STUDIEN DES
FRANKREICH-ZENTRUMS
DER ALBERT-LUDWIGSUNIVERSITÄT FREIBURG
Band 23
Herausgegeben vom
Frankreich-Zentrum der
Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg
Denis Diderot und die Macht
Denis Diderot et le pouvoir
Herausgegeben von
Études réunies par
,VDEHOOH'HÀHUV
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Druck und Bindung: Hubert und Co., Göttingen
Inhaltsverzeichnis / Table des matières
Isabelle Deflers, Einführung / Introduction
Das Konzept von „Macht“ bei Denis Diderot in Politik und Gesellschaft ....................... 7
Le concept de „pouvoir“ chez Denis Diderot en politique et société ............................. 25
Sven Externbrink, Diderot und das europäische Staatensystem 1713–1786 ................... 43
Isabelle Deflers, Diderots Auseinandersetzung mit dem
„aufgeklärten Despotismus“ Preußens ............................................................................ 61
Martin Faber, Diderot und die erste polnische Teilung 1772 ......................................... 83
Michel Kerautret, Diderot et la Révolution américaine ................................................ 101
Gerhardt Stenger, Diderots Beitrag zu Raynals Geschichte beider Indien:
das erste Donnergrollen der französischen Revolution ................................................ 121
Theo Jung, Stimmen der Natur: Diderot, Tahiti und der homme naturel ..................... 135
Pierre Chartier, Fondements anthropologiques de la pensée
politique de Diderot au temps de l’Encyclopédie: l’article „Droit naturel“ ..................157
Thomas Klinkert, Diderots subversive Ästhetik als Ausdruck seiner kritischen
Analyse von Machtstrukturen: Le neveu de Rameau und Jacques le fataliste ............. 181
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................................ 195
5
Theo Jung
Stimmen der Natur: Diderot, Tahiti und der homme naturel
Zusammenfassung/Résumé
Im Supplément au voyage de Bougainville setzt sich Diderot am Beispiel Tahitis mit Fragen der
Macht, der Sexualität und der Kolonialherrschaft auseinander. Der Text gilt als Paradebeispiel
für die exotistische Verklärung eines fremden Naturvolkes als Kontrastbild zur Verkommenheit
abendländischer Zivilisation. Und tatsächlich gibt es Stimmen im Text, die einer solchen
Idealisierung und einem ‚Zurück zur Natur‘ das Wort reden. Aber es gibt auch andere. Erst die
Auflösung der Stimmenvielfalt des Textes zugunsten der Identifikation einer eindeutigen
Grundaussage lässt bestimmte Äußerungen im Text als Elemente einer systematischen
‚Naturtheorie‘ Diderots erscheinen. Jedoch muss eine solche Lesart nicht nur eine konstitutive
Ebene des Textes – seine multiperspektivische Form – außer Acht lassen, sie verstrickt sich
auch auf inhaltlicher Ebene in Widersprüche. In diesem Beitrag wird versucht, die
verschiedenen Positionen im Text in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Aus diesem
Blickwinkel zeigt sich, dass Diderot sich keineswegs als autoritatives Sprachrohr der Natur
aufführt. Im Gegenteil. Indem er die Vielfalt der Stimmen, die sich auf die ‚natürliche‘ Ordnung
als Legitimitätsbasis ihrer jeweiligen Autorität beziehen, miteinander kontrastiert, zeigt er
performativ, was es heißt, sich auf die Veränderlichkeit der Natur einzulassen, ohne den
Anspruch zu erheben, sie ein für alle Mal festlegen zu können.
Dans le Supplément au voyage de Bougainville, Diderot aborde des questions relatives au
pouvoir, à la sexualité et à la puissance coloniale. Le texte semble fournir un exemple type
d’idéalisation exotique d’un peuple étranger vivant en harmonie avec la nature, dont la fonction
est de contraster avec la dégénération de la civilisation occidentale. Et en effet, certaines voix
dans ce texte s’expriment en faveur d’une telle idéalisation et d’un „retour à la nature“. Mais il y
en a d’autres aussi. Ce n’est qu’en diluant la diversité des voix de ce texte pour identifier un
message principal explicite, que certains propos peuvent être interprétés comme éléments
constitutifs d’une théorie systématique de la nature chez Diderot. Cependant une telle lecture ne
doit pas seulement faire abstraction de la manière dont le texte est élaboré, c’est-à-dire de sa
forme impliquant de multiples perspectives, elle s’embrouille aussi au niveau du contenu dans
des contradictions. Cet article tente donc d’envisager les différentes positions exprimées dans ce
texte en relation les unes par rapport aux autres. Sous cet angle, on observe que Diderot ne se
présente aucunement comme le portevoix autoritaire de la nature. Au contraire. En contrastant
les diverses voix qui font référence à l’ordre naturel en tant que base sur laquelle se fonde leur
autorité, il montre de manière performative ce que cela implique de considérer le caractère
changeant de la nature sans prétendre pouvoir la définir une fois pour toute.
Als Louis-Antoine de Bougainville im November des Jahres 1766 von Nantes
mit der Fregatte La Boudeuse und der Fleute l’Étoile aufbrach, um die Welt zu
umsegeln, stand seine Reise zunächst unter dem Zeichen der Exploration. An
135
Theo Jung
Bord waren verschiedene Wissenschaftler, darunter der Astronom Pierre-Antoine
Véron und der Botaniker Philibert Commerçon.1 Ein weiteres mindestens so
wichtiges Ziel der Reise war aber auch die Sicherung der militärischen und wirtschaftlichen Interessen Frankreichs im kolonialen Raum. Nach den schmerzlichen Niederlagen des Siebenjährigen Krieges und den erfolgreichen Versuche
anderer Nationen war die erste Weltumseglung eines Franzosen eine Ehrensache.
Es ist bezeichnend, dass der prestigeträchtige Auftrag des Herzogs de Choiseul
einem Kapitän der französischen Marine erteilt wurde, der sich nicht nur militärisch im französischen und Indianerkrieg – dem amerikanischen Pendant zum
Siebenjährigen Krieg – verdient, sondern auf den Falklandinseln auch erste Erfahrungen in der Koloniegründung gemacht hatte.2
Als Bougainville und seine Begleiter nach fast vier Jahren am 16. März 1769
in Saint-Malo wieder französischen Boden betraten, gelang der Kapitän über
Nacht zu Berühmtheit. Er wurde von Choiseul und Ludwig XV. persönlich empfangen, hatte aber auch im Pariser beau monde großen Erfolg. Vor allem die Tatsache, dass er von seiner Reise einen Tahitianer namens Aotourou, den Sohn eines Stammesfürsten, mitbrachte, löste eine Sensation aus. Die unmittelbare
Begegnung mit dem Fremden setzte die Einbildungskraft der Pariser in Bewegung. Sie erregte Sehnsucht nach einer verlockenden, exotischen Welt, löste aber
auch Reflexionen darüber aus, wie fremd alles, was den Parisern selbstverständlich und alltäglich war, in den Augen des Tahitianers erscheinen musste. Auf
dem Umweg über den Blick des Fremden erhielt die französische Öffentlichkeit
eine reflexive Distanz zur eigenen Gesellschaft, die ihr neue, potenziell kritische
Perspektiven eröffnete.
Anstoß für die schriftlich-literarische Auseinandersetzung mit Tahiti bildete
ein offener Brief Commerçons vom 25. Februar 1769, der in der Novemberausgabe des Mercure de France abgedruckt wurde. Darin schwärmte der Botaniker
in den höchsten Tönen von der von ihm besuchten Insel und ihren Bewohnern.
Cette Isle me parut telle, que je lui avois déjà appliqué le nom d’Utopie ou de fortunée, que Thomas Morus avoit donné à sa République idéale […]. Le nom que je
lui destinois convenoit à un pays, le seul peut-être de la terre, où habitent des
hommes sans vices, sans préjugés, sans besoins, sans dissensions.
1
2
136
Commerçon brachte es selbst später zu einiger Berühmtheit. Nicht nur, weil er eine
südamerikanische Blumensorte nach seinem Kapitän benannte, sondern vor allem,
weil sich während der Fahrt herausstellte, dass sein Assistent Jean Baret in Wirklichkeit Jeanne hieß – sodass die Reise Bougainvilles auch die erste Weltumseglung einer Frau war.
1764 stiftete Bougainville auf den heutigen Falklandinseln eine Siedlung, die er
nach der Stadt seiner Abreise, Saint-Malo, les nouvelles Malouines nannte. Die Kolonie wurde 1767 an Spanien verkauft. Alexander H. Bolyanatz: Pacific Romanticism. Tahiti and the European Imagination, Westport, CT 2004, S. 25–41. Zur Biographie siehe Etienne Taillemite: Bougainville, Paris 2011.
Stimmen der Natur
Nés sous le plus beau ciel, nourris des fruits d’une terre qui est féconde sans culture, régis par des pères de famille plutôt que par des Rois, ils ne connoissent
d’autre Dieu que l’amour; tous les jours lui sont consacrés, toute l’Isle est son
temple, toutes les femmes en sont les idoles, tous les hommes les adorateurs.3
In diesem Schreiben waren die Kernthemen alle schon angesprochen, welche die
Debatte in der Folge beherrschen würden: der natürliche Reichtum, die sonderbare soziopolitische Struktur, vor allem aber die sexuelle Moral. Nur wenige Monate später nahm der Publizist Nicolas Bricaire de La Dixmerie die Notizen Commerçons und die Begegnung mit Aotourou zum Anlass für eine erste literarische
Verarbeitung. In der Einleitung zu seinem Le sauvage de Taïti aux Français
schilderte der Autor Tahiti ganz im Sinne Commerçons als tropisches Paradies
und Verwirklichung des rousseauschen Naturzustandes. Inmitten der reichen Gaben der Natur hätten die Insulaner eine Lebensform entfaltet, die dem Europäer
sicherlich unzivilisiert – und in manchen Aspekten sogar unanständig – erscheinen musste, die aber schließlich für das menschliche Glück sehr viel ergiebiger
sei, als es die strenge Pariser Moral je sein könne.
Il est vrai que les Mœurs Taïtiennes sont peu rigides; mais elles sont simples &
vraies; leurs plaisirs sont vifs & paisibles. Ces Sauvages, si bornés, ont pris la voie
la plus courte pour arriver au bonheur.4
Im Haupttext ließ La Dixmerie den sauvage Aotourou selbst5 zu Wort kommen.
Selbstbewusst kritisiert dieser seine Pariser Gastgeber, deren Sitten sich von der
Natur entfernt hätten, und deutet an, dass letztendlich nicht er, sondern sie die
eigentlichen Barbaren seien: „Oui, Barbares que vous ̂tes! vous ne connûtes jamais la dignité de l’espèce humaine.“6
1.
Textstruktur und der Blick des Fremden
Die Faszination für die Tahitianer war also bereits gefestigt, als Bougainville Anfang 1771 seinen eigenen Bericht über die Reise vorlegte, der wiederum Anlass
3
4
5
6
Philippe Commerçon: Lettre sur la découverte de la nouvelle isle de Cythère ou
Taïti, in: Mercure de France (November 1769), S. 197–207, hier S. 197–198.
[Nicolas Bricaire de La Dixmerie]: Le sauvage de Taïti aux Français. Avec un Envoi au Philosophe Ami des Sauvages, London u. a. 1770, S. viii.
Selbstverständlich handelte es sich um eine Fiktion. Aotourou hatte die französische Sprache nie gelernt. Er trat 1770 die Rückreise nach Tahiti an, aber starb unterwegs.
Ebd., S. 10, 35–36. Vgl. ähnlich: Denis Diderot: Supplément au voyage de Bougainville, ou Dialogue entre A. et B., in: Œuvres philosophiques, Paul Vernière
(Hg.), Paris 1964, S. 445–516, hier S. 503, 512. Im Folgenden wird durchgehend
nach dieser Ausgabe zitiert.
137
Theo Jung
für die Auseinandersetzung Diderots mit der Materie sein würde.7 Das erste Ergebnis dieser Reflexion Diderots war eine Rezension, die er für die von Friedrich
Melchior Grimm herausgegebene Correspondance littéraire, philosophique et
critique verfasste.8 Obwohl viele thematische Schwerpunkte des späteren Textes
in dieser Frühversion schon enthalten sind, fehlt ihr noch die für die Überarbeitung charakteristische textuelle Form.9 Das Gerüst dieser erweiterten Fassung –
die zunächst ebenfalls unveröffentlicht blieb und unter dem Titel Supplément au
voyage de Bougainville in die Geschichte eingegangen ist10 – bildet ein Dialog
zwischen zwei Personen (A. und B.), die sich über den Reisebericht Bougainvilles unterhalten. Nach einigen generellen Bemerkungen lesen die beiden gemeinsam ein noch unveröffentlichtes Supplement, das B. in seinem Besitz hat. Der
erste Teil dieses Supplements enthält das Transkript einer Rede, die beim Abschied der Franzosen von einem tahitianischen Greis gehalten worden sei. 11 Nach
7
8
9
10
11
138
Louis Antoine de Bougainville: Voyage autour du monde par la frégate du roi La
Boudeuse, et la flûte l’Étoile; en 1766, 1767, 1768 & 1769, Paris 1771. Tanja Hupfeld: Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in ausgewählten französischen Reiseberichten des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 321–392.
Diderot: Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse et la flûte
l’Étoile en 1766, 1767, 1768, 1769 sous le commandement de M. de Bougainville,
in: Œuvres complètes, Jules Assézat (Hg.), Bd. 2, Paris 1875, S. 199–206. Dieser
Text wurde nie veröffentlicht, wahrscheinlich da Grimm selbst Bougainville 1766
in der Correspondance heftig angegriffen hatte; Jules Assézat: Notice préliminaire,
in: Diderot: Œuvres complètes, Jules Assézat (Hg.), Bd. 2, Paris 1875, S. 195–198,
hier S. 195.
Die Manuskripte unterscheiden sich nicht nur untereinander, sondern jeweils auch
vom Text der Erstveröffentlichung. Neben kleineren Korrekturen besteht der wichtigste Unterschied in der Erweiterung um einen Exkurs, in dem eine an Benjamin
Franklin entlehnte Anekdote über einen amerikanischen Gerichtsfall nacherzählt
wird. Diese Ergänzung wurde zwischen 1778 und 1779 vorgenommen. Paul Vernière: Introduction au Supplément au Voyage de Bougainville, in: Diderot: Œuvres
philosophiques, Paul Vernière (Hg.), Paris 1964, S. 447–453, hier S. 450–451.
[Benjamin Franklin]: The Speech of Miss Polly Baker, before a Court of Judicature, at Connecticut near Boston in New-England, in: The Gentleman’s Magazine
16 (April 1747), S. 175–176.
Der Text zirkulierte als Manuskript bevor er 1796 vom Abbé Bourlet de Vauxcelles veröffentlicht wurde, der ihn als Beweis für Diderots Rolle als „instituteur de la
sans-culotterie“ betrachtete. Diderot: Supplément au voyage de Bougainville. Dialogue sur l’inconvénient d’attacher des idées morales à certaines actions physiques
qui n’en comportent pas, in: [Simon-Jérôme Bourlet de Vauxcelles] (Hg.): Opuscules philosophiques et littéraires. La plupart Posthumes ou inédites, Paris 1796,
S. 187–270; [Simon-Jérôme Bourlet de Vauxcelles]: À l’éditeur, in: Ders. (Hg.):
Opuscules philosophiques, S. 271. Assézat: Notice, S. 196.
Der Greis wurde schon in Bougainvilles Reisebericht erwähnt; Bougainville: Voyage, S. 192–193.
Stimmen der Natur
einer kurzen Erörterung über den Inhalt und die Überlieferung der Rede lesen A.
und B. weiter. Es folgt die Niederschrift eines längeren Dialogs zwischen Orou,
einem Tahitianer, der des Spanischen mächtig ist, und einem Schiffsgeistlichen.
Etwa in der Mitte dieses Dialogs unterbrechen A. und B. die Lektüre kurz, um
sich über das Gelesene zu unterhalten und eine Marginalie zum Supplement zu
studieren. Erneut handelt es sich um die Abschrift einer Rede. Diesmal ist die
Rednerin die Angeklagte in einem Gerichtsfall in Neuengland, Polly Baker. Nach
der Lektüre der zweiten Hälfte des Dialogs zwischen Orou und dem Geistlichen
ziehen A. und B. noch einmal Bilanz.12
Die komplexe Struktur des Supplément – genauer wäre: des von Diderot verfassten Textes über ein fiktives Supplement zu Bougainvilles Reisebericht – vereint verschiedene formale Elemente, die in der zeitgenössischen Debatte über das
Verhältnis zwischen Natur und Zivilisation Tradition hatten. Dies betraf zunächst
die fiktionalisierte Stimme des außereuropäischen Redners. Schon 1704 hatte der
Marineoffizier Louis-Armand de La Hontan die Berichte über seine Reisen durch
la Nouvelle France um das Transkript eines Dialogs mit Adario, einem Stammeshäuptling der Huronen, ergänzt.13 Spätestens seit Montesquieu 1721 in seinen
Lettres persanes die Perser Usbek und Rica hatte zu Wort kommen lassen, 14 war
die pseudo-exotisierende Betrachtung europäischer Sitten durch die Augen fiktiver oder fiktionalisierter Außenseiter ein fest etablierter Topos der französischen
– und europäischen – Literatur. Ob es sich um Perser, Peruaner, Irokesen oder
andere Exoten handelte, die Beschreibung der europäischen Gesellschaft aus der
Sichtweise des Fremden bot dem Autor die Gelegenheit, die widersprüchlichen
und zum Teil lächerlichen Elemente der etablierten Strukturen der europäischen
Zivilisation hervorzuheben.15
12
13
14
15
Ein dritter Teil des Dialogs wird erwähnt, aber nicht ‚gelesen‘. Diderot: Supplément, S. 507.
Louis-Armand de Lom d’Arce, Baron de La Hontan: Dialogues de Monsieur le
Baron de La Hontan et d’un sauvage dans l’Amérique, Amsterdam 1704.
Charles-Louis Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu: Lettres persanes,
Amsterdam 1721. Montesquieu konnte wiederum auf ein populäres Werk Jean Paul
Maranas zurückgreifen: [Jean Paul Marana]: L’espion dans les cours des princes
chrétiens, ou lettres et mémoires d’un envoyé secret de la porte dans les cours de
l’Europe, 6 Bde., [Köln] 1700. C. J. Betts: Early Deism in France. From the socalled „déistes“ of Lyon (1564) to Voltaire’s „Lettres philosophiques“ (1734), Den
Haag u. a. 1984, S. 97–99.
Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem
Schema der „Lettres persanes“ in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1979; Robert Charlier: Der Jargon des Fremdlings. Fiktive Sprechweisen als Mittel der Gesellschaftskritik im
18. Jahrhundert, in: Dirk Naguschewski / Jürgen Trabant (Hg.): Was heißt hier
„fremd“? Studien zu Sprache und Fremdheit, Berlin 1997, S. 163–180. Siehe auch:
Gerd Stein (Hg.): Exoten durchschauen Europa. Der Blick des Fremden als ein
Stilmittel abendländischer Kulturkritik, Frankfurt a. M. 1984.
139
Theo Jung
Die reflexive Funktion der außereuropäischen Stimme in der literarischen
Darstellung bekam eine weitere Dimension, wenn sie – wie es La Hontan ebenfalls schon vorgemacht hatte – in einem Zwiegespräch mit einer europäischen
Stimme eingebettet war.16 Das „interkulturelle Streitgespräch“ zeichnet sich, wie
Hans-Günter Funke dargelegt hat, als Subgattung der im 18. Jahrhundert überhaupt sehr populären Dialogform durch eine „extreme Radikalisierung der Alterität der Gesprächspartner, der Tragweite der von ihnen diskutierten Thematik und
der Folgenschwere ihres Persuasionsziels“ aus. In „einer Art ‚Rollentausch‘“, so
Funke, „übernimmt der Exot als ‚Spielführer‘ die Leitung des Gesprächs, trägt
die besseren Argumente vor und überwindet seinen europäischen Gesprächspartner.“17
Das Gespräch des angeblichen ‚La Hontans‘ mit Adario ist in dieser Hinsicht
exemplarisch. Am Schluss der Dialoge – über Religion, Gesetzesordnung, Glück,
Gesundheit und Sexualität – hat sich ein kompletter Rollentausch vollzogen. Der
Europäer (‚La Hontan‘ als Textfigur) sieht sich am Ende seiner Mission, die Barbaren zu belehren, selbst belehrt. Er muss sich eingestehen, dass seine ausgeklügelte Dialektik gegen den natürlichen common sense des Indianers keine Chance,
und dass die egalitäre und besitzlose Gemeinschaft der Indianer der fortgeschrittenen französischen Gesellschaft gegenüber eindeutige Vorzüge hat.18 Umgekehrt zeigt sich die außereuropäische Figur, Adario, immer weniger bereit, die
Argumente des Europäers ernst zu nehmen. Während er am Anfang des Dialogs
lediglich das Recht für sich beansprucht, die europäische Sichtweise punktuell in
Zweifel zu ziehen, verliert sich seine Toleranz zusehends, bis er am Ende des
Dialogs selbst in die Rolle des Missionars schlüpft: „Ainsi, mon Frère, crois tout
ce que tu voudras, aïe tant de foy qu’il te plaira, tu n’iras jamais dans le bon pais
des Ames si tu ne fais Huron.“19 Der argumentative Sieg des Vertreters der „philosophes nuds“20 ist total und die dialogische Ausgangssituation löst sich in eine
monologische Kritik der europäischen Gesellschaft auf.21
16
17
18
19
20
21
140
Dena Goodman: The Structure of Political Argument in Diderot’s Supplément au
voyage de Bougainville, in: Diderot Studies 21 (1983), S. 123–137, hier S. 125.
Hans-Günter Funke: Reise nach Utopia. Studien zur Gattung Utopie in der französischen Literatur, Münster 2005, S. 201. Siehe auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Dialogizität. Europäisch-außereuropäische Dialoge bei La Hontan und
Clavijero, in: Gabriele Vickermann-Ribémont / Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und
Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 49–67.
La Hontan: Voyages du Baron de La Hontan dans l’Amérique septentrionale,
Bd. 2, Amsterdam 1705, S. 224. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“.
Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991, S. 234–235.
La Hontan: Dialogues, S. 33.
Ebd., o. S.
Doris L. Garraway: Of Speaking Natives and Hybrid Philosophers. Lahontan, Diderot, and the French Enlightenment Critique of Colonialism, in: Daniel Carey /
Stimmen der Natur
Ist ein solcher Rollentausch – und damit eine Monologisierung des Dialogs –
auch in Diderots Supplément gegeben?22 Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Zum einen schon aufgrund der Textstruktur: Die Textteile, in denen Tahitianer zu Wort kommen – die Rede des Greises und Orous Dialogbeiträge –
sind in einer Rahmenerzählung, die selbst wiederum Dialogform hat, eingebettet.
Im komplexen Gewebe von auktorialer Ebene, dialogischer Rahmenerzählung
und transkriptiven Einschüben verliert sich die eindeutige Autorität einzelner
Stimmen. Zum anderen aber auch, weil Diderot an entscheidenden Stellen zur
Verklärung des Tahitianers ausdrücklich auf Distanz geht und Dissonanten aufklingen lässt, die den harmonischen Einklang der verschiedenen Stimmen durchbrechen. Bei der Beantwortung der Frage, wie Diderot in seiner Auseinandersetzung mit Tahiti die Frage nach der Macht neu stellt, gilt es also, die inhaltlichen
Aussagen des Textes systematisch mit seiner Form zusammenzudenken.
2.
Sex, Macht, Besitz und der edle Wilde
Das thematische Herz des Textes bildet die Frage nach der Regulierung menschlicher Sexualität. Von Anfang an hatte das Thema der freien Lust im Zentrum der
europäischen Faszination für Tahiti gestanden. Bougainville hatte die Insel in
Anspielung auf die griechische Insel Kythira (der Legende nach der Geburtsort
der Aphrodite) la nouvelle Cythère getauft.23 Diderot nimmt dieses Motiv auf
und lässt Orou und den Greis ausführlich über die sexuellen Sitten der Insel berichten.
Die Tahitianer, lernen wir, betrachten Sexualität generell als „un plaisir innocent, auquel nature, la souveraine maîtresse, nous invite tous“.24 Scham,
Schuldgefühl, Angst, die ganzen Inhibitionen, von denen die Europäer in Bezug
auf ihre Sexualität heimgesucht werden, sind den Insulanern fremd. Orou bietet
dem Schiffskaplan nach seiner Ankunft auf der Insel nicht nur eine Mahlzeit und
ein Bett, sondern auch die Wahl zwischen seinen drei Töchtern oder seiner Frau.
Als der Geistliche unter Hinweis auf sein Amt zunächst ablehnt, erklärt Orou
ihm, dass er es nicht nur sich, sondern auch seinem Gastgeber und den Frauen
selbst schuldig ist, ihnen die Ehre zu erweisen, mit ihnen zu schlafen.25 Obwohl
es auf Tahiti eine Form der Ehe gibt, beruht sie auf Freiwilligkeit und kann jederzeit aufgelöst werden. Selbst der Inzest zwischen Vätern und Töchtern oder
22
23
24
25
Lynn Festa (Hg.): The Postcolonial Enlightenment. Eighteenth-Century Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford u. a. 2009, S. 207–239, hier S. 211–220.
Vgl. beispielsweise: Andrew Curran: Logics of the Human in the Supplément au
Voyage de Bougainville, in: James Fowler (Hg.): New Essays on Diderot, Cambridge 2011, S. 158–171.
Commerçon: Lettre, S. 198.
Diderot: Supplément, S. 476.
Ebd., S. 470.
141
Theo Jung
Brüdern und Schwestern wird nicht nur geduldet, sondern gilt unter bestimmten
Bedingungen sogar als die optimale Form sexueller Beziehungen.26
Das Thema der Sexualität stellt für Diderot gleichsam die Fallstudie dar, um
die er seine Überlegungen über das Verhältnis zwischen staatlich-religiöser Regulierung und Naturordnung kreisen lässt. Leitfrage ist dabei, was passiert, wenn
die freie Entfaltung natürlicher Impulse durch religiöse, moralische oder gesetzliche Ordnungen eingeschränkt wird. Der Blick auf die Sexualität zeigt, wie B.
im letzten Teil des Dialogs feststellt, dass paradoxerweise erst die zivilisierte
Ordnung zu den Widersprüchen und Problemen führt, unter denen die Europäer
leiden, „la passion de l’amour, réduite à un simple appétit physique, n’y produisait aucun de nos désordres.“27
Die zwei ordnenden Instanzen, auf die sich der Text konzentriert, sind Staat
und Kirche. Schon am Anfang des Textes wird dabei eine der bevorzugten Zielscheiben aufklärerischer Religionskritik bemüht: die Jesuiten. Bougainville befand sich zufällig in Buenos Aires, als dort 1767 der Erlass des spanischen Königs Carlos III. eintraf, mit dem dieser die Verbannung der Orden vom
spanischen Besitz in Amerika verordnete. Damit wurde auch der sogenannten
Jesuitenreduktion, einer seit 1609 bestehenden Siedlung im heutigen Paraguay,
ein Ende gesetzt. Obwohl Bougainville der Beschreibung der Reduktion und der
Geschichte der Vertreibung der Jesuiten ein ganzes Kapitel seines Reiseberichts
widmet,28 stellt B. enttäuscht fest, dass er weit weniger über sie gesagt hat, als er
hätte tun können. Dennoch sei es genug „pour nous apprendre que ces cruels
Spartiates en jaquette noire en usaient avec leurs esclaves indiens, comme les
Lacédémoniens avec les ilotes“.29
Orou, dem aufgefallen ist, dass die schwarze Kleidung seines Gesprächspartners sich von der der übrigen Bemannung unterscheidet, bemüht sich, dessen
besonderen Status zu verstehen. Angesichts der Tatsache aber, dass der Kaplan
zugibt, dass er und seine Ordensbrüder prinzipiell keinerlei Arbeit verrichten,
fällt es ihm nicht leicht, ihre herausgehobene Stellung nachzuvollziehen. 30 Genauso wenig leuchtet ihm die Vorstellung eines allmächtigen, allwissenden und
allgegenwärtigen Gottes ein, „qui a tout fait sans t̂te, sans mains et sans outils;
qui est partout et qu’on ne voit nulle part; qui dure aujourd’hui et demain, et qui
n’a pas un jour de plus; qui commande et qui n’est pas obéi; qui peut emp̂cher,
et qui n’emp̂che pas.“31 Wirklich problematisch an der europäischen Religion
erscheint Orou aber vor allem, dass sie mit ihren Ideen von Gut und Böse die
natürlichen Triebe einzuschränken versucht. Schon nach dem kurzen Aufenthalt
26
27
28
29
30
31
142
Diderot: Supplément, S. 497.
Ebd., S. 503–504.
Bougainville: Voyage, S. 94–111.
Diderot: Supplément, S. 461.
Ebd., S. 501.
Ebd., S. 480.
Stimmen der Natur
des Priesters auf der Insel stellt der Greis im Verhalten der Insulaner eine merkliche Veränderung fest: „Cet homme noir [...] a parlé à nos garçons; je ne sais ce
qu’il a dit à nos filles; mais nos garçons hésitent; mais nos filles rougissent.“32
Ebenso fremd wie die Figur des Priesters ist den Tahitianern die des Magistraten. Überhaupt fehlt der Insel, wie Orou erklärt, jede Art übergeordneter politischer Ordnung.33 Dementsprechend ist auch die Stellung des Eigentums in der
tahitianischen Gesellschaft eine andere. Schon Commerçon hatte das europäische
Verständnis vom Besitztum mit dem tahitianischen, das im Sinne eines lex talionis auf eine ausgleichende Gerechtigkeit ausgerichtet sei, kontrastiert. Im Zentrum seiner Überlegungen stand dabei das Problem des Diebstahls, das in den Begegnungen zwischen Insulanern und Europäern immer wieder zu Konflikten
geführt hatte.
Qu’est-ce que le vol? C’est l’enlèvement d’une chose qui est en propriété à un
autre; il faut donc pour que l’un se plaigne justement d’avoir été volé, qu’il lui ait
été enlevé un effet sur lequel son droit de propriété étoit préétabli & avoué; mais ce
droit de propriété est-il dans la nature? Non; il est de pure convention. Aucune
convention n’oblige, à moins qu’elle ne soit connue & acceptée. Le Taïtien qui n’a
rien à lui, qui offre & donne généreusement tout ce qu’il voit désirer, ne l’a point
connue ce droit exclusif; donc l’acte d’enlèvement qu’il nous fait d’une chose qui
excite sa curiosité, n’est, selon lui qu’un acte d’équité naturelle par lequel il sçait
nous faire exécuter ce qu’il exécuteroit lui-m̂me. C’est un inverse du talion, par
lequel on s’applique tout le bien qu’on auroit fait aux autres.34
Diderot greift diesen Gedanken auf und lässt den Greis im Hinblick auf eine Episode, bei dem ein Tahitianer getötet wurde, der von den Europäern bei Diebstahl
ertappt worden war, vorwurfsvoll ausrufen: „Et pourquoi l’avez-vous tué? parce
qu’il avait été séduit par l’éclat de tes petits œufs de serpents. Il te donnait ses
fruits; il t’offrait sa femme et sa fille; il te cédait sa cabane: et tu l’as tué pour une
poignée de ces grains, qu’il avait pris sans te les demander.“35
Im kolonialen Kontext erhält die Problematik des Eigentums eine zusätzliche
Brisanz dadurch, dass die Europäer ihre Eigentumsvorstellungen nicht nur auf
das, was sie mitgebracht haben, sondern auch auf die Insel selbst und ihre Bewohner anwenden. Anstatt die Tahitianer als Brüder und ebenbürtige Kinder der
Natur anzuerkennen, machen die Europäer erste Anstalten, sie zu versklaven.
Auf einem Schild haben die Franzosen ihre Besitzansprüche den anderen Kolonialmächten gegenüber geltend gemacht: „Ce pays est à nous.“ An dieser Stelle
32
33
34
35
Diderot: Supplément, S. 470.
Ebd., S. 496–497.
Commerçon: Lettre, S. 204. In Bougainvilles Darstellung beschränkte sich die
Besitzteilung allerdings auf die „choses, absolument nécessaires à la vie“. Bougainville: Voyage, S. 216.
Diderot: Supplément, S. 470 und S. 503.
143
Theo Jung
tritt aus der Perspektive des Greises die ganze perfide Logik des europäischen
Eigentumsbegriffs an die Oberfläche:
Ce pays est à toi! et pourquoi? parce que tu y as mis le pied? Si un Tahitien débarquait un jour sur vos côtes, et qu’il gravât sur une de vos pierres ou sur l’écorce
d’une de vos arbres: Ce pays est aux habitans de Tahiti, qu’en penserais-tu? Tu es
le plus fort! Et qu’est-ce que cela fait? Lorsqu’on t’a enlevé une des méprisables
bagatelles dont ton bâtiment est rempli, tu t’es récrié, tu t’es vengé; et dans le
m̂me instant tu as projeté au fond de ton cœur le vol de toute une contrée!36
Die anti-koloniale Argumente, die Diderot dem kolonialen Subjekt in den Mund
legt, werden hier nur kursorisch angesprochen. Systematischer sollte Diderot sie
in seinen anonymen Beiträgen zu Raynals Histoire philosophique et politique des
établissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes, einem der populärsten und skandalträchtigsten Werken des späten achtzehnten Jahrhunderts,
ausarbeiten.37 Im Kontext des Supplément wird die Kolonialfrage jedoch an die
Thematik der Sexualität zurückgebunden. Die koloniale Zukunft Tahitis – die in
den Jesuitenkolonien schon Wirklichkeit geworden war – wirft seinen Schatten
voraus in der Art und Weise, wie die Europäer die natürliche Anziehungskraft
zwischen den Geschlechtern in die Form eines Besitzverhältnisses gießen.38
„Ici“, spricht der Greis, „tout est à tous; et tu nous as prêché je ne sais quelle
distinction du tien et du mien. Nos filles et nos femmes nous sont communes; tu
as partagé ce privilège avec nous; et tu es venu allumer en elles des fureurs inconnues.“39 Die Introduktion der Kategorien Mein und Dein in die Geschlechterverhältnisse ist gegennatürlich, so Orou, da dies voraussetze, dass „un ̂tre sentant, pensant et libre, peut ̂tre la propriété d’un ̂tre semblable à lui.“40 Erst das
europäische Verständnis der Ehe als Besitz der Frau durch den Mann lasse die
„jouissance furtive“41 als Diebstahl erscheinen, so dass mit der Regulierung auch
das Verbrechen und – in seiner Folge – „des vertus et des vices imaginaires“ wie
Scham, Zurückhaltung und Anstand in das Verhältnis zwischen den Geschlechtern Einzug halten.
Auf der Frage von A., wie ein solch starker Naturtrieb im Menschen durch
unnatürliche Regulierung derart verstümmelt werden kann, dass er zu einer Quel36
37
38
39
40
41
144
Diderot: Supplément, S. 467.
Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissemens
et du commerce des Européens dans les deux Indes, 10 Bde., Genf 1781. Siehe dazu den Beitrag von Gerhardt Stenger in diesem Band. Diderots Kollaboration wird
im Supplément selbst angedeutet. Diderot: Supplément, S. 491–492.
Lynn Festa: Life, Liberty, and the Pursuit of Tahitian Jouissance, in: Romance
Quarterly 54, Nr. 4 (2007), S. 303–325.
Diderot: Supplément, S. 466–467.
Ebd., S. 480.
Ebd., S. 507.
Stimmen der Natur
le des Lasters und des Unglücks wird, antwortet B., diese Degeneration lasse sich
nur aus dem Zusammenspiel verschiedener Ursachen erklären:
C’est par la tyrannie de l’homme, qui a converti la possession de la femme en une
propriété. Par les mœurs et les usages qui ont surchargé de conditions l’union conjugale. Par les lois civiles, qui ont assujetti le mariage à une infinité de formalités.
Par la nature de notre société, où la diversité de fortunes et des rangs a institué des
convenances et des disconvenances. Par une contradiction bizarre et commune à
toutes les sociétés subsistantes, où la naissance d’un enfant, toujours regardée
comme un accroissement de richesse pour la nation, est plus souvent et plus sûrement encore un accroissement d’indigence dans la famille. Par les vues politiques
des souverains, qui ont tout rapporté à leur intérêt et à leur sécurité. Par les institutions religieuses, qui ont attaché les noms de vices et de vertus à des actions qui
n’étaient susceptibles d’aucune moralité.42
Letztendlich ist es also die Gesamtstruktur der Gesellschaft, welche die natürliche Ordnung des Geschlechtsverkehrs entstellt. Auffällig in dieser Auflistung
von Ursachen ist, dass die zwei zentralen Ordnungsinstanzen – Kirche und Staat
– hier als komplementär oder gar symbiotisch aufgefasst werden. Schon am Anfang des Textes hatte B. auf die enge Verschränkung der religiösen und zivilen
Ordnung hingewiesen, die einander gegenseitig legitimieren. Es sei eine historische Konstante, dass „les institutions surnaturelles et divines se fortifient et
s’éternisent, en se transformant, à la longue, en lois civiles et nationales; et que
les institutions civiles et nationales se consacrent, et dégénèrent en préceptes surnaturels et divins.“43
Allerdings steht die Beobachtung der Komplizenschaft der beiden Ordnungsinstanzen in einem Spannungsverhältnis zu einem weiteren Gedanken, der gerade
die Widersprüche zwischen den verschiedenen Autoritätsquellen in den Vordergrund rückt. Was der Magistrat vom Bürger verlangt, ist mit dem, was die Kirche
vom Gläubigen erwartet, nicht immer im Einklang. Beide unterscheiden sich
wiederum von den Ansprüchen der Natur selbst. „Alors pour plaire au pr̂tre, il
faudra que tu te brouilles avec le magistrat; pour satisfaire le magistrat, il faudra
que tu mécontentes le grand ouvrier; et pour te rendre agréable au grand ouvrier,
il faudra que tu renonces à la nature.“44 Angesichts dieser widersprüchlichen
Forderungen habe der Einzelne keine Chance, allen Ordnungsinstanzen gleichermaßen gerecht zu werden, mit verheerenden Folgen für die eigene Identität. „Et
sais-tu ce qui en arrivera? c’est que tu les mépriseras tous les trois, et que tu ne
seras ni homme, ni citoyen, ni pieux; que tu ne seras rien; que tu seras mal avec
42
43
44
Diderot: Supplément, S. 509–510.
Ebd., S. 460–461.
Ebd., S. 481 und S. 505.
145
Theo Jung
toutes les sortes d’autorité; mal avec toi-même; méchant, tourmenté par ton
cœur; persécuté par tes maîtres insensés; et malheureux“.45
An dieser Stelle zeigt sich die Funktion der Auseinandersetzung mit Tahiti
für Diderots Analyse der europäischen Gesellschaft. In der Konfrontation mit
dem nicht-europäischen Fremden werden Widersprüche und Konflikte sichtbar,
die sich normalerweise unter der Oberfläche, im Herzen des europäischen Subjekts, verbergen und deren Genealogie von B. wie folgt geschildert wird: „Il
existait un homme naturel: on a introduit audedans de cet homme un homme artificiel et il s’est élevé dans la caverne une guerre continuelle qui dure toute la
vie.“46
Solche Stellen erinnern an Rousseau, der in seinen beiden Discours die Widersprüche zwischen dem homme naturel und dem homme artificiel nachgezeichnet hatte.47 Verschiedene Interpreten haben dies zum Anlass genommen,
das Spätwerk Diderots unter der Kategorie des Primitivismus einzuordnen.48 Der
Kerngedanke des Supplément sei das ‚Zurück zur Natur‘, das, auch wenn es auf
Rousseau selbst nur sehr bedingt zutrifft, doch zweifellos ein Kernstück des
Rousseaukults der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bildete. 49 Im
Lichte von Diderots Gesamtwerk und seiner Entwicklung erscheint diese Interpretation allerdings problematisch. Prinzipiell war Diderot der verklärenden Darstellung eines wo auch immer verorteten goldenen Zeitalters nicht immer abgeneigt gewesen. Insbesondere im Frühwerk finden sich an verschiedenen Stellen
utopische Motive.50 Die Zielscheiben seiner Sehnsucht waren dabei recht verschieden. So konnte er sich zeitweilig für die Beduinen, für das palästinensische
Bergvolk der Drusen und für das homerische Volk der Abiens, „les seuls peuples
de la Terre qui n’ayent presque eu ni Poëtes, ni Philosophes, ni Orateurs, & qui
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146
Diderot: Supplément, S. 481–482 und S. 484. Fast dieselbe Formulierung findet
sich noch einmal in: Raynal: Histoire, Bd. 10, S. 277.
Diderot: Supplément, S. 511.
Jean-Jacques Rousseau: Discours qui a remporté le prix à l’Académie de Dijon en
l’année 1750, Genf 1751; Ders.: Discours sur l’origine et les fondemens de
l’inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755.
Ralph Leigh: Diderot’s Tahiti, in: Studies in the Eighteenth Century 5 (1983),
S. 113–128, hier S. 117–120; Robert Wokler: Introduction, in: Diderot, Political
Writings, John H. Mason / Robert Wokler (Hg.), Cambridge u. a. 1992, S. ix–xxxv;
Martin d’Idler: Die Modernisierung der Utopie. Vom Wandel des Neuen Menschen
in der politischen Utopie der Neuzeit, Münster 2007, S. 126–133.
Theo Jung: Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 269–279.
Hans Hinterhäuser: Utopie und Wirklichkeit bei Diderot. Studie zum „Supplément
au voyage de Bougainville“, Heidelberg [1957], S. 17–24.
Stimmen der Natur
n’en ayent été ni moins honorés, ni moins courageux, ni moins sages“,51 erwärmen. Auch fiktionale Idealvorstellungen finden sich in seinem Werk, beispielsweise in den Überlegungen über die Eigenschaften eines Volkes der Blinden im
Lettre sur les aveugles (1749) oder – als Parodie gewendet – in den Bijoux indiscrets (1748).
Ein entscheidender Bruch in Diderots Denken über dieses Thema trat allerdings Mitte der fünfziger Jahre ein, als er sich mit seinem einstweiligen Freund
Rousseau überwarf. Dessen publikumswirksames Eintreten für die Vorzüge des
état naturel im ersten Discours (1751) war noch in direktem Austausch mit
Diderot entstanden.52 In den darauf folgenden Jahren entfernten sich die beiden
Freunde aber zunehmend voneinander. Von persönlichen Sticheleien und gegenseitigen Verdächtigungen abgesehen, stand dabei auf der inhaltlichen Ebene die
Frage nach dem Verhältnis zwischen Natur- und Gesellschaftszustand im Mittelpunkt. Zunehmend betrachtete Diderot Rousseau als Misanthropen, der sich, da
er sich in Gesellschaft unwohl fühle, im solitär lebenden Naturmenschen einen
verklärten Gegentypus entworfen habe. Generell stand Diderot der utopischen
Gattung – auch in ihrer exotistischen Gestalt – zunehmend skeptisch gegenüber.
Wenn es also zutrifft, dass der Tahitianer im Supplément die Rolle des edlen
Wilden einnimmt, er also gleichzeitig den Zielpunkt einer anti-zivilisatorischen
Sehnsucht und das Kriterium darstellt, an dem die europäische Lebensform gemessen wird,53 dann ist Michel Hénaff zuzustimmen, dass „[h]e who had been so
circumspect with regard to Rousseau and his defense of primitive man had indisputably changed his mind.“54
In der Tat spricht einiges für diese Lesart. Wie A. und B. feststellen, werden
inmitten der zivilisiertesten Gesellschaft immer wieder Sehnsüchte nach der Natur sichtbar. Die Bäumen in den Hofgärten der Paläste, die Halstücher der Frauen, die genauso viel andeuten, wie sie verbergen: Für B. sind dies Symptome eines „retour secret vers la fôret“.55 Die Konfrontation mit Tahiti verleiht diesen
unterschwelligen Sehnsüchten einen konkreten Bezugspunkt. In ihrem Schlussdialog setzen sich A. und B. noch einmal mit der Kernfrage der Debatte um den
51
52
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54
55
Diderot: „Abiens“, in: Ders. / Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des arts, des sciences et des métiers, Bd. 1, Paris 1751,
S. 25.
Theo Jung: The Writing Self. Rousseau and the Author’s Identity, in: InterDisciplines 1, Nr. 2 (2010), S. 91–121, hier S. 95–99.
Goodman: Structure, S. 125, 131.
Marcel Hénaff: Supplement to Diderot’s Dream, in: Michel Feher (Hg.): The Libertine Reader. Eroticism and Enlightenment in Eighteenth-Century France, New
York u. a. 1997, S. 52–112, hier S. 55.
Diderot: Supplément, S. 508. Im Alter und während einer Krankheit, wenn die
Macht des homme artificiel gebrochen ist, tritt der homme naturel wieder hervor;
Ebd., S. 508, 511.
147
Theo Jung
Naturmenschen auseinander: „faut-il civiliser l’homme, ou l’abandonner à son
instinct?“56
In seiner Antwort geht B. dabei erneut auf den Zusammenhang zwischen
dem Fortschritt der Zivilisation und der Etablierung politischer und religiöser
Machtstrukturen ein:
Si vous proposez d’en ̂tre le tyran, civilisez-le; empoisonnez-le de votre mieux
d’une morale contraire à la nature; faites-lui des entraves de toute espèce; embarrassez ses mouvements de mille obstacles; attachez-lui des fantômes qui l’effraient;
éternisez la guerre dans la caverne, et que l’homme naturel y soit toujours enchaîné
sous les pieds de l’homme moral. Le voulez-vous heureux et libre? ne vous mêlez
pas de ses affaires: assez d’incidents imprévus le conduiront à la lumière et à la dépravation; et demeurez à jamais convaincu que ce n’est pas pour vous, mais pour
eux, que ces sages législateurs vous ont pétri et maniéré comme vous l’̂tes. J’en
appelle à toutes les institutions politiques, civiles et religieuses: examinez-les profondément; et je me trompe fort, ou vous y verrez l’espèce humaine pliée de siècle
en siècle au joug qu’une poignée de fripons se promettait de lui imposer. Méfiezvous de celui qui veut mettre de l’ordre. Ordonner, c’est toujours se rendre le
maître des autres en les gênant.57
B. enttarnt die Regeln, die das Leben des zivilisierten Menschen beherrschen, in
ihrer Genealogie ebenso wie in ihren Konsequenzen als Unterdrückungsinstrumente. Was als Zivilisation erscheint, stellt de facto ein vielschichtiges und zuweilen widersprüchliches Gewebe von Disziplinierungsformen dar.58 Deren repressiver und eigennütziger Charakter wird von der Elite, durch die sie etabliert
und reproduziert werden, systematisch verschleiert, indem sie ihre Ordnungsmaßnahmen auf übernatürliche und zeitlose Prinzipien zurückführen.59 Im Namen der Moral, der Religion oder des Gesetzes wird so der homme naturel gezügelt.
Obwohl die Wertung in B.’s Fazit klar ist, zeigt er sich bezüglich der praktischen Konsequenzen, die aus seinen Schlussfolgerungen zu ziehen sind, pragmatischer. Eine Rückkehr zur Natur im Kontext der etablierten Gesellschaft sei
nicht praktikabel: „Nous parlerons contre les lois insensées jusqu’à ce qu’on les
réforme; et, en attendant, nous nous y soumettrons. [...] Il y a moins
d’inconvénients à ̂tre fou avec des fous, qu’à ̂tre sage tout seul.“60 Ebenso wie
der Schiffskaplan entscheiden sich A. und B. dagegen, nach Tahiti auszuwandern.61 Trotz dieser Einschränkungen wird die paradigmatische Funktion der In56
57
58
59
60
61
148
Diderot: Supplément, S. 511.
Ebd., S. 511–512.
Ebd., S. 514.
Ebd., S. 460–461.
Ebd., S. 515. Hier geht es auch um eine Pointe gegen Rousseau.
Ebd., S. 463, 515.
Stimmen der Natur
sel von den europäischen Stimmen des Textes nicht infrage gestellt. Der Tahitianer, „qui s’en est tenu scrupuleusement à la loi de nature“62 erscheint in ihren
Augen als Kriterium, an der der Europäer gemessen werden kann.
3.
Stimme(n) der Natur
Wer sich bei der Lektüre des Supplément – wie es aus unserer Perspektive auf
der Hand liegt – an den europäischen Stimmen im Text orientiert, muss also folgern, dass Diderots Blick auf Tahiti klar erkennbare Züge des ‚Rousseauismus‘
aufweist. Der Tahitianer erscheint in der Gestalt des edlen Wilden und die insulare Gesellschaft als gelebte Utopie. Die Tatsache, dass B. unverkennbar die autoritative Stimme im Dialog hat – er spricht das Schlusswort – unterstreicht diese
Lesart noch und verleitet dazu, ihn als Sprachrohr Diderots aufzufassen.
Nichtsdestoweniger gibt es ebenso gute Gründe, diese Identifikation infrage
zu stellen. Diese liegen zunächst in der Darstellung Tahitis selbst. Bei genauerer
Lektüre zeigt sich, dass das Bild des insularen Paradieses einige Brüche aufweist,
die Fragen bei seiner Brauchbarkeit als Vorbild für die europäische Gesellschaft
aufkommen lassen.63 In verschiedener Hinsicht ist die auf der Insel gepflegte,
natürliche Sexualität weit weniger konflikt- und herrschaftsfrei als sie im Blick
des Europäers erscheint. De facto gibt es auf Tahiti ein komplexes System von
Regeln und entsprechenden Strafen, das sich zwar von dem europäischen fundamental unterscheidet, aber aus diesem Grund noch nicht unbedingt natürlicher
oder auch nur freier ist. Zentrales Ziel der tahitianischen Sexualitätsregulierung
ist die Ausgrenzung jeder Art nicht-reproduktiver Sexualität. Unfruchtbare Menschen, menstruierende Frauen oder solche nach der Menopause, Jugendliche bis
zu dem Alter, an dem sie vom Vater für ‚reproduktionswürdig’ erachtet werden,
– also alle, deren Sexualität nicht unmittelbar der Fortpflanzung dienen würde –
sind gezwungen, Schleier in verschiedenen Farben zu tragen um ihren speziellen
Status als von der sexuellen Gemeinschaft Ausgeschlossene zu signalisieren.64
Verstöße gegen diese Regeln werden mit sozialer Ächtung, im Ernstfall aber
auch mit Exil und Versklavung geahndet.65
An der Basis dieser Sexualmoral steht die absolute Priorität der Fortpflanzung, die sich aus den situativen Bedingungen der tahitianischen Gesellschaft
ergibt. Wenn Orou dem Kaplan erklärt, wieso er nicht nur sich, sondern ihm und
62
63
64
65
Diderot: Supplément, S. 505.
Sankar Muthu: Enlightenment Against Empire, Princeton, NJ 2003, S. 52–60, 68;
Sharon A. Stanley: Unraveling Natural Utopia. Diderot’s Supplement to the Voyage of Bougainville, in: Political Theory 37, Nr. 2 (2009), S. 266–289. Siehe auch:
Dies.: The French Enlightenment and the Emergence of Modern Cynicism, New
York 2012, S. 48–74.
Diderot: Supplément, S. 487, 494–495.
Ebd., S. 495, 498.
149
Theo Jung
den Tahitianern einen Gefallen tun würde, indem er mit einer seiner Töchter
schliefe, kommt er auf die Bevölkerungsengpässe zu sprechen, mit denen Tahiti
zu kämpfen habe:
Nous avons des terres immenses en friche; nous manquons de bras; et nous t’en
avons demandé. Nous avons des calamités épidémiques à réparer; et nous t’avons
employé à réparer le vide qu’elles laisseront. Nous avons des ennemis voisins à
combattre, un besoin de soldats; et nous t’avons prié de nous en faire: le nombre de
nos femmes et de nos filles est trop grand pour celui des hommes; et nous t’avons
associé à notre tâche. Parmi ces femmes et ces filles, il y en a dont nous n’avons
jamais pu obtenir d’enfants; et ce sont elles que nous avons exposées à vos premiers embrassements. Nous avons à payer une redevance en hommes à un voisin
oppresseur; c’est toi et tes camarades qui nous défrayerez; et dans cinq à six ans,
nous lui enverrons vos fils, s’ils valent moins que les nôtres.66
Angesichts dieser Bedingungen – die auch die angeblich so unbekümmerten
Verhältnisse auf der Insel in ein anderes Licht rücken – ist es nicht verwunderlich, dass die Tahitianer einen hohen Wert auf Fruchtbarkeit legen. Jedes Kind
stellt „un accroissement de fortune pour la cabane, et de force pour la nation“
dar.67 Dennoch überrascht eine solche Formulierung angesichts der angeblichen
‚Besitzlosigkeit’ der tahitianischen Gesellschaft. Während im Zusammenhang
mit dem Kolonialismus und den Geschlechterverhältnissen die Idee, dass ein
Mensch einen anderen besitzen könnte, wiederholt als widersinnig abgetan wird,
werden Kinder hier ausdrücklich als Eigentum betrachtet. Die ganze Sexualmoral
Tahitis – so die pointierte Formulierung Judith Stills – hat insofern die Form eines sexuellen Kapitalismus.68 Sie ist auf die Vermehrung dieses Humankapitals
ausgerichtet. Und Orou lässt keine Zweifel daran, dass es letztendlich das Interesse der Väter ist, das hinter dieser Ordnung steht. Nicht die (ohnehin oft nur
schwach ausgebildete) „amour paternel“, sondern das wohlverstandene Eigeninteresse der Väter stelle schließlich das leitende Prinzip des Umgangs mit Frauen
und Kindern dar. Genauso viel wie „à son lit, à sa santé, à son repos, à son cabane, à ses fruits, à ses champs“ liege ihm an seine Frauen und Kinder, „parce
que leur conservation est toujours un accroissement, et leur perte toujours une
diminution de fortune.“69
66
67
68
69
150
Diderot: Supplément, S. 500. Die umgekehrte Konstellation ist auf der winzigen
Insel der Lanciers gegeben, wo der Bevölkerungsdruck so hoch ist, dass die Bewohner zu radikalen Reduktionsmitteln greifen müssen; Gerhardt Stenger: Diderot.
Le combattant de la liberté, Paris 2013, S. 532–539.
Diderot: Supplément, S. 485.
Judith Still: Feminine Economies. Thinking Against the Market in the Enlightenment and the Late Twentieth Century, Manchester u. a. 1997, S. 77–86.
Diderot: Supplément, S. 499.
Stimmen der Natur
Ein zweiter Grund, den manchmal etwas verträumten Primitivismus der Europäer im Supplément mit Umsicht zu genießen, sind die Hinweise im Text, welche die Möglichkeit einer Anwendung des tahitianischen Modells prinzipiell infrage stellen.70 Wiederholt weist Diderot daraufhin, dass die verschiedenen
Perspektiven der Darstellung jeweils unvollständig, gefärbt und verkürzend sind.
Bei der Rede des Greises ebenso wie bei den Dialogen zwischen Orou und dem
Kaplan handelt es sich, wie mehrmals betont wird, um (teilweise sogar doppelte)
Übersetzungen.71 In der Folge erscheinen die tahitianischen Stimmen selbst A.
und B. manchmal „un peu modelé à l’européenne.“72
Umgekehrt wird auch die Perspektive der Insulaner auf die europäische Welt
problematisiert. Wenn Orou erklärt, dass sein Verständnis der französische Gesellschaft so klar ist „comme si j’avais vécu parmi vous“73, weiß der Leser, dass
diese Möglichkeit am Anfang des Textes grundsätzlich in Zweifel gezogen worden ist. Selbst Aotourou, der immerhin tatsächlich in Paris gewesen ist und die
dortigen Zustände mit eigenen Augen gesehen hat, wird, wie B. erklärt, von seiner Reise wenig berichten können: „Parce qu’il [...] a peu conçues [de choses], et
qu’il ne trouvera dans sa langue aucun terme correspondant à celles dont il a
quelques idées.“74 Dieses Sprachproblem wird im Laufe der Dialoge wiederholt
erwähnt. Orou betont, dass er die Bedeutung der Wörter religion, état, fornication, inceste und adultère nicht versteht.75 Reflexiv gedacht heißt das aber auch,
dass das europäische Verständnis der tahitianischen Gesellschaft ebenso sehr von
den Beschränkungen ihres kulturellen Vokabulars geprägt ist.
Die Übersetzungsproblematik verweist auf die grundsätzliche Fremdheit der
beiden Welten, die im Supplément aufeinandertreffen. Die Distanz zwischen Tahiti und dem Abendland ist weiter, als es der Schematismus des edlen Wilden,
aber auch die literarisch vereinnahmte Perspektive des Fremden auf die eigene
Gesellschaft vermuten lassen. Diderot lässt diese Distanz im Text durch die
komplexe Struktur seiner Komposition anklingen. Die verschiedenen Stimmen
zeichnen sich in ihrem Umgang mit dem Fremden jeweils durch eine nichtaufgelöste Spannung aus. Immer wieder werden die verschiedenen Akteure mit
der Unmöglichkeit der restlosen Integration des Anderen konfrontiert, um gleich
darauf schon wieder den nächsten Integrationsversuch zu wagen.
70
71
72
73
74
75
Garraway: Speaking, S. 210.
B. erklärt, dass der Gebrauch der spanischen Sprache „s’était conservé de temps
immémorial“ auf der Insel und dass Orou als Dolmetscher auftreten konnte. Möglicherweise bezieht sich Diderot hier auf die zeitgenössische Vermutung, der Portugiese Pedro Fernandes de Queirós habe die Insel schon 1606 entdeckt. Diderot:
Supplément, S. 472–473.
Ebd., S. 503 und S. 472.
Ebd., S. 484.
Ebd., S. 464.
Ebd., S. 476, 495. Selbstverständlich geht es im Kontext der Argumentation auch
darum, die Legitimität dieser Begriffe in Zweifel zu ziehen.
151
Theo Jung
Auch wenn sie sich die grundsätzliche Unverständlichkeit und Unübertragbarkeit des Anderen punktuell eingestehen, gelingt es den einzelnen Akteuren nicht, die Beschränkungen ihrer jeweiligen Perspektiven auszuhalten oder zu
überwinden. Somit herrscht eine kontinuierliche Spannung zwischen Fremdheit
und Ent-Fremdung, zwischen der Unverständlichkeit und dem Doch-VerstehenWollen.76 Diderot thematisiert diese Problematik der Unübertragbarkeit, indem er
die Verblendungen der jeweiligen Einzelperspektiven in der Kontrastwirkung zu
ihren Gegenstimmen aufklingen lässt – ohne sie jedoch endgültig in eine übergeordnete Oberperspektive zu integrieren.
Im Vergleich zur primitivistischen Lektüre des Supplément erscheint eine
solche, die auf die ungelöste Vielstimmigkeit des Textes besteht, zunächst unattraktiv. Sie bricht in doppelter Hinsicht mit unserer eigenen Neigung, Fremdheit
zu integrieren. Zunächst verzichtet sie darauf, eine einzelne, autoritative Stimme
– im Sinne eines ‚eigentlichen‘ Sprachrohrs Diderots – im Text zu identifizieren.
Im Gegensatz zu vielen aufklärerischen Dialogen mündet die Vielstimmigkeit
des Supplément aus dieser Perspektive am Ende nicht in einen Monolog. Es gilt
vielmehr, an der unauflösbaren Spannung zwischen den verschiedenen Positionen festzuhalten und diese selbst in den Mittelpunkt der Deutung zu rücken. Daraus folgt, dass diese Lektüre auch die Möglichkeit der Festlegung einer einheitlichen, systematisch entwickelten Aussage Diderots preisgibt. Sie versucht, wie es
schon Bernhard Groethuysen als Ziel der Diderotforschung formuliert hat, ein
paar Schritte mitzugehen mit einem Denken, „qui se meut et se cherche [...] dans
laquelle les choses se plient à une certaine attitude d’esprit“.77
Zweitens verzichtet diese Lesart auf eine eindeutige Identifikation der Natur
als Maßstab gesellschaftlicher Strukturen, wie sie in der primitivistischen Tradition vorausgesetzt wird. Die Franzosen wie die Tahitianer im Text erheben
gleichermaßen Anspruch darauf, die unverfälschte „voix de la nature“ zu vernehmen.78 Gerade der Kontrast zwischen ihren jeweiligen Aussagen stellt solche
Einsichten aber grundsätzlich infrage. Sowohl die religiösen und politischen
Machthaber Europas als auch die Väter Tahitis begründen ihre jeweiligen Ordnungen mithilfe von Hinweisen auf endgültige, natürliche Prinzipien. In beiden
Fällen stellt sich ein solcher Anspruch letztendlich aber als diskursive Herrschaftsstrategie einer gesellschaftlichen Elite heraus. Wie die Natur wirklich waltet, hat mit den widersprüchlichen kategorischen Aussagen über sie letztendlich
wenig zu tun. Weder die Europäer noch die Tahitianer haben einen unmittelbaren
76
77
78
152
Genauso wie die Europäer sich am Ende die Unübertragbarkeit des tahitianischen
‚Modells‘ eingestehen müssen, warnen die Tahitianer vor der Anwendung des europäischen ‚Modells‘ im kolonialen Raum, ebd., S. 495.
Bernhard Groethuysen: La pensée de Diderot, in: La Grande Revue 82 (1913),
S. 322–341, hier S. 322. Siehe auch: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (Gesammelte Werke, Bd. 15), Darmstadt 2003, S. 93–94.
Diderot: Supplément, S. 470, 476, 506, 509–510.
Stimmen der Natur
Zugang zur Natur, von der sie Teil sind. Wer doch vorgibt, sie zu kennen, hat
nicht einfach Unrecht, sondern vermutlich Anderes im Sinn.
Und Diderot? Insofern sein Text die Vielfalt der Stimmen ins Zentrum rückt,
verzichtet er darauf, nun selbst in die Rolle eines Sprachrohrs der Natur zu
schlüpfen. Die strukturelle Komplexität des Textes ist somit kein unnötiger, bloß
dekorativer Zusatz zu seiner eigentlichen Aussage. Überhaupt enthält der Text
keine definite Aussage darüber, was die Natur denn nun letztendlich sei. Er setzt
vielmehr das vielfältige menschliche Verhältnis zur Natur in Szene und zeigt
damit performativ, was es heißt, sich auf die Veränderlichkeit und Widersprüchlichkeit der Natur einzulassen, ohne den Anspruch zu erheben, sie ein für alle
Mal festlegen zu können.
Literaturhinweise
Assézat, Jean: Notice préliminaire, in: Denis Diderot: Œuvres complètes, Bd. 2, Paris
1875, S. 195–198.
Betts, C. J.: Early Deism in France. From the so-called „déistes“ of Lyon (1564) to Voltaire’s „Lettres philosophiques“ (1734), Den Haag u. a. 1984.
Bitterli, Urs: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991.
Bolyanatz, Alexander H.: Pacific Romanticism. Tahiti and the European Imagination,
Westport, CT 2004.
Bougainville, Louis Antoine de: Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse, et la flûte l’Étoile; en 1766, 1767, 1768 & 1769, Paris 1771.
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