Embodiment
Michael B Buchholz
Forum der Psychoanalyse
Zeitschrift für klinische Theorie und
Praxis
ISSN 0178-7667
Volume 30
Number 1
Forum Psychoanal (2014) 30:109-128
DOI 10.1007/s00451-013-0141-4
1 23
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Forum Psychoanal (2014) 30:109–128
DOi 10.1007/s00451-013-0141-4
Originalien
Embodiment
Konvergenzen von Kognitionsforschung und analytischer
Entwicklungspsychologie
Michael B. Buchholz
Online publiziert: 22. Mai 2013
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
Zusammenfassung Freud hatte das therapeutische Ohr dafür geöffnet, wie der
Körper sich an der Konversation beteiligen möchte (Dora und ihre Handtasche
z. B.). Damit war in der Behandlungstechnik der Weg zur Überwindung des kartesianischen Dualismus zwischen Körper hier, geist dort gelegt. Die Behandlungstechnik eilte der Theorie voraus. Die Psychoanalyse übernimmt derzeit auch die
aufgabe der rezeption von ansätzen, die dieses theoretische Desiderat überwinden könnten. Dazu werden hier neuere entwicklungen der „social cognition“ und
„social science“ vorgestellt. es gibt Möglichkeiten, Körper und Konversation nicht
gegeneinander auszuspielen, sondern den Körper im therapeutischen Sprechen zu
vernehmen.
Embodiment
Convergence of cognitive research and analytical development psychology
Abstract Freud opened the therapist’s listening ear for the participation of the body
in conversation (e.g. Dora and her handbag). in this way the treatment technique
advanced a theory and showed practical ways how to overcome Cartesian mindbody dualism. at this time, psychoanalysis takes control of the task of reception
of approaches to overcome this theoretical gap. in this article recent approaches in
social science and social cognition research are outlined. They present possibilities
not to play off the body against conversation but to listen to the body speaking.
Prof. Dr. M. B. Buchholz ()
göttingen, Deutschland
e-Mail:
[email protected]
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M. B. Buchholz
Die Problemlage
Die Psychoanalyse hat ihre prioritäre Stellung in den akademischen Wettkämpfen
deutlich geschwächt (Sandell 2012), obwohl ihre empirische Befundlage hinsichtlich nachgewiesener Wirksamkeit weitaus besser ist, als ihr nachgesagt wird (Shedler
2011). einer der gründe ist, dass sie die anschlüsse an benachbarte gebiete wenig
gesucht, ja sogar eher gemieden hat. Dabei wurden oft Urteile ungeprüft vergeben,
etwa dass die Kognitionsforschung nichts vom Unbewussten verstünde und das
affektive vernachlässige. Solche leichthändigen und falschen Urteile zu korrigieren,
ist eines der Ziele dieses Beitrags. ein anderes ist die Beobachtung, dass gerade dort,
wo Freud mit manchen Formulierungen Kognitivist „avant la lettre“ war, dies zu
wenig vergegenwärtigt wird. Freud war Kognitivist besonderer art, nämlich ein postkartesianischer, der subtil beobachtete, wie der Körper mitspricht, etwa wenn Dora
mit dem Handtäschchen spielt, wenn ein Patient sich räuspert oder ein Flatus auf
der Couch passiert. Hier hatte er mit Ferenczi (1913) durchaus Übereinstimmungen,
denn sein Begriff der libido und der psychosexuellen entwicklung ermöglichte das
umstandslos. Szekely (1962) erzählte dazu eine hübsche geschichte. Sie handelt von
einem zweijährigen Kind auf einem Bauernhof, das beobachtet, wie ein Huhn ein
ei legt. Das Kind deutet auf das Huhn, blickt aber zur Mutter und sagt: „a-a“. Die
anale Organisation, so sieht es der den kleinen Beobachter beobachtende erwachsene
Beobachter, bestimmt die kognitive Weltauffassung des kleinen Kindes.
Freud war der genaue Beobachter, der zuließ, dass der Körper in die Konversation
vordrang, dass nicht einerseits hier der Körper, dort das Bewusstsein sei, sondern
dass „mind“ und „body“ am ehesten als „bodymind“ zu verstehen seien. Das gilt
natürlich besonders für seine Formel, dass das ich v. a. ein körperliches sei. Das blieb
aber weitgehend Programmatik.
Freud hat mit solchen prägnanten Wendungen, wie so oft, ausblicke in die Zukunft
gewährt. er war Kognitivist dort, wo heutige Kognitionsforscher dem Unbewussten
eine immense rolle zuschreiben. Denn auch die Traumarbeit zeichnet er bekanntlich
als Denken aus. Unsere aufgabe heute muss es sein, solche Programmatiken wie
die von der Körperlichkeit des ich auszuarbeiten. Dazu haben wir neue theoretische
Mittel an der Hand, Buchtitel wie The body in the mind (Johnson 1987) oder The
philosophy of the Flesh (lakoff und Johnson 1999) oder From molecule to metaphor
(Kaufman 2006) legen aufregende Perspektiven nahe. Psychoanalytiker fordern ihre
Patienten nicht nur auf zu sagen, „what comes to mind?“, sondern ebenso „what
comes to body?“ (Barratt 2010; geißler und Heisterkamp 2007). aber selbst hier
bleibt noch ein eigentümlicher Dualismus, als ob die Trennung von Körper hier und
geist dort doch noch nicht so ganz überwunden sei. Wie kann man den Körper in der
Sprache hören? Dazu kann nun die moderne Kognitionsforschung einiges beitragen.
es sind neben den Kognitionsforschern auch Sozialwissenschaftler, die den Körper
nicht allein der Medizin überlassen möchten und sich deshalb neuerdings verstärkt
mit dem Körper beschäftigen (alkemeyer et al. 2009; Dausendschön-gay und Krafft
2002; ellgring 2008; Freedman und grand1977; gibbs 2006; Forceville und Uriosaparisi 2009; gugutzer 2002; Posch 2009). etwa, wenn sie bei sozialen Formen wie
dem ritual, dem Tanz oder dem Sport Wissensformen entdecken und zu beschreiben
versuchen, die sich nicht dem Modell fügen, wonach ein alltäglicher Sozialteilneh-
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mer gewissermaßen eine Miniausgabe des hypothesenprüfenden Wissenschaftlers
sei. auch bei kollektiven ereignissen vom Fußballplatz bis zum gemeinsamen Musizieren kommen Momente des Körperlichen zur geltung, die bislang völlig unbeachtet geblieben sind. es geht nicht um „events“, es geht nicht um „repräsentation“
eines weltlichen ereignisses oder gegenstandes durch die Mittel des geistes – das
würde die Trennung nur aufrechterhalten –, sondern um ganz andere Formen des
Wissens. Davon habe ich an anderer Stelle einiges beschrieben, auf das ich hier nur
verweisen möchte (Buchholz 2007).
Vergegenwärtigungen
erinnern wir uns an ein paar Stufen der entdeckung des Körperlichen ohne jede
Systematik, gleichsam als freie einfälle.1 Die einlussreiche Auftrennung des Weltlichen und leiblichen einerseits, die des geistigen andererseits hat eine Tradition, die
manche melancholisch, andere nur unter Protest, wieder andere ironisch zur Kenntnis
genommen – und zu überwinden versucht haben.
Da ist Schillers 1797 im Musenalmanach erschienenes berühmtes Distichon:
Warum kann der lebendige geist dem geist nicht erscheinen?
Spricht die Seele, so spricht, ach!, schon die Seele nicht mehr.
Wenige nur kennen die beiden nachfolgenden Zeilen:
laß die Sprache Dir seyn, was der Körper den liebenden;
er nur ist’s, der die Wesen trennt und die Wesen vereint. (Mehr dazu bei Franzen
1998)
Darum also wird es gehen müssen: einerseits sind wir vom anderen in seinem innersten Wesen so getrennt, dass wir Konversation brauchen, um uns einigermaßen zu
verständigen. Und darin schreibt sich bestätigend die erfahrung ein, dass die Konversation eben von standardisierten Formaten bestimmt ist, in denen das individuell Vermeinte immer verloren zu gehen droht. Der individuelle gedanke und das allgemein
verbrauchte Wort kommen nie ganz zueinander, das Bewusstsein umtanzt wie ein
irrlicht die Konversation, und Freuds grundregel weiß genau von diesen Umständen.
Schiller aber weiß hier noch mehr: dass man sich die Sprache sein lassen kann, was
der Körper den Liebenden ist. In der Tat, Liebende inden eine sehr private Sprache
für Handlungen und für Organe der liebe und schützen sich gerade vor den Programmierungen öffentlich-semantischer liebesmodelle. Jugendliche leiden darunter, dass
sie „ich liebe Dich“ schon so oft gehört haben, und zögern, es einander zu sagen,
weil sie wissen, es ist ein verbrauchtes, elendes Zitat. Sie suchen nach individuellen
Formen, weil anders glaubwürdigkeit und authentizität nicht zu haben sind.
Liebende wissen, dass der Tsunami der Pornograie weit mehr verheerende, weil
normierende und die Kreativität in der Körperlichkeit verhindernde Wirkungen hat,
1
Und über das hinaus, was sich an linien seit der Philosophie Schopenhauers ziehen ließe (gödde und
Buchholz 2012).
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als man im allgemeinen annimmt. Heinrich Heine hat gezeigt, wie man die liebe in
entzückende Worte fassen kann; er behauptet einfach:
Des Weibes leib ist ein gedicht, das gott der Herr geschrieben,
ins große Stammbuch der natur, als ihn der geist getrieben.
Der Körper also ist ein gedicht, das gedicht selbst ein leib, der poetisch singt.
Braucht man also einen Körper oder gibt es nicht doch ein Selbst ohne diesen? ein
sehr scharfsinniger und zugleich höchst spannender roman, Hoppe, von Felicitas
Hoppe geschrieben, beschäftigt sich mit Fragen von identitätskonstruktion und Wirklichkeit. Die mit der Autorin gleichnamige, aber keineswegs identische Hauptigur
Hoppe sei begleitet gewesen über die Jahre hinweg von der „quälenden Hauptfrage“
… wie es insgesamt wäre, ‚überhaupt nichts zu hören und die ganze Musik,
von der wir andauernd umzingelt sind, nur zu sehen. Wie hält man das aus,
lauter instrumente ohne Klang?‘ es dürfte mehr als nur ihr kindlicher Quälgeist
gewesen sein, der sie dazu antrieb, bereits in ihren frühen Schuljahren ihrem
Vater, ihren Mitschülern und ihren lehrern wieder und wieder dieselbe unbeantwortbare Frage vorzulegen: ‚Was möchtest Du lieber: Blind oder taub sein?‘
(Hoppe 2012, S. 56)
Was wären wir also ohne die Sinnlichkeit unseres Körpers?
Der große Philologe und Philosoph george Steiner (Steiner und Pfeiffer 2007,
S. 79) steigert diese Frage geradezu exzessiv und lässt Freuds libidotheorie gleichsam mit einem Paukenschlag anklingen in seinem Buch Meine ungeschriebenen
Bücher. Seine brisante philosophisch-experimentierende Frage lässt einen kaum los:
Wie verläuft das sexuelle Wesen eines Taubstummen? nach welchen anregungen und Klängen masturbiert er oder sie? Wie erfahren Taubstumme libido und
Höhepunkt?
Und ein paar Zeilen weiter schreibt er mit großer Dringlichkeit für die Diskussionen
um die rolle der neurowissenschaften:
Doch die Frage ist von akuter Bedeutung. Sie bezieht sich auf die nervenzentren der Wechselwirkungen zwischen eros und Sprache. Sie wirft ein verwirrendes licht auf das absolut entscheidende Problem der semantischen Struktur
der Sexualität, ihrer sprachlichen Dynamik. Sex spricht man, dem Sex lauscht
man, laut oder schweigend, äußerlich oder innerlich, vor, während und nach
dem Verkehr. Diese beiden Kommunikationsströmungen, diese beiden inszenierungen sind nicht voneinander zu trennen … Die rhetorik des Verlangens
ist eine Diskurskategorie, in der die neurophysiologische Hervorbringung von
Sprechakten und die des liebesaktes ineinandergreifen. Die Zeichensetzung
ist analog: der Orgasmus ist ein ausrufezeichen … an keiner Schnittstelle im
menschlichen System sind neurochemische Komponenten und das, was wir als
die Bereiche des Bewußtseins und des Unterbewußtseins auffassen, so eng miteinander verschmolzen. Die Mentalität und das Organische bilden hier eine
einheitliche Synapse … Der Begriff des ‚instinkt‘, der selbst nur bruchstückhaft verstanden wird, charakterisiert die entscheidende Zone der interaktion
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zwischen dem Fleischlichen und dem intellektuellen, zwischen genitalien und
geist. Diese Zone ist von Sprache gesättigt.
Der nachdruck dieser Zeilen lässt keinen raum für Therapeutiken, die den Körper
gegen das Sprechen ausspielen wollen, weil das ja „verkopft“ sei. nichts ist törichter.
Dass Sprechen die Möglichkeit der lüge beinhaltet, gehört zu den ältesten Menschheitserfahrungen; dass sie die Möglichkeit der Standardisierung bietet, ist massenhaft
vielleicht eine neuartige erfahrung. Dass aber kaum etwas so verletzt wie Worte und
nichts so heilsam sein kann, wissen alle, die psychosomatische Patienten behandelt
haben. Was kränkt, macht krank. es kann keinen gegensatz des Sprechens und des
Körperlichen geben; wir müssen die gegenwärtigkeit des Körpers in der Sprache,
besser: im Sprechen und damit in der Konversation, nicht etwa „hinter“ der Sprache
suchen. Diese räumliche Metapher führt schwer in die irre. Die These des autors ist
die von der Kontinuität der Konversation (Buchholz 2011).
Der Körper in der Sprache
Der Beschreibung der Fähigkeit, pianistische improvisation zu lernen, verdanken wir
wesentliche impulse. es war der Pianist David Sudnow (1978), der in seinem Buch
sehr anschaulich beschreibt, wie der „sound“ in die Finger kriecht. noten verlieren
den Status einer repräsentation; vielmehr ist es das erlebnis der Finger, die plötzlich
etwas spielen wollen, das in ihnen steckt. Der Klang war schon im Ohr, bevor das
Klavier ihn erzeugte. Und Sudnow beschreibt genau, dass das „Wissen“ aus diesem
rückkopplungssystem ein anderes war als das kontextfreie und repräsentative musikalische Wissen, das er vorher aus den noten hatte. Sein Wissen ist „embodied“ und
zugleich „situiert“ – es ist lüchtig und realisiert sich nur genau in dem Moment des
Spiels.
Das gilt auch für andere Spiele. eine der großen und klassischen Studien der
Sozialpsychologie war die Untersuchung von „street gangs“ durch Homans (1960).
Darin werden Szenen der folgenden art beschrieben: ein Junge will Mitglied in einer
gang werden. er muss sich dazu bewerben, aber nicht durch eine Bewerbungsmappe
mit Foto und lebenslauf, sondern indem er zeigt, was er kann, etwa beim Billardspiel. er muss gegen den bisher Besten der gang antreten. Homans beschreibt nun
ganz detailliert, wie bereits die anfänglichen reaktionen der umstehenden gangmitglieder entscheidende Hinweise geben, wie das alles ausgeht. Können sie den
neuen gut leiden, wird er angespornt; wenn nicht, schon in den ersten Sekunden
durch Kopfwegdrehen, verächtliches Schnauben bei einem Fehler oder Ähnliches
niedergemacht. Und die gruppenmitglieder lesen am gesicht des „gang leader“ ab,
ob sie ihn leiden mögen oder nicht. So genau kann man beobachten, wie der Körper
– Miene und Blicke, atem und Körperdrehung – den Status eines neuen gruppenmitgliedes festlegt. Und das Bestürzende ist: Der neue spielt genauso so gut oder
schlecht, wie sich das aus den ersten Sekunden bereits vorhersagen lässt. Jedenfalls
dann, wenn er diesem Druck nicht widersteht – das schaffen immerhin einige.
Wer also mitspielt, improvisierend in der Musik oder rituell beim Billard, zeigt
nicht nur ein bestimmtes, nonrepräsentationales Wissen, das ihn als einen ausweist,
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der die regeln akzeptiert und beherrscht, sondern er erwirbt auch eine bestimmte
soziale Position. Das neue Stichwort heißt deshalb „embodied knowledge“. es
ersetzt die kartesianische Vorstellung der repräsentation, inkludiert den Körper mitsamt der lüchtigen Situation. Eine weitere, für die Psychoanalyse wichtige Konsequenz: embodied knowledge verändert die Stellung des Subjekts; es ist nicht mehr
hinter seiner Praxis als ein Wesen sui generis präsent, sondern nur in seiner Praxis.
Wie bloß konnte man diesen Ort des Subjekts so lange nicht erkennen? Die antwort lautet: einerseits wegen des gewaltigen Überhangs an philosophischen Traditionen, die das Subjekt immer schon in einer Zuschauerontologie (Slunecko 2012)
verorteten, sodass es nie zum Handeln kam, weil es ständig nur beobachtete; philosophisch nur wenig in psychoanalytischen Territorien zur geltung kommende Phänomenologen wie Merleau-Ponty (1966, S. 234) hatten die veränderte Stellung des
Subjekts so formuliert: „So bin ich selbst mein leib … und umgekehrt ist mein leib
wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläuiger Entwurf meines Seins im ganzen“.
andererseits wurde die Stellung des Subjekts aus einer methodischen grundposition heraus übersehen, die meinte, alles folge deduzierbaren regeln. Die genannten Beispiele und viele weitere Forschungen zeigen nun übereinstimmend, dass nur
im Nachhinein methodische Schlaumeier kommen und die regeln rekonstruieren
konnten, denen ein improvisateur, Schillers liebende, Taubstumme, Billardspieler
oder andere Körperkönner wie Tänzer, Stimmkünstler oder stimmlich Trost Spendende (Poettgen-Havekost 2010) oder „poetry slammer“ usw. folgen. Will man diese
regeln dann nach vorne anwenden, gerät jeder sofort in die lage des zerstreuten Professors, der Fahrradfahren lernen möchte, indem er die gesetze des freien Falls und
der schiefen ebene „anwendet“. Für die psychoanalytische Praxis hatte gill einmal
prägnant formuliert: Wer in der psychoanalytischen Situation eine Theorie anwenden
wolle, erzeuge sich Schmalz im Dritten Ohr!
„anwendung“ ist das Wort, das zu einem repräsentationalen, kartesianischen
Bezugsrahmen gehört; es ist – unpraktisch. Offenbar, so die durchgängige erfahrung,
müssen wir diese Dinge ganz anders denken. es geht nicht um repräsentationales
Wissen, sondern um Embodied knowledge, das situiert ist und lüchtig, das durch
Beschreibung leicht verfälscht wird und das nur der angemessen beobachten kann,
der es am eigenen leib erfahren hat. Wer aber in labilen sozialen Konstellationen
erfolgreich handeln will, muss auf ein prärelexives Können der sozialen Kompetenz
(„performed knowledge“) zurückgreifen, worin sich eine praktische logik des situativen Moments, des voranschreitenden Prozesses und des „gekonnten“ Umgangs
mit Unsicherheit dokumentiert. Verkörpertes Wissen ist also Bedingung einer kompetenten Praxis. Bourdieu (1990) sprach hier vom „praktischen Sinn“, von goffman
(1964) können wir hinzu fügen, dass das immer auch „a sense for one’s place“ sei
und dass sich durch verkörpertes Wissen somit immer auch „ein Sinn für die grenze“
(Bourdieu 1990) manifestiere. Damit kommt in jede Form sozialer Praxis, und ich
rechne v. a. die psychotherapeutische Konversation zu einer solchen sozialen Praxis, eine neue Möglichkeit vor, die Situation selbst verschieben und verändern zu
können und ihr so innovative gehalte abzuringen. Wiederum Bourdieu hatte hier
vorgeschlagen, die Frage zu sondieren, „wie sich konkrete operative Praxisgegenwarten zu ihren Kontexten verhalten“. Damit war gemeint, dass professionelle Praxis gerade nicht kontextdeterminiert ist, sondern Praxis sich Spielräume (Weymann
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1989) erobert jenseits der Determination durch ihre Kontexte. Das neue ist, dass wir
Subjekte nicht mehr nur als von sozialer Struktur determiniert sehen müssen, sondern
als improvisateure, die in jene Strukturen des Sozialen mit Sinn für Körperlichkeit
und Situiertheit neues hineintragen können. Der Strukturdeterminismus ist radikal
aufgesprengt. Personen sind nicht mehr „Opfer“ ihrer Determination aus Umständen,
sondern haben die Chancen, alternativen. Die werden nur in repressiven politischen
Systemen beschnitten. improvisation, das sich vom englischen „to improve“ ableitet,
muss als „Verbesserung“ eingedeutscht werden; der Jazzmusiker und Psychoanalytiker Steven Knoblauch (2000, 2012) sieht „improvising and accompagniment in jazz
as a metaphor for clinical technique“ und führt seine Überlegungen, im Wechselgesang mit psychoanalytischen Theorietraditionen zu einem Konzept des „resonant
minding“ (ebd., S. 95) fort.
Wie der Körper sich im Sprechen artikuliert, dazu bietet die kognitive linguistik
eine Menge Überlegungen an (Johnson 1987; lakoff und Johnson 1999). Die Wichtigste dürfte sein, dass bereits auf körperlicher erfahrungsebene dynamische, aber
abstrakte Schemata die Organisation der erfahrung bewerkstelligen. Für die Psychoanalyse interessant ist, dass die rede von einem „Container“-Schema ist.
Das Kind liegt „in“ einem Bett, das Bett steht „in“ einem Zimmer, das Zimmer
ist „Teil eines“ Hauses, das Haus „gehört zu“ einem Dorf usw. Jedes Mal ist etwas
in etwas enthalten. Diese abstrakte Struktur wird dynamisch durch ihre Projektion in
andere intellektuelle Domänen, etwa in die inklusionslogik, wonach a < B < C < D und
dann auch gilt, a < C bzw. D > a. Die Präposition „in“ bzw. die hier in anführungszeichen gesetzten Worte indizieren das Container-Schema ebenso wie die Vorsilbe „ent
-“ in „enthalten“. Das Container-Schema ist derartig analog zu Bion gedacht, dass
man sich wundert, wie wenig es zur Kenntnis genommen wurde. aber die kognitive
linguistik hat noch weitere, nun über Bion hinausgehende Schemata bereit. ich habe
diese an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Buchholz 2002a, b, 2003) und möchte
interessierte darauf verweisen. Hier soll es nunmehr um die Beziehung zwischen
Körpern gehen, und dafür schlage ich den Begriff des „resonating alignment“ vor.
Resonating alignment
Was kann man sich also unter solchem „resonating alignment“ (aron 1996; Buchholz 2013; Mergenthaler 2008) vorstellen? galatzer-levy (2009) berichtet ein wahrscheinlich typisches Beispiel aus der Behandlung eines jungen Mannes, der auf
Äußerungen seines analytikers regelmäßig mit längerem Schweigen reagierte und
dann mit einem anderen Thema weitermachte. Darauf angesprochen, habe er gesagt:
„i admit and go on.“ Diese Wendung, „admit and go on“, hat der analytiker dann vor
sich hin sinnierend wiederholt, und daraus sei dann allmählich eine immer mehr ins
Humorvolle sich wendende Äußerung beider geworden, die bei verschiedenen gelegenheiten gebraucht werden konnte. Das entscheidende aber sei die rhythmisierung
gewesen, die durch die Wiederholung entstand.
in der Tat, das erinnert an manche musikalische Momente. auch hier haben wir
es mit dem anspielen eines Themas zu tun, das von einer anderen instrumentengruppe aufgenommen, im rhythmus wiederholt, aber in der musikalischen Phrase
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leicht verändert wird (Berkowitz 2010; Sudnow 1978; Tüpker 2006). Condon und
Sander (1974) haben bereits vom „Hörtanz“ gesprochen: neugeborene bewegen sich
rhythmisch mit dem „baby talk“, dem Singsang ihrer Plegepersonen, mit; es kommt
durch die Synchronisation der rhythmen zu Momenten der Begegnung. Trevarthen
(1977) betonte, wie dadurch, dass etwas wiederkehrt, die Fähigkeit geschaffen und
bestätigt wird, etwas zu erwarten – ab den ersten lebenstagen!
Neuerdings interessieren sich einige Forscher für die speziische Form der „Intelligenz“, die beim Tanz gebraucht wird: Sie ist nicht schlussfolgernd, sondern improvisiert aus dem Moment; sie folgt nicht regeln, sondern eher körperlichen gefühlen
der Balance – nicht nur des eigenen Körpers, sondern auch des koenästhetischen
gemeingefühls mit dem Körper des anderen (Schwerdt 2009).
Wir inden eine ähnliche Beschreibung auch bei den Säuglingsforschern (Trevarthen 2002, 2005), die beobachten, wie Mütter sich im rhythmus dem gezappel ihres
Kindes anpassen und minimale kleine Veränderungen vornehmen – nach einer langen reihe geduldiger Wiederholungen. Das kindliche Pendel, wenn ich mir diesen
Schlenker hier erlauben darf, und das mütterliche Pendel synchronisieren sich miteinander. Diese Synchronisation geht über verschiedene Sinnesmodalitäten hinweg;
der rhythmus eines rufes kann durch die armbewegung oder das antippen der nase
des Kindes aufgenommen werden. Stern (1985) bezeichnete solche Synchronisation
als „transmodal“.
nach solcher Synchronisation kann die Veränderung des einen Pendels Veränderungen beim anderen nach sich ziehen, und beide zusammen evolvieren in neue
Beziehungsmuster. Tronick (2007) hat gezeigt, dass es hier nicht um Beruhigung,
sondern um den aufbau von Komplexität geht, den ein Bewusstsein für sich alleine
nicht erreichen könnte. auf der grundlage rhythmisch synchronisierter Koppelung
können sich andere Muster aulagern; das eine gibt Sicherheit, das andere ermöglicht
Veränderung.
Tatsächlich ist das, was Säuglinge brauchen, ein „dyadic state of consciousness“,
wie der von Tronick (2007) gebrauchte ausdruck lautet. ein dyadischer Bewusstseinszustand, Synchronisation zweier individueller Bewusstseine so, dass der abhängigere und Bedürftigere von beiden wissen kann – in einem nonrepräsentationalen
Sinn –, dass der andere ähnlich fühlt, denkt, erlebt, teilt und aufgrund dessen das
Hilfreiche tun wird. Solche Zustände werden in der analytischen Situation gesucht,
können lange nicht geschaffen und nie lange aufrechterhalten werden, aber sie haben
zu wenig Würdigung gefunden, am ehesten unter dem Stichwort der „guten Stunde“.
ich will ein Beispiel dafür geben.
Ein Fallbeispiel
ein Student beginnt seine fünfte Sitzung mit folgenden Worten: „Heute weiß ich gar
nicht so genau, was ich denn erzählen könnte. eigentlich ist ja nichts Schlimmes
passiert.“ Dann berichtet er, wie er mit seiner Mutter telefoniert hat und wie sehr ihn
deren Besorgtheit nerve. immer sage diese am Telefon, sie mache sich solche Sorgen,
ob er denn eine Freundin habe? Was seine Freunde denken? Ob er denn auch ausgehe?
Und ihm geht daran der salbungsvolle und „falsche“ Ton auf die nerven, so sehr,
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dass er sich etwas entlastet, indem er es vormacht, wie sie spricht; mir läuft es leicht
gruselnd den rücken runter. ich weiß von dem jungen Mann, der seine naturwissenschaftliche Doktorarbeit schreibt und intellektuell ziemlich „up to date“ ist, was ihn
so stört: eine gute Freundin hatte ihm schwer erschüttert erzählt, dass sein bester
Freund sie vergewaltigt habe, und da erinnerte er sich plötzlich daran, wie schwer
sein Vater ihn geschlagen hatte und die Mutter zuschauend daneben stand und nicht
eingriff. Da habe er lange nicht an seiner Dissertation arbeiten können, weil ihm das
„alles von früher hochgekommen“ sei. Und heute dieser falsche, dieser sorgenvolle
Ton! Was man denn da machen könne? Wie er sich verhalten könne? Mich bedrängt
diese art von Fragen danach, was man „machen“ könne, etwas, und so weise ich
ihn darauf hin, dass er begonnen habe mit der Vorstellung, dass ja „eigentlich nichts
Schlimmes passiert“ sei. Ob er denn die idee habe, mit seinem Therapeuten – es ist ja
erst die fünfte Sitzung – könne man nur über „Schlimmes“ sprechen? nee, lacht er,
natürlich nicht. eben, sage ich, dann müsste ja auch immer was „Schlimmes“ gefunden werden – und darüber müssten wir uns ja dann gemeinsam „Sorgen machen“,
so, wie ihm das an seiner Mutter ja gerade nicht gefallen habe. „Das stimmt!“, sagt
er erleichtert und lächelnd. Und stellt dann fest, wenn man zusammen so etwas noch
mal betrachte, dann merke er richtig, wie sich sein Denken ändere.
er kaut intensiv auf seinen lippen herum, was ich nun anspreche. „ich glaube, ich
bin eigentlich verzweifelt, wenn ich mich an all das erinnere. Dann sage ich mir: ‚Hör
auf zu lennen, Du hast doch überhaupt keinen Grund, es ist doch alles in Ordnung,
lass das jetzt.‘“ Wieder lächelt er sein mir schon vertrautes „social smiling“. ich antworte: „Sie wollen hier nicht weinen, obwohl ihnen so zumute danach ist. Und dann
reden Sie so per Du mit sich, vielleicht in der gleichen Weise, wie früher manchmal
ihre eltern mit ihnen geschimpft haben könnten, wenn Sie weinten.“ er zuckt leicht
zusammen. „Herrje!“, er bekommt Tränen in die augen: „Das mache ich immer so,
dass ich dann so mit mir selbst rede. Woher wissen Sie, dass meine eltern so mit mir
geredet haben?“ ich antworte, dass ich das ja gar nicht wüsste, sondern nur vermutet habe, weil es so naheliege. „ich selbst kann das immer erst sehen, wenn mir das
jemand sagt“, fügt er an. „Und vielleicht lächle ich deshalb dann auch immer und
immer und immer, das geht mir selbst schon so auf die nerven, ich bin immer viel zu
freundlich zu allen leuten.“
Das ist natürlich nur eine kleine episode, die aber deutlich macht, wie sich für
einen Moment ein dyadischer Bewusstseinszustand einstellen konnte. Mein Denken
und sein Denken verbanden sich für einen augenblick so, dass eine neue lösung
erkennbar und fühlbar wurde. Die entwickelte sich dann natürlich erst viel später in
allen Details. Vor allem die Identiizierung mit der vergewaltigten Freundin wurde
später ein wichtiges Thema, die auseinandersetzung mit der Mutter, die Wiedergewinnung eines stabilen Selbstgefühls. Hier soll dieser kleine ausschnitt lediglich
illustrieren, welchen Wert das Konzept von Tronick für die therapeutische arbeit hat.
Das einzelne „Bewusstsein“ braucht das des anderen manchmal, um die art von
Problemen zu lösen, die wir als „neurotisch“ oder anderweitig „gestört“ bezeichnen. Dabei kommen kognitive Prozesse ins Spiel, die weit mehr sind als Wahrnehmung, Denken, Konzeptbildung, Metaphorisierung usw. Diese „anderen Prozesse“
bekommt man in den Blick, wenn man den Bezugsrahmen auf soziale Kognition hin
erweitert. Vor allem wird ersichtlich, wie wenig das so verstandene Kognitive vom
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affektiven getrennt werden kann. neue, veränderte affekte kommen vielmehr ins
Spiel durch einen Wechsel der Perspektive, die dieser Patient bereitwillig auf meinen
Vorschlag hin einnimmt und so plötzlich etwas „sieht“, was er vorher nicht sehen
konnte, was ich aber „sehen“ konnte: wie sehr er das mütterliche introjekt in die
Sitzung mithineinbringt, wenn er mit sich schimpft. indem er das nun mit mir zusammen „sieht“, kann er Sensibilität für seine eigene lage gewinnen und beginnen, sich
davon zu lösen. Solches metaphorische „Sehen“ ist vom affektiven nicht zu trennen.
Damit bin ich bei den Metaphern angekommen, aber die neigung, darauf zu rasch
abzufahren, muss ich noch etwas zurückstellen, weil ich kurz wenigstens noch die
entwicklungen in der „cognitive science“ mitteilen möchte, die hier zu ganz ähnlichen Schlüssen gelangt wie die klinische erfahrung. Das neue, so hatte ich gesagt,
kommt aus der veränderten Positionierung des Subjekts, das nicht mehr von seinen –
inneren und äußeren Kontexten – determiniert ist, sondern sich selbst zu eben diesen
Kontexten ins Verhältnis setzen kann. Und wenn es das von sich aus nicht kann, dann
sucht es mit einem anderen den dyadischen Bewusstseinszustand, um eben diese
Möglichkeit wiederzuerlangen.
Psychotherapie heißt, dem Neuen Platz einräumen
Diese Möglichkeit des neuen muss Psychotherapeuten mit nachdruck interessieren.
embodiment ist ein solches neues Moment, aber es ist nur Teil einer viel umfassenderen großen revolution in den Cognitive sciences, das mittlerweile mit Sinn für ironie
als „4ea“-Paradigma (Choudhury und Slaby 2012) bezeichnet wird – was gemeint
ist, ergibt sich sofort.
Die ältere annahme, dass menschliches Problemlösen durch eine Computeranalogie am besten zu modellieren sei, also eine art mathematischer „general problem
solver“ (gPS) hatte sich als unhaltbar erwiesen (Shapiro 2011). Der einschluss des
Körpers in den Problemlösungsakt, die resonanz mit menschlicher und nutzung
symbolischer Umwelt haben nachdrücklich klargestellt, dass die alleinige Fokussierung auf den gPS zu erheblichen Verkürzungen führe. Seitdem hat die Cognitive science eine Wendung genommen, die Psychoanalytiker interessieren muss. Sie schließt
Körper, Umwelt und ausdehnung des Selbst(gefühls) ein. Der neue Titel dafür heißt
„situated cognition“ (robbins und aydede 2009), und unter diesem Titel werden
Phänomene studiert, die direkte relevanz für therapeutische Praxis haben, etwa das
Konzept einer „distributed cognition“ – Wissen ist nicht nur in einem, sondern in
vielen Köpfen verteilt, kooperiert situativ gesteuert und fein kalibriert und aktualisiert sich lüchtig, nämlich von Situationen solcher Einstimmung abhängig. Das
affektive „attunement“ bekommt damit für die leistungen der Kognition eine rolle
zugewiesen, wie man es in der Therapeutik seit vielen Jahren beschrieben indet. Es
geht (hier folgen neben dem affektiven nun die vierfachen „e“) um die im Folgenden
beschriebenen entwicklungen.
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Die embodiment-These
Die embodiment-These besagt, dass Denken nicht nur angelegenheit des gehirns
ist, nicht nur im Kopf geschieht, sondern der ganze Körper daran beteiligt ist (Fuchs
2008; Shapiro 2011). Diese richtung der Kognitionsforschung verläuft, wenn auch
in ganz anderen theoretischen rahmungen, parallel zu den anregungen, die innerhalb der Psychoanalyse lorenzer (1988) als „Hermeneutik des leibes“ vorgebahnt
hatte und die heute als Einbeziehung des Körpers klinisch große Beachtung inden
(Buchholz 1995, 2002a; Scharff 2010). Psychoanalytische Untersuchungen können
gut an sozialwissenschaftliche Forschungen anschließen und dabei insbesondere die
Forschungen zur „multimodalen“ Metapher einschließen.
Die „embedding“-These
Die embedding-These besagt, dass Denken keineswegs nur mit symbolisch-repräsentationalen Mitteln operiert, sondern auch Umwelten aktiv nutzt bzw. sogar ausbeutet; dafür werde ich später ein schönes Beispiel nennen. Auch hier inden sich
psychoanalytische ansätze (gerson 1996; Jacobs 1994), die mit anderen (Millikan
2009; Spivey und richardson 2009) kompatibel scheinen, zumindest daraufhin
geprüft werden könnten.
Die extensionsthese
Die extensionsthese besagt, dass die grenzen der Kognition über die des individuellen Organismus weit hinausreichen (Überblick bei robbins und aydede 2009). Dass
zu Objekten Umwelten und affektiv hoch besetzte gegenstände zählen, ist beständige klinische erfahrung. Die Psychoanalyse hat in ihrer narzissmustheorie einen
ansatz entwickelt, die ausdehnung des Selbst über die grenzen des Organismus hinaus zu denken (Kohut 1973; Stein 1979).
Die „enaction“-These
Die enaction-These besagt etwa so viel wie das, was ich hier unter dem Stichwort der
improvisation vorgestellt habe.
Wir haben es also mit vier plus einer neuen entwicklung zu tun, und diese lassen
uns verstehen, wie der Weg vom Körper zur Konversation vorgestellt werden kann.
ich begnüge mich hier mit einer Skizze. am Beispiel von Metonymie und Metapher
kann man diese Zusammenhänge am besten illustrieren.
Metonymie und Metapher
Seit der entdeckung der Spiegelneuronen sind gallese et al. (2007) dem „intentional attunement“, der absichtsvollen einstimmung, nachgegangen. Der entdecker der
Spiegelneuronen schreibt mit psychoanalytischen autoren über „embodied simulation“. „Simulation“ meint, wie man einen anderen versteht, mit dem man koope-
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riert. Die autoren berichten davon, dass wir auf eine ziemlich unmittelbare Weise
auch absichten verstehen. nehmen wir die Handlung „aus einer Tasse trinken“.
Diese Handlung wird von einem Schimpansen ausgeführt, den ein anderer Schimpanse beobachtet. Die entsprechenden Spiegelneuronen für das Ziel dieser Handlung
(Trinken) beginnen beim Beobachter bereits aktiv zu werden, wenn das beobachtete
Tier nur einen ersten Blick auf die Tasse wirft, bevor es einen entfernten Stuhl an
den hohen Tisch holt, auf dem die Tasse steht, die erst befüllt werden muss, und
dann die Hand nach der Tasse ausstreckt – das heißt, der Beobachter „weiß“ bereits
gut 10 Sekunden vor der Handlung um deren Ziel, bevor er es überhaupt zu sehen
bekommt. Dem Beobachter wird so möglich, den gesamten Handlungsplan (S. 137)
vorherzusagen.
ich würde zur erklärung gestalttheoretisch2 denken: Das erblicken der Tasse ist
Teil einer Handlungsgestalt, und deshalb können wir aus einem Teil auf das ganze
der Handlungsgestalt schließen, weil wir die absicht ahnen. Wenn auch in engen
grenzen orientieren sich bereits Primaten am sichtbaren Verhalten, welches sie als
index für unsichtbare absichten nehmen; Primaten, so kann man lernen, sind keine
Behavioristen (Hebb 1946; Meltzoff et al. 1999).
Man sieht einen Teil und weiß ums ganze. Das „Pars-pro-toto“-Prinzip ist Vorläufergestalt dessen, was später in der Sprachentwicklung als Metonymie bezeichnet
wird (Borbely 2008). Der Metonymie eignet eine „Steht-für“-Beziehung. Der nur
angedeutete Blick nach der Tasse „steht für“ die gesamte Handlungsgestalt.
Die Metonymie wird nicht erst mit diskursiver Symbolik erworben. Der spätere Spracherwerb baut auf dem Pars-pro-toto-Prinzip auf, das schon längst vorher
gemeistert wird. Schon Schimpansen (greenspan und Shanker 2007) erkennen ganze
Muster (Tomasello 2002) von Handlungsgestalten, und deshalb genügt ein Teil, um
einen Beobachter die absicht nachbildend verstehen zu lassen.
in menschlicher Konversation zeigt das Kind aus seinem Stühlchen heraus auf
den Ball, und die Mutter bringt ihn; sie versteht die absicht. Bereits 12 Monate alte
Kleinkinder suchen danach, dass ihr mentaler Zustand angemessen verstanden wird,
sodass sie sich in einem Feld der „shared intentionality“ mit anderen beinden können. Die idee, dass Kinder „Sender“ sind und erwachsene deren Botschaften „empfangen“ und entschlüsseln müssten, würde genau dies grundlegende Motiv nach
Shared intentionality verfehlen. So zu denken, wäre noch individualistisch, während
es um „geteilte intentionalität“ geht, die sich in einem „Wir-gefühl“ ausbildet. in
dieser frühen entwicklung haben wir es nicht nur mit der Perspektive der ersten
und der dritten Person zu tun. es genügt nicht, sich vorzustellen, dass das Kind die
eigene, egozentrische Perspektive mit einer Perspektivenübernahme des anderen,
der „alterozentrischen“ Perspektive des Dritten erweitert, sondern hier geht es um
eine Perspektive der zweiten Person, um die ausbildung eines „Wir“ – wir spielen
Und folge darin der Beobachtung von Eagle und Wakeield (2007), dass zahlreiche Entdeckungen der
neurowissenschaften im Umfeld der gestalttheorie (Wolfgang Köhler, Wolfgang Metzger und viele
andere) der 1920er Jahre schon gemacht worden sind. ich habe in meinem Vortrag 2009 (DgPT-Jahrestagung, Berlin) ebenfalls auf einige solche Vorläufer hingewiesen.
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gemeinsam, wir verabschieden uns beim gute-nacht-Sagen, wir lösen das „Wir“gefühl auch gemeinsam auf, wenn die Trennung durch den Schlaf kommt3.
Doch das „Wir“ gehört nicht nur zur „primitiven“ Welt der Kinder. Die entsprechung in der Konversation zwischen erwachsenen ist, wenn einer beim essen auf
das entfernt stehende Salzfäßchen zeigt und mit vollem Munde bei hoch wippendem
Kinn einen laut murmelt – man versteht die absicht und reagiert nach dem Pars-prototo-Prinzip. Das ist übrigens ein Beispiel für einen registerwechsel – vom Verbalen
(das wegen des vollen Mundes behindert ist) zum nonverbalen, den niemand als
„primitiv“ kennzeichnen würde.
Später sagt das Kind einfach „Da!“, und aus diesem kleinen Partikel wird das
ganze der absicht meist sicher erschlossen. es war kein geringerer als Wilhelm von
Humboldt, der in seiner Sprachtheorie von 1836 bereits formulierte, dass einwortsätze der Kinder vollständige Sprechakte seien. Sie können den ganzen Satz noch
nicht sagen, aber das eine Wort „steht für“ ihn so, wie die geste des Zeigens ebenfalls für das ganze Muster steht. Das ganze ist nicht nur mehr, sondern auch früher
als seine Teile.
es ist ziemlich aufregend, dass die Befunde der Säuglingsforscher und die der linguisten darin zusammentreffen, dass es körperliche Mikropraktiken (Downing 2005)
sind, die gleichsam in die Bildung von Konzepten hineinprojiziert werden (Dissanayake 1999, 2010; Johnson 1987; lakoff und nunez 2000; Müller 2003). Hinzu
kommt die bahnbrechende entdeckung von Tomasello (2002, 2009), dass Kinder
sich ab dem neunten lebensmonat in ihrer entwicklung dadurch von Primatenbabys
unterscheiden, dass sie begreifen, dass äußeres Verhalten auf innere absichten schließen lässt und dass sie ebenso wie andere selbst Wesen mit kooperierenden absichten
und Zielen sind. Das macht die Substanz dessen aus, was wir als Subjektwerdung,
als Bildung des Selbstbewusstseins bezeichnen. in dieser vorsprachlichen konzeptbildenden Unterscheidung von sichtbarem Verhalten und unsichtbarer absicht trennt
sich menschliche entwicklung von derjenigen der Primaten (Meltzoff et al. 1999).
erst spät können absichten ignoriert werden, dann wird Wahrnehmung von
absichten mit nachfolgender ignoranz ein Distanzierungsverfahren. Vorher aber
distanziert sich das Baby mehr und mehr vom manifesten Verhalten, von der Sichtbarkeit der Phänomene, und das tut es von anfang an. es wendet sich in seiner entwicklung dem Unsichtbaren zu.
Affektive Codierung indet zugleich mit der physischen statt, und wenn das Baby
das versteht, mit einem zweiten gedanken gleichsam, dann fängt es selbst an, auch
anderen affektive erlebnisse zuzumuten. es lächelt die Mutter – bereits mit vierzehn lebenstagen (Kugiumutziakis et al. 2005) – initiativ an, um auf ihrem gesicht
ein lächeln zu erzeugen; es wirft den löffel herunter, um den affekt der Mutter zu
besichtigen; es erprobt sich als „causa prima“, als erste Ursache affektiver resonanz. es wird „his majesty, the baby“, wie Freud formuliert; es wird intentionaler
Souverän.
Kommen wir zum Beispiel des Teetrinkens zurück. Schon der Schimpanse also
kann die absicht aus der andeutung eines Blicks erraten, aber Schimpansen nutzen
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Cacioppo et al. (2006) formulieren, dass wir es mit „people thinking about thinking people“ zu tun
haben, und damit wird sehr schön auf den interaktiven Kreislauf aufmerksam gemacht.
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diese Kompetenz weder systematisch für Kooperationen, noch geben sie diese Fähigkeit an andere weiter.
Wenn ein Mensch hingegen in späteren entwicklungsstufen erzählt, aus einer
Tasse getrunken zu haben, dann verstehen Hörer einen solchen Satz, weil auch sie
sich diese Handlung imaginieren – und diese imagination hat wiederum neuronale
Korrelate auf der Basis des Systems der Spiegelneuronen. Die Daten zeigen,
that listening to sentences describing actions activates different sectors of the
motor system, depending on the effector used in the action described. (gallese
et al. 2007, S. 139)
Die entwicklungslinie ist also ungefähr so: Wir sehen also jemanden etwas tun, und
die Spiegelneuronen aktivieren sich im Kopf eines Beobachters, aber wir üben die
gleiche Handlung gerade nicht aus. auf der Unterscheidung von sichtbarem Verhalten und unsichtbarer absicht baut sich die nächste zwischen Darstellung und
Vorstellung, imagination also, auf. Wir können uns nun etwas gehörtes vorstellen,
was nicht da ist, und wir können ab diesem augenblick mit Bildern zu manipulieren beginnen. Wir hören von einem Tun wie dem Trinken aus der Teetasse, und es
passiert etwas analoges; unsere imagination bleibt unsichtbar, aber höchst wirksam
befördert sie die gesprächsweise Kooperation zwischen erzähler und Zuhörer (gallese 2003; Feldman 2008). Und geschickte erzähler manipulieren unsere Vorstellung
so, dass es uns eine Freude wird. Wir bilden, wenn auch abgeschwächt, die affekte
nach, die eine geschichte aufzurufen vermag. es war ein autor des 19. Jahrhunderts,
Otto ludwig (1813–1865), der die nur „referierende“ erzählung von einer „scenischen“ erzählung unterschied (nach Hogrebe 2009). Bei der szenischen erzählung
wird nicht „über“ etwas gesprochen, sondern die geschichte zieht den leser ins Miterleben hinein, dass durch das Ohr dem auge etwas mitgeteilt werde! Wir „sehen“
mit inneren Sinnen die „Szene“, von der andere sprechen, und wir sehen sie genau
dann, wenn aus dem bloß Berichtenden in den Modus des Szenischen übergegangen
wird. in all diesen entwicklungen ist das affektive Moment das, was Worten persönliche Bedeutung verleiht.
Damit hat man schon eine Menge erklärungspotenzial, um die weiteren entwicklungsschritte zu erhellen.
Kommen wir von der Metonymie zur Metapher.
Interaktionen des Kindes mit Mutter und Umwelt
Die interaktionen des Kindes mit Mutter und Umwelt bedeuten dem Kind in umfänglicher Weise, als was es etwas aufzufassen hat. emde (1983, 1995) hat mit dem Paradigma des „social referencing“ gezeigt, wie man sich das vorstellen kann. Kommt
das Kind in eine für es neue Situation, dann schaut es fragend zur Mutter, als was es
diese Situation auffassen soll: als beängstigend oder als amüsant? als rückzug oder
Mut erfordernd? Die reaktion der Mutter bestimmt, als was etwas erlebt wird. Das
hat mit der Fähigkeit der Mustererkennung zu tun. Der Säugling bekommt einen
genoppten Schnuller in den Mund, aber er erkennt ihn wieder auf einem Bild, das
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er länger anblickt als andere Schnuller. er erkennt die gleiche gestalt, auch wenn es
sich um verschiedene Sinnesmodalitäten handelt.
Das Kind sieht eine Katze und sagt: „Wau-wau“. Schwer zu verstehen, warum
das Kind das macht. Die antwort kann (lakoff 1987; rosch 1973; Horowitz und
Malle 1993; günthner und Knoblauch 1994) auf der Basis gegeben werden, dass das
Kind nicht einfach kategorisiert, sondern eine metaphorische Projektion vornimmt:
es sieht die (gestalt der) Katze als Hund. Das Kind nimmt eine Metapher wahr nach
der Form: Der Hund ist eine Katze – und ist natürlich keine Katze. [Der Psychoanalytiker Borbely (2008) nennt das eine „hedge equation”; Stählin (1914) sprach schon
früh von der „Bewusstseinslage der doppelten Bedeutung“, die es brauche, um die
Metapher als Metapher zu verstehen (Buchholz 2003)].
Das alles hat mit dem Wörtchen „als“ enorm viel zu tun. Das Kind sieht und erlebt
eine Situation. Das ist das Phänomen, das gleichsam unmittelbare Moment der Sinnesreizung von auge, Ohr, raum-lage-labilität und Kinästhetik. Als was es diese
Situation affektiv erlebt, dazu bedarf es des von der Mutter gesicherten affektiven
Wertes.
nehmen wir nun einmal an, das Kind habe solche erlebnisse vielfach gehabt.
es bildet sich dann ein Muster heraus, wonach dieselbe Situation mal so, mal so
aufgefasst werden kann. Mal mag es mit dem Ball spielen, aber wenn es müde ist,
stösst es ihn weg; mal lässt es sich vom Bruder beruhigend auf dem arm tragen, bei
nächster gelegenheit aber nicht. nicht unbedingt deshalb, weil die äußeren Kontexte anders sind, sondern weil es eine entdeckung gemacht hat: es selbst kann den
affekt bestimmen! Die typischen Szenen dazu sind, wenn das Kind mit dem löffel
gefüttert wird: Mal wirft es den hingelegten löffel zu Boden, die Mutter muss sich
bücken. Mal freut es sich offenbar, wenn der löffel im Munde gut ankommt. es kann
in einem gewissen Umfang festlegen, als was etwas gilt: lustig oder ernst? Selbstbestimmt oder brav? Die Mutter ärgern und sich daran sogar erfreuen. Das Kind
erobert sich emotionale Deutungshoheit. es ist dabei, ein initiatives Selbstgefühl in
affektiver Verbindung mit anderen aufzubauen.
etwas zu sehen „als“ ist ein charakteristisches Merkmal einer besonderen sprachlichen Figur, der Metapher. Die christliche religion sieht im „Vaterunser“ gott als
Vater, und die psychoanalytische religionskritik nennt das Vaterprojektion; solche
Projektion ist an sich kein pathologischer Mechanismus, denn wir sprechen in der
gleichen Weise auch vom lebensabend und projizieren das Modell eines einzelnen
Tagesablaufs auf das ganze leben. in beiden Fällen verstehen wir das größere als
das Kleinere, das Unbekannte als das Bekannte und machen es uns so vertraut. Wir
sagen aber auch: „er ist verrückt nach ihr“ und projizieren unsere Vorstellungen vom
Wahnsinn auf die liebe. Diese art der Projektion ist nicht pathologisch, sondern
metaphorisch. Sie ermöglicht uns, etwas im licht von etwas anderem zu sehen. Wir
sehen die liebe als Wahnsinn – und wissen immer zugleich, dass sie kein Wahnsinn
ist (Buchholz 2003). Wer sagen würde, „Dieses Bild ist ein Schinken“ und würde
hineinbeißen, der würde das „ist“ in dieser gleichung wörtlich nehmen und damit
zeigen, dass er die Metapher nicht versteht.
Das Wörtchen als in diesen Wendungen zeigt uns demgegenüber genau an, wenn
wir etwas in Begriffen eines anderen verstehen und zugleich um den Unterschied
wissen. Das kann man auch so ausdrücken, dass wir die eine erfahrung auf eine
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andere erfahrung projizieren. Patienten begegnen erstmalig einem analytiker. Was
sollen sie mit einer solchen neuen erfahrung tun? Sie begreifen das mit den erfahrungsmustern ihrer bisherigen erfahrung. Sie projizieren die alte Vergangenheit auf
die neue gegenwart, und die analyse hat die aufgabe, sie zu entängstigen, sodass sie
Mut inden, sich dem Neuen zu stellen.
Vorsprachlicher Metapherngebrauch ermöglicht so, eine Situation als eine andere,
ein Objekt als ein anderes zu verstehen. ein vorsprachliches Kind nimmt den Schlüsselbund (Tomasello 2003) und macht „brumm, brumm“; es baut eine Metapher, nutzt
den Schlüsselbund als auto. Die Mutter, wenn sie denn verständig ist, belehrt das
Kind nun nicht etwa über falschen Sprachgebrauch, sondern nimmt ihrerseits einen
Stift und lässt den als Spaziergänger auftreten. Sie antwortet mit einer anderen vorsprachlichen Metapher. Beide spielen in affektiver resonanz; beide konsolidieren
das Wir-gefühl der Verbundenheit.
Wie stehen Metapher und Metonymie zueinander?
Die Metapher akzentuiert die Verbindung; sie verbindet das alte mit dem neuen,
die Vergangenheit mit der gegenwart, das Kleine mit dem großen, das spielende
Kind mit der mitspielenden Mutter. Der Unterschied zwischen auto und Schlüsselbund, zwischen Bleistift und Fußgänger wird für die Dauer des Spiels gleichsam
unterbelichtet.
Die Metonymie macht genau das gegenteil. Die Unterscheidung zwischen unsichtbarer intentionalität und sichtbarem Verhalten, die erfahrung verschiedener Muster
mit anderen, die Bildung von Konzepten überhaupt – dies alles akzentuiert Unterschied und Trennung, während Verbundenheit unterbelichtet bleibt. es geht dabei
jeweils um akzentuierungen, denn der Wechsel von Verbundenheit und Trennung
ist wohl der, der die resonanz am meisten in Schwingungen versetzt. Die sich dabei
ausbildenden rhythmen haben mit Unterschied und mit gestalt zu tun.
gestalt- oder Mustererkennung bezeichnen Fähigkeiten, mit der die Bindung ans
Materielle überwunden wird, auch wenn das Materielle Basis bleibt. Man muss nur
verstehen, wie geist nicht vertikal aus Materie entsteht, sondern horizontal durch
erfahrung mit menschlichen Personen und materialen Objekten (Fuchs 2007; Hüther
2005; Sattar 2012). ab einem bestimmten entwicklungspunkt ist es nicht mehr das
gehirn, das geist und Bewusstsein aus sich hervortreibt, sondern umgekehrt ist es
das Bewusstsein, das sich das gehirn baut, das es braucht. So hat es der Zürcher
Psychologe Werner Marx (2003) jedenfalls einmal formuliert. Bewusstsein braucht
Körper – und Kultur.
Schlussbemerkung
all diese Überlegungen konnten hier nur angedeutet werden. Wer die Originaltexte
liest, ist verblüfft, wie nahe manche autoren der Kognitionsforschung an psychoanalytische Formulierungen gelangen und diese erkennbar nicht etwa verschweigen,
sondern nicht kennen. gerade deshalb ist das Verhältnis wechselseitiger anregung
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derzeit einseitig; die therapeutische Praxis aber kann gewaltig von den entwicklungen proitieren. Was Freud und Ferenczi begonnen haben, indem sie die Regungen
des Körpers – vom Flatus bis zur Fehlleistung, vom Blickdrehen bis zur „zerstreuten“
Bewegung – mit in die psychoanalytische Konversation aufzunehmen eingeladen
haben und dafür aufmerksam wurden, könnte in systematischerer Weise in unsere
Theorie und Praxis integriert werden. Man kann neue Sensibilitäten ausbilden für die
Präsenz im Behandlungszimmer, für die atmosphärenwechsel beim Themenabbruch
und gedankensprung, für die regungen der Peristaltik beim Durchlaufen der gehirnwindungen. nicht alles, was auf diesem Weg gehört wird, muss deshalb sofort auch
ausgesprochen werden. aber es darf bemerkt werden. Der Körper ist weit mehr in
der Konversation präsent, als man denkt. aber er muss sich nicht körperlich – etwa
durch Berührungen – behandlungstechnisch mitteilen, sondern im Wissen um seine
Präsenz im Sprechen schon.
Jetzt könnte ich noch auf die rolle der gestik zu sprechen kommen, aber ich
möchte lieber mit einem Zitat aus der nobelpreisrede von Herta Müller schließen,
das den Zusammenhang zwischen embodiment und „embeddedness“, zwischen
enaction und extension zusammen mit dem affektiven wunderbar formuliert –
gerade dann, wenn dieser Zusammenhang machtvoll zerschlagen wurde:
Je mehr das geschriebene mich ausraubt, desto mehr zeigt es dem gelebten,
was es im erleben nicht gab. nur die Wörter entdecken es, weil sie es vorher
nicht wussten. Wo sie das gelebte überraschen, spiegeln sie es am besten. Sie
werden so zwingend, dass sich das gelebte an sie klammern muss, damit es
nicht zerfällt.
Mir scheint, die gegenstände kennen ihr Material nicht, die gesten kennen
nicht ihre gefühle und die Wörter nicht den Mund, der spricht. aber um uns der
eigenen existenz zu versichern, brauchen wir die gegenstände, die gesten und
die Wörter. Je mehr Wörter wir uns nehmen dürfen, desto freier sind wir doch.
Wenn uns der Mund verboten wird, suchen wir uns durch gesten, sogar durch
gegenstände zu behaupten. Sie sind schwerer zu deuten, bleiben eine Zeitlang
unverdächtig. So können sie uns helfen, die erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeitlang unverdächtig bleibt ( FAZ vom 08.12.2009, S. 33).
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Michael B. Buchholz, Dipl.-Psych., Dr. phil., Dr. disc. pol.; apl. Prof. am Fachbereich Sozialwissenschaft,
zugleich ordentlicher Professor an der international Psychoanalytic University (iPU), Berlin. lehranalytiker (DPg, DgPT). Zahlreiche Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift, u. a. „Die therapeutische Situation“
(Heft 4, 1988), „Familien in der Moderne. nS-Vergangenheit und „Vaterlosigkeit“ “ (Heft 1, 1989), „Die
rotation der Triade“ (Heft 2, 1990), „Die regression der Triade“ (Heft 1, 1991), „arbeit am Widerstand“
(Heft 3, 1992), „Psychoanalytische Professionalität“ (Heft 1, 1997), „Die Psychoanalyse der Zukunft“
(Heft 3, 1999), „lehren aus der Psychoanalyse“ (Heft 3, 2001), „Die VerPuffung der gesellschaft“ (Heft 3,
2006), „The times they are a changing“ (Heft 4, 2008). Zuletzt erschienen „Der Besen, mit dem die Hexe
liegt“ (2012, 2 Bände, hg. zus. mit Günter Gödde).
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