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Philosophie und Bildung bei Josef Pieper und John Henry Newman

Das große Thema " Vernunft und Glaube " , das sich durch die abendländische Geschichte zieht, kristallisiert sich in besonderer Weise institutionell in der Universität. Welche Implikationen die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von philosophischer Vernunft und Glaube im Hinblick auf das Wesen und die prakti-sche Gestaltung der akademischen Bildung hat, läßt sich trefflich am Beispiel zweier Autoren aufzeigen, die sich intensiv mit diesem Problem befaßt haben: dem englischen Theologen John Henry Kardinal Newman und dem deutschen Philosophen Josef Pieper. Beide setzten sich eingehend mit der Frage auseinander, was die Universität ihrem Wesen nach – also ihrer Idee nach – auszeichnet (eben deshalb geht es Newman um The Idea of a University!), und was es also heißt, wenn man das Wort " akade-misch " in den Mund nimmt. Was ist das Eigene des Akademi-schen im Gegensatz zu allem anderen, das Bildungs-und Aus-bildungsinstitutionen auch noch leisten und auch leisten sollen? Worin besteht der Kern dessen, was in vollem Umfang als aka-demische Bildung zu bezeichnen ist? Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die von Newman wie Pieper vorgebrachten Überlegungen denkbar weit von den gegenwärtigen Trends im Bereich der Hochschulpolitik und-bildung mit ihren völlig unübersichtlich gewordenen Reformen entfernt liegen – gerade deshalb aber mögen ihre Gedanken, so " idealistisch " und " unrealistisch " sie erscheinen mögen, drin-gend nötiges kritisches Potential entfalten. Jedenfalls dort, wo die Idee der Bildung noch nicht endgültig ad acta gelegt wurde. Es ist mir unvergeßlich, wie sehr mir dieser Kontrast bereits ins Auge fiel, als ich in den neunziger Jahren wohl einen der letzten Vorträge Piepers in der Berliner Guardini-Stiftung hörte, der sich dem Problem des Akademischen widmete und, wie ich später bei der nachbereitenden Lektüre feststellte, fast wortwört-lich identisch war mit jenem Text Piepers, der zuerst in den

Till Kinzel Philosophie und Bildung Die „ Idee der Universität“ bei John Henry Newman und Josef Pieper Das große Thema „ Vernunft und Glaube“ , das sich durch die abendländische Geschichte zieht, kristallisiert sich in besonderer Weise institutionell in der Universität. Welche Implikationen die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von philosophischer Vernunft und Glaube im Hinblick auf das Wesen und die praktische Gestaltung der akademischen Bildung hat, läßt sich trefflich am Beispiel zweier Autoren aufzeigen, die sich intensiv mit diesem Problem befaßt haben: dem englischen Theologen John Henry Kardinal Newman und dem deutschen Philosophen Josef Pieper. Beide setzten sich eingehend mit der Frage auseinander, was die Universität ihrem Wesen nach – also ihrer Idee nach – auszeichnet (eben deshalb geht es Newman um The Idea of a University !), und was es also heißt, wenn man das Wort „ akademisch“ in den Mund nimmt. Was ist das Eigene des Akademischen im Gegensatz zu allem anderen, das Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen auch noch leisten und auch leisten sollen? Worin besteht der Kern dessen, was in vollem Umfang als akademische Bildung zu bezeichnen ist? Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die von Newman wie Pieper vorgebrachten Überlegungen denkbar weit von den gegenwärtigen Trends im Bereich der Hochschulpolitik und -bildung mit ihren völlig unübersichtlich gewordenen Reformen entfernt liegen – gerade deshalb aber mögen ihre Gedanken, so „ idealistisch“ und „ unrealistisch“ sie erscheinen mögen, dringend nötiges kritisches Potential entfalten. Jedenfalls dort, wo die Idee der Bildung noch nicht endgültig ad acta gelegt wurde. Es ist mir unvergeßlich, wie sehr mir dieser Kontrast bereits ins Auge fiel, als ich in den neunziger Jahren wohl einen der letzten Vorträge Piepers in der Berliner Guardini-Stiftung hörte, der sich dem Problem des Akademischen widmete und, wie ich später bei der nachbereitenden Lektüre feststellte, fast wortwörtlich identisch war mit jenem Text Piepers, der zuerst in den 116 Till Kinzel frühen fünfziger Jahren unter dem Titel W as heißt akademisch? veröffentlicht worden war.1 Es war kein plastischerer Beweis für die zeitübergreifende Gültigkeit der Pieperschen Idee von akademischer Bildung denkbar, wenn seine Ausführungen in den neunziger Jahren so frisch und gegenwartsbezogen wirkten, als seien sie eben erst formuliert worden. Die Idee, die ihnen zugrunde lag, blieb gültig, mag auch die Wirklichkeit immer wieder an ihr vorbei oder über sie hinweggegangen sein. I. Lassen Sie mich in groben Zügen einige wesentliche Punkte der Newmanschen Bildungsvorstellungen in Erinnerung rufen, bevor ich dann zu Piepers Aktualisierung der Newmanschen Ideen von freier Bildung („ liberal education“ ) unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts zurückkehre. Newmans Gedanken zur philosophischen Bildung finden sich in seiner bedeutenden Schrift The Idea of a University , die vor etwa 150 Jahren publiziert wurden. Doch werde ich im folgenden von den konkreten historischen Umständen, auf die sich Newmans Ausführungen beziehen (der Plan einer Gründung einer katholischen Universität in Irland), völlig absehen und im Interesse der philosophischen Konturierung nur auf das in der Sache selbst Liegende Bezug nehmen. Denn wichtige Überlegungen Newmans haben auch jenseits des katholischen Entstehungskontexts Bedeutung. Gleich zu Beginn führt er den schweren Vorwurf der „ inutility“ , der „ Nutzlosigkeit“ , an, der gegen die Universitätsbildung erhoben wurde. Denn, so lautete dieser uns vertraut erscheinende Vorwurf, der in anderer Form auch von der Reformpädagogik im Gefolge der Lebensphilosophie wieder erhoben wurde, diese Studien seien weit entfernt von den Beschäftigungen und Pflichten des Lebens. In bezug auf die religiöse Frage weist Newman darauf hin, daß die Erörterung des Wesens der Universität und der Bildung („ liberal education“ ) „ nicht so überaus delikat und gefährlich“ sei „ wie Erörterungen, die unmittelbar _______________ Ich zitiere im folgenden nach der Ausgabe des Kösel-Verlages (München 1964). Es sei jedoch zusätzlich auf den 6. Band der von Berthold Wald herausgegebenen Werkausgabe, Kulturphilosophische Schriften (1998), hingewiesen, die weitere wichtige Texte zum Thema enthält. Die Ausgabe ist inzwischen abgeschlossen und kann durch ein thematisches Register in vielfältiger Weise erschlossen werden. 1 Philosophie und Bildung 117 das Thema der göttlichen Offenbarung behandeln“ 2. Denn Newman vertritt die Auffassung, daß es für das von ihm vertretene Argument nicht notwendig ist, die Autorität der Kirche anzuführen, sondern dafür allein Gründe der menschlichen Vernunft und der menschlichen Weisheit notwendig sind.3 Die Prinzipien, auf die sich Newman stützt, ließen sich „ aus der bloßen Lebenserfahrung gewinnen“ 4. Es bedürfe nur des „ common sense“ ohne jegliche göttliche Erleuchtung, um zu richtigen Vorstellungen über Bildung zu gelangen. Die Philosophie der Bildung („ philosophy of education“ ) beruhe auf den Wahrheiten der natürlichen Ordnung.5 Entsprechend richtet Newman seine Aufmerksamkeit auf das, was abstrakt betrachtet wahr und richtig ist.6 Die erste Frage, die bereits kompliziert genug ist und von mir hier nur gestreift wird, ist die nach dem Status der Theologie als Erkenntnisform. Gibt es theologische Erkenntnis? Ist die Theologie eine Wissenschaft? Diese Frage hängt vorgängig mit jener anderen Frage zusammen, ob es von Gott überhaupt etwas geben kann, was der Mensch wissen kann.7 Streng logisch betrachtet, so gesteht Newman zu, müsse jemand, der die Möglichkeit abstreitet, in religiösen Dingen zu Erkenntnissen im eigentlichen Sinne zu gelangen, konsequenterweise die Religion aus der Universität ausschließen. Dies aber stehe im Widerspruch zur katholischen Auffassung, gemäß welcher der Glauben ein geistiger Akt ist, nicht lediglich eine Frage des Gefühls, wie Newman kritisch zu den seiner Auffassung nach zu beobachtenden Folgen des Protestantismus bemerkt. Newman erkennt also an, daß die Theologie sich auf etwas Objektives beziehen muß, wenn sie als Wissen_______________ 2 J.H. Newman, Idea of a University , 17. – Ich habe die folgende englische Studienausgabe benutzt: J.H. Newman, The Idea of a University , ed. F.M. Turner, mit Beiträgen von M. McMackin Garland, S. Castro-Klarén, G.P. Landow, G.M. Marsden, F.M. Turner, New Haven – London 1996. Neben dieser englischen Ausgabe beziehe ich mich auf die vollständige Übersetzung von Newmans Schrift durch Edith Stein, die 2004 erstmals aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde (Freiburg/ Br.). Frühere deutsche Übersetzungen enthalten nicht den vollständigen Text der Newmanschen Vorlesungen. 3 Siehe ebd., 23. 4 Ebd. 5 Siehe ebd., 19. 6 Siehe ebd., 23. 7 Siehe ebd., 35. Till Kinzel 118 schaft anerkannt werden soll. Theologie und Religion als lediglich subjektive Gemütszustände verdienen diesen Status aber gerade nicht, andernfalls könnte man auch, so Newman, Lehrstühle für Feingefühl, für das Gefühl der Ehre, für Patriotismus, für Dankbarkeit, für Mutterliebe und Kameradschaft einrichten.8 Dies aber wäre das Ende des Begriffs der Wissenschaft und damit auch der Universität. Newman vertritt eine starke These in dem Sinne, „ daß alles Wissen ein Ganzes bildet, weil sein Gegenstand einer ist; denn das Universum in seiner Länge und Breite hängt so innerlichst zusammen, daß wir Teil von Teil nicht trennen können und nicht Wirkung von Wirkung, es sei denn in geistiger Abstraktion“ 9. Zwar sind demnach alle Wissenschaften miteinander verbunden; deren gegenseitige Bezüge aber einzuschätzen ist Aufgabe einer Art „ Wissenschaft von den Wissenschaften“ , die Newman als „ Philosophie im wahren Sinne des Wortes“ bezeichnet. Für Newmans philosophische Geisteshaltung ist nun entscheidend, daß sie sich gegen eine Wissenschaftsauffassung stellt, die in wirklichkeitsfremder Weise von bekannten Tatsachen abstrahiere und „ Entscheidungen über Tatsachen aufgrund von Theorien“ treffe. Dies wäre aber der Fall, würde man verkennen, daß die „ bunte, geschäftige Welt, die vor unsern Blicken ausgebreitet liegt“ , zwar physikalisch, aber eben „ nicht nur physikalisch“ ist.10 Der Irrtum, der darin läge, die Welt als bloß physikalisch zu betrachten und dies auch zu lehren, verriete bei einem Professor, so Newman, „ einen Mangel an philosophischer Tiefe, eine Unkenntnis dessen, was Universitäts-Unterricht sein sollte.“ Der Professor, der seine beschränkte Teilwissenschaft in unphilosophischer Weise zum Generalschlüssel macht, ist, wie Newman in aller Schärfe formuliert, „ nicht mehr ein Lehrer freien Wissens, sondern ein beschränkter Fanatiker“ 11. Demgegenüber betont Newman den metaphysischen Realismus eines Aristoteles, wenn er sagt: Solange die Welt steht, wird des Aristoteles Lehre über die Gegenstände dauern, denn er ist das Orakel der Natur und der Wahrheit. Solange wir Menschen sind, können wir nicht umhin, in weitem Umfang Aristoteliker zu sein, denn der große Meister analysiert nur die Gedanken, Gefühle, Anschauungen und Meinungen des Menschengeschlechts. Er hat uns die Bedeutung un- _______________ Siehe ebd., 41. Ebd., 57. 10 Ebd., 63. 11 Ebd. 8 9 Philosophie und Bildung 119 serer eigenen Worte und Ideen gelehrt, bevor wir geboren waren. In vielen Fragen heißt richtig denken, so denken wie Aristoteles, und wir sind seine Schüler, ob wir wollen oder nicht, wenn wir es auch nicht wissen mögen.12 Ich muß im Weiteren die ausführlichen Erörterungen über Wesen und Bedeutung der Theologie übergehen und komme, mit dem Blick bereits auf Josef Piepers Gedanken, zu jenem Abschnitt in Newmans Buch, dem 5. Vortrag, der das „ Wissen als Selbstzweck“ zum Gegenstand hat. Dieser Abschnitt präsentiert den radikalen Kern der Newmanschen Konzeption eines philosophischen Unterrichts an der Universität, denn er fragt nach der Stellung des Nützlichen darin. Und dieses Wissens als Selbstzweck ist es auch, das Newman als Wissen eines Gentleman bezeichnet. Daß es Wissen gibt, dessen Zweck allein in sich selbst liegt, hängt für Newman mit der Eigenheit des menschlichen Geistes zusammen, „ daß jede Art des Wissens, wofern es nur wirklich welches ist, seinen Lohn in sich selbst trägt“ 13. Das solcherart verstandene Wissen ist also nicht bloß ein Mittel zu etwas anderem oder die „ Vorstufe für gewisse Fertigkeiten“ 14. Newman leugnet damit nicht, daß das Wissen selbstverständlich zu einem solchen Mittel werden kann, wie es systematisch bei Francis Bacon gefordert worden sei, doch schon durch den bloßen Erwerb dieses Wissens werde ein unmittelbares Bedürfnis unserer menschlichen Natur erfüllt – wie er im Anschluß an Cicero ausführt.15 Das Wort „ frei“ bezieht sich dabei im Gegensatz zu den „ knechtischen“ Tätigkeiten ausdrücklich auf jene Wissenschaft, die ihrer Form nach kontemplativen Charakter hat, der Betrachtung gewidmet ist. Sobald eine Wissenschaft, etwa die Theologie, nicht mehr als Betrachtung gepflegt werde, so Newman, verliere diese zwar nicht ihren Nutzen, aber ihren Charakter als freie Bestrebung.16 Aus diesen hier nur skizzierten Überlegungen leitet Newman seine Konsequenzen für die Universitätserziehung ab, die er näher erläutern muß, um sie gegenüber seinem damaligen Publikum zu rechtfertigen. Denn Newman geht von sachlich getrennten Sphären des Wissens und der Moral aus: _______________ Ebd., 106. Ebd., 101. 14 Ebd. 15 Siehe ebd., 102. 16 Siehe ebd., 105f. 12 13 Till Kinzel 120 W issen ist ein Ding, Tugend ein anderes; gesunder Menschenverstand ist nicht Gewissen, Bildung ist nicht Demut, noch ist W eite und Richtigkeit der Anschauung Glauben.17 Die Philosophie selbst hat keine ethisch erzieherische Wirkung, wie Newman ernüchtert feststellt (er zitiert dazu ein hübsches Beispiel aus Samuel Johnsons Roman Rasselas18): Die Philosophie, wie erleuchtet, wie tief sie sein mag, gibt keine Herrschaft über die Leidenschaften, keine wirksamen Motive, keine belebenden Grundsätze. Freie Erziehung macht nicht den guten Christen, nicht den Katholiken, sondern den Gentleman. Es ist gut, ein Gentleman zu sein, es ist gut, einen gebildeten Intellekt, einen feinen Geschmack, einen klaren, unparteiischen, leidenschaftslosen Geist, einen edlen und ritterlichen Stil der Lebensführung zu haben – das sind Eigenschaften, die natürlicherweise mit einem umfassenden Wissen einhergehen; sie sind das Ziel, auf das die Universität hinarbeitet.19 All diese Eigenschaften des Gentleman garantieren weder Heiligkeit noch selbst Gewissenhaftigkeit, wie Newman betont; allein, die Bildung oder Erziehung, die Newman für die Universität fordert, ist an und für sich „ einfach die Bildung des Intellekts“ , mit dem Ziel der dem Intellekt eigenen Vollkommenheit.20 Newman bedauert nun, daß die englische Sprache kein Wort für die Vollkommenheit des Intellekts bereit hält (so wie „ Gesundheit“ für den Leib und „ Tugend“ für unsere moralische Natur), weshalb er sich dazu entschließt, ihr den Namen „ Philosophie“ zu geben.21 Die Universität hat demnach auch die so verstandene Philosophie zum Ziel ihrer Tätigkeit, also „ weder moralische Einwirkung noch technische Erzeugnisse“ , sondern „ sie erzieht den Intellekt dazu, in allen Sachen vernünftig zu denken, sich nach der Wahrheit auszustrecken und sie zu erreichen“ 22. _______________ Ebd., 115. Siehe ebd., 111f. 19 Ebd., 115. 20 Siehe ebd. 21 Siehe ebd., 119. – Zu Newmans Philosophiebegriff siehe auch die instruktive Darstellung bei F. Ricken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003, 17 18 108-114, die sich vor allem auf Newmans hier unberücksichtigt bleibende Grammar of Assent bezieht. 22 Ebd. Philosophie und Bildung 121 II. Josef Pieper greift in seinem zuerst 1952 erschienenen Text W as heißt akademisch? oder Der Funktionär und der Sophist die von Newman betonte „ Nutzlosigkeit“ nicht direkt auf. Erst in einer späteren Ausgabe, die mit dem veränderten Untertitel „ Zwei Versuche über die Chance der Universität heute“ erschien, zitiert er Newman direkt, allerdings in bezug auf die Frage der Notwendigkeit der Theologie für den philosophischen Charakter der Universität. In der Sache jedoch schließt sich Pieper den Newmanschen Gedanken eindeutig an; bereits in den zwanziger Jahren hatte Pieper Newmans Werke gründlich studiert, nachdem er von Erich Przywara auf sie aufmerksam gemacht worden war.23 Zugleich streicht er jedoch auch deutlich den überzeitlich philosophischen Aspekt in besonderer Weise heraus, indem er sich ausführlich auf Platon bezieht. Schon der Untertitel der Erstausgabe weist auf eine doppelte Gefährdung des Akademischen hin, die für Pieper eine zeitlose gültige Bedrohung darstellte, indem er auf die Figuren des Funktionärs und des Sophisten zu sprechen kam. Mit dem Begriff des Sophisten steht aber für Pieper zugleich immer das Wesen des Philosophierens im eigentlichen und d.h. platonischen Sinne zur Rede, denn erst in der Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten schärft sich der Sinn für die Gefährdung des Akademischen, die mit an sich unbestreitbarer intellektueller Brillanz einhergehen kann. Der Bezug auf Platon macht vor allem eines klar: Es gibt nichts Akademisches ohne das Theoretische, wobei dieses Theoretische allerdings nicht verkürzt im modernen Sinne zu verstehen ist (also so wie etwa in der modernen Literaturwissenschaft von „ theory“ oder in der Wissenschaft überhaupt von Theorien als Systemen von Aussagen über einen Gegenstandsbereich gesprochen wird), sondern als Seinsform der Kontemplation als einer Öffnung für das Gesamt der Welt. Pieper dachte immer von den Begriffen her, aber nicht aus einem sprachanalytisch reduzierten Verständnis von Philosophie heraus, sondern weil er der Auffassung war, daß sich in der Auseinandersetzung mit den Begriffen auch, recht verstanden, die Sache selbst so zeigt, wie sie ist. In der späteren Fassung von Was heißt akademisch? stellt Pieper seinem Text ein kurzes Zitat _______________ 23 Ich danke Berthold Wald für den Hinweis darauf. 122 Till Kinzel voran, das charakteristischerweise dem Oxford English Dictionary entnommen ist. Dieses Wörterbuch gibt unter dem Stichwort „ academic“ als vierte Bedeutung an: „ not leading to a decision; unpractical“ 24. In der aktuellen, der 6. Ausgabe des Shorter Oxford English Dictionary von 2007 heißt es unter dieser Bedeutung „ abstract, unpractical, merely theoretical“ , wobei diese Begriffsbedeutung aus dem späten 19. Jahrhundert stammt. „ Theoretisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang nun aber gerade nicht das, was die klassische Tradition darunter versteht. Zwar ist auch hier, etwa bei Aristoteles, das Theoretische vom Praktischen unterschieden und also die theoretische Betrachtung nicht „ verwertbar“ für irgend etwas, sondern eine Tätigkeit, die den Zweck in sich selbst hat. Der modernen Kritik des Akademischen als des Unpraktischen liegt aber eine andere Auffassung zugrunde als die bei Aristoteles und in der Tradition. Hier hatte die Theorie als Betrachtung einen hohen Eigenwert, während die moderne Auffassung im Gefolge der cartesianisch-baconianischen Naturauffassung all jene akademischen Beschäftigungen, die uns nicht zu „ Herren und Eigentümern der Natur“ (Descartes) machen oder den „ relief of man’s estate“ , die Verbesserung der Lage des Menschen (Bacon), zum Ziel haben, als „ bloß“ theoretische abwertet. Pieper geht nun direkt auf das Zentrum der modernen Auffassung, die in sich auch eine Auffassung vom Wesen des menschlichen Geistes als wesentlich instrumentell schließt, wenn er das populäre Vorurteil, das Ergebnis der Popularisierung moderner Philosophie, zum Ausgangspunkt seiner Restauration der Theorie macht. Denn, so meine These, um nichts Geringeres geht es Pieper. Pieper versucht, von den modernen Voraussetzungen her einen Weg zu finden, der zur Anerkennung der Wahrheit jener Auffassung von Mensch und Welt führt, die den Zusammenhang von Glück und Kontemplation (so auch ein weiterer wichtiger Buchtitel Piepers) nicht aufgeben will. Denn wenn tatsächlich, wie Pieper meint, das Glück des Menschen damit auf engste verbunden ist, daß die Kontemplation, die theoretische Betrachtung als Lebensweise, nicht aus unserem Dasein verdammt wird, muß alles daran gesetzt werden, wenigstens (als Minimalforderung!) eine Erinnerung daran zu bewahren, daß man dies einst wußte. _______________ 24 Siehe z.B. The Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles, ed. C. T. Onions, 3. Ausgabe, Oxford 1967, 9. Philosophie und Bildung 123 Nun ist aber eben dies, die Erinnerung an die Philosophie als theoretische Lebensform, d.h. als Lebensform (und nicht lediglich als ein akademisches „ Fach“ unter anderen), der Punkt, an dem der prekäre Status einer solchermaßen verstandenen Philosophie in der heutigen Universität abgelesen werden kann – und im weiteren auch jeder sich philosophisch verstehenden Geisteswissenschaft wie der Literaturwissenschaft (die heute unter dem Paradigma der „ Kulturwissenschaft“ jene alte Verbindung zur Philosophie m.E. mit fatalen Folgen zu kappen im Begriff ist, wenn sie nicht auch offen bleibt für den in der alteuropäischen Tradition vorhandenen Reichtum an Einsichten). Denn unter dem Diktat der Drittmitteleinwerbung hat eine vordergründig nicht auf Relevanz abzielende akademische Beschäftigung mit den Fragen, die das Ganze der Welt und des Menschen betreffen, wohl wenig Aussicht auf Wettbewerbsfähigkeit. Pieper schloß sich ausdrücklich an den, wie er sagt, „ einigermaßen aggressiven Satz“ Newmans an, der da lautet: University teaching without Theology is simply unphilosophical. Ein Universitätsunterricht ohne Theologie ist einfach unphilosophisch.25 Für Pieper steht es außer Frage, daß eine Universität im strengen Sinne, also als eine Institution, „ die das Ganze von Welt und Dasein vor die Augen zu bringen beansprucht und verpflichtet ist“ , ohne Theologie schlechterdings nicht existieren kann. Dem entspricht aber andererseits die Verpflichtung einer solchermaßen unverzichtbaren Theologie, sich auch den Erkenntnissen der vielen Einzelwissenschaften nicht zu verschließen, die in einem Bezug zu den theologischen Aussagen über Mensch und Welt stehen. Es ist wohl kein Zufall und angesichts der gegenwärtig vor allem in den USA geführten Kontroversen höchst aktuell, daß Pieper hier insbesondere auf die Evolutionsforschung verweist.26 Aber das nur nebenbei. Für unsere heutige Situation von größtem Interesse ist, wie mir scheint, was Pieper in seinen Bestimmungsversuchen des Akademischen ausführt. So betont er etwa die „ Unvereinbarkeit des _______________ 25 J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 112; vgl. J.H. Newman, Idee einer Universität (Anm. 2), 51. 26 Siehe J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 113. Till Kinzel 124 Akademischen mit dem Richtbild des ‚Arbeiters’“ 27, der einerseits in Anlehnung an Ernst Jüngers frühe Schrift Der Arbeiter, andererseits auch ganz allgemein als Charakteristikum unserer Zeit zu verstehen ist und mit dem sich Pieper auch andernorts intensivst auseinandergesetzt hat.28 Für Pieper war es in diesem Zusammenhang selbstverständlich, daß sich die „ Haltung der philosophischen theoria einerseits und die Haltung der worauf immer abzielenden Erfüllung eines absolut gesetzten ‚Plan-Solls’ andererseits ausschließen“ 29. Dem Sophisten wiederum ordnet Pieper das „ bloß bildungsmäßig Humanistische“ 30 zu; der Sophist, so Pieper, „ ist eine zeitlose Figur“ , und dies bedeute, „ daß der Kampf, den Sokrates-Platon gegen Protagoras und Gorgias geführt haben“ 31, nie zu Ende sei. Die Sophistik ist mehr als eine historische Gegebenheit, und deshalb kann Pieper pointiert sagen: „ Akademisch heißt antisophistisch“ , mit starkem Bezug auf Platon als den Gründer der Akademie. Der Keim des Sophistischen liege bereits im gegenüber dem Inhaltlichen höher gewichteten „ bloß Formalen“ . Wesensprinzip des Akademischen ist dagegen nach Pieper „ die innere Normierung des Geistes durch die Wahrheit“ 32; der Verfall der akademischen Freiheit kann daher in Piepers Sicht nur von einer Geisteswissenschaft aufgehalten werden, die sich dieser inneren Normierung verpflichtet weiß.33 Das für das Akademische im eigentlichen Sinne gefährliche Phänomen ist eben das, welches das Akademische unter der „ Maske des Akademischen selbst“ 34 verrät, und zwar dadurch, daß es nicht auf die „ Verehrung vor allem des Seienden selbst“ gegründet ist.35 Nun wird der Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts sich fragen, was das nun heißen solle – „ Verehrung“ ? Verehrung könne doch wohl nicht das Eigentliche der Universität betreffen, _______________ 27 Ebd., 45. Siehe z.B. J. Pieper, Verteidigungsrede für die Philosophie, München 1966, 44ff.; Muße und Kult, München 1965, 21ff.; W as heißt philosophieren? Vier Vorlesungen, München 1988, 12ff. 29 J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 49. 30 Ebd., 46. 31 Ebd. 32 Ebd., 48. 33 Siehe ebd., 49. 34 Ebd., 51. 35 Siehe Platon, Politeia 480a (ed. G. Eigler, Bd. 4, Darmstadt 21990, 464f.): Sokrates spricht hier von den jegliches Seiende selbst Liebenden, die man weisheitsliebend und Philosophen nennen müsse – im Gegensatz zu meinungsliebend! 28 Philosophie und Bildung 125 als eine Haltung, wie Pieper sagt, die „ von jeder Institution wissenschaftlichen Lehrens und Lernens“ verkörpert werden müsse, die wahrhaft akademisch zu sein beansprucht. Da kommen dem modernen Menschen doch eher Begriffe wie Kritik in den Sinn, ja auch das „ nil admirari“ des Spinoza mag hier noch eher angehen als die Forderung nach der Verehrung des Seienden selbst. Verehrung heißt nun aber für Pieper tatsächlich das zunächst auch „ unkritische“ , „ schweigend empfangende Vernehmen von Wirklichkeit“ , das essentiell zur theoretischen Einstellung gehört. Dies mag nun alles schon problematisch genug sein, wenn man von den heutigen Gegebenheiten ausgeht. Aber Pieper geht noch einen Schritt weiter, von dem er weiß, daß er in ein Minenfeld hineinführt. Piepers Position einer Kritik am Anti-Akademischen ist brisant, weil sie nicht den Dogmen einer potentiell alle Lebensbereiche durchdringenden politischen Theologie in Form einer demokratischen Zivilreligion entspricht.36 Denn Pieper bestimmt das Akademische ausdrücklich so, daß er es vom Bereich der „ Vielen“ abgrenzt, wobei er sich ausdrücklich auf Platon beruft, der ja bekanntermaßen in seinen Dialogen in vielen Spielarten den Gegensatz von Philosophie und Menge in Szene setzte. Nun ist auch Pieper zufolge „ der Begriff des Akademischen ein undemokratischer Begriff“ 37 und zwar aus einer eminent realistischen Einsicht in die Strukturbedingungen menschlicher Existenz heraus. Denn der Begriff des Akademischen besagt, so Pieper, daß es Rangunterschiede gibt; daß das Menschsein sich auf höhere und niederere Weise realisieren könne; daß die Vielen, der Durchschnittsmensch, die Mehrheit, der ‚common sense’ nicht als eine in Betracht kommende oder gar als die letzte Instanz gelten können, wenn zur Frage steht, was tiefsten Grundes für den Menschen wahr, gut und sinnvoll ist.38 Gerade heute, wo sich eine seit Jahrzehnten anbahnende Entnormativisierung in den Geisteswissenschaften auswirkt, also die oft politisch oder wirtschaftlich motivierte Entwertung des Kanons der Literatur und der Philosophie, und die „ wertneutra_______________ 36 Siehe J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 54. Ebd., 57. 38 Ebd. 37 126 Till Kinzel le“ Betrachtung aller Dinge unter dem Rubrum der „ Kultur“ zur gängigen Münze wird, bedarf es einer „ Kultur“ -Kritik weit mehr als einer Kulturwissenschaft. Gerade heute ist die Piepersche Kritik an der Sophistik von größter Aktualität. Dazu aber gehört auch die Zurückweisung des „ Geltungsanspruch(s) jener Scheinwirklichkeit“ anspruchsloser Unterhaltung, die zur „ Stillegung der öffentlichen Langeweile“ dient – und jedenfalls nichts mit der aufs Letzte zielenden kritischen Reflexion gemein hat. Und noch eine weitere Paradoxie, auf die Pieper hinweist, gilt es im Zeitalter der Forschungsevaluitis39 im Gedächtnis zu behalten: „ Fruchtbar für die Praxis ist die theoria nur, solange sie sich nicht darum sorgt, es zu sein“ 40. Für eine zeitgemäße und dabei notwendigerweise kritische „ Idee einer Universität“ wären diese Gedanken immer wieder aufs neue zu bedenken – gerade weil dies so fern mancher heutiger Praxis scheint. III. Abschließend läßt sich sagen, daß sowohl Newman wie Pieper in einer Tradition stehen, die gegen das moderne Paradigma der Philosophie und Wissenschaft die klassische Konzeption der Theorie nicht aufgibt und der Kontemplation und damit dem Fragen nach den ersten Ursachen Raum gibt, ohne diese damit schon z.B. in einem konfessionellen Sinne zu präjudizieren. Newman wie Pieper erinnern deutlich daran, daß es die Aufgabe einer philosophisch fundierten Universitätsbildung ist, grundsätzlich keinen denkbaren Aspekt der Wirklichkeit aus der Erörterung auszuscheiden. Damit ist m.E. keine vorgängige Entscheidung für die Wahrheit einer bestimmten Offenbarung und auch nicht für die bloße Existenz von Offenbarung verbunden. Vielmehr geht es darum, einen Denkraum zu eröffnen, der die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit einbezieht, ohne ideologische Scheuklappen und Polarisierungen. Deshalb kommt der säkularen, d.h. genuin philosophischen Argumentation bei beiden Autoren so großes Gewicht zu: Ihre Position kann aus sich selbst überzeugen, ohne Rekurs _______________ 39 Siehe nur z. B. den eindringlichen Aufsatz von M. Osterloh/ B.S. Frey, „ Die Krankheit der Wissenschaft. Der Forschungsbetrieb leidet am Über-maß falsch ausgerichteter Evaluationen“ , in: Forschung & Lehre 11/ 07, 670-673 (zuerst in der F.A.Z. erschienen). 40 J. Pieper, W as heißt akademisch? (Anm. 1), 69. Philosophie und Bildung 127 auf Glaubenswahrheiten, die von Außenstehenden nicht geteilt werden, und sollte als eine Grundlage der Auseinandersetzung für Atheisten, Agnostiker und Indifferente gleichermaßen akzeptabel sein. Denn es dient auch der Schärfung der säkular philosophischen wie wissenschaftlichen Vernunft, wenn es an der Universität unterschiedliche Vernunftkonzeptionen gibt, die sich miteinander auseinandersetzen müssen. Newmans und Piepers Beitrag für eine philosophische Bildung, die auch an der Universität ihre Heimstätte finden soll, liegt darin, an das zu erinnern, was man in der Vergangenheit schon einmal wußte, als man von „ freier Bildung“ , von „ artes liberales“ oder eben auch in englischer Sprache von „ liberal education“ sprach.41 Wie der englische Philosoph Michael Oakeshott gesagt hat – der einen den Beiträgen Newmans wie Piepers vergleichbar gewichtigen Beitrag zu einer Wiedergewinnung des Wesens der Bildung geleistet hat42 – muß sich jede Generation und jeder einzelne mit dem Problem von Glauben und Vernunft auseinandersetzen und eine Antwort darauf finden. Die Universität kann unter den Bedingungen der Moderne diese Antwort nicht einfach bieten, sie kann aber dafür sorgen, daß alle wichtigen Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Problem von Grund aus zu durchdenken und so das bildende und kultivierende Gespräch der Menschheit nicht abbricht. _______________ Siehe J. Pieper, Erkenntnis und Freiheit. Essays, München 1964, 10. Siehe M. Oakeshott, The Voice of Liberal Learning, ed. T. Fuller, New Haven 1989. – Siehe dazu jetzt auch T. Kinzel, Michael Oakeshott. Philosoph der Politik, Schnellroda 2007, v.a. 42-47. 41 42