Empowerment
MID-Dossier
Mai 2013
MID-Redaktion
Heinrich-Böll-Stiftung
D 10117 Berlin
Schumannstraße 8
Telefon +49.30.2 85 34-183
www.migration-boell.de
Empowerment
Impressum
Herausgeberin:
Heinrich-Böll-Stiftung
Redaktion:
Sofia Hamaz & Mutlu Ergün-Hamaz
V.i.S.d.P.:
Julia Brilling
Erscheinungsort:
www.migration-boell.de
Erscheinungsdatum:
Mai 2013
Das gesamte Dossier und die einzelnen Beiträge stehen unter einer
Creative Commons Lizenz. (CC BY-NC-ND). Sie dürfen verbreitet,
vervielfältigt oder öffentlich zugänglich gemacht werden unter
folgenden Bedingungen:
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der Autorin und des Rechteinhabers (Heinrich-Böll-Stiftung)
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abgewandelt oder in anderer Weise verändert werden.
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Empowerment
MID Dossiers
MID präsentiert ein vielfältiges Angebot an Informationen, Analysen und Meinungen zu
den großen Themenfeldern Migration und Diversity. Die Website www.migrationboell.de vermittelt Hintergrundwissen und präsentiert Expertinnen und Experten aus
Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft. Im Zwischenraum für Kunst bieten wir einen
vibrierenden künstlerischen Raum an. So vielfältig wie die Gesellschaft sind auch
unsere Themen. Ein zentraler Bestandteil des Angebots von MID sind die Dossiers zu
aktuellen Themen und Debatten. Sie stellen Positionen zu aktuellen migrationspolitischen Themen vor und vermitteln Hintergrundwissen zu Diversität, AntiDiskriminierung, Partizipation u.v.m.
Eine Übersicht über alle MID-Dossiers ist online zu finden unter:
http://www.migration-boell.de/web/sonstige/747.html
Sofia Hamaz, Redakteurin bei dem Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext und
Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich mit den Themen Empowerment, Rassismus
und Migration. Arbeitete unter anderem bei Oxford University Centre on Migration,
Policy and Society (COMPAS), CEDAR Muslim Professional Network und die Beratungsstelle Opferperspektive e.V.
Mutlu Ergün-Hamaz, freier Autor, Redakteur bei freitext, Kritisches Weißsein und
Empowerment-Trainer, Doktorand an dem Sociology Departement der LSE (London
School of Economics and Political Science) forscht zum Thema Rassifizierung und
Empowerment in Deutschland.
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Empowerment
Editorial
Über das Dossier
Empowerment, ein Konzept, das auch jenseits von Europa immer mehr an Interesse
gewinnt, wird als das Steigern der politischen, sozialen, ökonomischen und spirituellen
Stärke einer Community oder Person verstanden, die durch soziale Konstrukte wie
»Rasse«, Religion, Gender, Sexualität, Klasse, Disability und Alter strukturell benachteiligt sind. Der Begriff »Empowerment« wurde durch die Bürgerrechtsbewegung in den
USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im breiten politischen Diskurs gebräuchlich. Empowerment wird hier auch als Ansatz verstanden der ähnlich der
Positiven Maßnahmen1, Subjekten und Gemeinschaften denen aufgrund struktureller
Barrieren Chancengleichheit verwehrt wird, zu ermöglichen, die ihnen zustehenden
Rechte wahrzunehmen und auf allen Ebenen von Gesellschaften teilzuhaben.
Das Dossier stellt Essays, Interviews und Filme vor, die das Empowerment von
Menschen fokussieren, die aufgrund von rassistischen Strukturen marginalisiert
werden – People of Color, Schwarze Personen, Nicht-Weiße Migrant_innen und
sogenannte »Minderheiten«. Mit diesem Fokus demonstriert die Sammlung einen
wichtigen Teil des Empowerment-Prozesses, über die Probleme von Disempowerment
(Entmachtung) und Diskriminierung hinauszugehen. Das Dossier erweitert somit den
Kanon dessen, was bereits schriftlich über Empowerment in der Praxis dokumentiert
wurde, erkundet, was es bedeutet und erklärt, wie es funktioniert.
Es betrachtet verschiedene individuelle und strukturelle Ansätze des Empowerments,
in verschiedenen Sphären des Lebens – bei der Arbeit, in der Schule, in der Familie,
auf der Straße.
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DOSSIER Positive Maßnahmen – Von Antidiskriminierung zu Diversity
http://migration-boell.de/web/diversity/48_2596.asp
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Empowerment
Das Ziel dieses Dossiers ist es zunächst, einen Überblick über die Grundtheorien und
historischen Kontexte des Empowerments in Deutschland und international zu
schaffen: Wie und wo entwickelte sich der Begriff? Wie unterscheidet sich
Empowerment von anderen Formen anti-rassistischer Arbeit? Und wie ist es mit dem
Kampf der Dekolonisierung verbunden? Im zweiten Teil werden die verschiedenen
Empowerment-Strategien und -Ansätze in Form von Empowerment-Trainings,
künstlerischem Ausdruck und Erkundungen bis hin zu neuen Formen des Netzwerkens
und Teilens von Strategien durch neue Medien und Technologien vorgestellt. Wir
fragen: Wie überschneidet sich Empowerment entlang von Trennungslinien wie
Hautfarbe/»Rasse«, Gender und Ability? Welche pädagogischen Methoden gibt es auf
der Welt, die junge Leute empowern? Und welche Rolle spielen Community und
soziale Netzwerke bei Empowerment-Prozessen?
Sehr oft ist Disempowerment eine physische Erfahrung; es ist nicht nur ein kognitiver
Prozess, der auf rassistische Gedanken oder Wörter reagiert. Auch wenn kognitive
Empowerment-Methoden, wie Trainings und Mentoring, häufig die geläufigsten
Werkzeuge sind, muss Empowerment nicht immer durch das Nadelöhr der Sprache
und Gedanken gezwängt werden. Wenn Rassismus in unsere Körper eingeschrieben
ist, welche Methoden nutzt unser physisches Selbst als Medium des Empowerments?
Während das »Empowerment von People of Color«-Rahmenwerk eine zentrale Rolle
im Kampf gegen Rassismus in Deutschland und auch anderswo spielt, schauen wir
auch, wo dessen Grenzen sind.
In »Teaching Critical Thinking« schreibt bell hooks: »Wissen, welches auf Erfahrung
beruht, formt, was wir wertschätzen und als Konsequenz, wie wir wissen, was wir
wissen, und wie wir nutzen, was wir wissen.« Was Empowerment für People of Color in
Deutschland und in der Welt heute bedeutet, zeigt dieses Dossier. Da EmpowermentProzesse mit einem Ausbalancieren von Macht einhergehen, werden auch jene,
welche einen privilegierten Zugang zu Ressourcen in der Gesellschaft haben, nicht
vergessen. Erwähnt wird auch die Verantwortung und Aufgabe jener, welche systematisch über-empowered werden, und was sie durch dieses Über-Empowerment verlieren, insbesondere in Bezug auf Identität, Sicherheit und Selbst. Empowerment ist
daher eng mit einem Paradigmenwechsel verbunden, der die Lebensqualität der
Gesellschaft als Ganzes erhöht. Gleichzeitig ist Macht nicht immer etwas, das zwangs-
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Empowerment
läufig von privilegierten Gruppen wahrgenommen wird. Ein Verständnis, welches sich
durch das Dossier zieht, ist, dass Macht durchaus auch in benachteiligten Gruppen
und Individuen existiert. Macht kann daher auch als eine nicht-angezapfte Quelle
wahrgenommen werden, eine existierende Ressource, die nicht wertgeschätzt oder
anerkannt wird, oder einfach eine, die verschoben werden muss, damit sie ihre Kraft
entwickeln kann.
Die Grundlagen
Der erste Teil des Dossiers stellt verschiedene theoretische Herangehensweisen an
Empowermentarbeit in Deutschland vor. Die Texte erkunden die Wurzeln des
Empowerments und verbinden diese mit dekolonialer Theorie, Beratungsarbeit, AntiRassismus und Cultural Studies.
Internationale Perspektiven
Der zweite Teil erweitert den Blick über Deutschland hinaus und stellt Beispiele und
kreative Konzepte aus verschiedenen internationalen Kontexten vor, darunter Katar,
Großbritannien und Süd-Amerika.
Strategien und Ansätze in Deutschland
Wie vielfältig die Empowermentarbeit in Deutschland bereits ist, zeigt der dritte und
letzte Teil des Dossiers mit Beispielen aus der Praxis und Raum für empowerte
Stimmen.
Julia Brilling
Sofia Hamaz & Mutlu Ergün-Hamaz
Heinrich-Böll-Stiftung
Dossier-Redaktion
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Empowerment
About the Dossier
Empowerment, a concept of growing interest in Europe and beyond, has been
understood as the increasing of political, social, economic and spiritual strength of
communities or persons structurally disadvantaged through social constructs such as
»Race«, religion, gender, sexuality, class, disability and age. The term »empowerment« arose into common political usage with the US-based civil rights movement in
the second half of the 20th century. Similar to »Positive Action«2, Empowerment is
understood here as an approach aimed at strengthening subjects and communities
who are deprived of equal opportunities, to exercise their rights and participate on all
levels in society.
This collection of essays, interviews and film addresses the empowerment of people
marginalised by racist dominant structures - People of Color, Black persons, non-White
migrants and ethnic minorities. By focussing on empowerment these pages demonstrate an important part of empowerment processes themselves– the stepping beyond
a complete occupation with the problem of disempowerment and discrimination. This
dossier thereby extends the canon of writing that documents empowerment in practice,
explores what it means, and explains how it works.
It looks at different individual and structural approaches to empowerment in different
spheres of life – at work, school, in the family and in the streets.
The aim of this dossier is firstly to give an overview of the basic theories and historical
context of empowerment in Germany and internationally: How and where did the use of
the term develop? How does empowerment distinguish itself from other anti-racism
paradigms? And how is it related to struggles of decolonisation? Secondly, it will look
into a variety of empowerment strategies and approaches, from different types of
empowerment training, to artistic expressions and explorations, to new forms of
networking and strategy sharing enabled through new technologies. We ask how does
2
DOSSIER Positive Maßnahmen – Von Antidiskriminierung zu Diversity
http://migration-boell.de/web/diversity/48_2596.asp
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Empowerment
empowerment along colour/racial lines intersect with empowerment along lines of
gender and ability? What pedagogical approaches are working around the world for
empowering young people? And what roles do community and social networks play in
the empowerment process?
Very often disempowerment is a physical experience; it is not necessarily a solely
cognitive process focussed on racist thoughts or words. Although cognitive empowerment methods such as trainings and mentoring are one of the most common official
tools, empowerment need not always be squeezed through the eye of the needle of
language and thought. If racism is inscribed onto our bodies, which methods work with
our physical selves as a medium of empowerment? While the »empowerment for
people of colour« framework is playing a central role in tackling racism in Germany and
elsewhere, we also touch upon its current limits.
In Teaching Critical Thinking bell hooks writes: »Knowledge rooted in experience
shapes what we value and as a consequence how we know what we know as well as
how we use what we know.« As such, what empowerment means to People of Color in
Germany and other countries around the world today underpins the dossier. Because
these empowerment processes can go hand in hand with a balancing of power, those
groups who have privileged access to resources in society are not forgotten. Reference
is also made to what the responsibilities and duties are of those who are systematically
over-empowered, and what it is that they lose through their over-empowerment,
particularly on the level of identity, security and self. Empowerment is therefore closely
related to a shift of paradigms that improves the quality of life for society as a whole. An
understanding apparent throughout the dossier is that power resides within the
disadvantaged individual or group. Power can thus be perceived as an untapped
resource, an existing source not valued or acknowledged, or simply one that needs to
be shifted for it to come into force.
The Basics
The dossier’s first section introduces the various theoretical approaches that underpin
empowerment work in Germany. The contributions explore the movement’s roots,
connecting these with decolonial theory, case work, antiracism and cultural studies.
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Empowerment
International Perspectives
The dossiers second section expands beyond Germany, offering an insight into
examples and creative concepts internationally, including in Qatar, the United Kingdom
and South America.
Strategies and approaches in Germany
The dossier’s third and last section highlights Germany’s diverse empowerment work,
offering examples of empowerment in practice and platforming empowered voices.
Julia Brilling
Sofia Hamaz & Mutlu Ergün-Hamaz
Heinrich-Böll-Stiftung
Dossier Editors
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Empowerment
Inhaltsverzeichnis
Editorial
4
Gabriele Gün Tank
12
Ein etwas anderes Vorwort
Die Grundlagen
14
Natascha Nassir-Shahnian
16
Dekolonisierung und Empowerment
Andrea Meza Torres & Halil Can
26
Empowerment und Powersharing als Rassismuskritik und Dekolonialitätsstrategie
aus der People of Color-Perspektive
Nuran Yiğit
42
Empowerment in der Antidiskriminierungsberatung
Toan Quoc Nguyen
53
»Was heißt denn hier Bildung?« - Eine PoC- Empowerment-Perspektive auf
Schule anhand des »Community Cultural Wealth«-Konzepts
Internationale Perspektiven
66
Sabina Iqbal with Lisa Cristofolini
68
Empowering, Inspiring – Deaf without limits
Maria Virginia Gonzalez Romero
76
Se trata de Autonomia - Es geht um Autonomie
Zamila Bunglawala
87
Empowering Muslim women in the labour market in Muslim minority and Muslim
majority countries:
Strategien und Ansätze in Deutschland
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10
99
Empowerment
Amma Yeboah & Sofia Hamaz
101
Empowerment nach dem Phoenix-Ansatz
with raju rage and mîran n.
108
time travelling brown bears: intergenerational interviews with two transmasculine
femmes of color on healing justice
Pasquale Virginie Rotter
117
Empowerment in Motion – Körper und Bewegung in Empowerment-Prozessen
Jihan Jasmin S. Dean und Hanna Hoa Anh Mai
127
»A (virtual) network of friends that I haven't met yet«
Move on up! – (K)Eine ganz gewöhnliche Mailingliste
Jihan Jasmin S. Dean and Hanna Hoa Anh Mai
132
»A (virtual) network of friends that I haven't met yet«
Move on up! – (Not) just an ordinary mailing list
Andrea Meza Torres & Halil Can
136
People of Color-Bewegungen in Deutschland und Europa
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11
Empowerment
Gabriele Gün Tank
Ein etwas anderes Vorwort
»Meine lieben Weißen Schwestern, wir haben viele Lieder von Euch gehört, jetzt
möchten wir unsere eigenen Lieder singen«, schallt es durch den Saal. Auf dem
Podium steht eine junge Frau of Color. Vor Ihr ein überfüllter Saal, es ist eine Konferenz von Frauen für Frauen. In den Gesichtern der Weißen Frauen zeichnen sich
Fragezeichen ab, viele Frauen of Color lachen und klatschen. Eine der Weißen Frauen
glaubt, die junge Frau trösten zu müssen, und sagt: »Aber Du darfst doch singen, es
verbietet Dir niemand.« Das war vor fast 35 Jahren.
Ein paar Jahre später, ich war tief in der Pubertät, da erzählte mir genau diese junge
Frau von eben dieser, einer ihrer ersten, Frauenkonferenzen in den 70er Jahren. Seit
dem klingt es, wann immer ich Power brauche, in meinen Ohren: »Wir singen unsere
eigenen Lieder.«
Der Begriff »Power« bedeutet übersetzt »Macht«, »Kraft«, »Fähigkeit« oder »Gewalt«.
Das Präfix »Em-« deutet auf den Vorgang oder Prozess hin. Das Suffix »-ment«
substantiviert. Empowerment kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt soviel
wie »Selbstermächtigung/Selbstbefähigung«.
Nach Herriger umfasst der Empowerment-Prozess drei Ebenen: die individuelle, die
gruppenbezogene und die strukturelle Ebene. Empowerment-Prozesse laufen nicht auf
einer Ebene isoliert ab, sie verstärken sich und gewinnen an Kraft durch die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Ebenen.
Der historische Ursprung von Empowerment kommt aus der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movement) in den USA. Die Forderung lautete »Empowerment
of black communities« gegenüber der herrschenden rassistischen und segregierenden
Politik in den USA. Malcolm X und Martin Luther King waren prägende Figuren im
Schwarzen Freiheitskampf. Diese beiden überragenden Persönlichkeiten beeinflussten
und bestimmten den Umfang und Ton der Bürgerrechtsbewegung und Black Power
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12
Empowerment
Bewegung. Durch ihre Philosophie und Führung legten sie den Grundstein für eine
demokratischere Gesellschaft.
»Integration ist sinnlos ohne Teilhabe an der Macht. Wenn ich von Integration spreche,
dann meine ich eine wirkliche Aufteilung von Macht und Verantwortung«, schrieb King
in einem seiner letzten Bücher.
Die Wurzeln dieser Bewegungen gehen jedoch zeitlich weiter zurück, als in den
besetzten Kolonien Widerstand geleistet und für die Unabhängigkeit gekämpft wurde.
Das Dossier »Empowerment« gibt einen vertieften Überblick zu Definitionen und
Hintergründen von Empowerment in deutschen und internationalen Kontexten.
Gleichzeitig werden eine Vielzahl von Empowerment-Strategien und Ansätze mit
künstlerischem und vernetzendem Anspruch dargestellt. Die Autor_innen kommen aus
wissenschaftlichen und praktischen Zusammenhängen und sind seit vielen Jahren im
Bereich Empowerment Fachexpert_innen. Die Publikation bietet die Möglichkeit, an
den unterschiedlichen Erfahrungen zu partizipieren und unterstreicht gleichzeitig den
Gedanken von Solidarität und Empowerment.
Die Empowerment-Strategien können sehr vielseitig sein, wie ein junges Mädchen
jüngst mit einem Brief an die »Zeit« zeigte. Und deutlich machte, dass die Definitionsmacht darüber, was rassistisch und ausgrenzend ist, ausschließlich die davon Betroffenen besitzen sollten.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sich das für mich anfühlt, wenn ich das Wort N*
lesen oder hören muss«, heißt es in ihrem Brief. »Es ist einfach nur sehr, sehr
schrecklich. Mein Vater ist kein N* und ich auch nicht. Dasselbe gilt für alle anderen
Afrikaner.«
Ja, wir singen unsere eigenen Lieder und wir singen sie laut...
Gabriele Gün Tank
Integrationsbeauftragte Tempelhof-Schöneberg Berlin
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13
Empowerment
Die Grundlagen
Im Gegensatz zum normativen Antirassismusansatz wird die Empowerment-Bewegung
hauptsächlich von Schwarzen Menschen, People of Color, und Nicht-Weißen angeführt. Ein ganz wesentliches Element in der Empowerment-Arbeit ist, sich von Fremdbestimmungen zu befreien. Jedoch sind wir durch unsere soziale Prägung nicht frei
von Zwängen, die unsere (Selbst-)Wahrnehmung und unser Handeln bestimmen
können. Unsere soziale Prägung ist maßgeblich von unserer gesellschaftlichen
Position bestimmt; soziale Konstruktionen wie »Rasse«, Klasse, (Cis-)Gender,
Religion, Alter, Ability sind ausschlaggebend für die Formung unserer Wahrnehmung
und unseres Handelns.
People of Color (PoC) ist ein Begriff, der aus dem US-amerikanischen Diskurs nach
Europa geschwappt ist. Mit diesem Begriff sollen all diejenigen angesprochen werden,
die strukturell durch Rassismus benachteiligt sind. PoC ist als emanzipative Selbstbezeichnung auch in Deutschland in vielen antirassistischen/aktivistischen Diskursen
angekommen, wenn auch nicht ohne Kritik. In dem Begriff vereinigen sich die Elemente der Selbstdefinition (als agierendes Subjekt), aber auch der Bündnisarbeit – eine der
wichtigsten Widerstandsstrategien gegen das koloniale Teile-und-Herrsche-Prinzip. Es
wird deutlich, wie schwierig der Empowerment-Ansatz von dekolonialen Theorien zu
trennen ist, geht es doch in beiden Ansätzen darum, die internalisierten Unterdrückungsstrukturen zu überwinden und neue Möglichkeiten des Handelns zu entdecken.
Gün Tank, die Integrationsbeauftragte des Bezirks Berlin-Tempelhof/Schöneberg, stellt
in ihrem etwas anderen Vorwort ihren persönlichen Zugang zum Thema her und
plädiert für die Verbindung von Solidarität und Empowerment.
Natascha Nassir-Shanian bettet Empowerment in ein diskursives Rahmenwerk von
Theorien zu Anti-Rassismus, postkolonialen Studien und Cultural Studies ein. Hierbei
beschreibt sie Empowerment als eine Geisteshaltung, die zwar kein Allheilmittel gegen
alltägliche und strukturelle Unterdrückung ist, aber eine Form des subversiven
Handelns, um das eigene und kollektive Wohlbefinden von Menschen of Color in den
Vordergrund zu stellen.
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14
Empowerment
Halil Can und Andrea Meza Torres beschreiben die Geschichte des EmpowermentAnsatzes in Deutschland und heben dabei die Synergien zu dekolonialen Bewegungen
weltweit hervor.
Toan Quoc Nguyen stellt, anhand von strukturell- und alltagsrassistischen Beispielen,
das Konzept des »Community Cultural Wealth« vor, welches das stärkende soziale
und kulturelle Kapital von Familien und Communities of Color als wichtiges Widerstandspotential im Empowermentprozess auffasst.
Nuran Yiğit stellt Beispiele aus der Antidiskriminierungsberatung und –praxis vor und
erläutert daran den multidimensionalen Beratungsansatz des Antidiskriminierungsnetzwerkes (ADNB) des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg (TBB) mit Blick auf
Grenzen und Chancen des Empowermentansatzes in der Beratungsarbeit.
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15
Empowerment
Natascha Nassir-Shahnian
Dekolonisierung und Empowerment
Empowerment bedeutet die Freiheit als Selbst existieren zu können, ohne sich
Handlungszwängen zu beugen, die von außen aufgrund sozialer Kategorien (wie
»Rasse«, Klasse, Gender, Disability u.a.) an uns herangetragen werden und die uns in
unserer Sozialisation prägen. Daher richtet sich Empowerment an Menschen, die
durch diese Herrschaftsverhältnisse (Rassismus, Klassismus, Sexismus, Heteronormativität u.a.) unterdrückt werden. Ich beziehe mich in diesem Artikel vor allem auf
Empowerment im Kontext von Rassismuserfahrungen in Deutschland. Gleichwohl ist
das Konzept auch für andere Befreiungsbewegungen relevant.
Durch meinen eigenen Empowerment-Prozess habe ich eine positive Sprache für
meine Lebenssituation gefunden. Als Women of Color mache ich in meinem Lebensmittelpunkt Deutschland Rassismuserfahrungen. Das liegt nicht an meinem von der
Dominanzgesellschaft definierten »Migrationshintergrund«, sondern an der rassistischen Gesellschaft. Bei der Wortkonstruktion »Migrationshintergrund« geht es um eine
Normalisierung von Rassismus und eine Entnennung von Weiß-Sein. Der »Hintergrund« weißer Schwed_innen in Deutschland spielt im Gegensatz zu dem von People
of Color keine Rolle. Wenn ich nach meiner »Herkunft« gefragt werde, hat die Antwort,
dass ich in Nordfriesland aufgewachsen bin, die Fragenden bisher noch nie zufriedengestellt. Das verwundert mich mittlerweile nicht mehr, denn es geht in der Frage nicht
um tatsächliches Interesse an meiner Person, sondern darum, mich als Projektionsfläche für rassistische Fantasien von Exotik oder Orientalismus der weißen Fragenden zu
nutzen.
Empowernde Bündnisse
Der Begriff »PoC - Person/People of Color« verbindet all diejenigen, die geteilte
Erlebnisse und Erfahrungen mit Rassismus machen. Die Selbstbezeichnung kommt
ohne Defizitkonstruktion aus und wurde durch die Befreiungsbewegungen gegen
Kolonialismus und Rassismus geprägt (vgl. Dean 2011: 597ff). Durch den gemeinsa-
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16
Empowerment
men Bezugspunkt der Rassismuserfahrungen können - von Weißen erschaffene Hierarchisierungen unter Communities of Color überwunden werden. Dies bietet
besonderes Potenzial für eine gegen-hegemoniale Bewegung, die das »Teile-undHerrsche-Prinzip« durchbrechen kann. Unter der Selbstbezeichnung »People of Color«
können Bündnisse zwischen all jenen geschlossen werden, die durch weiße Dominanzkultur marginalisiert und durch koloniale Gewalt kollektiv unterdrückt und abgewertet werden (Ha 2007: 37).
Herrschaft und Unterdrückung
Unterdrückungsverhältnisse funktionieren immer nach einer Logik, in der die »Norm«
aus einer machtvollen Position definiert wird. Diese »Normen« schließen täglich einige,
die von ihnen abweichen, aus, andere hingegen haben durch eben diese Strukturen
Vorteile und Privilegien.
Wer von den gesellschaftlich festgelegten und historisch wandelbaren »Normen«
abweicht, wird diskriminiert, ausgegrenzt oder unterdrückt. Das dominante Wissen
über die Welt und was als »normal« oder »fremd« und »ungewöhnlich« gilt, ist dabei
maßgeblich durch »Rassen«-, Klassen- und Gender-Konstruktionen geprägt (Strega
2005: 201ff).
Die Unterdrückungsstrukturen verlaufen zumeist nicht parallel, sondern intersektional.
Die Verschränkungen differenziert zu betrachten ist relevant, um einerseits Mehrfachdiskriminierungen und andererseits unterschiedlich gelagerte Privilegien sichtbar zu
machen.
Verinnerlichte Unterdrückung
Zum rassistischen Herrschaftssystem gehört die Präsentation und Repräsentation der
»Anderen« aus dominanter weißer Perspektive. Diese und die permanente Erfahrungen von Fremdheit und Ausgrenzung durch Alltagsrassismus führen dazu, dass die
rassistische Ideologie auch in People of Color wirkt.
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Empowerment
Stuart Hall beschreibt in Bezugnahme auf Frantz Fanon und Edward Said den
gewaltvollen Prozess, in dem wir durch die die westlichen Wissenskategorien nicht nur
zum »Anderen« gemacht, sondern darüber hinaus auch dazu gebracht werden, uns
selbst als »Andere« wahrzunehmen und zu erfahren (Hall 1994: 30; Fanon 2008: 153).
Hall nennt dies: »[…] to become self-as-Othered« (Hall 1996: 17).
Bei verinnerlichter Unterdrückung wird also das Dominanzverhältnis für
Unterdrücker_innen und Unterdrückte zur akzeptierten Norm. »Internalized oppression
is the incorporation and acceptance by individuals within an oppressed group of the
prejudices against them within dominant society« (Hervorh. i. O. Pheterson 1990: 35).
Wenn es gelungen ist, große Teile der von der Macht ausgeschlossenen Menschen
von ihrer eigenen menschlichen, moralischen und politischen Minderwertigkeit zu
überzeugen, ist die Stigmatisierung vollendet (Osterkamp 1997: 98).
In Deutschland führt die kollektive Verinnerlichung von Rassismus unter People of
Color häufig dazu »beweisen« zu müssen, dass wir »intelligent«, »emanzipiert« oder
»integriert« sind. Während weißen Menschen Intelligenz oder »Fortschrittlichkeit«
automatisch zugeschrieben wird, müssen PoC diese erst einmal unter Beweis stellen.
Unsere Identitäten sind somit permanent mit rassistischen Erwartungen konfrontiert,
welches zu einer Normalisierung und Verinnerlichung dieser Defizitätskonstruktionen
führt und damit zu dem Zwang, diese vermeintlichen Defizite durch Überkompensation
auszugleichen, also immer einen Schritt schneller und besser zu sein (vgl. die Studie
von Terkessidis 2004). Zusätzlich zur alltäglichen Belastung mit
Rassismuserfahrungen kommt der Druck hinzu, als »Ausnahme-Migrant_in« noch
mehr leisten zu müssen, um zu den »guten Ausländer_innen« zu gehören. Insbesondere vor dem Hintergrund der massiven Chancenungleicheit in Deutschland zum
Beispiel im Bildungssystem ist dieser geradezu zynisch.
Der Zwang, sich von seiner marginalisierten Community abzuheben, verhindert
überdies die Solidarisierung mit Menschen, die sich in einer ähnlichen Position
befinden (Pheterson 1990: 36). Dieser Prozess hat eine wichtige Funktion im weißen
Teile-und-Herrsche-System, auf die ich später zurückkommen werde.
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18
Empowerment
Dekolonisierung und Empowerment
In Bezug auf Rassismus und Sexismus haben insbesondere Schwarze Feminist_innen
aus den USA (wie bell hooks und Patricia Hill Collins) einen dekolonialen Perspektivwechsel auf Handlungsspielräume im Sinne des Empowerment-Ansatzes erarbeitet,
welcher auch für die PoC-Bewegung in Deutschland eine relevante Sichtweise
eröffnet.
Dekolonisierung ist als alltäglich gelebter politischer Prozess zu verstehen und als »[…]
Kampf, uns selbst zu definieren – im Widerstand gegen Beherrschung und darüber
hinaus« (hooks 1994a: 13). In erster Linie meint die Dekolonisierung des Selbst den
Prozess, sich über die unterdrückerischen Strukturen, in denen wir sozialisiert sind und
die unser Leben prägen, bewusst zu werden. Daher ist die kritische Reflexion über sich
selbst und die Verortung der eigenen Identität in diesen Strukturen Ausgangspunkt für
Befreiung und Selbststärkung (vgl. hooks 1994b: 47; Freire 1974: 36).
Im Kontext der deutschen »Integrationsdebatte« bedeutet dies beispielsweise die
Erkenntnis, dass Integration hierzulande nichts anderes bedeutet als Assimilation an
ein weißes Selbstverständnis der Nation. Migrant_innen sollen sich - vermeintlich aus
eigenem Interesse – »integrieren« und damit an die Gesellschaft anpassen, welche sie
herabsetzt und ausgrenzt (Attia 1997: 267).
Bei der Dekolonisierung handelt es sich um einen bewussten Austritt aus der kolonialen Situation. Wenn wir erkennen, dass unsere vermeintlichen Defizite aus einer
weißen Norm konstruiert werden, können wir dem Druck hin zur Überkompensation
widerstehen – denn wir müssen nichts ›ausgleichen‹ um ›mitzuspielen‹.
»Um die Situation der Unterdrückung zu überwinden, muss der Mensch zunächst ihre
Ursachen kritisch erkennen, damit er durch verändernde Aktion eine neue Situation
schaffen kann, eine, die das Streben nach vollerer Menschlichkeit ermöglicht« (Freire
1974: 34).
Wenn wir uns alle Faktoren, die in unserem Leben Schmerz und Unterdrückung
verursachen, vor Augen führen, können wir individuelle und kollektive Widerstandsstrategien entwickeln (hooks 1993: 14).
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19
Empowerment
Empowerment in Practice
Empowerment ist nicht bloße Theorie, sondern vor allem alltäglich gelebte Praxis.
Insbesondere wenn wir in eine rassistische Situation geraten, zum Beispiel, wenn wir
mal wieder nach unserer ›ursprünglichen‹ Herkunft gefragt werden, ist es besonders
stärkend, auf unser eigenes Wohlbefinden zu achten, anstatt eine möglichst ›angemessene‹ Reaktion ›abzuliefern‹. Da Alltagsrassismus in der Gesellschaft konsequent
verleugnet wird, ist es befreiend darauf zu achten, was diese Situationen mit uns
machen, anstatt andere Leute von dem rassistischen Gehalt ihrer Handlungen oder
Äußerungen zu überzeugen. Hingegen dürfen wir darauf achten, was wir selbst in der
Situation brauchen und was für uns die beste Lösung in der Situation ist (Kilomba
2008: 139).
Für das Ausbrechen aus der kolonialen Dynamik ist die Bestimmung von eigenen
Grenzen von Bedeutung für unsere Selbststärkung. Seien diese geografisch, im Sinne
einer selbstgewählten ›Heimat‹, oder auch Grenzen im Sinne der Bestimmung der
eigenen Bedürfnisse und Akzeptanzschwellen. Unsere eigenen Grenzen zu bestimmen
und zu vermitteln, stellt einen wichtigen Prozess dar, um dem invasiven Alltagsrassismus zu begegnen.
Diese Strategie kann jedoch überwiegend auf einer individuellen Ebene Anschluss
finden. Durch das Dilemma, dass unsere Lebenswelt auch durch institutionellen
Rassismus in Strukturen wie dem Arbeitsmarkt oder Bildungssystem bestimmt bleibt,
können wir zwar durch Dekolonisierung verinnerlichte Defizite überwinden, die
gesellschaftlich dominante weiße Sicht auf uns wird jedoch bestehen bleiben. Dennoch
haben wir die Möglichkeit, unseren Umgang mit diesen Strukturen zu bestimmen und
zu verändern. »By persisting in the journey toward self-definition we are changed, and
this change empowers us« (Hill Collins 1991: 113).
Wut in Widerstand wandeln
Durch Rassismuserfahrungen verspüren wir häufig Machtlosigkeit und große Wut. Die
Schwarze Feministin Audre Lorde hat darauf verwiesen, Wut als Quelle für
Empowerment zu nutzen.
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20
Empowerment
Im Kontext der Ungerechtigkeit von Unterdrückungsstrukturen ist Wut ein Zeichen
unserer Energie und kann uns antreiben anstatt zu lähmen. Denn in der Wut stecken
Informationen und es ist befreiend, diese auszudrücken (Lorde 1984: 130). Solange wir
Wut fühlen, haben wir uns zumindest nicht mit der Unterdrückung abgefunden und
widerstehen der Stigmatisierung (ebd.).
Unterdrückungserfahrungen rufen mit der Wut häufig auch Sprachlosigkeit hervor. »Je
schmerzhafter die Themen sind, um die es geht, desto größer ist unsere Sprachlosigkeit« (hooks 1994a: 10). Da unsere Lebenserfahrungen in dominanten Diskursen
häufig nicht anerkannt und benannt werden, sondern im Gegensatz abgewehrt und
verneint (»Jetzt stell dich mal nicht so an« oder »Übertreib mal nicht«), ist das Ausdrücken und Teilen von Diskriminierungserfahrungen eine wichtige Strategie für den
Empowerment-Prozess. Wenn die Sprachlosigkeit überwunden ist, können weitere
Handlungen zur Befreiung folgen. Patricia Hill Collins beschreibt diesen Prozess als
Weg von der Stille zur Sprache zur Handlung: »[…] from silence to language to action«
(Hill Collins 1991: 112).
Zum Ringen um Sprache als Ausdruck für die eigenen Erfahrungen gehört auch die
Suche nach angemessenen Begriffen. Wie ich in der Einleitung bereits erwähnte,
kommt dem PoC-Begriff hier eine wichtige Bedeutung zu. Aber auch anderen Selbstbezeichnungen wie »Schwarze Deutsche« und »Afrodeutsche«, die 1986 mit dem
erscheinen des Bandes »Farbe bekennen« in Deutschland geprägt wurden
(Oguntoye/Opitz et al. 1997). Eine weitere sprachliche Widerstandsperspektive ist die
emanzipative Umdeutung und Aneignung von rassistischen Begriffen. In Deutschland
hat dies vor allem das Bündnis »Kanak Attak« mit dem Begriff »Kanacke« geprägt.
Diese letztgenannte Widerstandsstrategie funktioniert allerdings ausschließlich aus
einer Position of Color.
Community: Schulter an Schulter Unterdrückung widerstehen
Bei dem Prozess, eine Sprache für unsere Erlebnisse zu finden, besteht ein wichtiger
Faktor darin, mit wem wir unsere Erlebnisse teilen. Empowerment-Räume im Sinne
von Seminaren oder Community-Einrichtungen bieten dafür eine wesentlich geschütztere Möglichkeit als gemischte Räume der Mehrheitsgesellschaft, da alle Teilneh-
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Empowerment
mer_innen an die Rassismuserfahrungen anknüpfen können (vgl. Yiğit/Can 2006). Da
Unterdrückungsstrukturen intersektional verlaufen, gibt es in PoC-Räumen auch sehr
unterschiedlich gelagerte Privilegien. Zentrale Aufgabe für eine breite EmpowermentBewegung ist es daher, uns im Teile-und-Herrsche-Verhältnis nicht gegeneinander
ausspielen zu lassen. Vielmehr muss dieses überwunden und durch eine neue Vision
der Solidarität ersetzt werden. Insbesondere Audre Lorde hat die Bedeutung von
Community für die Widerstandsbewegung ausgedrückt:
»Without community there is no liberation, only the most vulnerable
and temporary armistice between an individual and her oppression.
But community must not mean a shedding of our differences, not the
pathetic pretense that these differences do not exist« (Lorde 1984:
112).
Solidarische Bündnisse zwischen unterdrückten Gruppen haben großes Potenzial, den
Status quo auf gemeinsame und gestärkte Weise in Frage zu stellen. Dabei sollen
Unterschiede untereinander nicht verherrlicht oder verklärt werden, aber der Fokus auf
die verbindende Unterdrückungsstruktur kann weiße Machtlogiken überwinden: »For
the masters tool will never dismantle the master’s house.« (Lorde 1984: 112)
Heilen: Wellness als Widerstand
Die Empowerment-Perspektive legt den Fokus darauf, Stress zu vermeiden und auf
unser Wohlbefinden zu achten.
Wenn wir die Perspektive dahingehend ändern, was rassistische Situationen mit uns
machen anstatt es anderen Menschen zu erklären, sollten wir auch die Auswirkungen
von Rassismuserfahrungen auf Körper und Geist erst nehmen und uns aktiv auf
Genesung und Heilung ausrichten. Die maorische Forscherin Linda Thuiwai Smith
versteht Heilung dabei als physischen, spirituellen, psychologischen, sozialen und
kollektiven Erholungsprozess (Smith 2008: 117).
In alltagsrassistischen Situationen sind wir großem Stress ausgesetzt, der unsere
körperliche Reaktion auf Überforderung ausdrückt. »stress is the body’s response to
carrying more than it can bear« (hooks 1993: 53). Die Überforderung und die Wunden,
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Empowerment
die entstehen, hindern uns daran, unsere Potenziale voll auszunutzen und verhindern
so auch Widerstand. Daher argumentiert bell hooks im Kontext von Unterdrückten für
den individuellen Genesungsprozess als politischen Akt: »[…] choosing ›wellness‹ is
an act of political resistance« (hooks 1993: 14).
»Wellness« meint in diesem Sinne kein neoliberales Lebenskonzept, sondern eine
widerständige Lebenshaltung, sich in einer Unterdrückungsstruktur für das eigene
Wohlbefinden zu entscheiden und aktiv einzusetzen. Im weißen Herrschaftssystem ist
›Wellness‹ ein Privileg für Weiße. Für PoC ist es hingegen nicht vorgesehen, dass es
uns ›gut geht‹. Daher ist die aktive Entscheidung, auf die eigene »Wellness« zu
achten, als widerständige Intervention in diese weiße Kultur zu sehen: »To choose
against that culture, to choose wellness […]« (hooks 1993: 29).
Empowerment als Lebensaufgabe
Empowerment ist also nicht die Zauberformel, die Menschen mit Diskriminierungserfahrungen mit einer Superhelden-Uniform durch die Welt gehen lässt, deren Härte uns
dann nichts mehr anhaben kann. Aber die Empowerment-Perspektive öffnet den Blick
für unsere Möglichkeiten. Denn wir müssen uns keinen kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen und Zwängen beugen. Wir können den Status als kollektive »Andere«
verlassen und einen selbstgewählten Platz als Individuum annehmen. Einen Platz als
Subjekt und nicht als Objekt (Kilomba 2008: 145). Die Perspektive auf uns selbst als
eigenständige, handlungsstarke Subjekte gibt uns Kraft, der rassistischen Logik zu
widerstehen und uns zu widersetzen. Dies bedeutet auch die erlernte Hilflosigkeit
mittels eigener Kraftquellen zu verlassen: »To achieve a new role as equal, one has to
place her/himself outside the colonial dynamic; that is, one has to say farewell to that
place of Otherness.« (Kilomba 2008: 141)
Dieser Prozess erfordert einerseits Kraft, er ist auf der anderen Seite aber vor allen
Dingen stärkend. Auch wenn Empowerment kein Allheilmittel gegen Rassismus ist, so
gibt es eine neue Perspektive auf das Leben in rassistischen Strukturen, jenseits
weißer Normvorstellungen. Von größter Bedeutung ist dabei, rassistische Zuschreibungen als weiße Fremd- und nicht als Selbstkonstruktion zu erkennen. Unsere
eigenen Kraftquellen und unser Wohlergehen wertzuschätzen und zu schützen,
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Empowerment
bedeutet weder uns zwangsläufig aus der Gesellschaft zurückzuziehen noch jeden
Kampf zu kämpfen.
Empowerment bedeutet als People of Color auf unsere eigenen Bedürfnisse in
rassistischen Alltagssituationen zu achten. Empowerment bedeutet ohne Kategorisierung existieren zu können. Empowerment bedeutet ich kann ich sein – egal, was du
von mir denkst. Empowerment bedeutet Befreiung.
Literatur
Attia, Iman 1997: Antirassistisch oder interkulturell? Sozialwissenschaftliche Handlungskonzepte im Kontext von Migration, Kultur und Rassismus. In: Mecheril,
Paul/Teo, Thomas (Eds.), Psychologie und Rassismus, Reinbeck bei Hamburg:
Rowohlt, 259-285.
Dean, Jasmin 2011: People of Colo(u)r. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja
(Eds.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast
Verlag, 597-607.
Fanon, Frantz 2008: Black Skin, White Masks. London: Pluto Press.
Freire, Paulo 1974: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit.
Reinbeck/ Hamburg: Rowohlt.
Ha, Kien Nghi 2007: People of Color. Koloniale Ambivalenzen und historische
Kämpfe. In: Ha, Kien Nghi/Lauré al-Samarai, Nicola/Mysorekar, Sheila (Eds.),
re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland., Münster: Unrast Verlag, 31-40.
Hall, Stuart 1994: Kulturelle Identität und Diaspora. In: Mehlem, Ulrich/Bohle, Dorothee/Gutsche, Joachim/Oberg, Mathias/Schrage, Dominik (Eds.), Stuart Hall.
Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument
Verlag, 26-43.
Hall, Stuart 1996: The After-life of Frantz Fanon: Why Fanon? Why Now? Why
Black Skin, White Masks? In: Read, Alan (Ed.), The Fact of Blackness. Frantz
Fanon and Visual Representation, Seattle: Bay Press, 12-37.
Hill Collins, Patricia 1991: Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness,
and the Politics of Empowerment. New York: Routledge.
hooks, bell 1993: Sisters of the Yam. Black Women and Self-Recovery. Boston,
MA: South End Press.
hooks, bell 1994a: Black Looks. Popkultur - Medien - Rassismus. Berlin: Orlanda
Frauenverlag.
hooks, bell 1994b: Teaching to Transgress. Education as the Practice of Freedom.
New York: Routledge.
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Empowerment
Kilomba, Grada 2008: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Münster: Unrast Verlag.
Lorde, Audre 1984: Sister Outsider. Essays and Speeches. New York: The Crossing Press.
Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schultz, Dagmar 1997: Farbe bekennen: afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin: Orlanda Frauenverlag.
Osterkamp, Ute 1997: Institutioneller Rassismus. Problemtik und Perspektiven. In:
Mecheril, Paul/Teo, Thomas (Eds.), Psychologie und Rassismus, Reinbeck bei
Hamburg: Rowohlt, 95-110.
Pheterson, Gail 1990: Alliances Between Women. Overcoming Internalized Oppression and Internalized Dominantion. In: Albrecht, Lisa/Brewer, Rose M. (Eds.),
Bridges of Power. Women's Multicultural Alliances, Philadelphia: New Social Publishers, 34-48.
Smith, Linda Tuhiwai 2008: Decolonial Methodologies. Research and Indigenous
Peoples. London: Zed Books.
Strega, Susan 2005: The View from the Poststructural Margins: Epistemology and
Methodology Reconsidered. In: Brown, Leslie/Strega, Susan (Eds.), Research As
Resistance: Critical, Indigenous, and Anti-Oppressive Approaches, Toronto, Ontario: Canadian Scholars’ Press/Women’s Press, 199-235.
Terkessidis, Mark 2004: Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: transcript Verlag.
Yiğit, Nuran/Can, Halil 2006: Die Überwindung der Ohn-Macht. Politische Bildungs- und Empowerment Arbeit gegen Rassismus in People of Color Räumen das Beispiel der Projektinitiative HAKRA. In: Elverich, Gabi/Kalpaka, Annita/Reindlmeier, Karin (Eds.), Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der
Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt/Main: IKO - Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 167-193.
Natascha Nassir-Shahnian ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Zur Zeit
organisiert sie die Konferenz »FemoCo2013 - Feminismen of Color« die im Herbst
2013 stattfinden wird.
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Empowerment
Andrea Meza Torres & Halil Can
Empowerment und Powersharing als Rassismuskritik
und Dekolonialitätsstrategie aus der People of ColorPerspektive
Als geistiges Produkt und Übel der europäischen Moderne und des Kolonialismus ist
Rassismus eine machtvolle soziale Zuschreibungs- und Ausgrenzungspraxis. Auf
Merkmals- und Eigenschaftsdifferenzen zurückgreifend konstruiert er hierarchisierend
und wertend biologische bzw. kulturelle Differenzmuster und schafft somit auf nationaler wie auch globaler Ebene durch rassifizierende Ein- und Ausschlussprozesse
alltäglich, institutionell und strukturell asymmetrische Macht- und Herrschaftsstrukturen.
In unserem Beitrag werden wir unser Hauptaugenmerk auf den Widerstand und die
Befreiungskämpfe gegen Kolonialismus und Rassismus richten. Unsere Bezugsgröße
wird in diesem Zusammenhang der historische Entstehungskontext und Verlauf des
europäischen Rassismusprojekts sein, das grundlegend ist für den westlicheuropäischen Kapitalismus in seiner kolonialen und imperialen Eroberungs-, Versklavungs- und Ausbeutungslogik und sich die Menschheit und die Erde zum Untertan
machen wollte. Dabei werden wir am Beispiel von selbstbemächtigenden, widerständigen und emanzipatorischen Befreiungskämpfen den Versuch unternehmen, zwei
politische Handlungsansätze der Befreiung – das Empowerment gegen Rassismus und
Diskriminierung aus der People of Color-Perspektive und die Perspektive bzw. Option
der Dekolonialität - theoretisch und praktisch zusammenzubringen und zusammenzudenken.
Individuell wie auch kollektiv gehört Rassismus für viele People of Color körperlich,
seelisch wie geistig als eine der destruktivsten Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen zum »normalen« Alltag in Deutschland. Diese Art der Unterdrückung und Verletzung der menschlichen Würde wird von den Betroffenen in subtiler wie auch offener
Form in allen von der Mehrheitsgesellschaft dominierten gesellschaftlichen Zusammenhängen permanent erlebt. Von Weißen wird Rassismus jedoch zumeist als solcher
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Empowerment
erst gar nicht wahrgenommen oder einfach in Abrede gestellt, ignoriert, verharmlost,
bagatellisiert und wenn überhaupt registriert, dann als marginale Erscheinung ausgemacht und als »Ausländerfeindlichkeit« oder »Rechtsextremismus« katalogisiert vom
großen Ganzen abgespalten.
Historisch läßt sich Rassismus als ein ideologisches, weltumfassendes und imperiales
Projekt, eine hierarchisierende soziale Konstruktion der Weiß-männlich-heterosexuell
geprägten europäischen Aufklärung und Moderne bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen, wobei seine kolonial-rassistischen Muster in neuem Gewand bis in die
Gegenwart nach wie vor global wirken und omnipräsent und machtwirksam durch Inund Exklusionsprozesse das zwischenmenschliche Leben strukturieren und prägen.
Die People of Color-Empowerment-Perspektive
Empowerment: Bedeutung und Entstehungskontext
Abgeleitet aus dem angloamerikanischen Wort power - Stärke, Macht – bedeutet
empowerment im Deutschen (Selbst-)Bemächtigung, (Selbst-)Stärkung.
»[Empowerment] beschreibt mutmachende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre
Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre
individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten
Lebensführung nutzen lernen.« (Herriger 2006:20).
Mit anderen Worten ist Empowerment ein praktisches, theoretisches und politisches
Strategie- und Handlungskonzept, das davon ausgeht, dass die Ressourcen und
Potenziale jedes einzelnen Menschen der Ausgangs- und Mittelpunkt für individuelle
und gesellschaftliche Veränderungen sind.
Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Idee des Empowerments gar nicht so neu,
sondern vielmehr als Teil individueller und kollektiver Selbstbemächtigungsprozesse in
der sozialen und politischen Geschichte der Menschheit zu verstehen. Bedeutend ist
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Empowerment
allerdings, dass diese Idee in der Zeit der revolutionären sozialen Bewegungen nach
dem Zweiten Weltkrieg, und insbesondere vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitsund Befreiungsbewegungen in den kolonisierten Ländern (siehe etwa Fanon 1981;
Freire 1977; Boal 1989), im Begriff Empowerment in den USA ihre kristallisierende
Prägung und später grenzübergreifende Verbreitung erfuhr. Der Gebrauch des
Empowerment-Begriffs in den USA reicht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück und
fand zu dieser Zeit zunächst Verwendung in der psychosozialen Arbeit. Als politischpraktisches wie theoretisches Konzept etablierte er sich jedoch erst durch die Schwarze Bürgerrechts- und die feministische Frauenbewegung der 1960er und dann durch
die Selbsthilfe-Bewegung der 1970er Jahre (siehe hierzu: Solomon 1976; Rappaport
u.a. 1984; Simon 1994; Herriger 2006).
Empowerment in Deutschland
Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung fand das Empowerment-Konzept seit den
1990er Jahren schließlich auch Rezipient_innen im deutschsprachigen Raum, kam
dort über vornehmlich wissenschaftliche Publikationen (Herriger 1991: 221-229; Stark
1991: 213-232; Keupp 1992: 244-250) zunächst jedoch nur in bestimmten akademischen Sparten und spezifischen Berufsfeldern (zum Beispiel in den Bereichen Sozialarbeit, Sozialpsychologie, Gesundheitswesen, Entwicklungshilfe, Gemeinwesenarbeit,
Personalmanagement) sprachlich und konzeptionell zur Anwendung. Somit erfuhr der
in den genannten sozialen Arbeitsbereichen bereits bestehende und sich ab den
1950er Jahren in der bundesdeutschen Gesellschaft verstärkt durchsetzende Selbsthilfe-Ansatz gegenüber dem paternalistischen Defizit-Ansatz der etablierten professionellen Versorgungssysteme eine wesentliche Bereicherung. Inzwischen hat sich der damit
zusammenhängende Wirkungskreis sehr vergrößert. Entsprechend unterschiedlich und
vielfältig fallen auch die konzeptionellen Auslegungen und praktischen Umsetzungen
von Empowerment aus.
Empowerment aus der People of Color-Perspektive
Während in Schwarzen deutschen und feministischen Diskursen von Schwarzen
Frauen und Frauen of Color in Deutschland, vor allem aber in der damit zusammenhängenden politischen Praxis, Empowerment als Strategie und Konzept seit Mitte der
1980er Jahre bekannt war und ein wesentliches Instrument politischer Selbstbestimmung darstellte (siehe zum Beispiel Oguntoye u.a. 1992; AntiDiskriminierungsBüro
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Empowerment
Köln/cyberNomads 2004), gehörte der Begriff im herrschenden deutschsprachigen
Diskurs um Migration und Rassismus hingegen lange Zeit nicht zum gängigen
Wortschatz.
Der ressourcenorientierte und machtkritische Ansatz des Empowerment-Konzepts
bricht mit defizitorientierten, hierarchisierenden und entwertenden Ansätzen und
Politiken. Vor diesem Hintergrund bildet er für People of Color ein wichtiges philosophisches, praktisches und politisches Instrument für die politische Selbstorganisierung, für
die Entwicklung einer kollektiven Kultur des selbstbewussten Widerstands gegen
Ungleichheit sowie rassistische und diskriminierende soziale Gewalt- und Unterdrückungsstrukturen als auch für Selbststärkung, Selbstbestimmung und Partizipation im
Sinne individueller und gesellschaftspolitischer Veränderungen. Auf diesem Weg
werden in erster Linie die gesellschaftsübergreifende Legitimierung und Etablierung
der Praxis von »geschützten« Räumen von und für PoC sowie eine Macht- und
Privilegien(Umver)teilung (Powersharing) seitens der privilegierten Mehrheitsgesellschaft sowohl fundamentale Handlungsmaximen als auch richtungweisende Meilensteine sein. Von Seiten der PoC wird es vor allem auch darum gehen, die Überwindung
ihrer Ohnmacht und Unterdrückung und die Entwicklung von Empowerment- und
Widerstandsstrategien über das Erinnern, Erzählen und Dokumentieren der ausgeblendeten, verdrängten und verschwiegenen PoC-Empowerment- und Widerstandsgeschichte in Deutschland in geschützten Räumen bewusst und sichtbar zu machen. Das
heißt, diese kollektiv zu erinnern, zu erzählen und zu dokumentieren (vgl. Can 2011a;
über Rassismuskritik und Selbstbemächtigung (aus der PoC-Perspektive) siehe auch
Steyerl / Gutiérrez Rodríguez 2003; AntiDiskriminierungsBüro Köln/cyberNomads
2004; Eggers / Kilomba / Piesche / Arndt 2005; Ha / Lauré al-Samarai/ Mysorekar
2007; Arndt / Ofuatey-Alazard 2011; Can 2008/2011b).
Geprägt und durchdrungen vom westlich-eurozentristisch-kolonialen Blick wird uns die
Menschheitsgeschichte aus der dominanten Perspektive eines Weiß-christlichmännlich konstruierten Wissensarchivs »weiß« gemacht. Es ist eine machtvolle
Narration, die mit Mitteln der Ausblendung, Fragmentierung, Selektion, Verfälschung,
Auslöschung arbeitend, manipulativ ihre eigene Realität konstruiert und somit andere
existierende Narrationen entmündigt, unterdrückt und beherrscht. So ist es nicht
verwunderlich, dass in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur über den westlich-
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Empowerment
europäischen Rassismus und Kolonialismus sowohl über die Erfahrungen, Geschichten, Erzählungen und Widerstandskämpfe der Kolonisierten und Rassifizierten mit
ihren Kontinuitäten bis in die Gegenwart in den dominanten Narrationen, Diskursen
und Wissensarchiven eine Art Amnesie vorherrscht als auch ein weitgehend selbstkritisches und selbstreflexives Bewusstsein darüber fehlt.
Genau an dieser Stelle möchten wir in unserem Beitrag die Bedeutung und damit den
Fokus darauf richten, den Ansatz des politischen Empowerments, Widerstands und der
Befreiung aus der People of Color-Perspektive mit der Decoloniality-Perspektive zu
verknüpfen bzw. diese zusammenzudenken. Konkret heißt dies vor allem, entgegen
dem dominanten westlich-eurozentrischen Mainstreamkanon, plurale und kreative
Narrationsräume für eigene Geschichten, Erfahrungen, Wissensressourcen und
Epistemologien zu schaffen. Dabei würde das Tandem von Empowerment und
Decoloniality als theoretisch-philosophische wie auch praktisch-politische Denk- und
Handlungsstrategie als Katalysator für befreiende Prozesse im Sinne von People of
Color und Subalternen fungieren. Denn beide politischen Konzepte und Perspektiven
sind ressourcen- und prozessorientiert und gehen von der Sichtweise der Veränderbarkeit von herrschenden Verhältnissen und der Handlungsfähigkeit des Subjekts aus,
sich Fremdbemächtigungen durch resiliente Praxen der Selbstbemächtigung und
Befreiung zu widersetzen. Während beim Empowerment aus der People of ColorPerspektive der Fokus im Besonderen auf der individuellen und kollektiven Stärkung
liegt, um alltäglichen und gesellschaftlichen Machtkonstellationen der Rassialisierung
zu begegnen und diese zu überwinden, wird mit der Dekoloniality-Perspektive dieser
Fokus durch die Dimensionen des Historischen und Epistemologischen wesentlich
erweitert. Somit fügen sich zeitliche und räumliche, individuelle und gesellschaftliche,
theoretische und praktische Dimensionen, sich ergänzend und erweiternd ineinander
und eröffnen auf diesem Weg brachliegende Potenziale für reale Zukunftsentwürfe und
Visionen einer anderen Gesellschaft, die nicht nur die Würde des Menschen allein,
sondern mit ihr auch die Würde des Lebendigen und des allkosmischen Seins ins
Zentrum ihres Denkens, Fühlens und Handelns setzt.
Bevor wir im Weiteren das Empowerment aus der People of Color-Perspektive am
Beispiel von einzelnen Gruppen konkretisieren, soll nun zuvor im Besonderen der Blick
auf die dekoloniale Perspektive gewendet und vertieft werden. Dieser Perspektivwech-
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Empowerment
sel intendiert, bisher unsichtbar gemachte, verdrängte, plurale Narrationen und
Wissensbestände von People of Color und anderen Subalternen stärker im Blick zu
haben und zusammenzudenken und damit Lebens- und Welthorizonte zu erweitern
und diese kreativ zu erneuern. Es ist eine Art der Umarmung der Zukunft aus dem
Jetzt mit dem Blick zurück.
Die dekoloniale Perspektive
Die dekoloniale Perspektive stützt sich auf Aníbal Quijanos Begriff des Rassismus
(Quijano 2007), der als eine Struktur zu verstehen ist, welche historisch im Kontext der
Eroberung Amerikas verankert ist. So bildet der strukturelle Rassismus eine Verflechtung, welche epistemische und ökonomische Komponenten hat. 1492 setzte sich ein
Prozess in Gang, in dem Eroberer als »superior« und Eroberte als »inferior« (und
somit derer Körper und Kultur als »verwerfbar«) konstruiert wurden. Diese
Inferiorisierung von Menschen in den Amerikas ( »Pueblos Originarios«) nach der
sogenannten »Entdeckung« sowie von Muslim_innen und Jüdinnen und Juden auf der
Iberischen Halbinsel verursachte eine bestimmte Form der Arbeitsteilung sowie den
Zugang zu Rechten und zur Religionsausübung. Die Konversion zum Christentum war
der einzige Weg, um das eigene Territorium und/oder das Leben zu erhalten. Auf der
iberischen Halbinsel mussten Menschen mit muslimischem oder jüdischem Hintergrund dem Verdacht, nicht christlich zu sein oder unter der Maske des
Christentumsandere Glaubensformen zu praktizieren, ständig entkommen. In den
Amerikas galt das Gleiche für die Pueblos Originarios ( »indigenous peoples«).
An dieser Stelle soll ein großer Sprung gemacht und aus der Perspektive von Deutschland aus erzählt werden. Denn das Phänomen des Rassismus – das heißt die Geschichte von Eroberung, Konversion und Ausbeutung - hat sich im Laufe der Geschichte fortgesetzt. Zum Ersten haben sich rassistische Strukturen und Mechanismen im
Kontext von sukzessiven imperialen Formationen wiederholt; darüber hinaus haben
koloniale Machtbeziehungen jenseits der Abschaffung von imperialen, kolonialen
Administrationen überlebt. Diese Kontinuität der Existenz von kolonialen Machtbeziehungen nennt Aníbal Quijano »coloniality«. Nachdem die Macht der spanischen und
portugiesischen Imperien verfiel, wurde der Kolonialismus/Rassismus von Imperium zu
Imperium tradiert und fortgesetzt. Bevölkerungsgruppen wurden systematisch
rassiffiziert, versklavt und seelisch und/oder physisch vernichtet. Holland betrieb den
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Empowerment
Sklavenhandel weiter (siehe »The Dutch Atlantic«, Nimako und Willemsen: 2011),
während König Leopold von Belgien für den Genozid im Kongo-Gebiet verantwortlich
war (Hochschild, 1998); Frankreich war im Sklavenhandel sowie in der Kolonisierung
des Maghreb tätig; England und die USA waren nicht nur im Sklavenhandel tätig,
sondern übten aktive Kolonisierungen und Ausbeutungen von »indigenous peoples« in
den Amerikas, in Asien, im Pazifik und in Afrika (Großbritannien) sowie Nordmexiko
(USA). Wenn auch als später Nachzügler stieg auch das Deutsche Reich als europäische Macht ins koloniale Herrschafts- und Ausbeutungssystem mit ein. So wurde 1884
auf der Berliner Konferenz die Aufteilung Afrikas unter den imperialen Mächten
Europas besiegelt. Zudem steht die Geschichte Deutschlands nicht zuletzt für die
Abgrenzung, Ausbeutung, Entwertung sowie seelische und physische Vernichtung von
Jüdinnen und Juden und Roma und Sinti. Und, obwohl in Deutschland der Holocaust
als eine Art historische Ausnahme präsentiert wird, hätte der Holocaust ohne die lange
Geschichte des Antisemitismus in Europa, zusammen mit Ausbeutungsmechanismen,
welche in den Amerikas stattfanden, nicht in dem Ausmaß stattfinden können.
Vor diesem Hintergrund möchten wir erklären, dass trotz offizieller Abschaffung des
Kolonialismus »coloniality« als inkorporierte Praxis fortgeführt wurde: Heutzutage gibt
es in Deutschland soziale Machtbeziehungen, welche kolonialen Mustern folgen und
den Alltag von Menschen bestimmen. Man könnte sagen, dass es heutzutage Gruppen
wie Muslim_innen, Araber_innen, Schwarze, Asiat_innen, Roma und Sinti sind, welche
den staatlichen Rassismus in Deutschland am stärksten erleben und zwar in der Form
von Verdacht. Denn: kann man »deutsch« sein, wenn man kulturell/religiös/biologisch
nicht 100 Prozent deutsch ist? Dazu zählt die alltägliche Gewalt in Form von polizeilichen Kontrollen nach Hautfarbe, Exklusion aus öffentlichen Räumen und aus dem
Bildungsraum. Trotz aller Bemühungen von »deutscher« Seite, rassistische Angriffe als
nicht rassistisch zu bezeichnen, betten sich diese dennoch sehr gut in die Geschichte
des Rassismus ein. Denn der Verdacht, nicht christlich zu sein im Spanien des 16.
Jahrhunderts sowie das Überwachen konvertierter Muslim_innen während der
katholischen Messe oder bei Festen, ist der Ursprung des kulturellen Rassismus
(Grosfoguel, 2010), unter dessen Schirm sich der biologische Rassismus versteckt. So
steckt hinter der Praxis der Arbeitsdiskriminierung auf der Basis von Hautfarbe zugleich
auch folgender Gedanke: »die Person ist inkompatibel mit der Arbeit wegen ihrer
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Empowerment
kulturellen Praxen und ihrem Glauben«. Somit bietet die Mehrheitsgesellschaft die
»Integration » als den einzigen Weg und als Schicksal für alle Nicht-Deutschen an.
Aber auch muss man sich fragen, was antirassistische Arbeit bedeutet. Deswegen
haben wir uns entschieden, in diesem Artikel zwei Perspektiven zusammenzubringen,
welche ähnliche Auffassungen von Rassismus zeigen und sich auch von ähnlichen
Standpunkten artikulieren: »decolonial thought« und die »People of Color«Perspektive. Die Konvergenz dieser beiden Richtungen birgt in sich in der politischen
Praxis ein synergetisches Potenzial, das für rassismuskritische und befreiende
gesellschaftliche Transformationsprozesse empowernd und wegweisend sein würde.
Die Bewegung »People of Color« kämpft dafür, dass koloniale Machtbeziehungen und
Kontinuitäten in Deutschland sichtbar werden, und darüber hinaus versucht die
Bewegung, Strategien zu entwickeln, um diese aktiv und in der Praxis zu bekämpfen.
»Decolonial thought« bietet den historischen und theoretischen Rahmen an, um den
strukturellen Rassismus von der Eroberung Amerikas bis hin zu Palästina in seinen
globalen, komplexen Zusammenhängen und Mechanismen von Kolonialität losgelöst
vom eurozentristischen Blick multiperspektivisch und kritisch zu analysieren, zu
verstehen und zu dechiffrieren.
Auch sind beide Bewegungen zusammenzubringen in ihrem Bemühen, Strukturen des
epistemischen Rassismus aufzuzeigen, welche in den Linken Bewegung zu finden
sind. Die Erhaltung des Universalismus als Denkstruktur, das Privilegieren der Frage
der Klasse vor »gender«‘ und »race« und die begrenzte Beschäftigung mit der
Kolonialgeschichte aus der Perspektive des Rassismus machen die Linke Bewegung
zu einer Weiß geprägten Ideologie, welche den strukturellen Rassismus somit reproduziert. Die aktuelle Debatte/Streit zwischen der Bewegung People of Color und
antirassistischen, linken Bewegungen in Deutschland zeigt auch, wie beide Gruppen
unterschiedliche Agenden haben. Diese Agenden werden aus den körperlichen und
alltäglichen Erfahrungen des Rassismus artikuliert, wobei sich People of Color aus
konkreten Erfahrungen artikulieren, während Weiße, deutsche Linke aus deren
Beschäftigung mit dem Thema, aus Solidarität oder ausgehend von »Critical
Whiteness« artikulieren. Innerhalb des Weißen Antirassismus existiert eine Weiße
Dominanz, und hier üben People of Color die schärfste Kritik: Wie ernst nehmen Weiße
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Empowerment
antirassistische Bewegungen koloniale Kontinuitäten wahr? Warum sind Weiße,
meistens männliche Gestalten diejenigen, die vom Thema Rassismus profitieren und
dieses vertreten? Warum zeigen Weiße antirassistische Bewegungen eine starke
Solidarität mit Kämpfen, die von Deutschland weit weg sind (wie etwa mit den Zapatisten in Mexiko), während sie beim Beispiel des Nahostkonfliktes Probleme haben,
Kolonialismus und Coloniality zu thematisieren? Warum verschweigen sie kritische
Stimmen »of Color« in Deutschland, wenn sich diese über den Nahostkonflikt äußern –
und somit eine überlegene epistemische Position einnehmen, indem sie auch sagen,
wer sprechen kann? Auch dies ist sehr spannend, wenn man bedenkt, dass auch
Mitglieder der antirassistischen Gruppe Kanak Attak1 defensiv eine pro Weiße Position
einnehmen, indem sie sich entschieden haben, das Weiße Feld zu unterstützten,
obwohl nicht- »biodeutsche » Mitglieder von Kanak Attak auch selbst Opfer von
Rassismus sind. Für diesen Zweck benutzen sie postmoderne, antiessentialistische
Argumentationen, mit denen sie versuchen, den Kampf von People of Color zu
diskreditieren. In »Decolorise it« (Karakayali, Tsianos, et al: 2012) argumentieren die
Autor_innen gegen Wissensformen, welche aus Subjektpositionen stammen. Somit
wird eine Weiße, hegemoniale Wissensproduktion aufrechterhalten, womit die Kritik an
diesen Strukturen und die Stimmen derjenigen, welche Rassismus alltäglich erleben,
ausgeblendet werden.
1
Die antirassistische Gruppe Kanak Attak entstand in den 90er Jahren, initiiert von sich
politisch links verortenden »Bio-Deutschen« und »nicht Bio-Deutschen« sowie überwiegend
(angehenden) Akademiker_innen und formierte sich bald zu einem losen bundesweit agierendem politischen Netzwerk. Die Akteur_innen verwenden das pejorative/rassistische Wort
»Kanak« und setzen es in einem positiven kämpferischen Sinn (»Attak«) ein. Sie stützten sich
auf Moulier Boutangs Konzept der Autonomie und sprechen von einer »Autonomie der
Migration«. Bezüglich des Begriffs »Ethnicity« steht die Bewegung einer Essentialisierung der
Identitäten kritisch gegenüber, weswegen sie Rassismus etwa durch »hybride« Auffassungen
von »beyond race« oder »beyond descent«-bekämpfen wollen. Jedoch schwächt diese
konzeptionelle Positionierung die Bekämpfung sowohl des alltäglichen Rassismus, als auch der
kolonialen Epistemologien und Geschichte. Das Netzwerk Kanak Attak als solches besteht nicht
mehr, jedoch positionieren und beteiligen sich nach wie vor einzelne Akteur_innen als ehemalige Kanak Attak-Mitglieder aktiv an politischen Debatten um Migration, Identität und Rassismus.
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Empowerment
Diese Position ist darüber hinaus gefährlich, wenn man etwa an den Diskurs von
antiweißem Rassismus in Frankreich denkt. Hier stellen sich Menschen mit weißer
Hautfarbe, christlichem Glauben und europäischer Herkunft als Opfer von »umgekehrtem« Rassismus dar, aus dem Grund, dass sie (als) »Weiße« genannt/markiert
werden2. Dieser Diskurs, der auch in Deutschland aufgetaucht ist, hat in Frankreich
große Wirkung gehabt. Für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema Rassismus
muss klar werden, dass es einen antiWeißen Rassismus nicht gibt. Beim Rassismus
handelt es sich nicht um eine bloße Markierung von Gruppen (wie etwa »Weiße«),
sondern um eine damit verbundene Geschichte von menschlicher Erniedrigung und
Ausbeutung, welche konkrete ökonomische Folgen in bedeutendem Ausmaße gehabt
haben - wie etwa die Conquista, der transatlantische Sklavenhandel oder der Holocaust. Eine strukturelle (ökonomische, epistemische, historische) Ausbeutung Weißer
Menschen seitens nicht Weißer Menschen kann es gar nicht geben, denn es existieren
keine konkreten Machtverhältnisse dafür; eine jahrhundertlange Geschichte, welche
die Unterdrückung Weißer Menschen auf epistemischer Ebene legitimiert, gibt es nicht.
Symbiose und Synergie zweier Perspektiven
Fassen wir noch mal zusammen: In diesem Artikel haben wir zwei politische Perspektiven nicht nur dargestellt, sondern auch versucht, diese theoretisch und praktisch
zusammenzuführen und zusammenzudenken. Die Intention hierbei war die Erweiterung unseres Horizonts für neue gedankliche Visionen und praktische Handlungsoptionen. In diesem Zusammenhang haben wir das Empowerment gegen Rassismus aus
der People of Color-Perspektive als Ausgangspunkt genommen, um darauf aufbauend
die Bezüge zu eurozentristischer Kolonialität und damit zur Decoloniality-Perspektive
herzustellen. Zentral beim PoC-Empowerment ist die Schaffung von mehrfach
geschützten Eigenräumen zur Besinnung, Wiedererlangung und Belebung von eigenen
Ressourcen. Die komplementäre Synthese von Empowerment und Dekoloniality aus
der People of Color-Perspektive ist hier als ein synergetisch ressourcen-bündelndes
und prozessorientiertes, kritisches, praktisch-theoretisches Politikkonzept der Befrei-
2
Siehe den Artikel: »Le racisme anti-blanc des Indigènes de la République«, von der
Aktivistin Houria Bouteldja.
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35
Empowerment
ung aus der Macht und Dominanz der Kolonialität zu verstehen, die durch
Rassifizierung, Subalternerisierung und »Othering« auf Körper und Topoi eingeschrieben ist. Pendant zur Empowerment- und Dekolonialtitätsstrategie gegen Rassismus
aus der People of Color-Perspektive wären die selbstreflektierenden und selbstkritischen politischen Handlungsmaximen »Critical Whiteness« und Powersharing aus der
Weißseins-Perspektive, gleichwohl zu Decoloniality auch die Perspektive von
»decolonizing whiteness« gehört, die sich aber auch von Critical Whiteness abgrenzt.
Diese letztgenannten Perspektiven sind jedoch ein Thema für sich, weshalb wir sie an
dieser Stelle nur erwähnt lassen wollen, um uns erneut unseren erst genannten beiden
Perspektiven wieder zu widmen.
Obwohl die Perspektiven und Konzeptionalisierungen »People of Color« und
»Decoloniality« aus unterschiedlichen Geografien stammen, stellen wir fest, dass beide
Widerstandstrategien gemeinsame Punkte haben. Dies ist sehr wichtig, denn in vielen
Publikationen aus einer Weißen Perspektive herrscht der Eindruck, dass Begriffe wie
»Empowerment« und »People of Color« exklusiv aus dem angelsächsischen Raum
stammen, womit Widerstandskämpfe in vielen Ländern Europas als eine Art »Amerikanisierung der Gesellschaft« kritisiert und diskreditiert werden. In diesem Ansatz haben
wir erläutert, inwiefern ähnliche Widerstandskämpfe gegen Rassismus, Sexismus und
Kolonialismus sich in den USA und Großbritannien, der Karibik, Mittel- und Südamerika
bis hin zu Europa artikuliert haben. Andererseits stammt Dekolonisierung aus der
Philosophie der Befreiung, die auch mit Empowerment assoziiert ist.
Gespalten durch eine Politik von Geografie, Wissen und Sprache laufen Bewegungen
gegen Rassismus Gefahr isoliert zu stehen, wenn sich in der Tat viele von diesen
Widerstandskämpfen in einer ähnlichen Art und Weise artikulieren. Im deutschen
universitären Feld werden Regionen wie »Lateinamerika », »die Türkei«, »Afrika« und
»Asien« als gesondert/getrennt studiert, und es wird kein Zusammenhang zwischen
diesen Regionen und der imperialen bzw. globalen Kolonialgeschichte und der damit
einhergehenden Migrationsprozesse hergestellt. Deswegen entsteht der Eindruck,
dass Phänomene wie die Theologie oder die Philosophie der Befreiung nur in »Lateinamerika » eine Relevanz hätten und dass andere Phänomene (wie etwa Kämpfe der
Migration im globalen Norden) damit »unvergleichbar« seien. Aber: durch die Verknüpfung der Geschichte globaler dekolonialer Bewegungen, deren Wissensproduktionen
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36
Empowerment
und Erinnerungskulturen und die Erfahrung von Menschen in Europa, die an den
Kontext der postkolonialen Migration gebunden sind, kommt man nah an eine Rekonstruktion der Geschichte des Kolonialismus und des Sexismus/Rassismus von 1492
bis in die Gegenwart. Diese Rekonstruktion ist möglich, wenn Geschichte und Theorie
mit Aktivismus und Wissensproduktion von Gruppen, welche den alltäglichen Rassismus erleben, in Verbindung gebracht werden. Wichtig für den deutschen Kontext ist
anzumerken, dass die Verbindung zwischen beiden Bewegungen dazu führt, dass
Deutschland besser im Kontext der europäischen Kolonialgeschichte eingebettet
werden kann (was zu einem anderen Bild Europas führt). Aber die dekoloniale Theorie
alleine kann nicht für die kolonialen Kontinuitäten sprechen, die in Deutschland
fortgesetzt werden. Die Verbindung zwischen dekolonialen Theorien und Bewegungen
wie »People of Color« bringt Kämpfe in Nord-, Mittel- und Südamerika, in Afrika, in der
arabischen Welt und Australien und anderswo mit den (Migrations-)Bewegungen in
Deutschland und Europa zusammen. Im deutschen Kontext ist diese Vernetzung
besonders wichtig, um den Alltagsrassismus zu verstehen, den unterschiedliche
Menschen aus unterschiedlichen geografischen Kontexten erleben.
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https://twitter.com/search?q=%23refugeecamp&src=tren; www.thecaravan.org;
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URL: http://moveonup.blogsport.de/; letzter Zugang: 30.11.12)
MRAP
URL: http://www.mrap.fr/ (zuletzt aufgerufen am: 17.11.2012)
SOS Racisme
URL: http://www.sos-racisme.org/ (zuletzt aufgerufen am: 17.11.2012)
Andrea Meza Torres schreibt am Institut für Europäische Ethnologie an der HumboldtUniversität zu Berlin an einer Dissertation zum Thema »Die Musealisierung der
Migration in Museen und Ausstellungen in Paris und Berlin«. Von 2009 bis 2012
unterrichtete sie am Institut für Europäische Ethnologie zum Thema »Museen und
Ausstellungen » sowie »The decolonial turn and Anthropology» und war 2011 Initiatorin
der »Decolonial Group Berlin«.
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40
Empowerment
Halil Can, Politikwissenschaftler, promoviert am Institut für Europäische Ethnologie der
Humboldt Universität zu Berlin über Identitätsprozesse und Empowermentstrategien
bei Mehrgenerationenfamilien im transnationalen Migrationskontext TürkeiDeutschland, ist freiberuflicher Lehrbeauftragter, Autor, Empowerment-Trainer und
Bildungsreferent sowie Mitgründer der HAKRA-Empowerment-Initiative und des Move
On Up–PoC-Empowerment-Forums, zuletzt Koordination von PoC-EmpowermentWorkshops im Rahmen des EU-Projekts ECAR (European Cities Against Racism).
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41
Empowerment
Nuran Yiğit
Empowerment in der Antidiskriminierungsberatung
Diskriminierung steht in vielen Fällen im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen
Entmächtigung und vollzieht sich so im Rahmen gesellschaftlicher
Ungleichheitsverhältnisse, die hierdurch auch weiter aufrechterhalten werden. Es sind
Fälle, in denen Diskriminierung mit einer Verhinderung bzw. Verweigerung des
Zugangs zu sozialen, politischen und ökonomischen Ressourcen und damit weniger
Chancen zur Teilhabe an der Gesellschaft einhergeht.
Angesichts der strukturellen Machtdifferenzen in der Gesellschaft gewinnt
Antidiskriminierungsarbeit eine wichtige Funktion, um das Ziel, Gerechtigkeit in der
Verteilung von Macht und Privilegien zu erreichen und um damit letztlich auch zu einer
gerechteren Gesellschaft beizutragen, zu verwirklichen.
In diesem Sinne ist es unumgänglich, den Empowermentansatz in die
Antidiskriminierungsarbeit einzubauen, beschreibt dieser doch eben jene »Prozesse
der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen (...) der Benachteiligung
oder gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die
Hand zu nehmen (...) und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer
selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen« (Herriger, 2006).
Um den Prozess der Selbstbemächtigung zu beginnen, bedarf es der Bewusstwerdung
der eigenen Möglichkeiten zur Überwindung der machtarmen Position. Biografisch
gesehen können kontinuierlich erlebte Diskriminierungen, insbesondere dann, wenn
sie alltäglich und subtil ablaufen, dazu führen, dass Menschen ihre vermeintliche
Unterlegenheit annehmen und verinnerlichen (internalisieren), die Schuld bei sich
selbst suchen, resignieren, sich damit arrangieren, die Diskriminierung nicht in Frage
stellen usw. In solchen Zusammenhängen können äußere Impulse, zum Beispiel aus
selbstorganisierten Kontexten, aber auch aus dem professionellen psychosozialen
Kontext, eine nachhaltig und biografisch sehr wichtige Rolle spielen, unter anderem um
diese verinnerlichte Ohnmacht zu überwinden.
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42
Empowerment
In Bezug auf die Antidiskriminierungsberatung hat das Einflechten des
Empowermentansatzes weitreichende konzeptionelle und praktische Konsequenzen.
Der ressourcenorientierte und machtkritische Ansatz des Empowerment-Konzepts
bricht mit defizitorientierten, hierarchisierenden und entwertenden Ansätzen und
Politiken. Er geht weg von der Täter_innenfokussierung und stellt die Betroffenen in
den Mittelpunkt des Prozesses. Da Empowermentprozesse das einzelne Subjekt als
die zentrale Kraft der Veränderung hervorheben, kann Antidiskriminierungsberatung
diesen Prozess nur unterstützen bzw. fördern. Um Missverständnisse zu vermeiden,
soll an dieser Stelle explizit hervorgehoben werden, dass professionelle Dritte die
Hilfesuchenden nicht empowern, sondern diese in ihren jeweiligen, ganz individuellen
Entwicklungsprozessen des Empowerments (also Selbstbemächtigung) begleiten,
unterstützen und fördern.
Am Beispiel der Beratungsstelle des Antidiskriminierungsnetzwerks Berlin des
Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (ADNB des TBB) (www.adnb.de) werden im
Folgenden die Chancen, aber auch Grenzen des Empowermentansatzes in der
Beratung dargestellt.
Antidiskriminierungsberatung als multidimensionaler
Beratungsansatz
Das ADNB des TBB berät und unterstützt People of Color3, Menschen mit
Migrationsgeschichte und Muslim_innen, die diskriminiert werden bzw. wurden. Die
Diskriminierung kann dabei sowohl aufgrund verschiedener (zugeschriebener)
„Merkmale“ und Konstruktionen stattfinden (Horizontaler Ansatz), aber auch mehrere
(zugeschriebene) „Merkmale“ in ein und derselben Person verbinden, die
zusammenwirken oder sich überkreuzen können (Intersektionalität).
3 People of Color ist eine politische (Selbst-)Bezeichnung von und für Menschen, die rassistische Diskriminierung erfahren. People of Color bezeichnet dabei nicht die Hautfarbe, sondern
die benachteiligte Position im gesamtgesellschaftlichen Kontext in Bezug zu weißen Menschen,
die unhinterfragt als dazugehörig gelten.
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43
Empowerment
Damit Antidiskriminierungsberatung erfolgreich und wirkungsvoll sein kann, braucht es
eine multidimensionale Herangehensweise, die von den Erfahrungen, Interessen und
Wünschen der Beratung suchenden Person ausgeht. Der Beratungstätigkeit des ADNB
des TBB liegen folgende Prinzipien zugrunde:
Parteilichkeit: Eine Parteilichkeit im Sinne der Betroffenen ist vor dem Hintergrund
gesellschaftlicher Machtdifferenzen ein notwendiges Instrument zur Konfrontation und
Überwindung bestehender Ungleichgewichte. Die Interessen und Bedürfnisse der
Betroffenen werden bewusst in den Vordergrund gestellt und ihre individuellen
Diskriminierungserlebnisse gemeinsam in einem strukturellen Kontext betrachtet. Das
ADNB des TBB ist dabei keine neutrale oder unabhängige Mediationsstelle, die
vermeintliche „Missverständnisse“ zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten
aufklärt, sondern klar parteilich an der Seite der Betroffenen steht.
Empowerment: Betroffene erfahren in der bzw. durch die Beratung eine Aktivierung
und Stärkung ihres Selbsthilfe- und Handlungspotenzials, um die erlebte
Diskriminierung zu verarbeiten und dagegen vorzugehen. Von Diskriminierung
Betroffene verfügen in der Regel bereits über eine Biografie von erlebter
Diskriminierung, die mit Gefühlen von Ohnmacht, Angst, Verletzlichkeit, Scham und
Resignation einhergehen kann. Im Laufe der Beratung und Begleitung der Betroffenen
gilt es, die Person zu stärken und Möglichkeiten aufzuzeigen, sich gegen die erlebte
Ungleichbehandlung zur Wehr zu setzen, um sich auch als aktive Akteur_innen
(wieder) zu erleben.
Transkulturalität: Das Team des ADNB des TBB ist transkulturell und fachlich
interdisziplinär zusammengesetzt. Die Stellenbesetzung mit Mitarbeiter_innen of Color,
die potentiell selbst rassistische Diskriminierung erleben, bedeutet eine verstärkte
Sichtbarkeit und Hörbarkeit als Hauptamtliche nach innen und außen. Die Präsenz von
Mitarbeiter_innen of Color kann für Beratungssuchende einen Vertrauensvorschuss im
Sinne eines „geschützten Raumes“ bedeuten. Mit „geschützten Räumen“ sind nach
Yiğit/Can (2009) Gruppenzusammenhänge gemeint, die für People of Color einen
Raum schaffen, frei und offen von Zwängen und Abhängigkeiten über ihre
Diskriminierungserfahrungen zu sprechen, sich auszutauschen, Strategien zu
entwickeln und sich zu solidarisieren. Um dies zu gewährleisten, werden die individuell
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44
Empowerment
als auch strukturell verorteten Verursacher_innen der Diskriminierung ausgeschlossen.
Dieser temporäre Ausschluss weißer Repräsentation in der Beratung kann für
Betroffene unverzichtbar sein und sollte daher mindestens als Option für die
Betroffenen auf Wunsch immer zugänglich sein. Auch sollte im Zuge dessen möglich
sein, dass Betroffene in der Beratung auf Wunsch auch in ihrer Muttersprache
kommunizieren können/dürfen. Sei es durch die Berater_innen selbst oder durch
Sprachmittler_innen.
Unabhängigkeit: Die Unabhängigkeit von Institutionen, Ämtern oder politischen
Zuordnungen ist notwendig und eine wesentliche Voraussetzung der Beratung.
Diskriminierung gibt es auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Strukturen.
Eine Abhängigkeit der Beratungsstelle würde die Beratungstätigkeit reglementieren
und einschränken. Für die Betroffenen stellt die Unabhängigkeit ein wesentliches
Kriterium für die Glaubwürdigkeit dar und ist die Basis der Vertrauensbildung. Für die
Berater_innen ist die Unabhängigkeit Voraussetzung der eigenen Parteilichkeit im
Sinne der Betroffenen und notwendig für die Entwicklung effektiver Interventions- und
Lösungsansätze.
Der Beratungs- und Begleitungsprozess
Wie ein Beratungsgespräch modellhaft ablaufen kann, wird im
Antidiskriminierungsreport 2006-20084 ausführlich dargestellt. Die wichtigsten Etappen
seien an dieser Stelle kurz genannt: Erstgespräch, Fallanalyse, Klärung der
Erwartungen und Ziele, Interventionsstrategien entwickeln und umsetzen,
Dokumentation.
Um Empowermentprozesse zu unterstützen, sollten Berater_innen die
unterschiedlichen Ebenen der Bewusstwerdung beachten, da sich je nach
individuellem Entwicklungsstand unterschiedliche Interventionen im Beratungsprozess
ergeben können.
4
www.tbb-berlin.de/downloads_adnb/ADNB-Antidiskriminierungsreport_2006-2008.pdf
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45
Empowerment
Zunächst gibt es die Phase der Kontextualisierung der erlebten Situation. Die_der
Betroffene versteht ihre_seine Situation und kann sie in einen größeren
Zusammenhang stellen. Berater_innen können durch Wissen und Information diesen
Prozess der Kontextualisierung unterstützen. Wichtig ist, wie sehr es den
Berater_innen gelingt, eine geeignete Sprache zu finden, um komplexe
Zusammenhänge einfach und verständlich zu erklären und damit Betroffenen den
Zugang zu wichtigem Wissen zu eröffnen. Wissen und Verständnis über die eigene
Situation ist der erste Schritt zur Ermächtigung. In der nächsten Phase geht es um die
Handhabbarkeit. Die-der Betroffene spürt bzw. entdeckt ihre_seine Ressourcen und
erlebt ihre_seine Situation als überwindbar. Um allerdings auch den Schritt des
Handelns zu gehen, bedarf es der nächsten Phase der Sinnhaftigkeit, in der sie_er in
ihrem_seinem Handeln bzw. ihrer_seiner Anstrengung einen Sinn und eine Bedeutung
erkennen kann.
Je nach Art der Beschwerde und den individuellen Wünschen der Betroffenen stehen
den Berater_innen des ADNB des TBB verschiedene Optionen von
Interventionsmöglichkeiten zur Auswahl:
▬
Informations- und Beratungsgespräche, auch rechtliche Beratung;
▬
Kontaktaufnahme mit der Einrichtung, Institution, Behörde oder Person,
gegen die sich der Diskriminierungsvorwurf richtet bzw. Unterstützung
der_des Betroffenen bei der Kontaktaufnahme mit der_dem Beschuldigten;
▬
Einholung einer Stellungnahme der_des Beschuldigten und/oder
Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen nach AGG (auch zur
vorsorglichen Wahrung von Fristen);
▬
Begleitung zu Gesprächen als parteiliche Dritte;
▬
Begleitung vor Gericht / Prozessbeobachtung;
▬
Beistandschaft in Gerichtsverfahren nach § 23 AGG;
▬
Einschalten von weiteren Stellen (zum Beispiel Ärztekammer,
Gewerbeaufsicht oder Gewerkschaften) oder verantwortlichen Dritten (zum
Beispiel Geschäftsführung, Betriebsrat);
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46
Empowerment
▬
Vermittlung an Rechtsanwält_innen, Psycholog_innen, Ärzt_innen,
spezialisierte Beratungsstellen;
▬
Einleitung von Maßnahmen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit;
▬
Durchführung der Testing-Methode zur Überprüfung verdeckter
Diskriminierung;
▬
Beratung und Begleitung in Bezug auf strategische Prozessführung.
Erfahrungen aus der Beratungspraxis
Antidiskriminierungsarbeit ist ein noch wenig erforschtes Gebiet. Speziell zur
Antidiskriminierungsberatung und dem Empowermentansatz hat es bisher keine
Umfrage bei ehemaligen Ratsuchenden des ADNB des TBB gegeben. Daher leiten
sich die in diesem Kapitel dargestellten Ergebnisse aus den eigenen Erfahrungen der
Autorin, den Erfahrungen der Berater_innen des ADNB des TBB und weiteren
kooperierenden Beratungsprojekten ab. Zudem wird auf Passagen aus zwei
veröffentlichten Interviews, die mit Klientinnen des ADNB des TBB geführt wurden,
zurückgegriffen.
(Interview mit Merve Tasci in der Broschüre „Netzwerk gegen Diskriminierung von
Muslimen“, S. 16 – 19 „Ein Ort, an dem Menschen Unterstützung erfahren“ von Sabine
Bretz.5 (Interview mit Alanna Lockward „Ein Ort, an dem Menschen zuhören“6)
Positive Erfahrungen des Empowerment-Ansatzes in Beratung:
(+) Klient_innen sind ohnehin belastet und angespannt, wenn sie zum ersten Mal in die
Beratung kommen. Durch die herzliche und warme Atmosphäre wird ein
5
http://www.tbb-
berlin.de/downloads_adnb/Broschuere_Netzwerk_Muslime_2012_Endversion_Webver
sion.pdf
6
http://www.berlin.de/lb/intmig/sub/demokratie/handeln/adnb/
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Empowerment
Vertrauensraum aufgebaut. Der erste Eindruck ist wichtig. Mimik, Gestik, die
persönliche Ansprache, das Anbieten eines Tees oder Wassers brechen das Eis und
ermutigen Betroffene, sich zu öffnen und zu sprechen.
„S. B.: Wie war das für Sie, Frau Tasci, mit welchen Erwartungen sind
Sie in die Beratung des ADNB gekommen? M. T.: Gleich beim ersten
Beratungsgespräch ging es sehr vertrauensvoll zu. Frau Haschemi
hat mich mit offenen Armen empfangen und mir dadurch ein gutes
Gefühl gegeben. Die Belastung ist wirklich sehr hoch und auch die
Angst, wie man wohl bei einer solchen Beratungsstelle behandelt
wird. Die Art und Weise, wie man mir hier begegnet ist, hat mich
enorm gefreut.“
(+) Klient_innen erhalten und nehmen sich den Raum zu sprechen. Damit treten sie
aus der ihnen auferlegten Sprachlosigkeit, in die sie durch die Diskriminierung gebracht
wurden, heraus. Sie ergreifen das Wort, um das Erlebte in Worte zu fassen. Der Akt
des Sprechens und des Gehört-Werdens ist ein wichtiger Schritt im EmpowermentProzess. Der Akt des Sprechens selbst, des sich Von-der-Seele-Redens wird von
Klient_innen als positiv zurückgemeldet.
(+) Nicht nur das Sprechen, sondern auch das Gefühl, verstanden zu werden, sich
nicht rechtfertigen zu müssen, Glauben geschenkt zu bekommen, ernst genommen zu
werden, aufgefangen zu werden, zur Ruhe zu kommen, wird als positiv
zurückgespiegelt.
„ A.L.: Ich bin hierhergekommen, und mir ist von Anfang an geglaubt
worden, ich bin unterstützt worden und ich fühlte mich sofort ernst
genommen. Das war starkes Empowerment für mich.
„S. B.: Ich kann mir vorstellen, dass es das Schlimmste ist, sich
vorzustellen, es würde einem nicht geglaubt werden, oder die
Erfahrung würde heruntergespielt werden. Hatten Sie solche Ängste?
M.T.: Ja. Wenn ich an alle Dinge zurückdenke, die ich erlebt habe ...
Dass man diskriminiert wird, immer, tagtäglich hat schon dazu
geführt, dass ich Angst hatte, ich könnte auch in einer
Beratungsstelle diskriminiert werden. Aber zum Glück, war das hier
nicht annähernd der Fall, ich bin hier sofort unterstützt worden.“
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48
Empowerment
(+) Klient_innen bekommen das Gefühl, dass sie nicht allein sind mit der erlebten
Diskriminierung. Es gibt nicht nur die Beratungsstelle als Ort der Unterstützung und
Begleitung, sondern sie hören auch von anderen (ähnlichen) Fällen und können das,
was sie selbst erlebt haben, in einen größeren gesellschaftlichen Kontext setzen. Das
Beratungsgespräch hilft die eigene Situation besser zu verstehen.
(+) Klient_innen erfahren durch das Gespräch, dass nicht sie das Problem sind oder
auch nur einzelne Täter_innen, sondern dass das System die Diskriminierung
unterstützt bzw. (re-)produziert. Die erlebte Diskriminierung richtet sich nicht gegen die
Person als Individuum, sondern die Person erlebt als Repräsentant_in einer „Gruppe“
die Ungleichbehandlung. Das bringt Entlastung bei Gefühlen von Scham und
Selbstvorwürfen. Wissen über Diskriminierungsformen, -ursachen und gesellschaftliche
Zusammenhänge (Kontextualisierung von Diskriminierungserlebnissen) nimmt den
Frust der Betroffenen. Sie können durch das Wissen und durch
Informationen/Aufklärung über Rechte und Möglichkeiten neue Perspektiven und Ideen
entwickeln, um aus der Ohnmachtsposition wieder rauszukommen.
(+) Wenn sich Klient_innen entscheiden den Weg der Klage zu gehen, darf das ADNB
des TBB als Beistand nach § 23 AGG mit zur Gerichtsverhandlung. Das ADNB des
TBB ist neben der/dem Anwältin/Anwalt eine weitere Instanz, die vor Gericht
Kläger_innen parteilich vertritt. Dies gibt den Betroffenen ein weiteres Gefühl der
Stärke und des Nicht-Allein-Seins.
„S. B.: Das Ganze ging dann letztendlich auch vor das Arbeitsgericht.
Welche Rolle hat der ADNB hierbei eingenommen? M. T.: Frau
Haschemi ist mitgekommen, hierfür bin ich ihr sehr dankbar. Zwar
war mir inzwischen auch die Anwältin vertraut, aber zusätzlich ein
bekanntes Gesicht zu sehen, war sehr wichtig für mich.“
(+) Der Akt der Beschwerde/Klage und damit die Konfrontation der Täter_innen mit der
Diskriminierung (sei es durch einen Beschwerdebrief, eine Anzeige, eine Klage bis hin
zu einer Verhandlung vor Gericht) bedeutet für viele Betroffene, die Wiedererlangung
ihrer Autonomie und ihres Selbstbewusstseins. Sie sind aktiv geworden und sind aktiv
gegen Diskriminierung vorgegangen. Mit einem positiven Ergebnis/Urteil steigt
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Empowerment
natürlich das Gefühl der Wiedergutmachung/Entschädigung. Auch wenn es „nur“ eine
Einigung vor Gericht mit einer finanziellen Entschädigung gab, also kein Urteil, wirkt
sich das trotzdem stärkend auf die Betroffenen aus. Viel wichtiger als die finanzielle
Entschädigung sind für die Betroffenen die Genugtuung, sich aktiv gegen die erlebte
Diskriminierung gewehrt zu haben sowie das Auseinandersetzen-Müssen des
Verursachers mit seinem diskriminierenden Handeln.
„A. L.: Dieses Urteil hat mich tief bewegt, als ich es las. Der Richter
hat meine Sprachfähigkeiten sehr gewürdigt. Auch das hat mir mein
Selbstvertrauen wiedergegeben. Befreundete Rechtsanwälte haben
mir erzählt, dass mein Fall in ihren Kreisen sehr diskutiert wurde. Das
ist ein sehr wichtiger Fall fürs Arbeitsrecht geworden.“
„M. T.: (...) Und zu wissen, dass die andere Seite sich damit
beschäftigen muss, sich darüber Gedanken machen muss, was sie
da für einen Mist gebaut haben, das tat mir gut.“
(+) Die in der Beratung erfahrene Unterstützung und Ermutigung, gepaart mit
„Erfolgen“, lässt die Persönlichkeit des Betroffenen nicht unverändert. Der Prozess
bewirkt, dass sie nach außen mutiger und selbstbewusster auftreten. Bei erneuten
Diskriminierungserlebnissen können sie auf das wieder bzw. neu erlangte
Selbstbewusstsein zurückgreifen und darauf aufbauen.
„S. B.: Was hat sich außerdem seitdem für Sie geändert? M. T.: Es ist
auch im vergangenen Jahr wieder häufig passiert, dass ich
diskriminiert wurde. Das passiert mir tagtäglich, sei es in der Uni, im
öffentlichen Verkehr, man wird gemobbt, schief angeschaut und so
weiter... Durch meine Erfahrungen beeinflusst mich so etwas nicht
mehr so stark. Meinem Selbstbewusstsein hat das also sehr viel
gebracht.“
(+) Empowermentprozesse reichen über den konkreten „Fall“ hinaus: Klient_innen, die
sich in der Auseinandersetzung mit den Antidiskriminierungsberater_innen auf den
Weg in ihrem spezifischen Empowermentprozess gemacht haben, werden auch in
darüber hinausgehenden Lebensbereichen anders wahrnehmen und entsprechend
auch dort möglicherweise Veränderungen anstoßen. Sie können zu Vorbildern und
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Empowerment
Multiplikator_innen in ihrem Umfeld werden und anderen Betroffenen Kraft und Mut
geben. In gewisser Weise werden sie zu „Agents of Change“, die andere Personen in
eigenen Empowermentprozessen unterstützen bzw. dominierende und
Machtverhältnisse stabilisierende Personen hinterfragen und kritisieren. So wird auch
deutlich, dass auf den ersten Blick „individuell“ erscheinende Empowermentprozesse
auch kollektive Dimensionen haben (können).
„S. B.: Wie haben Ihre Freunde und Ihre Familie reagiert? M. T.: Ich
denke, ich habe viele ermutigt, eventuell ähnliche Schritte zu
unternehmen. Sie fragen mich um Rat. Und ich kann auf Grund
meiner Erfahrungen Mut machen und sie darin unterstützen, zu einer
Beratung gehen.“
Grenzen und Schwierigkeiten des Empowermentansatzes in der
Beratung
(+/-) Empowermentprozesse müssen nicht an jedem Punkt, für jede Person und in
jedem Fall die erste Wahl sein. Manchmal braucht es erst einmal eine Begleitung in
anderen Prozessen, bevor der erste Schritt in Richtung Empowerment gemacht
werden kann. Hier gilt es immer, sich in den individuellen Prozess der_des Klientin_en
einzufühlen und gemeinsam mit ihr_ihm zu schauen, was sie_er gerade braucht.
(-) Beratungsprozesse können dazu führen, dass sich Menschen in ihren Aktivitäten
auf ein bestimmtes Ziel einschießen. In seltenen Fällen kommt es vor, dass sich
Klient_innen in ihrer Auseinandersetzung mit der erlebten Diskriminierung bspw. so in
den Kampf gegen die Verursacher_innen „verbeißen“, dass sie ihre komplette Energie
in damit verbundene Aktivitäten stecken. Hier ist die Grenze zwischen einem
engagierten und selbstbewussten Kampf auf der einen und einem teilweise
selbstschädigendem und letztlich aussichtslosem Ringen mit den Umständen auf der
anderen Seite fließend. Für die Berater_innen heißt es hier vor allem, die
Wahrnehmung, dass ihr Vorgehen gegen die erlebte Diskriminierung auch negative
Folgen für sie haben kann und evtl. sogar andere Konflikte verdecken mag, mit den
Klient_innen zu teilen. In manchen seltenen Fällen kam es auch vor, dass der
Beratungsprozess von Seiten der Berater_innen beendet werden musste.
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51
Empowerment
(-) Das Empowerment-Konzept ist bei Klient_innen mit extremen psychischen
Problemen nicht anwendbar. Hier bedarf es erst einmal anderer Hilfs- und
Unterstützungsmechanismen, die die Person auffangen und stabilisieren.
Perspektive und Dank
Die Ausführungen zu dieser speziellen Thematik sollen als ein Beginn eines
Austauschs und einer Diskussion unter Berater_innen verstanden werden.
Anregungen, Ideen und Kritik sind der Autorin willkommen und tragen der inhaltlichen
Weiterentwicklung des Artikels bei. Befragungen von ehemaligen Klient_innen wären
perspektivisch sinnvoll, um weitere Erkenntnisse zu dieser Thematik zu gewinnen.
Besonderer Dank geht an dieser Stelle an die Kolleg_innen des ADNB des TBB Moritz
Schelkes, Maryam Haschemi und Eva Maria Andrades, an Sanchita Basu von
ReachOut7 und Eben Louw von Opra8, die mit ihren langjährigen Erfahrungen und
Wissen diesen Artikel bereichert haben.
Literatur
Norbert Herriger (2006): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Kohlhammer.
Nuran Yiğit, Halil Can (2009): Die Überwindung der Ohn-Macht. Politische
Bildungs- und Empowerment-Arbeit gegen Rassismus in People of Color-Räumen
– das Beispiel der Projektinitiative HAKRA. In: Gabi Elverich, Annita Kalpaka,
Karin Reindlmeier (Hg.): Spurensicherung. S 167 ff. Unrast.
Nuran Yiğit, geb. 1974, Diplom-Pädagogin, Projektleiterin des
Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des TBB. Seit 2002 ist sie aktiv in der Konzeption
und Durchführung von Empowerment-Ansätzen in der politischen Bildungsarbeit und
Antidiskriminierungsarbeit
7
www.reachoutberlin.de
8 www.opra-gewalt.de
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52
Empowerment
Toan Quoc Nguyen
»Was heißt denn hier Bildung?« - Eine PoCEmpowerment-Perspektive auf Schule anhand des
»Community Cultural Wealth«-Konzepts
»Folks you know they made curriculums designed to make obedient
drones. Bring your paper, but please leave your lyrics at home.«
(Blue Scholars 2005: Commencement Day)
»Blue Scholars«, eine Asian-American Hiphop Kombo aus Seattle, widmen dem täglich
geleisteten Widerstand in der Schule das obige Lied. Sie wenden sich dabei gezielt
gegen eine Bildungssituation, die darin besteht, wenig an der Lebenswelt der Schüler_innen anzudocken. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire nannte es die
(domestizierende) Bankiersmethode des Lernens: das Abfüllen von Schüler_innen mit
kanonisiertem Wissen. Doch wessen Wissen?
Zumeist das hegemoniale Wissen der Mehrheitsgesellschaft, grundsätzlich selten das
von marginalisierten Gruppen und konkret exemplarisch kaum das von Menschen of
Color. Schüler_innen of Color haben in Schulen das Wissen zu lernen, das als wertvoll
von der weißen, mittelschichtsorientierten Mehrheitsgesellschaft gesetzt wird. Oftmals
erfolgt im gleichen Zuge eine Abwertung, Diskriminierung und Ausblendung gegenüber
dem (alternativen) Wissen und weiterer Fertigkeiten, Stärken und Ressourcen, das
Schüler_innen, Familien und Communities of Color in die Schule mitbringen. Das ist
ein sehr einseitiger und ungenügender weißer Blickwinkel. Denn Communities of Color
haben jenseits dieser Vorstellungen der Deprivation über Generationen hinweg ein
stärkendes Potenzial ausgebildet bzw. ausbilden müssen. In diesem Beitrag möchte
ich auf der Basis der Critical Race Theory (CRT)9 in einem ersten Schritt diese
9
CRT ist ein akademisch-aktivistischer Ansatz, der sowohl die Auswirkungen von
Rassifizierung und Rassismus – in ihren intersektionalen Schnittstellen – auf die Gesellschaft
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Empowerment
rassifizierten Annahmen im Bildungssystem hinterfragen, die vor allen Dingen auf einer
Defizitorientierung beruhen. Sie führen dazu, dass Menschen of Color den gesellschaftlich wichtigen Schauplatz Schule tendenziell eher als disempowernd erleben.
Unter der Brille Rassismus sind Schulerfahrungen oftmals schmerzhaft, schwächend
und zurückwerfend. In einem zweiten Schritt möchte ich gerade aufgrund dieses
Befundes folgende Fragen aufwerfen: Über welche Ressourcen verfügen Schüler_innen, Familien und Communities of Color – jenseits und gerade wegen des
Bestehens von strukturellem und institutionellem Rassismus und Diskriminierung?
Welche Stärken und Ressourcen sind behilflich für Wege des Empowerments im
Bildungssystem? Hierfür stelle ich das Konzept »Community Cultural Wealth« (Yosso
2006) aus der Feder der CRT vor. Es basiert auf einer ressourcen- und stärkenfokussierten Betrachtung von Communities of Color in den USA.
Strukturelles Disempowerment, Defizitorientierung und Bildung
»ach ja: deine Eltern, die kommen aus Ghana Kamerun, nee, nur
mein Opa, ah hm ... und ihr habt dann auch in so Hütten gewohnt, ja
klar aus Lehm mit Stroh oben drauf, also einfach paar Sachen, wo
man sich denkt: Ach! und dann erzählen die mir was von Bildung«
(Yeboah in Nguyen 2013)
Yeboah, afrodeutsche Jugendliche, schildert eine Episode aus ihrer Schulzeit. Sie
wurde dort von Mitschüler_innen und Lehrer_innen oft mit rassifizierenden und
rassistischen Projektionen konfrontiert – so wie auch exemplarisch hier. Die Erzählung
offenbart zwei äußerst interessante, genauer zu beleuchtende Aspekte: einerseits die
schulische Schaubühne des Rassismus, andererseits die kreative und widerständige
Performanz Yeboahs.
betrachtet als auch dazu beiträgt, diese zu verändern. Weiter unten erfolgt eine auf Bildung
fokussierte Beschreibung der CRT.
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Empowerment
Die schulische Schaubühne des Rassismus hat viele Gesichter. Sie erstrecken sich
von Formen der Beleidigung, Herabwürdigung und des Mobbing, über die entstellte
oder verfälschte Darstellung in Schulbüchern und Curricula, schlechtere Bewertungen
und schlechtere Behandlungen, hin zu verwehrten oder erschwerten Empfehlungen
und (Bildungs-)Zugängen (vgl. Nguyen 2013). Sie sind die Erscheinungsformen
alltäglichen, institutionellen und strukturellen Rassismus im Bildungssystem. Zu Recht
können wir politisch betrachtet von Bildungsungerechtigkeit, fehlender Teilhabe und
Anerkennung im Schulsystem für Menschen of Color – und auch weitere marginalisierte Gruppen – sprechen. Ich verstehe dies als Disempowerment. Die Schule und das
Bildungssystem können punktuell und strukturell disempowern. Schulen sind in diesem
Sinne selten idyllische Lern-, Arbeits- und Aufenthaltsorte für Menschen of Color. Im
Gegenteil: Alltagsdiskriminierung und Alltagsrassismus sind in der Schule nicht außen
vor, sondern mittendrin. Denn gesellschaftliche Realität ist auch schulische Realität.
Gemeinsamer Ausgangspunkt des strukturellen Disempowerments ist das Bestehen
und Wirken rassistischer (und weiterer hegemonialer) Wissensbestände in der Schule.
Dieses Wissen ist Teil einer rassistischen (und überlegenheitsbezogenen) Ideologie
und Teil einer weißen (hegemonialen) Dominanzstruktur. Begünstigt werden in der
Regel Menschen, die folgende Merkmale aufweisen und/oder verbinden: weiß,
Mittelschicht, christlich, heterosexuell, (cis-)männlich, nicht behindert. Es spannt sich
dadurch ein systematisches Ungleichheitsverhältnis auf: auf der Ebene von guten
Schulabschlüssen in mehr oder weniger Zugang, auf der Ebene von Repräsentation in
drinnen oder draußen und auf der Ebene von Wertschätzung und Anerkennung in
Zuwendung oder Verwehrung.
Richten wir einen erneuten Blick auf Yeboahs Erfahrung. Bei einem genaueren Blick
zeigt sich dort ein wichtiges Hilfsmittel für die Herstellung und Aufrechterhaltung des
systematischen Ungleichheitsverhältnisses: die Abweichung von der
Norm(konstruktion). Diese kann in eine Defizitorientierung münden. Mit ihr kann eine
Abwertung, Herabstufung und Diskriminierung erfolgen. Die rassifizierte Projektion, die
Yeboah erfährt, operiert in der Gegensätzlichkeit vom zivilisierten, fortschrittlichen
Westen und dem unzivilisierten, rückständigen Rest. Der Kulturwissenschaftler Stuart
Hall spricht hier auch von »the west and the rest« (Hall 1994: 137). Das ist eine
koloniale Figur des »Othering« bzw. der »Ver-Anderung«. Yeboahs Familie ist nicht
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Empowerment
eine von »uns«, sondern eine von »denen«. Genau genommen, so ist der diskriminierende Kern der Projektion, eine von »denen«, die nicht gleichermaßen fortschrittlich
wie »wir« sind. Die weißen Akteur_innen entziehen - bewusst oder unbewusst, das sei
dahin gestellt – die gleiche, respektvolle und wertschätzende Augenhöhe. Es ist ein
Prozess der Herabstufung, ein Prozess der – das möchte ich betonen – auf beiden
Seiten dehumanisierende Folgen haben kann.
Tatsächlich ist der defizitorientierte Blick auf Menschen of Color ein wesentliches
Element – und Problem – weißer Normalitätsvorstellungen im Bildungssystem. In
»ausländerpädagogischer« Fassung haben Schüler_innen of Color die Figur und die
Rolle des »Mängelwesens«, in interkultureller Fassung die des (festgeschriebenen)
kulturell und ethnisch Anderen inne (gehabt) (vgl. etwa Yıldız 2009, Mecheril 2004).
Gemeinsame zugrunde liegende Annahme ist: Schüler_innen of Color haben vermeintliche kulturelle oder soziale Defizite aufgrund ihrer natio-ethno-kulturellen Herkunft.
Ihnen fehle etwas. Sie würden nicht gleichermaßen über die Eingangs- und sozialen
Kompetenzen/ Dispositionen wie weiße Mitschüler_innen verfügen. Sie würden zum
Beispiel nicht gleichermaßen gut deutsch sprechen, hätten Anpassungsschwierigkeiten
aufgrund ihres »Kulturkreises« oder die Eltern besäßen nicht das ausreichende
Vermögen, ihre Kinder zu unterstützen. Das sind gängige, selten hinterfragte weiße
Normalitätsvorstellungen. Die Vorstellungen basieren auf einem einseitigen, kaum
ressourcenorientierten, oftmals kulturalisierenden und vor allen Dingen ungenügenden
Blickwinkel.
Es verwundert daher nicht, dass sich Yeboah empört über die althergebrachten
rassistischen Projektionen, die sie erfährt und über das Bildungsverständnis, das sie in
der Schule vermittelt bekommt. Sie widersetzt sich dem und kontert mit Ironie. Es sind
Elemente ihrer kreativen und widerständigen Performanz. Sie zieht eine bedeutsame
Schlussfolgerung, in dem sie den bestehenden normalen weißen Bildungskanon
hinterfragt. Zugespitzt können wir mit ihr die Frage aufwerfen: Was heißt denn hier
Bildung, wenn einerseits Bildungscurricula rassistisches und diskriminierendes Wissen
weiterhin transportieren und andererseits Bildungsorte wie die Schule weiterhin
Rassismus und Diskriminierung aufrechterhalten?
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56
Empowerment
Zwei Gedanken möchte ich dazu entfalten – einen kurz angedeuteten und einen zu
vertiefenden. Erstens: »Rassismus bildet« (Mecheril/ Broden 2010) und verbildet. Das
bedeutet: die Gegenwart von Rassismus prägt unseren Lern- und Bildungsprozess in
der Schule, freilich in einer uns schadenden Form. Für Yeboah und alle weiteren
Beteiligten hat diese Episode bedeutsame Auswirkungen für ihr jeweiliges Selbstverständnis und ihre Persönlichkeitsentwicklung. Wir können uns fragen: Welche Plätze
werden uns zugeordnet im Wirken von Rassismus? Was macht diese Zuordnung mit
uns? Was machen wir mit der Zuordnung? Diskurstheoretisch gesprochen, handelt es
sich um Prozesse der Subjektivierung, der »Mensch-Werdung« (vgl. Hall, Foucault,
Butler u.a.), konkret in diesem Fall in Bildungsinstitutionen. Zweitens wird deutlich:
Yeboah verfügt über ein alternatives Selbst- und Bildungsverständnis, eines, auf dem
ihre widersetzende Technik basiert. Sie widersetzt sich den Projektionen, ihr gelingt es,
über den Projektionen zu stehen. Ironie ist dabei ihre rassismuskritische und
empowernde Kommunikationstechnik (vgl. Mecheril 2004). Ihr Selbstverständnis und
Bildungsverständnis ist gestärkt durch Prozesse des Empowerments. Es geschieht
genau das, was Reggae-Legende Bob Marley folgendermaßen besingt: »we refused to
be what you wanted us to be, we are what we are, that`s the way it`s going to be«
(Marley & the Wailers: Babylon System 1979).
Das empowerte Selbst- und Bildungsverständnis Yeboahs ist genährt aus Stärkungsprozessen in der Familie und der Schwarzen Community – so stellte es sich in
Gesprächen heraus (Vgl. Nguyen 2013). Das ist ein wichtiger Befund für vertiefende
Betrachtungen. Es eröffnet den Blick auf in die Schule mitgebrachte Ressourcen,
Fertigkeiten und Stärken, die Menschen of Color in sozialen Gemeinschaften ausbilden
bzw. auszubilden haben – auch angesichts einer von Alltagsdiskriminierung und
Alltagsrassismus durchzogenen Gesellschaft. Es erstaunt, dass diese, obwohl sie so
sehr von Bedeutung sind, bislang so wenig beleuchtet und beachtet worden sind. Für
eine vertiefende Betrachtung möchte ich das Konzept der »Community Cultural
Wealth« vorstellen.
»Community Cultural Wealth« - das stärkende Kapital von Familien
und Communities of Color
»Whose culture has capital?« so lautet die Ausgangsfrage im Titel des anregenden
Artikels der Erziehungswissenschaftlerin Tara J. Yosso zu «Community Cultural
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Empowerment
Wealth«. Das Konzept stammt aus der Theorieproduktion der Critical Race Theory
(CRT). Die CRT konkret auf den Bildungsbereich10 bezogen, beschreibt die Autorin
folgendermaßen:
»I define CRT in education as a theoretical and analytical framework
that challenges the ways race and racism affect educational structures, practices and discourses. CRT is conceived as a social justice
project that works toward the liberatory potential of schooling.«
(Yosso 2006: 172).
Das Konzept vollzieht in entscheidender Weise einen Perspektivwechsel: von einem
oft gesetzten weißen, Mittelklasse-Referenzrahmen zu einer Bezugnahme von Stärken
und Ressourcen von Communities of Color. Das Konzept umfasst sechs Kapitalsorten.
Diese sind ineinander verwoben, so sind etwa in Yeboahs Beispiel mehrere Kapitalsorten (soziales Kapital, Widerstands- und Familienkapital) bedeutsam. Die Kapitalsorten
ergänze ich teils mit kurz skizzierten Praxisbezügen zum deutschen Kontext:
Aufstiegskapital: Aufstiegskapital meint das Vermögen, trotz faktisch erlebter
Barrieren hohe Bildungsträume und -aspirationen zu bewahren und zu leben. LatCritArbeiten11 belegen zum Beispiel, dass »Chicanas/Chicanos experience the lowest
educational outcomes of any group in the United States, but maintain consistently high
aspirations for their childrens’ future« (Yosso 2006: 176). Ich sehe selbst für den
deutschsprachigen Kontext exemplarisch auch Übertragungsmöglichkeiten auf die
vietnamesische Community und den Bildungserfolg von Schüler_innen deutschvietnamesischer Herkunft. Dort liefert meiner Auffassung nach Aufstiegskapital
eingebettet in die intergenerative Erfahrungswelt realer sozial-ökonomischer Deprivati-
10 Fünf Merkmale kennzeichnen dem Erziehungswissenschaftler Daniel Solórzano zufolge die
CRT im Bildungsbereich: 1) die Intersektionalität von »Race« mit anderen Differenzkategorien
2) die kritische Dekonstruktion dominanter Ideologien 3) das Engagement für Social Justice 4)
die Zentralität von erfahrungsbezogenem Wissen, konkret von Erfahrungs- und Wissensbeständen von Menschen of Color 5) der transdisziplinäre Zugang (vgl. Solórzano 1997/1998).
11 LatCrit steht für «Latina/o Critical Race Theory«
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58
Empowerment
on viel haltbare, plausiblere Erklärungsperspektiven als bestehende dominante »model
minority« oder auf die Lehren des Konfuzius reduzierte, kulturalisierende Argumentationen.
Linguistisches Kapital: Linguistisches Kapital beschreibt die intellektuellen und
sozialen Fertigkeiten, die ein mehrsprachiger Alltag mit sich bringt. Ausgangspunkt ist
die Feststellung, dass viele Schüler_innen of Color die Schule bereits mit mehrsprachigen Kommunikationskompetenzen betreten. Beispiel wäre das Beherrschen mehrerer
Sprachen, das reibungslose Wechseln zwischen zwei Sprachen oder auch das bereits
ausgebildete Vermögen Übersetzungen zu leisten12. Letzteres schließt ein – so belegt
es die Sozialwissenschaftlerin Marjorie Faulstich Orellana in ihrer US-Studie anhand
bilingualer Kinder – soziale Fertigkeiten wie »vocabulary, audience awareness, crosscultural awareness, real world literacy skills, math skills, metalinguistic awareness,
teaching and tutoring skills, civic and familial responsibility, [and] social maturity«
(Faulstich Orellana zitiert nach Yosso 2006). Gemeint ist mit linguistischem Kapital
ferner auch ein kreatives Ausdrucksvermögen, welches auf Traditionen des storytelling
basieren kann. Grundsätzlich kann linguistisches Kapital auch in Form von Kunst,
Musik oder Poesie gezeigt werden. Ein bekanntes Beispiel wäre für mich das poetischlinguistische Ausdrucksvermögen, was beispielsweise durch MCing bzw. Rap erlernt
und vertieft wird. Hier ist sowohl historisch in Deutschland (vgl. Güngör/ Loh 2002) als
auch aktuell die Hiphop-Kultur für (junge) Menschen of Color eine wichtige (jugendkulturelle) Plattform fürs Leben und Lernen, die allerdings bislang wenig in Schule(n)
aufgegriffen wird13.
Familienkapital: Familienkapital bezieht sich auf kulturelles Wissen über CommunityGeschichte, kollektive Erinnerung und Gemeinschaftspflege, das von weit gefassten,
familiären Beziehungsverhältnissen getragen und genährt wird (kinship). Entgegen
12 In Deutschland wären mit Blick auf das linguistische Vermögen von Schüler_innen of Color
exemplarisch etwa die Arbeiten der Linguistin Inci Dirim anschlussfähig (vgl. Dirim/ Mecheril
2010), die u.a. den »monolingualen Habitus« (Gogolin) von Schule kritisiert.
13 Für eine vertiefende Betrachtung der Bedeutung von Hiphop für eine kritische Pädagogik
siehe exemplarisch auch Akom 2009.
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59
Empowerment
rassifizierten und heteronormativen Engführungen ist hier ein Familienverständnis
zentral, das die (lebende und verstorbene) Kernfamilie als auch einen selbstgewählten
erweiterten (Verwandtschafts-)Kreis, wie zum Beispiel Onkel, Tanten, Freund_innen
und weitere Menschen, mit einschließen kann. Diese (vertrauten) Beziehungskontexte
bieten die Lernbasis, um gesunde und wohltuende Verbindungen zur Community zu
bewahren. Der Zusammenhalt untereinander und das gegenseitige Wohlergehen
werden durch unterschiedliche soziale Veranstaltungen und Treffen gestärkt. In diesen
Kreisen zirkuliert dann alternatives kollektives (Familien und Community-)Wissen über
ein System der Unterdrückung sowie vielfältige Widerstandsstrategien und ressourcen. Dieses Wissen wird von Generation zu Generation übertragen, wie zum
Beispiel die Soziologin und Schwarze Feministin Patricia Hill Collins auch anhand der
Übermittlung Schwarzer Mütter an ihre Töchter feststellt (vgl. Hill Collins 1991: 123f.).
Zum kollektiven Wissen zählt auch das Bewahren einer eigenen Geschichtserzählung,
die zum Beispiel in der jüdischen Community die Shoah, in der Schwarzen Community
die Maafa oder in anderen Communities die geteilten kollektiven Erfahrungsbestände
über Flucht, Unterdrückung, Migration und Diaspora einschließen kann. Es sind
mögliche Ausgangspunkte für Geschichten und Perspektiven der Vielfalt im Klassenzimmer.
Soziales Kapital: Soziales Kapital umfasst die Netzwerke von Menschen und Community-Ressourcen. Die sozialen Kontakte sind behilflich, technische und emotionale
Unterstützung zu geben, um gut durch soziale Institutionen zu gelangen. Konkret kann
bei (Aus-)Bildungswegen, Stipendienförderung oder bei auftretenden Problemen
beraten werden. Die/der Ratsuchende greift auf einen weiten Erfahrungs- und Wissensschatz zurück, der in den sozialen Netzwerken geteilt und zur Verfügung gestellt
wird. Tara Yosso weist – in der Benennung von »Mutualistas« oder »mutual aid
societies« – darauf hin, dass Communities of Color mit der Migration eigene soziale
Netzwerke aufbauten und bewahrten und erworbene Informationen und Ressourcen an
diese Netzwerke zurückgaben. Exemplarisch ist das in meinen Augen zum Beispiel in
der türkischen Community in Deutschland erkennbar, wo vielfältige soziale Netzwerke
im ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Bereich aufgebaut worden sind.
Konkretes Beispiel wären für den Schulbereich türkische oder weitere migrantische
Elternvereine.
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Empowerment
Navigationskapital: Navigationskapital meint ein individuelles Handlungsset an
Fähigkeiten, erfolgreich durch soziale Institutionen zu manövrieren, die nicht für
Menschen und Communities of Color geschaffen worden sind bzw. diskriminierende
Barrieren offenbaren. Es schließt zum Beispiel das Belastbarkeits-, Erholungs- oder
Unversehrtheitsvermögen von Schüler_innen of Color ein, angesichts von (rassistischen) »Micro- und Macroaggressions« (Sue et al 2009) oder anderen stressreichen
sozialen Situationen in Schule dennoch gute Bildungserfolge zu erzielen - so wie es
auch einige der von mir befragten Jugendlichen belegen.
Widerstandskapital: Widerstandskapital beinhaltet Wissenshaushalte und Sets an
Fähigkeiten, um Diskriminierung und Unterdrückung zu entgegnen. Dazu können
zählen: Selbstliebe, Mut, soziale und kommunikative Techniken oder auch gelebte
Glaubenssätze und Haltungen der Gerechtigkeit und Gleichwürdigkeit (vgl. Nguyen
2013). Auch konformistische und selbstschützende Strategien können Teil individueller
Widerstandsstrategien sein, wobei diese selten die ungerechten sozialen Situationen
herausfordern bzw. verändern. Erst wenn das Widerstandsvermögen mit einem
Bewusstsein und einer Motivation für social and racial justice versehen ist, können
auch transformative Effekte für Akteur_innen in Schule und weiter für das System
Schule eintreten. Begünstigt wird dieser Prozess durch das Vorhandensein einer
kritischen (weißen) Sensibilität, Achtsamkeit, Offenheit, Wohlwollen und Entgegenkommen.
Abschließend macht Tara Yosso den expliziten Hinweis, dass das Konzept nicht dafür
geschaffen ist, sich die Stärken und Ressourcen von Communities of Color anzueignen
oder sie auszubeuten. Stattdessen betont sie: das Konzept dient dazu Schulen zu
fördern, die sich für eine gerechtere, rassismuskritische Gesellschaft einsetzen. In
ihren Worten:
»Community cultural wealth involves a commitment to conduct research, teach, and develop schools that serve a larger purpose of
struggling towards social and racial justice.« (Yosso 2006: 181)
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61
Empowerment
Empowerment Perspektiven und Ausblicke
»If you are really honest about equity and social justice then you have
to start thinking about the transformation of your own framework, of
your own ways of thinking in order that people are included, so that
people come along with you«. (Chandra Talpade Mohanty).
Yeboah wie auch weitere von mir befragte Jugendliche of Color belegen, dass sie ganz
bestimmte Stärken, Fertigkeiten und Ressourcen mit in die Schule bringen. Diese
entstammen vorwiegend Lernprozessen in ihren sozialen Gemeinschaften und
Communities. Diese Dispositionen sind notwendig, um sich Alltagsdiskriminierung und
Rassismus in Schule und Gesellschaft zu widersetzen. Sie sind wesentlich für das
persönliche und politische Empowerment. Aus einer Empowerment-Perspektive halte
ich deswegen im Sinne des Community Cultural Wealth Konzeptes folgendes für
essentiell: Gerade in den eigenen Gemeinschaften und Communities sind die eigenen
Stärken und Ressourcen zu erkennen, zu bewahren, zu kultivieren – und auch zu
teilen. »Caring and sharing« ist zu leben als eine Leitlinie eines achtsamen, respektund liebevollen Miteinanders in Unterschiedlichkeit. Ich stimme da den Ausführungen
meines geschätzten Freundes und Kollegen Sebastian Fleary in seiner Abschlussarbeit vollends zu. Er plädiert in Anlehnung an Schwarze Feministinnen, wie zum
Beispiel Audre Lorde und bell hooks für die »work of love for effective political action«.
In seinen Worten: »Without love, there is no community. Without community, there is
no liberation« (Fleary 2010).
Schulen haben als bedeutsame gesellschaftliche Bildungsorte mit Blick auf diese
Prozesse des Empowerments ihren Beitrag zu leisten. Das schließt ein, sich den
Erfahrungen, Belangen und Bedürfnissen von Menschen of Color (und weiterer
marginalisierter Gruppen) angemessen zuzuwenden. In Schulen ist daher zu fragen:
Wie wird Rassismus und Diskriminierung in der Schule betrachtet und bearbeitet? Wie
werden Schüler_innen (sowie Eltern und Pädagog_innen) of Color in der Breite ihrer
Widerstands- und Empowermentstrategien in der Schule wahrgenommen? In welcher
Weise werden diese Strategien und Ressourcen angenommen, unterstützt und
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62
Empowerment
gefördert? Wie können tiefer gehend auf (schul-)institutioneller und (bildungs)struktureller Ebene Prozesse des Empowerments realisiert werden?
Die im Mai 2012 auf einem Fachgespräch an die Hamburger Senatsverwaltung
präsentierten vier Forderungen14 vom Netzwerk Rassismus an Schulen (NeRas) halte
ich für richtungsweisend – und sie sind ebenso meiner Auffassung nach bundesweit zu
übertragen. Auch die Empfehlungen der Erziehungswissenschaftlerin Mechthild
Gomolla zum Abbau von institutionellem Rassismus und Diskriminierung in der Schule
sind überaus sinnvoll (vgl. Gomolla 2009). Schulentwicklung hat sich der heterogenen
Realität der Migrationsgesellschaft zuzuwenden. Dazu zählt mitunter die Breite an
diversen Erfahrungs- und Wissensbeständen in die schulischen Lern-, Begegnungsund Bildungskontexte aufzunehmen. In pädagogischer Hinsicht braucht es in Schule
freilich dafür veränderte Blickrichtungen und Haltungen, die kritisch, dialogisch,
wertschätzend und ganzheitlich sind (vgl. u.a. Freire 1973, hooks 1994, 2010).
Sicherlich gilt auch: Es gibt noch einiges zu tun, um inklusive, partizipative und
wertschätzende Schulkulturen zu schaffen und zu etablieren. Ich persönlich halte es da
mit der Rap-Pionierin MC Lyte:
»We’re jammin' on the for the daughters and sons
the struggle is not over until the battle is won« (Bob Marley feat. MC
Lyte 2000: Jammin`)
Literatur
Akom, A. Antwi (2009): Critical Hiphop Pedagogy as a Form of Liberatory Praxis.
In: Equity & Excellence in Education, 42 (1).
Blue Scholars (2005): Commencement day. Album: The Long March
Dirim, Inci/ Mecheril, Paul: Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril
et al (2010): Migrationspädagogik. Beltz Verlag.
14 a) Verankerung des Themas Rassismus als verpflichtender Teil der Lehreraus- und fortbildung b) Implementierung des Themas Rassismus in den Curricula verschiedener
Unterrichtsfächer c) Verankerung des Verbots von sowie eines angemessenen Umgangs mit
Diskriminierung im Schulgesetz d) Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle
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63
Empowerment
Fleary, Sebastian (2010): Without love, there is no community. Without community, there is no liberation …reasonings über Schwarze Erfahrung, Empowerment &
kritische Pädagogik. Unveröffentliche Diplomarbeit, Uni Bielefeld.
Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Gomolla, Mechtild (2009): Interventionen gegen Rassismus und institutionelle Diskriminierung als Aufgabe pädagogischer Organisationen. In: Scharathow, Wiebke/
Leiprecht, Rudolf: Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit.
Wochenschau Verlag.
Güngör, Murat/ Loh, Hannes (2002): Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen
Weltkultur und Nazi-Rap. Hannibal Verlag.
Hall, Stuart (1994): Rassismus und Kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2.
Argument Verlag. Hamburg.
hooks, bell (1994): Teaching to Transgress. Education as Practice of Freedom.
Routledge
hooks, bell (2010): Teaching critical thinking. Practical Wisdom. Taylor & Francis
Ltd.
Marley, Bob & the Wailers (1979): Babylon system. Album: Survival
Marley, Bob feat. MC Lyte (2000): Jammin`. Album: Chant Down Babylon
Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
Mecheril, Paul/ Broden, Anne (2010): Rassismus bildet: Bildungswissenschaftliche
Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft.
Transcript Verlag.
Nguyen, Quoc Toan (2013): Entrinnbarkeiten. Rassismuserfahrung und
Empowerment von Schüler_innen of Color. Zu erscheinen.
Sue, Derald Wing/ Lin Annie I., Torino, Gina C./ Capodilupo, Christina M./ Rivera,
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64
Empowerment
Critical Race Theory in Education: All God` s children got a song Taylor & Francis:
167-188
Toan Quoc Nguyen, praktiziert Zen und Viet Tai Chi, liebt Musik und studierte
Pädagogik. Er arbeitet als politischer Bildungsreferent sowie als systemischer Coach
und promoviert zum Thema »Rassismuserfahrung und Empowerment von Schüler_innen of Color«
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Empowerment
Internationale Perspektiven
Das Konzept des Empowerments von Menschen, die wegen ihre Hautfarbe, Nationalität oder Herkunft rassistisch behandelt werden, hat seine Ursprünge in der Schwarzen
Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die grundliegende (Selbst-)Ermächtigung von
marginalisierten Menschen findet inzwischen in verschiedenen Bewegungen weltweit
Ausdruck in unterschiedlichen Kontexten, Ansätzen und Methoden.
Die diversen politischen Kontexte, Wirtschaftssysteme und Rechtsstrukturen in
Ländern und Regionen weltweit setzen die Rahmenbedingungen für Selbstermächtigungsmethoden, Ansichten und Erfahrungen. Hier können Empowermentstrategien in
verschiedene soziale Bereiche einfließen, sei es im Arbeitsleben, in der Familie oder in
Schulen. Diese heterogenen und manchmal divergierenden Geschichten geben einen
wertvollen Einblick für den Einsatz und die Entwicklung von Ermächtigungsstrukturen
von und für Schwarze Menschen, Migrant_innen und People of Color weltweit und
illustrieren, wie divers die Kontexte sind, in denen Empowermentstrategien Anwendung
finden können.
Sabina Iqbal gibt in ihrem Beitrag Einblick in ihre Erfahrungen als Deaf Asian Muslima
in Großbritannien. Aus dieser Perspektive, in der sich Diskriminierung aufgrund von
Gender, »Rasse«, Religion und Ability überschneiden, beschreibt sie ihren Weg, die
Menschen und Institutionen, die ihr dabei halfen ihre Ziele zu erreichen – und nennt
dabei auch jene Strategien, die notwendig sind, um Menschen of Color mit
be_Hinderungen/Disability zu empowern.
Sabina Iqbal shares in her contribution her experiences as a Deaf Asian Muslima in
the UK. With a perspective on the intersection of gender, »Race«, religion and
ability,based discrimination she describes her life’s path, those individuals and
institutions that supported her in achieving her goals, and touches upon the strategies
necessary for the empowerment of Disabled People of Color.
Maria Virginia Gonzalez Romeros Beitrag setzt sich kritisch mit dem EmpowermentBegriff und seiner Vereinnahmung durch neoliberale Diskurse auseinander. Die Autorin
versteht Empowerment als Autonomie, kehrt zu den Wurzeln von Bildung und Dekolo-
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Empowerment
nisierung im Avia Yalaischen (Amerikanischen) Kontext zurück und bringt Ansätze aus
dem kommunitären Feminismus in das Empowerment-Verständnis ein.
Zamila Bunglawala erörtert die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des
Empowerments von jungen Muslimas im Arbeitsbereich in Qatar und England. Die
Autorin diskutiert wie Muslimas, sowohl als eine Mehrheit in Katar als auch als eine
Minderheit in England ihre beruflichen Pläne verwirklichen.
Zamila Bunglawala explores the differences and commonalities of empowerment for
young Muslimas in the world of work in Qatar and England. The author discusses how
Muslimas, as a majority in Qatar, and a minority in England, realise their career plans.
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Empowerment
Sabina Iqbal with Lisa Cristofolini
Empowering, Inspiring – Deaf without limits
In society minority groups face structural disadvantages. Forming and occupying space
and taking up avenues within individual agencies can become central to breaking down
the barriers faced. The right to information is a basic human right, essential for
individuals and groups to exercise and make informed decisions as independent
persons. Deaf and disabled people in the UK, as elsewhere, continue to face discrimination, including a lack of access to information, on various levels - political, social,
economic and religious. As a Deaf Muslim woman I have experienced particular
challenges within the community, in the education system, in the field of work and in
the social and health systems. Through a number of empowering schemes and
strategies, I have determined certain life paths. As a result I am now a Chair/Founder
of the pioneering Charity Deaf Parenting UK which is run by Deaf parents for Deaf
parents. In addition I am a full time Social Work Manager, Author, Wife and Mother.
Throughout the course of my life, I have challenged stereotypes and worked to
overcome difficulties. I have a positive approach, in order to achieve my life’s aspirations and goals. This has not always been easy. This article, both on a personal and
professional level, is about my journey to empowerment, and will serve to explore and
illustrate what empowerment can mean more generally for Asian Deaf Muslim women
in the UK and elsewhere.
Minority within a minority
According to the charity Action on Hearing Loss there are more than 10 million deaf
and hard of hearing people in the UK. Of the total, 3.7 million are working age (16-64)
and 6.3 million are retirement age (65+) (2011). Deaf people are protected by the
Equality Act 2010 which bans all unfair treatment by helping those who are deaf
achieve equal opportunities in the workplace and in wider society. A survey carried out
by Hertfordshire Hearing Advisory Service (2011) showed that among the deaf
community, those most disadvantaged in receiving the necessary support are those
from ethnic minorities. I am profoundly Deaf, Asian and Muslim, which makes me part
of a minority within a minority living in the UK. Statistics show that there is a higher rate
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Empowerment
of disability and deafness within Asian communities. In various Asian communities, as
is the case in wider society, the predominant perception is that it is culturally taboo for a
child to be born with a disability, in this case because it can be viewed as a sin and/or
punishment from God. Because of these cultural influences, my parents initially
struggled to come to terms with my diagnosis. My Grandfather, before he passed away
(blessed be upon him), often said that he prayed for me regularly to be cured of my
deafness and I always thought to myself ‘why does he worry about me so much, I am
doing just fine?’ Deaf women in particular can be viewed as less capable of leading
normal lives. I remember, while working as a Social Worker, between 1996 and 1998,
in the inner city, in East London, that within the first few minutes of visiting an Asian
family with deaf children or young people, I was often met with instant reactions of
surprise. Families were astounded to see an Asian Deaf woman working as a Social
Worker. Common questions asked, included 'Can you drive? Can you work? Can you
attend University?’ I informed them, yes, Deaf people are able to do anything they
wish; the only thing they cannot do is hear.
I note here that ‘Deaf’ with a capital ‘D’, means identifying culturally as Deaf and being
actively part of the Deaf community, where sign language flourishes. Instead, ‘deaf’
with a small ‘d’ signifies people with various degrees of hearing loss including deaf,
hard of hearing and deaf-blind people. Deaf people are often referred to as ‘deaf and
dumb’ or ‘hearing impaired’, both of which are offensive terms. The most appropriate
words adopted by National D/deaf organisations are 'Deaf and hard of hearing'.
Drawing from personal experience, a deaf person on meeting a hearing person for the
first time, often receives ‘an apology’ people say ‘I’m sorry’ when finding out we are
deaf. We do not expect sympathy. We are empowered through the use of British Sign
Language (BSL), which is a language in its own right and used by over 60,000 people
in the UK.
Lack of Deaf awareness in families can be detrimental to a young person’s future. It is
essential for a deaf child or young person to be taught that deafness is not a hindrance.
The necessary support and encouragement is vital for them to fulfil their life plans. The
unwavering love and support my family gave to me, my parents especially, are central
to my successes. My mother became fluent in BSL and progressed to working in Social
Services with D/deaf and hard of hearing people, dedicating the last 20 years of her life
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Empowerment
to this service. The presence of negative attitudes in social structures disable, rather
than the fact of being a D/deaf person. While growing up, limited positive initiatives
existed for Asian Deaf communities. Now, there are Asian Deaf Role Model Services in
existence, the National Deaf Children's Society, Deaf Muslim UK and Al Isharah. All of
these support and engage with Deaf people in a number of ways.
The Education System – challenges and opportunities
A D/deaf person’s experience of education will vary upon whether they find themselves
in a Deaf or hearing environment and whether or not they have access to the appropriate support and opportunities. I was fortunate enough to have attended a Deaf nursery,
a Deaf primary school and a well sought-after Deaf secondary school, Mary Hare
Grammar School. Mary Hare Grammar School was residential, with two hundred deaf
students. It was predominantly white, so I was the only Asian student in my year and
one of two in the whole school. I became subject to racist comments, which affected
me deeply. As a result, racism awareness initiatives were delivered to all years and
Islam and Muslim culture was taught in Religious Education classes. This reined in the
racism and helped students and those I made friends with understand my identity and
learn to accept me for who I was. I eventually felt fully integrated and made lifelong
friends at the school. It was largely a positive experience and I took away with me
many happy memories.
The transition from Deaf school to hearing college presented new challenges. I was the
only Deaf student among nine hundred hearing students. It was virtually impossible to
get along because no one used BSL and everyone stuck to their close circle of friends.
Through lip reading I managed to make a few friends but our interactions were limited. I
did not have access to good support services and I only received communication
support in class. I succeeded in passing my 3 A-levels but found myself mentally and
physically exhausted by the end. This is the experience of many Deaf students who
have attended mainstream school, college or university. They are often disadvantaged
by the lack of deaf awareness and appropriate communication support to meet their
needs. Some Deaf students I knew proceeded on to Deaf colleges and universities in
Bristol, Wolverhampton, Derby and Preston where there were better facilities for Deaf
students, including communication support and interpreter training programmes for
hearing students who were considering careers as BSL interpreters. Where these exist
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Empowerment
the hubs present fantastic opportunities for Deaf people to be empowered both
emotionally and educationally by allowing full participation without barriers.
It is essential for every D/deaf student to receive the appropriate information about their
local school, college or university. Having an expert or Deaf role model, advising them
on issues to consider and how their needs can be best met, allows for a more enriching
experience in education. Recalling my time at college, then, I was in for more of a
shock because I had limited advice. I found myself fighting for my right to get better
communication support, a basic need which hearing students need not worry about.
Today, I often share the benefit of my experiences with many young D/deaf students
and make sure they explore all options in whatever they decide to pursue in their life.
Empowerment in Employment
Given the structural discrimination present in many employment areas, entering the
world of work can be a daunting experience for D/deaf people. It is a time often
characterised by an absence of the support needed to harbour the necessary confidence to enable facing these challenges. I was fortunate to have met some important
people in my life journey who helped me build my confidence over time. Those
individuals empowered me at my time of need. While looking for work, they encouraged me to take on voluntary and unpaid work at a time when nothing was available in
mainstream employment. I was determined to find a job but was faced with endless
excuses such as, ‘you are deaf’ or ‘you cannot use a phone’. At this time, the Disability
Discrimination Act had not yet been enforced, so it was extremely common for D/deaf
people seeking work to face point-blank discrimination.
My working life started at the tender age of 15. I was a member of an interview panel
appointing BSL Community Interpreters. Here I learned how the recruitment and
interviewing process worked. After college, I worked in an office and from there went
on to pursue my dream of working in a travel agency business. Despite successfully
passing the required travel courses, I was told this field of work was not appropriate for
me because I would not be able to manage phone calls. My life took an interesting turn
when I entered the world of Social Work in 1996. I started off as a Project Researcher,
working with Asian D/deaf people and their families. Here I became aware of the gaps
in services for D/deaf parents. Having met three D/deaf pregnant women living in the
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Empowerment
UK who did not know BSL and who were only able to communicate using the sign
languages from their own countries of origin, I saw just how much they struggled to
access maternity services and learn about pregnancy. Their experiences inspired me
to do something about this. In 2000, I became a qualified Social Worker, in 2001 I
received a BA Honours in International Social Work and that same year I set up Deaf
Parenting UK.
Throughout my career I have had communication support from Access to Work (ATW),
a government scheme providing practical advice and support to persons with disability
to overcome work-related obstacles. ATW was a great support, helping me achieve all
that I have achieved today. I am now a Team Manager for a local County Council,
managing twenty three members of staff. Without ATW support I would have probably
remained in a low paid job with limited human contact and interaction. Today there are
still D/deaf people not aware of ATW so they find themselves struggling with employers’ lack of deaf awareness.
Access to Social Services and parenting support
90% of deaf children are born to hearing parents. When these children want to start
their own families they are faced with sometimes non-existent, very limited or patchy
support by local authority Social Services. This is in comparison to hearing parents who
are immediately able to access the support that is available. Deaf people have limited
access to mainstream information such as parenting skills classes and even with
appointments with midwives or health visitors can pose some difficulties. This puts
Deaf parents at a major disadvantage, missing out on vital information. As regards to
their children’s education, many Deaf parents struggle to adequately participate in their
children’s school life due to a lack of Deaf Awareness and the inability of staff to
communicate in BSL. Furthermore, many Deaf people are unaware of their rights and
so if Social Services become involved, they are less able to self-advocate, thereby
facing the risk of having their child removed or put into care or having their child’s name
put on the child protection register.
Due to communication barriers, D/deaf parents commonly face isolation. They are
therefore more likely to experience mental health problems and are placed at a higher
risk of post natal-depression. The government paper Every Parent Matters (Depart-
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Empowerment
ment for Education and Skills 2007) stresses throughout the importance of parents
being informed of services, clearly stipulating that in order for parents to take advantage of services designed to help them, they need to know what is available to them. If
they are not aware they could be missing out.
Following the lack of interest from mainstream organisations to develop a range of
projects and programmes for Deaf parents, a decision was made in October 2004 for
Deaf Parenting UK to become a registered charity. As an independent organisation, we
seek funding in order to provide the support and information Deaf parents deserve. We
help empower Deaf people in a number of areas in and around parenting.
Deaf Parenting UK and Partnerships
Partnerships for D/deaf people can be extremely empowering, depending on the level
of communication and understanding there is within them. In my line of work I have met
D/deaf women facing problems with their hearing partners due to their partner’s and
partner’s family’s lack of deaf awareness. Some families have pre-assumptions that
deaf marriages are not legitimate and will result in deaf children. This is untrue given
that 90% of deaf children come from hearing parents. Communication is the key to any
healthy and successful relationship or marriage.
I was lucky enough to have been introduced to my husband Asif, also Deaf, through a
friend of mine. We have a solid relationship and our strengths compliment each other
greatly. We communicate through BSL, which has empowered us as husband and wife
as well as Deaf parents. We have three children, Samaira aged six, Areeb aged four
and our youngest daughter Rubi aged two. Both Samaira and Areeb are hearing and
Rubi is Deaf. Throughout my pregnancies, we faced some communication barriers but I
was fortunate to have had very positive experiences on the whole, as a result of the
research I did for my book ‘Pregnancy and Birth: A Guide for Deaf Women’. I had BSL
interpreters for all my antenatal appointments, antenatal classes and while giving birth.
It was vital to have interpreters present in order for Asif to feel fully included in understanding my pregnancy. If anything went wrong he was able to actively make decisions
through the interpreter instead of seeing family members taking control, which is a
common experience for Deaf people. Many D/deaf couples today do not share my
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Empowerment
positive experiences of pregnancy and birth because they were not aware of the
available services, despite being entitled to them.
Conclusion
Looking back, I have been challenged by life but I was guided and encouraged to lead.
The key motivation for me, which gave me the ‘fire in my belly’, was witnessing social
injustices, first hand, as an Asian Muslim Deaf Woman. The key to empowerment for
those who are marginalised, is having access to information to enable them to live an
ordinary, or even extraordinary, life. This encompasses all spheres of life, from school,
through to work, community and family life. As illustrated in my tale, having access to
information in all of these areas is central to that other strand of empowerment, namely
individual independence, so that D/deaf people do not become entirely dependent on
communities, families or the state. In turn, access underpins the necessary framework,
within which, people and communities can exercise agency to enable purposeful
choices, making the most of and expanding opportunity through structures at hand.
Hereby, the quality and degree of participation in those various fields of life, each of
which inform the other, is defined.
Bibliography
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people in Hertfordshire, says HHAS Survey (http://www.hhas.org.uk/deafsurvey.htm) [Accessed: 16 Mar 2013].
Sabina Iqbal is Chair and Founder of Deaf Parenting UK, the first ever organisation
run by Deaf parents for Deaf parents. Well-known for her book ‘Pregnancy and Birth: A
Guide for Deaf Women’, the first of its kind for Deaf parents in the UK and possibly in
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Empowerment
the world, Sabina has won numerous awards including the European Muslim Women
of Influence Award 2010 and the GG2 Leadership and Diversity Award 2009.
Lisa Cristofolini has a special interest in current affairs as relating to the field of
(in)justice. She is undertaking a BA in Human Rights and Sociology at London
Kingston University.
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Empowerment
Maria Virginia Gonzalez Romero
Se trata de Autonomia - Es geht um Autonomie
Autonomie ist ein Prozess, mit dem Menschen ihre spirituellen, politischen, sozialen
und ökonomischen Fähigkeiten stärken, und zwar sowohl auf individueller als auch auf
kollektiver Ebene.
Das Konzept des Empowerment findet heutzutage nicht nur auf psychologischer und
philosophischer Ebene Anwendung, sondern wird in gleicher Form sogar in der stark
kommerzialisierten industriellen Philosophie der Automotivation eingesetzt.
In Avia Yala, von der westlichen Welt Amerika genannt, ist Empowerment aus unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Formen als Autonomia bekannt. Um
nicht zu weit in die Vergangenheit zurückzugehen, werde ich mich auf die Prozesse
seit Beginn der 1960er Jahre konzentrieren, die ich als Zeitzeugin miterlebt habe.
Educación Popular
In den 1960er Jahren fanden in vielen Ländern unseres Amerikas Befreiungskämpfe
für eine gerechtere Gesellschaft statt. In diesem Lucha Popular (Kampf des Volkes um
Rechte und Gerechtigkeit) wurde auch eine Vision über Bildung entwickelt, eine
Educación Popular. Diese hat sich von dem Konzept der Educación Pública,
Gratuita y Obligatoria (staatliche, kostenfreie obligatorische Bildung) differenziert
»Die Educación Popular ist ein Ansatz, der Bildung als einen
partizipativen und transformierenden Prozess versteht, in der das Erlernen und die Wissensaneignung auf der praktischen Erfahrung der
Personen und der Gruppen selbst basiert. Ausgehend von der Sensibilisierung und dem Verständnis der Beteiligten gegenüber den Faktoren und Strukturen, die ihr Leben bestimmen, geht es darum, ihnen
bei der Entwicklung von Strategien, Fähigkeiten und Techniken zu
helfen, die nötig sind, um eine an der Veränderung der Realität orientierte Partizipation zu ermöglichen.
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Empowerment
[…] Das Hauptziel der Educación Popular besteht darin, an der Konstruktion einer eigenständigen – nicht nur formalen, sondern realen –
Demokratie mitzuwirken, in der alle Personen und Bevölkerungsgruppen die tatsächlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen, an
Verhältnissen zu partizipieren, um befreiende soziale Veränderungen
zu Gunsten der Entwicklung und einer gerechteren, solidarischeren
und kooperativeren Welt anzustoßen, die zudem in größerer Harmonie mit der Natur existiert.«
Eizaguirre, Marlen: Educación Popular;
http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2007/widerstand-machtwissen/eizaguirre.htm)
In diesem Prozess wurde das eigene Erleben pädagogisch konzeptualisiert und
strukturiert. Der international bekannteste Ansatz ist hier die »Pädagogik der Unterdrückten« von Paulo Freire, Brasilien, auch »Pädagogik der Befreiung« genannt. Das
Prinzip dieser Konzepte ist die tatsächliche und aktive Teilnahme der Bevölkerung.
Dabei mündet die Educación Popular oder »Pädagogik der Unterdrückten« in einen
Prozess, der die Verletzbarkeit reduziert und die Fähigkeiten der marginalisierten
Sektoren der Bevölkerung steigert.
Die Kampagne „Rio San Juan frei vom Analphabetismus“
In den 1980er Jahren nahm ich an der Alphabetisierungskampagne in Rio San Juan,
im Süden Nicaraguas nahe der Grenze zu Costa Rica, teil. Durch diese Kampagne ist
die Höhe der Analphabetenrate von 94 Prozent auf 4 Prozent gesunken. Es wurden
Bauernkooperativen, Frauenorganisationen und kommunale Komitees (Comite
Comunal) gegründet, um die Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen auf
nationaler Ebene abzusichern.
1989 kam der revolutionäre Prozess auf Grund des Wahlausgangs zu einem Ende. Bis
heute ist jedoch zum Beispiel die Frauenbewegung eine fundamentale Stütze der
gesellschaftlichen Prozesse in Nicaragua. Die derzeitige Regierung (ironischerweise
auch Regierung während der Revolutionszeit) versucht mit allen Mitteln diese soziale
Bewegung zu demontieren - jedoch ohne Erfolg.
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Empowerment
Die Erinnerung der Welt ist im Wesentlichen neokolonialistisch und/oder
eurozentristisch. Oft gelingt es nicht einmal denjenigen, die ein kritisches politisches
Konzept vertreten, sich von diesem neokolonialen und eurozentristischen Denken zu
lösen. Die geopolitische Besetzung ihres Denkens ist stark fortgeschritten und der Blick
reicht nicht weiter als bis zu den sozialen Bewegungen in den Vereinigten Staaten.
Dabei geht es mir hier nicht darum, die Verdienste der Bewegungen der minorisierten
Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten zu relativieren oder ihre Geschichte zu
negieren. Vielmehr geht es um die Suche nach einer Einheit und einer Geschichte aus
der Sicht des ganzen Kontinents, mit seiner ganzheitlichen Geschichte. Dadurch soll
das vergessene Pueblos Originarios de Avia Yala (alle Völker, die auf dem Kontinent
leben/lebten vor dem Völkermord ab 1492, in Europa bekannt als »Eroberung Amerikas«) mit den vergessenen afrikanischen Völkern (als Sklav_innen aus Afrika verschleppt) auf dem ganzen Kontinentm und den vergessenen unzähligen Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus aus den Vereinigten Staaten, verbunden
werden. Jedoch nicht gegen unseresgleichen.
Mit der Zeit hat der Begriff Empowerment von Norden nach Süden, von Osten nach
Westen, von der sozialen bis zur gewerblichen Ebene Einzug gehalten. So hat das
Konzept auch in der Trabajo comunitario social (Kommunale Soziale Arbeit) an
Bedeutung gewonnen. Es wird von internationalen Organisationen wie den Vereinten
Nationen, der Weltbank und sogar von Unternehmen angewendet. Empowerment
Training ist kein »unschuldiges« Konzept. Dieser Tatsache können wir uns nicht
verschließen.
Ein Rückblick auf die Idee der Educación Popular, Pedagogia del
Oprimido (Pädagogik der Unterdrückten)
Hier sind einige meiner Erinnerungen an diese lang verborgene und vergessene
Educación (Bildung) Die Entdeckung eines jeden Tages, das Spüren der Gefühle, das
Spüren der Natur, das Verstehen des Kosmos, das Verstehen von Widersprüchen als
selbstverständliche Prozesse. Die Erziehung, die mich ermächtigt, mich einzigartig zu
fühlen und auch zu sein. Bildung ist wichtig. Lesen, forschen, in die Schule gehen.
Aber wir wissen auch ohne große Erklärungen, dass es öffentliche und private Schulen
gibt. Wir wissen, dass es Schulen gibt, die Arbeiter_innen heranziehen, und es gibt
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Empowerment
Schulen, die Eliten heranziehen. Es sind die Schulen, die die Unterschiede manifestieren. Ich persönlich glaube nicht, dass das die Art von Bildung ist, die wir brauchen, um
uns zu entwickeln.
Die Schule, wie wir sie kennen, bewirkt Distanz und Wettbewerb (Rivalität), sie schafft
Rollen. Bildung, die ein Heranwachsen, die Entwicklung fördert, kommt zu kurz.
Die Schule ist sehr oft ein Ort der Langeweile. Vorne steht ein Erwachsener und sagt,
was wir zu lernen und zu wissen haben. Oft haben diese Kenntnisse mit dem täglichen
Leben nichts zu tun: "Frag nicht weiter, lern das auswendig, irgendwann in deinem
Leben wirst du es schon brauchen." Man bringt uns bei, miteinander zu konkurrieren
und um gute Noten zu kämpfen. Es wird gemessen, was messbar ist durch diese
Noten. Aber wir sind alle einzigartig. Es kann nicht alles mit denselben Noten gemessen werden. Doch genau das geschieht in der ganzen Welt bis zum heutigen Tag.
In der Schule sind nur die vorgeschriebenen Kenntnisse von Bedeutung. Das heißt,
das vermittelte Wissen ist einseitig, da der Blick des Bildungssystems einseitig ist.
Das Bildungssystem spricht von Frieden, Liebe, Verständnis, Solidarität und Zusammenarbeit. Wir lernen aber miteinander zu konkurrieren, individualistisch und materialistisch zu sein. Wir lernen zu diskriminieren.
Warum ein definiertes und eingeschränktes Wissen? Die Lehrer_innen vermitteln
Kenntnisse als Verwaltungsleistung. Sie unterrichten zum Beispiel Erdkunde und nur
das und beschränken sich damit darauf, nur das zu tun, was ihnen gesagt wurde. Da in
den öffentlichen Schulen die Klassen meistens sehr groß sind, findet emotionale
Kommunikation kaum oder gar nicht statt. Die Schule ist als ein Dressurgefängnis
konzipiert. Es wird dressiert für die Oberschule, für die Universität, für den Arbeitsplatz.
Escuela Pública, Gratuita y Obligatoria (die öffentliche, kostenfreie Pflichtschule)
wurde vor einem bestimmten historischen Hintergrund eingeführt. In Athen gab es sie
zum Beispiel nur für die Sklav_innen. Die Unterrichtsstunden von Platon, die in
Räumen der Reflexion stattfanden, waren hingegen nicht für die Sklav_innen bestimmt.
In Sparta war die Bildung militarisiert.
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Empowerment
Das derzeitige Bildungssystem hat sich in einer positivistischen, kapitalistischen
Epoche während der industriellen Revolution herausgebildet (höherer Gewinn =
minimaler Aufwand + minimale Investition). Und es waren auch die Industrien des 19.
Jahrhunderts, die die Escuela Pública, Gratuita y Obligatoria (öffentliche kostenfreie
Pflichtschule) über ihre Stiftungen finanzierten (zum Beispiel die Henry-Ford-Stiftung).
Sie benötigten ein nützliches Werkzeug, um das System zu erhalten und zu reproduzieren: DIE SCHULE sollte diese Arbeit hervorbringen, und über die Schule sollte das
soziale System aufrechterhalten werden.
Zur Stützung dieses System wurde die Forschung entwickelt. Mit dieser Forschung
wurden Konstrukte bestärkt: soziale Utopien, Theorien über Rassenunterschiede
(Rassismus), extremer Nationalismus usw.
Es ist aber auch historisch eine Tatsache, dass alle sozialen Prozesse eine dialektische Bewegung entfalten und entwickeln. Deswegen ist zum Beispiel das kostenlose
Schulsystem in mehreren Ländern unseres Amerikas heutzutage ein Teil der sozialen
Errungenschaften. So haben wir zum Beispiel in Venezuela parallel zum bekannten
kostenlosen Schulsystem das Bolivarische Schulsystem sowohl für Kinder als auch für
Erwachsene (Las Misiones)
Herstellung eines Produkts
Die Erziehung eines Kindes ist vergleichbar mit der Herstellung eines Produkts in einer
Fabrik. Die Schule liefert nach spezifischen Regeln, getrennt nach Alter, Klassen,
Generationen, spezifisches Wissen, das von Expert_innen und Verwalter_innen
vermittelt wird.
Zum Beispiel ist in meiner Kindheit ein »Fabrikationsfehler« aufgetreten. Im Gymnasium waren Jugendliche und Kinder im Alter von 10 bis 18 Jahren in denselben Gebäuden. Als Folge begannen bereits die 10-Jährigen durch die Nähe zu den Älteren, die
bereits sicherer in ihrem Wissen und ihrer Meinung waren, sich zu politischen Führer_innen zu entwickeln. Und dies im gesamten sogenannten »Hinterhof der Vereinigten Staaten«. Also wurde in den Vereinigten Staaten für einige Länder unser Amerika
(Avia Yala) der Plan Platon entwickelt. Die Oberschule wurde in Zyklen unterteilt und
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80
Empowerment
jeder Zyklus fand in einem anderen Gebäude statt, und das so weit wie möglich
voneinander entfernt. Das Wissen wurde unterteilt in Geistes- und Naturwissenschaften. Ziel dieser »Korrektur des Fabrikationsfehlers« war die Auflösung sozialer Netze,
die Unterbindung politischer Entwicklung und darüber hinaus die Beschränkung des
vorgeschriebenen Wissens der Einzelnen.
Für mich beruhen Wirtschaft, Schule und Armee auf dem gleichen System. Belohnungen und Strafen, vertikale Strukturen, Zeitpläne. Die Schule produziert gehorsame
Bürger_innen, die konsumorientiert und effizient sind. Dies wird mit den Regeln der
sozialen Kontrolle erreicht. Die Schule ist ein Zentrum der kollektiven Unterweisung, in
der das Individuum kaum Platz hat. Es ist ein Ausschlusssystem. Wer nicht funktioniert, wird eliminiert wie ein Produkt mit Fabrikationsfehlern. Diejenigen, die nicht über
bestimmte Fähigkeiten verfügen - damit meine ich jene, die von den Normen der
Gruppe abweichen - werden ausgeschlossen. Den von der Normalität ausgeschlossenen Personen wird ihre Selbstversorgung, ihr Selbstvertrauen abgesprochen. Ihnen
werden Entfaltungsmöglichkeiten verweigert, Erfolge entzogen. Hier werden die
Produkte selektioniert. Es findet ein Entmächtigungs-Prozess statt.
Ich denke, dass Schule und Bildung im Widerspruch stehen. Dialektisch gesehen
wissen wir, dass es einer Kategorie des Antagonismus entspricht. Sie können nicht
ohne den anderen existieren.
In der Schule werden die Kenntnisse erworben, mit denen die Hindernisse ausgeräumt
werden sollen, die von anderen aufgestellt werden. Bildung versucht Wohlergehen und
Lebensqualität zu bewirken.
Warum diese ganze Geschichte? Wollten wir nicht eigentlich über
Empowerment sprechen?
Viele Konzepte des Empowerments führen kaum Diskussionen über das Thema der
Macht. Das Empowerment-Konzept funktioniert auch um den Status Quo aufrechtzuerhalten. Die Subjekte, die auf dem Markt als Konsument_innen agieren, sind gezwungen Kapazitäten zu entwickeln, um ihre Lebensqualität zu maximieren, zu verbessern
durch eigene Entscheidungen. Wir werden Expert_innen und Selbstverantwortliche,
um unser eigenes menschliches Kapital effektiv zu maximieren. Das Konzept
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Empowerment
Empowerment ist intrinsisch in die neuen Dominanzstrukturen (global, neoliberal,
neokolonial), in die neue Unterordnung der Individuen eingebunden. Das können wir
feststellen, wenn wir die öffentliche Formulierung der Politik überprüfen.
Das Empowerment-Konzept, auch die Konzepte, die den Strukturen der Unterdrückung
kritisch gegenüberstehen und diese bekämpfen, können zu keiner authentischen
Inklusion führen, ohne über das Erziehungssystem zu sprechen, über die unterschiedlichen Machtformen, die entwickelt werden, um Ungleichheit zu fördern sowohl auf der
individuellen als auch der regionalen, nationalen und globalen Ebene.
Die Herausforderung ist, wie wir das Ideal der praktischen Anerkennung und Inklusion
von minorisierten Menschen in der Gesellschaft hervorbringen, anstatt dass die
Ungleichheit immer größer wird.
Welche Bedingungen brauchen wir, damit Autonomia in der Tat
möglich ist?
Eine Möglichkeit ist, dass wir diese Schule »vergessen«, dass wir reflektieren ohne
Vorbehalt. Unabhängig von diesen formellen Lernprozessen können wir die Menschen
entsprechend ihres Alters, ihrer Fähigkeiten, ihres Potentials, ihrer Fantasie, ihrer
Kreativität, ihrer Neugierde u.a. sehen, wahrnehmen. Natürlich habe ich keine Zauberformel und auch nicht den großen Schatz des alltäglichen Wissens der Menschheit.
Aber unter anderem ist mir Folgendes wichtig:
▬
Entscheidungen in Gruppen zu treffen (Versammlungen, partizipative kollektive Entscheidungen innerhalb von Strukturen, die von den Beteiligten selbst
geschaffen werden), denn „Mehrheit“ ist nicht unbedingt demokratisch
▬
Entscheidungen über die eigene Realität selbst zu treffen, die Angst zu verlieren und auf ein konstruktives "Chaos" zu vertrauen
▬
Sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Reflexion
▬
Verschiedene Lebensformen, die aufeinander aufpassen
▬
Verantwortung jedes Einzelnen für die eigenen Konflikte
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Empowerment
▬
Lernen für das Leben und nicht nur für ein Papier, das mir bestätigt, dass ich
»aus einer guten Fabrik« stamme
▬
mich selber weiterzubilden - ich bin eine Quelle, die gibt und nimmt
▬
Autonomie und Selbstvertrauen
▬
meine Mission in diesem Leben zu entdecken.
DIE FREIHEIT KANN NICHT ERZWUNGEN,
ABER ES KÖNNEN RÄUME FÜR SIE GESCHAFFEN WERDEN
Um an aktuelle Ereignisse anzudocken, möchte ich erzählen, wie die Pueblos
Originarios Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten an der sozialen Veränderung
unseres Amerikas mitgewirkt hat. Sie ist zu einem Bezugspunkt innerhalb der sozialen
alternativen Systeme geworden, und dabei sind durch ihre Widerstands- und Organisationsformen neue soziale Subjekte und neue Kollektive entstanden.
Es geht dabei um die historische Herausforderung des Aufbaus einer neuen Gesellschaft und einer neuen Weltsicht: Cosmovision. Innerhalb der Bewegung hat sich die
Pueblos Originarios Frauenbewegung gebildet.
»Los Pueblos Originarios« haben den Begriff Empowerment als Autonomia aus dem
Spanischen definiert. Diese zentrale Forderung ist ein strategisches Instrument, das
die Ausübung des Rechts auf freie Selbstbestimmung ermöglicht.
Nellys Palomo (K´nal Antsetik Tierra de mujeres, Territorium der Frauen, FrauenAssoziation der Pueblos Originarios, Mexico), ausgehend von ihrer Erfahrung mit
Pueblos-Originarios-Gemeinschaften in Mexiko, Nicaragua, Guatemala und El
Salvador, definiert vier Punkte, an denen sich die Veränderungen messen lassen, die
sich aus der Korrelation der Kräfte ergeben:
1. die Sichtbarkeit der Frau in den Gemeinschaften als Akteurin
2. ihre bewusste ethnische und Gender Identifikation
3. die Bewusstwerdung der diskriminierenden Situation, sowohl in der eigenen
Gemeinschaften als auch in der nicht Pueblos-Originarios-Gemeinschaften
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83
Empowerment
4. die Konstruktion und De-Konstruktion von Macht: Empowerment der Frau =
Autonomia der Frau
Eine befreiende Weltanschauung. Kommunitärer Feminismus
(vom Lorena Cabnal, Maya-Xinca Frau, Guatemala)
Cosmovisión Liberadora
Diese Weltanschauung ist ein Ansatz, wie wir die Welt verstehen und sehen und wie
wir mit diesem befreienden Blick in dieser Welt miteinander leben können.
Ihr Inhalt ist verknüpft mit Elementen, die die kosmogonische Gerechtigkeit in der
Ganzheitlichkeit des Lebens stärken, sie ist dynamisch und hat die Form einer
zyklischen Spirale, offen für Dekonstruktion und Konstruktion. Ihre Symbole fördern die
Befreiung von der historischen Unterdrückung durch die Sexualisierung von Frauenkörpern und von der historischen Unterdrückung durch den Kapitalismus gegen die
Natur. Gleichzeitig erweckt und beschwört die Befreiende Weltanschauung den
Widerstand und uralte Grenzüberschreitungen, von denen Frauen betroffen sind.
Sie benennt unsere Vorfahrinnen, sie bekennt sich zu ihnen und legitimiert ihr Wissen,
ihre Widerstandsformen und ihre Weisheit. Sie bekennt sich zu den Vorfahrinnen
anderer Territorien und beschwört deren Energie für eine Stärkung des Kampfes
gegen jede Form der Unterdrückung.
Sie befördert die Kreativität, die Kunst, die Rekreation, die Muße, die Ruhe und die
Weisheit des Denkens. Sie erweckt Stimmen und Schweigen, die befreienden Aktionen
einen Sinn geben und mit der Energie des Kosmos verbinden.
Sie schafft befreiende Symbole mit feministischen Inhalten, sie eröffnet eine neue
spirituelle Vorstellungswelt für eine grenzüberschreitende Praxis.
Der Kommunitäre Feminismus spinnt sich, webt sich, er ist eine Epistemologie, die sich
als neues Paradigma des politischen ideologischen feministischen Denkens herausbildet, um ihren Beitrag für den Kampf zu leisten.
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Empowerment
Wir haben es gewagt, diesen Weg des Halbschattens, der Lichter und der Stimmen zu
gehen, der mich dahin gebracht hat zu fühlen, dass jede mit ihrem eigenen Cha'im
geboren wird, ihrer eigenen Aufgabe, ihrem eigenen Stern für den Weg des Lebens,
wie meine Großmutter Maya queq'chi zu sagen pflegte, schreiben heißt sich erinnern.
Es ist ein Anerkenntnis der Großmütter, Mütter, Tanten, Schwestern und Freundinnen,
die Grenzen überschritten haben und deren uralte und alltägliche Energie uns Tag und
Nacht stärker, rebellischer und fröhlicher macht!
Dieser Fluss der Gedanken, der Worte und Aktionen des kommunitären Feminismus
hat mich dahin gebracht zu sehen, wie wichtig es ist, die Gedanken mit anderen
Frauen zu verweben, unabhängig davon, ob diese Frauen der unterschiedlichen
Pueblos Originarios oder "westliche Frauen" sind, weil ich glaube, dass es uns allen
nützt, Räume und Begegnungen für uns zu gewinnen (sichere Räume), um nachzudenken, um uns zu trauen, Dinge zu demontieren und gemeinsam Transgressionen
und Vorschläge für eine neues Leben zu gestalten.
Ich denke, dass wir in dem Maße, in dem wir uns (zu-)hören, uns in unserer Unterschiedlichkeit erkennen, uns neu überdenken mit unseren Unterschieden, wie wir
reflektierende Dialoge spürend und respektvoll aufbauen, wir in der Lage sein werden,
die Fäden der Befreiung zusammenzuführen. Wir werden diese Fäden zusammenfügen von dort, wo immer wir auch sind, und immer, wenn wir unsere Aktionen in
kohärenter Weise gegen das Patriarchat und gegen die Hegemonien, die uns umgeben, die in unseren eigenen Körpern eingeschrieben sind, in unseren Betten, in
unserer Comunidad (Gemeinschaft), auf der Straße, in der Stadt, in der Welt zusammenfügen.
Diese Aktion können nicht nur Frauen ausrichten. Sie lädt alle ein, auch die westlichen
und die solidarischen Kooperationsprojekte, darüber nachzudenken, welchen Beitrag
sie zu den Lucha de los Pueblos (soziale und politische Kämpfe der Unterdrückten für
Gerechtigkeit) einbringen wollen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um politische
oder ökonomische Kämpfe handelt.
Ich möchte festhalten, dass ich mit diesem Text ein wenig dazu beitragen möchte, neu
über uns nachzudenken. Dass wir über unterschiedlichen Aktionen gegen Hegemonien
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85
Empowerment
und das Patriarchat, die wir durchführen, reflektieren. Uns fragen, was unsere Ausgangspunkte sind. Ich möchte auch meine politische Absicht unterstreichen, dass es
mir darum geht, meine Ideen darzustellen. Nicht um sie durchzusetzen und als fertige
Schlussfolgerungen anzubieten, sondern um sie in einer Form zu teilen, damit
zwischen den unterschiedlichen Vertreterinnen des kritischen Feminismus ein Dialog
zustande kommen kann.
In dem Maße, in dem wir uns erkennen und entdecken, wo unsere Ausgangspunkte
liegen, um etwas abzuschaffen und zu transformieren, erkennen wir uns auch in der
Macht unserer politischen feministischen Kraft für die Schaffung eines neuen emanzipatorischen Projektes wieder. Und dann werden wir Aktionen kreieren für das Leben in
unserer vollen Kraft für alle Frauen, gleich ob wir uns in den Bergen, in den Gemeinschaften, im Urwald, in der Stadt oder auf der anderen Seite, dort wo die Sonne
untergeht, im Westen befinden.
Literatur
Cabnal, Lorena: Feminismos diversos: feminismo comunitario. Mujeres indigenas
feministas de Abya Yala, Guatemala, 2010
Doin, German: La Educación prohibida, Argentina, Film, 2012
Eizaguirre, Marlen: Educación Popular; Österreich, 2010
http://www.igbildendekunst.at
Freire, Paulo: Pedagogia del Oprimido, Brasilien, 2002
Gargallo Celentani, Francesca: Feminismos desde Abya Yala, Colombia, 2012
Gonzalez Romero, Maria Virginia: Alphabetisierung in Nicaragua: die Erfahrungen
der Brigade „Benicio Herrera Jerez" in Rio San Juan, Nicaragua, 1994
Palomo Sanchez, Nellys: Las mujeres indigenas, surgimiento de una identidad
colectiva, insurgente. Mexiko, 1999
Maria Virginia Gonzalez Romero ist langjährige politische Aktivistin. Sie hat Soziologie und Pädagogik in Venezuela studiert. Aus politischen Gründen ging sie ins
„freiwillige“ Exil nach Rumänien, wo sie Betriebswirtschaft studierte. Ihr Denken ist sehr
geprägt von ihrer eigenen Biografie: Educación Popular (Politische Bildungsarbeit),
Pädagogik der Unterdrückten, Kommunale Arbeit, Avia-Yala-Weltanschauung,
neokolonialistische und Queer Theorien, feministisches und antirassistisches Denken.
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Empowerment
Zamila Bunglawala
Empowering Muslim women in the labour market in
Muslim minority and Muslim majority countries:
The similarities in employment aspirations and challenges faced by young
Muslim women in England and Qatar
While much research exists relating to the high levels of Muslim youth unemployment
and social exclusion across England and the Arab region, there is limited research
regarding the employment aspirations and outcomes of young Muslim women.
Recent labour market research studies conducted between 2008 and 2012 in England
(Bunglawala 2008) and Qatar (Bunglawala 2011 and 2012) have shown that young
Muslim women in both these Muslim minority and Muslim majority countries respectively have increasing levels of education and employment aspirations, compared to
previous generations. However, improved human capital and career goals have not yet
fully translated into employment activity and progression as many young Muslim
women in both countries continue to face barriers and challenges in the labour market.
The Muslim population in England is 2.7 million people (Census 2011). Qatar is a
sovereign Arab state with an estimated population of 300,000 citizen Qataris, the
majority of whom are Muslims. The overall Qatar population is 1.83 million, consisting
of mainly non-citizen expatriates largely from the Indian sub-continent (Qatar Statistics
Authority, 2012). Thus Qatar has a majority Muslim citizen population. This paper
refers only to citizen Qatari women.
This paper suggests it is time to take a fresh look at the employment aspirations,
activity and outcomes of young Muslim women in Muslim minority and Muslim majority
countries, to recognise the acute similarities between them and the challenges they
face, and the support they now need if they are to be empowered. This paper concludes with key messages for policy-makers.
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Empowerment
Muslim women in the workforce
Investment in women’s education, by governments and women themselves, has
empowered women and their capacity to earn and as increasingly powerful players in
their roles as producers, investors, and consumers, driving organisations and economies to become more inclusive of women.
However, despite increasing levels of education, Muslim women remain a largely
untapped labour market resource and their economies remain unrepresentative of their
young Muslim population. Low participation of Muslim women in the labour market has
a high cost for both the economy they live in and their own family (World Bank, 2004)
Data from the OECD shows a strong negative correlation between unemployment and
women’s employment participation, indicating that a healthy economy that is more
inclusive of women in the labour market is also more likely to enjoy lower unemployment.
Young British Muslims are among the most disadvantaged groups in the UK, with 23
percent unemployment of those under the age of 30 compared to the national average
at 17 percent15. A study of young British Muslim women found that despite 50 percent
having graduate and post-graduate qualifications, compared to 38 percent of the
overall population, and willing to work only 49 percent were in work while 51 percent
were inactive (Z Bunglawala 2008).
In Qatar, despite the fact that 76 percent of Qatar University students in the academic
year 2008-09 and 2009-10 were women, and a high representation of women in
specialist academic areas, for example, 312 of the 390 grants for undergraduate
research at Qatar Science and Technology Park (QSTP) in 2009-10 were to women
15
A considerably higher proportion of young Muslims under the age of 25 are students
than is the case for non-Muslims, 36 percent and 19 percent, respectively. D Blanchflower, New
Statesman, February 2010. http://www.newstatesman.com/economy/2010/02/young-muslimsrate-labour
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Empowerment
students,16 only 36 percent of Qatari women are in employment (Qatar Statistics
Authority, 2012).
Many young women, including Muslim women, while inactive in the labour market may
nevertheless be contributing positively to their families and society as mothers of young
children and carers of family members. Many young Muslim women interviewed in both
countries suggested they intended to return to work after their children were 3-5 years
old, but many could foresee difficulties in re-connecting to the labour market, as do
many non-Mulsim women, often due to childcare and labour market flexibility issues.
Attitudes, ambition and aspirations
The causal factors that explain a large proportion of older generation Muslim women’s
low employment and high inactivity in England and Qatar, such as low levels of
education, literacy or transferable education and skills and cultural preferences for
women to stay in the home, do not apply, or apply to the same degree, for young
Muslim women.
Young Muslim women in England and Qatar are now showing signs of attitudes that
distinguish them from previous generations, and suggest they are likely to push for
different rules of the game. Many young women have been raised in smaller, nuclear
families that are supportive of their aspirations to gain higher education, have careers
and combine family life with their ambitions.
Young Muslim women, university officials and employers interviewed in England and
Qatar suggest that more women now seek graduate careers and entrepreneurship
opportunities, as the following comments illustrate:
“I’m studying because I want to, I enjoy it and my family are very supportive…they’re paying the fees.” Muslim female university student,
Manchester.
16
Author’s interview with senior QSTP official Doha, Qatar, November 2010.
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89
Empowerment
“I want to work after my studies to help achieve my own goals, to apply my education and to help contribute to my country.” Muslim female university student, Qatar.
“Many female students here are highly motivated and driven. They
will strike out on their own probably accepting a prestigious government job first and then setting up a business for themselves.” University official, Qatar.
“The female graduates are highly motivated and ambitious, often
even more than the men. We are now seeing a ratio of 3-to-1 applications from women compared to men for our graduate recruitment programme.” Employer, Qatar.
Having more women in the labour market can have a progressive multiplier effect to
women’s employment. Research has shown that companies owned by women not only
recruit more women than male-owned companies, but they also recruit more women at
managerial and professional levels (World Bank, 2008).
The barriers that must now be addressed and the similarities between them recognised
There are a number of barriers that can lead to low employment activity, representation
and progression in the labour market. Some of the barriers which affect Muslim women
affect all women, such as gender discrimination and a lack of affordable or accessible
childcare, and some barriers are faith-based, cultural or country-specific. In England,
evidence suggests Muslim women face significant additional challenges including a
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Empowerment
‘Muslim penalty’ which results in employment discrimination based on their faith for
example through wearing the hijab or niqab.17
Yet, despite their differences in population status, geography, national cultures and
socio-economic policies18, young Muslim women in England and Qatar face many of
the same key challenges of limited awareness of the labour market, access to careers
support, and a lack of social capital and social connectedness - all of which play a vital
role in labour market entry and progression.
Limited understanding of how the labour market operates and the skills-set
required:
Qualitative interviews with key stakeholders and Muslims women themselves highlight
that increasing education levels are not enough to secure labour market entry and
progression. Many young Muslim women they and their parents – many of whom did
not work or have limited employment experience - have limited access to careers
services, limited understanding of how the labour market operates the importance of
building soft skills, and how social capital and networks help to translate education into
labour market entry and progression. Many Muslim women also have limited awareness of the value of gaining work experience through internships while still students to
further their professional networks and help them to identify possible future careers.
17
13 percent of second generation British Muslim women are unemployed compared to
only 4 percent of second generation Hindu and Sikh women, and 3 percent of White women. 18
percent of British Muslim women in work stated that they previously wore the hijab, and in one
case the niqab and that when they did so they could not find work. Once they stopped wearing
the hijab and niqab they all found employment. Z Bunglawala, Valuing Family, Valuing Work:
British Muslim Women and the Labour Market, Young Foundation, 2008.
18
Qatar has the highest GDP, per capita in the world and is a rentier state where the
government redistributes hydro-carbon revenues to its national population largely through high
public sector salaries, resulting in high public sector workforce concentration, Z Bunglawala
2012. England is a liberal democracy with a mixed economy where the labour market operates
largely through the demand and supply allocation of skills.
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Empowerment
Young women interviewed in England and Qatar displayed some understanding of the
important role social capital networks play in helping to identify and secure employment
opportunities but did not appear to rely on these networks or to resort to them in the
first instance when seeking employment.
In England, while 45 percent of young Muslim women interviewed stated that they
found their first job with the help of family and friends (Z Bunglawala 2008) they did not
directly associate the importance of social capital networks to help identify employment
opportunities as many had also applied for numerous other jobs unsuccessfully. In
Qatar, while many young women emphasised the importance of ‘wasta’ (connections)
when seeking employment they also did not immediately rely on their connections to
help them identify employment opportunities.
“After graduating I sat at home for one year applying for jobs and
sending out my CV. The only job that was offered to me was a teaching post, but I didn’t want that. In the end I got my job because my
friend worked here in a senior role and knew they were looking. She
put in a good word for me.” Female employee, Qatar.
Limited access to and availability of skills building and employment support:
Muslim women interviewed in England and Qatar felt there was not enough accessible
advice and support on how to apply for jobs, prepare for interviews or present themselves as employable candidates in order to successfully gain employment. Only 50
percent of British Muslim women interviewed not currently in work, but wanting to work,
had succeeded in gaining job interviews (Z Bunglawala 2008). Many also have limited
awareness or experience of using employment support services. Muslim women in
England who have accessed the state’s Jobcentre Plus services, 78 percent said they
did not get the help they needed in order to improve their skills levels or find work. This
is in stark contrast to the general UK population, 60-70 percent of whom were ‘very’ or
‘quite’ satisfied with the service they had received from Jobcentre Plus. This may also
suggest that public employment support services are not fully capable of helping
graduates, including the growing number of Muslim women graduates, to identify
employment or gain key skills.
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92
Empowerment
Support in work is equally limited – 46 percent of British Muslim women in work
interviewed said they did not have any support from their employers and managers to
develop their skills further and progress at work, and 41 percent were not happy with
the way their careers were progressing and felt they should have progressed further (Z
Bunglawala 2008). Many Qatari women similarly stated that they experienced limited
support from their employers to develop their skills further or were granted opportunities to access training they wanted (Z Bunglawala 2012).
“When it comes to training, you can apply to be trained or even find
courses yourself but you never hear back from the management.
They don’t really want us to progress.” Female employee, Qatar.
Employers in both countries express key concerns, and in some cases misconceptions,
related to diversifying their workforce while also meeting the skills needs of their
organisations. When asked to identify the major challenges associated with recruiting
‘national’ staff, only 45 percent of CEOs in Qatar cited that new graduates carried the
‘right skills set’. Only 35 percent of Arab CEOs believe that the private sector in their
countries has successfully communicated its expectations to the education system (Al
Maktoum Foundation and PWC, 2008). 90 percent of Arab CEOs stated that their
fundamental expectation of the education system was to provide students with ‘soft
skills’ which include communication, teamwork, analytical skills, and problem-solving
and innovation skills.
Limited awareness by employers of how to reach and recruit Muslim women:
The CBI Employment Trends Survey (2007) shows that employers are committed to
diversity, with 89 percent having a formal diversity policy or equality practices in place.
However, creating a more diverse workforce remains a challenge, with 67 percent of
employers stating they believe a lack of applicants from disadvantaged groups is the
main obstacle to achieving workforce diversity.
“There’s a lack of knowledge within the organisation of how to attract
Muslim women, the big misconception is that they have a lack of appropriate skills.” Small employer, London.
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93
Empowerment
It is in the interests of every economy to ensure that young people are trained in the
skills required by the economy, thereby maximizing their potential and resource. The
International Labor Organization highlights that employability is closely linked to the
capacity of an individual to adapt to change and build on their skills throughout their
working life (ILO, 1998). Academics and NGOs in both countries emphasise that as
many young Muslim women are the first in their families to gain higher qualifications
and seek professional careers, they now need targeted and tailored employment and
empowerment support to enable them to successfully connect to and progress within
the labour market.
Good practice examples highlight the way forward:
Practitioners suggest that proactive outreach programmes are needed to raise
awareness of and access to work experience opportunities to help young Muslim
women gain vital work experience and ‘soft skills’ in communications, leadership and
presentation, to help them prepare for and understand how the labour market operates.
Empowerment and career development initiatives such as good practice examples like
the Enlighten project in Greater Manchester, England, Qatar Careers Fair and Injaz-alArab in Doha, Qatar19, provide key support to young students and professionals,
including Muslim women. The programmes target young people through outreaching to
community and women’s groups, schools, universities and Mosques to provide a
19
Organizations such as Qatar Careers Fair and Qatar Professional Women’s Network in
Qatar, the Enlighten Project in England
http://www.bolton.ac.uk/ResearchAndEnterprise/Projects/Enlighten.aspx
http://www.injazalarab.org/en http://www.qatarcareerfair.com.qa/en/Main.aspx and
http://www.qpwn.org/ organise career development events and outreach to young people,
including Muslim women, to provide tailored courses and training to promote the benefits of
education and employment help them gain key skills to support their career and entrepreneurship entry and progression. These organisations are culturally sensitive to the religious and
family backgrounds of the young people they seek to help and are able to effectively engage,
empower and support them.
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94
Empowerment
variety of support including site-visits and workshops to raise awareness of higher
education, employment and entrepreneurship, help to facilitate work experience
through summer programmes and internships, and provide careers advice and
connectivity to potential employers – such initiatives now need to be expanded to
support more young Muslim women to enter and progress within the labour market.
Careers and mentoring support are vital to empowerment to help Muslim women
broaden their horizons, identify and progress within their careers through providing
career entry and progression advice, and access to professional networks to help
connect them to potential employers and entrepreneurship organisations for greater
professional connectedness. While many young Muslim women are not yet in the
labour market, there are a growing number of highly successful Qatari and British
Muslim women. To help increase the aspirations of young British Muslims and raise
their awareness of a variety of career opportunities the Mosaic programme20 was
established in 2007 to develop a network of British Muslim-led initiatives to inspire and
support young Muslims into the labour market. Successful British Muslim professionals
and entrepreneurs, men and women, are encouraged to outreach into schools and
local communities, acting as ambassadors, role models and mentors to students and
young people through 1-2-1 and e-mentoring offering young Muslims careers talks,
careers advice, work experience placements and access to professional networks to
help them gain relevant skills and experience. This Muslim community led initiative also
advocates the positive contribution of British Muslims to the economy and British
society.
However, despite the positive examples, which are few in number, the majority of
young, educated Muslim women still do not have access to wider professional networks to help them identify and secure career opportunities, and progress in their
careers. Anecdotally it is known that Muslim families and communities place strong
emphasis on social connectedness and social capital – this is true of the diverse
migrant Muslim community in England and the established conservative Muslim
population in Qatar. Muslim women in both England and Qatar however, have not yet
20
http://www.mosaicnetwork.co.uk/en_gb/portal
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95
Empowerment
fully been able to utilize this Muslim community or apply the social capital concept
more broadly beyond the Muslim community and translate it into professional networks
and positive outcomes in the labour market.
However, the onus should not be on Muslim women alone to adapt to the labour
market and gain key skills. Cultural awareness, understanding of traditions and
inclusion of all faiths are important in the rapidly changing global economy. Employers,
in Muslim minority and Muslim majority countries need to learn from best practice
examples of how to outreach to and encourage more Muslim women to apply for
employment opportunities, provide them with support to progress within employment
and enable them to voice concerns they may have with regards to training, discrimination or combining work and family.
“We advertise locally and network with the local community to raise
awareness of our organisation…in the past 18 months we’ve also
started visiting local Mosques, Temples and Gurdwaras, and Asian
supermarkets to attract faith minorities…we are receiving more applications from diverse groups, including Muslims.” Medium-size employer, Leicester.
Conclusion
As this increasingly educated and growing demographic group of young Muslim women
in both England and Qatar now seeks to enter and progress within the workforce, more
should be done to ensure this young and educated group are fully utilised within the
workforce. Good practice examples such as those cited including Enlighten, Mosiac,
Qatar Careers Fair and Injaz, which provide tailored and targeted careers advice, soft
skills building, work experience, networking and mentoring support should be more
widely supported and replicated by government and across the economy by public and
private sector stakeholders. Employers in both countries also need to recognise the
important role they play in diversifying and supporting the progression of their workforce, and tackling gender, ethnicity and faith-based discrimination. Greater empowerment emphasis and support will enable more young Muslim women to realise their
employment aspirations without compromising cultural and religious norms or family
responsibilities.
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Empowerment
The broader policy significance of now empowering Muslim women in England and
Qatar is that this minority-majority comparison is applicable and therefore of importance to a broader group of countries where Muslims are in the majority, such as other
Arab and Asian nations and in countries where Muslims are in the minority as recent
migrants, such as mainland Europe and the US – as both minority and majority Muslim
countries have growing young Muslim women populations with increasing levels of
education and aspiration. Therefore, identifying the similarities in employment barriers,
challenges faced and how to proactively support young Muslim women in England and
Qatar, has direct employment and economic policy applicability and social and
integration policy significance than just these two countries.
Bibliography
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Bunglawala, Open Society Foundation, 2004.
Z Bunglawala, Valuing Family, Valuing Work: British Muslim Women and the Labour Market, Young Foundation, 2008.
Z Bunglawala, Nurturing a Knowledge Economy, Brookings Doha Center, 2011.
Z Bunglawala, Young, Educated and Dependent on the Public Sector: Diversifying
the Labour Market in Qatar and the UAE, Brookings Doha Center, 2012.
CBI Employment Trends Survey, CBI 2007 http://www.tsoshop.co.uk/bookstore.asp?FO=1202717&DI=591027
Census 2011, Office for National Statistics, 2012 http://www.ons.gov.uk/ons/dcp171776_290510.pdf
N Dillon and T Yousef, Generation in Waiting: The Unfulfilled Promise of Young
People in the Middle East, Brookings Institution, 2009 http://www.brookings.edu/research/books/2009/agenerationinwaiting
Ethnic minorities and the labour market, Policy Report, Strategy Unit, Cabinet Office, 2003.
ILO, Strategic training partnerships between the State and enterprises, Employment and Training Papers (19), 1998 http://natlex.ilo.ch/wcmsp5/groups/public/@ed_emp/documents/publication/wcms_
120322.pdf
Increasing employment rates for ethnic minorities, National Audit Office, 2008.
Mohammed Bin Rashid Al Maktoum Foundation and PWC, “Arab Human Capital
Challenge: The Voice of CEOs,” 2008, <
http://www.mbrfoundation.ae/English/Entrepreneurship/Pages/AHCC.aspx
www.migration-boell.de
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Empowerment
Moving on up? The way forward, Report of the investigation into Bangladeshi,
Pakistani and Black Caribbean women and work, Equal Opportunities Commission, 2007
Research report No 252, Jobcentre Plus evaluation: Summary of evidence, J
Corkett et al, Corporate Document Services, DWP, 2005 Qatar National Development Strategy 2011-2016: Towards Qatar National Vision
2030, General Secretariat for Development and Planning, 2011 http://www.gsdp.gov.qa/gsdp_vision/docs/NDS_EN.pdf
Qatar Statistics Authority - http://www.qsa.gov.qa/eng/index.htm
World Bank, Gender Development in the Middle East and North Africa, MENA Development Report, 2004.
World Bank, The Environment for Women’s Entrepreneurship in the Middle East
and North Africa Region, 2008.
Zamila Bunglawala is a Fellow of The Young Foundation and Programme Designer of
the ‘Empowering Entrepreneurs’ programme. Zamila has worked for the Brookings
Institute, HM Government, the United Nations and Open Society Foundation.
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Empowerment
Strategien und Ansätze in Deutschland
Auch in Deutschland hat der Empowerment-Ansatz immer mehr Eingang gefunden,
wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. Dabei wird deutlich, in welchen Facetten
Empowerment sich manifestieren kann: Es kann über staatlich finanzierte Kanäle wie
zum Beispiel eine Anti-Diskriminierungsberatungsstelle laufen, über das Wahrnehmen
und Anerkennen des eigenen Empowermentpotentials, über ganz unterschiedliche
Formen von Empowermenttrainings, durch neue Medien wie das Internet, aber auch
über künstlerischen Ausdruck.
Was alle Ansätze in ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam haben, ist die Abkehr von
defizitorientierten Theorien und Praxen. Deutlich werden hier die vielen Möglichkeiten,
aber auch die Grenzen des Empowerment-Ansatzes. Dennoch geben sie einen
Ausblick auf das, was da ist, was kommen kann und was noch gebraucht wird.
Der Empowerment-Ansatz, welcher stark von Schwarzen Feminist_innen geprägt ist,
zielt darauf ab, die eigenen Grenzen neu zu bestimmen. In geschützten Räumen geht
es darum,eine Sprache für unsere Erlebnisse zu finden, die Auswirkungen von
alltäglichen Rassismuserfahrungen auf Körper und Geist zu verstehen, Erfahrungen
der Mehrfachdiskriminierungen mit Heilung und dem Gedanken des Wohlbefindens
entgegenzuwirken. Durch diesen Perspektivwechsel wird auch ein Wechsel von
Paradigmen möglich.
Amma Yeboah stellt die Arbeit von Phoenix e.V. vor, der Empowerment-Trainings für
PoC und Anti-Rassismus-Trainings für Weiße anbietet, basierend auf dem Argument,
dass die individuelle Re-Sozialisation von Weißen und PoC auch ein elementarer
Bestandteil strukturellen Wandels ist.
Der Text von Miran N. und Raju Rage dokumentiert einen Prozess des
Empowerments, namentlich ein Gespräch über Selbstbestimmung zwischen zwei
Trans-Maskulin Femmes of Color, die sich auch mit ihrem jüngeren Selbst unterhalten.
Dabei wird Empowerment als eine Form der Healing Justice [Heilenden Gerechtigkeit]
verstanden.
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Empowerment
Miran N.’s and Raju Rage’s text documents a process of empowerment, a conversation about self-determination of two trans-masculine Femmes of Color, talking to their
younger selves. Here empowerment manifests itself as a form of »healing justice«.
Pasquale Virginie Rotter, Diversity- und Empowerment-Trainerin, beschreibt in einem
sehr poetischen Brief Rassismus als eine ganzkörperliche Erfahrung und spricht über
»Empowerment in Motion«, eine Trainingsform, die sie entwickelte und die es ermöglicht, Rassismuserfahrungen durch Bewegungen zu verarbeiten.
Jihan Jasmin S. Dean und Hanna Hoa Anh Mai sind Administrator_innen des »Move
On Up«-Verteilers, einer PoC-Empowerment-Mailingliste. Sie berichten über die
Hintergründe der Liste, lassen einige Stimmen aus dem Verteiler über den »Move On
Up«-Gedanken sprechen und beschreiben auch die Herausforderungen einer virtuellen
Community of Color.
Jihan Jasmin S. Dean and Hanna Hoa Anh Mai administrate the »Move On Up«email-list, a PoC-Empowerment mailing list. They write about the list’s background,
share voices from the list with thoughts on the »Move On Up«-idea and describe some
of the challenges a virtual community of color faces.
Empowering the Block ist eine Sammlung von Kurzfilmen im Reportageformat, die für
die Kiezmonatsschau des Ballhaus Naunynstrasse zum Thema »Empowerment«
entstanden sind. Eine Gruppe von acht jungen People of Color erkundet, was
Empowerment für sie bedeutet. Drei ausgewählte Auszüge sollen darstellen, was diese
Menschen stark macht.
Halil Can und Andrea Meza Torres
Anhand von vier Beispielen - des »Flüchtlingsprotestmarschs« von Würzburg nach
Berlin, der in Frankreich basierten Bewegung und politischen Partei »Les Indigènes de
la République«, des Netzwerks »Decoloniality Europe« und der deutsche Gruppe
»Kanak Attak« erläutern sie, wie der Empowerment-Ansatz aus einer People of ColourPerspektive entstanden ist.
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100
Empowerment
Amma Yeboah & Sofia Hamaz
Empowerment nach dem Phoenix-Ansatz
Ein Interview
Frau Yeboah, Sie sind langjährige Empowerment-Trainerin bei Phoenix e.V. - was
für eine Art von Arbeit machen Sie, wo und mit wem?
Phoenix e.V. ist eine NGO mit Sitz in Duisburg, die 1996 von Austen Peter-Brandt
gegründet wurde und sowohl national wie auch international für eine Kultur der
Verständigung arbeitet. Die Arbeit von Phoenix e.V. basiert auf der Erkenntnis, dass
Rassismus sowohl auf der individuellen Ebene ein wesentliches Hindernis bei zwischenmenschlichen Begegnungen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine
ernstzunehmende Gefahr für den Frieden darstellt. Denn das System des Rassismus
teilt die Menschen so auf, dass die Unterdrückung bestimmter Gruppen akzeptabel
erscheint. Rassismus legitimiert die Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer
Hautfarbe nach dem Prinzip, je höher die Melanin-Konzentration der Haut, desto
minderwertiger ist dieser Mensch, daher darf sie/er keine Macht in der Gesellschaft
besitzen und/oder ausüben. Der Arbeitsschwerpunkt von Phoenix e.V. besteht darin,
den alltäglichen Rassismus bewusst wahrzunehmen und Strategien gegen Rassismus
zu entwickeln.
Als aktives Mitglied von Phoenix e.V. lerne ich durch den Dialog mit anderen aktiven
Mitgliedern, das System des Rassismus zu reflektieren und zu entschlüsseln, meine
eigene Rolle in diesem System zu erkennen und mich eventuell neu zu positionieren.
Als Trainerin bin ich gemeinsam mit Co-Trainer_innen von Phoenix e.V. in unterschiedlichen Trainings deutschlandweit aktiv. Es handelt sich um Black-ConsciousnessTrainings (BCT) für People of Color (PoC), auch Empowerment-Trainings genannt,
sowie um Anti-Rassismus-Trainings (ART) für Weiße, auch White-AwarenessTrainings genannt. Wichtig bei den Trainings sind die geschützten Räume, in denen
sowohl PoC als auch Weiße über das System des Rassismus sprechen und lernen
können, ohne dabei in Täter-Opfer-Schemata zu verfallen. Wir legen großen Wert auf
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101
Empowerment
die freiwillige Teilnahme und die Schaffung einer Atmosphäre, in der Menschen freie
Entscheidungen treffen können. Nach einem Phoenix-Training soll sich niemand
gezwungen fühlen, etwas gegen Rassismus zu unternehmen.
Was ist Phoenix-Empowerment? Inwiefern unterscheidet es sich von anderen
Formen von Empowerment-Trainings?
Ich glaube, jedes aktive Mitglied von Phoenix e.V. hat eine ganz persönliche Definition
vom Phoenix-Empowerment, und zwar je nach der persönlichen Erfahrung mit dem
Phoenix-Empowerment-Prozess. In der Tat finde ich es äußerst schwer, das PhoenixEmpowerment zu definieren. Nach meinem ersten Empowerment-Training 2002 habe
ich im Laufe der Jahre das Phoenix-Empowerment immer wieder neu definiert, immer
wieder neu reflektiert und immer wieder neu erfahren. Genau das ist für mich der Kern
des Phoenix-Empowerments: Eine Form des Empowerments, die vor allem die
Fähigkeit zur Selbstreflexion reizt. Wenn ich im Rahmen des Trainings oder aber
danach gewillt bin, oder einfach Lust dazu habe, diesen oder jenen Weg zu gehen,
dann tue ich das auch. Entscheidend ist nur, dass ich willig bin. Faszinierend ist, dass
ich nichts muss. Entlastend ist, dass ich dabei glücklich sein darf.
Ich bin keine Expertin für unterschiedliche Formen des Empowerments, allerdings
habe ich verschiedene Empowerment-Trainings und -Workshops besucht und über
mehrere gelesen. Ich glaube heute, dass der wichtigste Unterschied zwischen dem
Phoenix-Empowerment und anderen Formen des Empowerments darin besteht, dass
bei Phoenix das Muss durch den Willen oder die Lust ersetzt wird. Das PhoenixEmpowerment befreit mich vom Zwang. Ich kann und darf so sein, wie ich bin, und ich
kann und darf mich immer wieder neu positionieren. Die Basis dieses Empowerments
ist zunächst ein Verständnis für die eigene Sozialisation bzw. Prägung zu erlangen,
unter anderem dass wir in puncto Rassismus getäuscht und manipuliert werden. Auch
wenn wir für unsere Sozialisation im Grunde nichts können, so haben wir sowohl ein
institutionelles als auch ein individuelles Problem.
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102
Empowerment
Wieso ist das Empowerment von Menschen of Color oder das kritische Bewusstsein von Weißen Leuten überhaupt wichtig? Sind nicht das strukturelle
Empowerment und der rechtliche Minderheitenschutz oder Antidiskriminierungsgesetze wichtiger?
In einer Gesellschaft, in der das strukturelle Empowerment, der rechtliche Minderheitenschutz und Antidiskriminierungsgesetze etabliert wurden, werden offensichtlich
bestimmte Menschen ausgeschlossen, ausgebeutet, verfolgt und unterdrückt. Ansonsten bräuchte die Gesellschaft solche Strukturen nicht. Gleichzeitig sind diese rechtlichen Strukturen ein Beleg dafür, dass wir in einem Unterdrückungssystem leben. Im
System haben wir die strukturelle Ebene, die zum Beispiel durch die Gesetze repräsentiert wird, aber auch die individuelle Ebene. Es sind doch einzelne Personen, die im
System agieren und zur Stabilität oder Instabilität des Systems beitragen.
Das Empowerment von PoC bzw. das kritische Bewusstsein von einzelnen Weißen ist
meines Erachtens der wichtigste Aspekt zur Bildung gewaltfreier Gesellschaften, denn
dabei wird der Frage nachgegangen, wie das System das Individuum beeinflusst. Oft
treffe ich sehr nette und freundliche Menschen, die viel Zeit, Energie und Ressourcen
investieren, unsere Gesellschaft positiv zu verändern, und zwar im Sinne von mehr
Freiheit, Chancengleichheit, Demokratie usw. Diese Menschen wären meines Erachtens viel effektiver in ihrem Engagement, wenn sie darüber reflektieren würden, dass
das Unterdrückungssystem die Persönlichkeit mit formt, dass wir in unserem Denken,
Fühlen und Tun auch ein Produkt dieses Unterdrückungssystems sind und dass ein
Verständnis für unsere Rolle im System eine notwendige Voraussetzung für eine
Änderung des Systems ist. Dieser Aspekt im Änderungsprozess eines Unterdrückungssystems kann nicht oft genug betont werden.
Arbeiten Sie hauptberuflich als Trainerin? Wenn nein, warum nicht?
Ich arbeite nebenberuflich als Phoenix-Trainerin. Die Tätigkeit als Trainerin bei Phoenix
e.V. erfordert einen sehr langen Prozess der Reflexion, der viel Zeit braucht. Die
Pausen zwischen den Trainings sind für mich eine notwendige Erholungs- und
Reflexionszeit. Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, meinen Lebensunterhalt
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Empowerment
unabhängig von der Tätigkeit als Trainerin zu bestreiten. Hauptberuflich bin ich Ärztin
in Vollzeitbeschäftigung.
Inwiefern ist die Empowerment-Arbeit auch ein Teil Ihres Alltags geworden?
Nach meinem ersten Empowerment-Training als Teilnehmerin erlebte ich mich in
zwischenmenschlichen Begegnungen selbstbewusster und entspannter. Diese
Selbstbewusstheit versetzte mich in eine Position, in der ich selbst entscheiden konnte,
welche Bedeutung rassistische Erfahrungen für mich haben werden. Auf der persönlichen Ebene konnte ich angstfrei meine Ziele verfolgen. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene entschied ich mich bewusst für den Phoenix-Ansatz des Empowerments
und zwar nicht nur im Rahmen der Tätigkeit als Phoenix-Trainerin, sondern auch in
meinen alltäglichen Begegnungen. Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein.
Einmal kam eine junge Schülerin in die Notaufnahme und erzählte mir, wie sie ihre
Meinung über die Schule änderte, nachdem sie mir im Notdienst begegnet war. Sie
war PoC und offensichtlich in Begleitung ihrer Mutter in die Notaufnahme gekommen,
um für die Mutter zu dolmetschen. Während der Notfallbehandlung fragte sie nach
meiner Arbeit, ob die Kolleg_innen nett seien, ob die Arbeit als Ärztin schwierig sei, ob
das Studium an einer Universität zu schaffen sei, ob das Abitur schwer gewesen sei
usw. Sie befand sich damals auf der Realschule, weil sie sich als PoC nicht traute, das
Abitur zu schaffen. Im Gespräch kam heraus, dass ihre Noten eigentlich fürs Gymnasium gereicht hätten, allerdings habe sie Angst gehabt, auf dem Gymnasium zu versagen. Sie gab an, »lieber bin ich die Beste in der Realschule, als die Einzige auf dem
Gymnasium.« Sie erzählte mir, ihre Lehrerin auf der Grundschule hätte ihr gesagt, auf
dem Gymnasium hätte sie viel Stress und weniger Freund_innen, denn auf dem
Gymnasium befänden sich kaum »Menschen mit Migrationshintergrund«. Nach
unserem Gespräch entschied sie sich, engagierter für die Schule zu lernen, um aufs
Gymnasium zu wechseln. Auf einmal wollte sie sich nicht mehr mit der Realschule
zufriedengeben. Sie wollte doch lieber studieren, denn sie begriff, dass auch Schwarze
und PoC Ärzt_innen werden können. Nach unserer Begegnung hatte sie mehr Mut,
aufs Gymnasium zu wechseln. Ihre Erzählung hat mich sehr beeindruckt.
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Empowerment
Gibt es auch so etwas wie Empowerment für Weiße Menschen? Oder müssen/können Weiße Menschen überhaupt empowert werden?
In einer rassistischen Gesellschaft wie der unseren ist es leicht zu akzeptieren, dass
Weiße im Gegensatz zu Schwarzen und PoC bereits ermächtigt sind und daher kein
Empowerment brauchen, da sie ja alle Privilegien genießen. Auf der strukturellen
Ebene ist es tatsächlich so, dass Weiße Zugang zu Ressourcen haben und die
politische Macht besitzen. Auch haben sie die Macht zu definieren, wer dazu gehört
und wer nicht. Sie gelten als normal, die Schwarzen und PoC sind »die Anderen«. Ja,
auf der strukturellen Ebene scheinen Weiße kein Empowerment, keine Ermächtigung
zu brauchen, denn sie besitzen bereits die Macht.
Wie sieht es auf der individuellen Ebene aus? Wer ist die Weiße Person, ohne die
Weiße Struktur? Nach langjähriger Erfahrung aus den Anti-Rassismus-Trainings kann
ich mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass Weiße Individuen ganz sicher
Empowerment brauchen. Jede Weiße Person, die ihr eigenes Weißsein reflektiert, wird
bestätigen, dass viel Unsicherheit auf der individuellen Ebene existiert. Letztendlich
wurden Weiße genauso wenig gefragt wie Schwarze und PoC, ob sie andere unterdrücken oder unterdrückt werden wollen. Wir alle wurden in diese rassistische Struktur
hineingeboren und sozialisiert. Ohne Empowerment lernen wir nicht, diese Struktur in
Frage zu stellen. Sowohl Schwarze und PoC als auch Weiße brauchen Empowerment,
um das System des Rassismus in Frage zu stellen und sich neu zu positionieren, ob
dieses System weiter bestehen soll oder nicht. Wir von Phoenix e.V. sagen, wir wollen
ein neues Miteinander von Menschen. Da Rassismus uns trennt, wollen wir keinen
Rassismus mehr. Schwarze, PoC und Weiße sind alle gefragt, wenn wir eine Gesellschaft ohne Rassismus aufbauen wollen.
Im Rahmen des Anti-Rassismus-Trainings lernen Weiße Menschen, sich selbst als
definierte Kategorie im System Rassismus zu identifizieren, ihr Weißsein als Teil ihrer
Sozialisation zu verstehen, ein Gefühl für ihre eigene Rolle als Weiße in der Gesellschaft zu bekommen, Rassismus zu erkennen, Verbindungslinien zwischen Rassismus
und anderen Formen der gesellschaftlichen Unterdrückungssysteme zu ziehen und
Strategien kennenzulernen, sich vom System Rassismus zu befreien. Auf der individuellen Ebene hat das Training viel mit Selbstwahrnehmung und der Überprüfung der
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Empowerment
eigenen Wirklichkeit zu tun. Hier erkennen Weiße Menschen, dass ihr Weißsein sie in
eine konstruierte Identität zwängt, die sie meistens nicht selbst ausgesucht haben, die
sie jedoch dazu verleitet, sich stereotyp zu verhalten. Diese Erkenntnis kann für Weiße
Menschen sehr befreiend sein, denn sie begreifen, dass sie nicht in dieser festgelegten
Kategorie leben müssen. Das ist Empowerment.
Wo liegen die Grenzen von Empowerment? Oder gibt es aus Ihrer Sicht Begriffe,
die Sie manchmal als treffender empfinden oder als weniger aufgeladen?
Wenn wir Empowerment als Lernprozess begreifen, dann müssen wir erkennen, dass
Lernprozesse aufgrund unserer kognitiven Fähigkeiten begrenzt sind. Ich spreche in
diesem Zusammenhang von der Fähigkeit eines jeden Gehirns, Informationen
aufzunehmen, zu begreifen, zu reflektieren, neue Assoziationen zu verknüpfen und
diese in neuronalen Netzwerke zur Verfügung zu stellen, um somit das Denken, das
Fühlen und das Verhalten fortwährend zu verändern. Aus neurobiologischer Sicht sind
manche Gehirne aufgrund von bestimmten Reizen so verändert worden, dass Lernprozesse nicht mehr möglich sind. Auf einer anderen Ebene, nämlich im Sinne des
Prinzips des Eigennutzes, kann sich ein Gehirn unwillkürlich gegen bestimmte
Lernprozesse entscheiden. Konkret ausgedrückt: während sich manche Menschen zu
gerne auf Empowerment einlassen würden, dies jedoch aufgrund ihrer kognitiven
Fähigkeit nicht schaffen, schließen sich manche Menschen selbst aus, da sie sonst auf
ihre lieb gewordenen Normen verzichten müssten. Hier bestehen keine Unterschiede,
auf welcher Seite eines Unterdrückungssystems die Person sozialisiert worden ist,
denn Schwarze, PoC und Weiße, Transgender, Intersexuelle, Transsexuelle, Frauen
und Männer, Bisexuelle, Homosexuelle und Heterosexuelle, Alte und Junge, Arme und
Reiche sowie Kranke und Gesunde sind alle auf ihre kognitiven Fähigkeiten im
Empowerment-Prozess angewiesen.
Meine Kritik am Begriff des Empowerments ist die Annahme, dass die Person, die
Empowerment erfährt, defizitär sei. In der Tat braucht jeder Mensch Empowerment,
denn in der sensibelsten Phase unseres Daseins, nämlich in unserer Frühkindheitsphase, durften wir nicht selbst wählen, wie wir sein wollten. Ich würde den Begriff »ReSozialisation des Menschen« bevorzugen. Unsere Bildungssysteme und Erziehungs-
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Empowerment
maßnahmen sind in Frage zu stellen. Denn auch wenn es kein Unterdrückungssystem
unter den Menschen gäbe, so müssten die Menschen trotzdem lernen, mit allem in
unserem Universum, lebendig oder nicht lebendig, organisch oder anorganisch,
zusammenzuleben, und zwar so, dass die Existenzräume aller respektiert und
beschützt werden.
Dr. med. Amma Yeboah, Phoenix-Trainerin und aktives Mitglied von Phoenix e.V. seit
2003. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Studium der Humanmedizin an
der Freien Universität Berlin und Promotion an der Charité-Universitätsmedizin Berlin.
Studienstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung von April 2002 bis September 2005.
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Empowerment
with raju rage and mîran n.
time travelling brown bears:
intergenerational interviews with two transmasculine
femmes of color on healing justice
this kitchen table discussion between two trans masculine-femme brown bears (of
color) models healing justice through non-academic personal/political narratives. this
interview uses imaginative time travel dialogue as a tool for empowerment. mîran and
raju talk to each other and their younger selves to create a transformative discussion
about what it means to be us: trans people of color in a world full of struggle and
survival. this project embodies healing justice as a way through oppression, for our
current and younger trans of color selves.
Raju: I really like this idea of doing this actually-at-a-kitchen-table informal interview as
a form of empowerment and healing. I had originally been suggested a similar idea by
my therapist and was reluctant to do it in front of someone without the life experience to
understand what it means to be trans and a survivor. But with you, I can’t think of a
better person to do this with and I think the time is also right for this.
Mîran: First of all, I want to thank our friend Jin Haritaworn for connecting us with this
publishing opportunity. I was having dinner with you, Raju, and told you about my
spoken-word-piece- -which-is-still-not-done-and-god-knows-when-it-will-be, where I, as
my adult self today, write a letter to my younger self. My therapist also suggested that I
should work with my inner child, but I don’t know if I, as a queer, trans, working class,
fat poc with health struggles, want to talk about such intimate things with my white,
abled-bodied, upper class therapist. I'm glad we realized this was something we are
both interested in and want to work on together.
Raju: Yeah, that makes sense. So often we don’t have places to really voice how we
feel because we are told we are ‘crazy’, paranoid or too angry, so we just end up
shutting up and sometimes even shut down. It can start to feel stressful and uncomfortable to discuss the oppressions of being brown and trans, and so I like how this
organically happened. I guess we have, from our many conversations before, shared
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Empowerment
our very similar backgrounds and upbringing, and so it makes sense that this would
work for us as something that we would both find empowering and have both thought
about. I see our conversations as a community collective therapy already anyway, and
feel safe to discuss this with you. I feel it would be a great exercise for each of us
personally, and hopefully, something that other (trans/ gender nonconforming) people
of color of all ages could also get something from? I hope so. Plus, I like time travelling.
;)
Mîran: Speaking of silence and paranoia, I think paranoia often protects us. Since as
queer/trans of color people, we don’t have many spaces in which we can safely exist,
or just relax and be ourselves. We have to make compromises every day, just to
survive. That’s why I think it’s important to see this interview as a space to share
something that we would normally not be able to share, because we don’t have the
privilege to find each other easily, because we don’t live on the same continent,
borders separate us, we don’t have the finances and many other reasons... Let's begin!
Younger Mîran interviews Raju:
Mîran: So I would like to start with my younger self asking you questions about me
today.
Younger Mîran: How do I look?
Raju: You are handsome, Mîran [adult Mîran laughs out], you always have good hair
and you talk about it ALOT,haha, but you have the best hat collection even though you
don’t need it. Over time I have seen you become more comfortable with yourself.
Younger Mîran: Why do you call me Mîran? Do I have long or short hair?
Raju: Your hair is short. Right now you shaved it and its growing out, but when it is a
bit longer it looks really, really good. Your name is Mîran because you chose that name
for yourself. I also chose my own name and it's different from my younger name.
Younger Mîran: That’s so cool! I always wanted short hair but my mother never
allowed it. She said I wouldn’t look like a girl anymore. But I never really cared about
looking like a girl or a boy. I don’t understand what she is talking about. And I like the
name Mîran!
Raju: When I was younger I felt similar to you. I had shorter hair but never in the style I
wanted it, and my parents always encouraged me to style it and make it feminine,
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109
Empowerment
especially as I got older, but I did have it short. When I was 18, I left home and I cut it
real short and felt so good! When you are 20 you will also do that, you will shave your
head, too!
Younger Mîran: I will? Wow!!! And where do I live?
Raju: You live in Berlin.
Younger Mîran: What?! Berlin? Really?
Raju: YES! And you live on your own in your own apartment. It's really nice and I have
stayed there sometimes. There are pictures of you there that I have seen.
Younger Mîran: I’m cute, right? :-) Wow, my own place. I can’t believe that. I thought
that I will always live in Remscheid, study here, and probably marry someone.
Raju: Well you have lived in Berlin for a few years.
Younger Mîran: Really?!! Wow! ...but, Raju, can I tell you something? But don’t tell my
parents.
Raju: Of course.
Younger Mîran: Sometimes I don’t feel comfortable in my body or I imagine myself
differently. Yesterday, I was playing soccer with boys and it was really warm out, so I
unbuttoned my shirt like them and they yelled at me. I think I like air on my chest but I
also wanna cover it sometimes. Also I like longer hair and I wanna put make up on, but
not all the time. It’s confusing.
Raju: I felt similar when I was growing up. I also played with boys when I was younger,
but I knew I was different in some way and was also confused about that. I was sure
about being masculine, but knew I was born female. I felt comfortable being masculine
and didn’t even really question it, but friends and family had an issue with it. I felt that I
wanted to be in a male body if I could choose that, but knew I wasn’t, and I wasn’t like
the other ‘tomboy’ girls who still wanted to be girls. I also liked being feminine when I
was younger but wanted to be able to decide and choose and do it when and how I
wanted to. So, I liked to be masculine and feminine but it took a while to realise that
was ok. I think your gender will always affect other people, and other people always
want you to be what they want you to be, and see what they want to see. The main
thing is being comfortable in yourself. That's easy to say sometimes and in reality it is
difficult when people make fun of you and tell you that you should look and act a
certain way, and when there is also racism on top of that. I think those people are also
struggling with their own gender. It may make it easier to realise that?
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Empowerment
Younger Mîran: Thank you for saying that, Raju. I think that is the answer to my
problem. I don’t have a problem with how I look or what I wear. Other people make me
feel uncomfortable.
Raju: So Mîran, how old are you? Who are your role models that you look up to? Do
you have any?
Younger Mîran: I am 12. My idols are Leyla Zana and Freddy Mercury. My uncle says
we like Leyla Zana because she wants to free our people. I like how she talks, she has
shorter hair and she is very strong. I like Freddy Mercury because my uncle listens to
his music, and I like the makeup! And the outfits! Sometimes I wish I could wear
leggings and tighter things but my mother tells me I’m too fat and it doesn't look good
on me. She also says that we are migrants and attract attention anyway, so we should
keep a low profile. Also, I like Prince, too.
Raju: People think it is important to fit in and not stand out. I think it is more important
to be yourself. The role models you mention are also some of my role models too! And
none of them seem to fit in to me, they all stand out and are very powerful people.
Freddie Mercury is queer and also a person of color and not many people realise that.
He has struggled with his identity, and then Prince always gets called gay because he
is feminine and he just carries on being himself. Sometimes it's hard to be yourself
because in some cases that may make it harder for you to survive. That might be why
your parents say these things to you. It is hard for immigrants to survive. I was also an
immigrant so I know how it feels. Tell me more about Leyla Zana as I don’t know who
she is.
Younger Mîran: Leyla Zana is a Kurdish freedom fighter. She is very important and I
think she is very strong. She was in prison a lot and she spoke Kurdish in the Turkish
parliament, even though it was illegal, but she doesn’t give up. And I like her hair.
Raju: Leyla Zana sounds like a very good role model. Some people are bold and
daring and have the strength to fight. Sometimes you don't always have that and that is
also okay because it is a struggle. The older version of you is such a fighter!
Younger Mîran: Really?! So, what am I doing? I always wanted to be an artist.
Raju: You are doing many things. As I said, you are definitely a fighter. You stand up
for your community and fight for their political issues. You are involved in a lot of antiracist organising with other queer and trans people of color. Do you know what queer
and trans are? You and I work together on projects, too. Oh, and I forgot to say you are
a dancer!
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Empowerment
Younger Mîran: I think I understand. Queer and trans are people like you are and what
I wanna be? A dancer? Wow, I hate dancing! But actually I like it but I never dare to.
But sounds good! And what are people of color?
Raju: Being of color and using that term is empowering for us. It means we identify
ourselves instead of letting people tell us that we are scum and not worth anything just
because we are not white and don’t look like we were born here in Europe. It is a very
political term. Not everyone uses this term and may use other words to describe
themselves in a similar way, but many people do. It makes us feel good about ourselves and means we discover things about ourselves that we may otherwise not.
Younger Mîran: And of color is probably people like us? Things are unfair for us. So
the other students in my class are not of color.
Raju: Yes, exactly! It also means we can find each other and build community and a
chosen family. I wish my younger self could meet you. I’m sure we would be friends,
just like our older selves, because we have a lot in common. Actually, we call each
other brothers now and we really take care of each other!
Younger Mîran: I would like to be your friend, there are lots of things I would like to
know about you! You sound really nice and I always wanted a brother! Sounds like I’m
going to look like I imagine and I even have friends! Now I’m really less scared of the
future.
Now the adult Mîran interviews the younger Raju.
Mîran: Hey Raju! Tell me, how old are you?
Younger Raju: Are you talking to me? My name isn’t Raju. But I like that name. One of
my cousins is called Raju, too. I am 7.
Mîran: Oh, excuse me! I forgot to tell you that you chose the name Raju for yourself,
recently. Is it ok if I call you Raju now?
Younger Raju: Wow, I like it! I didn't know you could choose your own name. My
parents called me a name that is very unusual and not many people here can pronounce it properly. They make it into an English name which I don't like, and people
don't think I'm Indian because of it, so I like Raju.
Mîran: So, I’m Mîran and I am a friend of the adult person you are going to be in the
future. Do you have any questions you want to ask me?
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Empowerment
Younger Raju: Yes, I have so many questions!!!!! So, am I old? How old am I and
what do I look like and what is my personality like and where do I live? And, and... how
do I know you?
Mîran: Wow! So many questions! I will try to answer them all. So, you are 34 now and
you are still based in London, but you lived in many other places like Vancouver and
Berlin. Actually, you are going to fly to India very soon. Right now, you are in Berlin,
and that’s how we met 4 years ago. You were part of a performance group and I met
you and Jin at the same time. Jin is also a good friend of ours. By the way, you look
fantastic! I want to look like you do! Right now you have shorter hair again but a couple
of months ago your hair was longer. It’s wavy and curly. You are 5’5, very handsome
and I have to tell you: great style! You always know how to look good and combine
your clothes. You are very outgoing and yes, shy sometimes. You are one of the most
sensitive people I know and helped me a lot when I was very confused about a lot of
things, like gender. You told me it was okay however I want to look and who ever I
want to be. Oh, and you are VERY smart and a great and important activist. AND a
masterbaker!!!
Younger Raju: I am soooooo old! Wow, that is amazing. I could never imagine those
things about myself! I am so shy I could never imagine being on a stage performing. I
don't like how I look now because people make fun of me and tell me that because I’m
Asian, that is a bad way to look. Or, that I look like a boy and I should look more like a
girl, so I feel ugly. I do like dressing up but I am confused about gender, I’m not sure I
know what gender means. Do you mean being a girl or a boy? Because I want to be
both!
Mîran: Well, that didn't change! You still like to dress up! You like to play with looking
masculine, feminine, etc... gender, basically means how you see yourself (in terms of
being a boy or a girl) but that doesn't mean it’s how people read you and it also doesn't
mean that you have to be a boy or a girl.
Younger Raju: Does that mean that I can be both? Because I sometimes think I am a
boy and want a boy's body but I don't want to be exactly like the other boys I know. I
also like dressing up and make up and jewelry, too, but people say that's girls' things.
Mîran: One of the cool things with growing up is that you have more freedom with
choosing your surroundings. You, for example, found a community with queer and
trans folks of color, who respect who you are, how you look and what you think. I
understand that it’s confusing right now, but later you will see that you don’t have to
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Empowerment
choose between boy or girl. You are great the way you are and the way you look. No
matter what other people tell you, okay?
Younger Raju: That is good to hear. Nobody ever told me that before. I’m surprised to
hear those things about myself. I’m also surprised that I’m going to India! Because my
family were originally from India and I’m so curious about the place that my family is
from. I was born in Kenya and only know about that place and I don’t like it here in
England.
Mîran: I understand how you feel. When I was growing up I also never got to hear
people say things like that. As brown people we grow up with a lot of white people
telling us we are not smart enough, not pretty enough, not skinny enough, etc. These
messages are also all over television. But you are so cool! I don’t know you as a
younger person, but I know you today as an adult and you are pretty fantastic!
Younger Raju: Are you like me? Because I don’t imagine having friends who knew
about me and my gender? And being my friend. It's also not cool to be a brown person
- are you brown, too? All the popular kids are white and you can’t wear Indian clothes
or you get bullied. You have to fit in here, my parents tell me that, and I can see it is
true, but I don’t fit in. Does that mean that the older me has friends who are like me?
Mîran: Let me tell you one thing, young sibling. It is SUPER COOL to be brown! We
are actually pretty similar with the way we grew up. I am also trans and brown like you
are. And yes, you have more friends like me! We have a big chosen family of
queer/trans of color folks who love you and admire you. Don't worry about the popular
kids! Later, they won’t be important. They won’t be relevant in your life. You are going
to be so much more than just popular. If they were still lucky enough to know you, they
would probably envy who you are and what you made out of your life.
Younger Raju: WOW! You can choose your family too!? Just like your name. That is
so cool. I like that. I love my mother but I don’t like my father at all and I want to be like
my brother because he is a boy and I want to be one, too. It's so funny to hear that the
future can be so different! It sounds so good! And to hear that you also had a similar
life, because I feel so different to my friends now.
Mîran: Yes, from the things you told me over the years, we both had to and have to
deal with white middle and upper class kids. They are so much more different from who
we are and what we face in our lives. Also, those kids still exist today in our communities -- the people who look down on us for being who we are -- and it's tricky to deal
with, but don’t be scared, we have our own people, people who grew up like you and
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114
Empowerment
me and we support each other, laugh with each other and also cry with each other
sometimes.
Younger Raju: But how did we find each other? I wish I could find you and the others
now! I never thought about my gender but now I can see that it is something that
bothers me a bit because I can see that other people aren't like me and it makes me
feel like I'm different in a bad way. I want to meet people like me. I want to meet you!
Mîran: The problem is that the world that we live in, separates us from each other and
isolates us. But you are smart, you will break out of it, and find me! Very soon! Until
then, you can read books by bell hooks, Audre Lorde, and other Black feminists. Read
about Stonewall (but not the whitewashed version) and try to find books about queer
and trans of color experiences. Maybe in a library... Another cool thing, later we will
have the Internet connecting all computers -- computers are also cool! -- and then you
can get information with that! Oh, by the way, you also publish about these things!
There are other queer/trans people of color who live close to you, that you don’t know
yet.
Younger Raju: That sounds incredible!!!! This sounds like a sci-fi movie! I love sci-fi
and I also love reading. All I am allowed to read right now is encyclopedias and
educational books that help me learn English and fit in, but I want to read these
instead. I’m not sure what they are or what they say, and I don’t know some of these
words, queer and trans and the names of those writers, but it sounds amazing and I
have a feeling that I will learn a lot! Thanks for telling me about them! I can’t wait to
grow up now. I hate this place, it doesn't feel safe and I want to leave! This makes me
feel so much better to know there are these things out there and that my life will
change. And it sounds like I am happy and I have a good life!
<time travel ends>
Mîran: Wow, I don’t know how you feel, Raju. But that was very intense! I feel like this
was more effective than a lot of therapy sessions. It’s so healing to talk to a good
friend/comrade, watch and listen to your younger self. I never would have guessed how
much we can learn from our younger selves. I was too scared to publish the letter I am
writing to the younger part of myself but this encourages me to do so! Thank you, Raju,
for sharing this intimate piece with me. Again, I see how important it is that we listen to
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115
Empowerment
and write our own stories, witness our strengths and supports and heal ourselves and
each other. I like kitchen table (this one literally!) discussions with my cutie poc (qtpoc)
siblings! Thank you for guiding each other through the scary past. It makes it a little
easier to look into the scary future. Like the Black scholar Ruthie Wilson Gilmore said,
«We should plan to win. And we can win.»
Raju: I liked using this narrative form of self therapy as a way to unfold and reach out
to our younger selves. I feel these conversations have been healing to a younger part
of me, and also very much the older present me, who felt and often feels isolated. I
also enjoyed time travelling with you and would love to do this again, maybe continually, with you and for myself as a way of healing from past trauma that we often forget
about or bury deep when we get older and have too much to deal with still, and when
our struggle takes over. I feel it is important to share those moments to gain strength
and solidarity. I feel like this has been quite a journey from the kitchen table to the inner
depths of our fragile, but strong surviving younger souls, that carries us into a less
scary and more safe future! Thank you, Mîran, for sharing this with me, for carrying me
and protecting me, and showing me now and infinitely, that there is always a way out
and/or a way forward!
Raju Rage, being disciplined from a young age with learning English and studying,
wants to be a writer and artist and have his work published one day (he will!). He hopes
to be successful, handsome and grow up to be a superhero living in a hot country!
Mîran N. likes ice cream (), music and soccer. They hate spiders, aftershave and white
beans (will never change). Mîran wants to be a famous artist.
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Empowerment
Pasquale Virginie Rotter
Empowerment in Motion – Körper und Bewegung in
Empowerment-Prozessen
oder
Liebe Schwester, lieber Bruder!
Du hast gefragt, was mich bewegt. Hier nun die versprochene und lang erwartete
Antwort. Mein lieber Bruder, du hast im Sommer an einem »Empowerment in Motion«Workshop teilgenommen, den ich im Rahmen des jährlichen Bundestreffens der
Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland e.V. angeboten habe. Als ich dich nach
dem Workshop gefragt habe, wie du es fandest, meintest du, es wäre ja ganz nett
gewesen, die Bewegung und so, doch eigentlich hättest du gedacht, dass man sich
mal über Rassismuserfahrungen austauschen könne und auch gemeinsam
besprechen würde, was man denn tun könne. Ich musste schmunzeln und fand
deshalb lediglich eine Antwort, die Dich nur mäßig befriedigte. Eine ausführliche
Antwort möchte ich nun nachholen.
Lieber Bruder, liebe Schwester, du bist die in Ostdeutschland sozialisierte Schwarze
Buchautorin, die deutsche Filmemacherin, deren Großmutter aus der Ost-Türkei nach
Deutschland kam, der Technik-Student aus der Mongolei, der afro-deutsche
Fernsehjournalist, die Studentin und Aktivistin iranischer Herkunft, der afrodeutsche in
West-Berlin sozialisierte Koch, die Studierende kubanischer Herkunft, mit und ohne
spanischen Akzent, die Politik-Studierende of Color, die »passed«21, die Frau of Color,
deren Onkel im kurdischen Widerstand gekämpft hat, die Promovierende aus Indien, in
21
Das Phänomen, dass jemand aus einer Dominanzperspektive betrachtet als weiß
wahrgenommen wird, heißt im US-amerikanischen Sprachgebrauch »Passing«. Wenn du mehr
darüber wissen möchtest, kannst du im Text »’Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen’.
Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsentation und Differenz« von Aischa Ahmed
im Buch »Mythen, Masken und Subjekten« von Maisha Eggers et al. (Hrsg.) nachlesen.
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117
Empowerment
deren Familie mindestens zwei Sprachen verloren gingen und durch eine
Kolonialsprache ersetzt wurden, der arbeitslose Akademiker, der aus der
Demokratischen Republik Kongo geflohen ist, die Juristin vietnamesischer Herkunft in
zweiter und dritter Generation, der Organisationsberater, der als Kind mit seinen Eltern
aus Eritrea geflüchtet ist, die Auszubildende aus Kasachstan, der Afrodeutsche aus
Baden-Württemberg, die Deutsch-Türkin aus Kreuzberg und der Deutsch-Türke aus
Frankfurt.22 Du bist der, der von überall und nirgendwoher kommt. Du bist die, deren
Eltern von überall her gekommen sind. Ihr seid die, die immer schon da waren.
»Life is movement. Enjoy movement and you will enjoy life.« (Ismael Ivo)
Ich möchte dir zuerst erzählen, wie alles begann, wie ich überhaupt auf
»Empowerment in Motion« gekommen bin. Es begann mit einer Liste von Fragen, die
vor rund vier Jahren einfach aus mir herausströmten. Ganz banale Fragen wie: »Wie
drückt sich Anpassung körperlich aus?« »Wie fühlt es sich an, wenn alle dich
anstarren?« Oder: »Wie fühlt es sich an, wenn du soviel Raum wie nur möglich
einnimmst?« Oder auch: »Wie fühlt es sich an, wenn du getragen wirst?« Bis hin zu:
»Wie fühlt es sich an, wenn du Grenzen setzt?« Dieses wiederholte »Wie fühlt es sich
an..?« war natürlich denkbar unpräzise, doch zum damaligen Zeitpunkt für mich die
beste Formulierung um auszudrücken, dass irgendwie der Körper beteiligt sein muss,
um Antworten auf die unzähligen Fragen zu finden, die mich als Schwarze Frau
inmitten meines persönlichen Empowerment-Prozesses so bewegten. Ich wollte also
Antworten auf diese Fragen finden. Und zwar um neue, weitergehende Fragen zu
formulieren. Fragen, die sich jenseits des gewaltvollen und traumatischen Dreh- und
Angelpunktes »Rassismus-Erfahrung« bewegen. Rückblickend weiß ich, dass ich
22
Ich benenne an dieser Stelle bewusst konstruierte, (re)produzierte und wirkmächtige
Identitätsmerkmale wie nationale, geografische oder sonstige Herkunft. Sowohl um eine
machtvolle Praxis der Selbstbenennung und Selbstrepräsentation von Menschen of Color und
Schwarzen Menschen zu pflegen, die es uns ermöglicht, rassistischen Repräsentation positive
Selbstbilder entgegenzusetzen, als auch um Identität als konstruierte Kategorie zu begreifen,
die Dominanzverhältnisse in Frage stellen kann.
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118
Empowerment
Fragen stellen wollte, die meinen Blick nach innen richten (vgl. Kilomba 2008, 138ff.).
Fragen die mich, mein subjektives, einseitiges und emotionales Erleben, meinen
Körper, das Erleben meines Körpers und die kollektiv und transgenerational
vermittelten Erfahrungen meiner Communities ins Zentrum meines individuellen und
damit auch eines kollektiven Empowerment-Prozesses stellen. Ich wollte Methoden
und Übungen entwickeln, die diese Antworten erlebbar machen. Räume schaffen, in
denen Menschen ihre ganz persönlichen und möglichst viele verschiedene Antworten
finden können. Und schließlich wollte ich Menschen ermutigen, weitere befreiende
Fragen zu stellen und das ganz ohne Worte. Wenige Wochen später – ich weiß nur, es
schien die Sonne – saß ich mit meinem Kollegen Sebastian Fleary im Park und er
fragte »Warum eigentlich ›in Motion‹?« und ich antwortete schlicht: »Ich weiß es
nicht.« Er lachte auf und sah mich erstaunt an. Einige Jahre, zahlreiche Workshops
und unzählige Rückmeldungen von Teilnehmenden später ist klar, dass es bei
»Empowerment in Motion« um alles andere als um Worte geht. Und trotzdem werde
ich den Versuch unternehmen, »Empowerment in Motion« mit Worten zu beschreiben.
Und weil es um Bewegung geht, kann es sein, dass die Beschreibung, die ich genau in
diesem Moment finde, schon im nächsten Moment nicht mehr »wahr« ist und für die
Menschen, die das erlebt haben, schon gar nicht. Verzeiht mir diesen Beginn eines
paradoxen Zirkels, der nicht in meiner Macht liegt.
Als ich selbst vor etwa sechs Jahren meinen ersten Empowerment-Workshop bei
Nuran Yiğit und Güler Arapi besuchte, war das die Fortsetzung meines in der
politischen Situation Österreichs der Jahrtausendwende23 begonnenen EmpowermentWegs und ein Erweckungserlebnis zugleich. Nachdem ich bisher nur ihre Bücher
gekannt hatte, sah ich zum ersten Mal den Film über die Poetin und afrodeutsche
Aktivistin May Ayim, vergoss befreiende Tränen, teilte einen Raum und meine
Erfahrungen mit Frauen, die mich bedingungslos verstanden und wertschätzten und
23
Was damals in Österreich passierte kannst Du hier:
http://www.profil.at/articles/0917/560/240367/angstschuebe-vor-jahren-nigerianer-marcusomofuma [14.1.2013], hier: http://no-racism.net/rubrik/160/ [14.1.2013] und hier:
http://www.mopo.de/news/sonnabend-05-02-2000—10-46-weiter-heftige-reaktionen-nachregierungswechsel-in-oesterreich,5066732,6265466.html [14.1.2013] nachlesen.
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119
Empowerment
spürte erneut, dass ich nicht alleine bin mit rassistischen Erfahrungen. Schon seit
Jahren und schließlich auch parallel zu diesem Empowerment-Weg habe ich immer
viel getanzt, verschiedene Bewegungsformen und Elemente des Modernen Tanzes,
Tanztheaters und zeitgenössischen Tanzes, New Dance, Afrobrasilianischen Tanzes,
Contact Improvisation, Atem- und Stimmübungen unter der Leitung von großartigen
und nachhaltig inspirierenden Lehrer_innen erfahren und erforscht und damit meinen
Körper und seine Grenzen besser kennen gelernt. Mir wurde immer klarer, wie eng
meine Körper- und meine Rassismuserfahrungen aneinander geknüpft waren. So kam
es, dass ich die eingangs zitierten Fragen aufschrieb.
»Dance is the hidden language of the soul.« (Martha Graham)24
Um »Empowerment in Motion« greifbarer für Dich zu machen, möchte ich einfach
exemplarisch eine bestimmte Methode sowie Erfahrungen und Beobachtungen aus
den bisher durchgeführten »Empowerment in Motion«-Trainings mit dir teilen. Ein
Baustein des Workshops auf Basis des Empowerment-Konzepts gegen Rassismus
und Diskriminierung der von Halil Can und Nuran Yiğit geschaffenen HAKRAEmpowerment-Initiative ist Biografiearbeit. Impulsgeber für die Biografiearbeit sind
zumeist Orientierungsfragen, welche die bewegten Lebens-, Familien- und
Migrationsgeschichte(n) fokussieren und sie vor dem Hintergrund von
Rassismuserfahrungen in Deutschland beleuchten. Dabei eröffnet sich zumeist ein
reicher Raum gefüllt mit Worten, Geschichten, Bildern und Gefühlen. Dieser offenbart
den Teilnehmenden Vielfalt und Schönheit, Einzigartigkeit und Schmerz von
Migrationsgeschichten von Menschen of Color, Schwarzen Menschen und Menschen
mit Migrationsgeschichte und nicht zuletzt die geballte Gewalterfahrung von Rassismus
auf globaler, struktureller, individueller und alltäglicher Ebene. Die
Hauptausdrucksmittel dieser Art von Biografiearbeit sind Schrift, Zeichnungen,
Sprache, Gesten, Erzählungen, Lachen und Tränen.
24
Dieses wunderschöne Zitat der US-amerikanischen Tänzerin, Choreografin und
Tanzpädagogin Martha Graham fand ich unter folgendem Link:
http://www.nellymazloummadri.org.gr/dance_quotes.htm (14.1.2013)
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120
Empowerment
Biografiearbeit und sprachliche Impulsgeber sind auch essentieller Bestandteil von
»Empowerment in Motion«-Trainings. Mit dem Unterschied, dass kaum geschriebene
oder ausgesprochene Worte zur Beschreibung bzw. Darstellung der biografischen
Auseinandersetzung verwendet werden.
Vielmehr werden Bewegungs- und Improvisationselemente genutzt, um die eigene
Geschichte zu ergründen und zu teilen. Damit sich die Körper der Teilnehmenden auf
diese zumeist ungewohnten verschiedenen Ausdrucksweisen vorbereiten können,
erfahren die Teilnehmenden im Laufe des Trainings verschiedene Grundlagen der
Körperarbeit sowie der Bewegungs- und Stimmimprovisation. Dazu zählen
beispielsweise Atemübungen, die Wahrnehmung der Körperachsen und -ebenen und
des Körpernahbereiches, die Wahrnehmung der körperlichen Verortung in Bezug zum
Raum und zu anderen Menschen im Raum, die Wahrnehmung von Resonanzräumen
im Körper und die isolierte Nutzung von Spannung und Entspannung bestimmter
Körperbereiche für freie oder vorgegebene Bewegungsabläufe. Auf der technischen
Ebene wird beispielsweise die Aufmerksamkeit auf den Atem als einschränkende oder
unterstützende Kraft gelenkt, die Variationsmöglichkeiten einer Bewegung ausprobiert
und die technischen Feinheiten bestimmter Bewegungsabläufe erforscht (Denn stell dir
vor, allein bei einer einfachen Drehung kommen allein mindestens acht Dimensionen
zum Tragen: am Platz, auf einem Bein, von zwei Beinen auf ein Bein, von einem auf
das andere Bein, durch den Raum, am Boden, nach außen oder nach innen). Dabei
wird ein synaptisches Feuerwerk in Gang gesetzt, das an das eigene Körpergedächtnis
anknüpft und immer neue Verbindung schafft und alte transformiert. Das einfachste
Beispiel für eine Transformation dieser Art ist wohl, wenn jemand der Meinung ist, nicht
»tanzen« zu können und dann erfährt, wie leicht ihm_ihr ein bestimmter – bisher als
rein tänzerisch begriffener - Bewegungsablauf fällt. Oder auch von anderen
Teilnehmenden die Rückmeldung bekommt, wie sehr seine_ihre Bewegung sie berührt
haben oder was sie darin gesehen haben und dies zu teilen.
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121
Empowerment
»We have more possibilities available in each moment than we realize.« (Thích
Nhất Hạnh)25
Auf diese Vorarbeit folgt eine improvisatorische Phase, die einzelne biografische
Fragen als Referenzpunkte nutzt und die Teilnehmenden einlädt, die eigenen
biografischen Erfahrungen als Weg (etwa von A nach B durch den Raum) oder als
Kontinuum (als Loop) zu begreifen. Es wird Zeit und Raum gegeben, um in Einzelarbeit
frei zu improvisieren, mittels der erfahrenen performativen Elemente, Stimm- und
Bewegungstechniken den biografischen Weg zu erforschen und einen performativen
Ausdruck dafür zu finden. Schließlich werden die Teilnehmenden eingeladen ihren
biografischen Weg in Form einer improvisatorischen Performance zu teilen. Das
Spannende an dieser Kombination ist, dass mittels der erinnerungsorientierten
Biografiearbeit nicht nur das episodische (Wann hast du Tee gekocht?) und das
deklarative (Was ist Tee?) Gedächtnis, sondern mittels der performativen
Biografiearbeit auch das prozedurale (Wie machst du Tee?) aktiviert wird. Das
bedeutet, dass die Teilnehmenden im Moment der Improvisation, indem sie einen mehr
oder weniger spontanen Ausdruck für das Wann und das Was einer biografischen
Erfahrung finden, auch das Wie erforschen und diese Erfahrung zugleich in jedem
Moment der Entscheidung (neu) komponieren, verarbeiten und verwandeln.
»Being opressed means the absence of choices.« (bell hooks)26
Während jeder Improvisation erfährst Du also die Gleichzeitigkeit von Darstellen und
Sein, Erinnern und Wiederherstellen, Entscheiden und Verwandeln. Im Moment des
performativen Teilens mit den übrigen Workshop-Teilnehmenden stellst du zum
25
Diese Aussage des buddhistischen Mönchs, Schriftstellers und Lyrikers Thích Nhất Hạnh
ist wohl eines der berühmtesten Zitate von ihm. Hole dir ein paar Bücher von ihm, vielleicht
begegnet es dir da!
26
Dieses berühmte Zitat findest Du auf Seite 5 des Buches »Feminist Theory. From Margin
To Center« der afroamerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Feministin bell hooks (1984).
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122
Empowerment
Beispiel die allzu bekannte Erfahrung von Unterdrückung in Form rassistischer Fragen
und Kommentare dar. Dabei nimmst du wahr, wie du als Körper darauf reagierst, wie
es sich anfühlt (der Blick nach innen) und was es mit dir und auch was es mit den
Zuschauer_innen macht. Im selben Moment triffst du aus einem Bewegungsimpuls
heraus (der etwa auf muskuläre Überanstrengung oder eingeschränkte Atmung
zurückgeführt werden kann oder auch auf Langeweile, Unbehagen oder
Orientierungslosigkeit) eine neue Entscheidung und komponierst im Moment die
Performance und somit deine biografische Erfahrung neu.27
Lieber Bruder, du hast natürlich recht:
in Empowerment-Trainings geht es vor allem und in erster Linie auch darum,
Sprachlosigkeit zu überwinden, traumatische Erfahrungen zu artikulieren, im
Austausch mit anderen zu transformieren und neue Handlungsmöglichkeiten für die
Zukunft zu eröffnen. In diesem Zusammenhang wird oft der Wunsch nach dialogischer
Schlagfertigkeit genannt, die mein Gegenüber Schachmatt setzt. Der Wunsch eine
Antwort darauf zu bekommen, wie ich »richtig« handeln kann, wenn ich mit Rassismus
konfrontiert bin. Das beinhaltet jedoch eine Vorstellung davon, dass es ein objektives
»richtiges« Verhalten in rassistischen Erfahrungssituationen gibt. Ein Handeln also,
das mein Gegenüber 1) davon überzeugt, dass er_sie rassistisch gehandelt hat und 2)
anerkennt, dass mich das verletzt hat und 3) sich vornimmt in Zukunft nicht mehr
rassistisch zu sein. Sprich: Ein Verhalten meinerseits, das Rassismus aus der Welt
schafft! Und das alles mit klugen und gewählten Worten und ich selbst möchte mich
nach so einer Situation natürlich stark und gut fühlen. Merkst du was? Die ersten drei
Wünsche richten sich an mein Gegenüber, und es wird nur davon gesprochen, was ich
leisten muss – also richtig machen muss – um Rassismus aus der Welt zu schaffen.
Kein Wort davon, wie es mir dabei geht, wie viel Energie ich da hineinstecke und schon
gar nicht, wie ich mich dabei auf einer körperlichen Ebene fühle.
27
Wenn du mehr über die wunderbaren Möglichkeiten der Tanzimprovisation erfahren
möchtest, kannst du das im Buch »Tanzimprovisation: Geschichte – Theorie – Verfahren –
Vermittlung« von Friederike Lampert (2007) ab S. 122 nachlesen.
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123
Empowerment
»Ausdruck ist der Mut zur Klarheit des eigenen Gefühls.« (unbekannt)28
Liebe Schwester,
hinter den Wünschen steht unter anderem das grundlegende Bedürfnis, diese
traumatische Erfahrung einfach nicht wieder zu machen zu müssen. Ich verstehe diese
Wünsche, und es ist wichtig uns bewusst zu machen, welche Bedürfnisse
dahinterstehen. Zugleich verkennen sie grundlegende Merkmale von Rassismus: er ist
1) gewaltförmig und 2) völlig irrational. Grada Kilomba hat in Ihrem Buch »Plantation
Memories« Rassismuserfahrungen als traumatische Erfahrung beschrieben. So
müssen wir Rassismuserfahrungen als ganzkörperliche Erfahrung begreifen, die auch
ganzkörperliche Reaktionen und Bewältigungsmuster hervorruft. Es ist also natürlich
wichtig zu wissen, was ich erlebt habe, wie ich bisher darauf geantwortet habe und was
ich in Zukunft sagen kann. Doch genauso wichtig ist es zu erkennen, dass ich jedes
Mal, wenn ich mit Rassismus konfrontiert werde, die Luft anhalte. Und damit die
Verbindung zur Grundbewegung meines Lebens unterbreche. Oder, dass mein Körper
gelernt hat, sich unmerklich kleiner zu machen, um rassistischen Angriffen zu
entgehen. Oder meine Stimmorgane sich jedes Mal unmerklich zuschnüren, weil eine
dünne Stimme mich in meiner Wahrnehmung weniger bedrohlich für mein rassistisches
Gegenüber macht. Oder, dass ich unmerklich zurückweiche, wenn meine Grenze
überschritten wird und ich damit mein Bedürfnis nach meinem Raum aufgebe. Oder,
dass ich im öffentlichen Raum meinen Blick senke, um nicht von den vielen potenziell
gewaltvollen Energien in Form von Blicken oder rassistischen Bildern getroffen zu
werden. Oder, dass ich jedes Mal, wenn ich nichts sage, meinen Kiefer anspanne. Der
Glaube, dass Rassismus rational ist, weckt in uns den Wunsch, rational darauf
reagieren zu können, im besten Fall möglichst unemotional, um nicht auch noch in die
Dichotomiefalle von rational/emotional zu tappen und die emotionale Position, die
zuvor für mich konstruiert wurde, einzunehmen. Dabei ist es völlig irrational, Menschen
anhand eines beliebigen phänotypischen Merkmals zu kategorisieren, in besser und
28
Als ich vor Jahren eine Fortbildung zum Thema »Atem und Stimme« besuchte, hat der
Dozent diesen Satz formuliert. Leider weiß ich nicht mehr, wie er heißt, doch diese Aussage hat
mich seitdem begleitet.
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124
Empowerment
schlechter zu unterteilen und damit Herabwürdigung, Infantilisierung, Paternalisierung,
Kriminalisierung, Bevormundung, Exotisierung, Sexualisierung, Gewalt, Verfolgung,
Versklavung, Ausbeutung und Mord zu legitimieren!
»Your body ist your home. Welcome home!« (Ismael Ivo)29
Du bist dein Körper und dein Körper bist du. Dein Körper macht Judo, dein Körper geht
auf eine Demonstration, dein Kopftuch schmiegt sich an deinen Körper, dein Körper
sitzt im Uni-Seminar, dein Körper zwängt sich in die U-Bahn, dein Körper antwortet auf
die Frage »Wo kommst du her?«, dein Körper liest von rassistischen Übergriffen, dein
Körper sieht herabwürdigende Darstellungen von Menschen wie dir, dein Körper nimmt
die Migrationsgeschichten deiner Familie auf, dein Körper ist Zeuge von rassistischen
Übergriffen, dein Körper wird angefasst, besprochen, kommentiert und repräsentiert.
Warum also der Wirkung von Rassismus auf deinen Körper weniger Beachtung
schenken als der Wirkung deiner Ernährung, Sonnenschein oder zärtlicher Berührung?
Warum also die Auswirkungen von Rassismus auf deinen Körper und Geist durch das
Nadelöhr Sprache fädeln und dabei alle anderen Bewältigungs- und Ausdrucksformen
ignorieren? »Empowerment in Motion« stellt deinen Körper als Speicher sozialer
Erfahrungen – also dich – (wieder) in den Mittelpunkt deiner Wahrnehmung und
verfeinert diese Wahrnehmung gleichzeitig auf vielen unterschiedlichen Ebenen – und
Sprache ist nur eine davon.
»Empowerment in Motion« ermöglicht es dir, den emotionalen/körperlichen Spuren von
Rassismuserfahrungen nachzuspüren, diese zu erkennen und anzuerkennen, sie –
völlig »irrational« und jenseits einer Vorstellung von richtig und falsch – umzuwandeln.
Der Miteinbezug von Körperwahrnehmung und Bewegung in deinen EmpowermentProzess ermöglicht es dir, deine unmittelbaren emotionalen/körperlichen Impulse in
rassistischen Situationen wahrzunehmen, sie ernst zu nehmen, dich von alten und
29
Mit diesen Worten eröffnet der Tänzer und Choreograf Ismael Ivo in der Regel seine
Tanz-Workshops!
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125
Empowerment
möglicherweise schwächenden Reaktionsmustern darin zu befreien und neue, dein
ganzes Sein respektierende Formen der Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten, des
Widerstands, der Befreiung und der Transformation zu schaffen.
Ich hoffe, meine Antwort macht dir Lust auf Bewegung! In diesem Sinne... ich schicke
dir herzliche und empowernde Grüße!
Pasquale Virginie Rotter
Für Celia, Sanaa und Kalala
Literatur
hooks, bell (1984): Feminist Theory. From Margin To Center. South End Press,
Boston.
Kilomba, Grada (2008): Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism.
Unrast, Münster.
Lampert, Friederike (2007): Tanzimprovisation: Geschichte – Theorie – Verfahren
– Vermittlung. transcript, Bielefeld.
Pasquale Virginie Rotter lebt und arbeitet in Berlin und ist bundesweit als Diversityund Empowerment-Trainerin tätig. Darüber hinaus arbeitet sie als Mediatorin,
Moderatorin und Körper-Coach im Themenfeld Migration, Diversity und Empowerment.
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Empowerment
Jihan Jasmin S. Dean und Hanna Hoa Anh Mai
»A (virtual) network of friends that I haven't met yet«
Move on up! – (K)Eine ganz gewöhnliche Mailingliste
Wie alles anfing...
Die Mailingliste »Move on up!« ist aus einer gleichnamigen Veranstaltung heraus
entstanden: Unter dem Titel »Move on up! Empowerment Visionen in Bewegung« fand
im Jahr 2008 in Berlin das »Empowerment Forum« aus der Perspektive von People of
Color (PoC) statt. Es richtete sich ausschließlich an Menschen, die in Deutschland
(potentiell) mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert sind. In Workshops, Lesungen,
Vorträgen und in der Freizeit tauschten sich die Teilnehmenden über ihre Erfahrungen
als PoC in Deutschland aus, bildeten sich weiter und knüpften Netzwerke.
Um im Austausch zu bleiben, wurde im Anschluss ein E-Mail-Verteiler eingerichtet, in
den zu Beginn ca. 30 Personen eingetragen waren. Zunächst als Informations- und
Organisations-Medium gedacht, entwickelte sich die Mailingliste schnell zu einem
eigenen virtuellen Community- und Empowerment-Raum. Anfangs kannten sich noch
alle Mitglieder untereinander, doch dies sollte sich bald ändern.
Bis 2012 ist der Verteiler auf 350 Mitglieder angewachsen. Die meisten Menschen sind
über persönliche Kontakte dazugekommen, einige waren Teilnehmende bei
Empowerment-Seminaren, haben sich bei Veranstaltungen kennengelernt und andere
sind zufällig im Internet auf die Liste gestoßen. Diesen stellen wir als Administrator_innen den Verteiler vor und bitten sie um eine Selbstpositionierung, um sicherzustellen, dass der Verteiler ein PoC-Raum bleibt.
Dann erhalten wir beispielsweise Antworten wie diese:
»Kurzum: Ich mutierte von der Umweltaktivistin zur sozialen Aktivistin, bekenne mich als woman of color und bringe das Thema ins kon-
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Empowerment
servative München (…) Im Verteiler erhoffe ich mir eine Community
ähnlich Gesinnter, ich erhoffe mir fruchtbare Dialoge (wie gesagt
komme ich aus München und da haben nur die Allerwenigsten jemals
vom Begriff 'people of color' gehört!) und weiteres Empowerment.«
Als Administrator_innen des Move on up!-Verteilers sehen wir uns lediglich als
Verwalter_innen, agieren jedoch nicht als Moderator_innen, für die Inhalte und
Diskussionen sind alle Teilnehmenden verantwortlich. Wenn wir nun diesen Beitrag
schreiben, dann sprechen wir nicht im Namen von Move on up!, sondern schildern
lediglich unsere persönliche Wahrnehmung.
Alltägliche Vernetzung und Unterstützung
Die Mailingliste wird auf vielfältige Weise genutzt. Es gibt einen Austausch über
Alltagssituationen und das Handeln gegen Rassismus, es wird um Rat gefragt und Rat
gegeben, so werden zum Beispiel Adressen von Ärzt_innen, die selber PoC sind oder
mit denen PoC gute Erfahrungen haben, weitergegeben. Es finden sich Links zu
Presseartikeln und Diskussionen darüber, Diskussionen über aktuelle politische
Ereignisse und die Medienberichterstattung, Vernetzung für gemeinsame Aktivitäten,
Stellenanzeigen, Veranstaltungstipps, Musik- und Literaturhinweise, Filme, WGGründungen und Zimmergesuche. Tagungen werden organisiert und die Mitglieder
nutzen den Verteiler, um über andere Aktivitäten, Demos, Veranstaltungen, an denen
sie beteiligt sind, zu informieren oder zu mobilisieren.
Move on up! ist kein Verein, hat keine Vertretungsstruktur und keine einheitlichen
Positionen, sondern funktioniert als Netzwerk, was unseres Erachtens auch seine
Stärke ist. Die einzelnen Listenmitglieder sind in einer Vielzahl anderer Zusammenhänge aktiv. Trotz aller Unterschiede teilen die Mitglieder neben der Verwendung des
PoC-Begriffs jedoch auch eine emanzipatorische Haltung als politische Grundrichtung.
Eine virtuelle Community
Wir finden, der Move on up!-Verteiler ist alles, was eine auf geteilter Erfahrung
basierende Community ausmacht: Solidarität, Zugewandtheit, Empowerment, Diskussionen, aber auch manchmal Streit und Missverständnisse. Unterschiedliche politische
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Empowerment
Strategien werden sichtbar, etwa dazu, wann PoC sich in von Weißen domininierte
Strukturen hineinbegeben sollen und wann nicht. Manche Diskussionen sind kontrovers und lang, manchmal sind es an die 20 Mails pro Tag. Manche Listenmitglieder
steigen aus, andere kommen dazu. Es gelingt aber immer wieder durch Kontroversen
hindurch Verbindendes festzustellen. Dennoch möchten wir nicht die Erwartung
wecken, dass dies immer und für alle ein »geschützter Raum< sein kann. Denn neben
der gemeinsamen Verwendung des PoC-Begriffs gibt es viele Unterschiede zwischen
den Listenmitgliedern, womit auch unterschiedliche Verletzbarkeiten, zum Beispiel in
Bezug auf Aufenthaltsstatus, Gender, Religion etc. einhergehen. Wir sprechen
stattdessen bewusst von einem PoC-Raum.
Die folgenden Zitate und die Überschrift dieses Beitrags sind Antworten auf eine
Umfrage unter den Listenmitgliedern zu den Fragen: Wofür nutzt ihr den Verteiler und
was bedeutet er euch?
»Es tut enorm gut zu wissen, dass die Themen, welche mich beschäftigen hier kein Randthema sind. Obwohl ich hier wenig schreibe,
baut es mich auf, zu lesen wie auch andere PoCs aktiv sind und sich
nicht unterkriegen lassen. Schon alleine das durchstöbern der Mails
von Menschen, die ich zum größten Teil nicht persönlich kenne, gibt
mir Kraft. Hier sehe ich sofort, wo und wann ich mich zu verschiedenen Themenbereichen informieren und weiterbilden kann. Viele Mails
sind voller positiver Energie und Power und unsichere Verfasser_Innen werden von den anderen aufgebaut und bestärkt. MoveOn-Up ist ein geschützter Raum - anders als bei Facebook und Co
gibt es hier keine beleidigenden Kommentare am Ende eines Beitrages zu lesen. Der Move-On-Up Verteiler gibt mir also die Chance
Mails und Kommentare zu lesen, ohne Angst haben zu müssen, dass
ich verletzt und enttäuscht meinen Laptop runterfahre. Eher bin ich im
Guten überwältigt und bedauere es sehr, dass ich nicht immer alle
Diskussionen verfolgen kann. Dieser Verteiler ist tatsächlich ein Teil
meines Empowerments.«
»Der Verteiler ist für mich eine Art 'community'. Ich habe durch moveon-up viele Leute kennengelernt und Zugang zu sehr vielen PoC-
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129
Empowerment
Veranstaltungen, was mir vorher in Berlin sehr gefehlt hat. Ich habe
mich sonst als PoC in Berlin ziemlich einsam gefühlt. Er spielt in meinem Leben eine große Rolle und ich finde es wichtig, an solchen
Räumen teilzunehmen. Manchmal sind es viele Emails an einem Tag,
aber es lässt sich noch 'managen'.«
»zusammenhalt! wachstum! LOVE! SHARING! unity! CREATIVITY!
exchange! INSPIRATION! WARMTH! professionalism! and much
more that words can not express...«
Entgegen der häufig geäußerten Kritik an Identitätspolitiken zeigt die Alltagspraxis des
Verteilers, dass „People of Color“ als gemeinsamer Begriff hilfreich ist, um geteilte
Erfahrungen mit Rassismus überhaupt benennen zu können, um Menschen, die diese
Erfahrungen teilen, in einen Austausch zu bringen und antirassistische Praxen und
Analysen aus PoC-Perspektiven weiterzuentwickeln.
Die Vernetzung und gegenseitige Unterstützung im Verteiler können den Einzelnen
helfen, PoC-Perspektiven auch in anderen Zusammenhängen, seien es politische
Gruppen oder die Schule der Kinder, einzubringen und Rassismus, der vorher oftmals
als individuelles Problem erschien, auf einer gesellschaftlichen Ebene zu verstehen, zu
thematisieren und zu bekämpfen, ohne dabei in essentialistischen Kategorien stecken
zu bleiben.
Darüber hinaus ermöglicht der Verteiler eine solidarische Haltung über CommunityGrenzen hinweg. Viele der Mitglieder verorten sich auch in anderen, zum Beispiel
migrantischen, Schwarzen oder Roma-Communities, manche verstehen sich in erster
Linie als Queers of Color. „Move on up“ ist ein Knotenpunkt geteilter Erfahrungen von
PoC als Austausch- und Informationsraum.
Als Administrator_innen sehen wir unsere Aufgabe darin, diesen Austausch zu
ermöglichen und die notwendigen organisatorischen Voraussetzungen dafür zu
schaffen. Wir geben keine „allgemeingültige Definition“ des PoC-Begriffs vor, sondern
betrachten gerade die Liste selbst als Ort für Aushandlungsprozesse darum. Vielleicht
sind es sogar die Unterschiede zwischen People of Color, die Uneindeutigkeiten im
Hinblick auf Zugehörigkeiten, die Kontextgebundenheit von Erfahrungen, die Aushand-
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130
Empowerment
lungsprozesse, die den Begriff und die widerständigen Praxen in Bewegung und somit
lebendig halten.
Hanna Hoa Anh Mai ist Diplom-Pädagogin. Sie promoviert zum biografischprofessionellen Wissen von Pädagog_innen of Color in migrationspädagogischen
Arbeitsfeldern und arbeitet praktisch und theoretisch zu den Themen Empowerment,
Rassismus und Migrationspädagogik.
Jihan Jasmin S. Dean: Meine Migrationsroute führt von einem kleinen schwäbischen
Dorf über Tübingen nach Berlin. Zurzeit arbeite ich an einer Dissertation über Selbstpositionierungsprozesse rassifizierter Communities in Deutschland seit der Vereinigung.
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131
Empowerment
Jihan Jasmin S. Dean and Hanna Hoa Anh Mai
»A (virtual) network of friends that I haven't met yet«
Move on up! – (Not) just an ordinary mailing list
How everything started...
The Move on up! mailing list emerged from an event of the same title. In 2008, a forum
called »Move on up! Empowerment Visionen in Bewegung« (Move on up! Empowerment Visions in Motion), took place in Berlin, representing the perspectives of people of
color (PoC). It was targeted exclusively at people who are potentially confronted with
racial discrimination within Germany. Participants exchanged experiences as PoC in
Germany during workshops, readings, lectures and their free time, educated themselves and built networks.
In order to continue staying in contact, a mailing list was established, initially consisting
of 30 people. Intended at first as a medium for information and organization, the
mailing list quickly evolved into a virtual space for community and empowerment. At the
beginning all members knew each other, but that was a short-lived setup.
At the outset of 2012 the mailing list consisted of 350 members. Most of them joined
the list after having had in person contact with an existing member, some took part in
empowerment workshops beforehand, met an existing member at an event or found
the list by chance on the internet. For the latter, we as administrators introduce the
mailing list and ask them to position themselves, so as to make sure the list remains a
PoC space.
In response we get answers such as the following one:
»In short: I mutated from the environmental activist into the social activist, came out as woman of color and took the topic into conservative Munich (…). From the mailing list I expect a community with a
similar outlook, I expect fruitful dialogue (as already mentioned I
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132
Empowerment
come from Munich and there the fewest have ever heard of the existence of the term 'people of color'!), and further empowerment.«
As administrators of the Move on up! mailing list we see ourselves just as technical
supervisors. We don't act as moderators. On the contrary, all members are responsible
for contents and the discussions. While writing this contribution, we don't speak in the
name of Move on up!, but am to simply illustrate our personal perception.
Everyday networking and support
The mailing list is used in multifaceted ways. There is an exchange about everyday
situations and actions against racism. People ask for advice and give advice, e.g.
contact addresses of doctors who are PoC themselves or have been positively
experienced by PoC, are exchanged. There are links to articles and discussions about
articles, exchanges on current political events and their representation in the media,
networking for common activities, job offers, event announcements, music, literature
and film listings, calls for the formation of flat-shares, and announcements for rooms.
Conferences are organized and members inform each other of other activities,
demonstrations or events they are part of.
Move on up! is not an organization, has not got a structure of representation and no
homogeneous position, but functions as a network – in our opinion this is also its
strength. Individual members are active in a bunch of other contexts. Despite differences, members share not only the usage of the term PoC but also an emancipatory
stance as their main political direction.
A virtual community
We believe, the Move-on-up! mailing list consists of everything that a community based
on shared experience implies: solidarity, closeness, empowerment, discussions, but
sometimes also conflict and misunderstanding. Differentiating political strategies
become visible, e.g. in the question whether PoC should be involved in structures
dominated by Whites, in which cases they should and in which not. Some discussions
are controversial and long, sometimes there are about 20 mails a day. Some members
leave the list, others join it. In spite of contrasting positions, over and over again it is
possible to see common threads. Nevertheless we do not want to raise the expectation
that the list is always a safe space for everybody. Besides the common usage of the
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Empowerment
term PoC, there are lots of differences between members, accompanied by different
vulnerabilities with regard to legal status, gender, religion and so on. Instead we refer
to the list as a PoC space.
The following quotes and the title of this contribution are responses given by list
members to an inquiry carried out with the question questions: How do you use the
mailing list and what does it mean to you?:
»It feels enormously good to know, that the topics I'm concerned with,
are not just a side issue here. Although I don’t write much, it's empowering to read from other active PoC who don't give up. Even going through the mails of people who I don't know personally for the
most part, empowers me. Here I can see at once how to get information about different fields and train myself. Many mails contain a lot
of positive energy and power and insecure writers are supported and
empowered. Move-On-Up is a safe space – not like facebook and co.
you won't find insulting comments at the end of a contribution. The
Move-On-Up mailing list provides the opportunity for me to read mails
and comments without having to fear that I will shut down my notebook insulted and disappointed. Rather, I'm overwhelmed in a positive sense and think it's a pity that I can't always follow all discussions. This mailing list is in fact one part of my empowerment.«
»The mailing list is a kind of 'community' for me. I met a lot of people
through move-on-up and have access to many PoC events, which I
lacked before in Berlin. Otherwise I felt a bit lonely as a PoC in Berlin.
The mailing list is very important in my life and I think it's important to
take part in such spaces. Sometimes there are many mails in one
day, but I can still 'manage'.«
»empowerment! solidarity! growth! LOVE! SHARING! unity! CREATIVITY! exchange! INSPIRATION! WARMTH! professionalism! and
much more that words cannot express...«
Contrary to frequently expressed critique in identity politics, the everyday existence of
the mailing list shows, that „people of color“ as a common term proves to be helpful to
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134
Empowerment
just be able to express shared experiences with racism, to enable exchange between
people sharing those experiences, and for the further development of antiracist practice
and analysis from PoC perspectives.
The networking and mutual support provided by the list can help individual members
bring PoC perspectives to other contexts, such as political groups or their children's
schools. Where racism seemed to be previously understood as an individual problem,
the list can help members develop an approach to racism on a structural level, to
express their critique and to fight racism, without getting stuck in essentialist categories.
Moreover, the mailing list enables an attitude of solidarity that goes beyond the borders
of single communities. Many of the members also position themselves in other
communities, e.g. migrant, Black or Roma communities. Some see themselves in the
first instance as Queers of Color. Move on up! is an intersection of shared experiences
as PoC made up of exchange and information.
As administrators we see our role as enabling this exchange and creating the necessary organizational conditions for it. We do not provide a »universally valid definition«
of the PoC term, but see the list itself as a space for processes of negotiating just that.
It may well be that it is precisely the differences between people of color, the ambiguities relating to belonging, the context-dependency of experiences, the processes of
negotiation, which keep the term and our practices of resistance in motion and alive.
Hanna Hoa Anh May has a degree in Education. She is currently writing her dissertation on the biographical and professional knowledge of pedagogues of Colour working
in the field of migration pedagogy. Hanna's practical and theoretical work focuses on
the topics of empowerment, racism and the pedagogy of migration.
Jihan Jasmin S. Dean: My route of migration took me from a small Swabian town to
Tübingen and finally to Berlin. I am currently working on a dissertation on processes of
self-positioning amongst racialised communities in post reunification Germany.
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135
Empowerment
Andrea Meza Torres & Halil Can
People of Color-Bewegungen in Deutschland und
Europa
Nach und nach ist zu beobachten, wie sich in Deutschland und Europa ein politisches
Bewusstsein und Self-Empowerment als Kritik und gewaltloser Widerstand gegen
Diskriminierung, Rassismus und Kolonialismus aus der People of Color-Perspektive
formiert und vernetzt. Dabei steht an erster Stelle der Selbstbemächtigung die
Überwindung der verinnerlichten Ohnmacht und Angst, das Brechen des Schweigens
und die befreiende Empörung und Mündigwerdung. Damit einher geht das kollektive
Empowerment in Selbstbestimmung. Es manifestiert sich in der Bildung von lokalen
und übergreifenden Initiativen, Bündnissen und Netzwerken, ermöglicht auch dank der
neuen Kommunikationstechnologien. Von den vielfältigen und zahlreichen Initiativen
und Netzwerken of Color möchten wir folgende an dieser Stelle besonders
hervorheben und verweisen zudem auf ihre Internetseiten:
Der »Flüchtlingsprotestmarsch« von Würzburg nach Berlin
Die prekäre soziale, rechtliche, politische und gesundheitliche Lage von Flüchtlingen
und Asylbewerber_innen bedingt durch die Gewalt des alltäglichen, institutionellen und
strukturellen Rassismus in Deutschland hat infolge nicht nur zu Verohnmächtigungen
bis hin zu Verzweiflungstaten wie Suizid, aber auch zu Mordverbrechen in
Haftanstalten (Beispiel: Oury Jalou) durch Staatsbeamte und zu rassistischer Gewalt
auf der Strasse (Bespiel: Hoyerswerda) geführt, sondern ist auch eng verknüpft mit
einer Geschichte ihres Empowerments und Widerstands.
Einen Höhepunkt in der Geschichte der Flüchtlingswiderstandsbewegungen in
Deutschland bildet gegenwärtig der in Würzburg am 08.09.2012 begonnene und über
mehrere bundesweite Stationen nach einem Monat in Berlin angekommene
Flüchtlingsprotestmarsch. Auslöser für diese Protestbewegung war der Suizid von
Mohammad Rashepar am 29.01.2012, eine Tat in Verzweiflung und Not eines
Flüchtlings aus dem Iran, der bis dahin wie viele andere in einem
Isolationsflüchtlingslager in einer ehemaligen Kaserne in Würzburg untergebracht war.
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136
Empowerment
Dem folgte ein bis heute anhaltender Protest von anderen Flüchtlingen in
Isolationslagern mit vielfältigen Widerstands- und Protestformen vor Ort. Als die
protestierenden Flüchtlinge mit ihren Forderungen kein Gehör fanden, beschlossen sie
mit ihren Forderungen nach Berlin zu marschieren und sich Gehör zu verschaffen.
Angekommen in Berlin machen sie seitdem durch aufgeschlagene Zelte am
Oranienplatz in Kreuzberg und als Hungerstreikende am Brandenburger Tor in BerlinMitte durch vielfältige widerständige Aktionsformen auf ihre Situation und ihre
politischen Forderungen aufmerksam. Insofern ist dieser Flüchtlingsprotest in seinen
Aktionsformen, seiner Zusammensetzung und Wirkung als Empowerment- und
Widerstandsstrategie einzigartig in der Widerstandsgeschichte von People of Color in
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Von daher bildet er auch einen historischen
Wendepunkt für People of Color und birgt in sich die Option und Hoffnung für die
Formierung einer breiten politischen People of Color-Bewegung in Deutschland, die
tiefgreifend und nachhaltig den politisch-gesellschaftlich dominanten Diskurs im
Hinblick auf die Frage, in was für einer Gesellschaft leben wir und in was für einer
Gesellschaft wollen wir zukünftig zusammen leben, wenn es darum geht, real und nicht
nur auf dem Papier für alle als gleichberechtigte Bürger_innen Gleichheit und die
gleichberechtigte, inklusive Verteilung von und Teilhabe an Ressourcen und Privilegien
zu ermöglichen.
Was den Flüchtlingsprotest auszeichnet ist, dass sie ihren Ungehorsam, ihr
Schweigenbrechen und Sichtbarwerden gewaltlos ausüben, dafür aber diesen
selbstbewusst, selbstbemächtigt, willensstark und konsequent durchsetzen und dabei
zugleich wohl wissend und kompromisslos alle möglichen Widrigkeiten,
Benachteiligungen, Schikanen, Entbehrungen, Verluste und weitere Entrechtungen in
Kauf nehmen. Ideelle, politische und materielle Unterstützung erhalten sie
insbesondere von antirassistischen linken Personen und Gruppen, aus der
Nachbarschaft, aber auch vom Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg,
der das Flüchtlingszeltlager auf dem Oranienplatz duldet. Mittlerweile haben die
Medien ihr Schweigen gebrochen und berichten über den Protest und den
Hungerstreik und machen so auf die desaströse Lage der Flüchtlinge in Deutschland
aufmerksam. Jedoch hüllt sich die Politik nach wie vor weitgehend in Schweigen, eine
vermeintliche Strategie der Nichtbeachtung und Untätigkeit, mit der wohl die Hoffnung
gehegt wird, dass sich das Problem wetterbedingt und durch das Schwinden der
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137
Empowerment
Widerstandskräfte von selbst löst. Zwar wird berichtet, dass mittlerweile die
Bundesbeauftragte für Migration und Integration ins Gespräch mit den protestierenden
und hungerstreikenden Flüchtlingen getreten ist. Dennoch wird abzuwarten sein, wie
die politisch verantwortlichen Repräsentant_innen auf die Hauptforderungen der
Flüchtlinge reagieren werden. Ihre Forderungen lauten:
▬
Abschaffung der Residenzpflicht,
▬
Schließung aller Flüchtlingslager und Beendigung der Lagerunterbringung,
▬
Abschaffung der Gutscheinregelung und
▬
Verkürzung der Dauer der Asylverfahren.
Für die Organisierung und politische Mobilisierung wie auch Dokumentation,
vernetzende Kommunikation und medienwirksame Öffentlichkeitsarbeit ihrer Aktionen
haben sich die Flüchtlinge die Möglichkeiten klassischer (The Voice of Refugees and
Migrants-Zeitung der KARAWANE für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen),
aber eben vor allem auch der neuen sozialen Medien30 effektiv bedient.
Die Bewegung und politische Partei »Les Indigènes de la
République«
An dieser Stelle möchten wir eine Bewegung aus Frankreich, nämlich »Les Indigènes
de la République«, näher betrachten, denn diese Bewegung hat sich vor Kurzem zu
einer dekolonialen politischen Partei erklärt. Diese Bewegung startete in Paris im
Januar 2005 mit dem Manifest »Nous sommes les Indigènes de la République« (»Wir
sind die Indigenen der französischen Republik«) und thematisierte die ungleichen
Lebensbedingungen von Menschen in den Vororten von Paris ausgehend von einer
30
siehe: URL: http://asylstrikeberlin.wordpress.com/; http://refugeecampberlininfo.tumblr.com/;
https://twitter.com/search?q=%23refugeecamp&src=tren; www.thecaravan.org;
www.thevoiceforum.org; www.facebook.com/caravannetwork
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138
Empowerment
Rassismus-Kritik. Wichtig ist zu klären, dass im französischen Kontext das Wort
Indigènes das bezeichnet, was Ramón Grosfoguel (im anglofonen Kontext)
»colonial/racial subjects of empire« (Grosfoguel, 2004) nennt. Denn – historisch
betrachtet – bezeichnet der Begriff »Indigènes« Gruppen, welche vom französischen
Imperium kolonisiert wurden. Während der französischen Kolonialzeit gab es offiziell
die Bezeichnung »Indigènes«, das heißt Menschen, welche aufgrund ihrer Religion
und/oder Kultur kolonisiert wurden und die schwersten Arbeiten erledigen mussten. Im
frankofonen Kontext wurde der Begriff »Indigènes« für Menschen verwendet, deren
Hautfarbe nicht weiß, deren Glaube nicht christlich und deren Abstammung nicht
europäisch war (Bouteldja, 26.10.2011). Die zivilisatorische Mission rechtfertigte diese
Praxis. Es gab einen »Code de l’indigènat«, der diesen Status gesetzlich verankert hat.
Während heutzutage in anderen Kontexten (wie etwa in Lateinamerika oder den USA)
die Begriffe »indígenas« oder »indigenous peoples« verwendet werden, um Gruppen
zu beschreiben, welche in ihrem Land kolonisiert wurden (wie etwa auf dem
amerikanischen Kontinent oder in Australien), bezeichnen sich heutzutage diejenigen
Menschen selbst als »Indigènes«, die oder deren Eltern aus den ehemaligen
französischen Kolonien stammen und in Frankreich (la République) leben. »Les
indigènes de la République« sind diejenigen, welche der postkolonialen Migration
entstammen und die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Deshalb bringt die
Bewegung und politische Partei von »Les Indigènes« etwa Menschen aus Nordafrika
(Muslim_innen und Araber_innen), Schwarze Menschen aus Afrika und von den
karibischen Inseln Martinique, Guadeloupe und La Réunion, welche mit der Geschichte
der Sklaverei verbunden sind, zusammen. All diese Gruppen werden bei »Les
Indigènes« vertreten und kämpfen gemeinsam gegen den strukturellen Rassismus, der
aus dem französischen Imperialismus stammt.
Indem sie ihre Lage als rassifizierte Menschen innerhalb einer europäischen Nation
klarmachen, bringen sie zum Ausdruck, wie heutzutage koloniale Machtbeziehungen in
den europäischen Metropolen reproduziert werden (Bouteldja, 2011). In den Worten
von Grosfoguel, sind europäische Metropolen als „Mikrokosmos der Imperien“ zu
bezeichnen (Grosfoguel, 2012), in denen die Kolonialität - trotz gleicher
Staatsbürgerschaftsrechte - reproduziert wird. Diese Thematisierung des strukturellen
Rassismus als Mechanismus, welcher die soziale Gleichheit verhindert, wurde zum
Hauptfokus der Partei. Die Bewegung von »Les Indigènes« erklärt sich als
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139
Empowerment
antirassistisch, antikolonialistisch, antiimperialistisch und somit als antizionistisch,
wobei viele verbindende Punkte mit der Linken sichtbar werden. Allerdings artikulieren
sich »Les Indigènes« von einer Kritik des Rassismus aus, womit die Frage der sozialen
Klasse in den Hintergrund rückt. Auch positionieren sich »Les Indigènes« gegen eine
Ideologie des Universalismus sowie eines weißen politischen Feldes, welches
rassistische Strukturen auch in den linken Bewegungen reproduziert. Die
antizionistische Positionierung von »Les Indigènes«, welche die Lage im Nahen Osten
als eine Fortsetzung des Kolonisationsprozesses sieht, hat nicht zuletzt einige
Spaltungen mit linken Bewegungen zur Folge gehabt.
Das Netzwerk Decoloniality Europe
Nachdem wir Beispiele von Bewegungen aus Deutschland und Frankreich dargestellt
haben, möchten wir im Folgenden ein Netz darstellen, welches Bewegungen sowie
kleinere Kollektive aus unterschiedlichen europäischen Nationen, die gegen
strukturellen Rassismus im Kontext der postkolonialen Migration kämpfen, vernetzt:
»Decoloniality Europe«. Dieses Netz verbindet Bewegungen, die sich in lokalen
europäischen Kontexten herausgebildet haben. Das Ziel ist, die Gemeinsamkeiten
dieser Bewegungen herauszustellen und somit den strukturellen Rassismus auf
europäische Ebene zu bekämpfen. So verbindet »Decoloniality Europe« unter
anderem »Les Indigènes de la République« (Frankreich), »Black Europe« (Holland),
»Islamic Human Rights Commission« (UK), »Tolerace» (Portugal), »Kollektiv von
Roma/Muslime« (Madrid), »Kollektiv von People of Color« (Frankfurt) und die
»Decolonial Group Berlin« (Berlin). Hier wird versucht, verschiedene Perspektiven
zusammenzubringen. »Black Europe« bezieht sich zum Beispiel auf die Tatsache,
dass Schwarze Menschen, welche in Holland geboren sind und Europa nie verlassen
haben, als »Migrant_innen« gekennzeichnet werden – Kwame Nimako verweist auf
diese Praxis als Rassismus gegenüber europäischen Menschen, die nicht als solche
akzeptiert werden. Hier erweist sich »Black Europe« als nah an dem Plädoyer von
»Les Indigènes«, denn sie artikulieren sich von Holland aus im Kontext der Geschichte
der Sklaverei und der darauf folgenden Migrationsbewegungen aus Suriname (einer
ehemaligen holländischen Kolonie) nach Holland und fokussieren das Schicksal der
jüngeren Generationen. Die »Islamic Human Rights Commission« tut dies im Rahmen
des zunehmenden antimuslimischen Rassismus in Großbritannien. »Tolerace« macht
Forschung über Rassismus in Portugal und arbeitet an dekolonialen Perspektiven von
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140
Empowerment
weißen Menschen, die sich dem Kampf der Rassialisierten anschließen. Das Kollektiv
aus Frankfurt drückt eine Perspektive Schwarzer Deutscher aus; die »Decolonial
Group Berlin« umfasst verschiedene Blicke von Menschen, die in Berlin leben und aus
verschiedenen Ländern Lateinamerikas (wie etwa Mexiko, Peru, Bolivien und Kuba)
und Spanien stammen sowie von weißen dekolonialen Deutschen, welche sich dem
Kampf der Rassialisierten anschließen. Das »Kollektiv von Roma/Muslime« aus Madrid
beschäftigt sich mit Rassismen gegen Roma und Muslim_innen in Spanien aus einer
historischen und gegenwärtigen Perspektive. All diese Bewegungen produzieren
Epistemologien, welche aus der Erfahrung von Menschen, welche Rassismus in
Europa erleben, stammen und den Universalismus als Denkstruktur sowie die
ökonomischen Folgen des Rassismus bekämpfen wollen. Allerdings sind die Mehrheit
der hier genannten Gruppen nicht nur für »People of Color« offen; das heißt, dass das
Prinzip des geschützten Raumes hier nicht im Vordergrund steht. Der Fokus liegt eher
auf dem Zusammenbringen von Menschen, die sich epistemologisch und praktisch im
Sinne einer Dekolonisierung engagieren und »dekolonial« denken.
Andrea Meza Torres schreibt am Institut für Europäische Ethnologie an der HumboldtUniversität zu Berlin an einer Dissertation zum Thema »Die Musealisierung der
Migration in Museen und Ausstellungen in Paris und Berlin«. Von 2009 bis 2012
unterrichtete sie am Institut für Europäische Ethnologie zum Thema »Museen und
Ausstellungen » sowie »The decolonial turn and Anthropology» und war 2011 Initiatorin
der »Decolonial Group Berlin«.
Halil Can, Politikwissenschaftler, promoviert am Institut für Europäische Ethnologie der
Humboldt Universität zu Berlin über Identitätsprozesse und Empowermentstrategien
bei Mehrgenerationenfamilien im transnationalen Migrationskontext TürkeiDeutschland, ist freiberuflicher Lehrbeauftragter, Autor, Empowerment-Trainer und
Bildungsreferent sowie Mitgründer der HAKRA-Empowerment-Initiative und des Move
On Up–PoC-Empowerment-Forums, zuletzt Koordination von PoC-EmpowermentWorkshops im Rahmen des EU-Projekts ECAR (European Cities Against Racism).
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