Themenheft 3/2024
Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
0. Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Leserinnen und Leser,
der Missbrauch von Alkohol, Drogen und Medikamenten stellt
eine bedeutende Herausforderung für die Arbeit mit jungen
Menschen dar. Fachkräfte in Jugendwerkstätten und ProAktiv Centren begegnen häufig Jugendlichen, die sich in einer Phase der Orientierung, des Wandels und der Belastung
befinden. In solchen Lebenssituationen kann der Konsum
von Suchtmitteln als scheinbare Bewältigungsstrategie auftreten – mit gravierenden Folgen für die körperliche, psychische und soziale Entwicklung.
Um diese komplexe Problematik fachgerecht anzugehen,
bedarf es einer differenzierten Betrachtung verschiedener
Aspekte: Welche Definitionen und Merkmale kennzeichnen
den Missbrauch von Alkohol, Drogen und Medikamenten?
Welche Konsummuster und Substanzen sind besonders verbreitet? Welche Ursachen und Risikofaktoren begünstigen
den Einstieg in einen problematischen Konsum?
Fachkräfte sind zudem gefordert, frühzeitig Anzeichen für
Missbrauch zu erkennen und individuell zugeschnittene Unterstützung anzubieten. Hierfür sind sowohl fundiertes Wissen über die Wirkung von Suchtmitteln auf Körper und Psyche als auch der Zugang zu praxistauglichen Handlungsansätzen entscheidend.
Inhalt
0.
Einleitung
1
1.
Rausch und Risiko –
Substanzkonsum im Jugendalter, Dominika
Lachowicz
3
2.
Eine Herausforderung
auch für die Jugendberufshilfe: Missbrauch
bzw. Abhängigkeit von
Alkohol, Drogen und Medikamenten, Lars Fischer
9
3.
Konsum in der Jugend Gradwanderung zwischen Genuss und Problem, Jenny Lehnert-Ott und
Theresa Korte
17
4.
Suchtmittelgebrauch in
Einrichtungen der Jugendhilfe – Minnesota
Modell oder Harm Reduction? Jugendwerkstatt
Weserbergland
24
5.
"Drogen-, Alkohol-, und
Medikamentenmissbrauch", Pro-Aktiv-Center
des Caritasverbands e. V.
in Braunschweig, Daniela
Tedesco
27
6.
Links, Empfehlungen und
Impressum
29
Im ersten Beitrag dieses Themenhefts beleuchtet Dominika
Lachowicz, Referentin für Suchtprävention der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, zentrale Fragen rund um Missbrauch und Konsumverhalten. Dabei steht die Frage im Fokus, welche konkreten Handlungsmöglichkeiten Fachkräfte haben, um Jugendliche kompetent zu begleiten.
Lars Fischer, Abteilungsleiter des Paritätischen Braunschweig, widmet sich im zweiten
Beitrag spezifisch dem Mischkonsum von Medikamenten und anderen Suchtmitteln. Neben
den körperlichen und psychischen Auswirkungen sowie der Klassifikation psychoaktiver
Substanzen bietet er Einblicke in verschiedene Präventionsebenen.
Im dritten Beitrag teilen Jenny Lehnert-Ott und Theresa Korte von der Suchtpräventionsstelle Prisma Hannover ihre praktischen Erfahrungen aus der Präventions- und Sucht-
1
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
hilfearbeit. Sie erörtern, wie Fachkräfte junge Menschen individuell und ressourcenorientiert
unterstützen können und geben praxisnahe Tipps für die Arbeit in der Jugendhilfe.
Abgerundet wird das Themenheft durch zwei fachpraktische Beispiele, die die Herausforderungen und Potenziale im Umgang mit Jugendlichen unter dem Einfluss von Suchtmitteln
verdeutlichen. Im ersten Praxisbeispiel stellt das Pro-Aktiv-Center Braunschweig des
Caritasverbandes seine bewährten pädagogischen Ansätze in der Beratung von Jugendlichen mit starkem Drogen- und Alkoholkonsum vor. Anhand eines konkreten Fallbeispiels
werden praktische Maßnahmen veranschaulicht. Zudem gewährt die Jugendwerkstatt Weserbergland Einblicke in die Anwendung des Minnesota-Modells.
Dieses Themenheft dient als fundierte Grundlage, um Fachkräfte in der Jugendberufshilfe für
die vielschichtigen Herausforderungen im Umgang mit Suchtmittelmissbrauch zu sensibilisieren und zu stärken. Ziel ist es, praktische Lösungsansätze und neue Perspektiven für die
tägliche Arbeit aufzuzeigen und so die Unterstützung junger Menschen zu optimieren.
Wie immer finden Sie am Ende dieser Ausgabe Links und Empfehlungen zum Thema. Wir
hoffen, dass Sie einige Aspekte für sich und Ihre Arbeit aus diesem Themenheft herausziehen können und wünschen Ihnen aufschlussreiche Anregungen beim Lesen.
Das Referat Pro-Aktiv-Centren und Jugendwerkstätten der LAG JSA dankt allen Autorinnen
und Autoren herzlich für ihre Beiträge.
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
1. Rausch und Risiko – Substanzkonsum im Jugendalter
Autorin: Dominika Lachowicz, *1983, M.A., Dipl. Sozialpädagogin, seit 2005 in der Suchtprävention tätig; 2006 bis 2009 in
der ambulanten und stationären Suchthilfe; 2009 – 2015 Präventionsfachkraft für Suchtprävention auf kommunaler Ebene.
Seit 2015 Referentin für Suchtprävention bei der Landesstelle
Jugendschutz Niedersachsen mit den Arbeitsschwerpunkten
Fortbildungsangebote für pädagogische Fachkräfte und Projektleitung MOVE.
Ob Vapes, Zigaretten, Alkohol, Cannabis oder Partydrogen – der erste Konsum von legalen und illegalen Suchtmitteln findet häufig im
Jugendalter statt. Insbesondere das Experimentieren und sich Ausprobieren mit diesen Substanzen steht für junge Menschen in diesem Alter im Vordergrund. Um dazu zu gehören, zu
entspannen, abzuschalten oder Hemmungen abzubauen – der Konsum von Suchtmitteln ist
für Jugendliche meist positiv besetzt und macht aus ihrer Sicht Sinn. Auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive werden diese teilweise riskanten Verhaltensweisen als
sinnvoll angesehen, da sie zur Identitätsarbeit von Jugendlichen beitragen. Das Rauchen
oder Vapen kann bspw. eine gewisse Unabhängigkeit von den Eltern demonstrieren und
dadurch die eigene, für diese Lebensphase notwendige, Verselbstständigung fördern. Zur
Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben kann der Suchtmittelkonsum somit einen
Beitrag leisten. Da der Übergang vom Probierkonsum über problematische Konsummuster
hin zur Abhängigkeit jedoch fließend ist und sich je nach Persönlichkeit, den äußeren Umständen und der Häufigkeit des Konsums individuell entwickelt, ist es notwendig die jeweiligen Konsummuster und Konsummotive im Blick zu behalten.
Im Folgenden gibt der Text einen groben Überblick dazu, wie viele junge Menschen bestimmte Suchtmittel konsumieren und wie Konsummuster und Konsummotive einzuschätzen
sind. Anschließend wird thematisiert, welche Handlungsmöglichkeiten pädagogische Fachkräfte im Umgang mit Suchtmittel konsumierenden Jugendlichen haben.
Was konsumieren Jugendliche heute?
Neben Alkohol und Nikotin ist Cannabis nach wie vor das am weitesten verbreitete Suchtmittel unter Jugendlichen. Ob und wie sich das in diesem Jahr in Kraft getretene Cannabisgesetz auf den Cannabiskonsum Jugendlicher auswirken wird, bleibt vorerst abzuwarten. Erhebungen zeigen, dass im Jahr 2023 8,3 % der 12- bis 17-Jährigen und etwa die Hälfte der
18- bis 25-Jährigen mindestens einmal im Leben Cannabis ausprobiert haben. Regelmäßig
konsumierten 8,0% der jungen Erwachsenen und 1,3% der Jugendlichen Cannabis, wobei
der Konsum bei jungen Männern weiter verbreitet war, als bei jungen Frauen.1 Beim RauBZgA (Hrsg.) (2024): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2023“ – Ergebnisse
zum Cannabiskonsum
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
chen zeigt sich, dass er Anteil der Raucher*innen bei den 12- bis 17-Jährigen von 2021 zu
2023 Jahr zuletzt anstieg: von 5,5% in 2021 auf 7,2% in 2023. Jedoch stellt dies langfristig
betrachtet immer noch einen deutlichen Rückgang dar, denn im Jahr 2001 gaben noch
27,2% der 12- bis 17-Jährigen an, Raucher*in zu sein. Seitdem ist ein kontinuierlicher Rückgang zu beobachten. Bei den 18- bis 25-Jährigen jungen Männern waren 2023 33,6% Raucher und bei den 18- bis 25-Jährigen jungen Frauen gaben 18,4% an Raucherin zu sein.2
Verschiedene Studien zum Rauchverhalten junger Menschen zeigen, dass Rauchen an verschiedenen Schulformen unterschiedlich stark verbreitet ist. So ist das nicht Rauchen an
Gymnasien stärker verbreitet als an anderen Schulformen.3 Die derzeit bei jungen Menschen
beliebten (Einweg-)E-Zigaretten, auch Vapes genannt, wurden in den letzten 30 Tagen von
6,7% der 12- bis 17-Jährigen und von 12% der 18- bis 25-Jährigen konsumiert.4 Beim Trinken von Alkohol zeigt sich in den letzten Jahren der Trend, dass junge Menschen seltener
und weniger exzessiv Trinken. Auch langfristig gesehen ist der regelmäßige Konsum von
Alkohol rückläufig: bei den 12- bis 17-Jährigen von 25,4% in 1979 auf 8,7% in 2021, bei den
18- bis 25-Jährigen von 67,1% in 1973 auf 32% in 2021.5 Neben diesen bekannten und weit
verbreiteten Substanzen zeigen sich immer wieder neue Konsumtrends unter Jugendlichen.
Dazu gehört bspw. Lachgas welches derzeit noch legal und ohne Altersbeschränkung in
Deutschland erhältlich ist. Das als Partydroge genutzte Gas ist bspw. über den OnlineVersandhandel und Snack-Automaten leicht zugänglich, es bestehen jedoch erhebliche gesundheitliche Konsumrisiken. Statistische Daten zur Verbreitung des Konsums sind bislang
nicht vorhanden.
Wie viel ist zu viel? Konsummuster im Blick
Im Kontext Sozialer Arbeit mit jungen Menschen ist zu beachten, dass im Gegensatz zum
gelegentlichen Konsum durch eine sozial gut integrierte, in einem stabilen familiären Umfeld
sozialisierte, selbstsichere Person, der Konsum eines jungen Menschen mit psychosozialen
Schwierigkeiten ein höheres Risiko für gesundheitsschädigende Konsummuster darstellt.
Denn wenn durch den Konsum schulische und familiäre Belastungen kompensiert und unangenehme Gefühlszustände und Probleme verdrängt werden, besteht die Gefahr ein missbräuchliches Konsummuster zu entwickeln. Dagegen wirkt sich eine Vielzahl an möglichst
vielfältigen Strategien im Umgang mit belastenden Faktoren grundsätzlich schützend aus.
Wird die Anzahl gesundheitsförderlicher Strategien nach und nach geringer, werden diese
verdrängt und vernachlässigt und zeitgleich Belastungen zunehmend durch Suchtmittelkonsum kompensiert, so nimmt das Risiko riskante Konsummuster zu entwickeln zu. Relevant
ist in diesem Zusammenhang daher immer ein Blick auf die allgemeine Lebenssituation des
BZgA (Hrsg.) (2024): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2023 – Ergebnisse
zum Rauchen
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BZgA (Hrsg.) (2022): Der Substanzkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland. Ergebnisse
des Alkoholsurveys 2021 zu Alkohol, Rauchen, Cannabis und Trends.
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BZgA (Hrsg.) (2024): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2023 – Ergebnisse
zum Rauchen
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BZgA (Hrsg.) (2022): Der Substanzkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland. Ergebnisse
des Alkoholsurveys 2021 zu Alkohol, Rauchen, Cannabis und Trends.
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Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
jungen Menschen und die Frage danach, ab wann der Suchtmittelkonsum zum Problem
wird. In ihrem beruflichen Alltag sind Pädagog*innen oftmals herausgefordert Situationen
dahingehend angemessen einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Hilfreich ist es,
wenn pädagogische Fachkräfte eine Risikoeinschätzung bei dem jeweiligen jungen Menschen selbst vornehmen können. Mögliche Fragen hierfür sind:
• Wird regelmäßig - täglich oder jedes Wochenende - konsumiert?
• Liegt Mischkonsum vor: werden verschiedene Substanzen durcheinander konsumiert?
• Findet der Suchtmittelkonsum in unangemessenen Situationen statt: in der Schule,
am Arbeitsplatz, bei Krankheit?
• Wird zur Problembewältigung, bei seelischen Problemen und/oder Stress konsumiert?
Da neben dieser Einschätzung des Konsums der Blick auf den Einzelfall entscheidend ist,
spielt die individuelle Biografie mit möglichen familiären Suchtbelastungen und Trauma- Erfahrungen eine Rolle, ebenso wie die Frage, welche Entwicklungsaufgabe gerade vordergründig zu bewältigen ist. Entsprechend der Einschätzung des Einzelfalls kann ein genussorientierter und gelegentlicher Konsum unproblematisch sein. Ein wiederkehrender Konsum,
der nur noch wenige Handlungsalternativen, insbesondere beim Umgang mit belastenden
Faktoren zulässt, kann bereits als riskanter Konsum eingeschätzt werden. Wogegen ein
Konsummuster mit fast täglichem Konsum und einer Weiterführung trotz negativer Auswirkungen ggf. bereits die Grenze zu einer Abhängigkeitserkrankung überschreitet.
Quelle: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, LWL – Koordinierungsstelle Sucht (Hrsg.) (2021).
Dranbleiben! Erfahrungsberichte zur Suchtprävention in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe.
Münster.
Die Abgrenzung von schädlichen oder missbräuchlichen Konsummustern hin zu Abhängigkeitserkrankungen, erfolgt diagnostisch auf der Grundlage des internationalen Klassifikati-
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onssystems für Erkrankungen (International Classification of Diseases – ICD – aktuell noch
in der 10. Auflage) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Diagnose einer Abhängigkeit darf demnach nur gestellt werden, wenn drei oder mehr der folgenden Kriterien mindestens einen Monat lang gleichzeitig oder wiederholt während des letzten Jahres vorhanden
waren:
1. Ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang (Craving), die Substanzen zu konsumieren.
2. Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die
Menge des Konsums.
3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums,
nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder nahen verwandten Substanzen, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden.
4. Nachweis einer Toleranz gegenüber der Wirkung der Substanz, im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.
5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Hobbys oder Interessen zugunsten des
Substanzkonsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu konsumieren
oder sich von den Folgen zu erholen.
6. Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Konsequenzen.6
Ursachen und Risikofaktoren
Neben der Abgrenzung von Konsummustern bietet der Blick auf Risiko- und Schutzfaktoren
die Möglichkeit die Situation eines jungen Menschen einzuschätzen und gleichzeitig Ansatzpunkte für pädagogisches Handeln. Grundsätzlich wird heute davon ausgegangen, dass bei
der Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen verschiedene Faktoren miteinander in
Wechselwirkung stehen, wodurch es nicht eine Ursache dafür gibt, sondern stets eine individuelle Zusammensetzung an Einflüssen und Faktoren ausschlaggebend ist.7
Dabei beeinflussen das Verhältnis und die Gewichtung sog. Risiko- und Schutzfaktoren den
Substanzkonsum. Grundsätzlich erhöht eine größere Anzahl an Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit des Substanzkonsums. Sind dagegen Schutzfaktoren vorhanden, so verringern diese die Wahrscheinlichkeit des Konsums.8 Relevante Einflussfaktoren für die Entstehung von Abhängigkeiten stellen dabei gesellschaftliche Bedingungen, biologische Faktoren
und Lern- und Beziehungserfahrungen dar.9
6
Heinz, Gül Halil, Gutwinski, 2021: ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit,
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8763741/ (Aufruf: 20.08.2024)
7
Bühler, A., Thrul, J., Gomes de Matos, E. (2020): Expertise zur Suchtprävention 2020. Aktualisierte Neuauflage
der Expertise zur Suchtprävention 2013. Hrsg: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Reihe Forschung
und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 52
8
ebd.
9
https://bildung.sdw.wien/system/files/assets/seminar/Skriptum%20Grundlagen%20Sucht.pdf (Aufruf:
20.08.24)
6
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Als in der jeweiligen Person liegende Schutzfaktoren gelten individuelle Lebenskompetenzen, spezifische Bewältigungsstrategien, aber auch körperliche Schutzfaktoren wie ein stabiles, widerstandsfähiges Immunsystem und körperliche Gesundheit. Darüber hinaus werden
eine hohe Selbstwirksamkeitserfahrung, gute Selbstregulationsfähigkeiten, eine Neigung zu
Optimismus sowie die Fähigkeit zum Erleben positiver Emotionen als Schutzfaktoren angesehen.10
Zu den sozialen Schutzfaktoren zählt grundlegend die Sicherung angemessener Ernährung,
ausreichendem Wohnraum und Erwerbsarbeit. Als zentraler und wirkungsvoller sozialer
Schutzfaktor gilt eine stabile, zugewandte, unterstützende und wertschätzende Beziehung zu
einer Bezugsperson. Dies können die Eltern oder nahe Verwandte sein. Aber auch unterstützende Beziehungen zu pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen und
Schulen sind hier relevant. Im familiären Alltag sowie in Schulen oder sozialen Einrichtungen
gelten Strukturen und eindeutige Regeln sowie Gelegenheiten zur Mitwirkung und Anerkennung als schützende Faktoren.11
Maßnahmen der Suchtprävention zielen vor diesem Hintergrund auf die Stärkung von
Schutzfaktoren und die Reduktion von Risikofaktoren. Zwar lassen sich nicht alle Schutzund Risikofaktoren beeinflussen (bspw. Persönlichkeitseigenschaften), jedoch bietet eine
nicht geringe Anzahl an Faktoren Ansatzpunkte für pädagogisches Handeln. So stellen die
Möglichkeit zur Teilhabe und Integration in sozialen Gruppen sowie ein positives Einrichtungs- und Schulklima Schutzfaktoren dar, die das Wohlbefinden fördern und dadurch die
Wirkung von Risikofaktoren abmildern.12
Was kann man als Fachkraft tun?
Im beruflichen Alltag sind pädagogische Fachkräfte immer wieder herausgefordert zu entscheiden, ob sie den (vermuteten) Suchtmittelkonsum junger Menschen ansprechen oder
nicht. Nicht selten sind Pädagog*innen diesbezüglich ambivalent, denn neben guten Gründen dafür den Konsum anzusprechen, gibt es stets zahlreiche „gute“ Gründe sich dagegen
zu entscheiden. Neben mangelnden zeitlichen Ressourcen oder Haltungen wie „das wächst
sich schon raus“ oder „in meiner Jugend hat es mir auch nicht geschadet“ können die Befürchtung, auf Ablehnung und Widerstand zu stoßen, oder eine gewisse Unsicherheit, da
man sich nicht als Expert*in in der Beratung suchtmittelkonsumierender Jugendlicher sieht,
eine Rolle bei der Entscheidung spielen. Jedoch gibt es auf der anderen Seite gewichtige
Faktoren, die für ein Hinschauen und Handeln der Fachkräfte sprechen: im Alltag stehen sie
mit betroffenen jungen Menschen in Kontakt, wodurch sie einen direkten und wertvollen Zugang haben, der Interventionen ermöglicht. In diesem nahen Kontakt können sie Auffälligkei10
Rönnau-Böse, M., Fröhlich-Gildhoff, K., Bengel, J. & Lyssenko, L. (2022). Resilienz und Schutzfaktoren. In:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und
Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i101-2.0
(Aufruf: 20.08.2024)
11
ebd.
12
Sucht Schweiz: Theoretische Grundlagen der Suchtprävention.
https://www.suchtschweiz.ch/fileadmin/user_upload/DocUpload/Theoretische-Grundlagen-derSuchtPraevention.pdf (Aufruf: 16.08.2024)
7
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ten und Veränderungen frühzeitig wahrnehmen und ansprechen. Darin liegt die Chance Hilfe
und Unterstützung frühzeitig zu ermöglichen, so dass sich gesundheitsschädigende Verhaltensweisen möglichst nicht verfestigen.
Für die Stärkung der Handlungssicherheit von pädagogischen Fachkräften in solchen Situationen und generell für den Umgang mit Suchtmittel konsumierenden Jugendlichen wurde
das dreitägige Fortbildungsangebot zur Motivierenden Kurzintervention (MOVE) von der ginko Stiftung für Prävention der Landeskoordinierungsstelle für Suchtvorbeugung in NordrheinWestfalen entwickelt. Das Konzept wird seit 2002 erfolgreich in der pädagogischen Arbeit mit
Jugendlichen eingesetzt. In Niedersachsen wird das mehrfach evaluierte Programm seit
2007 umgesetzt und durch die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (LJS) koordiniert.
Im Kern bietet es Fachkräften das nötige Handwerkszeug, um mit jungen Menschen konstruktiv über ihren Konsum und dessen Veränderung ins Gespräch zu kommen. Impulse
werden so gesetzt, dass junge Menschen ihren Konsum reflektieren. Gleichgültig, ob es sich
dabei um legale oder illegale Suchtmittel oder um riskante Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen oder das exzessive Computerspielen handelt - MOVE bietet die Möglichkeit, Gespräche mit Jugendlichen zu diesen Themen konstruktiv zu gestalten.
Die dreitägige Fortbildung zur Vermittlung von MOVE umfasst 12 Bausteine à 90 Minuten
und richtet sich an pädagogische Fachkräfte in Jugendarbeit, Jugendhilfe, Jugendschutz und
Schule, die vor der Frage stehen, wie sie bei einem beobachteten, möglicherweise riskantem
Konsumverhalten reagieren können. Das Ausprobieren der Gesprächstechnik und der praktische Übungsanteil stehen in den Schulungen im Vordergrund. Teilnehmenden werden theoretische Grundlagen, Hintergrundwissen zu rechtlichen Aspekten und zum Thema Sucht
vermittelt. MOVE wurde zweimal durch die Universität Bielefeld evaluiert, wobei ein hoher
Nutzen für den Berufsalltag deutlich wurde.
Weitere Informationen sowie aktuelle Seminartermine finden Sie auf www.moveniedersachsen.de und www.move-seminare.de.
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
2. Eine Herausforderung auch für die Jugendberufshilfe: Missbrauch bzw. Abhängigkeit von Alkohol, Drogen und Medikamenten
Autor: Lars Fischer, Diplom Pädagoge, Kinderund
Jugendlichenpsychotherapeut,
Suchttherapeut. Seit mehr als 30 Jahren in
der Drogenhilfe tätig. Abteilungsleiter Drogenund Suchtkrankenhilfe Paritätischer Braunschweig
Einleitung
Hochwirksame synthetische Substanzen, neue Drogenmischungen und sich verändernde
Konsummuster stellen laut der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) eine wachsende Bedrohung in Europa dar.
Die Verfügbarkeit von Drogen ist hoch. Menschen, die Drogen konsumieren, sind heute einem breiten Spektrum psychoaktiver Substanzen ausgesetzt, welche oft eine hohe Potenz
oder Reinheit aufweisen oder in neuen Formen, Mischungen und Kombinationen angeboten
werden. Bei den Produkten wissen Konsumierende möglicherweise nicht, was sie zu sich
nehmen und setzen sich dadurch größeren Gesundheitsrisiken, einschließlich potenziell tödlicher Vergiftungen, aus.
Aus der Drogen- und Suchtkrankenhilfe in Niedersachsen wissen wir, dass diese Entwicklung auch bei uns angekommen ist. Neben den klassischen Drogen wie Alkohol, Cannabis,
Amphetamine, Kokain, Heroin werden zahlreiche Medikamente ge- und missbraucht, meist
missbraucht:
Xanax® (Alprazolam), Rivotril®/Tranxilium® (Clonazepam), Dormicum® (Midazolam), Valium® (Diazepam), Temesta® (Lorazepam), Lexotanil® (Bromazepam), Seresta® (Oxazepam), Oxycodon, Tramadol, Makatussin® (Codein), Valoron® (Tilidin), Ritalin®, Concerta® (beide Methylphenidat)
Selbst Hauptamtliche aus der Sucht- und Drogenhilfe zeigen sich bei der Vielzahl von Wirkstoffen, Handelsnamen und den unterschiedlichen Straßennamen von Drogen verunsichert.
Selbstredend stellt dies auch eine Herausforderung für Mitarbeitende der Jugendberufshilfe
dar. Zu den größten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter zählt auch der Missbrauch bzw. die Abhängigkeit von Alkohol, Drogen und Medikamenten. Die Jugendberufshilfe ist gekennzeichnet durch sozialpädagogische Angebote, die
junge Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf bei ihrem Übergang von der
Schule in eine Berufsausbildung begleiten und fördern. Bei jungen Menschen in Maßnahmen
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Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
der Jugendberufshilfe besteht eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit für Belastungsfaktoren, hervorgerufen durch soziale Benachteiligungen oder individuelle Beeinträchtigungen.
Steigt die Wahrscheinlichkeit von Belastungsfaktoren, steigt folglich auch die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs und der Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen.
Für Mitarbeitende aus der Jugendberufshilfe ist es folglich sinnvoll, sich mit Aspekten des
Substanzkonsums und weiteren Verhaltensrisiken auseinanderzusetzen.
Klassifikation psychoaktiver Substanzen
Die von jungen Menschen konsumierten Substanzen müssen hinsichtlich der Wirkungen und
Risiken individuell betrachtet werden. Substanzen verändern Bewusstsein, Wahrnehmung
und Gefühle durch die Beeinflussung von Botenstoffen (beispielsweise Dopamin oder Serotonin) im Gehirn. Abhängig von Substanz und Höhe der Dosierung verändert sich das Erleben in unterschiedlichen Ausprägungen auf unterschiedlichen Ebenen:
•
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das Denken
das Zeitempfinden
teilweiser Kontrollverlust
Emotionalität
Körperwahrnehmung
Sinneswahrnehmung
das Bedeutungserleben
die sprachliche Ausdrucksfähigkeit
höhere Beeinflussbarkeit durch andere Personen.
Da die Zahl der konsumierten Substanzen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen schier
unüberschaubar ist, kann folgende Betrachtung eine hilfreiche Orientierung bieten:
Psychoaktive Substanzen werden gewöhnlich nach ihren Wirkungen in drei Hauptgruppen
unterteilt:
• Stimulanzien
• Sedativa
• Halluzinogene.
Im Handbuch „Suchtprävention in der Heimerziehung“, 2017 herausgegeben von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen werden diese Hauptgruppen treffend beschrieben:
Stimulanzien fahren Körperfunktionen wie Blutdruck oder Puls nach oben. Die Intensität ist
von der verwendeten Substanz abhängig. Dabei werden Schutzfunktionen wie Müdigkeit
weniger bis gar nicht mehr wahrgenommen. Die jeweiligen Substanzen täuschen dem Gehirn eine Alarmsituation vor. Konsumierende spüren diese Wirkung durch (extrem) gesteigerte Energie, gesteigertes Selbstwertgefühl, höheres Aggressivitätslevel und sinkenden Appetit. Mild wirkt Koffein, sehr potent das Methamphetamin („Crystal“).
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Sedativa haben die gegenteilige Wirkung von Stimulanzien. Sie wirken beruhigend: Blutdruck und Puls werden gesenkt. Im extremen Fall, z. B. bei Überdosierung von Alkohol, Heroin oder Benzodiazepinen, werden Körperfunktionen bis zum tödlich verlaufenden Atemstillstand gesenkt. Eine typischerweise erwünschte Wirkung ist Entspannung. Ebenfalls häufig
erwünscht ist es, Ängste und Aggressionen weniger zu spüren.
Halluzinogene verändern die Realität in der Wahrnehmung der Konsumierenden. Das Ausmaß (von leicht bis extrem) ist von der verwendeten Substanz und der Dosierung abhängig.
Diese Realitätsveränderung kann sich auf Farben, Formen, Musik, sexuelles Empfinden,
Zeit, räumliche Wahrnehmung, aber auch auf das eigene „Ich-Empfinden“ beziehen. Die eigenen Sinne und Vorstellungen (radikal) anders zu spüren, kann einerseits lustig und/oder
intensiv, andererseits aber auch stark angstauslösend sein. Konsumierende können den
Kontakt zu sich selbst verlieren.
Zurück zu den Medikamenten mit Missbrauchsgefahr. Diese können nach Hauptwirkstoff
geordnet werden. Es ergibt sich folgende Übersicht:
Benzodiazepine:
Xanax® (Alprazolam), Rivotril®/Tranxilium® (Clonazepam), Dormicum® (Midazolam), Valium® (Diazepam), Temesta® (Lorazepam), Lexotanil® (Bromazepam), Seresta® (Oxazepam), Oxycodon,
Opioide:
Tramadol, Makatussin® (Codein), Valoron® (Tilidin),
Medikamente zur Behandlung von ADHS:
Ritalin®, Concerta® (beide Methylphenidat)
Im nächsten Schritt werden diese Medikamente mit ausgewählten „klassischen“ Drogen in
einem Koordinatenkreuz verortet. Dieses Schaubild ist vereinfacht, bildet aber einen klaren
und hilfreichen Überblick über Wirkweisen von psychoaktiven Substanzen.
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Medikamente und Mischkonsum
In einem Informationsfachblatt für Fachpersonen aus dem Bereich Sucht der Schweizerischen Koordinations- und Fachstelle Sucht werden die Gefahren des Mischkonsums von
unterschiedlichen psychoaktiven Substanzen beschrieben.
Wenn gleichzeitig Medikamente, Alkohol und noch andere Drogen konsumiert werden, können sich diese Substanzen gegenseitig verstärken. Dies kann schnell zu einer Überdosierung führen. Wechselwirkungen sind unberechenbar und je mehr Substanzen konsumiert
werden, desto schwieriger sind die Wirkungen abzusehen.
Zudem ist es möglich, dass die Risikobereitschaft steigt, weitere psychoaktive Substanzen
einzunehmen oder zu mischen.
Besondere Gefahren:
1. Benzodiazepine oder Opioide mit Alkohol / Benzodiazepine mit Opioiden
Die Wirkungen verstärken sich gegenseitig. Die Wechselwirkungen können zur Bewusstlosigkeit und verlangsamter Atmung bis hin zu einer Atemlähmung und damit zum Tod führen.
2. Benzodiazepine und/oder Opioide mit Kokain/Speed
Diese Kombination belastet den Körper und das Herz-Kreislauf-System extrem. Die Wirkungen können sich gegenseitig derart überdecken, dass sie subjektiv schwächer empfunden
werden. Beim Nachlassen der Wirkung der einen Substanz kann sich die Wirkung der anderen stark erhöhen. Dadurch kann es verzögert zu einer Überdosierung kommen.
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Bei Benzodiazepinen und Opioiden besteht bereits nach wenigen Wochen die Gefahr einer
psychischen und körperlichen Abhängigkeit mit schweren Entzugserscheinungen beim Absetzen. Die langfristigen Risiken sind zudem u.a. Abstumpfung (Interesselosigkeit), Konzentrationsschwierigkeiten, verminderte Gedächtnisleistung, Müdigkeit sowie Probleme mit Familie und Freunden, mit dem Arbeitgeber oder der Schule.
Risiko- und Schutzfaktoren
Ob sich der Drogenkonsum von jungen Menschen in eine problematische Richtung entwickelt wie Missbrauch oder Abhängigkeit, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Diese lassen
sich grob in nachfolgende drei Bereiche gliedern:
Persönlichkeit:
z.B. mangelnde Fähigkeit, Konflikte zu lösen; geringes Selbstwertgefühl, Neigung zu
Flucht und Verdrängung
Droge:
z.B. Verfügbarkeit, Preis, Wirkung, Risiken,
Dosis und Verträglichkeit der jeweiligen
Substanz
Umfeld:
z.B. familiäre Situation, Überforderung in
Schule, Ausbildung, Arbeit; fehlende Zukunftsperspektive, drogenpolitischer Rahmen
Risikofaktoren sind Eigenschaften, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen
ein problembehaftetes Konsumverhalten entwickeln. Je stärker ausgeprägt und je zahlreicher diese Risikofaktoren auftreten, desto höher ist die Gefährdung. Dazu gehören unter
anderem:
• Mangelnde oder übertriebene Kontrolle und Unterstützung
• andauernde Belastungen und Stress
• psychische Leiden oder Erkrankungen
• schwierige familiäre und soziale Situationen
• Modelle wie konsumierende Freunde oder Eltern
• leichte Erreichbarkeit von Drogen
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Schutzfaktoren tragen zur Verbesserung und zum Erhalt von Wohlbefinden und Lebensqualität bei, indem sie die Wirkung von Risikofaktoren vermindern und den Jugendlichen so
in einem kompetenten Umgang mit Drogenkonsum stärken.
Diese können z.B. sein:
• gesundes Selbstwertgefühl
• Freundeskreis, in dem nicht oder maßvoll/reflektiert konsumiert wird
• Eltern, die verantwortungsvoll mit Drogen umgehen (Vorbildfunktion)
• Strategien, um mit Belastung und Problemen umzugehen
• soziale Kompetenzen (z.B. Mut und Fähigkeit zu kommunizieren)
• Hobbys, vielseitiges Freizeitverhalten
• Bewusstsein für bestehende Risiken
Aus der Unterscheidung von Risiko- und Schutzfaktoren lassen sich für die präventive Arbeit
klare Handlungsperspektiven ableiten: es gilt, Risikofaktoren abzubauen und gleichzeitig
Schutzfaktoren aufzubauen bzw. zu festigen.
Es bietet sich eine besondere Chance für die Jugendberufshilfe durch Angebote der Suchtprävention einen besonderen Unterstützungsbedarf abzudecken.
Eine besondere Chance: Suchtprävention in der Jugendberufshilfe
Die Suchtprävention lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen analysieren.
Verhältnisprävention versus Verhaltensprävention
Zielt die präventive Arbeit auf die Veränderung von Strukturen oder Lebensbedingungen ab
wird von „Verhältnisprävention“ gesprochen. Richtet sie sich auf das individuelle Verhalten
von Menschen, dann sprechen wir von „Verhaltensprävention“.
Maßnahmen der Verhältnisprävention in der Jugendberufshilfe sind beispielsweise das Einführen von Regeln im Umgang mit dem Konsum, Partizipation von jungen Menschen im Hilfesegment, eine zielgerichtete Personalentwicklung mit entsprechenden Möglichkeiten der
Fortbildung oder Supervision und der Aufbau und die Pflege von Kooperationsstrukturen
insbesondere auch mit der Drogen- und Suchtkrankenhilfe.
Hinsichtlich der Verhaltensprävention in der Jugendberufshilfe kann weiter differenziert werden nach Unterstützungs- und Förderungsangeboten mit bestimmten Zielgruppen:
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Themenheft 3/2024
Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
Zielgruppe:
Individuell auffällige junge Menschen
Ziele:
indizierte Prävention
Früherkennung und
Frühintervention
Junge Menschen
mit Risiko
Risikofaktoren mildern
alle jungen Menschen
z. B. Infovermittlung,
Persönlichkeitsstärkung
Hinsichtlich der indizierten Prävention kann versucht werden, eine realistische Einschätzung des Konsumverhaltens junger Menschen zu fördern, die bereits missbräuchliche oder
abhängige Verhaltensweisen im Zusammenhang mit psychoaktiven Substanzen zeigen.
Ambivalenzen können aufgedeckt und bewusst gemacht werden. Ggf. können Hilfen bei der
Umsetzung von Veränderungsstrategien geboten und Safer Use Regeln vermittelt werden. In
diesem Bereich bietet sich ggf. eine enge Kooperation mit der Drogen- und Suchtkrankenhilfe an, um bei Bedarf in entsprechende Maßnahmen und Institutionen unkompliziert vermitteln zu können.
Im Rahmen der selektiven Prävention sollten gefährdete junge Menschen dahingehend
gefördert werden, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wann ein Konsumverhalten riskant
wird und wie ggf. Risikofaktoren minimiert und entsprechende Schutzfaktoren aufgebaut und
gefestigt werden können.
Universelle Prävention zielt ab z.B. auf die Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Grundlegendes Wissen bzgl. psychoaktiver Substanzen wird vermittelt und es wird zu
Reflexion und kritischem Denken angeregt. Das Verhindern oder selbst das Verzögern des
Einstiegs in den Substanzkonsum gilt als ein Ziel der entsprechenden Angebote und Maßnahmen.
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Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
Gut zu wissen:
Das Internetportal drugcom der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet umfassende Informationen und hilfreiche
Tipps zum Thema legale und illegale Drogen. Hier findet sich ein umfangreiches
Drogenlexikon. Wissens- und Selbsttests geben die Möglichkeit, sich mit dem eigenen Konsumverhalten kritisch auseinanderzusetzen. Zudem besteht die Möglichkeit, sich über Chatund E-Mail-Beratung von pädagogischen und psychologischen Fachkräften vertraulich beraten zu lassen.
Quellen
• Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), Gaßmann, Nadja (Hrsg.) (2017): Suchtprävention in der Heimerziehung. Handbuch zum Umgang mit legalen wie illegalen
Drogen, Medien und Ernährung. Hamm.
• Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2024), Europäischer
Drogenbericht 2024: Trends und Entwicklungen,
https://www.emcdda.europa.eu/publications/european-drug-report/2024_en
• Infodrog, Schweizerische Koordinations- und Fachstelle Sucht, CH-3007 Bern (2020):
Medikamente und Mischkonsum, Informationen für Fachpersonen im Bereich Sucht
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Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
3. Konsum in der Jugend - Gradwanderung zwischen Genuss und Problem
Autorinnen: Jenny Lehnert – Ott – Diplom Sozialpädagogin/arbeiterin, M.Sc Suchttherapie, MOVE-Trainerin – Leitung Prävention (inkl. real.life – Kompetenter Umgang mit Medien, Pack
es an- Canabismethodenpaket) bei prisma seit November 2012
in der Prävention tätig, aktuelle Schwerpunkte sind Prävention in
Betrieben (BGM) und Fortbildung von Fachkräften, sowie Vorträge u.a. in den Schwerpunktgebieten Cannabis, ADHS+Sucht,
Vapen, neue Trends bei Jugendlichen.
Theresa Korte: B.A. Soziale Arbeit – Suchtpräventionsfachkraft,
seit September 2021 bei prisma tätig, aktuelle Schwerpunkte sind die allgemeine
Suchtprävention sowie real.life und pack es an, Koordination der Prävention bei prisma
Einleitung
Jugendliche befinden sich auf einer aufregenden Reise ins Erwachsenenleben – voller Möglichkeiten, aber auch voller Herausforderungen. Eine der größten Fragen ist oft: Wie gehe ich
mit Konsum um? Dieser Artikel zeigt auf, wie wir junge Menschen auf ihrem Weg unterstützen können, damit aus Neugier kein Risiko für problematischen Konsum wird.
In der aufregenden und prägenden Lebensphase des Erwachsenwerdens stehen Jugendliche und junge Menschen vor vielen Veränderungen und Herausforderungen, die oft mit Unsicherheiten einhergehen – sei es auf körperlicher, psychischer oder sozialer Ebene. Der
Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter bedeutet, Neues auszuprobieren, eigene
Grenzen auszuloten und herauszufinden, wer man sein möchte und wie man sich im Leben
positionieren will. Eine zentrale Frage dabei, die fast jede*r Jugendliche und junge Mensch
beschäftigt, ist, ob und in welchem Maße er*sie etwas konsumieren möchte. Die Auseinandersetzung bzw. potenzielle Umgang mit Substanzen wie Alkohol, Nikotin, illegalisierte Substanzen oder Medikamenten ist häufig ein Bestandteil des Erwachsenwerdens. Es ist ein Teil
des Prozesses, in dem die Jugendlichen und jungen Menschen ihre eigenen Grenzen testen
und versuchen, einerseits dazuzugehören oder andererseits ein Gefühl von Unabhängigkeit
und Selbstbestimmung zu entwickeln. Diese Neugier trifft jedoch auf eine Lebensphase, in
der die Fähigkeit zur Selbstregulation noch nicht voll ausgereift ist. Das kann dazu führen,
dass der Konsum von Substanzen als scheinbare Lösung für die Herausforderungen des
Lebens wahrgenommen wird. Doch genau das birgt Risiken: Die Gefahr, in problematische
Konsummuster zu geraten, ist gerade in dieser Zeit besonders hoch. Denn der Konsum von
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
Substanzen kann als eine Möglichkeit erscheinen, Probleme und die Anforderungen des
Erwachsenwerdens vermeintlich zu bewältigen.
Entwicklung von Konsum und die Herausforderungen
Konsumproblematiken entstehen nicht von heute auf morgen – meist entwickeln sie sich
über einen längeren Zeitraum, der sich über mehrere Monate oder Jahre erstrecken kann.
Es beginnt mit einem Experimentieren – die Neugierde, etwas auszuprobieren. Dieses Ausprobieren von Substanzen, wie z.B. Alkohol, Nikotin und THC, findet häufig im Jugendalter
oder der Adoleszenz statt – doch nicht jede*r entwickelt später problematische Konsummuster. Manche Menschen belassen es bei diesem Ausprobieren, andere Menschen entscheiden sich, gelegentlich oder in bestimmten Kontexten oder Situationen zu konsumieren, ohne
dass der Konsum Einfluss auf die Lebensqualität hat. Wiederum andere Menschen, die anfangs unproblematisch in den Konsum eingestiegen sind, geraten schleichend über Gewohnheit und Funktionalität des Konsums in problematische Konsummuster. Gewohnheit
allein, dass Konsum z.B. zu gewissen Kontexten dazugehört, wie der Kaffee am Morgen, ist
noch nicht grundsätzlich problematisch. Der Konsum gerät dann in eine Schieflage, wenn
dieser zweckmäßig eingesetzt wird, um Bedürfnisse und Gefühle zu regulieren und die Substanz bei dieser Funktion ein Alleinstellungsmerkmal erlangt. Wenn also regelmäßiger Konsum und Funktionalität zusammenkommen, bietet dieser missbräuchliche Konsum den perfekten Nährboden für eine Abhängigkeit auf körperlicher und psychischer Ebene.
Eine Abhängigkeit liegt nach ICD-10 vor, wenn über einen längeren Zeitraum im zurückliegenden Jahr mindestens drei der folgenden Kriterien gleichzeitig erfüllt sind: Suchtdruck
(Craving); Entzugserscheinungen bei Veränderung des Konsummusters; Toleranzentwicklung; Kontrollverlust mit Blick auf Beginn, Ende, Menge oder Häufigkeit; Vernachlässigung
anderer Interessen, Hobbys oder Verpflichtungen zugunsten des Konsums, sodass dieser
priorisiert wird und Fortsetzen des Konsums trotz negativer Folgen, sei es auf physischer,
psychischer oder sozialer Ebene.
Eine beginnende Schieflage im Konsumverhalten ist von außen gar nicht so einfach zu erkennen, denn vermeintliche Warnsignale in Form von Veränderungen im Verhalten (z.B. sozialer Rückzug, Interessensverlust, Leistungseinbruch) oder auf körperlicher (z.B. veränderter Schlafrhythmus, starke Müdigkeit) oder psychischer Ebene (z.B. starke Gereiztheit, Antriebslosigkeit, plötzliche Ausgeglichenheit), können viele Hintergründe haben.
Der Substanzkonsum unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ein häufig diskutiertes
Thema – aktuell insbesondere im Zusammenhang mit der Legalisierung von Cannabis. In
dieser Lebensphase wird oft mit Suchtmitteln experimentiert, wobei die Wahl der Substanzen
von sozialen, gesellschaftlichen und medialen Einflüssen sowie individuellen Vorlieben hinsichtlich der Konsumform und Wirkung abhängt. Psychoaktive Substanzen beeinflussen das
zentrale Nervensystem und verändern Bewusstsein, Wahrnehmung und Verhalten – wie
dieser Rausch erlebt wird, kann ganz individuell sein. Alkohol bleibt bei Jugendlichen und
jungen Menschen nach wie vor die am häufigsten konsumierte Substanz, gefolgt von Nikotin,
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das zunehmend durch E-Zigaretten und Vapes konsumiert wird. Der Cannabiskonsum in
diesem Alter nimmt ebenfalls zu und wird häufig gezielt wegen seiner entspannenden Wirkung geraucht. Zudem erhält der (Experimentier-)Konsum von Medikamenten und Lachgas
an Zulauf, was insbesondere durch soziale Medien und die Popkultur beeinflusst wird. Neben diesen bekannten Substanzen gewinnen auch Nischensubstanzen wie HHC und synthetische Drogen an Popularität.
Risikofaktoren in der Jugend und Adoleszenz
Diese Entwicklungen der Konsummuster unter Jugendlichen und jungen Menschen machen
deutlich, wie wichtig eine kontinuierliche Aufklärung und Prävention ist, um die gesundheitlichen Risiken zu minimieren und Jugendliche sowie junge Erwachsene für einen verantwortungsvollen Umgang mit psychoaktiven Substanzen zu sensibilisieren. Besonders in dieser
sensiblen Lebensphase, in der sich das Gehirn und die Persönlichkeit noch entwickeln, ist es
essenziell, das Bewusstsein für die kurz- und langfristigen Folgen des Substanzkonsums zu
schärfen und Unterstützungsangebote bereitzustellen, um einer problematischen Nutzung
entgegenzuwirken. Um dabei bestmöglich unterstützen und Konsumproblematiken zielgerichtet vorbeugen zu können, ist es wichtig, die Konsummotive Jugendlicher und junger
Menschen zu verstehen und Risikofaktoren dieser Lebensphase zu kennen. Jugendliche und
junge Menschen greifen aus den verschiedensten Gründen zu Substanzen – angefangen
von der natürlichen Neugierde in dieser Lebensphase, über den Wunsch nach Spaß und
neuen Erfahrungen, soziale Anerkennung, Rebellion und Abgrenzung, bis hin zu Emotionsregulation. Diese Motive sind nicht per se problematisch, können aber zu einem Problem
werden, wenn sie auf die Risikofaktoren treffen und diese vermeintlich bewältigen. Die herausfordernde Lebensphase der Jugend und Adoleszenz ist somit ein Risikofaktor für sich, da
Konsum als ein vermeintlich “schnelles Wunderallheilmittel“ wahrgenommen werden kann –
zumindest kurzfristig für den Moment.
Doch nicht jede Person, die etwas konsumiert, wird später davon abhängig – die Entstehung
von Sucht ist das Ergebnis aus einem komplexen Zusammenspiel drei grundlegender Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen: (1) Die individuelle eigene Person mit ihren
Kompetenzen, Einstellungen und biologischen Eigenschaften, (2) die Umwelt mit Blick auf
das soziale Umfeld und gesellschaftliche, sozialräumliche und kulturelle Einflüsse und (3) die
Substanz selbst mit ihrer Wirkung und Art der Anwendung. Innerhalb dieser drei Dimensionen hat jede Person ihr individuelles Profil aus Risiko- und Schutzfaktoren für oder vor einer
Abhängigkeit, wobei die Jugend und Adoleszenz mit spezifischen Risikofaktoren verbunden
sind.
(1) Die Lebensphase von Jugendlichen ist geprägt von körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen, die zu Unsicherheiten führen können. Zudem sind sie mit Herausforderungen in vielen Lebensbereichen konfrontiert – sei es im Kontext Schule, soziales Umfeld,
intensive Emotionen(-schwankungen), die eigene Entwicklung oder Identitätsfindung. Anpassungsschwierigkeiten, vermehrte Misserfolge, Probleme in der Schule oder auch Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen zu regulieren und mit Stress umzugehen sind häufig The-
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men in diesem Alter und stellen Risiken für Konsumproblematiken dar, um diese Entwicklungsaufgaben durch Konsum vermeintlich bewältigen zu können. Wichtig sind daher Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Aufbau der eigenen Resilienz, Genussfähigkeit und ein gesunder Umgang mit Gefühlen.
(2) Das soziale Umfeld und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflussen maßgeblich das Verhalten und die Konsumgewohnheiten von Jugendlichen. Ein instabiles Umfeld, Akzeptanz von Konsum in der Familie oder Peergroups, Gruppendruck, aber auch gesellschaftliche und mediale Bewertungen und Darstellungen insbesondere in Verbindung mit
einer geringen Reflexionsfähigkeit und nicht abgeschlossener Identitätsfindung können
schädliche Konsummuster begünstigen.
(3) Das Konsumverhalten von Suchtmitteln wird zudem durch die Eigenschaften der Substanzen bestimmt. Eine positiv assoziierte Wirkung, wie eine kurzfristige Verbesserung der
Stimmung oder Entspannung, verleitet dazu, den Konsum zu wiederholen. Die Art der Anwendung – ob getrunken, gegessen, geraucht, geschnupft oder injiziert – beeinflusst, wie
schnell und stark die Wirkung einsetzt. Konsumformen mit schnell eintretenden Wirkungen
erhöhen das Risiko für wiederholten Konsum und Abhängigkeit. Inhalation, Schnupfen und
Injektion bergen daher eine höhere Suchtgefahr.
Die Jugend- und Adoleszenzzeit bringt Herausforderungen wie erhöhte Impulsivität, Identitätssuche und Gruppendruck mit sich. Gleichzeitig gibt es bedeutende Schutzfaktoren wie
stabile Beziehungen und die Förderung wichtiger Fähigkeiten, die vor problematischem Konsum schützen können. Entscheidend ist, wie sich diese Risiken und Schutzfaktoren in der
Lebensrealität eines jungen Menschen ausbalancieren. Diese Lebensphase ist somit geprägt
von Chancen und Risiken, insbesondere beim Substanzkonsum. Es ist wichtig, individuelle,
soziale und substanzbezogene Risikofaktoren zu erkennen und mit gezielten Präventionsmaßnahmen sowie unterstützenden Angeboten gegenzusteuern, um Jugendliche auf ihrem
Weg zu einem selbstbestimmten und gesunden Leben zu begleiten.
Präventionsansätze
Ein zentraler Ansatz der Prävention liegt darin, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Jugendliche aktiv zu befähigen, selbstbestimmt und gesund durchs Leben zu gehen. Es ist
wichtig, Jugendlichen zu ermöglichen, eine reflektierte Haltung zu entwickeln und sich frühzeitig mit Themen auseinanderzusetzen, bevor sie selbst betroffen sind. Die gezielte Stärkung von Fähigkeiten wie z.B. Risikokompetenz und Lebenskompetenz spielt hierbei eine
entscheidende Rolle.
Risikokompetenz bedeutet, Risiken und Gefahren wahrzunehmen, kritisch zu reflektieren
und verantwortungsbewusst zu handeln. Jugendliche sollen lernen, die möglichen Folgen
ihres Handelns abzuwägen und Alternativen zu problematischem Verhalten zu erkennen.
Lebenskompetenz umfasst eine Vielzahl von Fähigkeiten, die dazu beitragen, Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Dazu zählen Selbstsicherheit, Selbstreflexion, soziale Kom-
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Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
petenzen, Kommunikationsfähigkeit, Problemlösekompetenz, Entscheidungsfähigkeit, kritisches Denken und die Fähigkeit zur Selbstregulation.
Gleichzeitig ist die Ressourcenstärkung ein wichtiger Bestandteil der Prävention. Sie hilft,
alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln und sich resilient gegenüber Belastungen
und Versuchungen zu zeigen. Suchtprävention bedeutet also weit mehr als Abschreckung
oder reine Information. Es geht darum, junge Menschen ganzheitlich zu fördern, sie zu ermutigen, eigene Entscheidungen zu treffen, und ihnen das Werkzeug an die Hand zu geben,
Risiken bewusst zu begegnen.
Genau hier setzt die Arbeit von prisma an. prisma ist eine Fachstelle für Sucht und Suchtprävention, mit einem klaren Fokus auf die Kompetenz- und Ressourcenstärkung. Ziel ist es,
Jugendliche und junge Erwachsene frühzeitig zu unterstützen – durch passgenaue Workshops und Projekte, die auf die Lebensrealität und Herausforderungen der Zielgruppe abgestimmt sind. Diese Veranstaltungen zielen darauf ab, das Bewusstsein für die Risiken des
Substanz- und Medienkonsums zu schärfen und Schutzfaktoren wie Selbstwertgefühl, Resilienz und soziale Kompetenzen zu stärken. Die Präventionsarbeit richtet sich dabei nicht nur
an Jugendliche, sondern bindet auch im Kontext eines ganzheitlichen Ansatzes ihr soziales
Umfeld aktiv ein. Eltern, Erziehungsberechtigte und Fachkräfte wie Sozialarbeiter*innen und
Lehrkräfte werden als wichtige Multiplikator*innen geschult. Weitere Zielgruppen sind jedwedes pädagogische Fachpersonal, Vereine und Betriebe. Sie lernen, das Thema Suchtgefährdung offen anzusprechen, junge Menschen zu unterstützen und sie zu positiven Veränderungen zu motivieren. prisma arbeitet in der Prävention sowohl proaktiv als auch reaktiv,
indem beispielsweise Workshops und Informationsveranstaltungen durchgeführt und gleichzeitig Beratungen bei Vorfällen angeboten werden. So beteiligt sich prisma an bundesweiten
Initiativen wie „HaLT – Hart am Limit“ zur Alkoholprävention und entwickelt gleichzeitig eigene Angebote wie das „Cannabismethodenpaket – Pack es an“ oder „real.life – kompetenter
Umgang mit Medien“, um aktuelle Themen wie den Umgang mit digitalen Medien aufzugreifen. Die Suchtprävention ist dabei eines der Arbeitsfelder der Fachstelle. Die Fachstelle bietet neben der Vielzahl an Präventionsangeboten ein umfassendes Beratungsangebot, um
problematische Konsummuster und Suchterkrankungen nicht nur vorzubeugen und die Gesundheitsförderung zu unterstützen, sondern auch bei entstandenen Konsumproblematiken
die betroffenen Personen und deren Bezugspersonen zu unterstützen. Das Ziel der akzeptanzorientierten und zieloffenen Beratung ist es, Ratsuchenden dabei zu helfen, ihre gewünschten Veränderungen herbeizuführen, ihre Ressourcen zu stärken und einen bewussten und gesunden Umgang mit Suchtmitteln zu entwickeln.
Empfehlungen für Fachkräfte
Zwei große Schwerpunkte in den Fortbildungen für Fachkräfte sind die Themen Haltung und
Gesprächsführung. Bei der Haltung geht es um die bereits erwähnten Themen wie Hintergründe, Konsumtrends sowie Risiko- und Schutzfaktoren, aber auch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Jugend. Welche Substanzen und/oder Medien waren in der eigenen
Jugendzeit interessant? Wie wurden diese eingeschätzt und wie hat sich die eigene Haltung
dazu entwickelt? Diese Reflexion kann gut in Kleingruppenarbeit oder im Team diskutiert
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werden. Ein Team muss keine einheitliche Haltung haben, aber es ist wichtig, zu verstehen,
warum verschiedene Haltungen existieren und einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dafür
braucht es Wissen, objektive Auseinandersetzung, den Willen zu beruflichen Kompromissen
und regelmäßige Reflexion. Diese Grundlage erleichtert jede weitere Prävention und Intervention.
In der Gesprächsführung geht es in der Arbeit mit Jugendlichen nicht um komplexe Konzepte. Oftmals gibt es nicht die Möglichkeit für langwierige Beratung oder den Wunsch danach.
Es entstehen spontane Situationen, Tür- und Angelgespräche, aber auch der Wunsch, bestimmte Themen anzusprechen, ohne dass das Gegenüber in den Widerstand geht oder die
Kommunikation verweigert. Wichtig ist, dass die Jugendlichen als Expert*innen ihres eigenen
Konsums und Lebens anerkannt werden.
Wichtig ist: Der*die Jugendliche ist Expert*in des eigenen Konsums und des eigenen Lebens. Zunächst einmal ist es entscheidend, herauszufinden, wie motiviert der*die Jugendliche ist, etwas zu verändern. Eine einfühlsame Gesprächsführung, die Ambivalenzen zulässt
und würdigt, kann die Motivation zur Veränderung fördern. Eine konfrontierende Haltung hingegen kann Widerstand auslösen und das Gespräch in eine Sackgasse führen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Umgang mit Ambivalenzen. Jugendliche können oft hinund hergerissen sein zwischen dem Wunsch, ihr Konsumverhalten zu ändern, und dem Bedürfnis, den Konsum fortzusetzen. Es ist wichtig, diese Ambivalenzen zu erkennen und zu
integrieren, um den Jugendlichen zu helfen, eine Entscheidung zu treffen und Verbindlichkeit
zu stärken. Empathie spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Eine empathische Haltung kann
das Vertrauen der Jugendlichen gewinnen und ihre Motivation zur Verhaltensänderung stärken. Dies kann durch Rollenspiele und Gruppenarbeit geübt werden, um den Umgang mit
Ambivalenzen und Widerständen zu verbessern.
Das Vorgehen sollte an das Ausmaß und die Dauer der Auffälligkeiten angepasst sein (z.B.
ist es Experimentierkonsum oder Anzeichen für riskanter Konsum), ohne in Hektik oder Aktionismus zu verfallen, da dies den Zugang zur Person und ihre Veränderungsbereitschaft
negativ beeinflussen kann. Nicht alle Schritte müssen auf einmal eingeleitet werden.
Interventionen sollten sich auf das Konsumverhalten beziehen und als Konsequenz bei Regelverstößen fungieren. Sie sollten Strategien aufzeigen, wie Klient*innen verantwortungsbewusster mit Substanzen umgehen und ihr Konsumverhalten verändern können.
Zunächst sollte die Person möglichst zeitnah nach den ersten Auffälligkeiten angesprochen
werden. Ein empathischer Kontakt auf Augenhöhe in einer ruhigen Situation unter vier Augen ist wichtig. Beobachtungen sollten konkret geschildert werden, ohne direkt zu stigmatisieren. Es geht hier bei um Fakten nicht um Vermutungen, sowie die klassischen Empfehlungen wie z.B. „Du statt Ich-Sätze“ – d.h. aus der eigenen Wahrnehmung heraus zu kommunizieren, ohne zu bewerten. Bei Unsicherheiten in der Deutung der Wahrnehmungen soll-
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Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
te dies kommuniziert werden. Motivierende Gesprächstechniken können bei Widerständen
hilfreich sein.
Einrichtungsregeln und Konsequenzen können im Bedarfsfall besprochen werden. Wenn es
der Person aktuell nicht gelingt, diese einzuhalten, sollten individuelle Absprachen getroffen
und besprochen werden, wie und bis wann die Person wieder zu den allgemeinen Regeln
zurückfinden kann.
Es kann geklärt werden, inwieweit die Person ihren Konsum verändern möchte und in welcher Phase der Veränderung sie sich befindet. Unterstützung bei der Entwicklung einer Perspektive, für die es sich lohnt, das Konsumverhalten zu ändern, ist wichtig.
Gemeinsam sollten Ziele festgelegt werden, wie sich eigenständig über Substanzen zu informieren, die örtliche Beratungsstelle zu besuchen oder alternative Unternehmungen zu
entwickeln. Eine gute Technik, um der Person die Autonomie über das eigene Verhalten zu
geben, ist die N-E-I-N-Technik (Nachfragen – Erlaubnis – Information – Nachfragen) aus
dem Programm MOVE – Motivierende Kurzintervention, die zu einer der Basis-Fortbildungen
bei prisma gehört. Wenn es Informationen, Wahrnehmungen oder Fragen aufkommen können diese darüber eingeleitet werden:
Nachfragen: Zunächst wird nachgefragt, was die Jugendlichen bereits über das Thema wissen. Dies könnte durch Fragen wie "Was weißt du bereits zu...?" oder "Wie steht es um Informationen zum Thema...?" geschehen.
Erlaubnis einholen: Bevor weitere Informationen gegeben werden, wird um Erlaubnis gebeten. Dies könnte durch Fragen wie "Möchtest du dir noch weiteres dazu anhören?" oder
"Kann ich dir dazu noch etwas sagen?" geschehen.
Informationen geben: Die Informationen sollten kurz, knapp und verständlich vermittelt
werden. Es kann auch gemeinsam nach dieser Information recherchiert werden.
Nachfragen: Abschließend wird erneut nachgefragt, um sicherzustellen, dass die Informationen verstanden wurden und um die Reaktion der Jugendlichen zu erfahren. Dies könnte
durch Fragen wie "Wie kommt das bei dir an?" oder "Was bedeutet das für dich?" geschehen.
Das Prinzip beschreibt die Möglichkeit, Ratschläge nicht einfach bevormundend zu erteilen,
sondern auf Augenhöhe zu bleiben. Der*Die Jugendliche kann jederzeit nein sagen, gleichzeitig bleibt die Kommunikation offen.
Abschließend lässt sich sagen, dass die Stärkung von Jugendlichen und jungen Menschen
durch gezielte Präventionsmaßnahmen und die Förderung von Kompetenzen und Ressourcen entscheidend ist, um sie auf ihrem Weg zu einem selbstbestimmten und gesunden Leben zu begleiten, indem sie nicht nur Wissen vermittelt bekommen, sondern auch aktiv befähigt werden, Risiken und Gefahren wahrzunehmen, kritisch zu reflektieren und verantwor-
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tungsbewusst zu handeln, sowie alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln und sich
resilient gegenüber Belastungen und Versuchungen zu zeigen.
Die Gratwanderung zwischen Genuss und Risiko erfordert ein hohes Maß an Sensibilität und
Verantwortungsbewusstsein – sowohl von jungen Menschen selbst als auch von ihrem sozialen Umfeld. Durch gezielte Aufklärung, die Förderung von Kompetenzen und ein unterstützendes Netzwerk können Jugendliche in dieser entscheidenden Lebensphase gestärkt
werden, um einen bewussten und gesunden Umgang mit Konsum zu entwickeln.
BEST PRACTICE
4. Suchtmittelgebrauch in Einrichtungen der Jugendhilfe –
Minnesota Modell oder Harm Reduction?
Jugendwerkstatt
bergland
Weser-
Der Gedanke, die Jugendphase
vom experimentellen Gebrauch von potenziellen Suchtmitteln (oder Verhaltensoriginalitäten)
trennen zu können, weckt Gedanken an die Prohibition (The Noble Experiment) in den USA
von 1920 bis 1933. Können Verbote oder normkonforme Verhaltensaufforderungen eine Altersgruppe erreichen, die mit ihren Rollenerwartungen experimentiert und auch mit großem
Interesse neurobiologische Prozesse durch Substanzzufuhr verändert und beeinflusst (was
in einer Phase, der vielfach wahrgenommenen gesellschaftlichen oder elterlichen Ablehnung
zumindest die Anerkennung der Peer Group sicherstellt).
Wenn sich der experimentelle Gebrauch dann aber manifestiert und die Jugendlichen, mit
denen wir arbeiten erkennbar Alltagsaufgaben nur noch konsumierend bewältigen können
oder der Konsum jegliche Entwicklungsmöglichkeiten und -aufgaben be- und verhindert, stellen sich die Fragen nach dem Warum, und danach, ob die Verhaltensmuster in der Einrichtung und der Gruppe tragbar sind. Die Frage nach möglichen Interventionen und Kausalitäten und nach den geeigneten Werkzeugen im pädagogischen oder therapeutischen Werkzeugkoffer.
Kausal wird wissenschaftlich immer wieder die Konstruktion des Selbst und des Selbstwertgefühls als zentrales Element eines möglichen Suchtmittelgebrauches beschrieben (vgl.
Siegler et. al., 2011, S. 448).
Die Befunde des BzgA Forschungsberichtes (2020) helfen zunächst einen Überblick über die
Konsumlandschaft sowie über die Präferenzdrogen in der Alterskohorte zu gewinnen, mit
denen in Jugendwerkstätten schwerpunktmäßig gearbeitet wird.
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„Insgesamt 63,4 % der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen haben schon einmal Alkohol getrunken.
9,0 % dieser Altersgruppe trinken regelmäßig – also
mindestens einmal in der Woche – Alkohol. Etwa
jeder siebte Jugendliche (14,7 %) berichtet bezogen
auf die letzten 30 Tage vor der Befragung von mindestens einem Tag mit Rauschtrinken. Von den
jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren
haben 94,9 % schon einmal im Leben Alkohol getrunken. Etwa ein Drittel (32,3 %) trinkt regelmäßig
Alkohol und rund zwei Fünftel (40,6 %) haben in den letzten 30 Tagen vor der Befragung
Rauschtrinken praktiziert. Männliche und weibliche Befragte unterscheiden sich im Alkoholkonsum vor allem hinsichtlich der Intensität, die bei männlichen Befragten hoher ist.“ (BzgA,
2020, S.38)
Die Präferenzen zum Suchtmittelgebrauch außerhalb des Alkoholkonsums stellen sich tabellarisch wie folgt da (ebd., S.54):
Auffällig sind mehrere Faktoren, die sich auch in der täglichen Arbeit mit unseren Jugendlichen spiegeln. So ist Alkohol und Alkoholkonsum ein fester Bestandteil in den Lebensrealitä-
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ten unserer Jugendlichen, vielfach ohne dass der Konsum eine negative Konnotation erfährt.
Die Intensität des Konsums ist bei männlichen Jugendlichen höher. Ähnliches lässt sich statistisch beim Suchtmittelkonsum belegen, auch hier lässt sich ein insgesamt größerer Anteil
konsumierender männlicher Jugendlicher belegen.
Eine Arbeitshypothese hierzu könnte sein, dass das Gehirn männlicher Jugendlicher in größerem Maße auf die Stimulation durch das Endogene Opiat System anspricht, und, wo sich
diese nicht durch endogene Opiate erreichen lässt, der Versuch der externen Stimulation
erfolgt. Was im Umkehrschluss zu der Frage führt, welche Wege der Endogenen Opiat Stimulation (EOS) möglich sind und welche Instrumente der pädagogische Alltag hergibt, um
das EOS insbesondere männlicher Jugendlicher zu bedienen, denn:
„Das Belohnungssystem ist so kompromissbereit wie ein hungriger Pitbull“ (Bandelow, 2023,
S. 37)
Bandelow führt hierzu weiterhin aus, dass es sich insbesondere bei einigen psychischen
Krankheitsbildern im Grunde um „Endorphinmangel-Erkrankungen“ handelt.
Wenn wir also unseren (insbesondere männlichen konsumierenden Jugendlichen) einen
Konsumverzicht oder zumindest Verhaltensweisen aus dem Bereich „harm reduction“ nahebringen wollen, was kann unser Angebot an Jugendliche sein, die die Sonnenseiten einer
EOS-Stimulation durch Substanzzufuhr für sich entdeckt haben? Ein kompletter Konsumverzicht wie im Minnesota Modell der A.A. entwickelt, wird für einen Großteil unserer Jugendlichen ähnlich attraktiv sein, wie ein Konsolenabend mit
einem Commodore C64. Kann aber Jugendwerkstatt
der Raum sein, in dem offener Austausch über Konsum
und Konsummuster stattfindet? Kann und sollte die Jugendwerkstatt der pädagogische Schutzraum sein, in
denen Jugendliche einen „Sense of Coherence“, die
„Handhabbarkeit“ der Welt erfahren (vgl. Schiffer, S.52
ff)? Können wir in unseren Einrichtungen, durch den
gezielten Einsatz pädagogischer Instrumente (eine Vielzahl von Autor*innen verweist in diesem Zusammenhang auf den gezielten Einsatz von Sport und Grenzerfahrungen – affekt-sensomotorische Erfahrungen), eben
jene endogenen EOS-Stimulationen erreichen und unseren Jugendlichen nahebringen, sodass diese als echte Alternativen zum Konsumverhalten erlebt werden
(oder eine Reduktion des Suchtmittelgebrauches anregen)?
Im pädagogischen Alltag der Jugendwerkstatt Weserbergland versuchen wir somit, die obigen Fragen so oft es geht mit einem „ja“ zu beantworten. Der individuelle Konsum ist keinesfalls Ausschlusskriterium, sondern pädagogische Fragestellung und, wo es von den Jugendlichen klar kommuniziert wird, Arbeits- und Veränderungsauftrag. Erst wenn im kollegialen
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Austausch und im Austausch mit unseren Jugendlichen festgestellt wird, dass einzelne Teilnehmer*innen versuchen, die Jugendwerkstatt als kommerzielle Plattform für Mehrwertgeschäfte mit Suchtmitteln zu nutzen oder das Verhalten die Bedürfnisse aller beschneidet,
kann es nach klaren klärenden Gesprächen dazu kommen, dass wir die Interessen der
Gruppe und der anderen Teilnehmer*innen über das individuelle Einzelinteresse stellen und
den Maßnahme Verweis aussprechen.
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Bandelow, Borwin (2023): Das Endorphin-Prinzip, Wie Glück im Gehirn entsteht,
Langwedel
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2020): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2019, Köln
Siegler, R. / DeLoache, J. / Eisenberg, N. (2011): Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, Heidelberg
Schiffer, Eckard (2001): Wie Gesundheit entsteht – Salutogenese: Schatzsuche statt
Fehlerfahndung, Weinheim und Basel
GKV Bündnis für Gesundheit (2024) – unveröffentlichte Ergebnisse der Fokusgruppe
U25 der Jugendwerkstatt Weserbergland: teamw()rk für Gesundheit und Arbeit am
11.04.2024
Jugendhilfeausschuss des Landkreises Hameln-Pyrmont (2024) – unveröffentlichte
Daten zum Cannabis Konsumverhalten im Landkreis Hameln Pyrmont: CannabisKonsum von jungen Menschen im Landkreis Hameln-Pyrmont vor dem Hintergrund
der Legalisierung
5. Best Practise-Artikel PACE zum Thema "Drogen-, Alkohol-, und Medikamentenmissbrauch"
Pro-Aktiv-Center des Caritasverbands e. V. in Braunschweig, Daniela
Tedesco
Wie in wahrscheinlich allen Beratungsstellen, die mit jungen Menschen zusammenarbeiten,
hat auch das Pro-Aktiv-Center des Caritasverbands e. V. in Braunschweig immer wieder
Berührungspunkte mit dem Thema Drogen-, Alkohol-, und Medikamentenmissbrauch.
In unserer täglichen Arbeit macht sich vor allem bemerkbar, dass die psychischen Belastungen der jungen Erwachsenen – wir im PACE Braunschweig arbeiten mit Menschen zwischen
18 und 26 Jahren – merklich zugenommen hat. Einige von ihnen berichten, dass sie Drogen
konsumieren, um im Alltag zurecht zu kommen oder sich abzulenken, was wir im professionellen Kontext als Selbstmedikation betiteln würden. Bei einigen wirkt sich dieses Verhalten
negativ auf den Alltag aus, bei anderen macht es sich kaum bemerkbar.
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Im PACE Braunschweig haben wir das Selbstverständnis, die jungen Erwachsenen ernst zu
nehmen und „sie dort abzuholen, wo sie derzeit stehen“. Das Verteufeln des Drogenkonsums oder das Drängen zu einer Therapie, ist daher nicht unser erster Ansatz. Aus der Erfahrung zeigte sich, dass vor allem der Beziehungsaufbau mit den Ratsuchenden zunächst
elementar ist, um an den eigentlichen Problematiken arbeiten zu können. Daher ist ein etwaiger Drogenkonsum für uns weder ein Ausschlusskriterium, noch brechen wir die Beratungen
ab, wenn wiederholt Termine verstreichen, was bei der Zielgruppe ebenfalls oft der Fall ist.
Vielmehr geht es uns darum, mit ganzheitlichen und systemischen Ansätzen zu reflektieren,
wie den jungen Erwachsenen im Rahmen ihrer Lebensumstände gut geholfen werden kann.
PACE Braunschweig hat ein breit gefächertes Netzwerk, was vor allem auch dadurch profitiert, dass wir uns in einer Stadt mit 255.307 Einwohner*innen (Stand 12.2023) befinden und
es diverse Beratungs- und Hilfsangebote gibt, die Hand in Hand arbeiten können. Sehen wir
uns also in der Situation, dass aufgrund der individuellen Lebenslage der Klient*innen mehr
benötigt wird als wir anbieten können, bauen wir eine Brücke zu den anderen Beratungsund Hilfsangeboten.
Um ein Beispiel aus der PACE-Praxis zu nennen:
M. ist 21 Jahre alt und kam über die Kompetenzagentur der Stadt Braunschweig zu PACE.
Im ersten Gespräch wurde das Anliegen formuliert, dass ein Schulplatz auf einem beruflichen Gymnasium gesucht und Unterstützung bei der Anmeldung benötigt wird. Im Laufe des
Gesprächs wurde deutlich, dass M. unter chronischen Rückenschmerzen leidet und eine
Cannabis- und Alkoholabhängigkeit vorliegt. Zum nächsten vereinbarten Termin erschien M.
nicht, zu den darauffolgenden zwei Terminen ebenfalls nicht. Was M. jedoch schaffte, war
telefonisch Kontakt zu halten; also fand der Austausch ab da über das Telefon statt. M. teilte
mit, dass es mit dem Schulplatz nicht geklappt habe, aber auch die hierfür benötigte Praktikumsstelle nicht vorgehalten werden konnte. M. wolle nun eine Alternative mithilfe von PACE
erarbeiten, erklärte aber derzeit „völlig verpeilt“ zu sein und es auch nicht zu schaffen, mit
dem Alkohol aufzuhören. Von Seiten des Jobcenters wurde uns die Info zugetragen, dass M.
dort bereits merklich alkoholisiert zu Terminen erschienen sei, was auf eine deutlich eingeschränkte Steuerungsfähigkeit bezüglich des Alkohols schließen ließ. Im Sinne des Ansatzes, die Klient*innen dort abzuholen, wo sie stehen, ging es in den ersten Gesprächen aber
nie darum, M. zu einer Therapie oder einem Entzug zu drängen, sondern zunächst die Wünsche und Erwartungen abzufragen und diese dann mit der Realität abzugleichen: „Sind diese
Wünsche derzeit realistisch zu erreichen? Was müsste sich verändern, damit es klappt?“.
Hier ist entscheidend, eine Motivation aufzubauen, die aktuelle Situation verändern zu wollen
und den Zugang zu den Betroffenen nicht zu verlieren, indem die Wünsche und Bedürfnisse
der jungen Menschen ihren Raum erhalten.
Zuletzt gab M. bekannt, dass sich der psychische Zustand immer weiter verschlechtert habe.
Also wurden von hiesiger Seite alle therapeutischen Möglichkeiten aufgezeigt und gemeinsam erörtert. Zum Ende des Gesprächs kam M. selbst zu dem Ergebnis, dass ein stationärer
– ggf. geschlossener Klinikaufenthalt – das Richtige sein könnte und M. sich um eine Ein-
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
weisung bemühen möchte. Gemeinsam wurde besprochen, welche Kliniken und Angebote
es gibt und was geeignet sein könnte. Die Kontaktdaten wurden M. umgehend zur Verfügung
gestellt, da M. die Einweisung alleine organisieren wollte.“
Dieses Praxisbeispiel soll verdeutlichen, welche Herangehensweise bei Klient*innen mit
Drogen- und Alkoholabhängigkeit genutzt werden kann. Es ist nur eine Momentaufnahme
und nicht eins zu eins auf andere Fälle anwendbar. Denn wie wir alle wissen, sind jeder
Mensch und jede Situation anders und müssen individuell betrachtet werden. Was ebenfalls
deutlich wird, ist, dass das Ende und der weitere Verlauf ungewiss bleiben können, wie es in
Beratungskontexten oft der Fall ist. Ich habe um eine Rückmeldung gebeten, wenn mit der
Klinik gesprochen wurde, bisher aber noch keine Informationen hierzu erhalten. Auch das
zeichnet die Realität ab: Wir müssen Ungewissheiten aushalten und abwarten, bis die Ratsuchenden bereit sind, wieder in Kontakt mit uns zu treten. Und selbst wenn alle Pläne wieder über den Haufen geworfen werden, PACE bleibt als Beratungsstelle dennoch verfügbar.
Um uns hierfür bestmöglich aufzustellen, sind wir im PACE Braunschweig bestrebt, uns stetig fortzubilden und an Fachveranstaltungen teilzunehmen, um unser Wissen und unser
Netzwerk weiter auszubauen.
6. Links und Empfehlungen
Niedersächsisches Suchtkonzept, 2022:
Tielking, K. & Rabes, M. (2022). Niedersächsisches Suchtpräventionskonzept. Hannover:
Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung.
https://www.ms.niedersachsen.de/startseite/gesundheit_pflege/gesundheit/drogen_sucht/ver
anstaltung/suchtpravention-212104.html
Wismarer Disskussionspapiere, 2011:
Hönle, J. & Bojack, B. (2011). Alkohol- und Drogenprobleme von Auszubildenden als Ursache von Ausbildungsabbrüchen. Wismar: Wismarer Diskussionspapiere, No.08/2011.
https://www.fww.hs-wismar.de/storages/hswismar/_FWW/Forschung_und_Kooperationen/Veroeffentlichungen/wdp/2011/1108_HoenleBoj
ack.pdf
Gantner, A., Tossmann, P., Bobbink, J., Spohr, B., & Kasten, L. (2023). FriDA: Frühintervention bei Drogenmissbrauch in der Adoleszenz – Ein Projekt zur Verbesserung der Versorgung von cannabiskonsumierenden Minderjährigen und deren Familien in der ambulanten
Suchthilfe. Berlin.
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/fridafruehintervention-bei-drogenmissbrauch.html
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV):
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). (2022). Medikamente: Ge- und Missbrauch. Hintergrundinformationen für die Lehrkraft. DGUV Lernen und Gesundheit. Wiesbaden: Universum Verlag GmbH.
https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.dguvlug.de/fileadmin/user_upload_dguvlug/Unterrichtseinheiten/Berufsbildende_Schulen/Medika
mente_Ge_und_Missbrauch_aktualisiert/BBS_02_2022_Hintergrundinfo_Medikamentenmissbrauch.pd
f&ved=2ahUKEwjRyIG60u2JAxU3hP0HHbVxJEsQFnoECB0QAQ&usg=AOvVaw0eZLttUG2
4Ir9SxKNt9WCZ
https://www.dguv-lug.de/berufsbildende-schulen/suchtpraevention/medikamente-ge-undmissbrauch/
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Positionspapier 2023:
https://dguv.de/medien/inhalt/mediencenter/pm/pressearchiv/2023/4_quartal/dguv_positionsp
apier_cannabis.pdf
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). (2019). Suchtprävention in der Arbeitswelt: Handlungsempfehlungen. DGUV Information 206-009. Berlin: DGUV.
https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/1268
Hoch, E., Friemel, C. & Schneider, M. (2018). Cannabis: Potential und Risiko. Eine wissenschaftliche Analyse.Heidelberg: Springer-Verlag.
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_u
nd_Sucht/Berichte/Broschuere/BMG_CaPris_A5_Info_web.pdf
Meinertz, Thomas. Herztod durch Drogen und Medikamente. In: Plötzlicher Herztod 2023,
Deutsche Herzstiftung. Seiten 62–69. Erschienen 2023. Kontakt:
[email protected].
https://herzstiftung.de/system/files/2023-10/BR17-herztod-drogen-medikamente.pdf
Haberer, Gisela. Rauschmittelkonsum im Jugendalter: Tipps für Eltern. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., 2. Auflage, April 2018. Unterstützt von der AOK. Verfügbar unter:
www.dhs.de.
https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Broschueren/Rauschmittelkonsum_im_Jugend
alter.pdf
Fachverband Sucht Verband der Deutschschweizer Suchtfachleute:
https://fachverbandsucht.ch/de/news/medikamentenmissbrauch-und-mischkonsum-unterjugendlichen
Suchtmagazin Interdisziplinäre Fachzeitschrift der Suchtarbeit und Suchtpolitik:
https://www.suchtmagazin.ch/magazin/junge-menschen-heute-2024-05#article3
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Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit Drogen-,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei Jugendlichen
CannabisPraevention.de:
https://www.cannabispraevention.de/
Diakonie Göttingen: Jahresbericht 2023:
Fachstelle für Sucht und Suchtprävention & Suchtberatungs- und Behandlungsstelle Göttingen und Hann. Münden Drogenberatungszentrum Göttingen. (2023). Jahresbericht 2023.
Göttingen.
https://suchtberatung-goettingen.wire.de/rails/active_storage/blobs/proxy/eyJfcmFpbHMiOnsibWVzc2FnZSI6IkJBaEpJaWxqWW
pJNU0yWTBPUzB5TUROaUxUUTBZamd0WWpRell5MW1ZalJqWVdZNE5HRmhZek1HT2d
aRlZBPT0iLCJleHAiOm51bGwsInB1ciI6ImJsb2JfaWQifX0=-a8779d24d750c9a8e6db014c1dfd7b9372e7ff9b/Jahresbericht%202023_final.pdf
Niedersächsiche Landesstelle für Suchtfragen Jahresbericht 2022:
https://www.nls-online.de/news-jahresprogramm-3/
Deutsche Haupstelle für Suchtfragen e.V. 2022:
Dr. Behrendt K., Dr. Backmund M., & Dr. Reimer J. Drogenabhängigkeit. Suchtmedizinische
Reihe Band 4. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., 2. Auflage, Juli 2022.
https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Broschueren/Suchtmedizinische_Reihe_Droge
nabha%CC%88ngigkeit-BFREI.pdf
Kaufmännische Krankenkasse (KKH). (2020). Sucht verstehen, vermeiden und überwinden. Hannover.
https://www.kkh.de/content/dam/kkh/dokumente/flyer-broschueren/sucht-verstehenvermeiden-und-ueberwinden.pdf
Korczak D., Steinhauser G., & Dietl M. Prävention des Alkoholmissbrauchs von Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation
und Information.1. Auflage, 2011. Köln.
https://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta309_bericht_de.pdf
Impressum
Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen (LAG JSA)
Referat Pro-Aktiv-Centren und Jugendwerkstätten
Redaktion: Susanna Ratke
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