Akteur-NetzwerkTheorie
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Ivica Mladenović und Srđan Prodanović
Nach jahrzehntelanger Hegemonie des Marxismus und Strukturalismus in den Geistes- und
Sozialwissenschaften in Frankreich, ist mit der
Krise dieser Paradigmen – sowie der sozialistischen Politikstrategien im Westen wie im Osten –
Ende der 1970er Jahre eine „Rückkehr der Akteure“ (Alain Touraine) eingetreten. Gestützt auf
die Entwicklung der sog. science and technology studies sowie einer „neuen“ Soziologie, die
die technologische Entwicklung und Innovation in den Fokus rückte, verdankt die AkteurNetzwerk-Theorie – allgemein bekannt unter
dem vom Englischen Actor-Network-Theory abgeleiteten Akronym ANT – ihren Aufstieg und
die breite wissenschaftliche Relevanz seit den
1980er Jahren in der westlichen Welt genau diesen spezifischen Tendenzen. Den wohl wichtigs-
Dieser Artikel wurde mit Unterstützung des Ministeriums
für Wissenschaft, technologische Entwicklung
und Innovation der Republik Serbien gemäß der
Vereinbarung über die Durchführung und Finanzierung
wissenschaftlicher Forschung 451-03-66/2024-03 /
200025 erstellt.
I. Mladenović (*) · S. Prodanović
Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie,
Universität Belgrad, Belgrad, Serbien
E-Mail:
[email protected]
S. Prodanović
E-Mail:
[email protected]
ten Beitrag zu dieser Theorie leisteten neben dem
britischen Soziologen und Professor an der University of Lancaster John Law die französischen
Soziologen und Philosophen Bruno Latour und
Michel Callon. Diese entwickelten die Grundannahmen der ANT in einigen ihrer in englischer
Sprache publizierten bahnbrechenden Arbeiten,
die in einer Zeit des zwar geschwächten Marxismus und Strukturalismus in Frankreich Mitte
der 70er Jahre entstanden, die aber immer noch
für den philosophischen Diskurs von besonderer
theoretischer Bedeutung waren.
Nach Michel Callon (2006a, 41–45) ist der
Beginn der ANT mit dem Begriff „Übersetzung“
verbunden, den er – um die Zirkulation wissenschaftlichen Wissens zu verstehen und die
sozialwissenschaftliche Scholastik sowie die
Spannung zwischen Inhalts- und Kontextanalyse
zu überwinden – Mitte der 1970er Jahre Michel
Serres (1974) entlehnte, der sowohl für Callon
als auch für Latour ein intellektuelles Vorbild
war. In Callons und Latours (2006) Perspektive
ist „Übersetzung“ nicht mit sprachlicher Übersetzung gleichzusetzen, sondern impliziert eine
Ganzheit aus Intrigen, Berechnungen, Machtausübungen, Verhandlungen usw., die einen Aktanten dazu ermächtigen, im Namen eines anderen Aktanten zu sprechen oder zu handeln.
In dem Moment, in dem ein Aktant „wir“ sagt,
übersetzt er dadurch andere Akteure in „einen
Willen“, dessen Wortführer er selbst wird, und
beginnt damit, im Namen aller und nicht nur
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024
M. Gutmann et al. (Hrsg.), Handbuch Technikphilosophie,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05991-8_27
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im eigenen Namen zu handeln. „Übersetzung“
ist ein allgemeinerer und meist adäquaterer Begriff als der etwas widersprüchliche Ausdruck
„Akteur-Netzwerk“, dem die Autoren selbst
skeptisch gegenüberstanden.
Mit der Veröffentlichung des Sammelbandes
New Directions in Social Studies of Technology
(1987), deren Herausgeber in der Einleitung die
von Latour, Law und Callon gemeinsam und individuell verfassten Texte unter dem Namen
ANT vereinigt haben, wird ANT zu einer weltweit verbreiteten Signatur einer theoretischen
Richtung. Obwohl Bruno Latour den Begriff
„Akteur-Netzwerk“ in seinem Buch „Science
in Action“ (1987) nicht verwendet hat, war es
diese Veröffentlichung auf Englisch und das
Echo in der Wissenschaftsgemeinde, sowie sein
Beharren darauf, dass es sich um ein neues Erklärungsmodell handele, die dazu führten, dass
die Bezeichnung „ANT“ Verbreitung fand. Obwohl Latour damals selbst nicht von ANT
sprach, fand sozusagen eine nachträgliche Akzeptanz der Bezeichnung durch ihn und die frühen Mitautoren des Sammelbands statt.
ANT oder Neudefinition des
Forschungsgegenstandes der
Soziologie
ANT wurde weitgehend innerhalb der Wissenssoziologie entwickelt – also einer Unterdomäne
der „Science and Technology Studies“, die vor
allem in Großbritannien unter dem Einfluss von
David Bloor (1976) geprägt wurde. Sie steht
im Gegensatz zur Wahrnehmung von Wissenschaft als einer eindeutig rationalen Aktivität,
deren Ziel die universelle Wahrheit ist, die von
einer unparteiischen wissenschaftlichen Gemeinschaft erreicht werden soll. Die ANT kritisiert
diese Wissenschaftsidee, indem sie davon ausgeht, dass Wissenschaft erstens auf gelegentlich
stabilisierten theoretischen Paradigmen basiert,
die Forscher zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptieren, und zweitens die Wahrheitsannahme
in der Wissenschaft kein Resultat eines wissenschaftlichen Fortschritts, sondern Folge sozialen
Drucks ist. So argumentieren diese Autoren oft
I. Mladenović und S. Prodanović
im Stil postmoderner Theorien, obwohl sie selbst
die radikale Postmoderne ablehnen und Bruno
Latour das Konzept der „Nichtmoderne“ im
Gegensatz zur Postmoderne einführt (vgl. Latour
1997). In diesem Zusammenhang setzen sich die
Wissenschaftler dafür ein, Wahrheiten und Irrtümer, aber auch Rationalitäten und Irrationalitäten
auf dieselbe kognitive Ebene zu stellen. Dabei
betonen sie die Bedeutung der Aktanten und der
Relationen, die die Aktanten im Netz verwirklichen (vgl. Colin/Livian/Thivant 2016).
Zur Entwicklung ihres spezifischen Handlungskonzepts übernehmen Latour und Callon
aus dem semiotischen Modell von Algirdas
Julien Greimas den Begriff des Aktanten. Als
Aktant kann demnach nicht nur der Akteur,
sondern auch eine metaphysische Entität, Ressource, strukturelle Einheit, Organisation usw.
fungieren. Der Aktant schreibt sich sozusagen in ihr Konzept der symmetrischen Analyse
von Handlungen und Determinierungen ein, in
die er durch seine Teilnahme an Prozessen und
Situationen miteinbezogen ist. Latour (2006) zufolge definiert sich der Aktant vor allem durch
sein Handlungsvermögen bzw. die Möglichkeit,
eine gewisse Gravität und Intensität während der
Handlung zu haben.
Die klassische wissenschaftssoziologische
Erklärung legt den Akzent vor allem auf den gesellschaftlichen Kontext, wobei wissenschaftliche Tatsachen und technologische Erzeugnisse
als Konstruktion „äußerer Kräfte“ angesehen
werden, deren Ursprung in der Gesellschaft
(sei es in der Ideologie, den materiellen Interessen oder den Macht- und Herrschaftsverhältnissen) liegt. ANT-Pioniere hingegen, die darauf bestehen, den eigentlichen Gegenstand der
sozialwissenschaftlichen Forschung neu zu definieren, lehnen diesen Ansatz ab: „Providing
a social explanation, thus, means that someone
is able in the end to replace some object pertaining to nature by another one pertaining to society, which can be demonstrated to be its true
substance“ (Latour 2000, 108). Andererseits versucht die Akteur-Netzwerk-Theorie als eigenständiger Bereich innerhalb der science and
technology studies die Produktion sozialer Fakten und technologischer Produkte im Rahmen
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Akteur-Netzwerk-Theorie
sehr detaillierter Fallstudien durch einen Prozess zu erklären, der ihre Effizienz etabliert und
ihre Verbreitung sozusagen befördert. Die frühen Untersuchungen wissenschaftlicher Laborpraktiken und technologischer Produkte zeigen, dass dieses Konzept, das die Natur in Gesellschaft aufgehen lässt, ebenso wenig haltbar
ist wie das vorherige, das beide vollständig voneinander trennte (vgl. Callon 2006b). Aus diesem Grund befürworten die Vertreter der ANT
einerseits das Prinzip der „generalisierten Symmetrie“ zwischen Natur und Gesellschaft und
verlagern andererseits den Fokus von stabilen
Analyseobjekten – wie Natur und Gesellschaft –
auf Prozesse und Beziehungen, in denen sich
Dinge als „natürlich“ und „sozial“ konstituieren.
Eine der Grundhypothesen der ANT ist, dass
die Gesellschaft nicht als permanenter und systemisch garantierter Rahmen, in dem Aktanten agieren, gesehen werden sollte, sondern als
ein temporäres Ergebnis der in Echtzeit stattfindenden Handlungen von Aktanten. Darüber
hinaus ist eine der Grundannahmen der ANT die
Befürwortung der „radikalen Unbestimmtheit“
der Aktanten, d. h. die Opposition gegen strukturalistische Perspektiven, die im Akteur eine
Art Abbild von quasi selbst handelnden und Veränderungen bewirkenden Makrostrukturen, historischen Kontexten, sozialen Klassen oder „sozialen Feldern“ sehen. Bei der Erklärung einer sich
dauerhaft konstituierenden Gesellschaft lehnt
die ANT daher – anders als andere konstruktivistische Ansätze – apriorische Annahmen über
die Aktantennatur (vor allem die, dass es sich in
erster Linie um Menschen handelt) ab und führt
die Kapazitäten einer nicht-menschlichen in der
Natur existenten oder dank der Wissenschaft
und Technik hergestellten Akteursentitäten in die
Analyse ein, die auf ihre eigene Weise am Handeln teilhaben und denen menschliche Akteure
einen Teil ihres Reflexionsvermögens und ihres
Verhaltens verdanken. Denn in der Sicht der ANT
bedeutet „Handeln“ nicht unbedingt, etwas zu
beabsichtigen und es zu befolgen, sondern unerwartete Unterschiede hervorzubringen.
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Was die Begründer der ANT also verbindet,
ist nicht nur eine Philosophie, in deren Zentrum
die Wechselwirkung zwischen Technowissenschaften und sozialer Struktur steht, sondern auch
ein Interesse am „Nicht-Menschen“, d. h die Behandlung des „Nicht-Menschlichen“ als gleichberechtigten „Akteuren“/„Aktanten“, also auch
der technischen Geräte, Laborhilfsmittel, Organisationen, Veranstaltungen, Pflanzen, Tiere und
anderer „lebender“ und „nicht lebender“ Einheiten oder „hybrider Objekte“. Kurz: es handelt sich um einen Ansatz, der die Natur und Gesellschaft verbindenden „Objekte zu sozialisieren“ beabsichtigt. Die ANT sieht den Akteur in
einem Netzwerk menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten. Damit lässt sie die Spannungen
zwischen Mikro- und Makroanalyse, Handlungsfähigkeit und Determinismus, Subjekt und Objekt
usw. unbeachtet, umgeht also die konstitutiven
und klassischen Gegensätze der Sozialwissenschaften. Anders als etwa das soziologische Projekt von Pierre Bourdieu kann die ANT jedoch
nicht als ein theoretischer Versuch der Überwindung dieser Gegensätze interpretiert werden
(Mladenović 2020), vielmehr relativiert sie diese,
versucht aber auch, einen Interpretationsrahmen
für ihr Verständnis und Werkzeuge für ihre Analyse anzubieten (Latour 1999).
Latour besteht daher darauf, dass die Welt
aus „unreinen“ und miteinander verflochtenen
Einheiten besteht (Prodanović 2022), d. h. dass
die moderne dualistische Logik der Welt, die
sich aus Subjekten und Objekten zusammensetzt, eine intellektuelle Sackgasse ist. „Moderne Gesellschaften trennen die Natur von der
Gesellschaft. In der heutigen Gesellschaft sind
wir jedoch mit einer Vielzahl hybrider QuasiObjekte aus Natur und Gesellschaft konfrontiert, wie z. B. Netzwerke“ (Latour 1997, 74). Um
das Scheitern einer vielversprechenden Innovation der 1970er-Jahre wie dem Elektroauto zu erklären, begann Michel Callon (vgl. 1979; 2006a)
seine Erklärung mit einer Analyse, warum Autos
mit Verbrennungsmotor so lange überleben. Was
nämlich die systemische Nutzung von Autos
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ermöglicht, ist ein ganzer sozio-technischer Komplex, in dem sich verschiedene interagierende und
voneinander abhängige Elemente finden. Dies beginnt mit Autoherstellern und Ölgesellschaften,
führt über Kolonialimperien, die ihrer Entstehung
begünstigt und ihre Fortdauer mit Kriegen abgesichert haben, und endet mit metallurgischem
Wissen und wissenschaftlichen Modellen, die
die Verbesserung von Motoren ermöglicht haben.
Schließlich erwähnt Callon auch die fachliche
Spezialisierung auf die Autoproduktion, Tarifverträge, Umweltgesetze, Verkehrsinfrastruktur,
Führerscheine, Tankstellen- und Werkstattnetze.
Autos mit Verbrennungsmotor prosperieren
deshalb, weil damit eine ganze sozio-technische
Welt verbunden ist. Das Elektroauto konnte,
wie wir weiter unten noch zeigen werden, nicht
erfolgreich sein, weil es nicht in der Lage war,
eine alternative sozio-technische Welt zu konstruieren. Um den Konstruktionsprozess einer
solchen Welt zu beschreiben, verwendet Callon den Begriff des Akteur-Netzwerks. „Netzwerk“ bedeutet hier, dass das Elektroauto fortschreitend mit allen notwendigen Elementen
für sein Überleben und seine Entwicklung verbunden werden müsste; „Akteur“ verweist darauf, dass eine solche Welt nicht vorfindlich existierte, sondern sie vielmehr erst vorgestellt und
konstruiert werden musste. Diese Konstruktion
konnte aber nur als Produkt eines Netzwerks
stattfinden. „Das Konzept des Akteur-Netzwerk
ist damit in den Sozialwissenschaften zu dem
geworden, was Hybridmais in den Agrarwissenschaften war: eine Veränderung in der Kontinuität“ (Callon 2006a, 42). Auf diesem Weg wird
Techno-Wissenschaft zu einem hybriden Netzwerk aller Aktanten. John Law (1992) schreibt,
dass so wie ein einzelner Akteur das aus verschiedenen Elementen bestehende Netzwerk
präsentiert, sich auch ein Netzwerk so vereinfachen lässt, dass es wie ein einzelner Akteur
aussieht. Dabei ist „Netzwerk“ die Bezeichnung
für das Konzept, nicht für die Sache. Mit anderen Worten: ein Werkzeug, das verwendet wird,
um eine Sache zu beschreiben, nicht aber die beschriebene Sache selbst ist (Latour 2005). Jedoch gilt auch: „Netzwerke sind gleichzeitig real
als Natur, erzählt als Diskurs und kollektiv als
Gesellschaft“ (Latour 1997, 15).
I. Mladenović und S. Prodanović
Zur Besonderheit des
ANT-Technologieansatzes
Wie bereits hervorgehoben wurde, ist eine der
wichtigen Eigenschaften der ANT die Inklusion
aller lebenden und nicht-lebenden Elemente
des Netzwerks, aber auch aller Relationen zwischen den aktuell gegebenen Elemente im Diskurs (Nitsch 2008; Moebius/Nungesser/Scherke
2019). Um dies zu betonen – und um weiter darauf hinzuweisen, dass es innerhalb der ANT unmöglich ist, irgendeine Netzwerkinstanz im ontologischen Sinne als zentral zu positionieren –
definiert Latour den Aktanten als eine Entität,
die ausschließlich durch ihre Relationalität existiert. In diesem Sinne wird Realität durch die
Umgestaltung der Netzwerke selbst geschaffen
und verändert (Cvejić/Ivković/Prodanović 2023),
noch bevor sie mit einer bestimmten wissenschaftlichen Methode „entdeckt“ wird. Dies ist
einer der Hauptgründe, warum Technologie wie
auch Wissenschaft, nach Ansicht der ANT-Befürworter, keinen Prozess des progressiven und
kumulativen Fortschritts in der Erkenntnis der
„objektiv existierenden“ Realität darstellen kann,
sondern einen Gesamtquotienten darstellt, der
sich zwischen den Werkzeugen, verfügbaren
Forschungsmitteln, Ideen, rivalisierenden Gruppen und Konzepten sowie dem institutionellen
Hintergrund bildet, in dem die Forschung stattfindet. Daher ist auch das Verständnis der in der
ANT entstehenden Technologie stark kontextabhängig. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass der Kontext selbst – aufgrund der gleichen ontologischen Stellung aller
Aktanten – niemals durch die Aufstellung einer
Unterscheidung zwischen seinen natürlichen
und sozialen Aspekten vereinfacht werden kann.
Mit anderen Worten: die Macht des Handelns,
die von Autoren wie Latour, Callon oder Law
befürwortet wird, ist notwendigerweise ganzheitlich, weil sie durch die „Koevolution“ sozialer Beziehungen, technologischer Artefakte und
unseres Wissens über die natürliche Umwelt entsteht (Callon 1986, 20). Auf diese Weise löscht
die ANT die privilegierte Stellung des Subjekts
gegenüber den Dingen oder, in einem etwas höheren Abstraktionsgrad, des Menschen gegenüber der Natur.
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Akteur-Netzwerk-Theorie
Um diese Einsichten zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, sich noch einmal Callons Analyse
des Elektroautos in den Blick zu nehmen. Wie
angedeutet, versuchte der französische multinationale Elektrizitätskonzern Électricité de
France (EDF) in den 1970er-Jahren nicht nur,
das Konzept des Elektroautos, sondern auch
einen ganzen sozialen Kontext zu entwickeln,
der den Übergang zu einem neuen, postindustriellen Zeitalter einleiten sollte, in dem
dieses öffentliche Verkehrsmittel funktionieren
würde. In dieser neuen Welt sollte der Industriegigant Renault in gewisser Weise auf ein „Relikt der industriellen Vergangenheit“ reduziert
werden, indem er nur noch für die Produktion
von Elektroauto-Chassis verantwortlich wäre,
da der Fortschritt in die von der Électricité de
France vorgestellte postindustrielle Ära eine
andere Motorenbautechnologie erfordert, über
die Renault zu diesem Zeitpunkt noch nicht
verfügte.
Callon folgt in seiner Analyse dieses Netzwerks konsequent Serres’ Einsicht in die Philosophie der Übersetzung, derzufolge es unmöglich
ist, eine vollständige Äquivalenz zwischen den
zu übersetzenden Wörtern herzustellen. Die Tatsache, dass Renault ein erfolgreiches Element der
Netzwerke war, in deren Rahmen Autos mit Verbrennungsmotor gebaut wurden, bedeutet jedoch
nicht, dass es von vornherein ein fruchtbares Mitglied des Netzwerks sein wird, das ein Elektroautomodell schaffen sollte. Wie Callon an einer
Stelle hervorhebt: „Once an actor-world comes
into being, it does not draw its entities from previously established stock. (…) In short, there
is no world, or worlds, from which preexisting
elements can be extracted. Nor is there a world
which guarantees that the combinations created
by the actor-world are realistic. Actors may construct a plurality of different and incommensurate
worlds“ (Callon 1986, 24).
Dieses Verständnis von Übersetzung impliziert ferner, dass Aktanten eine gewisse Art von
Autonomie in Bezug auf die Menge von Aussagen besitzen, die seinen Status innerhalb
dieses Netzwerks bestimmt. Dies ist eine typische Sichtweise innerhalb der sogenannten
„Materialsemiotik“ (Law 2008), die für die
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ANT von großer erkenntnistheoretischer Bedeutung ist und nach der es keinen dauerhaften
Zusammenhang zwischen dem Zeichen und
dem Signifikanten gibt, sondern nur kontextbedingte Verschiebungen, Umschaltungen, d. h.
Sinnumformungen, die sich aufgrund materieller Spuren verfolgen lassen (Muniesa 2015, 82).
Das Netzwerk, das die Électricité de France
zu schaffen versuchte, veranschaulicht jedoch
ein weiteres wichtiges Merkmal von ANT,
nämlich dass jede Konfiguration eine prekäre
Relation ist. In Callons klassischer Studie trugen Probleme mit dem Katalysator sowie die
Befürchtung Renaults, aus technologisch anspruchsvolleren Prozessen wie der Entwicklung
eines neuen Motortyps ausgeschlossen zu werden, schließlich dazu bei, dass das gesamte
Netzwerk zusammenbrach (Callon 1986; Law
2008, 143).
Andererseits beschreibt Latour (1993) bestimmte Bedingungen erfolgreicher Übersetzungen am Beispiel der Entdeckung des
Pasteurisierungsprozesses. Seiner Meinung
nach war die Einführung eines völlig neuen
Wirkstoffs ein sehr wichtiges Moment – in diesem Fall Milzbrandbakterien in einem völlig
neuen Laborrahmen (Muniesa 2015, 82) –,
das es Louis Pasteur ermöglichte, die Nutztierkrankheit mit einem völlig neuem Vokabular zu beschreiben. Ebenso wichtig gewesen
seien jedoch der Einfallsreichtum, die Ergebenheit und das Engagement der Unterstützer von
Pasteurs Ideen bei dem Versuch, dieses neue
Netzwerk zu erweitern und es gegen mögliche
Einwände zu verteidigen. Dabei ist es wichtig,
zu verstehen, dass es sich bei dieser Überzeugungs- und Engagementfähigkeit eher um uns
im politischen Leben begegnende Manöver und
Strategien als um ein häufig idealisiertes Bild
einer affektlosen wissenschaftlichen Debatte
handelt. Die Folgen dieser beiden Faktoren
spiegelten sich darin wider, dass sich Hunderte
anderer Aktanten – vor allem Ärzte – Pasteurs
Vision der Immunisierung anschließen konnten, sodass in dieser Hinsicht die Robustheit des
Netzwerks die Funktionsweise der Human- und
Tiermedizin und der Gesamtwirtschaft in der
modernen Gesellschaft verändert hat.
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Wie man sieht, ist eine der wichtigsten Implikationen von ANT die Notwendigkeit ihrer
Heterogenität. Am Beispiel der Pasteurisierung
können wir außerdem sehen, dass die Fähigkeit,
möglichst unterschiedliche Aktanten unter der
Schirmherrschaft des gleichen Netzwerks zu erhalten, die Grundlage ihres Erfolgs ausmacht.
Heterogenität bedeutet auch, dass es unmöglich
ist, eine scharfe Grenze zwischen wissenschaftlicher Arbeit und technologischer Umsetzung
einer Lösung zu ziehen. Im Fall des Elektroautos ist die am deutlichsten zu sehen, da die
Probleme beim Bau des Katalysators in gewisser
Weise Renaults Bemühungen unterstützten, der
vom EDF konstruierten Übersetzung zu widerstehen, die den Autogiganten gezwungen hätten,
eine untergeordnete Rolle als Chassismonteur
zu spielen – was in gewisser Weise zum Zusammenbruch des gesamten Netzwerks führte.
Es ist wichtig, anzumerken, dass die Tatsache, dass dieses Beharren auf Beziehungen
eine deutlich präsentistische Perspektive impliziert, die die ANT auf die Technologie hat. Die
Reichweite und der Erfolg eines Netzwerks hängen mehr von der Konfiguration der Aktanten,
ihrer spezifischen Interaktion und Übersetzung
ab als von irgendeiner Vorgeschichte dieser Elemente. In dieser Hinsicht ist die ANT naturgemäß weitgehend historisch orientiert (sofern
wir an der weit verbreiteten Ansicht festhalten,
dass die Geschichte die Bedeutung vergangener
menschlicher Handlungen rekonstruieren sollte).
Dies hat zur Folge, dass die ANT die für einige
konservative Technikinterpretationen charakteristische Falle der Technophobie umgeht, gleichzeitig aber den Progressivismus grundsätzlich
ablehnt, auf dem Autoren beharren, die eher
einer optimistischen Sicht der Technik nahestehen. Eine der wichtigsten Lehren von ANT
besteht darin, einige inhärente Tendenzen der
Technologie aufzugeben und sich auf die Konfiguration des Netzwerks selbst zu konzentrieren.
Damit rücken sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte Folgen der Technologie in gleicher
Weise in den Fokus (Kaplan 2009, 106). Die
ANT steht damit sicherlich jenseits aller humanistischen Bestimmungen, die die menschliche
Intentionalität als entscheidend für den Ablauf
dieser Prozesse beschwören würden.
I. Mladenović und S. Prodanović
Statt einer Schlussfolgerung
Obwohl die ANT als Disziplin die Differenzen
zwischen Sozial- und Naturwissenschaften zu
überwinden suchte, wird sie heute weitgehend
als eine Richtung der Soziologie angesehen, vor
allem weil sie einen neuen Einblick in die politischen Aspekte der durch die Materialsemiotik
konstituierten Welten ermöglicht (Muniesa
2015, 83). Insofern stellt die Entdeckung des
Aktanten sowie das daraus folgende „Parlament
der Dinge“ durchaus einen heuristisch fruchtbaren Zugang zum gesellschaftlichen Wandel
dar. Aus methodischer Sicht zeigt sich die wohl
größte Kompetenz der ANT-Befürworter in der
Fähigkeit, globale Prozesse und weitreichende
Implikationen anhand einzelner Fallstudien
zu sehen. Es scheint, dass diese Art von Methode noch nie zuvor zur Überprüfung so komplexer und abstrakter theoretischen Ansichten
verwendet wurde, was einige Autoren dazu veranlasste, die ANT zu einer „empirischen Philosophie“ zu erklären (Farías/Blok/Andres, xxv).
Es lohnt sich, abschließend noch auf einen
der Standardeinwände gegen die ANT einzugehen, nämlich dass dieser Ansatz uns nicht
viel über verschiedene Formen von Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit sagen kann.
Obwohl innerhalb der ANT eine spezifische Art
des methodologischen Relativismus deutlich erkennbar ist, der verlangt, dass der Theoretiker
nicht die wirklichen, d. h. objektiven Eigenschaften seiner Subjektanalyse festlegt (Baron/
Gomez 2016, 4), bedeutet dies nicht, dass die
ANT-Befürworter nichts über Machtverhältnisse
zu sagen hätten. Macht kann innerhalb der ANT
sicherlich nicht in ihrer klassischen Weber’schen
Definition verstanden werden, nämlich als die
Fähigkeit, einem anderen Akteur seinen Willen aufzuzwingen. Macht kann in der ANT kein
Zentrum und keinen klar sichtbaren und verortbaren Träger haben, und da sie aufgehört hat, ein
Privileg des Menschen zu sein, kommt es folglich auch zur ihrer Streuung.
An einer Stelle sagt Latour explizit: „To remain at this very intuitive level, ANT is a simple
material resistance argument. Strength does
not come from concentration, purity and unity,
but from dissemination, heterogeneity and the
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Akteur-Netzwerk-Theorie
careful plaiting of weak ties. This feeling that
resistance, obduracy and sturdiness are more
easily achieved through netting, lacing, weaving, twisting of ties that are weak by themselves, and that each tie, no matter how strong,
is itself woven out of still weaker thread” (Latour 1996, 370). Insofern konzentriert sich die
ANT – gemäß allgemeiner methodischer Festlegungen – auf die Erforschung der Macht, die
aus den Assoziationen selbst (Latour 1984;
Munro 2009, 127) hervorgeht, die als Folge der
erfolgreichen Überwindung der inhärenten Prekarität der Übersetzung entstehen, einer Prekarität, die eine Art ontologische Tatsache der ANT
darstellt.
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