ging umher, telefonierte, trank Wein und rauchte. Plötzlich wollte sie Sex. Danach beschäftige sie sich mit ihren redaktionellen Arbeiten. Sie sprach halblaut vor sich hin und schrieb mir auf, was die Tage aus der Bibliothek auszuleihen war. Manchmal ergibt sich ein Thema im Gespräch, ohne dass man ausmachen könnte, wie man auf es kam. Es stellt sich durch das undurchsichtige Zusammenspiel zwischen Reden und dem dabei ablaufenden Assoziationsluss ein, bei dem sich die Gedanken aneinanderreihen. Insofern kann man nicht so ohne weiteres von dem Urheber eines Gedankens sprechen. Die Gedanken, die wir haben, sind uns selbst undurchsichtig. Sie stellen sich ein oder bleiben aus. So kam man darauf, eine Sendung über Ezra Pound zu planen. Das war nicht ganz unproblematisch, da man sich aufgrund seiner politischen Ambitionen seiner Texte nur schwer vorurteilsfrei zuwenden konnte. Die Brünette hatte aber einen Ausweg aus diesem Dilemma. „Wir nehmen die Perspektiven von Dos Passos, Gertrude von Stein, James Joyce, Ernest Hemingway und Ezra Pound im Paris der 1920er Jahre, wo sie sich aufhielten und kontrastieren das Intellektuellen- und Künstlermilieu in Paris mit ihren Texten. Ein Film darüber wäre eine gute Idee. Es sollte im Film eine Collage der unterschiedlichsten Perspektiven sein, die durch Orte zusammengebunden werden. Orte, die keine mehr sind, sondern nur noch Übergänge in der Zeit. Der Ort wirft sein Bild in das Nichts als einer unendlich verschlingenden Vielheit. Die Stimmen der Sprecher gehen in Bilder über, „Bilder“, die Anfangen zu singen! Das wäre verrückt. Das Bild wird zu einem „metaphorischen Bild“, das Ideen auslöst! Oder, was meinst du, wie ist das auszudrücken? Die Metapher ist ein Ausdruck, ein Mittel der Identiikation.“ Darauf war nicht so ganz einfach zu antworten. Es war das Beste, die Antwort zu umgehen. 97 „Ich suche schon einmal Textstellen heraus, und wir fangen an zu montieren. Dann ergibt sich das eine aus dem anderen. Man darf dabei nicht soviel vorplanen“, war eine geschickte Antwort. Ansonsten war der Besuch in der Frankfurter Oper von Wagners „Tristan und Isolde“ im Gespräch, die sehr gelungen war. Wagner gibt der Philosophie Schopenhauers darin eine besondere Wendung, die fast vergessen ist. Der Wille als essentia rei wird darin durch die körperliche Liebe versinnlicht. Das kann kein gutes Ende nehmen. Öfters als vor dem „Trip“ übernachtete ich bei der Brünetten. Sie hatte ein Gastzimmer, so dass man in seinen Träumen nicht durch die Anwesenheit des Anderen gestört wurde. Es konnte aber auch sein, dass ich nach 23 Uhr noch wegging und mich dann in die Feuerbachstraße begab, allein oder in Gesellschaft. Gelegentlich auch mit Freunden. Man trank dann noch, tauschte sich aus und hörte Musik. Es war dieses sich in die Nacht hineinreden und halluzinieren, dass einen den Tag vergessen machte. Der Boss des Hessischen Rundfunks nahm mich an einem der Samstagstrefen zur Seite und fragte mich, ob ich nicht eine feste Anstellung bei ihm haben wollte. Er suchte einen Mitarbeiter, dem er vertrauen konnte. Es konnte gut sein, dass das von der Brünetten angestoßen war, obwohl sie mich nicht darauf ansprach. Da ich aber mit meinen Verhältnissen zufrieden war, hatte ich keine Neigung mich berulich fest zu binden. Das konnte ich ihm zwar so nicht sagen, sondern verhielt mich diplomatisch. Insofern tat ich zwar geehrt, verschob eine weitere Besprechung darüber aber auf des kommende Jahr. Zudem war ich mit Lektoraten eingedeckt. Das brachte es mit sich, dass ich öfters im Hessischen Rundfunk zu tun hatte und gegen 14 Uhr dort in der Kantine zu Mittag aß. Mit der Brünette traf ich mich dort nicht, da sie nicht regelmäßig in der Kantine aß. Wenn, dann kam sie meistens mit Mitarbeitern. Da hätte ich nur gestört. Ich mochte von ihren Belangen auch nichts hören und in sie, wenn auch unbeabsichtigt, hineingezogen werden. So war bereits die zweite Hälfte des November 1976 erreicht. Man lebte von Abend zu Abend, von Woche zu Woche, so als sei das ohne ein Ende. Etwas abwesend suchte ich mir in der Kantine des Hessischen Rundfunks an einem November Mittwoch meine Beilagen aus und eilte gedanklich schon in den Nachmittag hinein. Da hörte ich neben mir „Nehmen sie doch auch von dieser Nachspeise“. Ich hörte zwar die Äußerung, nahm sie aber gar nicht auf. „Das schmeckt lecker“, ging es weiter. Ich sah zur Seite und neben mir stand eine rot getönte, stattliche jüngere Frau und lachte mich an. Sie mochte so 26 Jahre sein. Mehr unbewusst 98 nahm ich mir auch einen Nachtisch. „Gegen 14 Uhr ist es hier bereits ruhig. Fast etwas zu einsam. Man denkt gar nicht, dass man im Rundfunk ist. Das stellt man sich ganz anders vor. Den ganzen Tag überall betrieb. Technik, reden, hin und hergehen.“ Sie hatte schon alles auf ihrem Tablett und ging zu einem Tisch. „Kommen sie doch mit, wenn man um diese Urzeit allein in der leeren, einsamen Kantine isst, da kann es einem doch nicht schmecken. Das Essen ist doch toll hier.“ Ohne dass ich mir weitere Gedanken machte, saß ich mit der rot getönten an einem Tisch und wir ingen an, uns dem Mittagstisch zuzuwenden. Sie aß und redete. Innerhalb von 20 Minuten hatte sie mir ihre ganzen Lebensumstände mitgeteilt. Sie hatte in diesem Jahr ihr Schauspielschulexamen abgeschlossen, war auf der Suche nach einem ersten Engagement, hatte ein zweijähriges Baby, sprach im Hessischen RundfunkWerbespots, ihre Mutter hatte in der Innenstadt ein Lebensmittelgeschäft und sie wohnte in einer Zweizimmerwohnung auf dem mittleren Teil der Berger Straße. Dabei atmete sie so durch, dass sich ihre Brüste bewegten. Sie trug eine Bluse mit einem sichtbaren Büstenhalter. Wir saßen vor leeren Tellern und plötzlich stellte sich ein Schweigen ein. Aus Verlegenheit fragte ich sie, ob noch man noch einen Kafee zusammen trinkt. Sie nickte. So wurde die von mir empfundene Verlegenheit etwas überbrückt, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte. „Wir können uns heute Abend trefen. Ich habe weiter nichts vor. Oder bist du kein Treftyp.“ Das brachte mich noch mehr in Verlegenheit, aber ich stimmte zu und wir verabredeten uns bei ihr um 23 Uhr. Das passte mir ganz gut, da die Brünette in dieser Woche mit ihrer Funkarbeit zugepackt war und ich mich ihr im Laufe des Abends bei Zeiten entziehen konnte. Zudem war man von der Wohnung der Brünetten im Westend in gut dreißig Minuten auf der Berger Straße. Das Fotomodell meldete sich die letzten Wochen nicht mehr. Irgendwann würde sie schon wieder einmal auftauchen, und man konnte sich entgegenlächeln. Gegen einen Besuch brauchte man nichts zu haben. Das war eine Unterbrechung der eingespielten Abläufe, unabhängig davon, was sich bei ihnen auch ereignete. Sie emping mich in einem schwarzen Kleid mit besonders Rot aufgetragenen Lippen. Im Hintergrund liefen die The Supremes. Diana Ross sang, „Where did our love go“. “Kennst du das, ist toll. Ich spiel dir gleich noch etwas anderes vor, den 99 California Sound der Beach Boys von Brian Wilson und seinen Brüdern. Die Platte heißt „Pet Sounds“.“ Das war im Dezember 1976. Nach meinem Geschmack war das tiefe 1960er Jahre. Ich kannte diese beiden Gruppen. Die „Pet Sounds“ waren die Antwort auf die Platte der Beatles „Rubber Soul“ 1966. Sie gehört zu dem Besten im Pop-Genre. Aber ich sagte nur, dass der Sound anturnt und die Platten eine Entdeckung seien. „Ich bring dir eine Platte mit Billy Holiday mit, das wird dir gefallen“, sagte ich ihr und sah sie direkt an. Das war zwar tiefste 1940er Jahre, aber ein guter Sound. So saßen wir nebeneinander auf ihrer bequemen, vielleicht etwas zu bequemen, Couch in der Wohnlandschaft eines ihrer Zimmer. Es war das der typische ambitionierte 1970er Jahre Geschmack. Die Couch war auf Bodenhöhe. Sie glich einem Lager. Man konnte sie auch durch das dazustellen von Teilen vergrößern. Sie öfnete noch eine trinkbare Flasche Rotwein und machte es sich bequem. Da man auf diesen Couchen nicht richtig sitzen kann, wird man unweigerlich in eine mehr liegende Lage hineingezogen, da ein aufrechtes Sitzen zu unbequem ist. Ich selbst schätze diese Wohnlandschaften nicht, da ich gegen das Wohnen in Bodennähe eine Abneigung habe. Nicht nur, dass ich nicht so erzogen war, sondern irgendwie kam mir diese Stellung zunehmend einschränkend vor, da man sich von dieser Stelle ohne Ausblick nicht zu seiner Nahwelt verhalten kann. Darin stimmte ich mit der Brünetten zwanglos überein. Sie sagte gerne „Wir sind Tischerscheinungen, das macht den Geist und alles was dazu gehört frei. Geist ist trocken, aber er bedarf der Geste.“ Aber es gibt Situationen, wo einen die Wohnlandschaftsperspektive auch nicht dramatisch stört. Der Sound und der Wein spielten zusammen und man versank etwas in der Couch der Wohnlandschaft. Sie zog ihre schwarzen Pumps aus, trank etwas und berührte mit dem Fuß meinen unteren Oberschenkel. So lag man da, trank Wein, hörte Musik und verinnerlichte sich. Wir rückten dabei unmerklich näher. Sie knüpfte ihre Bluse auf und der Sex mit ihr wollte nicht zu seinem Ende kommen. „Lass dich gehen, so mag ich’s am Liebsten“, sagte sie. So ergab sich ganz unbeabsichtigt ein neues Verhältnis ein. Ich war gar nicht so darauf eingestellt, aber ich ließ es geschehen. Es stellte sich so ein, dass ich mich Mittwoch gegen 22 Uhr zu der Bergerstraße zu der rotgetönten stattlichen jungen Frau aufmachte. So rannte die Zeit dem Jahresende 1976 entgegen. Das neue Verhältnis hatte eine ganz unbeabsichtigte Wirkung, dass 100 sich meine innere Anspannung gegenüber der Brünetten löste und wir mit viel Vergnügen den Madeira-Trip an Weihnachten in den Blick nahmen. Das Erleben wird ungreifbarer. Meistens schlafe ich tagsüber und stehe erst am frühen Nachmittag auf. Fahre dann mit der U-Bahn in die Stadt. Im Vorbeigehen in der U-Bahn hörte ich am Nachmittag: „Unveränderbar ist nur das, was so schnell vergeht, dass für Änderungen keine Zeit bleibt“. Das größte evolutionäre Unglück ist, dass man zu alt wird. Das wirkt sich auf das Zeiterleben aus. Ich selbst habe nicht den Mut zur Selbsttötung. Wir werden von den Alten übermächtigt. Die Welt ist überbevölkert. Die Weltbevölkerung ist von 2,4 Mrd. 1945 auf 6 Mrd. 1999 gestiegen. Man hört, dass sie in den nächsten 50 Jahren weiter steigt und sich bei 10 Mrd. einpendeln wird. Ein Viertel davon würde genügen. Uns umgibt eine Altengesellschaft. Das wertet das Selbstsein ab. Leben ist nur dort, wo es kurz und durchdringend ist. Dadurch tritt man aus sich heraus. Die veränderte Situation verbreitet Blödheit. Die Alten basteln, plegen sich und sind Objekte der Gesundheitspolitik, wollen sich ab ihrem 65igsten Lebensjahr bilden und treten in Talk-Shows auf, in denen sie sich über ihre Magenbeschwerden, Rückenschmerzen und andere Gebrechen äußern. Dabei möchten sie vor allem wichtig genommen werden. Das Tollste ist: Die 70jährigen verlieben sich neu. Was soll man dazu sagen!? Man mag sich gar nicht vorstellen, wenn sie sich zum Sex ausziehen. Insgesamt ein unwürdiges Sein. Jack London (1876-1916) wurde 40 Jahre alt und hatte ein ekstatisches Leben. 15. Dezember 2008 101 der abend Leben ohne Zeit. Der Sekundentakt verstummt. Was für ein Zustand! Der Blick fällt auf den Kalender. Es ist bereits September 2009. Was ereignete sich in den letzten Monaten? Ich irrte in der Vergangenheit umher, ohne irgendwo anzukommen. Blieb bei dem Jahresanfang 1977 hängen, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Der Madeiratrip mit der Brünetten war wunderbar. Silvester erlebten wir ein einmaliges Feuerwerk und feierten noch meinen 32. Geburtstag am 3. Januar. Zwei Tage später logen wir in guter Stimmung zurück. Am 22. Dezember traf ich die rot Getönte noch einmal. Besuchte sie mittags. Sie hatte gerade ihr Kind abgeholt. „Januar spreche ich in Mainz vor. Du drückst mir die Daumen.“ sagte sie. Ihr Kind spielte im Kinderzimmer. Wir rauchten noch einen Joint. Sie hatte einen schwarzen Pullover an. Darunter keinen BH. Ich zog etwas tiefer an dem Joint. Es überkam mich die Stimmung aufzubrechen und durch die Stadt zu gehen. „Ich habe noch etwas für den Weihnachtstrip zu packen. Es wird etwas knapp“, sagte ich ihr. Wir standen auf und sie begleitete mich zur Tür ins Treppenhaus. Alles war ruhig. Sie sah mir in die Augen als wollte sie sagen „Kommst du wieder?“. Ich sah wie sich ihre Brüste bewegten. So standen wir mittags um 14 Uhr im Treppenhaus. Sie schloss die Tür zur Wohnung hinter sich. Wir trieben es im Treppenhaus. Sie war nur schweigendes Gefühl und Blick. Sie zerloss. Ich kam mehrere Male. Sie lehnte sich an den Treppenaufgang. Sie atmete langsam als sie kam. Dann war alles vorbei. Mir wurde kühl. Sie sah mich nur an. „Ruf mich an, wenn du zurück bist“. Mir wurde ganz anders. Es gibt Augenblicke, in denen das Unglück über einen fällt. Man weiß nicht, warum, woher, wozu. Ich wusste, dass es mit ihr nicht weitergehen würde. Vielleicht würde ich mich bei ihr gar nicht mehr melden. Es war so, als ob sich ein Schatten über mein Gemüt legt. „Wir schalten uns kurz“, sagte ich ihr. Ich sah ihren glücklich, traurigen Blick. Dann war ich schon 102 auf der Berger Straße; ging, so wie von unsichtbaren Fäden gezogen, in die Innenstadt. In den nächsten Monaten verdichteten sich die Ereignisse. Alles kam, um es so auszudrücken, Schlag auf Schlag. Zunächst ging es aber so weiter, wie bisher. Erst im Nachhinein iel mir das Entgegenkommen der Brünetten auf. Sie zog sich für ihre Vorbereitungen für den Funk zwar oft zurück, mir kam das aber entgegen, da ich mich in die Texte zurückziehen konnte. Die Nachmittage ging ich seltener in’s Café. Das brachte es mit sich, dass der Kontakt mit den Freunden etwas verloren ging. Sie brachen aber nicht absolut ab, da man sich gelegentlich im Liebig Keller gegen Mitternacht traf. Wenn wir zusammen waren, wurde nach einem Kafee gleich Wein aufgemacht und sie wollte Sex. „Das tut mir gut, mach’s mir von Hinten“, sagte sie. Das belastete mich zwar zunächst nicht, aber es stellte sich eine Entfremdung in dem Erleben meiner leiblichen Verfasstheit ein. Das Entgegenkommen der Brünetten wurde noch dadurch verstärkt, wenn nicht sogar vergoldet, dass sie mich in meinen literarischen und ästhetischen Ambitionen bestärkte. Die Zeit wurde dafür zwar dadurch eingeschränkt, da sie mich jede Woche mit genug Lektoratsarbeiten versorgte, aber wir sahen uns seltener. So gab es für den Rückzug etwas Spielraum. „Kurz und intensiv und doch lang anhaltend mit den Gefühlen“, war ihr neuer Leitspruch. Zudem plante sie bereits für den nächsten Trip. Was die Ambitionen betraf, so war ich durch ihr entgegenkommen wirklich überrascht. Vor allem bestärkte sie mich in dem wiederholten Studium der Schriften Schellings. „Daraus kann man etwas machen. Habe das an einem bestimmten Punkt meiner Romantikstudie nicht mehr weiter verfolgt und zur Seite gelegt. Gebe dir meine Aufzeichnungen über das System der Transzendentalphilosophie (1800). Vielleicht kann es dich etwas orientieren. Vielleicht ist Schelling doch die Vollendung des deutschen Idealismus und nicht Hegel. Hegel ist überschätzt. Eine unglückliche Erbschaft. Ich werde mich damit nicht mehr beschäftigen. Tempi passati!“, so ihr Kommentar. Sie suchte in ihrem Bücherschrank und gab mir einen Text. „Gut, vieles ist veraltet, man verirrt sich und gerät in Verwirrung. Es wäre die Relevanz für die Ästhetik herauszuschälen. Im Fortgang hat Schopenhauer und Nietzsche diese Tradition destruiert und sie wirkt doch zugleich bei ihnen weiter. Aber mach jetzt eine Flasche Wein auf, bevor wir uns damit weiter belasten“, sie sah mir dabei in die Augen und überreichte mir die Bögen. 103 Es waren fünf Seiten, die mit ihrer zierlichen Schrift beschrieben waren. Der Text war auf das Jahr 1970 datiert. Es handelte sich um eine Zusammenfassung von Schellings System der Transzendentalphilosophie. Bei der Dechifrierung dieser Texte sind die Archäologen des Wissens gefragt. Ich selbst habe mich damit schwer getan. Die Brünette hatte mir einmal einen kurzen Überblick über seine Philosophie vorgetragen. Sie war aber darauf nicht mehr zu sprechen gekommen, da sie davon überzeugt war, dass man das mittlerweile nicht mehr ausbuchstabieren könnte. Es würde schlicht die Muse, die innere Distanz und die Selbstbezüglichkeit fehlen. In dieser Richtung äußerte sie sich auch im Hinblick auf Nietzsche. „Wir können uns schwer zurückversetzen. Wir verlieren zu viel Zeit, zu viel von uns Selbst. Schelling wird bei Schopenhauer, Nietzsche und Wagner wirkungsgeschichtlich. Wollen als Ursein=Wille zur Macht=Weltwille=Trieb=höhere Objektivität des Kunstwerks. Die Romantik ist in Wagners Ring überwunden. Das Kunstwerk ist als Organismus zugleich Fragment. Die Willensmetaphysik wirkt sich bis zu Wittgenstein aus – obwohl er ein Anti-Wagnerianer ist. Der Wille ist die Spitze: „Tun scheint selbst kein Volumen der Erfahrung zu haben. Es scheint wie ein ausdehnungsloser Punkt, die Spitze einer Nadel. Diese Spitze scheint das eigentliche Agens. Und das Geschehen in der Erscheinung nur Folge dieses Tuns. „Ich tue“ scheint einen bestimmten Sinn zu haben, abgelöst von jeder Erfahrung“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 620.) In dem nächsten Absatz wird das wieder in Frage gestellt: „621. Aber vergessen wir eines nicht: wenn ‚ich meinen Arm hebe’, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrig bleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass mein Arm sich hebt? ((Sind nun die kinaesthetischen Empindungen mein Wollen?))“ Wenn man sich einmal auf diese Fragen eingelassen hat, so hat man schon verloren. Es ist letztlich „tote Literatur“, soll ein Oxford Philosoph einmal kommuniziert haben. Aber lassen wir das auf sich beruhen. Wagner führt im Ring den Fragmentismus fort, aber er überwindet die Romantik im Ring. Das Tragische tritt an uns heran. Das hat Nietzsche von Wagner. In der Beziehung von Siegfried und Brünnhilde gibt es keine Romantik mehr. Brünnhilde wird sterblich: Die Ewigkeit/das Unendliche und das „Streben nach dem Unendlichen“ hat ein Ende. Davon werden die Götter selbst betrofen. Alle Beteiligten sind die Handlanger des Betrugs und in ihn verstrickt. Es hat sich mir immer wieder aufgedrängt, dass die Problematiken des 19. Jahrhunderts historisch geworden sind. Uns trennt mittlerweile zu viel von 104 dieser Zeit. Ein mutiger Regisseur sollte den Ring mit Jazz musikalisch einrahmen “, hörte ich sie noch sagen. Auf der letzten Seite stand: „Angst und Kreativität schließen sich aus. Angst vor einer heißen Herdplatte dient dem Überleben, aber sie blockiert Kreativität. Wenn ich zu mir selbst sage „Ich habe Angst ...“, „Das kann ich nicht ...“, dann wird es auch so sein. Es fehlt existenziell die positive Emotion. Die Kunst bleibt genauso wenig stehen, wie die Zeit. Lassen wir ihr Platz. Anders ausgedrückt, treten wir in die Kommunikation mit ihr ein. Die Anschauung ist nicht der Ausgangspunkt des Erkennens. Sie ist auch nicht der Endpunkt. Wenn wir anschauen, sehen wir nicht den blinden Fleck der Wahrnehmung. Meine Ästhetik ist eine der Irritation und des Ausdrucks, damit wir fühlen, dass wir leben. Da ist man in guter Gesellschaft. Das Schreiben arbeitet mit bei der Bewusstmachung der Gedanken. Auch in der Dichtung auf die Musik des Ganzen achten. Dem „Ganzen“ an den Übergängen nachspüren. Das Ganze ist ein Rätsel geblieben. Es ist rätselhaft geblieben, wie die Teile das Ganze repräsentieren? Welcher Teil ist befugt das Ganze zu repräsentieren? Insofern ist auf die Übergänge zu achten.“ Mir war das alles ganz unverständlich. Da konnte, wenn überhaupt nur Dr. Günther Auerbach weiterhelfen. Ich nahm mir vor, ihn bei Gelegenheit einmal auf die Hintergründe anzusprechen. Am nächsten Tag kopierte ich die Seiten. Als ich am Nachmittag zur Brünetten kam, war sie bereits vom Funk zurück. Das war eher selten. Sie wirkte bereits in der Küche. Ich gab ihr das Original zurück. „Habe die Seiten kopiert und werde sie lesen, lass sie auf mich wirken. Brauche etwas Zeit. Ich habe mir Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ aus dem Jahre 1800 in der Bibliothek bestellt. Es ist etwas lange her. Mir fehlt da oft die Einbildungskraft, um mich in die Denkkonstellation hineinzuinden.“ Sie legte sie zu den anderen Aufzeichnungen. Ihre Dissertation war gegenüber der Menge ihrer Aufzeichnungen ein schmaler Band. Kittler hatte eine Einleitung dazu geschrieben. Sie hatte ihren Doktortitel verdient. Das war ihr auch bewusst. Ich las sie erst zehn Jahre später. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits tot. 105 „Versetze dich nicht zu sehr hinein. Ich selbst erkenne mich nicht mehr in ihnen. Es ist zulange her. Tausend Seiten schreiben, und sie auf 50 Seiten zurückführen. Das ist der Weg. Wir sollten auch jetzt nicht darüber sprechen. Bleiben wir lieber bei der Realpoesie. Es kommt etwas auf uns zu, aber wir wollen nicht dramatisieren. Lassen wir es so, wie es ist. Habe schon etwas angerichtet. Ich brauche etwas Musik. Lege etwas auf, das uns beschwingt“. Mir waren die Äußerungen zwar etwas rätselhaft, aber in solchen Situationen ist es auch nicht hilfreich nachzufragen. Es war wieder Sommer. Ein warmer früher Sommerabend, den man nicht belasten sollte. Die Brünette war von der Chéreau-Jubiläumsinzenierung des Rings 1976 begeistert. Das war etwas nach ihrem Geschmack. Wotan als Zivilist, Siegfried trägt die Werbung von Gunter bei Brünnhilde im Frack vor. Wagner wurde wieder einmal zum Streitobjekt einer weltweiten Öfentlichkeit. Zu seiner besonderen Kreativität gehörte auch der WAHN, ein über die eigenen Verhältnisse und Kräfte leben, ein Herstellen von Distanz, ein sich in eine Fantasiewelt hineinbegeben. Die Höhepunkte der Wagnerinszenierungen nach 1952 werden auch etwas überschätzt. Man verliert dadurch die anderen äußerst gelungenen Auführungen aus dem Blick. Es spielt sich eine Überspitzungsrhetorik von intellektuellen Halbgebildeten ein, die etwas Subalternes hat. Es wird geschmäcklerisch. Gerade in diesem Augenblick als ich das niederschreibe höre ich Catarina Ligendza. Ihr Gesang wird mir auf einmal ganz deutlich. So als er unmittelbar in seinem nachschwingen gegenwärtig. Das führt zum Problem des Zeitbewusstsein zurück. Catarina Ligendza war zwischen 1971-1987 in Bayreuth im Engagement. Wirklich eine großartige Sängerin. Sie hatte als junge Sängerin den Ehrgeiz Wagner zu singen und wurde wohl die jüngste Interpretin. Mit 50 Jahren nahm sie ihren Abschied von ihrer Gesangskarriere und kaufte sich mit ihrem Mann einen Bauernhof in Schweden. Ihr Kommentar war: „Sich noch einmal etwas anderem zuwenden.“ Der Sommer 1977 gestaltete sich anders als erwartet. Die Brünette war mit ihren berulichen Plänen befasst, die sie nicht kommunizierte. Sie beabsichtigte erst im Oktober eine gemeinsame Reise. Mir war das eigentlich ganz recht. Wir sahen uns seltener, aber das tat der Beziehung keinen Schaden an. Irgendwie ging es so weiter, wie bisher. Ich hatte den alten MG im Hinterhof abgestellt und fuhr tagsüber gerne in die Peripherie von Frankfurt. Dort wo die Stadt aufhört und sie in die Felder übergeht. Von der Heerstraße konnte man Richtung Steinbach gehen. Man begab sich durch Felder. Die Elektroleitungen mit ihren großen Aufhängungen regten meine Fantasie an. Es war ein weiter Himmel zu sehen. Im Hintergrund lag der Taunus. Er 106 wirkte so, als sei er aus einem Spielbaukasten, den man nach belieben auch versetzen konnte. Durch die Felder verlief die Autobahn in Richtung Kassel, in den Norden. In diesem Sommer hielt ich mich am Tage gerne dort auf. Man war allein. Es war so, als würde einen alles umrauschen. Am Nachmittag fuhr ich wieder zurück. Gegen 17 Uhr war ich wieder in der Feuerbachstraße. Vorher ging ich noch gelegentlich ins Café Laumer. Dort traf man den einen oder anderen und tauschte sich aus. So blieb ich wenigstens vordergründig auf dem Laufenden. Mir lag zwar nicht sonderlich iel daran, aber die Kontraste rückten mich etwas zu recht, bevor ich mich in die Stille und die Fantasiewelt des Mansardenzimmers zurückzog. Die letzten Wochen kam ich mit den Versen gut voran. Mich beschäftigte die Umsetzung der Blickwinkel in eine reduzierte Sprache. Der Leitfaden war mir schon lang eingefallen: Jede Monade hat ihren eigenen Gesichtspunkt Die Perspektive stellt die Wirkung der Anordnung der Dinge im Raum dar Blick auf die Dinge Die Dinge kehren zurück Es war kein dickes Buch, sondern eher zwanzig Seiten mit Versen. Dr. Auerbach geielen sie. Merkwürdigerweise war auch die Brünette davon angetan, obwohl sie es für eine brotlose Kunst hielt. „Wir sollten eine kleine Lesung an unseren Freitag- oder Samstagabenden veranstalten. Lade ruhig auch den Dr. Auerbach dazu ein. Er wird sich sicherlich anstellig dazu äußern.“ Das war ein großes Entgegenkommen der Brünetten, da ich wusste, dass sie Dr. Auerbach zwar intellektuell schätze, aber mit ihm nicht viel zu tun haben mochte. So wurde ein Freitagtermin vor der Sommerpause in den Blick genommen. Da waren die meisten Freunde der Brünetten noch im Lande. Ab September wurde wieder alles neu aufgemischt. Man wusste nicht, was dann war. Sicher, das war spekulativ, da in der Regel alles so weiterging wie es war. Aber man fantasierte sich gerne in die Wintersaison mit ihren ganzen Unwägbarkeiten. Auch Dr. Auerbach war damit einverstanden. Mir war das eigentlich recht, da er mir zugetan war. Trotz der Unterbrechungen unserer Kontakte gab es ein Grundeinverständnis, das sich einer genaueren Erforschung entzog. Der Freitagtermin war ixiert. Dr. Auerbach war eingeladen. Er beabsichtigte nach der Lesung etwas Anstelliges zu sagen. Von dort her drohte keine Gefahr, eher eine Rückendeckung. Ich war auch vor dem Abend nicht weiter 107 beunruhigt. Es kann vorkommen, dass es nicht gelingt, seine Gedanken auszudrücken, so substanziell sie auch sein mögen und solche, bei denen leer, aber dramatisch wirksam, geredet wird. Merkwürdiger Weise nahm ich den Abend auf die leichte Schulter. Es kam eigentlich von meiner Seite eher auf eine geschickte Inszenierung an. Dafür würde die Brünette schon sorgen. Gerne verstieß ich gegen meine Gewohnheiten. Das waren kleine Kontraste, durch die sich die Wahrnehmung etwas anders einstellt. Spiel des Zufalls, um mit Joseph Conrad zu reden, am Mittwoch vor dem Freitag ging ich schon gegen 12 Uhr am Mittag ins Café Laumer. Am Mittag gab es dort einen Mittagstisch. Insofern war das Café gut besucht. Meist von Angestellten, die in der Nähe beschäftigt waren. Die Art der Nervosität lenkte angenehm ab. Gelegentlich wechselte ich auch ein paar Worte mit einem Gast, da es oft keinen unbesetzten Tisch mehr gab. Ich war aber nicht besonders daran interessiert und mochte lieber vor mich hinsinnen. Gegen 13 Uhr brach ich an diesem Mittwoch vom Café auf. Irgendwie etwas gedankenversunken bog ich gerade in die Feuerbachstraße ab, als mir eine junge Frau entgegenkam. Plötzlich richtete sich der Blick auf sie, als sie gerade über den Zebrastreifen kam. Vor zwei Tagen bemerkte ich sie bereits im Liebig Keller mit einer Freundin und einem jungen Mann. Wir nahmen zwar Blickkontakt auf, sahen uns in die Augen, aber in der Situation war kein Kontakt aufnehmbar. Zudem war ich bereits dabei, bei der Nachbarin ‚an Land zu gehen’. Da ich merkte, dass sie mich abschleppen mochte. Jetzt kam sie gerade, wie aus dem Nichts aufgetaucht auf mich zu. Sie trug ihre blonden Haare hochgesteckt, hatte eine rote Sommerbluse an, unter der man den schwarzen Büstenhalter sah. Manche Dinge ereignen sich in Sekunden. Ich sah sie an, sie zum Kafee im Laumer einzuladen wäre etwas ungeschickt gewesen, da ich gerade dort war. Was sollte ich überhaupt sagen: „Auf dem Rialto? Jetzt am Meer sein!“ Sie sah mich lachend an und antwortete: „Wir beiden am Meer!?“. „Könnte man versuchen, wird aber nicht leicht realisierbar sein. Das Café ist heute besonders stark besucht, bin gerade auf dem Sprung in die Peripherie. Wie wär’s, kommen sie mit. Fahre die letzten Tage Mittags eine Stunde ins Steinbacher Hohl mit Blick auf den Taunus. Das ist ein Kontrast zur Stadt mit einem spektakulären Blick auf Stromleitungen auf denen Vögel sitzen. Durch die Landschaft verläuft eine Autobahn. Fahren mit meinem MG hin. Das ist ein Erlebnis aus den 1950er, 1960er Jahren.“, war darauf die Antwort, ohne dass an etwas gedacht wurde. Wir erleben oft eine Vorgestimmtheit beim Kontakt zu Frauen, aus der sich alles Weitere 108 ergibt. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass dem zugestimmt worden wäre, aber ich hörte: „Jetzt sind sie gleich überrascht, dann fahren wir in diese Peripherie. Mit so etwas rechnet man nicht? Oder? Wie weit haben wir es denn?“. Augenblicklich waren wir in die Feuerbachstraße. eingebogen. Der Ablauf spielte sich in ein paar Sekunden ab. Ich konnte es gar nicht fassen: Wir liefen zusammen die Feuerbachstraße hinunter. Sie teilte mir mit, dass sie Germanistik studierte, an einem Seminar von Prof. Ralph-Rainer Wuthenow über Stadtliteratur teilnahm und ein Referat über Die verlorene Illusion schrieb, sie 22 Jahre alt war und noch nicht lange in Frankfurt studierte. Nach 5 Minuten standen wir vor dem alten MG. Die Germanistin war nicht schlecht überrascht. So ein Mobil kannte sie noch nicht. „Ist aber nicht bequem. Die Sitze sind für Nylonstrümpfe nicht geeignet“, kommentierte ich ihr erstaunen. „Habe keine an. Dann kann es ja los gehen“, war ihr Kommentar. Die Art wie sie sich in den MG setzte, erinnerte mich einen Augenblick an meine erste Frau, aber der Eindruck verlog gleich wieder. Wir rauschten in Richtung Steinbacher Hohl. Es war ein Katzensprung. Wir ließen uns durch die Felder treiben. Die Zeit schien still zu stehn. Die Germanistin erzählte begeistert von dem Seminar über die Stadtliteratur. Das war ein Thema, das sie faszinierte. Als wir zu dem Mobil zurückkamen frage ich sie eher beiläuig: „Gehen wir noch zu mir und trinken einen Tee und runden den Nachmittag ab?“. „Aber ohne Rum, das passt nicht zu den Sommertagen“, sagte sie vor sich hin ohne mich anzusehen. Wenn eine Frau mit einem Mann zu ihm geht, ist die Entscheidung schon gefallen. Das war mir augenblicklich klar. Zwar rechnete ich so ohne Weiteres nicht damit, aber es überraschte mich auch nicht. Es war so ein Gefühl. Ein Gefühl, das sie schon fühlte. Der Rest ist dann Routine. Als wir das Zimmer betraten, ing ich gleich an den Tee zu zelebrieren. „Mach’s dir’s auf der Couchs bequem. Leg etwas Musik auf.“ sagte ich ihr. Ganz selbstverständlich grif in den nächsten Stunden alles ineinander. Wir tranken Tee, aßen etwas und hörten Musik. Es baute sich eine dichte Atmosphäre auf. Man fühlte die Spannung, die zu lösen war. 109 „Zieh dich aus, ich möchte Deine Brustwarze spüren“. „Mach doch“, sagte sie. Wir ielen ineinander. Sie machte einen guten Sex, obwohl sie noch etwas unerfahren war. Danach tranken wir noch Wein und es ging weiter. „Es ist toll, lass ihn in mir, komm dabei hoch,“ sage sie. Dann war alles vorbei. Erschöpfung stellte sich ein. Es war mittlerweile 18 Uhr. Ich war noch mit der Brünetten verabredet, insofern war zu einem Ende zu kommen. „Komm am Freitag mit Dr. Auerbach zu meiner Lesung. Da lernst du die Rundfunkleute kennen. Es lassen sich bei dieser Gelegenheit gut Kontakte für ein Praktikum anbahnen. Ich rufe gleich den Dr. Auerbach an, ob er dich mitnimmt.“ Sie schien davon gar nicht überrascht zu sein. Anscheinend begrif sie die Zusammenhänge, ohne darauf zu sprechen zu kommen. Der Anruf mit Dr. Auerbach war gleich erledigt. Er war bereit sich auf die Sache einzulassen. Diesbezüglich konnte man sich auf ihn verlassen. Für den nächsten Tag verabredeten wir uns Mittags im Café Laumer. Der Fortgang der Geschichte war vorgezeichnet. Auf dem Weg zur Brünetten schmeckte ich noch den Geruch der Germanistin nach. Es war ein wirklich-unwirklicher Tag. Der Freitagabend lief wie am Schnürchen. Die Brünette hatte mehr Kollegen eingeladen, als ich erwartete. Dr. Auerbach brachte die Germanistin mit. Sie macht sich gleich nützlich und half beim Servieren. Das schien ihr gar nichts auszumachen. Sie verhielt sich außerordentlich anstellig. Sie tat so, als hätte sie mich noch nie gesehen. Ihr Verhalten war fast etwas unterwürig, aber irgendwie einschmeichelnd. Sie sah absolut gut aus. Die Brünette nahm keinen Anstoß daran, dass Dr. Auerbach noch eine Begleitung im Schlepptau hatte. Das überraschte mich etwas. Gegen 20.30 Uhr begann die Lesung. Die Brünette hatte die Sitzanordnung sehr geschickt arrangiert. Ich saß an einem kleinen Tisch vor einem ofenen Fenster. Die Gedichte schrieb ich am Vormittag auf einzelne Blätter. Legte sie vor mich, faltete etwas die Hände und trug die Verse frei vor ohne sie von den einzelnen Bögen abzulesen. Dabei variierte ich sie. Nach zwanzig Minuten kam ich zum Ende. Verneigte mich leicht, um das Ende zu signalisieren und zündete mir eine Zigarette an. Zuerst trat eine Stille ein, dann klatschte man. Dr. Auerbach zog zwei Seiten aus der Brusttasche seines Jacketts. Seine kleine Ansprache war beeindruckend. Er begann mit einem Zitat von Versen F. García Lorca: 110 „Sanfte Bücher mit Versen sind Sterne, die ziehen durch Stille und Schweigen im Reiche des Nichts und schreiben auf den Himmel ihre Strophen aus Silber“. Er sprach von„Sprachmagie“, dem„absoluten Blick“ und dem„Zusammenbruch des Intellekts in der poetischen Konstruktion der Welt“. Er endete mit: „Die Dichtung ist ein großes Märchen, das uns verzaubert.“ Auch das kam an. Dr. Auerbach konnte sehr anstellig sein, die Wörter schön setzten und sie mit seinem Körperausdruck gelungen unterstreichen. „Das wird eine gute Sendung“, ließ sich der Boss des Hessischen Rundfunks hören. Er war mir im Gespräch ganz zugetan, was mich etwas wunderte. Dann stellte er der Germanistin mit Blicken nach und suchte das Gespräch mit ihr. „Eine junge Germanistin. Da sollte sich etwas machen lassen. Das ist doch eine gute Idee, rufen sie mich doch die Tage an“, hörte ich ihn sagen. Vermutlich ging es um das Praktikum. Der Abend löste sich in Wohlgefallen auf. Es wurde getrunken und man unterhielt sich gut. Gegen Mitternacht waren die Gäste gegangen. Die Brünette war so rundum zufrieden machte eine Flasche Schampus auf. „Auf dich mein Schatz, Liebe vergeht. Der Schampus wird sie noch etwas beleben“, war ihre Rede beim Anstoßen. Die nächsten Wochen im Juli-August rannten dahin. Mittags kam die Germanistin. Da die Brünette im Rundfunk sehr engagiert war, sah ich sie nicht oft an den Wochentagen. Die Germanistin überraschte mich durch ihre Absicht, eine Eigentumswohnung im Westend zu kaufen. Eine Dachwohnung in einem Neubau, in der man einen Kamin einbauen kann, mit einem kleinen Blick auf die Dächer der Westendszene, kam ihr in den Sinn. Sie erbte von einer verstorbenen Tante ein kleines Vermögen. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Mit einer schönen Dachwohnung als Rückzug kann man besser studieren. Das macht das Studentenleben etwas erträglicher. Die Privilegien in diesem Zustand sind zwar ganz schön, eine kleine Verantwortungslosigkeit, die man genießen sollte, aber so ganz ohne etwas Komfort fehlt der Schutz der „Vorhölle“, wie es Camus darstellt. Sie hatte gerade das kleine Buch Der Fall (1956) gelesen. Ein Buch von Camus, das mir nicht so gut geiel. Es drängt sich bei Camus immer der Vergleich 111 zu Sartre auf. Dazu ist zu sagen, dass beide unterschiedliche Philosophien haben. Camus hat schon 1945 kommuniziert, dass er kein Existenzialist im Sinne Sartres ist. Davon sollte man ausgehen, sonst sind die Irrtümer nicht mehr auszuräumen. Camus begann philosophisch mit Plotin und geht einen anderen philosophischen Weg als Sartre. Wer das nicht erkennt, der kann Der Fremde (1942) nicht angemessen lesen. So wanderten wir tagsüber durchs Westende damit sie es besser kennen lernte. Alles lief am Schnürchen. Die Germanistin fand über einen Makler in der Schwindstr. im Westend eine gut geschnittene und recht große Dachwohnung in einem Neubau, die sie kurzfristig beziehen konnte. Die Gedichte mit dem Kommentar von Dr. Auerbach wurden gesendet. Er konnte dadurch einen Kontakt zum Hessischen Rundfunk herstellen. Zeichen und Wunder, die Germanisten schaltete sich gleich mit dem Boss in der Woche nach der Lesung kurz und hatte ab Oktober ein Praktikum in Aussicht. Das Ganze sprach sie an. Sie meinte, dass verdanke sie unabsichtlicher Weise mir und alles grif gut ineinander. Sie sprach auch im Rundfunk mit der Brünetten, die ihr Praktikum befürwortete. Ob sie das auch durchgewunken hätte, wenn sie wüsste, dass wir es täglich treiben, war, nach dem alles unter Dach und Fach, der erste Gedanke der Germanistin. Ich lies das auf sich beruhen und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Zudem bot Prof. Ralph-Rainer Wuthenow der Germanistin eine Stelle als Hilfskraft am Germanistischen Seminar an. Ihr Referat über Die verlorene Illusion beeindruckte ihn. Sie hatte zu dem Thema Stadtliteratur noch einen Kontrapunkt gesetzt und verglich den Roman mit der ganz anderen Beobachtereinstellung in Ernest Hemingways Paris ein Fest fürs Leben (1965). „Der Beobachter ist zu beobachten. Wie wär’s, wenn wir im September nach Paris fahren“, sagte sie. Dr. Auerbach drängte mich, die Verse für eine Veröfentlichung vorzubereiten. Er hatte gleich seinen kleinen Vortrag zu einem längeren Text bearbeitet. Dabei gab er sich wirklich Mühe. Aber ich verlor an den Versen das Interesse. Der kleine Erfolg machte mich gleichgültig. Normaler Weise würde man das Gegenteil erwarten, aber ich hatte zu den Versen keinen mentalen Zugang mehr. Irgendwie kam mir alles misslungen vor. Zudem war ich nicht in der Lage eine Komposition zu entwerfen. Dr. Auerbach war zwar behillich und ermutigte mich, aber es gelang mir keine zufriedenstellende Fassung des Textes. Die Melodie der Verse ging mir verloren. Ich sang die Verse vor mich hin und versuchte sie zu vertonen, aber es stellte sich für-mich keine Ton-Bild-Vers-Sprache ein. 112 Fern steht das Tier Es fällt der Blick auf eine Wunde Es fallen lange Schatten in die Nacht Nebel steigt empor Er umfasst die Dinge zart Das war nicht fortführbar. Es versetzte in Stimmungen, die, so sie die wie die Farbzusammenstellung von Grün und Rot, einen bedrückten. Ich mochte mich damit nicht mehr beschäftigen und schob das Projekt in eine unbestimmte Zukunft. „Wirklich schade, dass du dich nicht überwinden kannst. Es könnte ein wirklich schöner Band werden. Lass es halt im Unbewussten weiter wirken“, tröstete Dr. Auerbach. Die Beziehung zur Brünetten gestaltete sich aufällig problemlos. „Wenn du Lust hast, mache es einfach mit mir. Ich bin zurzeit mit anderen Dingen beschäftigt und kann mich anderen nicht so emotional Zuwenden. Wir sehen uns in den nächsten Wochen nicht so oft, da können wir, wenn du kommst, gleich Sex machen. Lass dich da von meinem Zustand nicht irgendwie abschrecken. Wenn wir’s treiben, so tut mir das doch gut“, so ihre Rede. September 2009: Ein alter Freund rief an und überredete mich dazu, die im Centre Georges Pompidou, Paris stattindende Ausstellung von 200 Fotos der Surrealisten aus der heroischen Phase der 1920-30 Jahre zu besuchen. Sie ist die Künstlergruppe, die sich für die Fotograie begeisterte. Für sie funktioniert die Fotograie so wie das automatische Schreiben. Die Subversion der Bilder bedeutete auch einen subversiven Umgang mit der Technik. Die Fotograie ist ein Lieblingsspielzeug der Surrealisten. Man bringt zwei Dinge zusammen, die nichts miteinander zu tun haben und wartet auf den Funken. Keine schlechte ästhetische Einstellung. „Schule Deine Augen, indem du sie schließt.“ André Breton. Bei dem Aussteigen auf der Rückreise wurde wieder die Erinnerung an den September 1977 ausgelöst. Bei dem Weg aus der Bahnhofshalle erlebte ich die Rückkehr aus Paris mit der Germanistin. Die Brünette hatte gar nichts dagegen als ich ihr mittelte, dass ich die Absicht hegte, ein paar Tage nach Paris zu fahren. Ich sollte mich ruhig eine Woche absetzen. Sie sei im September richtig zugepackt. Es war mit der Germanistin in Paris eine fast etwas zu zwanglose Zeit. Alles ging so ineinander über. Vor allem war sie nicht nur von den Bildersammlungen, sondern auch vom Lido beeindruckt. Als wir 113 nahezu an derselben Stelle die Frankfurter Bahnhofshalle verließen sagte sie: „Jetzt geht’s in nächste Semester und darüber hinaus. Einen Doktortitel möchte ich aber. Und dann vielleicht, sogar an den Funk. Grüß mir die oder Deine, so etwas ähnliches, Brünette. Die wird dich etwas mit leicht bestimmten Blick heute Abend empfangen. Schade, dass du ihr nicht sagen darfst, dass wir beide einen, ja was, absoluten Trip nach Paris hinter uns haben. Schlaf dich dann aus und wir sehen uns übermorgen. Hole dich ab. Danach trefe ich meinen Chef für die Besprechung für das Praktikum im Rundfunk. Küssen dürfen wir uns ja nicht vor dem Bahnhof, es könnte rein zufällig ein unerwünschter Blick vorbeihuschen und morgen weiß es halb Frankfurt.“ Ich ging dann noch ins Café Schwille und sah der Germanistin nach, als sie sich auf den Weg zur Straßenbahn machte. Manchmal sah ich Frauen auch gerne von hinten, wenn sie von einem weggingen. Am Gang erlebt man etwas von ihrem Ausdruck, gerade dann, wenn man sie nicht in der Frontansicht auf einen zukommen. Am frühen Abend hatte ich mich bei der Brünetten angekündigt. Im Café Schwille fand ich Alfred Edel vor, der sich zwar in Gesellschaft befand, sich mir aber schnell zuwandte. Er war ganz neugierig und ließ mich über die Ausstellung erzählen. Er mochte sich wieder gelegentlich mit mir trefen und austauschen. Wie nicht anders zu erwarten, sah er mich bereits tagsüber mit der Germanistin und fragte mich aus. Das störte mich weiter nicht, und er kam auf seine Kosten. Dann machte ich mich zur Brünetten auf. Es war kurz vor 17 Uhr als ich dort ankam und erwartete nicht, dass sie schon da war. Eine Stunde zu mir Selbstkommen würde gut tun. Als ich etwas abwesend den Schlüssel zur Wohnungstür herausholte, so als hätte die Brünette es geahnt, öfnete sie die Tür und stand vor mir. Sie strahlte mich an. So locker sah ich sie schon lange nicht mehr. „Zurück von deinem Paristrip. Komm rein du alter Fremdgeher. Das traue ich dir zu, aber da ich dich schön mit Arbeit eindecke, kommst du ja nicht dazu“, waren ihre Worte. Sie lachte. „Also: Das Unwahrscheinliche ist eingetreten. Du wirst es nicht glauben. Habe schon etwas für uns zum Essen angerichtet und Schampus kalt gestellt. Heute Abend wird angestoßen. Am kommenden Dienstag ist es soweit: Du darfst mich auf dem Bildschirm bewundern. Es wird vom Rundfunk zum Fernsehen gewechselt. Jeden Abend um 21 Uhr. Bin ich nicht toll. Erzähle dir dann auch etwas darüber „Kabale und Liebe“ oder „Gott sei Dank, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“, obwohl die Geschichte mit dem „Rumpelstilzchen“ nicht gut endete. Das beschreibt es ganz gut“, so ihre Worte. Sie umarmte mich, und wir gingen den Schampus öfnen. Ich 114 war wirklich sprachlos. Der Schampus wurde geöfnet. Die Brünette erzählte und lachte. „Bin ich nicht toll“, sagte sie immer wieder. Das war wirklich nicht zu beschreiten. Die nächsten Tage gingen ganz selbstverständlich ihren Gang. Am Dienstag 21 Uhr war die Brünette auf dem Bildschirm. Man merkte ihr an, dass sie sich dabei gut fühlte. Ich kam nicht umhin, an diesem Abend mit dabei zu sein. Nach der Sendung gab es mit den Kollegen einen kleinen Umtrunk. Der Boss des Hessischen Rundfunks gratulierte ihr etwas unterwürig. In unserer Beziehung gab es eine Unstimmigkeit, die sich auch unter guten Bedingungen nicht aulösen ließ. So endete unsere Kommunikation meistens mit einer gewissen Distanz, die man auch dann noch spürte, wenn man sich entgegenkam. Sie stand in der Mitte ihrer Kollegen und strahlte. Alle fanden sie toll. Ich hielt mich mehr im Hintergrund. Mein Verhalten war eher zurückhaltend, fast etwas indiferent. Das wurde aber nicht unangenehm aufgenommen, sondern passte als kleiner Kontrapunkt in die gute Stimmung. Auch die Germanistin war anwesend. Sie lirtete mit dem Boss und warf mir zwischendurch Blicke zu. Das waren Blicke für Eingeweihte, die zugleich Distanz signalisierten. Das machte sie wirklich gut. Als sie kurz demonstrativ zu dem Boss sagte „Bin gleich wieder da“, folgte ich ihr in Richtung Toilette. In dem Gang davor wartete sie. „Wir sehen uns aber morgen bei dir, bin um 15 Uhr da. Ist ja eine tolle Veranstaltung. Da bekomme ich viel Kontakte“, sagte sie. Ich grif ihr an die Brust. „Ich merk dich schon, also bis morgen, schwirre jetzt wieder zu den Anderen, damit nichts aufällt“, war ihre Rede. Ich ging noch etwas in den Gängen umher und mischte mich dann wieder unter die Anwesenden. Als ich wieder zurückkam, gesellte ich mich mit einem Kollegen vom Funk zu dem Boss und der Germanistin für einen Plausch. Der Boss war von der Germanistin völlig eingenommen. Als wir zu den beiden traten, gab er sich gleich als einer, der das Füllhorn ausschüttet: „Ja mein Lieber, deine Lesung war wirklich toll, wir hätten dir weiter zuhören können. Jetzt warten wir aber auf das Buch. Dichtung bedarf keiner dicken Bücher. Da kommt es auf das Essenzielle an. Habe mir die Sendung bei uns noch einmal angehört. Aber was sage ich da! Stoßen wir an. Denk 115 an das Feature über die Szene in Frankfurt 1965. Cafés, Straßenbahnen, das Café Alfa nicht vergessen. Da wird bei dir so einiges im Unbewussten gespeichert sein. Bau’ auch etwas von den Versen ein. Kontrastieren! Aber jetzt auf deine Chein – so nannte er die Brünette gelegentlich – und unseren jungen Nachwuchs – dabei sah er die Germanistin an“. Er konnte in diesem Stil stundenlang reden. Ich fand das geschmacklos, hohl, ein typisches Vorgesetztenschwadronieren, eine himmelschreiende Geistlosigkeit und Selbstbeweihräucherung. Dazu kam noch der Gestus, der die Gaben an seine Günstlinge verteilte. Es kam aber an und förderte die Abhängigkeit. Er wusste zwar, dass mir das nicht imponierte, doch die Situation war günstig, um sich mit seinem Redestrom uns gegenüber auszuleben. Vor allem legte er es darauf an, die Germanistin zu beeindrucken. Ich habe ihn für halbgebildet gehalten, aber da mochte ich ihn auch unterschätzen. Er hatte auch seine argumentativen Stärken. Dazu gehörte es, Probleme autoritativ auf einen Punkt zu bringen. Das bringt zwar Vereinseitigung mit sich, aber verdeutlicht und bindet die Aufmerksamkeit. Das braucht sich auch nicht dramatisch auszugestalten, wenn man auch wieder einen Schritt zurücktreten kann. Mich störte weniger dieser Umstand, der situativ gar nicht zu vermeiden ist, sondern der Gestus. Dann wandte er sich der Germanistin zu und legte gleich weiter los: „So, eine Germanistin bei unserem Ralph-Rainer Wuthenow. Montaigne ist sein Liebling. Lese gerade ein Essay für uns von ihm über Rousseau. Ein großes Essay ist. Einfach genial. Ein guter Freund. Ich spreche mal mit ihm. Er braucht Talente. Beklagt sich darüber, dass sich die Seminaristen nicht engagieren. Wir werden uns ja auch in den nächsten Monaten über den Weg laufen, wenn sie bei uns sind. Wenn etwas ist, kommen sie einfach bei mir vorbei. Gleich zum Chef gehen. Dann weiß man schon Bescheid. Also keine Hemmung.“ Der neu einsetzende Redestrom wurde Gott sei dank dadurch unterbrochen, dass die Brünette die Arme etwas reckend zu uns kam und aufbrechen mochte. „Wir setzen uns jetzt ab. Morgen geht’s gleich weiter. Stoßt noch einmal an.“ So gesagt, getan. Es gab auch weiter keinen Widerstand, der auch zwecklos gewesen wäre. Von außen wirkte es wohl so, dass mich die Brünette aulas. Dem war schwer entgegenzuwirken. Mir machte das auch weiter nichts aus. Sie sprach noch kurz wohlwollend ein paar Sätze mit der Germanistin, der Boss war vor allem von ihr höchst eingenommen. Es wird wohl ein etwas merkwürdiges Daherkommen gewesen sein, als die Brünette mich abholte. Er mag so ausgesehen haben, als würde sie noch ein paar Zigaretten im Tabakladen auf dem Weg zum Zug kaufen und wir beide zusammen kein Taxi zum Westend nahmen, sondern einer zum Taxi mitgenommen wurde. 16. Oktober 2009 116 dIe entscheIdung Mir kommt das Erleben ganz unwirklich vor. In der Erinnerung stellen sich die Jahre 1977 und 1978 ein. Sie treten so wie aus einem Schleier hervor. Ein verschleierte Bühne, die punktuell ausgeleuchtet wird. Der Scheinwerfer richtet sich auf eine Stelle in diesem unbestimmten Bühnenraum. Es taucht etwas auf, um dann wieder zu verschwinden. Die Beleuchtung kennzeichnet eine unmarkierte Welt und etwas Bestimmtes tritt hervor. Eine Inszenierung beginnt, ohne dass man sagen könnte, es gäbe dabei eine Regie. Da Erleben kennt keinen Chef. Alles rannte auf Weihnachten 1978 zu. Die Brünette war jetzt abends auf dem Bildschirm. Sozusagen pausenlos. Das geiel ihr. Es iel etwas von ihr ab. Die veränderte Situation hatte jedoch zur Folge, dass unser Alltag grundsätzlich neu zu regeln war, da wir uns an den Wochentagen abends gar nicht mehr sahen. Sie ing dann auch an, länger am Vormittag zu schlafen. Zuerst traten keine merkbaren Einschnitte ein. Die Brünette wurde mir gegenüber etwas betont großzügig. Im Oktober logen wir am Wochenende zweimal nach Rom. „Kurzer Trip zum Tapetenwechsel“, war jetzt ihre Orientierung. Gelegentlich lagen wir samstags tagsüber im Bett und hörten Musik. Es war also genug Zeit mich mit der Germanistin zu trefen. Zudem eigneten sich die Rundfunkarbeiten als gute Ausrede für meine „Dates“, wie man damals sagte, während der Woche. Es galt der Marcel ProustSatz aus der Suche nach der verlorenen Zeit, mit dem Monsieur Charlus die Telegramme von Saint-Loups gegenüber Gilberte kommentiere: „Komme erst morgen, Lüge folgt gleich“. Die Germanistin hatte sich in ihrer Eigentumswohnung schnell eingelebt, ging ihren Studien nach, war studentische Hilfskraft und ing ihr Praktikum an. Es fällt einem dabei der bekannte Thomas Mann-Satz auf dem JosephsRoman ein „Ich gönne, wem ich gönne, sprach der Herr“. Literatur war ohne Ende Tagesthema. Das wurde noch dadurch begünstigt, dass ich mich mit der Germanistin und Dr. Auerbach öfter in der Woche traf. Er war von dem Feature-Projekt ganz angetan und bot seine Unterstützung an. Man wird es nicht glauben, ich ing wirklich mit dem Feature Frankfurt 1965 an. Dass ich gewaltige Widerstände zu überwinden hatte, lag nahe. Es war 117 durch den Tod meiner ersten Frau die schrecklichste Zeit in meinem Leben. Die Germanistin und Dr. Auerbach wirkten dabei mit, das machte es erträglicher, da Dr. Auerbach seine Zeitperspektive einbrachte und die Germanistin auf Entdeckungsreise in die Vergangenheit ging. Sie konnte aus ihrer Sicht etwas dazudichten. Wir hatten viel Spaß das Feature zu arrangieren. Tagsüber rief ich die Brünette an und sagte ihr „Bin mit Dr. Auerbach mit dem Feature zugange“. Sie hatte damit kein Problem. Das war nicht gelogen, da ich mich mit Dr. Auerbach am Abend bei der Germanistin traf und wir am Feature wirkten. Das Ganze hatte aber, was für einen nicht Betrofenen ofensichtlich ist, mehr als einen Schönheitsfehler. Die Brünette war auch so mit ihrer neuen Aufgabe beschäftigt, dass es nicht viel dagegen einwand. Die Germanistin beeindruckte das außerordentlich. Sie fand das alles toll. Gegen Mitternacht machte sich Dr. Auerbach vom Acker. Er schifte sich dann auf dem Homosexuellenwackel in der Anlage zwischen dem alten Opernhaus und dem Eschenheimer Turm ein. Dort ging er auf Fang. Er brauchte jeden Tag ein anderes sexuelles Erlebnis. Das hat er in den 1980er Jahren mit Aids bezahlt. Der Germanistin wurde gegen Mitternacht noch einmal richtig wohl, warf noch einen auf den Kamin, entkorkte eine Flasche Wein und „versinke lang“ war angesagt. Die Tage von Oktober bis zum Jahresende grifen ineinander, ohne dass irgendein Problem auftauchte. Die Brünette entschied an Weihnachten in Frankfurt zu bleiben, die Germanistin fuhr zu ihren Eltern. Das Jahr 1977 löste sich in Wohlgefallen auf. Aber der Geist der Veränderung arbeitete unter der Erde. Er war unsichtbar, aber doch wirksam. Es war immer etwas los. Das Verhalten der Brünetten hatte sich, neben ihrer Großzügigkeit, auch dahin geändert, dass sie fortlaufend sprach. Vom Fernsehen, den Kollegen und was ihr so durch den Kopf schoss. Sie war auch gegenüber dem Boss des Hessischen Rundfunks positiv gestimmt. Sonst neigte sie zu einer ironischen Distanz. Ich hörte mir das gelassen an. Es machte mir eigentlich nicht viel aus, obwohl es mir auch zu viel wurde. Aber es gab dafür von der Brünetten genug Kompensationen. Eigentlich konnte ich mich beklagen. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als ob man gelebt wurde, sich die Ereignisse aneinanderreihten, ohne dass der Faden, an dem sie hingen für die Beteiligten sichtbar gewesen wäre. Ehe ich mich versah war Weihnachten 1977 vergangen. Die Brünette mochte nicht vereisen. Wir blieben meistens in ihrer Wohnung, aßen und tranken über die Massen, hörten Musik und gingen tagsüber eine Stunde durch die Stadt ohne weitere Verabredungen zu trefen. Da Dr. Auerbach und die Brünette mich in den Wochen davor zunehmend bearbeiten, einen Band mit Versen zusammenzustellen, gab ich ihnen was ich so hatte. Sie stellten 118 einen kleinen Band mit einem Beitrag von Dr. Auerbach zusammen. Zwischen den Jahren las die Brünette den Text noch einmal und schlug Verbesserungen vor. Sie waren nicht so grundsätzlich, aber, wie nicht anders zu erwarten, professionell und hilfreich. Dr. Auerbach gab sich außerordentlich viel Mühe, die mich anrührte. Bei einem unserer Sitzungen interpretierte er mir die Verse von Arthur Rimbaud Marin (Seestück). Dabei war er ganz verwandelt. Er sprach über die Baudelaire und Rimbaud. Die Marin-Verse (Seestück) sind die ersten freien Verse, die wir in der französischen Sprache kennen. Sie sind aus dem Jahre 1872. Man glaubt es nicht, wie da gedichtet wurde. Ich sagte sie mir immer wieder vor, im Französischen klingen sie noch anders: „Seestück Die silbernen und kupfernen Wagen – Die stählernen und silbernen Buge – Schlagen den Schaum, -Heben die Strünke der Dornen empor. Die ströme der Heide, Die unermesslichen Furchen der Ebbe Ziehen kreisend gen Osten, Hin zu den Pfeilern des Waldes, Hin zu den Stämmen des Damms, Den an der Kante die Lichtwirbel stoßen.“ „Martine Les chars d’argent et de cuivre – Les proues d’acier et d’argent – Battent l’écume – Soulèvent les souces des ronces. Le courants de la lande, Et les ornières immense du relux, 119 Filent circulairement vers l’est Vers les piliers de la forèt, Vers le fûts de la jetée, Don’t l’angle et heurté par des tourbillons de lumière.” Dr. Auerbach rezitierte sie noch einmal ganz ruhig und langsam auf Französisch. Plötzlich hielt er inne. Sein Gesicht wurde einen Augenblick ganz ausdruckslos, so als sei er gar nicht anwesend. Es war ein paar Sekunden ganz ruhig. Wir hörten nur in uns hinein. Dann bekam sein Gesicht wieder die vertraute Lebendigkeit. „Rimbauds „Je est un autre“ ist eine selbstreferenzielle Poetologie, die Negation des persönlichen Ich, durch die der Dichter zum Seher wird. Er handelt im höheren Auftrag, ohne von einer höheren Instanz ermächtigt zu sein. Es ist eine, auch extatische, Selbstermächtigung der Einbildungskraft, die in eine andere Welt verweist, die uns im Alltag verschlossen ist. Es ist die Ermächtigung des Traums als eine neue Realität. Die Beschäftigung mit Träumen ist nicht etwas Besonderes. Das Rimbaud Problem ist anders gelagert: Er schneidet uns das Sein im Diesseits ab. Aber es gibt kein Jenseits, keine Transzendenz. Er führt uns zu dem Unbekannten, das nur im Traum wirklich ist. Die Freiheit der Einbildungskraft bricht in eine unlogische Poesie auf. Sie bricht in ihr zusammen. Seine Schweigen, seine uns so fremde Biograie ist kein Rätsel. Du erinnerst mich an Rimbaud. Es ist Deine Unruhe, die mich an ihn erinnert. Achte bei den Versen auf die Einblendungstechnik. Sie verbindet die Dichtung mit der Malerei.“ so sprach Dr. Auerbach noch weiter, bis sich seine kleine inspirierende Darlegung in unser weiteres Gespräch aulöste. Die Germanistin holte noch eine Flasche Weiswein. Sie wurde begutachtet. Wir kamen vom einen zum anderen. Rimbaud rückte in den Hintergrund. Es war so, als sei nichts gewesen. Mir waren die Verse mittlerweile ganz fremd geworden. Ich tat mich sehr schwer, sie für eine größere Öfentlichkeit freizugeben. Das lag weniger an einer Unzufriedenheit mit dem zustande gekommenen Text, sondern das Desinteresse verstärkte sich zunehmend. Irgendwie führte mich etwas davon weg, das nicht zu beschreiben war. Insofern gab ich die Sache aus der Hand und überlies es der Brünetten und Dr. Auerbach den Text in die Welt zu bringen. Meine Einlassung 120 „Es sollte ein Geheimbuch bleiben“ wurde von der Brünetten nicht ernst genommen. Sie sagte nur „George! Abstrus!, Typisch! Komm zum Ende! Das wird Dein Unglück sein: Unruhe und nicht zum Ende kommen. Du bist ein Verlorener. Du hast aber einen Vorteil, bei dir kann man regredieren ohne sich zu verlieren. Das geht nur bei Indiferenten. Aber wem sag ich das!“. Die Brünette unterbrach sich, wandte sich einem anderen Thema zu und lenkte dadurch ein. Sie sprach auch nicht so ganz ernst. Lachte dabei und schenkte sich ein Glas Wein ein. Ich selbst nahm die Rede auch nicht ernst, da sie vom Fortgang des Abends keinen Weiteren Einluss hatte. Man ging dann zu einem anderen Thema über. Was den Gedichtband betraf, so ließ ich sie gewähren. Ich war mit den Gedanken bei meinen Zeichnungen, die mich aber auch nicht mehr innerlich bewegten. Dr. Auerbach gab mir Empfehlungen aus der französischen Literatur des 18. Jahrhundert mit der Bemerkung: „Das kennt man hier nicht, das sind Fundgruben. Das wird dir gefallen. Das Französisch hat eine Musikalität, die einen auf andere Gedanken kommen lässt“. Zu der Zeit war lesen eine gute Flucht, die mich ein Stück weit zu mir selbst kommen ließ. In der Winterzeit bedarf es der guten Unterhaltung, die einem über das fehlende Licht hinweg verhilft. Man fühlt sich oft so, als würde man schrumpfen. In meinen Jahren ist aber die Unterhaltung eher selten. Man muss sich selbst unterhalten. Dazu fehlen oft die Stimmung und der Antrieb. Die Wochen strichen im Januar und Februar 1978 so dahin. Die Germanistin war leißig und fand eine etwas übertriebene Anerkennung. Die Brünette ging in ihrer neuen Position und Rolle auf. Mir kam es so vor, als bewegte sie so etwas wie ein etwas schlechtes Gewissen mir gegenüber. Das zeigte sich in ihrer Großzügigkeit. Es kam mir so vor, als beabsichtige sie damit, sich für ihre spektakuläre Karriere zu entschuldigen. Dafür war zwar gar kein Anlass, aber es schlichen sich kleine Unstimmigkeiten in die Beziehung ein. So erlebte ich ihren Hang zum plötzlichen punktuellen ausbrechen aus ihrem Alltag als Zwangshaft. Sei es, dass sie an freien Tagen nach Paris fahren mochte oder mir etwas schenkte. Sie machten sich zwar nicht dramatisch bemerkbar, es stellte sich irgendwie eine gefühlmäßige Dissonanz ein. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als lag es gar nicht so sehr an ihrem Verhalten, sondern dass mich ihre Sexualität nicht mehr anzog. Das lag wiederum nicht an der Beziehung zu der Germanistin, die zunehmend zu erotischen Forderungen neigte, sondern ich verlor beiden gegenüber nicht nur ein sexuelles Interesse, sondern mochte mich gar nicht in diese Richtung betätigen. Irgendwie wurde ich 121 von beiden weggetrieben. Daraus folgte aber in den kommenden Monaten nicht, dass ich selbst an den Beziehungen etwas veränderte. Es stellte sich eine Gleichgültigkeit ein. Ich ing an, mir selbst über die Schulter zu sehen. Es wirkte im Unbewussten, ohne dass zugänglich gewesen wäre, was sich dort vorbereitet. Nur die Intensität, von dem, was da geschah, war zu spüren. Es versetzte mich in einen nicht begreifbaren Zustand von Fremdheiten. Die Germanistin hatte wirklich eine glückliche Hand. Am Ende ihres Semesters war sie stimmungsmäßig oben auf. „Jetzt geht es vorwärts. Fange an zu planen. Mache erst mein Staatsexamen für die Schule und das Referendariat. Da bin ich auf der sicheren Seite. Mein Professor hat mich schon für eine Doktorarbeit vorgesehen. Er meint „Das kann nicht anders sein. Da kann ich gleich Kontakt halten. Auch im Rundfunk komm’ ich an. Bin auch ganz anstellig. Lass aber keinen an mich ran. Mit Sex kann man keine Karriere machen. Das sind Märchen. Du wirst sehen, das wird klappen. Das verdank ich nur dir. Ich bin gar nicht eifersüchtig auf deine Brünette. Sollte man eigentlich sein. Aber wir haben ja beide unsere Präferenzen. So wie es jetzt ist, gefällt es mir.“ Sie ing an, sich auf mich zu ixieren. Das passte mir, bei allem, was ich mit ihr erleben durfte, nicht so. Ich ing an mich von ihr zu beansprucht zu fühlen. Das Schreiben der Verse zog mich in den letzten Monaten in die Traumwelt hinein. Die Einbildungskraft ging auf Reisen. Es waren die Farben, die Töne und der Rhythmus der Verse, der mich ganz gefangen hielt. Die diktatorische Einbildungskraft ing an, mich zu irritieren. Um den Zugang zum Tag zu inden, nahm ich nach dem Aufstehen eine kalte Dusche. Das versetzte in einen anderen Bewusstseinszustand. Ich kam erst dann zu mir, nachdem ich die Brünette oder die Germanistin verlies, noch einmal in die Stadt ging, etwas umherstreifte und mich dann in die Feuerbachstraße zurückzog. Dort hörte ich etwas Musik und sah aus dem Fenster. Im September 1977 nahm der Marokkaner wieder mit mir Kontakt auf. Sein Hotel lief ausgesprochen zufriedenstellend. Er plante, ein weiteres Haus zu eröfnen. „Komm doch ein Jahr und helfe mir beim Management. Brauche jemand, auf den ich mich verlassen kann. Das wird toll. Dein Französisch ist leidlich. Es wird dich auch poetisch inspirieren“, so das Angebot des Marokkaners. Mir kam das nicht ungelegen, da ich in der Stimmung war, den Ort zu wechseln, um mich von den Beziehungen, in denen ich mich bewegte, zu befreien. Aber mir fehlte die Entschiedenheit, den Schritt zu tun. Es war keine Ängstlichkeit, für einige Zeit nach Agadir zu gehen, es hätte mir andere Horizonte eröfnet. Mit dem Marokkaner verband mich ein gegenseitiges Verständnis, das uns beide in Zuständen der 122 Niedergeschlagenheit wieder aufrichtete. Wir konnten zu zweit Dinge tun, die wir als Einzelne nicht vermocht hätten. Der Zustand, in dem ich mich befand, bannte mich jedoch. So sagte ich dem Marokkaner zwar mehr oder weniger zu, verschob die Entscheidung aber auf das kommende Jahr. Wir telefonierten regelmäßig, so war ich auf dem Laufenden, aber ich war zu schwach, mich von Frankfurt und allem, was für mich dazugehörte, loszureißen. Es hatte sich eine unsichtbare Abhängigkeit an die Zuneigungen, die ich erlebte, eingestellt. Gegen sie konnte ich mich nur schwer wehren. Ich ahnte aber, dass die Beziehungen zur Brünetten und der Germanistin sich zu verändern begannen. Das war kein bestätigtes Wissen, sondern ein Geschehen, das sich aus dem Umgang mit ihnen einstellte. Dr. Auerbach arbeitete an seinem Rundfunkessay zu der Entdeckung des französischen Blickwinkels, wie er es nannte. Es ging um die neue Anthropologie des Plaisir und um die Unterscheidung zwischen Plaisir und Amour. Darüber sprach er mit der Germanistin und mir an einem unserer Abende. „Es geht nicht mehr um das gute Leben. Plaisir hat, wie das Cartesianische ego cogito, keine weiteren Kriterien. Es ist unbestreitbar und unmoralisch. Es ist Selbstreferenz ohne eine weitere Bestimmung und besteht nur in dem Erlebnisaugenblick. Nur durch Plaisir sind wir wirklich Menschen. Eine neue Anthropologie, die den Aristoteles ablöst. Die Art de Plaire ist eine neue Kunst des Umgangs, die dem Verhalten eine Deckung gibt. Insofern kann man gar nicht damit aufhören: Plaisir ist reine Selbstgewissheit. Liebe kann dann keine Dauer mehr haben. Was wird dann aus der Tugend? Tugendhaftigkeit war keine Zier, wie in Lessings „Minna von Barnhelm“, einer Gegenbewegung gegen die französische Permissivität. Die Sexualität wird durch den Übergang zur sozialen Beobachtung von ihrer religiösen Überwachung befreit. Das macht es aber schwer, sie in Liebe und auch sozial einzufangen. Es bedarf dann der Freundschaft als Kompensationen. Die Antwort darauf war die Victorianische Prüderie. In der Erregung wird die Selbstgewissheit des Plaisir zu einem Unbestimmten X. Es wird zum reinen Selbsterleben des Leibes von Mann und Frau. Sicher, das hat im Fortgang durch die neue Kasernierung der Sexualität in der Ehe abgefangen zu werden. Plaisir, Sexualität und Gewissheit wird zum Inkommunikablen. Es wird zu einer fortlaufenden Tilgung der Zeit, die kein Anfang und Ende hat. Was wird aus der amour passion? Wird sie zur fortlaufenden Selbstentfremdung, Eroberung und Selbstunterwerfung in der sie sich darstellt?“, so die Ausführungen von Dr. Auerbach. Er sprach dann noch über Individualität und Selbstreferenz, die einem Nullpunkt entgegenstrebt. Einem Punkt, an dem die Magie anfängt und eine Verzauberung des Augenblicks eintritt. 123 „Dann hört das Plaisir aber nicht auf, es sei denn Erschöpfung tritt ein. Eine sich erschöpfende Selbstgewissheit, die nicht aufhören kann. Eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus sich selbst. Können wir uns darin selbst inden? Das wird so nicht eintreten, da das Plaisir zu keinem Ende kommt. Kann das Plaisir sich selbst bewusst sein? Wir können uns doch gar nicht in ihm erkennen, da es als Selbstgewissheit zeitlos und ohne Anfang und Ende ist. Es bleibt nur der Sex. Sex ist endlich und erschöpft sich. Er ist zu wiederholen. Sein Höhepunkt ist sein Ende. Die Selbstgewissheit darf aber nicht aufhören“, so die Germanistin. Das beeindruckte Dr. Auerbach. Er lehnte sich etwas zurück und schwieg einen Augenblick bevor er antwortete: „Wenn wir anfangen, uns mit der Unterscheidung Plaisir/Nicht-Plaisir zu beobachten, dann wird Plaisir verzeitlicht. Es besteht ein früher und später, ein Anfang und Ende. Der Chorismos ist dann nicht mehr zu überbrücken, auch nicht durch Amour. Es bedarf eines weiteren Ereignisses, um anzufangen, aufzuhören und fortzufahren. Die sexuelle Ausschweifung ist dann der magische Nullpunkt, der immer wieder eintritt. Er ist eine Urgewalt der Selbstschöpfung und Selbstzerstörung. Was sich dabei ereignet ist eine Vergeblichkeit, die von sich nicht lassen kann. Ein wirkliches Dilemma. Es bedarf dann der Ästhetik, um die Plaisir-Ereignisse erlebbar zu machen: Plaisir wird in ein schönes Plaisir verwandelt. Ich kann es schwer fassen. Mir fehlen die Wörter. Plaisir ist nicht kommunikabel. Das teilt es mit Descartes ego cogito, der Gewissheit von der aus der Zugang zur Welt erfolgt.“ Dr. Auerbach wirkte plötzlich eher unsicher, so als wüsste er nicht weiter. Die Germanistin half ihm aus der Verlegenheit, indem sie noch Wein und Gebäck auftischte. Von Dr. Auerbachs Rede, seiner Wortwahl und Gebärde war die Germanistin beeindruckt. Mir war das von ihm geläuig, und ich konnte mich oft auf seine Ausführungen nicht konzentrieren. „Schade, dass der Dr. schwul ist, das wäre doch einmal eine Plaisir“, sagte mir die Germanistin als wir zu zweit den Abend mit Brahms ausklingen ließen. „Brahms, Plaisir und zum guten Schluss noch etwas abkippen. So stelle ich mir das Leben vor, aber der Rahmen sollte stimmen“, kam über ihre Lippen. Dr. Auerbachs kleine Plaisirvorlesung war ein Teil seines Essays, das er für den Hessischen Rundfunk fertigstellte. Er war mittlerweile dort gut eingeführt und man schätzte ihn. Auch die Brünette äußerte sich wohlwollend, obwohl man es ihr schwer recht machen konnte. Sie lud ihn aber nicht zu 124 ihren Abenden ein. Darin hatte sie eine Unnachgiebigkeit, die oft schwer nachzuvollziehen war. Es hing vermutlich damit zusammen, dass ihre Gäste ganz auf sie selbst abzustimmen waren und sie sich keinen Irritationen aussetzen mochte. Es ist schwer zu sagen, ob sich darin ihre Stabilität oder eine Anfälligkeit für Irritationen ausdrückte. Wie es sich auch verhalten mochte, ihre Kommunikation war sehr ausgewählt. Vermutlich verfolgte sie damit auch ihre Interessen. Das schloss es wiederum nicht aus, dass sie ganz unerwartete Einladungen aussprach. Nachdem sie regelmäßig auf dem Bildschirm gegenwärtig war, verstärkten sich noch ihre persönlichen Abgrenzungen. Sie hatte eine Art, Nähe und Distanz herzustellen, die einen vereinnahmte. Wie das so ist, der Zufall spielt mit. Dr. Auerbachs Essay stieß im Funk auf Interesse. Das war Anlass ihn dazu zu motivieren, es an einem Abend vor seiner Sendung bei der Brünetten vorzustellen. „Ist doch eine Abwechslung. Wir laden noch Redakteure ein. Sehe die alten Kollegen jetzt kaum noch. Bin auch nicht mehr in der Kantine. So verliert man den Kontakt. In der Fernsehredaktion sind andere Typen. Die sind alle auf die bewegten Bilder ixiert. Auf den Budenzauber der großen Rituale unserer Republik, sei es die Tagesschau, die Sportschau am Wochenende oder das Wort zum Sonntag. Das läuft zwangsläuig auf den Abbau von Niveau hinaus. Ein akademisches Thema kann nicht schaden. Was meinst du dazu?“. Was sollte ich schon dagegen haben. Es klang auch nach einer rhetorischen Frage. Mir geielen die Abende schon eine ganze Zeit nicht mehr, obwohl ich gar keine Erklärung für das Unbehagen hatte, das sich bei mir einstellte. Von Außen gesehen waren sie gelungen. Es wäre schwer gefallen, einen Anlass zu irgendwelchem Unbehagen auszumachen. Die Abende hatten einen Unterhaltungswert und waren ein Kontrast zum Wochenablauf. Den Gästen geielen sie besonders gut. Es war für sie eine Gelegenheit, unter sich zu sein. Sie konnten sich zwanglos untereinander verhalten. So fühlten sie sich aufgehoben. Irgendwie konnte ich mich aber bei diesen Abenden nicht mehr wiederinden. Sie limmerten an mir so wie ein Film vorbei. Es war alles nah und doch unendlich fern. Wenn sich die Brünette etwas vornahm, so wurde das zügig durchgeführt. Es war somit angesagt: Gesagt, getan. Die Brünette sprach mehr Einladungen aus, als ich erwartete. Mir kam es so vor, dass sie den Abend etwas aufzumischen beabsichtigte. Nach 19.30 Uhr füllte sich das Wohnzimmer der Brünetten. Meine Rolle war dabei, für den Service zuständig zu sein. Das war mir lieb. Da es mir beim Weinlaschenöfnen und einschenken eine oberlächliche Konversation erlaubte. Man befand sich dabei in einer Zwischenwelt, einem Da-zwischen. Dr. Auerbach war gut in Form. Er endete seinen Vortrag mit einem Zitat: 125 „Between the idea And the reality Between the motion And the act Falls the Shadow” (T. S. Eliot, The Hollow Men, verse V, line 31)” und kommentierte: “Plaisir ist jenseits aller Schatten. Überschreite die Linie. Sei bewusstlos selbstbewusst!“ Vor allem der Boss des Hessischen Rundfunks war beeindruckt. „Sie sollten mehr für uns schreiben“, konnte man ihn durch das Zimmer hören. Er hatte sich neben die Germanistin gesetzt und ging den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite. „Bringe sie gerne nach Hause“, sagte er ihr immer wieder. Die Brünette verstand es aber, dem vorzubeugen. Gegen 23 Uhr wandte sie sich an mich: „Bring doch unser germanistisches Talent nach Hause, es ist ja ein Katzensprung zu ihr“. Das kam der Germanistin gelegen. Gesagt, getan, brach ich mit ihr auf. Dem Boss des Hessischen Rundfunks war das gar nicht Recht. Er fasste sich aber und ließ sich seinen Unmut darüber nicht anmerken. „Wir sehen uns ja demnächst. Bin für sie da“, verabschiedete er sich von ihr. Dr. Auerbach brachte zwar die Germanistin mit, aber wie sie mir später mitteilte, hatte der Boss des Hessischen Rundfunks sie mehrmals angerufen und sie zum Mitkommen durch Süßholzraspeln geradezu gedrängt. Wir standen in einer warmen Sommernacht auf der Straße und gingen Richtung Bockenheimer Landstraße. „Großartig! Durch die nächtliche Stadt zu gehen tut gut. Jetzt vögeln wir erst einmal bei mir. Oder möchtest du gleich wieder zu deiner Fernsehfrau?“. Was sollte man dazu schon sagen. Wir rechnen uns selbst Entscheidungen zu und bekommen unsere Taten 126 als Entscheidungen zugerechnet. Damit machen wir sie uns verständlich. Wir erkennen uns in ihnen selbst. Aber wie kommt es zu diesen Entscheidungen. Entscheidungen legen uns auf etwas fest. Es ist aber ein Rätsel, wie sie zustande kommen und wie sie etwas bewirken. Wir sind darauf konditioniert, dass eine Entscheidung eine Wahl zwischen Alternativen ist. Wer ist der Beobachter, der uns Entscheidungen zuschreibt? Beobachten wir uns selbst beim Entscheiden? Jede Entscheidung unterscheidet das Kontinuum der Zeit. Sie unterscheidet zwischen Vergangenheit und Zukunft. Entscheidung setzt voraus, dass Vergangenheit und Zukunft voneinander abweichen. Wäre das nicht so, so gäbe es nichts zu entscheiden. Auch dieselben Entscheidungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachten ZEIT. Aber um die Zeit zu unterscheiden, bedarf es der Alternativen. Mit jeder Entscheidung beginnt eine neue Geschichte, die wir in ihrem Fortgang nicht kennen. Auf sie lassen wir uns mit der Entscheidung ein. Es beginnt damit zugleich die Unbestimmtheit der Zukunft. Man hält an seinen Entscheidungen fest oder ändert sie. Insofern gibt es nicht nur eine einzige Entscheidung, sondern ein fortlaufendes Entscheiden. Die Frage drängt sich wieder auf: Wer ist der Beobachter der Entscheidung? Wir neigen dazu, vom Inhalt der Entscheidung her zu denken. Wir schreiben sie uns selbst zu und bekommen sie zugeschrieben. Das ist eine Illusion. Die Unterscheidung der Zeit ist der Beobachter. Nur dadurch haben wir die Gegenwart von Etwas, das wir uns in der Zeit immer wieder zu vergegenwärtigen haben. Der Zustand, in dem ich mich seit Mai 1978 befand, war mit dem Goethes vor seiner ersten Italienischen Reise zu vergleichen. Es war ein Zustand des nach allen Seiten hingezogen seins. Er hatte etwas haltloses, obwohl dieses Beinden nicht von Außen zu erkennen war. Ich erlebte mich hin und her bewegt, sei es von der Brünetten, der Germanistin oder den Freunden. Der Zustand drängte nach einer Veränderung, einer Entscheidung. Aber ich wusste nicht wohin und was zu verändern sei? Das Beinden, in dem ich mich befand, war nicht unangenehm, es hatte auch nicht etwas Quälendes, sondern es stellten sich ohne einen besonderen Anlass plötzlich Fremdheiten zu mir selbst ein. Es stellten sich Unterbrechungen der unmittelbaren Vertrautheit mit dem Selbsterleben ein. Es war ein Zustand der Überwirklichkeit, so wie ein Traum, durch den etwas taumelt. Es war ein Zustand von einsam und fern sein. So etwas wie der absolute Blick. Ein Sehen, das Nichts sieht. Das ist etwas, das sich kaum durch Beeinlussungen von Außen beseitigen lässt. Der dadurch eintretende Zustand mag durch Sex, Alkohol oder Drogen überspielbar sein, aber das ist eine Selbsttäuschung. Er stellte sich in kürzeren Abständen wieder ein. Die Entscheidung war schon längst gefallen, bevor ich den Entschluss 127 fasste, nach Agadir zu gehen. Selbst der Marokkaner war überrascht, dass ich ihm plötzlich zusagte. Er war darüber höchst erfreut, zumal im seine beiden Hotels aningen, ihm über den Kopf zu wachsen. Dr. Auerbach weihte ich in die Absicht ein, Frankfurt zu verlassen. Er war vertrauenswürdig und würde es für sich behalten. So ganz war er davon nicht überzeugt. Er sah mich an, bewegte den Kopf hin und her, verzog etwas das Gesicht als mochte er sagen „Das wird vieles, wenn nicht alles ändern“. Er enthielt sich aber eines weiteren Kommentars und bemerkte nur: „Ich weiß nicht, was dich so bewegt, entscheide nichts voreilig. Ansonsten kannst du dich auf mich verlassen.“ Als ich der Brünetten Anfang Juni meine Entscheidung mitteilte, reagierte sie gelassen. Es war etwas zu gelassen. „Das ist doch eine gute Idee. Eine Auszeit wird dir gut tun. Da siehst du, wie privilegiert du bist. Ich kann das gut nachvollziehen. Mir ist immer auch einmal danach. Tapetenwechsel kann doch nicht schaden. Bin ab September zudem voll zugepackt. Jede Veränderung ist eine Chance. Überweise dir noch etwas auf dein Konto, damit du dich nicht einzuschränken brauchst. Machen wir uns einen guten Sommer.“ Man wird es nicht glauben, die Sommermonate 1978 mit der Brünetten waren wirklich gelungen. Wir hörten viel Musik, fuhren ins Umland und hatten viel Spaß. Die Germanistin reagierte nicht so gelassen. Sie schaute mich entsetzt an. „Das ist das Ende. Was willst du denn dort. Bleib doch hier. Mich stört deine Fernsehfrau nicht. Ich bin auch nicht eifersüchtig. Hauptsache du bist da“, sagte sie. Ihre ganze Sicherheit brach zusammen. Die Zeit mit der Germanistin war danach eine Belastung. Sie versuchte mich von meiner Absicht abzubringen, indem sie mir alle möglichen Zugeständnisse machte. Sie versuchte es vor allem durch Dauersex. Wenn wir uns trafen, sagte sie: „Komm lass es uns zusammen machen“. Der Sex mit ihr konnte sich schon sehen lassen, aber das brachte mich nicht von der Entscheidung ab. Es war so, als ob sie sich ereignete. Im August fuhr die Germanistin zu ihren Eltern und ich sah sie bis zu meinem Ablug nicht mehr. Am 1. September 1978 folg ich ohne viel Gepäck und ohne Bücher nach Agadir. 5. Januar 2010 128 ende Vom lIed Am 9. März 2010 wurde Ornette Coleman 80 Jahre alt. Sein Jazz wird zum Sound. Die Noten und Melodie treten zurück. Man berichtet, dass er bei seinen Auftritten gar nichts Antiquiertes hat. Er tritt auf und spielt. Dabei ist er einfach gegenwärtig. Den ganzen Tag hörte ich seinen Jazz. Es versetzte in einen schwebenden Zustand. Er war nicht greifbar. Er löste ein Rauschen aus. Es hörte sich so wie ein Flugzeugmotor an. Es stellte sich ein Zustand ein, in dem etwas nachklang. Es limmerte vor den Augen. Bilder traten ein: 1. September 1979 auf dem Flug nach Agadir. Mir war die Zeit gar nicht mehr gegenwärtig. Jetzt spürte ich sie. Sie war fremd und nah. Es war ein schwebender Zustand. Der Marokkaner war ganz außer sich, als er mich am Flugplatz abholte. Es hat etwas schwer nachvollziehbares, aber die Zeit in Agadir verging, so wie im Flug. Der Aufenthalt iel länger aus als beabsichtigt. Erst im Oktober 1979 kam ich wieder nach Frankfurt zurück. Am nächsten Tag nach der Ankunft in Agadir ing ich gleich mit dem Dienst im Hotel an. Meine Zuständigkeit war von 13 – 18 Uhr die Rezeption und am Abend bis in die Nacht die Bar des Hotels. Zwar waren keine Bücher im Reisegepäck, aber einen Stapel von Jazzplatten. In der Bar wurden sie als Hintergrundgestaltung aufgelegt. Das hatte einen ganz unerwarteten Erfolg: Jazz in Agadir. Eine meiner Zusammenstellung war: Benny Goodman: Clarinet a la King, 1941 (komponiert von Eddie Sauter) Stan Brenders: Opus 13, 1943 (Brüssel) Dizzy Gillespie: Rays Idea, 1946 Telomonius Monk: Around Midnight 1947 Charlie Parker with Strings, 1950 Gil Evans, Miles Davis: Birth of the Cool 1953/57 Kurt Edelhagen: Easy in Love, 1954 Wes Montgomery: Full House, 1962 Max Greger: Take the A-Train, 1965 Combo Lester Young: You’ re Driving me Crazy, 1946 Charly Parker & Dizzy Gillespie: A Night in Tunesia, 1946 Lennie Tristano & Lee Konitz: Progression, 1949 Hans Koller: Kollers Idea, 1954 Barney Willem: All the Things You Are,1959 Ende der 1970er Jahre war der islamische Fundamentalismus noch nicht in Erscheinung getreten. Man glaubt es nicht, in den 1950er und 1960er Jahren waren die arabischen Emirate Hochburgen des Jazz. Erst das 129 Aufeinandertrefen von Jazzer und Publikum bringt den Sound hervor. CoolJazz war eine Gegenwelt der 1950er Jahre. Cool bedeutet dabei nicht „cool“. Es ist eine Rückwendung nach Innen. Lenni Tristano (Klavier) gehörte zu einer meinen Lieblings-Cool-Jazzer. Naheliegender Weise gehörte aus deutscher Perspektive Hans Koller mit dazu. Im Jahre 2005 bekam ich von einem Freund zwei Koller-CDs: The Musican of the Year 1955 und Out on the Rim 1991. Wenn Koller im Frankfurter Jazzkeller und im Story Ville spielte, versäumte ich keine Veranstaltung. Der Cool-Jazz komponiert mit den gleichen Grundsätzen, wie der amerikanische Abstrakte Expressionismus. Das Zentrum des Cool-Jazz ist das Solo. Paris war in Europa in den 1950 - 60er Jahren das Jazzzentrum. In Frankreich wurden die schwarzen Jazzer in den 1920er Jahren akzeptiert. Daran konnte angeschlossen werden. Aber auch Frankfurt spielte eine Rolle. Das wurde dadurch begünstigt, da in Frankfurt und in Wiesbaden CI stationiert waren. Nächtelang wurde Jazz gehört. Man wurde dadurch zum Aussteiger. Am Fenster stehend sah man auf die nächtliche Stadt. Rauchte, trank etwas, sann vor sich hin. War in einem schwebenden Zustand. Die Freundin lag schon im Bett. Fern hörte man sie: „Wann kommst du denn endlich!“. Nach diesem ganz unerwarteten Erfolg rief ich Dr. Auerbach an, dass er mir meine ganze Sammlung Jazzplatten gut verpackt nach Agadir schickt. Es war eine umfangreiche Sammlung mit Platten aus den 1950er Jahren. Sie sollten in Agadir bleiben. Wenn man sich von etwas trennt, an dem man sehr hängt, erlebt man oft ein Gefühl der Erleichterung. Es tritt in eine Verklärung ein, man verwandelt sich und es wächst einem etwas zu. Es wird verinnerlicht und so Teil von einem selbst. Von der Rezeption und der Bar aus befand man sich in einem günstigen Beobachtungsblickwinkel. Es hatte etwas Surrealistisches. Man nahm eine feste Position ein, an der alles vorbei loss. Gestalten tauchen auf und verschwinden. Sie werden in einem Übergangsstadium wahrgenommen. Es war ein kommen und gehen an dem man teilnahm, ohne beteiligt zu sein. Insgesamt kein schlechter Zustand. Vormittags rauchte ich etwas Marihuana und war am Strand südlich von Agadir. Schon nach ein paar Tagen stellte es sich ein, dass die Frankfurter Zustände zurückwichen. Sie traten in die Ferne. Es war so, als würden diese Zustände von mir abfallen. Die Germanistin und die Brünette kannten nicht meine Adresse. Ich hatte auch nicht vor, mit ihnen in Kontakt zu treten. Es war aus ihrem Leben herauszutreten. Nur Dr. Auerbach konnte mich erreichen. Je größer die Distanz zu den Frankfurter Zuständen wurde, umso mehr kam ich zu mir. Ein merkwürdiger Zustand, das Zu-sich-selbst-kommen. Man kann es gar nicht beschreiben. Es ist so wie ein Eindruck, eine Empindung von 130 sich, die keine Anschauung von etwas ist. Es war ein vernehmen von sich. Man spürt den Atem und steht still. Es spricht sich einem etwas zu, das sich zugleich entzieht. Ein Erleben ohne Innen- und Außengrenze und zugleich ein Zustand des In-der-Welt-seins. Wohldosierte Mengen von Marihuana können bei der Reise behillich sein. Man tritt in die Traumwelten ein. Man sieht Gestalten. Der Übergang zwischen Traum und Wachzustand wird ließend. Mit Gedichten verhält es sich so, wie mit dem Kunstlied. Es gibt nichts Schwierigeres. Es setzt einen entsprechend gebildeten Leser voraus. Die lyrische Einbildungskraft hat geschult zu sein. Man merkt sofort die Unebenheiten. Der Lyrikleser ist unnachgiebig und verzeiht keinen Fehlgrif. Dr. Auerbach schickte mir an Weihnachten den Gedichtband. Er hatte seine Einleitung noch einmal bearbeitet und verbessert. Er schrieb über „das Erlebnis des Augenblick der Erschütterung“, durch das „die Cartesianische Selbstvergewisserung“ verschwindet. Eine „Erschütterung“, die sich in der Dekomposition der Dichtung aus. „Beim Lesen des Gedichts treten Gestalten auf. Sie haben eine eigene Melodie. Die Cartesianische ego cogito implodiert. War es überhaupt da?“ Es stellte sich bei mir eine Irritation ein, aber ich las weiter: „In der Dichtung spricht sich etwas Überpersönliches aus. Wir dürfen sie nicht vom individuellen Autor aus verstehen. Liegt hier nicht ein Vergleich mit den anonymen Baumeister der gotischen Kathedralen nahe? Es spricht sich etwas Ungegenständliches aus: Der absolute Blick, das Selbstsein, dem wir nur Innewerden können. Ist das eine Epiphanie? Sind es die Moments of Being (Virgina Woolf )? Es entzieht sich uns in seinen Gestalten. Insofern hat sich der Autor zu entpersonalisieren. Er darf sich nicht mehr als Urheber verstehen. Es kommt dann auf die Stimmung an. Sie ist der Wegweiser. Ein Zustand, den wir nicht als idiosynkratisch deuten dürfen. Philosophie ist zugleich Poesie, Sprachmagie. Sie bedarf dazu einer anderen Ausdruckweise. Fängt sie an zu singen? Der Dichter sollte auch Tonsetzer sein.“ Der Brief endete mit: „Die Weltliteratur ist eine große Baustelle. Wir schneiden aus den Texten Passagen heraus und verwenden sie als Zitat. Das könnte eine andere neue Kreativität sein. Der überlieferte Stilbegrif ist veraltet.“ 131 Dann kam ein Absatz und als Schluss war zu lesen: „Ich rauche, trinke, bin high, treibe mich nachts in der Innenstadt herum und arbeite an den Texten. Lebe wie der junge Mark Twain zwischen Sicherheit und Gefahr, aber in der Mitte des Stroms.“ Ich las den Text ruhig durch. Lies ihn auf mich wirken, aber mochte nicht darüber nachdenken. Es war die romantische „Sympoesie“ („Symphilosophie“) der Jenaer Romantiker mit der es mir schwer iel umzugehen. Irgendetwas sperrte sich in mir. Eingestehen möchte ich aber, dass ich unterstellte, dass auch die Brünette dabei mitwirkte (?!). Legte den Brief zur Seite und nahm mir vor, ihn in den nächsten Tagen noch einmal durchzulesen. Dann könnte der Zugang ein anderer sein. So würde ich ihm am Besten gerecht werden. Der Rücklug von Agadir nach Frankfurt war mir kaum bewusst. Auf einmal befand ich wieder auf dem Frankfurter Flugplatz. Mit Dr. Auerbach telefonierte ich an Weihnachten 1978, an Ostern 1979 und kurz vor dem Rücklug am 15. September 1979. Er holte mich vom Flugplatz ab. Als ich ihm gegenüberstand war ich doch etwas überrascht. Er wirkte äußerst gediegen, trug eine Brille und hatte einen eleganten Anzug an. Irgendwie war ich doch gerührt, ihn wieder zu sehen und Frankfurt zu spüren, obwohl es mir fern war. Es ist ein schwer ausdrückbares Gefühl, wenn man Orten und Personen ganz fern und doch irgendwie nahe ist. Alles ist vertraut und doch fremd. Es ist so, als erlebe man das Fremde in sich, obwohl man sich an Orten und in Zeiten in der Außenwelt bewegt. „Bin mit dem Auto da, wir fahren jetzt ins Nordend und gehen dort etwas essen. Dann bring ich dich nach hause und am Abend sind wir im Schwarzen Bock in Wiesbaden. Lass dich ansehen, bist du es wirklich. Du warst lange weg. Es gibt viele Neuigkeiten“, war die Begrüßung von Dr. Auerbach. Er nahm meinen Kofer, und wir machten uns auf. Dr. Auerbach machte etwas her. Beim Chauieren wirkte er ganz autoritativ. Er war dabei konzentriert und gleichzeitig sehr entspannt. An Neuigkeiten war ich nicht interessiert, da sie meine Einbildungskraft störten. Unsere Kommunikation war so eingespielt, dass sich das auf Dr. Auerbach übertrug und er sie nicht ansprach. „Sie haben Zeit“, dachte ich. Es ist ein guter Anschnitt, wenn man sich ihnen aus er Distanz annähert und nicht von ihnen überfallen wird. Das macht den Umgang mit ihnen etwas leichter. Zudem konnte man sich das eine oder andere auch denken. Der Tag und die Tage danach verliefen ganz reibungslos. Am Abend waren wir mit einem Lover von Dr. Auerbach in Wiesbaden. Es war eine lustige Runde mit vielen literarischen Späßen und Anspielungen. Sie mochten viel von meinen Erlebnissen in Agadir hören. Zwar hatte ich kein großes 132 Mitteilungsbedürfnis, aber ich erzählte das eine oder andere. Die Tage danach hielt ich mich in der Feuerbachstraße auf und verlies nur am späten Abend das Zimmer, um etwas herumzustreuen. Dabei vermied ich es in Lokale zu gehen, in denen ich Bekannte hätte trefen können. Dr. Auerbach hatte mir Lektoratsarbeiten besorgt, die ich in den Wochen danach durchführte. Irgendwie war mir Frankfurt fremd geworden. Es war sich erneut zurecht zu inden. Ich vermied es auch in den Hessischen Rundfunk zu gehen und erledigte das dort für mich anfallende über das Telefon. Im Oktober schlug Dr. Auerbach vor, vierzehn Tage nach Paris zu fahren. Dort hatte er eine Beziehung und man konnte sich in einer größeren Wohnung aufhalten. Da das Wetter gut war, machten wir uns auf. Wir besuchten ausgiebig Galerien und beschäftigen uns mit Bildern. Tagsüber war man draußen in Cafés. Wir ließen die Atmosphäre und ihre Stimmungen auf uns wirken. Aber auch das lies mich leer. Dr. Auerbach machte sich richtig Sorgen. Er schlug vor, dass ich zu einem Freund von ihm nach Rom fahren sollte. Dr. Auerbach hatte, so konnte es einem vorkommen, in ganz Europa irgendwelche Beziehungen, Liebhaber, Freunde und „Freunde von Freunden“ von Liebhabern. Zudem war er ein leidenschaftlicher Telefonierer. Etwas, das mir ganz abging. So konnte er vermitteln, jemanden gefällig sein oder einen Kontakt herstellen. Nachdem wir aus Paris zurück waren, reiste ich noch Anfang November nach Rom. Rom hat mir immer gut getan. Das Erleben wurde leichter. An der spanischen Treppe gab es damals eine verdeckte Prostitution. Es waren junge Italienerinnen, die sich etwas dazu verdienen mochten. Sie machten einen ganz guten Sex und wären am liebsten geheiratet worden. Aber auch diese Erlebnisse gaben mir keinen Halt. Rom ist ein großes Museum, in der man immer wieder etwas Bewunderungswürdiges indet. Das Interesse an Architektur wurde geweckt. Sie inspirierte zum Zeichnen. Die Dichtung war ganz in die Ferne gerückt. Zwar hatte ich eine Auswahl von Gedichten von Rudolf Borchardt dabei, lass aber nur gelegentlich in ihm. Dass gerade dieser Band eingepackt wurde, war wohl durch ein unbewusstes Motiv zu erklären: Alle Heimatlosen überbewerten die Heimat. Die Zeit in Rom wurde haltlos. Im Januar 1980 ging ich fast jeden Tag zu einer anderen italienischen Prostituierten. Es war wie ein Zwang, eine Sucht, eine Selbstvergessenheit, die nicht aufhören wollte: Es war als würde in ein mystisches Geschehen eingetaucht, das einen plötzlich zurück lässt. Man steht auf der Straße, geht noch einen süßen Espresso und etwas Wein trinken, beindet sich wieder in einem Zimmer. Es ist Tag oder Nacht. Die Geräusche der Stadt umgreifen einen. Alles ist anders und doch so, wie es jeden Tag, jede Nacht, jede Minute war. Ein Gedicht Borchardts kommt dem Zustand nahe: 133 „Pause Hinter den tiefsten Erinnerungen Verwächst die Zeit; Die alten Wege waren frei und breit, Nun hat die Welt sie überdrungen. O Rauschen tief in mir, Was aber hast du, das ich gerne hörte? Ist denn ein Ton in dir, Der mich nicht stört?“ „Ich habe nichts als Rauschen, Kein Deutliches erwarte dir, Sei dir am Schmerz genug, in dich zu lauschen.“ Suche nach Worten für den Ausdruck von Zuständen, die der Regularitäten des Alltags und ihrer Berechnung entgegenstehen. Die Zeit war verlossen, wie man sagt. Der Zustand war so, wie ein Schweben, aber ohne Halt. Im Februar 1980 fuhr ich nach einem kurzen Aufenthalt in Mailand und Venedig wieder nach Frankfurt zurück. Mit Dr. Auerbach telefonierte ich noch am Abend von Mailand aus, dass wir uns am anderen Tag nachmittags trefen. Der Nachtzug war schon gegen 6.30 Uhr in Frankfurt und ich war in ein paar Minuten wieder in der Feuerbachstraße. Ein paar Stunden Besinnung taten gut, um sich wieder an einem anderen Ort zu recht zu inden. Nachmittags traf ich mich mit Dr. Auerbach in dem Apfelweinlokal„Wagner“ in Sachsenhausen. Das war ein wohltuender Kontrast zur Romszene. Die letzten Monate nachdem ich wieder aus Agadir zurückkam verschloss ich mich gegenüber dem Mitteilungsbedürfnis von Dr. Auerbach, was die Neuigkeiten in unserem sozialen Kreis betraf. Es ist die eine etwas befremdliche Fähigkeit zu vergessen und Vergangenes zu löschen, das ich bei mir als etwas Fremdes erlebte. Es stellte sich ein und trug einen fort. Diesmal mochte ich mich aber dem Mitteilungsbedürfnis von Dr. Auerbach nicht verschließen, zumal er außerordentlich gut gestimmt war und er sich über meine Rückkehr freute. Er konnte dann sehr charmant und auch unterhaltend komisch sein. Was die Neuigkeiten betraf, so stellte ich sie erst einmal zurück und lies mir über das laufende Theater- und die Opern berichten. Aber dann war es doch nicht 134 mehr aufzuschieben. Es brach fast etwas aus Dr. Auerbach heraus: „Deine Brünette wird im Mai den Boss des Hessischen Rundfunks heiraten. Man hat mich eingeladen. Wir waren völlig überrascht, aber es ist amtlich. Aber es kommt noch toller. Deine Germanistin bekommt ein Kind von einem Dozenten an der Musikhochschule. Sie wird also bald den Kinderwagen schieben. Wer hätte mit so etwas gerechnet. Sie haben mich nach deiner Adresse gefragt, aber ich durfte ja nichts sagen. Vermutlich haben sie es mir nicht so ganz abgenommen. Du bist jetzt vermutlich überrascht und dir fehlen erst einmal die Worte. Aber irgend so etwas ist jetzt wiederum auch nicht so ganz ungewöhnlich. Hatte so etwas schon vermutet. So ganz wundern wird es dich dann doch nicht.“ Mir sagten die Neuigkeiten, die mir eröfnet wurden, gar nichts. Es war so als würde von etwas gesprochen, zudem gar kein Zugang bestand. Es stellte sich weder Überraschung noch Verwunderung ein. Es war von mir entfernt. Insofern iel mir dazu auch gar nicht ein. Mag sein, dass ich etwas verlegen wirkte, da ich bei der Mitteilung Apfelwein trank. Es war eine Leere in mir, so dass meinen Wörtern die innere Anteilnahme fehlte. Dadurch wirkten sie zwangsläuig etwas unglaubwürdig und gekünstelt. Über die Lippen kam eine karge Äußerung: „Das ist doch für beide eine gute Lösung. So haben sie den äußeren Halt, den sie benötigen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Mir ist auch gar nicht danach mit den beiden Kontakt aufzunehmen, obwohl wir doch alle eine gute Zeit hatten. Durch ihre neuen Beziehungen beinden sie sich in einem sozialen Zusammenhang und treiben nicht dahin. Da kann man den Halt verlieren und wird sich, ohne dass man das möchte, fremd. Wir können nicht in die Vergangenheit zurück. Es bleibt dann nur die Sentimentalität über das Gestern zurück.“ Da Dr. Auerbach keine getrübte Stimmung aufkommen lassen mochte, deckte er über diesen Graben ein Brett zum hinübergehen: „Du wirst schon etwas anderes inden. Wir leben ja nicht in der Wildnis. Hier bracht man nicht lange ohne Sex zu sein. Tempi passati.“ Das war wohl auch so. Dr. Auerbach hatte Situation in die richtige Bahn gelenkt. Das Frühjahr 1980 lies sich gut an. Es war fast sommerlich warm. Man konnte nach draußen gehen. Dr. Auerbach hatte einen neuen Freundeskreis. Das war durchaus wohltuend, da man viel am Abend unterwegs war. Er schleppte mich in Vorträge, ins Theater und zu Konzerten. Das alles kam mir ganz gelegen, da es ablenkte. Dass es mit der Brünetten noch nicht zu ende war, spürte ich. Absichtlich vermied ich die Orte, an denen ich ihr hätte begegnen können. Vormittags blieb ich meistens im Bett liegen und sann 135 vor mich hin. Die Gedanken mochten sich aber nicht ordnen und waren nicht fassbar. Sie waren in einem Fluss. Auch lagen mir weitere Projekte fern. Es war Anfang Mai vormittags. Ich war schon etwas früher aufgestanden und lass in Ezra Pound Cantos 1917-1966 (canto lat. ich singe). Es sind CXVI Gesänge, so 800 Seiten. Eine Auswahl ist 1966 bei dtv Deutscher Taschenbuch Verlag erschienen. Sie wurde von Eva Hesse übersetzt. Die Übersetzung ist sehr gelungen, obwohl der englische Text einfacher ist. Dr. Auerbach schenkte ihn mir 1966 als wir mit unserem damaligen Freundeskreis in die Frankfurter Oper gingen. Man liest den Text sein ganzes Leben. Oft legt man ihn zur Seite. Es fehlt nicht nur die Stimmung, sondern auch das Verständnis. Der Text verschließt sich. Es mag sein, dass man nicht mehr zu ihm zurück indet. Seit den 1970er Jahren gab ich der englischen Version den Vorzug. Der Zugang ist auch kein bloßes Sprachproblem. Odysseus bricht am Anfang auf. Er weiß nicht, wo er ankommen wird. Er verfügt über keine Seekarten. Es könnte eine Reise ohne Ende sein. Odysseus ist zugleich die Maske, die sich der Dichter aufsetzt. Der Leser hat mehrere Perspektiven einzunehmen: Die Fahrt des Odysseus ist zugleich das Wagnis der Irrfahrt, die der Autor beginnt. Im Cantos gibt es keine Heimkehr. Nur der Gesang bleibt von seiner Fahrt zurück. Wer hört ihn? James Joycs kannte die Texte aus den Jahren von 1916 – 1927. Er war mit Pount befreundet, und er engagierte sich dafür, dass sich die zeitweise aussichtslose wirtschaftliche Lebenslage von Joycs verbesserte. Pount nannte die Texte im Rückblick auch Palimpsest. Das ist ein handschriftlich niedergelegter Text mit vielen Überschreibungen. Es gibt nicht den fertigen Text. Er hat kein Anfang und kein Ende. Die erste Niederschrift wird überschrieben. Sie ist vielleicht gar nicht mehr im Nachhinein feststellbar. Es gibt keinen Anfang und kein Ende der Niederschrift, sondern ein vorher und nachher, das nicht aufhört. Der Autor selbst verschwindet in seinen Niederschriften. Pount war ein Freund der chinesischen Schriftzeichen, ihres Ausdrucks und der damit einhergehenden Kommunikation. Das Gesagte und Mitgeteilte wird in einer Bildschrift kommuniziert. Die chinesische Bildschrift (Ideogramm) ist für Pount eine Darstellung, durch die allgemeine Sachverhalte durch Bilder mitgeteilt werden. Dadurch sollen sie anschaulich sein. Das Verfahren besteht darin, mehrere unterschiedliche Bestandteile zueinander zuzuordnen. Durch die Spannung (die Unverträglichkeit), die dadurch zwischen den Bestandteilen eintritt, wird ihre Aussage und Mitteilung dargestellt. Die Zeichen eine Anleitung zum Sehen: 136 „’From the colour the nature & by the nature the sign’“ („’Aus der Farbe das Wesen und aus dem Wesen die Zeichnung!’“) (Cantos XC), aber das Verstehen von Zeichen ist kein Blicken auf etwas. Es wird nichts gesehen. Die Zeichen erschließen nicht die WELT. Sie bleiben zurück. Die Betonung liegt nicht auf dem dinglichen Sein: „in the light is virtù‚ sunt lumina’ said Erigena Scotus“ ... „’sunt lumina’ said the Oirisma to King Carolus, ‚OMNIA, all things that are lights’“ (im Licht des Lichtes ist die virtù “’sunt lumina’ sagte der Irländer zu König Carolus, „OMNIA (alles, d.V.), alle seienden Dinge sind Lichter““ (Cantos LXXIV). Der erkenntnistheoretische Zweifel des Descartes läuft leer. Für Pount war er Frevel. Mir geiel am Cantos, dass er unabgeschlossen, ein Fragment, war. Auch seine scheinbare Ungeordnetheit empfand ich nicht störend. Die Zeichenbilder sind die Kritik am Logozentrismus der Alteuropäischen Tradition und neoplatonisch motiviert. Für Plotin gab es ein Realitätsproblem. Für ihn war die WELT nicht naiv selbstverständlich gegeben. Es gab für ihn ein nicht-triviales Erkenntnisproblem. Das Fenster war ofen und es kündigte sich ein sonniger Tag an. Etwas Toast mit Orangenmarmelade und Ostfriesentee machten gute Stimmung. Man glaubt es nicht, aber eine gute Orangenmarmelade ist seltener als man denkt. Die britische Version sagte mir gar nicht zu. Am besten fand ich das Angebot aus Südafrika. Die hohe Kunst ist, das Herbe und das Süße in eine Mischung zu bringen. Ich erinnere mich an ein Rezept, das zu den Orangen eine Grapefrucht gab. In solchen Geschmackseigenheiten ist man aber auch oft irregeleitet, da sich Sein und Schein für das Erleben kaum noch unterscheiden lassen, sondern ununterscheidbar vermengt sind. Es war so gegen 11 Uhr als es klingelte. Das wird der Briefträger sein, dachte ich, drückte auf den Türsummer, damit er die Pakete auf die Treppe legt. Mir 137 war gar nicht danach, nachzusehen, ob die Post für mich oder ein anderen Hausbewohner war. Insofern war ich überrascht, als es an die Tür klopfte. Ich ging zur Tür und öfnete sie. Vor mir stand die Brünette. Sie trug ein hellrotes Kleid und hatte einen hellgrünen Mantel auf dem Arm. Sie trat ins Zimmer. Wir sagten gar nichts und sahen uns nur an. Es gab auch nicht viel zu sagen. Sie lächelte, legte den Mantel auf den Stuhl und stellte sich mit dem Rücken zum Fenster. Ich setzte mich auf die Couch. Dabei sah ich sie von unter nach oben an. Sie sagte nichts. Auch ich mochte nichts sagen. So sahen wir uns an. Tasteten uns mit den Blicken ab. Fingen an, uns mit den Blicken auszuziehen. Es waren so zehn Minuten vergangen als sie auf mich zu trat und ihr Kleid auszog. Ich hatte gar nicht mehr ihre wohlgeformte Brust in Erinnerung, die aning sich aufzustellen. Sie beugte sich über mich, nahm meinen Kopf und führe ihn zu ihrer Brustwarze. Im Laufe des Jahres trafen wir uns bei mir in zwei Wochenabständen. Wir sprachen nicht viel, hörten etwas Musik, tranken etwas Wein oder auch ein paar Cognac und ließen unsere Stimmung auf uns wirken. Die Brünette bevorzugte deutschen Weißwein. Vor allem die „Großen Gewächse“, wie die besten deutschen Weißwein genannt werden, mochte sie. Die deutschen Weißweine gehörten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den weltbesten Weißweinen. Vor allem mochte die Brünette die Stelle aus dem Ersten Aufzug aus Wagners Walküre: „Sigmund Winterstürme wichen Dem Wonnemond, -In mildem Lichte Leuchtet der Lenz; -Auf linden Lüften Leicht und lieblich Wunder webend Er sich wiegt ... Sieglinde Du bist der Lenz , 138 nach dem ich verlangte in frostigen Winters Frist.“ Das ist nicht gut gegangen und konnte es auch nicht. Gerne hörte sie Gustav Mahler 6. Symphonie, die auch „Die Tragische“ genannt wird. Man weiß nicht, ob er sie so nannte. Unter der 5., 6. und 7. Symphonie ist die 6. Symphonie ganz zentral. Die letzte, sogenannte unvollendete, 10. Symphonie ist aus Mahlers Sicht nahezu abgeschlossen. Das Adagio der 9. Symphonie ist reiner Klang. Es ist so, wie, wenn Schnee auf Schnee fällt, der ein leichtes Geräusch hörbar macht. „Er sagte von ihr: „Sie wird Rätsel aufgeben“. Sie enthält keine Kommentare. Zwei Instrumente fallen auf, ein Hammer und zwei Kuhglocken. Das wurde entsprechend nach ihrer Auführung karikiert. Die Symphonie durchzieht ein Leitmotiv von Dur nach Moll. Das halbstündige Finale ist geradezu ein Werk für sich. In sie fährt der Hammerschlag. Er ist etwas Absolutes. Den dritten Schlag hat Mahler aus der Partitur gestrichen. Einige Dirigenten fügen ihn wieder hinzu. Sie hat wirklich ein pessimistisches nicht aufbauendes Ende. Vielleicht komponiert Mahler seine auf ihn zu kommenden Schicksalsschläge. Man sagte auch, es kündigt sich darin das 20. Jahrhundert an. Ich habe das für überzogen gehalten. Vielleicht sogar ein Irrtum. „Ich leb allein in meinem Lied“ (Friedrich Rückert) könnte als Titel über ihr stehen.“ Ihr Gesicht wirkte plötzlich etwas verinnerlicht, so als bewegte sie etwas, das mit dem Ort, an dem sie sich befand wenig zu tun hatte. Sie verzog das Gesicht und begann zu reden, so als würde sie es zu sich sagen: Sie zuckte mit ihren Augen, die auf einmal groß wurden. Es war so, als würde sie aus einem versunkenen Zustand heraustreten, als sie sich mir zuwandte: „Sprung: Von Anton Bruckner 6. Symphonie gibt es nur eine Fassung. Sie fängt ohne Einleitung und Vorbereitungstakte an. Der zweite Satz heißt „Adagio“, der aus einem Grundton besteht, aber der Satz wirkt nicht monoton oder langweilig. Bruckner ist ein Sonderfall. Ohne Selbstbewusstsein. Ein völlig Verunsicherter. Seine 9. Symphonie widmete er „Dem liegen Gott“. Man weiß nicht, ob das komisch ist oder etwas Tragisches hat. Jetzt gerade möchte ich sie hören. Lieber nicht. Beide Symphonien sollte man 139 einmal vergleichen. Sie haben mehr gemeinsam als man so vordergründig annimmt. Warum emotionalisiert uns Musik so? Lässt uns nicht zu uns kommen? Wir möchten jetzt aber nicht schwermütig werden. Hole doch das Große Gewächs aus dem Eisschrank. Lass dich ein, was wir nicht gerne haben, was uns auf die dunkle Seite entgleisen lässt,“ sagte sie. Ich selbst glaube zwar nicht an mystische Kausalitäten, aber irgendwie nahm sie mit ihrer Hingebung an diese Symphonien etwas vorweg. Wenn sie sprach, so sprach sie weniger mit mir, sondern zu mir. Gelegentlich redete sie ganz ekstatisch: „Straße Licht des Mondes Licht geschüttet aus Fenstern Glanz der Nacht Farben des lachenden Glücks Fluss ohne Anfang und Ende Jetzt: Taumle von Augenblick zu Augenblick Schnelligkeit der Städte Stimme ohne Schatten Der Mädchentraum wird schwarz Wohin fällt der Blick Es ist heiß Blick auf das Meer Jetzt: Stellt er sich ein, der lang ersehnte Augenblick Das Zittern und Beben verliert sich. Zünde uns Zigaretten an. Bevor wir uns verlieren. Ich bin allein und fühle mich einsam. Wie wäre es mit uns jetzt am Strand. Leg doch Steve Wonder auf und danach von Ella Fitzgerhald „I got your number“, dabei vögeln wir.“ 140 So konnte sie fortlaufend Reden. Es löste sie. Ihre Züge entspannten sich. Sie klatschte in die Hände und ing an zu tanzen. Mir geiel das. Dabei fühlte ich mich ihr ganz nah. Es ist wieder 4 Uhr geworden. Langsam wird es hell. Die Tagesgeräusche kündigen sich an. Ganz leise spielt im Hintergrund das Nachtkonzert. Der nächste Tag kündigt sich an. Ich höre mit dem Schreiben auf. Irgendwie läuft etwas in mir ganz schnell ab. Man spürt es, kann es aber nicht fassen. Es tritt wieder dieses Schuldgefühl ein, versagt zu haben. Davon konnte ich mich die ganzen folgenden Jahre nicht freimachen. Es trat ganz unvorhersehbar ein. Es überkam einen. Das Ende vom Lied ist so wie ein plötzlicher Schlussakkord nach einem Musikstück, dessen Anfang man nicht mehr erinnert. Es war die der Hammerschlag in Mahlers 6. Symphonie. Hat es überhaupt angefangen? Ich hatte nie ein Interesse daran, einen Einblick in die Beziehung zwischen der Brünetten und dem Boss des Hessischen Rundfunks zu bekommen. Wir thematisierten das auch nicht, wenn wir zusammen waren. Ich weiß auch nicht, wie und ob sie ihre Ehe führten. Formal waren sie verheiratet und lebten zusammen. Alles war recht aufwendig. Sie zeigten sich in den ersten Jahren auch gerne in der Öfentlichkeit. Doch dann ging alles ganz schnell. Es kommt mir im Nachhinein so vor, als sei es von heute auf morgen gewesen, obwohl sich die Ereignisse zwei Jahre hinzogen. Der Boss des Hessischen Rundfunks war 25 Jahre älter als die Brünette. 1982 gab er seine Position auf. Er wird so um die Mitte der 50 Jahre gewesen sein. Er zog sich auf sein Anwesen am Gardasee zurück. Seitdem pendelte die Brünette zwischen Gardasee und den Aufnahmestudios hin und her. Damals bemerkte, eher nebenbei, die Brünette: „Er hat jetzt vor, zu schreiben. Daraus wird aber nichts. Er hat sein Wissen verwaltet, aber keinen Satz geschrieben. Das wird nicht klappen. Warten wir’s ab.“ Das war auch dann so. Bei seinen ganzen Kenntnissen kam nichts zustande. Die Versuche blieben schon im Ansatz stecken. Das schloss es nicht aus, dass das Ganze dann schön geredet wurde. An Intelligenz und Bildung fehlte es dem Boss des Hessischen Rundfunks nicht. Das sind oft Großmeister von psychologischen Rationalisierungen. Es indet sich dann schnell ein Anlass, die ganze Situation anders darzustellen als sie ist. Wenn das noch von Anderen bestätigt wird, so liegt es dann auch nicht an ihnen, sondern an unglücklichen Zufällen, die doch auch anders hätten sein können. Sie seien auch einfach zu korrigieren und man sei schon dabei. „Jetzt hören wir erst einmal diese schöne Stimme und lassen uns dadurch davontragen. Dazu noch ein Wein, sich einfach noch etwas Gutes tun, dann 141 gelingt es wie von selbst“, hört man dann oft. Die Ergebnisse davon sind aber nicht ermutigend. Den großzügigen Einladungen an den Gardasee des Bosses und der Brünetten war ich nicht gefolgt. Sie bemerkte gelegentlich: „Wenn du auch einmal wieder an den Gardasee möchtest, das ist wirklich kein Problem. Wir können dort auch zu dritt eine gute Zeit haben. Zudem ist für Kurzweil gesorgt.“ Mir lag der Gardasee auf längere Zeit nicht. Er war mir zu hochalpin und gigantisch. Mir war es ganz fern, zum Beispiel den Himalaja zu durchwandern und mich im Anblick der höchsten Berge der Welt innerlich zu erheben. Die Dauergegenwart des Erhabenen der Natur bereitete mir Erlebnisschwierigkeiten. Das war nicht lange auszuhalten. Schon nach einer Woche war mir alles zu viel. Da gab es keine Ausnahme. Auch die Erwartung mich in den Hofstaat des Bosses des Hessischen Rundfunks einzureichen, war nicht gerade das, was mich zu einem Aufenthalt hätte bewegen können. Es war dort fortlaufend Besuch, der mit der Selbstrepräsentation der Erfolge und Nichterfolge der Anwesenden einherging. Zudem trat bei ihm eine Verhaltensänderung derart ein, dass er sich, nach dem er nicht mehr der „Boss“ von Amtswegen war, so verhielt, als sei er noch der Chef, während er in seiner Dienstzeit das Understatement plegte. Aber wie sich das oft verhält, man verstößt gegen seine Vorbehalte. Im Frühjahr 1984 sagte ich für einen Besuch im Sommer zu. Es war nicht zu erwarten, dass es der letzte Sommer der Brünetten sein würde. Im Nachhinein fallen dann Anzeichen auf, denen man sich in der Situation nicht in ihrer Konsequenz bewusst war. Man merkt zwar eine gewisse Unebenheit, schreibt sie aber den Umständen zu. Es kam alles anders, als erwartet. Die Brünette stürzte sich während meines Aufenthalts von einer Aktivität in die andere. Jeden Tag waren Auslüge, Besuche und der Empfang von Gästen angesagt. Dabei lebte sie auf. Nur durch erheblichen Protest war einmal ein Ruhetag mit ihr auszuhandeln. Da waren dann Erschöpfungen größeren Ausmaßes einzuklagen. So schleifte sie mich um den ganzen Gardasee herum und stellte mich bei Ihren Bekannten vor. Sei es mit Auto, Mopeds oder mit Wanderungen von Bergdorf zu Bergdorf. Sie trank viel und kochte Köstlichkeiten aus der einheimischen Küche. „Auf Goethes Spuren“, sagte sie. Der Boss des Hessischen Rundfunks nahm mich zur Seite und lüsterte mir ins Ohr: „Lass sie, wenn es ihr Spaß macht. Sie hat viel Stress in der letzten Zeit und 142 hat auch noch zu repräsentieren. Da braucht es einmal eine Auszeit, in der sie nicht reglementiert ist. Wir möchten Doch, dass sie sich wohlfühlt.“ Anfang August kommt am Gardasee die Hitze, die sich in der letzten Juliwoche ankündigt. Erst der September ist wieder erträglich. Ende August war mir der Sommer zu viel. Aber ich konnte mich auch nicht dazu entschließen, den Besuch vorzeitig abzubrechen. Irgendwie war ich der Situation auch ausgeliefert. So ganz unangenehm war es auch nicht. Für Unterhaltung war gesorgt. Der Gardasee hat schon etwas zu bieten. Es war eine kurze Zeit, in der sich das Erleben verdichtete. Das eine Ereignis ging in das andere über, so als seien sie ein einziges Ereignis. Wir feierten noch am vorletzten Abend meiner Rückfahrt in einem Restaurant in den Bergen mit Freunden vom Fernsehen, die auf einem Trip am Gardasee unterwegs waren. Bei dem Rückweg verzögerte die Brünette ihre Schritte, so dass wir uns von den anderen trennten. Wir standen in Berggärten und sahen auf den nächtlichen Gardasee. „Ich möchte nicht zu lange mehr hier bleiben. Wir trefen uns spätestens Ende September. Ich bin den Aufenthalt hier etwas müde geworden. Die Schönheit des Gardasee hat etwas Totes. Eigentlich nervt mich hier sehr schnell das ganze Getue. Wir sollten uns im Herbst wieder einmal für ein paar Tage in eine Stadt absetzen. Lissabon wäre doch einmal ein Kontrasterlebnis. Mir wird meine Gesellschaft in der letzten Zeit schnell überdrüssig. Es bedarf der Kompensation, um nicht von dem ganzen Unsinn verschlungen zu werden. Melde mich, wenn ich in Frankfurt zurück bin. Danach bin ich kurz in Berlin und Köln. Ich fahre mit Dir nach Mailand. Es wird dich nicht umbringen, wenn wir dort noch zwei Tage bleiben. Du bist von dort mit dem Nachtzug im Katzensprung in Frankfurt.“ Ich war erleichtert, wieder in Frankfurt zurück zu sein, da mich plötzlich der Gardasee und alles was mich da umgab, in einen niedergeschlagenen, einen nicht fassbaren Zustand versetzte. Zudem hatte ich zu dieser Zeit wieder viele Kontakte in Frankfurt, die mich trugen und anregten. Der Satz der Brünetten, mit dem die Geschichte mit ihr begann „Ungewollt kommt oft“ sollte eine traurige Bewahrheitung erfahren. Im Oktober rief mich der Boss des Hessischen Rundfunks an. Ich war nicht schlecht überrascht, als ich seine Stimme hörte. Mit Anrufe von ihm, hätte ich nicht erwartet. Er kam auch gleich zur Sache. „Sie ist tot krank. Es ist die Lunge. Sie wird es nicht überleben. Sie möchte, dass du kommst“, sagte er. Seine Stimme war zu merkbar ruhig und gefasst, so dass man merkte, dass er damit nicht zu recht kam. In diesem Augenblick überiel mich eine Angst als sei ich davon selbst betrofen. Es war so, als sagte eine Stimme in mir: 143 „Nur nicht. Fliehe!“. Am Telefon redete ich mich heraus. Dabei blieb es auch bei den nächsten Anrufen, obwohl er mich bekniete, doch zu kommen. Im Januar 1985 kam sie ins Krankenhaus. Im daraufolgenden Mai verstarb sie. Ich war nicht in der Lage, zu ihr zu gehen. Ihr noch einmal in die Augen zu sehen, was ich doch so gern tat und das sie immer wieder mochte. Ich versagte auf der ganzen Linie. Dr. Auerbach traf ein Jahr später der Aidstod. Auch zu ihm fand ich nicht den Weg. Mir fehlte der Mut. Ich war ein Feigling, ein Versager. Es war alles anders gekommen. Hätte es so kommen müssen?! Zwangsläuig verketten sich die Ereignisse. Wenn die Kette unterbrochen ist, so treten wir in den Ausnahmezustand. Das erfordert Entscheidung. Da erleben wir, was an uns ist. An mir war ofensichtlich nicht viel. Da war nichts mehr auszugleichen und gut zu machen. Die Brünette gehörte nicht zu den Frauen, die ihre„schwachen Stunden“, die jeder einmal hat, mitteilten. Dazu war sie zu berechnend und selbstkontrolliert. Es ist spekulativ, vielleicht war das der Auslöser ihrer tödlichen Krankheit. Das ist nicht erforschbar. „Was tot ist, das kann man vergegenständlichen, solange man lebt ist man irgendwie dabei“, sagte sie einmal. Die Brünette überkamen aber, von außen dargestellt, vermutlich solche Zustände. An einem frühen Sommerabend, wir bereiteten uns auf einen Opernbesuch vor, ging sie zum Fenster, von dem aus man auf die Dächer des Frankfurter Westends blicken konnte. Sie zündete sich eine Zigarette an und blickte auf den sich ankündigenden Abend. Es war das Tageslicht, das in den Sommertagen zu dem Licht des Abends übergeht. „Wenn man berechnend ist, so hat man keine Freunde ...“ sagte sie, zog an ihrer Zigarette. Anscheinend beabsichtige sie den Satz fortzuführen. Sie sah noch eine Sekunde in den aufdämmernden Abend und brach ab. „Bestelle das Taxi, wir fahren zur Oper, wir gehen noch vor der Auführung eine halbe Stunde Richtung Main“. So war es dann auch. Es wurde ein gelungener Abend. „Ende vom Lied“, es war vorbei. Man blieb übrig. Irgendwo, irgendwie. Erst vom Ende her, bekommt die Geschichte ihre Struktur. 10. Mai 2010 144 Je est un autre Mitte Juni ing der Sommer an. Es wurde sofort drückend. Frankfurt ist im Sommer kein vorteilhafter Aufenthaltsort. Die Stadt liegt in einem Tal und die Luft staut sich. Anfang Juli stellte sich Hitze. Es iel mir schwer am Tag das Zimmer zu verlassen. Meistens schlief ich tagsüber. Erst am frühen Abend kam ich so langsam zu mir. Auch zu diesem Zeitpunkt quälte noch die angestiegene Temperatur. Die warme Luft hüllte einen ein. Es war so, als ob sie nach einem grif. Immer mehr begab ich mich in einen Zustand, der mich von der Außenwelt entfernte. Erinnerung, Traum und Einbildungskraft spielten ineinander. Schloss ich die Augen, so traten bildhafte Zustände ein. Stimmen sprachen, ohne dass sie einen ansprachen. Es war jetzt fast 25 und 24 Jahre her, als die Brünette und Dr. Auerbach starben. Mir tat es nicht leid, sie nicht tot gesehen zu haben. Beide hätten sich mir dadurch entfremdet. Ich merkte nur diesen Zustand. Es war so, als würden sie neben mir stehen. Es war kein Gefühl, sondern eine Wirklichkeit. Traum und Realität verschmolzen sich im Erleben. Es bedarf dann eines Schocks, um die Innen-Außenunterscheidung wieder ins Bewusstsein zu heben. Trotz der andauernden Hitze am Tag, waren die Nächte erträglich. Gelegentlich wagte ich mich dann zu Fuß in die Innenstadt. Es war bei solchen kleinen Auslügen vorsichtig zu sein. Die Grundsituation war eine veränderte. Kleine Banden überielen einzelne Nachtwanderer. Sie waren meist zu dritt oder viert und mit Messern und Schlagringen ausgestattet. Zu einem Kampf durfte es da nicht mehr kommen. Das wäre aussichtslos gewesen. Es war ihnen im Vorfeld der Schneid abzukaufen. Gelang das, so konnte man davon kommen. Die Verwaltung gab bereits Warnungen heraus. Man begegnete in der Innenstadt niemanden. Gelegentlich einem Radfahrer. Der Autoverkehr war gering. Dr. Auerbachs Karriere war beim Hessischen Rundfunk nicht so groß, wie sie sich nach Außen darstellte, aber er hatte Erfolg. Seine Sendungen kamen an und er bekam mittlerweile auch von anderen Rundfunkanstalten Aufträge. Er nahm jeden Auftrag an. Es entsprach seinen Fähigkeiten und Interessen. Zudem entdeckte er sein Geschick als Netzwerker. Er benötigte aber jemanden, mit dem er Reden konnte. Jemanden, demgegenüber er sich über seine Themen aussprechen konnte. Das hatte zur Folge, dass wir in den Jahren zwischen 1980-1984 öfters Trefen vereinbarten. Er entdeckte wieder sein Interesse für Musik und ing an, kleine Essays zu schreiben. „Die Idiosynkrasien der Vergangenheit hinter sich lassen. Sie wirken sich er- 145 kenntnishemmend und blockierend aus. Vor allem. Ganz groß schreiben: Es gibt zwei Wege in die moderne Musik. Das ist oft verkannt worden. Schreibe jetzt etwas über Bartok als Musiklehrer“, waren die Leitlinien. Das Ganze ging damit einher, dass sein Lebemannsein aufwendiger wurde. Gerne fuhr er zu irgendwelchen Lover nach Paris oder in eine andere Stadt. Dabei mochte er nicht allein fahren. Nach Paris und London schleifte er mich mit. Seine Sucht nach sexuellen Abenteuern kannte keine Grenze. „Schwänze sind etwa Schönes, du bist ja ein zwanghafter Heterosexueller. Schwer nachzuvollziehen, was einem an den Geschlechtsteilen einer Frau gefallen kann. Was einen da verrückt machen soll! Das ist doch zwanghaft. Mir soll’s recht sein, so lange ich nicht verstoßen werde. Steck ihn halt irgendwo hinein. Verliere dich in dem Gewimmer der Frauen. „Erbarmen mit den Frauen““, sagte er. Dabei sang er den letzten Satz. So pendelten wir regelmäßig zwischen Frankfurt und Paris. Ich hatte ihm nicht verschwiegen, dass sich die Brünette wieder gemeldet hatte. Zudem traf er sich oft mit ihr. Sie besprachen Projekte. Da sollte er informiert sein. Die Brünette hatte zwar ihm gegenüber lange Vorbehalte und war gerade nicht entgegenkommend, aber es stellte sich für ihn eine kleine Karriere bei ihr ein. Das hing auch mit ihrer veränderten Situation der Ehe mit dem Boss des Hessischen Rundfunks zusammen. Sie hatte überall ihre Hände im Spiel, ohne dass auf den ersten Blick auszumachen gewesen wäre, was damit beabsichtigt war. Ihre sozialen Netze brachten eine unbeabsichtigte Folge mit sich, dass sie sich in ihnen in eine isolierte Position brachte. Zu dem wiederbelebten Kontakt mit der Brünetten äußerte sich Dr. Auerbach weiter nicht, sondern sah mich mit etwas drehenden Augen an, so, als wolle er sagen: „Kein Wunder!“ Es kam aber noch ein anderer Umstand hinzu, dass die Brünette mit Dr. Auerbach Kontakt hielt. Dr. Auerbach schrieb an einem Essay über Gustav Mahler. Wie ich die Beziehung einschätzte, beabsichtigte sie, ihre Mahlerinterpretation in’s Spiel zu bringen. Das war ihr in der Vergangenheit ein Anliegen gewesen. Es fand sich aber keine Gelegenheit, ihren Zugang so richtig an den Mann zu bringen. Dazu eignete sich Dr. Auerbach durchaus. Sie konnte bei der Verfolgung solcher Absichten sehr geschickt und einnehmend sein. Es war dann so, dass man gar nicht merkte, dass sie ein Kuckucksei legte. Es mag mir ihrer Art der Selbstbeziehung zu tun zu haben, dass dieser Ehrgeiz sie nicht losließ. Mir war das von ihr vertraut. Ich selbst hatte dagegen gar nichts und ließ es geschehen, da es mein Verständnis von mir Fremden erweiterte. Dr. 146 Auerbach schien sich durch den Kontakt mit ihr etwas, fast unmerklich, zu verändern. Er wurde distinguierter. Vor allem, wenn er sprach, schien er ganz in sich gegangen zu sein, bekam plötzlich einen lebendigen Ausdruck und die Augen wurden größer. Wenn wir unterwegs waren dozierte er gerne. „Das Mahler-Essay wird besser. Es wird feiner. Nein, eher sollte es ein Kristall sein. Aber das passt nicht zu Mahler. Habe den ganzen Tag an nur einer Seite geschrieben. Sie verworfen, neu geschrieben, bin im Zimmer hin und her gegangen. Hörte die Symphonien wieder zwei Tage durch. Morgen trefe ich Deine, wie soll ich sagen, verlossene Brünette. So richtig verlossen ist sie ja noch nicht, oder? Wie ließt sie dahin? Mach es ihr schön. Ich sehe an ihren Augen, wenn du sie gevögelt hast. Sie haben dann einen Ausdruck, der kaum zu beschreiben ist. In ihnen drückt sich ein Zustand der Bestimmung, des bestimmt worden seins aus. Alles wirkt dann an ihrem Körper anders. Mir fehlen die Wörter. Man kann davon sprechen, aber es gehört zu den Fällen, die man gesehen haben muss, um sie zu verstehen. Vom Hörensagen kommt man da nicht weiter. Wir kommen vom Thema ab. Ich bin etwas weiter gekommen. Mahler war der Überzeugung, dass sich nach Richard Wagner die Symphonik und die Dramatik trennen. Deshalb seine Rückwendung zu Beethoven. Die Verzweilung der 6. setzt sich in der 7. Symphonie fort. Die 8. Symphonie vereint noch einmal WELT und Symphonie. Sie ist der Abschluss. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Das, was unbeschreibbar ist, kann wiederum nur in Gleichnissen beschrieben werden. Das Universum beginnt zu klingen. Mahlers Musik ist Mystik. Sie führt uns dem Verständnis der Zeit näher. Vermutlich ist Husserl Zeitanalyse, auch Wittgenstein Äußerungen zurzeit im Umkreis des Tractatus, durch Mahler beeinlusst. Je mehr ich mich mit Mahler beschäftige, umso mehr entdecke ich mich selbst. Seine Wagner Inszenierungen waren eine Innovation. Die Oper wurde durch ihn wieder zu einem sakralen Ort. Von ihm ist ein schöner Satz überliefert: „Was ihr Tradition nennt, ist nichts anderes als Bequemlichkeit.“ Aber auch: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht der Asche.““ Als Dirigent wendete er sich mit allen seinen Sinnen den Instrumenten zu.“ „Krisen sind nicht nur der Ausdruck einer Depression, das ist kleinbürgerliche Psychologie, sie haben etwas mit Verdichtung zu tun. 1907 beginnt Mahlers Spätwerk die 9., das Fragment der 10. Symphonie, das „Lied von der Erde“. Die Vertonung der Lieder ist keine Begleitung mehr. Sie bezeichnete Mahler als seine 9. Symphonie. Der traurige Ton indet sich erst bei den „Kindertotenlieder“. Mahlers 9. Symphonie bedeutet das ENDE. WELT und Traum fallen auseinander. Am Ende der 9. Symphonie verschwindet 147 die Musik im Nichts, so wie sie in der 1. Symphonie aus ihm heraustrat. Danach kommt das lange Adagio der unvollendeten 10. Symphonie. Es ist eine Ironie, dass gerade die Urauführung der 8. Symphonie Mahlers persönlich größter Erfolg war. Wird so 1910 gewesen sein. Am 18. Mai 1911 starb er in Wien. Der Künstler ist zu einem Doppelleben zwischen WELT und Traum (Einbildungskraft) verurteilt, wenn sich beides vereint stürzt er ab. Ja, WELT und Traum, das ist es. Jetzt hab’ ich’s. Vergleiche noch die beiden 4. Symphonien von Robert Schumann und Mahler. Schreibe auch noch etwas über Beethovens letztes Streichquartett in F-Dur. Das ist nicht überboten worden. Großartig! Ich kann es nicht fassen, dass so etwas möglich ist. Tippe noch heute alles in die Schreibmaschine und bringe es dir vorbei. Lass den Text auf dich Wirken. Aber jetzt kippen wir schnell noch einen. Du kommst doch noch mit?“ Trotz seines extensiven Lebensstils konnte Dr. Auerbach diszipliniert arbeiten. Seine Beziehung zu Texten hatte etwas Sexuelles. Er konnte sich in sie ganz versenken, so als gäbe es keinen Hauch zwischen Lesen und dem Erfassen des Gehalts von Geschriebenen. Er war dabei Selbstvergessen. „Das Sexuelle verbindet den Leser und Schreiber mit dem Da-Sein. Aber das sind nur Augenblicke, in denen wir Erleben, was wir sind, ohne es erfassen zu können“, hörte ich von Dr. Auerbach gelegentlich sagen. Er bemerkte es eher so nebenbei im Café oder bei unseren Touren durch die Stadt. Es stellen sich Erinnerungsbruchstücke ein, die aber nur bewusst werden, wenn ich sie niederschreibe. Es ist so, als würden sie dabei gezeichnet, ohne dass es Bilder wären. Bei geschlossenen Augen treten die Figuren ein. Sie sind wirklich-unwirklich. Dann verschwinden sie plötzlich. Das Leiberleben stellt sich ein. Zum Sitzen sind wir anatomisch nicht konstruiert. Hin- und hergehen und sei es nur im Zimmer. Dabei ordnen sich die Gedanken. Aber dabei verschwinden sie sofort wieder. Sie sind nicht mehr fassbar. Es ist so, als seien sie nicht gewesen. Ab 1982 häuften sich unsere Parisaufenthalte. Wir mochten zeitweise von dort gar nicht weggehen. „Man lebt in diesen Städten wie Paris, London, New York auf. Es tritt sofort eine Verwandlung ein, wenn ich dort ankomme. Wir sollten uns das nicht entgehen lassen. Es ist so, als würden wir einen überpersonalen Blickwinkel einnehmen. So fühlt man sich“, waren seine Worte. Die Brünette sah ich in diesem Jahr nur zweimal. Sie kam erst wieder Anfang 1983 vorbei. Dr. Auerbach bedachte mich fortlaufend mit Aufgaben. Gerne recherchierte ich für ihn und bereitete Texte vor. Es regte meine Einbildungskraft an, ihm 148 diesen Dienst zu erweisen. Als Autor war ich nicht beteiligt. Das gab mehr Spielraum, auf der Reise in die so sperrigen Gegenstände, die man Bücher nennt. Wenn wir in Paris waren, sah ich Dr. Auerbach meistens am Abend bei einer Fete. Tagsüber hielt ich mich in Galerien und Bibliotheken auf. Gelegentlich stand ein Auslug in die Landschaft der Impressionisten an. Ich begab mich mit ihnen auf den Weg in die Landschaft. Das war ein reichhaltiger Kontrast von der Stadt „Paris“ auf das Land und vom Land zurück nach „Paris“. Es stellte sich Aufgewühltsein und zugleich von Gelassenheit ein. Dr. Auerbach hatte Kontakte zur Pariser Kunstszene geknüpft. Das war bei seinen Neigungen einfacher als man sich das auf den ersten Blick denkt. So lies es sich nicht vermeiden, dass Einladungen auf Vernissagen anstanden. „Heute habe ich etwas Besonderes. Wir gehen zur Galeristin. Da werden sich neue Kontakte ergeben. Kommst du mit?“, fragte er. Mir war gar nicht danach, da ich durch die Auslüge in die Umgebung von Paris etwas erschöpft war und mich danach gerne zurückzog. Aber wie sich das in solchen Fällen oft verhält, ich mochte es ihm auch nicht abschlagen. Also kam ich etwas angeschlagen mit. Mir iel die Galeristin gleich auf. Sie war etwas jünger als ich. Vielleicht 34 oder 35 Jahre, dunkelhaarig und trug eine körperbetontes Kostüm. Ihrer guten Figur konnte man sich nicht entziehen. Sie drängte sich geradezu auf. Geschäftig sprach sie mit den Besuchern. Als wir den Raum betraten kam sie auf uns zu. Sie war neugierig auf die Begleitung, die Dr. Auerbach im Schlepptau hatte. Sie musterte mich, lachte etwas und setzte zu einer Triade an: „Was hast du denn da für einen Schluck Wasser dabei? Aus dem Krankenhaus kommt er doch nicht? Dem kann man doch abhelfen. Dagegen gibt es doch bei uns Mittel. Wir sollten ihm gleich einen Espresso und einen Cognac einlössen“. Um aus der verlegenen Situation heraus zu kommen, ing ich einfach an mit ihr zu Reden. Es war irgendetwas. Vor allem beeindruckte sie mein lüssiges Französisch. „Kommt doch die Tage einmal bei mir in der Galerie vorbei“, sagte sie, als sie sich wieder den anderen Gästen zuwandte. Ich sah ihr dabei kurz in die Augen. Es blitzte kurz ihr Blick zurück. Es war so, als ob er mich berührte, wir uns beide berührten. Als wir gingen hörte ich Dr. Auerbach: „Geh ruhig die Tage bei ihr vorbei. Irgendetwas ist zwischen euch abgegan- 149 gen. Vermute, dass sie Liebhaber hat. Unsereins hat das im Urin. Da weiß man gleich Bescheid. Erwarte interessante Spiele.“ Drei Tage später ging ich nachmittags in die Galerie. Die Galeristin war gar nicht überrascht, als ich auftauchte. Sie hatte nichts Weiteres vor. Wir tranken Kafee und gingen dann zu Wein über. Nach zwei Flaschen sagte sie „Jetzt steuern wir die Passhöhe des Geschmacks an. Lassen wir die Hemmungen fallen.“ So kam es auch. Sie machte einen tollen Sex. Sie trat aus sich heraus und konnte nicht genug bekommen. So rastete eine Beziehung ein. Zwar war die Galeristin mit einem erfolgreichen Unternehmer verheiratet, aber sie hatten sich arrangiert. Dr. Auerbach war ganz gierig auf meinen Bericht. Er war von den Ereignissen ganz angetan und erfreut. Im Rückblick rennen die Ereignisse an mir vorbei. Ich kann sie nicht fassen. Zudem überschlugen sich in den Jahren zwischen 1983-1986 die Ereignisse. Da die Galeristin eine Hilfskraft in der Galerie suchte, bot ich mich ihr an. Das brachte es mit sich, dass ich fast täglich in der Galerie war. Die Galeristin schätzte meine Anstelligkeit. Regelmäßig folgen wir nach Nizza. Am Wochenende war sie auf dem Land und plegte ihre Ehe. Montags Mittag tauchte sie in der Galerie auf. Sie schaute mich dann etwas undurchsichtig an. Sie brauchte dann etwas anderes. Zwischen 1984-86 ing ich wieder an zu zeichnen. Es ging mir dabei um den Ausdruck des Unbegrilichen. Das was sich plötzlich im Erleben einstellt. Dabei saß ich selbstversunken da und lies den Stift einfach über das Papier gleiten, ohne dabei nachzudenken. Jedes Nachdenken blockiert den Ausdruck. Ich merke, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Die Erinnerung brechen plötzlich ab. Es treten Erinnerungslücken ein. Auch die Abfolge der Ereignisse verschwimmt. Ich schließe die Augen und versuche weiter zu schreiben. Es reihen sich Wörter an Wörter. Erinnerungsbilder stellen sich ein. Sind es wirklich „Bilder“ oder liegt da eine Täuschung vor? Sie haben keine Entsprechung. Die Beziehung zu der Galeristin hatte etwas Unwirkliches. Es war so, als seien wir nur für unser Vergnügen dar. Sie neigte zu einer Erlebnissüchtigkeit und brauchte Sensationen, wie sie sich ausdrückte. Man durfte bei ihr kein Langweiler sein. Ihre dominante Art störte mich nicht. Wenn man sich auf Dominanz einstellt, so eröfnet das Optionen, die man sonst nicht hat. So rannten die Tage dahin. Ich wusste nicht, wo ich überhaupt war. Das Zeichnen war ein Fluchtpunkt. Der Galeristin geielen die Zeichnungen. Sie dachte an eine Ausstellung, aber das hätte mich gestört. „Du bist irgendwie verrückt. Mit dir kann man so manches machen. Das ging bei Anderen nicht. Unsere Zeit ist begrenzt. Das gibt dem Erleben eine 150 Konzentration, die ungewöhnlich ist. Das lässt uns aus dem Beziehungstrott heraustreten. Vielleicht möchte ich dich morgen nicht mehr sehen oder du brennst mit irgendeinem kleinen Mädchen durch. Das wäre nichts Ungewöhnliches. Wir sollten nichts versäumen.“ sagte sie. Die Ereignisse überschlugen sich wirklich. Der Tod der Brünetten und von Dr. Auerbach veränderte meine Situation, da mir auf einmal die Bezugspunkte fehlten. Das war mir vorher gar nicht bewusst gewesen. Es war kein Trauma, sondern ein Zustand der Verwirrung. Irgendwie fühlte ich mich als zurückgelassen und wusste nicht, was ich anfangen sollte. Die Galeristin half mir, die Zeit zu überbrücken und sorgte für Abwechslung. Sie war sehr einfühlend und machte mir das Leben komfortabel. Ihren Ehemann lernte ich nicht kennen. Sie erwähnte ihn auch weiter nicht. Ab 1986 blieb ich längere Zeit wieder in Frankfurt und fuhr nur gelegentlich nach Paris. Die Galeristin hatte einen neuen Liebhaber. Ihre Rede war: „Das soll uns nicht behindern. Rufe durch und sage mir, wann du kommst. Dann lässt sich irgendetwas arrangieren. Wir können es auch auf einer Parkbank machen. Wir sollten unseren Kontakt nicht ganz verlieren. Machen wir uns doch keine Probleme, wo keine sind. Wir treten in den Ausnahmezustand. Die Ausnahme erfordert die Entscheidung: hier und jetzt. Und dann ist es plötzlich vorbei. Es geht weiter. Wir inden uns irgendwo wieder.“ So war es dann auch. Mein Zustand wurde unwirklicher. Die Unruhe vergrößerte sich. Irgendwie zog sich zwischen mein Erleben und der Außenwelt ein Schleier. Am Anfang der 1990er Jahren verlor ich den Kontakt zur Galeristin, ohne dass es dafür eine Erklärung gab. Der August 2010 geht zu ende. Vor mir auf dem Schreibtisch liegen die Hefte, in die ich den Text niederschrieb. Mir ist nicht so bewusst, warum ich Schreibhefte für Niederschriften verwende. Zettel würden mich aus der Fassung bringen. Sind es ihre weißen Seiten oder ihre Handhabbarkeit, die mich zu Heften greifen lässt? An den Seitenrändern sah ich die kleinen Zeichnungen. Auf manchen ganzen Seiten war auch eine Skizze von Stadtmotiven zu sehen. Das Talent zum Zeichnen war mein Unglück, kam mir in den Sinn. Das fasst nicht die Gedanken. Sie verlaufen in alle Richtungen und werden durch die Zeichnungen gar nicht dargestellt. Verfolge ich die Striche, so stellen sich andere Gedanken ein. Die Erlebnisse verlieren ihren Umweltbezug. „Die sogenannte Moderne, die Neuzeit oder wie man das auch nennen mag, hat uns eine Absurdität beschert. Die Welt ist nicht erkennbar, aber eine unendliche Erforschung des Selbst soll möglich sein“, 151 sagte Dr. Auerbach einmal. Ich schrieb die Jahreszahlen der Niederschriften auf eine neue Seite: 29. September 2007, 26. Dezember 2007, 21. Januar 2008, 24. Februar 2008, 16. März 2008, 17. April 2008, 19. Mai 2008, 25. August 2008, 15. Dezember 2008, 16. Oktober 2009, 5. Januar 2010, 10. Mai 2010, 20. August 2010. Was ist dabei festgehalten worden? Mit den Zeitangaben ist gar nichts mehr anzufangen. Kann die Vergangenheit als abgelegte Zeit erlebt werden? Ist sie in der Abfolge von zwei Augenblicken (jetzt, jetzt) erlebbar? Oder gehören Erinnerung und Vergangenheit nicht zum Erleben? Erleben wir nur Abschattungen? Marcel Proust würde annehmen, dass es so etwas wie die Wiedergefundene Zeit gibt, die wir in der Abfolge von Augenblicken erleben. Nach Henri Bergson erleben wir die Vergangenheit nicht. Wir haben nur Erinnerungsbilder. Was ist dabei mit „Bildern“ gemeint? Erinnerungen, die sich einstellen, sind keine Fotograie, die sich für eine Autobiograie eignen würden. Bilder tauchen plötzlich auf. Sie lösen sich auch durch Blicke, Stimmen, Geschmäcke, Geräusche und Töne aus. Die Bilder der Einbildungskraft sind auf einmal da. Sie klingen unmerklich nach und sind wieder verschwunden. Dem Erinnern fehlt das verbindende Band. Husserl fügte Retentionsketten ein um die Verbindung herzustellen. Die bildlichen Vorstellungen sind nicht aneinandergereiht. Treten sie ein, so sind sie fremde Gäste, die auf einmal vor einem stehen? Diese Vorstellungen sind auch keine Bilder, die wir uns länger oder kürzer anzusehen mögen. Sie sind auch keine Allegorie. Es sind Gestalten ohne Gestalt. Ihnen fehlt die Einheit als Anfang und Ende eines Ablaufs. Aber was ist diese Einheit? Ist die Einheit der fortlaufende Abschluss und Wiederanfang, der nur in sich kreisen kann, aus dem wir nicht heraustreten können! Jedes Ereignis kann nur in die Gegenwart eintreten, um zu verschwinden. Das gilt auch für Neues und jeden neuen Tag. Sie können nicht in die Gegenwart eintreten, ohne ihren Charakter des Neuen zu verlieren. Die erlebte Gegenwart kann nur als etwas in einer vergangenen Zukunft beschrieben werden. Wenn Gegenwart als eine Unterscheidung der Nichtübereinstimmung von Vergangenheit und Zukunft zu begreifen ist, dann sind in der Gegenwart nur noch Entscheidungen zu einem Und-so-weiter zu kennzeichnen. Es kann und mag ofen bleiben, wann und wem sie in der zukünftigen Gegenwart in der vergangenen Zukunft zuzurechnen sind. Die Gegenwart ist kein einzelner Zeitpunkt. Wir können nicht festhalten, wo er anfängt und aufhört. Die Störung fängt da an, wo wir die Zeit nicht 152 mehr als früher und später erfassen können. Unser Selbst ist auf die Zukunft ausgerichtet. Durch die Verschriftlichung der Zeit geht sie in eine räumliche Struktur über. Die Abfolge der Augenblicke wird unterbrochen. Ihre Bestandteile sind beeinluss- und austauschbar. Wenn wir etwas erinnern, schreiben wir eine Geschichte neu. Wir schreiben sie um. Man sagt: Erinnerung hat eine Richtung nach vorn. Aber das ist ein Trugbild. Erinnerung ist eine Erindung. Das Gedächtnis erindet seine Geschichte, da es zeitlich ist. Wir können uns nicht selbst erfassen. Wir bleiben uns letztlich verborgen. Die Zeit täuscht darüber hinweg, da sie vorgibt, es gebe ein Anfang und ein Ende. Das sind aber nur Setzungen, die wir vornehmen. Wir sind bereits tot, wenn wir geboren werden. Wir sind nicht. Wir sind nur als uns selbst undurchsichtig, als ixiert an das Später, die Erwartung. Wenn das Erwartete eintritt, ist es zugleich vergangen. Die vor mir liegenden Hefte irritieren mich. Lese einzelne Seiten durch. Fange an, am Text zu korrigieren. Die Korrekturen gehen in Umschreibung über. Es gibt nicht nur einen Text, auch nicht den ersten Text. Der Text setzt sich selbst voraus. Er unterläuft die Unterscheidung zwischen Geschriebenem und Nichtgeschriebenem. Er kann nicht anfangen und nicht aufhören. Jedes Aufhören ist vorübergehend. Auf einmal stellt sich ein, dass sich nicht nur der Text neu schreibt, sondern, dass er anfängt, sich selbst zu beschreiben. Was er darstellt, mitteilt und ausdrückt, unterscheidet er in sich selbst. Insofern gibt es keine Welt außerhalb des Textes. Der Text kann seine Grenze zu seiner anderen Seite nicht überschreiten. Er kann sein Aufhören nur im Text durch eine Textende markieren. Es tritt eine Paradoxie im Objekt auf: Der Text ist kein Dokument des Autors, sonst könnte er den Leser nicht erreichen. Wenn sich der Text nur selbst beobachten kann, so kann er nur paradox kommunizieren, da sich seine Mitteilung und seine Darstellung miteinander zu verschwören haben. Insofern hat er auch Unverständliches zu kommunizieren. Der Text kann sich nicht selbst-ofenbaren. Wäre das so, so würde er seinen Ausdruck wechseln und wäre kein Text mehr. Der Text kann sich nur als Text mitteilen. Kann er sich in der Textevolution selbstdekonstruieren? Dekonstruiert er den Autor, wie bei Stephan Mallarmé, dann bleibt nicht die Darstellung, sondern die Operation zurück. Wird dagegen die Darstellung dekonstruiert, so löst er Ausdrucksformen -- die Form des Romans -- auf, wie in John Dos Passos’ Manhattan Transfer. Beides kann nur durch Selbstreferenz erfolgen. Eine Selbst- ohne Fremdreferenz gibt es aber nicht. Wir können nicht an den Rand des Textes gehen und seine Grenze zu seiner anderen Seite überschreiten. Er kann sich nur selbstirritieren. Das kann der Text aber 153 wiederum nur durch die Unterscheidung zwischen Text und Umwelt, die nur im Text vorzunehmen ist. Rosa Ausländer (1901-88) konnte nur leben, wenn sie schreibt. „Wer bin ich, wenn ich nicht schreibe?“ war ihre Selbstseins-Frage. Ihre Dichtung lernte ich erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durch die Brünette kennen. Sie kannte sie selbstredend. „Da gibt’s ja etwas nachzuholen“, sagte sie. Spät, aber nicht zu spät. Sie ist ein Meister der Reduktion mit einer Nähe zum Expressionismus. Dichtung ist für sie Existenzerhellung. Sie lag die letzten zehn Jahre ihres Lebens im Bett und schrieb. Sie arbeitete ihre Dichtung immer wieder um. Eine Art „Handwerk des Lebens“, um es mit Cesare Pavese auszudrücken. Es wird berichtet, dass der Titel ihrer letzten Gedichtsammlung „Der Traum hat ofene Augen“ (1987) ihre letzte Niederschrift war. Nachdem sie aufhörte zu schreiben wartete sie gelassen auf den Tod. Sie hatte nichts mehr niederzuschreiben. „Ich bin kein Schriftsteller, sondern jemand der schreibt.“ Thomas Bernhard, schießt mir dabei durch den Kopf. Als ich die Schönheit vor über zwanzig Jahren das erste Mal erlebte, stand das Bild von Burne Jones „Der König und die Bettlerin“ vor meinen Augen. Es hängt in der Tate Gallery in London. Es ist ein typisches Bild der Prärafaeliten. Auf ihm wird das Gestimmtsein dieser Künstlergruppe aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar. Das Weltvertrauen ist verloren gegangen. Man tritt in eine Verklärung ein, die symbolisch ausgedrückt wird. Der Prinz kauert an einem Brunnen und in der oberen Bildhälfte steht eine blasse, schlanke und langhaarige junge Frau. Sie wirkt so, als kommt sie gerade von einem anderen Stern. Ich war von diesem Bild gerührt gewesen. In einem Augenblick stand die Frau aus dem Bild vor mir. So, als wäre sie aus dem Bild herausgetreten und zu einer greifbaren Fantasie geworden. Etwas, dass es nicht gibt. Vermutlich wird keine Psychologie, die man inden könnte, erklären, dass sie mich nicht schon sehr bald verlassen hat, zumal sie zwanzig Jahre jünger war, sondern bei mir bleiben mochte. Ich konnte sie auch nicht davon abbringen. Im alten China war es üblich, dass Bilder hinter Vorhänge aufzuhängen. Wenn man ein Bild sehen mochte, zog man ihn auf. Dahinter steht ein wirklich tiefe Einsicht, die uns im Westen abhanden gekommen ist: Man kann auch Bilder, die einen bewegen und in einen anderen Zustand versetzten, nicht 154 fortlaufend ertragen. Es bedarf der Unterbrechung. Da ich von einem Bild gerührt war, ist die lange Zeit vielleicht nicht so wichtig. Das Bild stellt sich plötzlich ein und verschwindet wieder. Die Dauer des sich wiederholenden Augenblicks zieht dabei eine gewisse unbeabsichtigte Beharrlichkeit nach sich. Die Bilder bleiben kleben, und so reiht sich das eine an das andere Bild. So tritt man in einen Bilderstrom ein. Etwas, das einem entzogen ist, da wir uns in diesem „Strom“ nicht selbst erfassen können. „... und doch erleben wir die Geschwindigkeit der Zeit, die an uns vorbeiliegt, wir erleben sie als etwas Äußeres, wir beobachten Veränderungen, aber unsere Bewusstseinszeit soll ein „Strom“ sein, in dem wir uns selbst erfassen? Rätselhaft!? Malstrom, Wahrnehmungsangst, Der magische Nullpunkt ist erreicht, Ästhetik der Katastrophe, des reinen Erlebens“ sagte Dr. Auerbach einmal. Es ist spät geworden. Nicht„spät“, sondern früh. Die Tagesgeräusche fangen an, breiten sich aus und umfassen. Eine Geräuschglocke, die sich grenzenlos ausdehnt. Das Ende tritt nahe. Vielleicht ist noch etwas ZEIT. Aber das entzieht sich dem Erleben. Das Bewusstsein läuft solange weiter, bis es wie eine Uhr stehen bleibt. Es kann sich in jedem Augenblick ereignen. Es ist wieder Frühjahr. Ungewöhnlich Wärme kündigt sich in diesem Jahr an. Ab Juli legte sich eine unerträgliche Hitze über die Stadt. Gehe vormittags in die Stadt. Laufe zu Fuß. Irgendwo hin. Stelle mich an den Straßenrand und sehe den Autos nach. Eine poetische Situation. Stehe da und sehe den Autos nach. Die Autofahrer wirken ganz fremd. Ihr Blick ist angespannt. Die Haltung verkrampft. Irgendwie ist es unangenehm mit dem Auto zu fahren. Nehme dann eine U-Bahn, die vormittags nicht übermäßig benutzt werden. Fahre bis zu irgendeiner Endstation. Steige aus. Laufe etwas herum. Wenn es irgendwo eine Bank gibt, was eher selten ist, lege mich auf sie und schlafe. Rauschen umgibt mich. Höre in das Rauschen hinein. Ein schönes ENDE. Wer weiß, ob es mir so geschenkt wird. Es kann jeden Tag geschehen, aber es könnte sich auch noch etwas hinziehen. Es ist mir gleichgültig. Ich erwachte. Rieb mir die Augen. War das Erlebte geträumt. Träumte ich mich selbst. Träume reichen in das Wachbewusstsein hinein. Es stellten sich liesende Übergänge ein. Träume sind kurz, obwohl wir sie als lange erleben. Ich wusste nicht mehr, ob ich mein Leben lebte oder man es mir erzählte. 155 Es iel mir der Satz ein: Die ZEIT ist es, die nicht zu erfassen ist und in den Abgrund stürzt. Vor mir stand ein lachendes Gesicht. Die Schönheit, die so aussah, wie die Bettlerin auf dem Bild von Edward Burne-Jones „Der König und die Bettlerin“ stand vor mir: „Du liegst ja noch im Bett. Es ist Mittag. Hier sind Deine Tabletten. Stehe doch jetzt auf! Oder soll ich mich zu Dir legen? Lieber nicht, da ist der alte Mann gleich etwas überfordert. Das verschieben wir lieber etwas. Wann bist du denn in die Horizontale gegangen? Habe schon Kafee gekocht. Ohne Kofein.“ Es drängt mich mehr dazu, die Augen wieder zu schließen, da ich von einer Küste irgendwo träumte. Aber was blieb mir anderes übrig, als aufzustehen. Der Kafee wird gut tun. Der Schönheit mochte ich mich nicht verweigern. Die Brünette hatte schon Recht, als sie einmal sagte, dass mir für das Tragische das Verständnis fehlt. Wer denkt, das Leben sei ewig, dessen Erlebnis/Gefühl des Zugangs zu sich SELBST nimmt ab. Er ist SELBSTVERGESSEN. „Ich/er/GPreyer/sie/dieBrünette/dieGermanistin/Dr.Auerbach/die Nymphomanin/der Rotstich im Haar/der Mann neben der Tür/der Gefangene/ der Verlorene ...“ ist ein anderer. 20. August 2010 156 Impressum Gerhard Preyer der Verlorene Volkmar Taube tItelseIte Reuß-Markus Krauße abschlussbIld Prof. Dr. phil. Gerhard Preyer Professor of Sociology Editor-In-Chief ProtoSociology An International Journal of Interdisciplinary Research and Project Goethe-University Frankfurt am Main D-60054 Frankfurt a. M. Gerhard Preyer Academia.edu Youtube