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Akteur Netzwerk Theorie

2024, In Mathias Gutmann, Benjamin Rathgeber & Klaus Wiegerling, (dir.), Handbuch Technikphilosophie, Springer-Verlag GmbH, Berlin, pp. 277-285

Akteur-NetzwerkTheorie 27 Ivica Mladenović und Srđan Prodanović Nach jahrzehntelanger Hegemonie des Marxismus und Strukturalismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Frankreich, ist mit der Krise dieser Paradigmen – sowie der sozialistischen Politikstrategien im Westen wie im Osten – Ende der 1970er Jahre eine „Rückkehr der Akteure“ (Alain Touraine) eingetreten. Gestützt auf die Entwicklung der sog. science and technology studies sowie einer „neuen“ Soziologie, die die technologische Entwicklung und Innovation in den Fokus rückte, verdankt die AkteurNetzwerk-Theorie – allgemein bekannt unter dem vom Englischen Actor-Network-Theory abgeleiteten Akronym ANT – ihren Aufstieg und die breite wissenschaftliche Relevanz seit den 1980er Jahren in der westlichen Welt genau diesen spezifischen Tendenzen. Den wohl wichtigs- Dieser Artikel wurde mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, technologische Entwicklung und Innovation der Republik Serbien gemäß der Vereinbarung über die Durchführung und Finanzierung wissenschaftlicher Forschung 451-03-66/2024-03 / 200025 erstellt. I. Mladenović (*) · S. Prodanović Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie, Universität Belgrad, Belgrad, Serbien E-Mail: [email protected] S. Prodanović E-Mail: [email protected] ten Beitrag zu dieser Theorie leisteten neben dem britischen Soziologen und Professor an der University of Lancaster John Law die französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour und Michel Callon. Diese entwickelten die Grundannahmen der ANT in einigen ihrer in englischer Sprache publizierten bahnbrechenden Arbeiten, die in einer Zeit des zwar geschwächten Marxismus und Strukturalismus in Frankreich Mitte der 70er Jahre entstanden, die aber immer noch für den philosophischen Diskurs von besonderer theoretischer Bedeutung waren. Nach Michel Callon (2006a, 41–45) ist der Beginn der ANT mit dem Begriff „Übersetzung“ verbunden, den er – um die Zirkulation wissenschaftlichen Wissens zu verstehen und die sozialwissenschaftliche Scholastik sowie die Spannung zwischen Inhalts- und Kontextanalyse zu überwinden – Mitte der 1970er Jahre Michel Serres (1974) entlehnte, der sowohl für Callon als auch für Latour ein intellektuelles Vorbild war. In Callons und Latours (2006) Perspektive ist „Übersetzung“ nicht mit sprachlicher Übersetzung gleichzusetzen, sondern impliziert eine Ganzheit aus Intrigen, Berechnungen, Machtausübungen, Verhandlungen usw., die einen Aktanten dazu ermächtigen, im Namen eines anderen Aktanten zu sprechen oder zu handeln. In dem Moment, in dem ein Aktant „wir“ sagt, übersetzt er dadurch andere Akteure in „einen Willen“, dessen Wortführer er selbst wird, und beginnt damit, im Namen aller und nicht nur © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2024 M. Gutmann et al. (Hrsg.), Handbuch Technikphilosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05991-8_27 277 278 im eigenen Namen zu handeln. „Übersetzung“ ist ein allgemeinerer und meist adäquaterer Begriff als der etwas widersprüchliche Ausdruck „Akteur-Netzwerk“, dem die Autoren selbst skeptisch gegenüberstanden. Mit der Veröffentlichung des Sammelbandes New Directions in Social Studies of Technology (1987), deren Herausgeber in der Einleitung die von Latour, Law und Callon gemeinsam und individuell verfassten Texte unter dem Namen ANT vereinigt haben, wird ANT zu einer weltweit verbreiteten Signatur einer theoretischen Richtung. Obwohl Bruno Latour den Begriff „Akteur-Netzwerk“ in seinem Buch „Science in Action“ (1987) nicht verwendet hat, war es diese Veröffentlichung auf Englisch und das Echo in der Wissenschaftsgemeinde, sowie sein Beharren darauf, dass es sich um ein neues Erklärungsmodell handele, die dazu führten, dass die Bezeichnung „ANT“ Verbreitung fand. Obwohl Latour damals selbst nicht von ANT sprach, fand sozusagen eine nachträgliche Akzeptanz der Bezeichnung durch ihn und die frühen Mitautoren des Sammelbands statt. ANT oder Neudefinition des Forschungsgegenstandes der Soziologie ANT wurde weitgehend innerhalb der Wissenssoziologie entwickelt – also einer Unterdomäne der „Science and Technology Studies“, die vor allem in Großbritannien unter dem Einfluss von David Bloor (1976) geprägt wurde. Sie steht im Gegensatz zur Wahrnehmung von Wissenschaft als einer eindeutig rationalen Aktivität, deren Ziel die universelle Wahrheit ist, die von einer unparteiischen wissenschaftlichen Gemeinschaft erreicht werden soll. Die ANT kritisiert diese Wissenschaftsidee, indem sie davon ausgeht, dass Wissenschaft erstens auf gelegentlich stabilisierten theoretischen Paradigmen basiert, die Forscher zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptieren, und zweitens die Wahrheitsannahme in der Wissenschaft kein Resultat eines wissenschaftlichen Fortschritts, sondern Folge sozialen Drucks ist. So argumentieren diese Autoren oft I. Mladenović und S. Prodanović im Stil postmoderner Theorien, obwohl sie selbst die radikale Postmoderne ablehnen und Bruno Latour das Konzept der „Nichtmoderne“ im Gegensatz zur Postmoderne einführt (vgl. Latour 1997). In diesem Zusammenhang setzen sich die Wissenschaftler dafür ein, Wahrheiten und Irrtümer, aber auch Rationalitäten und Irrationalitäten auf dieselbe kognitive Ebene zu stellen. Dabei betonen sie die Bedeutung der Aktanten und der Relationen, die die Aktanten im Netz verwirklichen (vgl. Colin/Livian/Thivant 2016). Zur Entwicklung ihres spezifischen Handlungskonzepts übernehmen Latour und Callon aus dem semiotischen Modell von Algirdas Julien Greimas den Begriff des Aktanten. Als Aktant kann demnach nicht nur der Akteur, sondern auch eine metaphysische Entität, Ressource, strukturelle Einheit, Organisation usw. fungieren. Der Aktant schreibt sich sozusagen in ihr Konzept der symmetrischen Analyse von Handlungen und Determinierungen ein, in die er durch seine Teilnahme an Prozessen und Situationen miteinbezogen ist. Latour (2006) zufolge definiert sich der Aktant vor allem durch sein Handlungsvermögen bzw. die Möglichkeit, eine gewisse Gravität und Intensität während der Handlung zu haben. Die klassische wissenschaftssoziologische Erklärung legt den Akzent vor allem auf den gesellschaftlichen Kontext, wobei wissenschaftliche Tatsachen und technologische Erzeugnisse als Konstruktion „äußerer Kräfte“ angesehen werden, deren Ursprung in der Gesellschaft (sei es in der Ideologie, den materiellen Interessen oder den Macht- und Herrschaftsverhältnissen) liegt. ANT-Pioniere hingegen, die darauf bestehen, den eigentlichen Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung neu zu definieren, lehnen diesen Ansatz ab: „Providing a social explanation, thus, means that someone is able in the end to replace some object pertaining to nature by another one pertaining to society, which can be demonstrated to be its true substance“ (Latour 2000, 108). Andererseits versucht die Akteur-Netzwerk-Theorie als eigenständiger Bereich innerhalb der science and technology studies die Produktion sozialer Fakten und technologischer Produkte im Rahmen 27 Akteur-Netzwerk-Theorie sehr detaillierter Fallstudien durch einen Prozess zu erklären, der ihre Effizienz etabliert und ihre Verbreitung sozusagen befördert. Die frühen Untersuchungen wissenschaftlicher Laborpraktiken und technologischer Produkte zeigen, dass dieses Konzept, das die Natur in Gesellschaft aufgehen lässt, ebenso wenig haltbar ist wie das vorherige, das beide vollständig voneinander trennte (vgl. Callon 2006b). Aus diesem Grund befürworten die Vertreter der ANT einerseits das Prinzip der „generalisierten Symmetrie“ zwischen Natur und Gesellschaft und verlagern andererseits den Fokus von stabilen Analyseobjekten – wie Natur und Gesellschaft – auf Prozesse und Beziehungen, in denen sich Dinge als „natürlich“ und „sozial“ konstituieren. Eine der Grundhypothesen der ANT ist, dass die Gesellschaft nicht als permanenter und systemisch garantierter Rahmen, in dem Aktanten agieren, gesehen werden sollte, sondern als ein temporäres Ergebnis der in Echtzeit stattfindenden Handlungen von Aktanten. Darüber hinaus ist eine der Grundannahmen der ANT die Befürwortung der „radikalen Unbestimmtheit“ der Aktanten, d. h. die Opposition gegen strukturalistische Perspektiven, die im Akteur eine Art Abbild von quasi selbst handelnden und Veränderungen bewirkenden Makrostrukturen, historischen Kontexten, sozialen Klassen oder „sozialen Feldern“ sehen. Bei der Erklärung einer sich dauerhaft konstituierenden Gesellschaft lehnt die ANT daher – anders als andere konstruktivistische Ansätze – apriorische Annahmen über die Aktantennatur (vor allem die, dass es sich in erster Linie um Menschen handelt) ab und führt die Kapazitäten einer nicht-menschlichen in der Natur existenten oder dank der Wissenschaft und Technik hergestellten Akteursentitäten in die Analyse ein, die auf ihre eigene Weise am Handeln teilhaben und denen menschliche Akteure einen Teil ihres Reflexionsvermögens und ihres Verhaltens verdanken. Denn in der Sicht der ANT bedeutet „Handeln“ nicht unbedingt, etwas zu beabsichtigen und es zu befolgen, sondern unerwartete Unterschiede hervorzubringen. 279 Was die Begründer der ANT also verbindet, ist nicht nur eine Philosophie, in deren Zentrum die Wechselwirkung zwischen Technowissenschaften und sozialer Struktur steht, sondern auch ein Interesse am „Nicht-Menschen“, d. h die Behandlung des „Nicht-Menschlichen“ als gleichberechtigten „Akteuren“/„Aktanten“, also auch der technischen Geräte, Laborhilfsmittel, Organisationen, Veranstaltungen, Pflanzen, Tiere und anderer „lebender“ und „nicht lebender“ Einheiten oder „hybrider Objekte“. Kurz: es handelt sich um einen Ansatz, der die Natur und Gesellschaft verbindenden „Objekte zu sozialisieren“ beabsichtigt. Die ANT sieht den Akteur in einem Netzwerk menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten. Damit lässt sie die Spannungen zwischen Mikro- und Makroanalyse, Handlungsfähigkeit und Determinismus, Subjekt und Objekt usw. unbeachtet, umgeht also die konstitutiven und klassischen Gegensätze der Sozialwissenschaften. Anders als etwa das soziologische Projekt von Pierre Bourdieu kann die ANT jedoch nicht als ein theoretischer Versuch der Überwindung dieser Gegensätze interpretiert werden (Mladenović 2020), vielmehr relativiert sie diese, versucht aber auch, einen Interpretationsrahmen für ihr Verständnis und Werkzeuge für ihre Analyse anzubieten (Latour 1999). Latour besteht daher darauf, dass die Welt aus „unreinen“ und miteinander verflochtenen Einheiten besteht (Prodanović 2022), d. h. dass die moderne dualistische Logik der Welt, die sich aus Subjekten und Objekten zusammensetzt, eine intellektuelle Sackgasse ist. „Moderne Gesellschaften trennen die Natur von der Gesellschaft. In der heutigen Gesellschaft sind wir jedoch mit einer Vielzahl hybrider QuasiObjekte aus Natur und Gesellschaft konfrontiert, wie z. B. Netzwerke“ (Latour 1997, 74). Um das Scheitern einer vielversprechenden Innovation der 1970er-Jahre wie dem Elektroauto zu erklären, begann Michel Callon (vgl. 1979; 2006a) seine Erklärung mit einer Analyse, warum Autos mit Verbrennungsmotor so lange überleben. Was nämlich die systemische Nutzung von Autos 280 ermöglicht, ist ein ganzer sozio-technischer Komplex, in dem sich verschiedene interagierende und voneinander abhängige Elemente finden. Dies beginnt mit Autoherstellern und Ölgesellschaften, führt über Kolonialimperien, die ihrer Entstehung begünstigt und ihre Fortdauer mit Kriegen abgesichert haben, und endet mit metallurgischem Wissen und wissenschaftlichen Modellen, die die Verbesserung von Motoren ermöglicht haben. Schließlich erwähnt Callon auch die fachliche Spezialisierung auf die Autoproduktion, Tarifverträge, Umweltgesetze, Verkehrsinfrastruktur, Führerscheine, Tankstellen- und Werkstattnetze. Autos mit Verbrennungsmotor prosperieren deshalb, weil damit eine ganze sozio-technische Welt verbunden ist. Das Elektroauto konnte, wie wir weiter unten noch zeigen werden, nicht erfolgreich sein, weil es nicht in der Lage war, eine alternative sozio-technische Welt zu konstruieren. Um den Konstruktionsprozess einer solchen Welt zu beschreiben, verwendet Callon den Begriff des Akteur-Netzwerks. „Netzwerk“ bedeutet hier, dass das Elektroauto fortschreitend mit allen notwendigen Elementen für sein Überleben und seine Entwicklung verbunden werden müsste; „Akteur“ verweist darauf, dass eine solche Welt nicht vorfindlich existierte, sondern sie vielmehr erst vorgestellt und konstruiert werden musste. Diese Konstruktion konnte aber nur als Produkt eines Netzwerks stattfinden. „Das Konzept des Akteur-Netzwerk ist damit in den Sozialwissenschaften zu dem geworden, was Hybridmais in den Agrarwissenschaften war: eine Veränderung in der Kontinuität“ (Callon 2006a, 42). Auf diesem Weg wird Techno-Wissenschaft zu einem hybriden Netzwerk aller Aktanten. John Law (1992) schreibt, dass so wie ein einzelner Akteur das aus verschiedenen Elementen bestehende Netzwerk präsentiert, sich auch ein Netzwerk so vereinfachen lässt, dass es wie ein einzelner Akteur aussieht. Dabei ist „Netzwerk“ die Bezeichnung für das Konzept, nicht für die Sache. Mit anderen Worten: ein Werkzeug, das verwendet wird, um eine Sache zu beschreiben, nicht aber die beschriebene Sache selbst ist (Latour 2005). Jedoch gilt auch: „Netzwerke sind gleichzeitig real als Natur, erzählt als Diskurs und kollektiv als Gesellschaft“ (Latour 1997, 15). I. Mladenović und S. Prodanović Zur Besonderheit des ANT-Technologieansatzes Wie bereits hervorgehoben wurde, ist eine der wichtigen Eigenschaften der ANT die Inklusion aller lebenden und nicht-lebenden Elemente des Netzwerks, aber auch aller Relationen zwischen den aktuell gegebenen Elemente im Diskurs (Nitsch 2008; Moebius/Nungesser/Scherke 2019). Um dies zu betonen – und um weiter darauf hinzuweisen, dass es innerhalb der ANT unmöglich ist, irgendeine Netzwerkinstanz im ontologischen Sinne als zentral zu positionieren – definiert Latour den Aktanten als eine Entität, die ausschließlich durch ihre Relationalität existiert. In diesem Sinne wird Realität durch die Umgestaltung der Netzwerke selbst geschaffen und verändert (Cvejić/Ivković/Prodanović 2023), noch bevor sie mit einer bestimmten wissenschaftlichen Methode „entdeckt“ wird. Dies ist einer der Hauptgründe, warum Technologie wie auch Wissenschaft, nach Ansicht der ANT-Befürworter, keinen Prozess des progressiven und kumulativen Fortschritts in der Erkenntnis der „objektiv existierenden“ Realität darstellen kann, sondern einen Gesamtquotienten darstellt, der sich zwischen den Werkzeugen, verfügbaren Forschungsmitteln, Ideen, rivalisierenden Gruppen und Konzepten sowie dem institutionellen Hintergrund bildet, in dem die Forschung stattfindet. Daher ist auch das Verständnis der in der ANT entstehenden Technologie stark kontextabhängig. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass der Kontext selbst – aufgrund der gleichen ontologischen Stellung aller Aktanten – niemals durch die Aufstellung einer Unterscheidung zwischen seinen natürlichen und sozialen Aspekten vereinfacht werden kann. Mit anderen Worten: die Macht des Handelns, die von Autoren wie Latour, Callon oder Law befürwortet wird, ist notwendigerweise ganzheitlich, weil sie durch die „Koevolution“ sozialer Beziehungen, technologischer Artefakte und unseres Wissens über die natürliche Umwelt entsteht (Callon 1986, 20). Auf diese Weise löscht die ANT die privilegierte Stellung des Subjekts gegenüber den Dingen oder, in einem etwas höheren Abstraktionsgrad, des Menschen gegenüber der Natur. 27 Akteur-Netzwerk-Theorie Um diese Einsichten zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, sich noch einmal Callons Analyse des Elektroautos in den Blick zu nehmen. Wie angedeutet, versuchte der französische multinationale Elektrizitätskonzern Électricité de France (EDF) in den 1970er-Jahren nicht nur, das Konzept des Elektroautos, sondern auch einen ganzen sozialen Kontext zu entwickeln, der den Übergang zu einem neuen, postindustriellen Zeitalter einleiten sollte, in dem dieses öffentliche Verkehrsmittel funktionieren würde. In dieser neuen Welt sollte der Industriegigant Renault in gewisser Weise auf ein „Relikt der industriellen Vergangenheit“ reduziert werden, indem er nur noch für die Produktion von Elektroauto-Chassis verantwortlich wäre, da der Fortschritt in die von der Électricité de France vorgestellte postindustrielle Ära eine andere Motorenbautechnologie erfordert, über die Renault zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfügte. Callon folgt in seiner Analyse dieses Netzwerks konsequent Serres’ Einsicht in die Philosophie der Übersetzung, derzufolge es unmöglich ist, eine vollständige Äquivalenz zwischen den zu übersetzenden Wörtern herzustellen. Die Tatsache, dass Renault ein erfolgreiches Element der Netzwerke war, in deren Rahmen Autos mit Verbrennungsmotor gebaut wurden, bedeutet jedoch nicht, dass es von vornherein ein fruchtbares Mitglied des Netzwerks sein wird, das ein Elektroautomodell schaffen sollte. Wie Callon an einer Stelle hervorhebt: „Once an actor-world comes into being, it does not draw its entities from previously established stock. (…) In short, there is no world, or worlds, from which preexisting elements can be extracted. Nor is there a world which guarantees that the combinations created by the actor-world are realistic. Actors may construct a plurality of different and incommensurate worlds“ (Callon 1986, 24). Dieses Verständnis von Übersetzung impliziert ferner, dass Aktanten eine gewisse Art von Autonomie in Bezug auf die Menge von Aussagen besitzen, die seinen Status innerhalb dieses Netzwerks bestimmt. Dies ist eine typische Sichtweise innerhalb der sogenannten „Materialsemiotik“ (Law 2008), die für die 281 ANT von großer erkenntnistheoretischer Bedeutung ist und nach der es keinen dauerhaften Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem Signifikanten gibt, sondern nur kontextbedingte Verschiebungen, Umschaltungen, d. h. Sinnumformungen, die sich aufgrund materieller Spuren verfolgen lassen (Muniesa 2015, 82). Das Netzwerk, das die Électricité de France zu schaffen versuchte, veranschaulicht jedoch ein weiteres wichtiges Merkmal von ANT, nämlich dass jede Konfiguration eine prekäre Relation ist. In Callons klassischer Studie trugen Probleme mit dem Katalysator sowie die Befürchtung Renaults, aus technologisch anspruchsvolleren Prozessen wie der Entwicklung eines neuen Motortyps ausgeschlossen zu werden, schließlich dazu bei, dass das gesamte Netzwerk zusammenbrach (Callon 1986; Law 2008, 143). Andererseits beschreibt Latour (1993) bestimmte Bedingungen erfolgreicher Übersetzungen am Beispiel der Entdeckung des Pasteurisierungsprozesses. Seiner Meinung nach war die Einführung eines völlig neuen Wirkstoffs ein sehr wichtiges Moment – in diesem Fall Milzbrandbakterien in einem völlig neuen Laborrahmen (Muniesa 2015, 82) –, das es Louis Pasteur ermöglichte, die Nutztierkrankheit mit einem völlig neuem Vokabular zu beschreiben. Ebenso wichtig gewesen seien jedoch der Einfallsreichtum, die Ergebenheit und das Engagement der Unterstützer von Pasteurs Ideen bei dem Versuch, dieses neue Netzwerk zu erweitern und es gegen mögliche Einwände zu verteidigen. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass es sich bei dieser Überzeugungs- und Engagementfähigkeit eher um uns im politischen Leben begegnende Manöver und Strategien als um ein häufig idealisiertes Bild einer affektlosen wissenschaftlichen Debatte handelt. Die Folgen dieser beiden Faktoren spiegelten sich darin wider, dass sich Hunderte anderer Aktanten – vor allem Ärzte – Pasteurs Vision der Immunisierung anschließen konnten, sodass in dieser Hinsicht die Robustheit des Netzwerks die Funktionsweise der Human- und Tiermedizin und der Gesamtwirtschaft in der modernen Gesellschaft verändert hat. 282 Wie man sieht, ist eine der wichtigsten Implikationen von ANT die Notwendigkeit ihrer Heterogenität. Am Beispiel der Pasteurisierung können wir außerdem sehen, dass die Fähigkeit, möglichst unterschiedliche Aktanten unter der Schirmherrschaft des gleichen Netzwerks zu erhalten, die Grundlage ihres Erfolgs ausmacht. Heterogenität bedeutet auch, dass es unmöglich ist, eine scharfe Grenze zwischen wissenschaftlicher Arbeit und technologischer Umsetzung einer Lösung zu ziehen. Im Fall des Elektroautos ist die am deutlichsten zu sehen, da die Probleme beim Bau des Katalysators in gewisser Weise Renaults Bemühungen unterstützten, der vom EDF konstruierten Übersetzung zu widerstehen, die den Autogiganten gezwungen hätten, eine untergeordnete Rolle als Chassismonteur zu spielen – was in gewisser Weise zum Zusammenbruch des gesamten Netzwerks führte. Es ist wichtig, anzumerken, dass die Tatsache, dass dieses Beharren auf Beziehungen eine deutlich präsentistische Perspektive impliziert, die die ANT auf die Technologie hat. Die Reichweite und der Erfolg eines Netzwerks hängen mehr von der Konfiguration der Aktanten, ihrer spezifischen Interaktion und Übersetzung ab als von irgendeiner Vorgeschichte dieser Elemente. In dieser Hinsicht ist die ANT naturgemäß weitgehend historisch orientiert (sofern wir an der weit verbreiteten Ansicht festhalten, dass die Geschichte die Bedeutung vergangener menschlicher Handlungen rekonstruieren sollte). Dies hat zur Folge, dass die ANT die für einige konservative Technikinterpretationen charakteristische Falle der Technophobie umgeht, gleichzeitig aber den Progressivismus grundsätzlich ablehnt, auf dem Autoren beharren, die eher einer optimistischen Sicht der Technik nahestehen. Eine der wichtigsten Lehren von ANT besteht darin, einige inhärente Tendenzen der Technologie aufzugeben und sich auf die Konfiguration des Netzwerks selbst zu konzentrieren. Damit rücken sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte Folgen der Technologie in gleicher Weise in den Fokus (Kaplan 2009, 106). Die ANT steht damit sicherlich jenseits aller humanistischen Bestimmungen, die die menschliche Intentionalität als entscheidend für den Ablauf dieser Prozesse beschwören würden. I. Mladenović und S. Prodanović Statt einer Schlussfolgerung Obwohl die ANT als Disziplin die Differenzen zwischen Sozial- und Naturwissenschaften zu überwinden suchte, wird sie heute weitgehend als eine Richtung der Soziologie angesehen, vor allem weil sie einen neuen Einblick in die politischen Aspekte der durch die Materialsemiotik konstituierten Welten ermöglicht (Muniesa 2015, 83). Insofern stellt die Entdeckung des Aktanten sowie das daraus folgende „Parlament der Dinge“ durchaus einen heuristisch fruchtbaren Zugang zum gesellschaftlichen Wandel dar. Aus methodischer Sicht zeigt sich die wohl größte Kompetenz der ANT-Befürworter in der Fähigkeit, globale Prozesse und weitreichende Implikationen anhand einzelner Fallstudien zu sehen. Es scheint, dass diese Art von Methode noch nie zuvor zur Überprüfung so komplexer und abstrakter theoretischen Ansichten verwendet wurde, was einige Autoren dazu veranlasste, die ANT zu einer „empirischen Philosophie“ zu erklären (Farías/Blok/Andres, xxv). Es lohnt sich, abschließend noch auf einen der Standardeinwände gegen die ANT einzugehen, nämlich dass dieser Ansatz uns nicht viel über verschiedene Formen von Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit sagen kann. Obwohl innerhalb der ANT eine spezifische Art des methodologischen Relativismus deutlich erkennbar ist, der verlangt, dass der Theoretiker nicht die wirklichen, d. h. objektiven Eigenschaften seiner Subjektanalyse festlegt (Baron/ Gomez 2016, 4), bedeutet dies nicht, dass die ANT-Befürworter nichts über Machtverhältnisse zu sagen hätten. Macht kann innerhalb der ANT sicherlich nicht in ihrer klassischen Weber’schen Definition verstanden werden, nämlich als die Fähigkeit, einem anderen Akteur seinen Willen aufzuzwingen. Macht kann in der ANT kein Zentrum und keinen klar sichtbaren und verortbaren Träger haben, und da sie aufgehört hat, ein Privileg des Menschen zu sein, kommt es folglich auch zur ihrer Streuung. An einer Stelle sagt Latour explizit: „To remain at this very intuitive level, ANT is a simple material resistance argument. Strength does not come from concentration, purity and unity, but from dissemination, heterogeneity and the 27 Akteur-Netzwerk-Theorie careful plaiting of weak ties. This feeling that resistance, obduracy and sturdiness are more easily achieved through netting, lacing, weaving, twisting of ties that are weak by themselves, and that each tie, no matter how strong, is itself woven out of still weaker thread” (Latour 1996, 370). Insofern konzentriert sich die ANT – gemäß allgemeiner methodischer Festlegungen – auf die Erforschung der Macht, die aus den Assoziationen selbst (Latour 1984; Munro 2009, 127) hervorgeht, die als Folge der erfolgreichen Überwindung der inhärenten Prekarität der Übersetzung entstehen, einer Prekarität, die eine Art ontologische Tatsache der ANT darstellt. 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