Till Kinzel
Philosophie und Bildung
Die „ Idee der Universität“
bei John Henry Newman und Josef Pieper
Das große Thema „ Vernunft und Glaube“ , das sich durch die
abendländische Geschichte zieht, kristallisiert sich in besonderer
Weise institutionell in der Universität. Welche Implikationen die
Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von philosophischer
Vernunft und Glaube im Hinblick auf das Wesen und die praktische Gestaltung der akademischen Bildung hat, läßt sich trefflich
am Beispiel zweier Autoren aufzeigen, die sich intensiv mit
diesem Problem befaßt haben: dem englischen Theologen John
Henry Kardinal Newman und dem deutschen Philosophen Josef
Pieper. Beide setzten sich eingehend mit der Frage auseinander,
was die Universität ihrem Wesen nach – also ihrer Idee nach –
auszeichnet (eben deshalb geht es Newman um The Idea of a
University !), und was es also heißt, wenn man das Wort „ akademisch“ in den Mund nimmt. Was ist das Eigene des Akademischen im Gegensatz zu allem anderen, das Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen auch noch leisten und auch leisten sollen?
Worin besteht der Kern dessen, was in vollem Umfang als akademische Bildung zu bezeichnen ist?
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die von Newman
wie Pieper vorgebrachten Überlegungen denkbar weit von den
gegenwärtigen Trends im Bereich der Hochschulpolitik und
-bildung mit ihren völlig unübersichtlich gewordenen Reformen
entfernt liegen – gerade deshalb aber mögen ihre Gedanken, so
„ idealistisch“ und „ unrealistisch“ sie erscheinen mögen, dringend nötiges kritisches Potential entfalten. Jedenfalls dort, wo
die Idee der Bildung noch nicht endgültig ad acta gelegt wurde.
Es ist mir unvergeßlich, wie sehr mir dieser Kontrast bereits
ins Auge fiel, als ich in den neunziger Jahren wohl einen der
letzten Vorträge Piepers in der Berliner Guardini-Stiftung hörte,
der sich dem Problem des Akademischen widmete und, wie ich
später bei der nachbereitenden Lektüre feststellte, fast wortwörtlich identisch war mit jenem Text Piepers, der zuerst in den
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frühen fünfziger Jahren unter dem Titel W as heißt akademisch?
veröffentlicht worden war.1 Es war kein plastischerer Beweis für
die zeitübergreifende Gültigkeit der Pieperschen Idee von akademischer Bildung denkbar, wenn seine Ausführungen in den
neunziger Jahren so frisch und gegenwartsbezogen wirkten, als
seien sie eben erst formuliert worden. Die Idee, die ihnen
zugrunde lag, blieb gültig, mag auch die Wirklichkeit immer
wieder an ihr vorbei oder über sie hinweggegangen sein.
I.
Lassen Sie mich in groben Zügen einige wesentliche Punkte der
Newmanschen Bildungsvorstellungen in Erinnerung rufen,
bevor ich dann zu Piepers Aktualisierung der Newmanschen
Ideen von freier Bildung („ liberal education“ ) unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts zurückkehre.
Newmans Gedanken zur philosophischen Bildung finden
sich in seiner bedeutenden Schrift The Idea of a University , die vor
etwa 150 Jahren publiziert wurden. Doch werde ich im folgenden von den konkreten historischen Umständen, auf die sich
Newmans Ausführungen beziehen (der Plan einer Gründung
einer katholischen Universität in Irland), völlig absehen und im
Interesse der philosophischen Konturierung nur auf das in der
Sache selbst Liegende Bezug nehmen. Denn wichtige Überlegungen Newmans haben auch jenseits des katholischen Entstehungskontexts Bedeutung.
Gleich zu Beginn führt er den schweren Vorwurf der „ inutility“ , der „ Nutzlosigkeit“ , an, der gegen die Universitätsbildung
erhoben wurde. Denn, so lautete dieser uns vertraut erscheinende Vorwurf, der in anderer Form auch von der Reformpädagogik im Gefolge der Lebensphilosophie wieder erhoben wurde,
diese Studien seien weit entfernt von den Beschäftigungen und
Pflichten des Lebens. In bezug auf die religiöse Frage weist
Newman darauf hin, daß die Erörterung des Wesens der Universität und der Bildung („ liberal education“ ) „ nicht so überaus
delikat und gefährlich“ sei „ wie Erörterungen, die unmittelbar
_______________
Ich zitiere im folgenden nach der Ausgabe des Kösel-Verlages (München 1964). Es sei jedoch zusätzlich auf den 6. Band der von Berthold
Wald herausgegebenen Werkausgabe, Kulturphilosophische Schriften
(1998), hingewiesen, die weitere wichtige Texte zum Thema enthält. Die
Ausgabe ist inzwischen abgeschlossen und kann durch ein thematisches
Register in vielfältiger Weise erschlossen werden.
1
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das Thema der göttlichen Offenbarung behandeln“ 2. Denn
Newman vertritt die Auffassung, daß es für das von ihm vertretene Argument nicht notwendig ist, die Autorität der Kirche
anzuführen, sondern dafür allein Gründe der menschlichen
Vernunft und der menschlichen Weisheit notwendig sind.3 Die
Prinzipien, auf die sich Newman stützt, ließen sich „ aus der
bloßen Lebenserfahrung gewinnen“ 4. Es bedürfe nur des „ common sense“ ohne jegliche göttliche Erleuchtung, um zu richtigen
Vorstellungen über Bildung zu gelangen. Die Philosophie der
Bildung („ philosophy of education“ ) beruhe auf den Wahrheiten
der natürlichen Ordnung.5 Entsprechend richtet Newman seine
Aufmerksamkeit auf das, was abstrakt betrachtet wahr und
richtig ist.6
Die erste Frage, die bereits kompliziert genug ist und von mir
hier nur gestreift wird, ist die nach dem Status der Theologie als
Erkenntnisform. Gibt es theologische Erkenntnis? Ist die Theologie eine Wissenschaft? Diese Frage hängt vorgängig mit jener
anderen Frage zusammen, ob es von Gott überhaupt etwas geben kann, was der Mensch wissen kann.7 Streng logisch betrachtet, so gesteht Newman zu, müsse jemand, der die Möglichkeit
abstreitet, in religiösen Dingen zu Erkenntnissen im eigentlichen
Sinne zu gelangen, konsequenterweise die Religion aus der
Universität ausschließen.
Dies aber stehe im Widerspruch zur katholischen Auffassung, gemäß welcher der Glauben ein geistiger Akt ist, nicht
lediglich eine Frage des Gefühls, wie Newman kritisch zu den
seiner Auffassung nach zu beobachtenden Folgen des Protestantismus bemerkt. Newman erkennt also an, daß die Theologie
sich auf etwas Objektives beziehen muß, wenn sie als Wissen_______________
2
J.H. Newman, Idea of a University , 17. – Ich habe die folgende englische Studienausgabe benutzt: J.H. Newman, The Idea of a University , ed.
F.M. Turner, mit Beiträgen von M. McMackin Garland, S. Castro-Klarén,
G.P. Landow, G.M. Marsden, F.M. Turner, New Haven – London 1996.
Neben dieser englischen Ausgabe beziehe ich mich auf die vollständige
Übersetzung von Newmans Schrift durch Edith Stein, die 2004 erstmals
aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde (Freiburg/ Br.). Frühere deutsche
Übersetzungen enthalten nicht den vollständigen Text der Newmanschen Vorlesungen.
3 Siehe ebd., 23.
4 Ebd.
5 Siehe ebd., 19.
6 Siehe ebd., 23.
7 Siehe ebd., 35.
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schaft anerkannt werden soll. Theologie und Religion als lediglich subjektive Gemütszustände verdienen diesen Status aber
gerade nicht, andernfalls könnte man auch, so Newman, Lehrstühle für Feingefühl, für das Gefühl der Ehre, für Patriotismus,
für Dankbarkeit, für Mutterliebe und Kameradschaft einrichten.8
Dies aber wäre das Ende des Begriffs der Wissenschaft und
damit auch der Universität.
Newman vertritt eine starke These in dem Sinne, „ daß alles
Wissen ein Ganzes bildet, weil sein Gegenstand einer ist; denn das
Universum in seiner Länge und Breite hängt so innerlichst zusammen, daß wir Teil von Teil nicht trennen können und nicht
Wirkung von Wirkung, es sei denn in geistiger Abstraktion“ 9.
Zwar sind demnach alle Wissenschaften miteinander verbunden;
deren gegenseitige Bezüge aber einzuschätzen ist Aufgabe einer
Art „ Wissenschaft von den Wissenschaften“ , die Newman als
„ Philosophie im wahren Sinne des Wortes“ bezeichnet.
Für Newmans philosophische Geisteshaltung ist nun entscheidend, daß sie sich gegen eine Wissenschaftsauffassung stellt, die in
wirklichkeitsfremder Weise von bekannten Tatsachen abstrahiere
und „ Entscheidungen über Tatsachen aufgrund von Theorien“
treffe. Dies wäre aber der Fall, würde man verkennen, daß die
„ bunte, geschäftige Welt, die vor unsern Blicken ausgebreitet
liegt“ , zwar physikalisch, aber eben „ nicht nur physikalisch“ ist.10
Der Irrtum, der darin läge, die Welt als bloß physikalisch zu betrachten und dies auch zu lehren, verriete bei einem Professor, so
Newman, „ einen Mangel an philosophischer Tiefe, eine Unkenntnis dessen, was Universitäts-Unterricht sein sollte.“ Der Professor,
der seine beschränkte Teilwissenschaft in unphilosophischer Weise zum Generalschlüssel macht, ist, wie Newman in aller Schärfe
formuliert, „ nicht mehr ein Lehrer freien Wissens, sondern ein
beschränkter Fanatiker“ 11. Demgegenüber betont Newman den
metaphysischen Realismus eines Aristoteles, wenn er sagt:
Solange die Welt steht, wird des Aristoteles Lehre über die Gegenstände dauern, denn er ist das Orakel der Natur und der
Wahrheit. Solange wir Menschen sind, können wir nicht umhin,
in weitem Umfang Aristoteliker zu sein, denn der große Meister
analysiert nur die Gedanken, Gefühle, Anschauungen und Meinungen des Menschengeschlechts. Er hat uns die Bedeutung un-
_______________
Siehe ebd., 41.
Ebd., 57.
10 Ebd., 63.
11 Ebd.
8
9
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serer eigenen Worte und Ideen gelehrt, bevor wir geboren waren.
In vielen Fragen heißt richtig denken, so denken wie Aristoteles,
und wir sind seine Schüler, ob wir wollen oder nicht, wenn wir
es auch nicht wissen mögen.12
Ich muß im Weiteren die ausführlichen Erörterungen über Wesen und Bedeutung der Theologie übergehen und komme, mit
dem Blick bereits auf Josef Piepers Gedanken, zu jenem Abschnitt in Newmans Buch, dem 5. Vortrag, der das „ Wissen als
Selbstzweck“ zum Gegenstand hat. Dieser Abschnitt präsentiert
den radikalen Kern der Newmanschen Konzeption eines philosophischen Unterrichts an der Universität, denn er fragt nach
der Stellung des Nützlichen darin. Und dieses Wissens als
Selbstzweck ist es auch, das Newman als Wissen eines Gentleman bezeichnet. Daß es Wissen gibt, dessen Zweck allein in sich
selbst liegt, hängt für Newman mit der Eigenheit des menschlichen Geistes zusammen, „ daß jede Art des Wissens, wofern es
nur wirklich welches ist, seinen Lohn in sich selbst trägt“ 13. Das
solcherart verstandene Wissen ist also nicht bloß ein Mittel zu
etwas anderem oder die „ Vorstufe für gewisse Fertigkeiten“ 14.
Newman leugnet damit nicht, daß das Wissen selbstverständlich zu einem solchen Mittel werden kann, wie es systematisch bei Francis Bacon gefordert worden sei, doch schon durch
den bloßen Erwerb dieses Wissens werde ein unmittelbares
Bedürfnis unserer menschlichen Natur erfüllt – wie er im Anschluß an Cicero ausführt.15 Das Wort „ frei“ bezieht sich dabei
im Gegensatz zu den „ knechtischen“ Tätigkeiten ausdrücklich
auf jene Wissenschaft, die ihrer Form nach kontemplativen Charakter hat, der Betrachtung gewidmet ist. Sobald eine Wissenschaft, etwa die Theologie, nicht mehr als Betrachtung gepflegt
werde, so Newman, verliere diese zwar nicht ihren Nutzen, aber
ihren Charakter als freie Bestrebung.16
Aus diesen hier nur skizzierten Überlegungen leitet Newman seine Konsequenzen für die Universitätserziehung ab, die
er näher erläutern muß, um sie gegenüber seinem damaligen
Publikum zu rechtfertigen. Denn Newman geht von sachlich
getrennten Sphären des Wissens und der Moral aus:
_______________
Ebd., 106.
Ebd., 101.
14 Ebd.
15 Siehe ebd., 102.
16 Siehe ebd., 105f.
12
13
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120
W issen ist ein Ding, Tugend ein anderes; gesunder Menschenverstand ist nicht Gewissen, Bildung ist nicht Demut,
noch ist W eite und Richtigkeit der Anschauung Glauben.17
Die Philosophie selbst hat keine ethisch erzieherische Wirkung,
wie Newman ernüchtert feststellt (er zitiert dazu ein hübsches
Beispiel aus Samuel Johnsons Roman Rasselas18):
Die Philosophie, wie erleuchtet, wie tief sie sein mag, gibt keine Herrschaft über die Leidenschaften, keine wirksamen Motive, keine belebenden Grundsätze. Freie Erziehung macht nicht
den guten Christen, nicht den Katholiken, sondern den Gentleman. Es ist gut, ein Gentleman zu sein, es ist gut, einen gebildeten Intellekt, einen feinen Geschmack, einen klaren, unparteiischen, leidenschaftslosen Geist, einen edlen und ritterlichen Stil der Lebensführung zu haben – das sind Eigenschaften,
die natürlicherweise mit einem umfassenden Wissen einhergehen; sie sind das Ziel, auf das die Universität hinarbeitet.19
All diese Eigenschaften des Gentleman garantieren weder Heiligkeit noch selbst Gewissenhaftigkeit, wie Newman betont;
allein, die Bildung oder Erziehung, die Newman für die Universität fordert, ist an und für sich „ einfach die Bildung des Intellekts“ , mit dem Ziel der dem Intellekt eigenen Vollkommenheit.20 Newman bedauert nun, daß die englische Sprache kein
Wort für die Vollkommenheit des Intellekts bereit hält (so wie
„ Gesundheit“ für den Leib und „ Tugend“ für unsere moralische
Natur), weshalb er sich dazu entschließt, ihr den Namen „ Philosophie“ zu geben.21
Die Universität hat demnach auch die so verstandene Philosophie zum Ziel ihrer Tätigkeit, also „ weder moralische Einwirkung
noch technische Erzeugnisse“ , sondern „ sie erzieht den Intellekt
dazu, in allen Sachen vernünftig zu denken, sich nach der Wahrheit auszustrecken und sie zu erreichen“ 22.
_______________
Ebd., 115.
Siehe ebd., 111f.
19 Ebd., 115.
20 Siehe ebd.
21
Siehe ebd., 119. – Zu Newmans Philosophiebegriff siehe auch die instruktive Darstellung bei F. Ricken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003,
17
18
108-114, die sich vor allem auf Newmans hier unberücksichtigt bleibende
Grammar of Assent bezieht.
22 Ebd.
Philosophie und Bildung
121
II.
Josef Pieper greift in seinem zuerst 1952 erschienenen Text W as
heißt akademisch? oder Der Funktionär und der Sophist die von
Newman betonte „ Nutzlosigkeit“ nicht direkt auf. Erst in einer
späteren Ausgabe, die mit dem veränderten Untertitel „ Zwei
Versuche über die Chance der Universität heute“ erschien, zitiert er Newman direkt, allerdings in bezug auf die Frage der
Notwendigkeit der Theologie für den philosophischen Charakter der Universität. In der Sache jedoch schließt sich Pieper den
Newmanschen Gedanken eindeutig an; bereits in den zwanziger Jahren hatte Pieper Newmans Werke gründlich studiert,
nachdem er von Erich Przywara auf sie aufmerksam gemacht
worden war.23
Zugleich streicht er jedoch auch deutlich den überzeitlich
philosophischen Aspekt in besonderer Weise heraus, indem er
sich ausführlich auf Platon bezieht. Schon der Untertitel der
Erstausgabe weist auf eine doppelte Gefährdung des Akademischen hin, die für Pieper eine zeitlose gültige Bedrohung darstellte, indem er auf die Figuren des Funktionärs und des Sophisten zu sprechen kam. Mit dem Begriff des Sophisten steht aber
für Pieper zugleich immer das Wesen des Philosophierens im
eigentlichen und d.h. platonischen Sinne zur Rede, denn erst in
der Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten schärft sich
der Sinn für die Gefährdung des Akademischen, die mit an sich
unbestreitbarer intellektueller Brillanz einhergehen kann. Der
Bezug auf Platon macht vor allem eines klar: Es gibt nichts Akademisches ohne das Theoretische, wobei dieses Theoretische
allerdings nicht verkürzt im modernen Sinne zu verstehen ist
(also so wie etwa in der modernen Literaturwissenschaft von
„ theory“ oder in der Wissenschaft überhaupt von Theorien als
Systemen von Aussagen über einen Gegenstandsbereich gesprochen wird), sondern als Seinsform der Kontemplation als einer
Öffnung für das Gesamt der Welt.
Pieper dachte immer von den Begriffen her, aber nicht aus einem
sprachanalytisch reduzierten Verständnis von Philosophie heraus, sondern weil er der Auffassung war, daß sich in der Auseinandersetzung mit den Begriffen auch, recht verstanden, die
Sache selbst so zeigt, wie sie ist. In der späteren Fassung von
Was heißt akademisch? stellt Pieper seinem Text ein kurzes Zitat
_______________
23
Ich danke Berthold Wald für den Hinweis darauf.
122
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voran, das charakteristischerweise dem Oxford English Dictionary
entnommen ist. Dieses Wörterbuch gibt unter dem Stichwort
„ academic“ als vierte Bedeutung an: „ not leading to a decision;
unpractical“ 24. In der aktuellen, der 6. Ausgabe des Shorter Oxford
English Dictionary von 2007 heißt es unter dieser Bedeutung „ abstract, unpractical, merely theoretical“ , wobei diese Begriffsbedeutung aus dem späten 19. Jahrhundert stammt.
„ Theoretisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang nun aber
gerade nicht das, was die klassische Tradition darunter versteht.
Zwar ist auch hier, etwa bei Aristoteles, das Theoretische vom
Praktischen unterschieden und also die theoretische Betrachtung
nicht „ verwertbar“ für irgend etwas, sondern eine Tätigkeit, die
den Zweck in sich selbst hat. Der modernen Kritik des Akademischen als des Unpraktischen liegt aber eine andere Auffassung
zugrunde als die bei Aristoteles und in der Tradition. Hier hatte
die Theorie als Betrachtung einen hohen Eigenwert, während die
moderne Auffassung im Gefolge der cartesianisch-baconianischen Naturauffassung all jene akademischen Beschäftigungen,
die uns nicht zu „ Herren und Eigentümern der Natur“ (Descartes)
machen oder den „ relief of man’s estate“ , die Verbesserung der
Lage des Menschen (Bacon), zum Ziel haben, als „ bloß“ theoretische abwertet.
Pieper geht nun direkt auf das Zentrum der modernen Auffassung, die in sich auch eine Auffassung vom Wesen des
menschlichen Geistes als wesentlich instrumentell schließt,
wenn er das populäre Vorurteil, das Ergebnis der Popularisierung moderner Philosophie, zum Ausgangspunkt seiner Restauration der Theorie macht. Denn, so meine These, um nichts Geringeres geht es Pieper. Pieper versucht, von den modernen
Voraussetzungen her einen Weg zu finden, der zur Anerkennung der Wahrheit jener Auffassung von Mensch und Welt
führt, die den Zusammenhang von Glück und Kontemplation (so
auch ein weiterer wichtiger Buchtitel Piepers) nicht aufgeben
will. Denn wenn tatsächlich, wie Pieper meint, das Glück des
Menschen damit auf engste verbunden ist, daß die Kontemplation, die theoretische Betrachtung als Lebensweise, nicht aus unserem Dasein verdammt wird, muß alles daran gesetzt werden,
wenigstens (als Minimalforderung!) eine Erinnerung daran zu
bewahren, daß man dies einst wußte.
_______________
24
Siehe z.B. The Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles,
ed. C. T. Onions, 3. Ausgabe, Oxford 1967, 9.
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123
Nun ist aber eben dies, die Erinnerung an die Philosophie als
theoretische Lebensform, d.h. als Lebensform (und nicht lediglich als ein akademisches „ Fach“ unter anderen), der Punkt, an
dem der prekäre Status einer solchermaßen verstandenen Philosophie in der heutigen Universität abgelesen werden kann – und
im weiteren auch jeder sich philosophisch verstehenden Geisteswissenschaft wie der Literaturwissenschaft (die heute unter
dem Paradigma der „ Kulturwissenschaft“ jene alte Verbindung
zur Philosophie m.E. mit fatalen Folgen zu kappen im Begriff ist,
wenn sie nicht auch offen bleibt für den in der alteuropäischen
Tradition vorhandenen Reichtum an Einsichten). Denn unter
dem Diktat der Drittmitteleinwerbung hat eine vordergründig
nicht auf Relevanz abzielende akademische Beschäftigung mit
den Fragen, die das Ganze der Welt und des Menschen betreffen, wohl wenig Aussicht auf Wettbewerbsfähigkeit.
Pieper schloß sich ausdrücklich an den, wie er sagt, „ einigermaßen aggressiven Satz“ Newmans an, der da lautet:
University teaching without Theology is simply unphilosophical.
Ein Universitätsunterricht ohne Theologie ist einfach unphilosophisch.25
Für Pieper steht es außer Frage, daß eine Universität im strengen
Sinne, also als eine Institution, „ die das Ganze von Welt und
Dasein vor die Augen zu bringen beansprucht und verpflichtet
ist“ , ohne Theologie schlechterdings nicht existieren kann. Dem
entspricht aber andererseits die Verpflichtung einer solchermaßen
unverzichtbaren Theologie, sich auch den Erkenntnissen der vielen Einzelwissenschaften nicht zu verschließen, die in einem Bezug zu den theologischen Aussagen über Mensch und Welt stehen. Es ist wohl kein Zufall und angesichts der gegenwärtig vor
allem in den USA geführten Kontroversen höchst aktuell, daß
Pieper hier insbesondere auf die Evolutionsforschung verweist.26
Aber das nur nebenbei.
Für unsere heutige Situation von größtem Interesse ist, wie mir
scheint, was Pieper in seinen Bestimmungsversuchen des Akademischen ausführt. So betont er etwa die „ Unvereinbarkeit des
_______________
25 J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 112; vgl. J.H. Newman, Idee
einer Universität (Anm. 2), 51.
26 Siehe J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 113.
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124
Akademischen mit dem Richtbild des ‚Arbeiters’“ 27, der einerseits in Anlehnung an Ernst Jüngers frühe Schrift Der Arbeiter,
andererseits auch ganz allgemein als Charakteristikum unserer
Zeit zu verstehen ist und mit dem sich Pieper auch andernorts
intensivst auseinandergesetzt hat.28 Für Pieper war es in diesem
Zusammenhang selbstverständlich, daß sich die „ Haltung der
philosophischen theoria einerseits und die Haltung der worauf
immer abzielenden Erfüllung eines absolut gesetzten ‚Plan-Solls’
andererseits ausschließen“ 29.
Dem Sophisten wiederum ordnet Pieper das „ bloß bildungsmäßig Humanistische“ 30 zu; der Sophist, so Pieper, „ ist
eine zeitlose Figur“ , und dies bedeute, „ daß der Kampf, den
Sokrates-Platon gegen Protagoras und Gorgias geführt haben“ 31,
nie zu Ende sei. Die Sophistik ist mehr als eine historische Gegebenheit, und deshalb kann Pieper pointiert sagen: „ Akademisch
heißt antisophistisch“ , mit starkem Bezug auf Platon als den
Gründer der Akademie. Der Keim des Sophistischen liege bereits
im gegenüber dem Inhaltlichen höher gewichteten „ bloß Formalen“ . Wesensprinzip des Akademischen ist dagegen nach Pieper
„ die innere Normierung des Geistes durch die Wahrheit“ 32; der
Verfall der akademischen Freiheit kann daher in Piepers Sicht
nur von einer Geisteswissenschaft aufgehalten werden, die sich
dieser inneren Normierung verpflichtet weiß.33
Das für das Akademische im eigentlichen Sinne gefährliche
Phänomen ist eben das, welches das Akademische unter der
„ Maske des Akademischen selbst“ 34 verrät, und zwar dadurch,
daß es nicht auf die „ Verehrung vor allem des Seienden selbst“
gegründet ist.35 Nun wird der Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts
sich fragen, was das nun heißen solle – „ Verehrung“ ? Verehrung
könne doch wohl nicht das Eigentliche der Universität betreffen,
_______________
27
Ebd., 45.
Siehe z.B. J. Pieper, Verteidigungsrede für die Philosophie, München
1966, 44ff.; Muße und Kult, München 1965, 21ff.; W as heißt philosophieren?
Vier Vorlesungen, München 1988, 12ff.
29 J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 49.
30 Ebd., 46.
31 Ebd.
32 Ebd., 48.
33 Siehe ebd., 49.
34 Ebd., 51.
35
Siehe Platon, Politeia 480a (ed. G. Eigler, Bd. 4, Darmstadt 21990,
464f.): Sokrates spricht hier von den jegliches Seiende selbst Liebenden,
die man weisheitsliebend und Philosophen nennen müsse – im Gegensatz zu meinungsliebend!
28
Philosophie und Bildung
125
als eine Haltung, wie Pieper sagt, die „ von jeder Institution
wissenschaftlichen Lehrens und Lernens“ verkörpert werden
müsse, die wahrhaft akademisch zu sein beansprucht. Da kommen dem modernen Menschen doch eher Begriffe wie Kritik in
den Sinn, ja auch das „ nil admirari“ des Spinoza mag hier noch
eher angehen als die Forderung nach der Verehrung des Seienden selbst. Verehrung heißt nun aber für Pieper tatsächlich das
zunächst auch „ unkritische“ , „ schweigend empfangende Vernehmen von Wirklichkeit“ , das essentiell zur theoretischen Einstellung gehört.
Dies mag nun alles schon problematisch genug sein, wenn man
von den heutigen Gegebenheiten ausgeht. Aber Pieper geht noch
einen Schritt weiter, von dem er weiß, daß er in ein Minenfeld
hineinführt. Piepers Position einer Kritik am Anti-Akademischen ist brisant, weil sie nicht den Dogmen einer potentiell alle
Lebensbereiche durchdringenden politischen Theologie in Form
einer demokratischen Zivilreligion entspricht.36 Denn Pieper
bestimmt das Akademische ausdrücklich so, daß er es vom Bereich der „ Vielen“ abgrenzt, wobei er sich ausdrücklich auf Platon beruft, der ja bekanntermaßen in seinen Dialogen in vielen
Spielarten den Gegensatz von Philosophie und Menge in Szene
setzte.
Nun ist auch Pieper zufolge „ der Begriff des Akademischen
ein undemokratischer Begriff“ 37 und zwar aus einer eminent
realistischen Einsicht in die Strukturbedingungen menschlicher
Existenz heraus. Denn der Begriff des Akademischen besagt, so
Pieper,
daß es Rangunterschiede gibt; daß das Menschsein sich auf höhere und niederere Weise realisieren könne; daß die Vielen, der
Durchschnittsmensch, die Mehrheit, der ‚common sense’ nicht
als eine in Betracht kommende oder gar als die letzte Instanz gelten können, wenn zur Frage steht, was tiefsten Grundes für
den Menschen wahr, gut und sinnvoll ist.38
Gerade heute, wo sich eine seit Jahrzehnten anbahnende Entnormativisierung in den Geisteswissenschaften auswirkt, also
die oft politisch oder wirtschaftlich motivierte Entwertung des
Kanons der Literatur und der Philosophie, und die „ wertneutra_______________
36
Siehe J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 54.
Ebd., 57.
38 Ebd.
37
126
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le“ Betrachtung aller Dinge unter dem Rubrum der „ Kultur“ zur
gängigen Münze wird, bedarf es einer „ Kultur“ -Kritik weit mehr
als einer Kulturwissenschaft. Gerade heute ist die Piepersche
Kritik an der Sophistik von größter Aktualität. Dazu aber gehört
auch die Zurückweisung des „ Geltungsanspruch(s) jener
Scheinwirklichkeit“ anspruchsloser Unterhaltung, die zur „ Stillegung der öffentlichen Langeweile“ dient – und jedenfalls
nichts mit der aufs Letzte zielenden kritischen Reflexion gemein
hat.
Und noch eine weitere Paradoxie, auf die Pieper hinweist,
gilt es im Zeitalter der Forschungsevaluitis39 im Gedächtnis zu
behalten: „ Fruchtbar für die Praxis ist die theoria nur, solange sie
sich nicht darum sorgt, es zu sein“ 40. Für eine zeitgemäße und
dabei notwendigerweise kritische „ Idee einer Universität“ wären diese Gedanken immer wieder aufs neue zu bedenken –
gerade weil dies so fern mancher heutiger Praxis scheint.
III.
Abschließend läßt sich sagen, daß sowohl Newman wie Pieper
in einer Tradition stehen, die gegen das moderne Paradigma der
Philosophie und Wissenschaft die klassische Konzeption der
Theorie nicht aufgibt und der Kontemplation und damit dem
Fragen nach den ersten Ursachen Raum gibt, ohne diese damit
schon z.B. in einem konfessionellen Sinne zu präjudizieren.
Newman wie Pieper erinnern deutlich daran, daß es die Aufgabe einer philosophisch fundierten Universitätsbildung ist,
grundsätzlich keinen denkbaren Aspekt der Wirklichkeit aus der
Erörterung auszuscheiden.
Damit ist m.E. keine vorgängige Entscheidung für die Wahrheit einer bestimmten Offenbarung und auch nicht für die bloße
Existenz von Offenbarung verbunden. Vielmehr geht es darum,
einen Denkraum zu eröffnen, der die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit einbezieht, ohne ideologische Scheuklappen und Polarisierungen. Deshalb kommt der säkularen, d.h. genuin philosophischen Argumentation bei beiden Autoren so großes Gewicht
zu: Ihre Position kann aus sich selbst überzeugen, ohne Rekurs
_______________
39
Siehe nur z. B. den eindringlichen Aufsatz von M. Osterloh/ B.S.
Frey, „ Die Krankheit der Wissenschaft. Der Forschungsbetrieb leidet am
Über-maß falsch ausgerichteter Evaluationen“ , in: Forschung & Lehre
11/ 07, 670-673 (zuerst in der F.A.Z. erschienen).
40 J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 69.
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auf Glaubenswahrheiten, die von Außenstehenden nicht geteilt
werden, und sollte als eine Grundlage der Auseinandersetzung
für Atheisten, Agnostiker und Indifferente gleichermaßen akzeptabel sein. Denn es dient auch der Schärfung der säkular
philosophischen wie wissenschaftlichen Vernunft, wenn es an
der Universität unterschiedliche Vernunftkonzeptionen gibt, die
sich miteinander auseinandersetzen müssen.
Newmans und Piepers Beitrag für eine philosophische Bildung, die auch an der Universität ihre Heimstätte finden soll, liegt
darin, an das zu erinnern, was man in der Vergangenheit schon
einmal wußte, als man von „ freier Bildung“ , von „ artes liberales“
oder eben auch in englischer Sprache von „ liberal education“
sprach.41 Wie der englische Philosoph Michael Oakeshott gesagt
hat – der einen den Beiträgen Newmans wie Piepers vergleichbar gewichtigen Beitrag zu einer Wiedergewinnung des Wesens
der Bildung geleistet hat42 – muß sich jede Generation und jeder
einzelne mit dem Problem von Glauben und Vernunft auseinandersetzen und eine Antwort darauf finden. Die Universität kann
unter den Bedingungen der Moderne diese Antwort nicht einfach bieten, sie kann aber dafür sorgen, daß alle wichtigen Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Problem von Grund
aus zu durchdenken und so das bildende und kultivierende
Gespräch der Menschheit nicht abbricht.
_______________
Siehe J. Pieper, Erkenntnis und Freiheit. Essays, München 1964, 10.
Siehe M. Oakeshott, The Voice of Liberal Learning, ed. T. Fuller, New
Haven 1989. – Siehe dazu jetzt auch T. Kinzel, Michael Oakeshott. Philosoph der Politik, Schnellroda 2007, v.a. 42-47.
41
42