Twardella, Johannes
Pädagogik des Salafismus? Pierre Vogel lehrt das Gebet
Pädagogische Korrespondenz (2016) 54, S. 91-105
Quellenangabe/ Reference:
Twardella, Johannes: Pädagogik des Salafismus? Pierre Vogel lehrt das Gebet - In: Pädagogische
Korrespondenz (2016) 54, S. 91-105 - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-166250 - DOI: 10.25656/01:16625
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-166250
https://doi.org/10.25656/01:16625
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INHALT
Pädagogische Korrespondenz ∙ Heft 54∙ Herbst 2016
5
ESSAY
Andreas Gruschka
Kann man noch von Bildungsprozessen sprechen, die in einem
Bildungserlebnis kulminieren?
14
AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Stephanie Günther
Wissen, worauf es ankommt
37
THEORIE UND KRITIK
Martin Harant
Der Inklusionsbegriff im Spannungsfeld pädagogischer ‚Mindsets‘
58
WANDEL VON SCHULE
Dimitrios Nicolaidis
Reformer ohne Grund. Über die Entmaterialisierung der
pädagogischen Deutungsmuster von Lehrern
77
REFORMKRITIK
Kristina Rüger
Über den Echoeffekt von Schülerfeedback
91
ERZIEHUNG NEU
Johannes Twardella
Pädagogik des Salafismus? Pierre Vogel lehrt das Gebet
106
NACHGELESEN
Heike Bottler
Die Prüfung der Pädagogik in Platons Gorgias. Ein fiktiver Dialog
116
DOKUMENTATION
Ein Blick ins Kompetenzgetriebe nach PISA
Pädagogik des Salafismus? ∙ 91
ERZIEHUNG NEU
Johannes Twardella
Pädagogik des Salafismus? Pierre Vogel lehrt das
Gebet
I
Einleitung
Er ist eine relativ neue, aber kaum zu überschätzende Herausforderung für die
Pädagogik: der Islam in seinen verschiedenen Spielarten, vor allem in seiner
radikalen Fassung. Herausgefordert ist die Pädagogik in all ihren Bereichen,
sowohl in der Praxis – in der Jugendarbeit, in der Schule, in der Erwachsenenbildung etc. – als auch in der wissenschaftlichen Reflexion über diese. Wie die
Praxis auf diese Herausforderung reagiert, wissen wir kaum – es gibt m.W.
kaum Forschungen, die Einblicke liefern. Und die wenigen, die es gibt, bestätigen die Befürchtung, dass die Pädagogik in der Praxis dieser Herausforderung (noch) nicht gewachsen ist (vgl. Twardella 2014). Darüber hinaus liegen
einige Erfahrungsberichte bzw. Reflexionen von Praktikern vor, die sich auf
Radikalisierungsprozesse bei muslimischen Jugendlichen spezialisiert haben
und Ratschläge geben, wie darauf reagiert werden kann (vgl. Edler 2015).
Besonders dringlich ist die Frage, wie die Pädagogik auf Radikalisierungsprozesse reagieren kann bzw. sollte, denn diese münden bei nicht wenigen Jugendlichen letztlich darin, dass sie sich zu einem salafistischen Islam bekennen. Viel diskutiert wird gegenwärtig sowohl in der Öffentlichkeit als auch in
der Wissenschaft, wie sich das erklären lässt, sprich: worin die Attraktivität
gerade des Salafismus für Jugendliche und junge Erwachsene besteht. Diese
nimmt stetig zu und ist insofern besorgniserregend, als sich in vielen Fällen
gezeigt hat, dass die Hinwendung zum Salafismus zu einer Selbstausgrenzung
aus der Mehrheitsgesellschaft, genauer gesagt, aus den sozialen Kontexten, in
denen Jugendliche bis dahin lebten - dem der Familie, der peer group, der
Schulklasse –, führen kann und bei einigen von ihnen sogar dazu, dass sie die
Aufforderung zum dschihad dergestalt interpretierten, dass sie in den „heiligen
Krieg“ nach Syrien ziehen.
Um angemessen auf den Salafismus reagieren zu können, ist es erforderlich, diesen erst einmal zu verstehen, d.h. als religiöses Deutungsmuster zu rekonstruieren, die Sozialform, in der er sich organisiert, zu untersuchen, dabei
den gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen, in dem der Salafismus entstanden ist, und auf Seiten derer, die sich ihm anschließen, deren biographische
Situation mit ihren je spezifischen Problemen zu verstehen, auf die er scheinbar eine Antwort zu geben vermag. In den folgenden Ausführungen soll der
Schwerpunkt auf der Frage liegen, welcher Strategien sich Salafisten bedienen,
um zu bewirken, dass diejenigen, die sich ihnen anzuschließen bereit sind, so
92 ∙ Pädagogische Korrespondenz ∙ 54/16
werden, wie sie sich „ideale Muslime“ vorstellen. Diese Frage soll exemplarisch mit Bezug auf ein Video beantwortet werden, in dem Pierre Vogel bei
dem Versuch zu sehen ist, das Beten, wie es im Islam vorgesehen ist, zu lehren.
Pierre Vogel ist einer der prominentesten Vertreter des salafistischen Islam in
Deutschland. Wie etliche andere auch bedient er sich zur Verbreitung seiner
Version des Islam des Internets: Zahlreiche Videos sind in diesem von ihm zu
sehen. Bekanntlich besitzt die Nutzung dieses Mediums im Leben junger Menschen heutzutage einen hohen Stellenwert und ist auch für Radikalisierungsprozesse von großer Bedeutung. Das Sujet des Videos ist vordergründig gesehen alles andere als radikal: Das Gebet gehört bekanntlich zu den „fünf Säulen
des Islam“, also zu jenen Pflichten, denen ein jeder Muslim dem Islam zufolge
- so wie ihn die Mehrheit heutzutage interpretiert - entsprechen sollte. Nicht
nur im Islam, sondern in zahlreichen Religionen ist das Gebet eine selbstverständliche Praxis (vgl. Heiler 1920). Der folgenden Analyse liegt die Annahme
zugrunde, dass es wichtig ist, die Vorgehensweise des Salafismus gerade in
Bezug auf eine Praxis zu untersuchen, die nicht offensichtlich radikal ist, sondern bei der es scheinbar nur um eine korrekte Ausübung des Islam geht.
Im Rahmen der Interpretation des Videos, die mit Hilfe der Methode der
Objektiven Hermeneutik durchgeführt wird (vgl. Oevermann 2000), soll folgenden Fragen nachgegangen werden: Als was tritt Vogel in dem Video auf?
Was kennzeichnet die Position, in die er sich hier begibt? Wie ist der Bezug
beschaffen, den er zu seinen Adressaten aufnimmt? Welches Ziel verfolgt Vogel und welche Mittel wendet er dabei an? Abschließend soll die Frage beantwortet werden, ob bzw. inwieweit es sich bei dem Video um Pädagogik handelt.
II
Der Salafismus und Pierre Vogel
Bevor auf das empirische Beispiel eingegangen und es analysiert wird, sollen
kurz einige Bemerkungen zum Salafismus, zu Pierre Vogel sowie zu dem Medium gemacht werden, dessen er sich bedient.
Über den Salafismus liegen inzwischen etliche Studien vor (vgl.
Said/Fouad (Hrsg.) 2014; Ceylan/Kiefer 2013). Sie alle stellen heraus, dass er
tief in der Geschichte des Islam verwurzelt ist: Manche Darstellungen sehen
seine Anfänge im Mittelalter (bei Ibn Taimiya), andere verweisen auf den
Wahhabismus des 19. Jahrhunderts in Saudi Arabien. In zahlreichen islamischen Ländern ist er mehr oder weniger ein selbstverständliches Phänomen, in
Deutschland hingegen ist er relativ neu und war bis vor kurzem weitgehend
unbekannt. Gedeutet werden kann er als ein Krisenphänomen, als eine Reaktion auf Zweifel, die unterschiedlichen Ursprungs sein können: hervorgerufen
auf geistiger Ebene durch einen Säkularisierungsschub oder auf politischer
durch eine Krise, in die das politische Gemeinwesen geraten ist.1 Die Lösung
1
Auf die Krise des Islam hat zuletzt Navid Kermani in seiner Rede in der Paulskirche hingewiesen, Kermani 2015.
Pädagogik des Salafismus? ∙ 93
der Krise wird stets – und insofern kann der Salafismus als eine Spielart des
Fundamentalismus begriffen werden – in der Rückkehr zu den Anfängen gesehen, genauer gesagt, zu der Lebensweise der Altvorderen, den ersten Generationen von Muslimen, die – so wird angenommen – den Islam noch unverfälscht praktizierten, so wie der Prophet selbst ihn gelebt hat und wie es im
Koran sowie den Überlieferungen aus dem Leben des Propheten, in den
hadithen nachgelesen werden kann. Verbunden ist diese fundamentalistische
Reaktion bekanntlich mit der Überzeugung, die Quellen nicht zu deuten, sondern wortwörtlich zu lesen, und der Delegitimierung aller anderen Deutungen.
Diese „Lösung“ verspricht eine neue Gewissheit im Glauben und ist mit verschiedenen sozialen Effekten verbunden. Das Verhältnis zur Mehrheit der
Muslime ändert sich insofern, als auf der einen Seite die Verbundenheit mit
ihnen durch einen gemeinsamen Opferstatus hervorgehoben wird – in der gegenwärtigen Krise seien alle Muslime Opfer der westlichen Welt. Auf der anderen Seite werden jedoch alle anderen Muslime abgewertet – ihr Islam sei
nicht der wahre. Zu der Mehrheitsgesellschaft, genauer gesagt, zu den Nichtmuslimen ändert sich ebenfalls das Verhältnis, insofern diese nicht nur als Ungläubige gesehen, sondern in gleicher Weise wie nicht-salafistische Muslime
abgewertet werden. Und aus der Konstruktion eines Opferstatus heraus wird
legitimiert, dass Verpflichtungen, die sich aus dem Reziprozitätsverhältnis ergeben, in dem Muslime zu Nichtmuslimen stehen, nicht nachgekommen werden müsse. Die doppelte Abgrenzung nach außen ist verbunden mit einem hohen Grad an Kohäsion im Innern. Die dadurch noch einmal gesteigerte Gewissheit im Glauben mündet bei nicht wenigen Salafisten in einen missionarischen Eifer bzw. in das Bestreben, die Welt den eigenen Vorstellungen nach
zu islamisieren.2
Einer Erzählung, in der Pierre Vogel darlegt, wie er zum Muslim bzw. zu
einem salafistischen Prediger geworden ist, lässt sich entnehmen, dass im Hintergrund dieser Entwicklung eine persönliche Krise stand.3 Ende der 70er Jahre
in der Nähe von Köln geboren, wird Vogel zunächst evangelisch getauft, besucht aber dann eine katholische Klosterschule. Dort habe man ihm das Christentum zu vermitteln versucht, was aber nicht gelungen sei – nicht weil er nicht
offen dafür gewesen sei, sondern weil er zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten im Christentum entdeckt habe. Da er aber seinen Verstand nicht
habe ausschalten können, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als zum Islam
zu konvertieren. Neben einer Glaubenskrise hat Vogel seiner Erzählung nach
auch eine Entscheidungskrise durchlebt: Als jemand, der deutscher Jugendmeister im Halbschwergewicht wurde und an einem Berliner Sportinternat sein
Abitur machte, hätte er eine Karriere als Boxer einschlagen können. Das aber
wollte er nicht und begann stattdessen ein Lehramtsstudium, das er jedoch
nach kurzer Zeit wieder abbrach. Die Konversion bot ihm nun die Möglichkeit
2
3
Auf dieser Vorstellung beruht auch die Mobilisierungsstrategie des dschihadistischen Salafismus: Aus dem – vermeintlichen - Opferstatus wird die Legitimation für einen gewaltförmigen Widerstand abgeleitet, vgl. Kepels 2016.
Vgl.: https://www.youtube.com/watch?v=_fUo_ZrgrEs (17.04.2016)
94 ∙ Pädagogische Korrespondenz ∙ 54/16
beide Krisen zu lösen, sowohl die Sinnkrise als auch die Entscheidungskrise:
Der Islam war nicht nur ein ihm rational erscheinendes Sinnangebot, sondern
eröffnete ihm auch die Möglichkeit sich in einer herausgehobenen Position zu
bewähren. Als Prediger kann er nun sein kompetitives Talent nutzen. Er setzt
sich seitdem mit anderen nicht mehr mit Fäusten, sondern mit Zitaten, Deutungen und Argumenten auseinander. Und er kann – ohne die Mühen eines Studiums auf sich nehmen zu müssen – etwas vermitteln, eben den Islam.4 Das
macht er inzwischen seit einigen Jahren – u.a. mit Hilfe eines Mediums, das
für diese Zwecke ideal zu sein scheint: dem Internet. Im Unterschied zu der
face-to-face-Kommunikation können mit seiner Hilfe durch einen einmaligen
kommunikativen Akt enorm viele Adressaten erreicht werden. Die Kehrseite
dieser an eine unbestimmte Menge gerichteten Kommunikation ist, dass mit
dieser keine Reziprozitätsverpflichtungen verbunden sind. Ebenso wie der
Sender sich im Internet kaum Gedanken über die Folgen seiner Botschaft beim
Empfänger machen muss, ergeben sich auch für den Empfänger aus der Rezeption keine Handlungsverpflichtungen. Sprachlich kommt dies in der Formulierung zum Ausdruck, dass etwas ins Internet „gestellt“ oder auf einer
Webseite „gepostet“ wird. Kurz: Das Internet ist ein kommunikativer Raum,
der durch das weitgehende Fehlen von Verbindlichkeiten gekennzeichnet ist.
III
Der Titel des Videos
Das ausgewählte Video5 trägt den Titel:
Lerne das Gebet mit Abu Hamza Pierre Vogel
Wer wird hier adressiert? Ein konkreter Adressat wird nicht genannt, vielmehr
richtet sich der Imperativ „lerne“ an alle: Jeder, der ihn liest, kann sich von
ihm angesprochen fühlen. Die einzige Voraussetzung, die der Empfänger erfüllen muss, besteht darin, dass er etwas nicht weiß bzw. dass er entweder gar
kein, ein nur unvollständiges oder womöglich falsches Wissen über den zu lernenden Gegenstand hat. Auffällig ist, dass es nicht heißt „Lernen Sie“, sondern
„Lerne (du)“. D.h. auf der einen Seite gibt es zwar keinen konkreten Adressaten, auf der anderen Seite wird aber dennoch eine Bekanntheit unterstellt, die
ein vertrauliches „du“ erlaubt.
Wer ist es, der spricht? Auch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Zwar kann davon ausgegangen werden, dass es letztlich Pierre Vogel ist, der
sich mit dem Video zu Wort meldet. Doch auffällig ist, dass die Aufforderung
so formuliert ist, als könne sie von jemand anderem stammen. Wer aber könnte
4
5
In einem Akt der Selbstcharismatisierung hat sich Vogel selbst zu einem islamischen Prediger ernannt – was möglich war, weil im Islam das Predigertum keinen eindeutigen Amtscharakter hat. Dafür sind die Voraussetzungen nicht gegeben: Es gibt im Islam keine Institution, die dieses Amt verleiht – wie im Christentum die Kirche – und entsprechend auch keine
formalisierten Zulassungsbedingungen, die durch ein Ausbildungswesen, welches Zertifikate
vergibt, geregelt werden.
https://www.youtube.com/watch?v=_rt6Hvmwi4g (17.04.2016)
Pädagogik des Salafismus? ∙ 95
das sein? Steckt youtube dahinter? Oder geht die Aufforderung auf eine bestimmte religiöse Instanz zurück? Ist es womöglich Gott selbst, der hier
spricht? Entscheidend ist erst einmal, dass hier eine Leerstelle identifizierbar
ist. Was das zu bedeuten hat, darauf ist später zurückzukommen.
Aufgefordert wird der Adressat des Imperativs dazu, etwas zu lernen. Lernen ist für den modernen Menschen freilich eine Selbstverständlichkeit. Wir
gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche vieles lernen müssen, ja, dass
auch im Erwachsenenalter das Lernen nicht aufhört, sondern weiter notwendig
ist und stattfindet. Wir betrachten Lernen als etwas, das in vielen Lebenslagen
normal, sinnvoll und womöglich notwendig ist. Mit der Zumutung des Lernens
sind wir so sehr vertraut, dass wir sie gar nicht mehr als eine solche empfinden.
Anders ist es mit anderen Imperativen, etwa mit demjenigen, zu glauben. Dass
diese Aufforderung nicht selten als Zumutung empfunden wird, kommt in der
dramatisierenden Formulierung vom „sacrificium intellectus“ zum Ausdruck.
Wer sie verwendet, behauptet implizit, dass, wer zum Glauben auffordert, von
dem Adressaten erwartet, dasjenige aufzugeben, was ihn als Menschen auszeichnet, seinen Verstand. Lernen hingegen wird in der Moderne nicht als Zumutung empfunden, sondern eher als eine Pflicht: Wenn es etwas zu lernen
gibt, so sollte derjenige, der etwas noch nicht weiß oder kann, sich dem nicht
entziehen, sondern die Mühen des Lernens auf sich nehmen.
Was der Adressat aufgefordert wird zu lernen, ist das Gebet. Dieses kann
bestimmt werden als Gespräch eines Gläubigen mit einer als transzendent gedachten Instanz. Es zu lernen, macht freilich nur dann Sinn, wenn überhaupt
an jene Instanz geglaubt wird. Dass dieser Glaube hier schlicht vorausgesetzt
wird, kann folgendermaßen gedeutet werden: Entweder heißt das, dass der
Kreis der Adressaten doch eingeschränkt ist und die Aufforderung, das Gebet
zu lernen, sich nur an Gläubige richtet. Oder die Adressaten werden im Modus
des „Als-ob“ angesprochen: Sie werden so adressiert, als ob sie bereits glauben
würden. Und indem sie so adressiert werden, wird implizit die Erwartung zum
Ausdruck gebracht, dass sie gläubig sein mögen.
Zu beachten ist, dass, wenn es um das Gebet geht, das Lernen nicht auf die
Vermittlung von Wissen reduziert ist, d.h. der Adressat erfährt etwas darüber,
wie im Islam gebetet wird, sondern auf ein Können zielt: Wer mit Hilfe des
Videos gelernt hat, der – so das Versprechen – kann schließlich auch beten.
Vorausgesetzt wird dabei, dass das Gespräch mit der als transzendent gedachten Instanz nicht spontan, sondern nur mit Hilfe eines Wissens darüber, wie
diese Instanz adressiert werden muss, und eines entsprechenden Könnens erfolgreich sein kann. Und es wird unterstellt, dass es nur eine Form gibt (das
Gebet), in der mit der transzendenten Instanz gesprochen werden kann.
In welcher Position erscheint nun Pierre Vogel? Er selbst ist es nicht, auf
den die Aufforderung zu lernen zurückgeht. Diese stammt vielmehr von einer
anonymen Instanz – und es liegt nahe, davon auszugehen, dass diese Vogel
eingesetzt hat. Er erscheint hier also nicht als jemand, der selbstständig, sondern als jemand, der im Auftrag eines anderen handelt. Hinzu kommt, dass es
nicht heißt „Lerne von“, sondern „Lerne mit Pierre Vogel“. Ausgeschlossen
96 ∙ Pädagogische Korrespondenz ∙ 54/16
werden kann die Lesart, auch Vogel müsse lernen, gemeinsam mit dem Adressaten. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass er bereits über jenes
Wissen und Können verfügt, das vermittelt werden soll. Insofern besteht eine
Asymmetrie zwischen ihm und dem Adressaten, der aufgefordert wird zu lernen. „Lerne mit“ kann also nur bedeuten „mit Hilfe von Pierre Vogel“ zu lernen. Vogel erscheint hier insofern als jemand, der auf der einen Seite durch
einen Auftrag sowie durch ein Wissen und Können herausgehoben ist, der aber
auf der anderen Seite schlicht einen Dienst erfüllt, eine Funktion ausübt.
IV
Der Auftritt Pierre Vogels
In dem Video ist Pierre Vogel zu sehen, wie er in die Kamera hinein spricht.
Auffällig ist seine äußere Erscheinung. Er trägt einen nicht sehr langen, gut
gepflegten Bart und seine Kleidung ist vollkommen weiß. Bart und Kleidung
verweisen auf das Bestreben, bereits mit dem Auftritt eine Distanz zum Lebens- und Kleidungsstil der Mehrheitsgesellschaft zu markieren und die Frage
der Zugehörigkeit zum Islam erst gar nicht aufkommen zu lassen – sie wird
demonstrativ zur Schau getragen. Im Hintergrund sind Ornamente zu sehen.
Sie gehören zu einer minbar, einer Kanzel, die neben der mihrab, der Gebetsnische zur Standardausstattung einer Moschee gehört. Vogel erscheint also ostentativ in einem islamischen Gotteshaus und zwar an dem Ort, an dem sich
üblicherweise der Vorbeter, der Imam, befindet. Es ist der Ort, auf den, wenn
die Gläubigen in der Moschee versammelt sind, alle Blicke ausgerichtet sind.
Die Moschee ist traditionell nicht nur ein Raum, in dem Gottesdienste
stattfinden. Dies geschieht bekanntlich jeden Freitag um die Mittagszeit. Dann
finden kollektive Gebete statt, angeleitet durch einen Vorbeter, und es wird
eine Predigt gehalten. Die Moschee ist darüber hinaus auch ein Raum für das
individuelle Gebet der Gläubigen sowie ein Ort, an dem sich Gläubige treffen,
Pädagogik des Salafismus? ∙ 97
leise miteinander sprechen und an dem religiöse Belehrung stattfindet, entweder spontan, weil der eine Gläubige mehr weiß als ein anderer, oder auch systematisch in dem Sinne, dass sich Schüler um einen Lehrer herum sammeln,
um von ihm unterrichtet zu werden, womöglich im Sinne eines Lehrganges, in
dessen Rahmen Schüler eingeführt werden in eine bestimmte Deutungstradition und mit dem Ziel, dass sie dereinst selbst zu einem Gelehrten, einem Prediger oder auch zu einem religiösen Lehrer werden.
Mit dem Betrachten des Videos wird nun der Zuschauer gewissermaßen
zu einem Besucher der Moschee, gerät in jene Situation, in der sich ein Gläubiger beim Gottesdienst bzw. beim gemeinsamen Gebet befindet - und nimmt
sich gegenüber Pierre Vogel wahr. Dieser befindet sich an demjenigen Ort der
Moschee, den üblicherweise der Imam innehat, und nimmt damit eine religiöse
Autorität für sich in Anspruch. Da er aber nicht dazu anhebt, einen Gottesdienst
durchzuführen, ist es letztlich nicht die Autorität des Imam, die er beansprucht.
Tritt er hier also als ein religiöser Lehrer auf?
Das Entscheidende sowohl für die Position des Predigers als auch für die
des Lehrers im Islam ist, dass sie sich beide „in den Fußstapfen des Propheten“
bewegen. Auf der einen Seite partizipieren sie an der Autorität des Propheten,
insofern sie wie dieser für sich in Anspruch nehmen, im Auftrag Gottes zu
handeln. Darin besteht die Legitimation für ihre herausgehobene Stellung: Wie
der Prophet von sich behauptet hat, nicht im Eigeninteresse zu handeln, sondern im Auftrag einer als transzendent gedachten Instanz, so wird auch die
herausgehobene Stellung des Geistlichen sowie des religiösen Lehrers im Islam durch dieses Dienstverhältnis rechtfertigt (vgl. Twardella 2016). In diese
Struktur begibt sich auch Vogel. Wie der Prophet behauptet, nicht selbst zu
sprechen, sondern nur Sprachrohr Gottes zu sein, wie Geistliche und religiöse
Lehrer im Islam sich im Auftrag dieser als transzendent vorgestellten Instanz
sehen, so tritt auch Vogel hier dem Adressanten gegenüber - eben im Auftrag
dessen, der die Leerstelle das Sprechaktes „Lerne das Gebet“ füllt. Bekanntlich
wird von Mohammed behauptet, der letzte der Propheten gewesen zu sein.
Deswegen ist auch der Unterschied zu markieren: Geistliche und religiöse Lehrer können im Islam zwar am prophetischen Charisma partizipieren, selbst aber
nicht prophetisch handeln, genauer gesagt, Gottes Wort verkünden. Der Verkündigungsprozess ist abgeschlossen – was aber weiterhin möglich und erforderlich ist, ist das Sprechen über das als göttlich gedachte Wort, was freilich
notwendig immer mit dessen Interpretation verbunden ist.
Die Inanspruchnahme religiöser Autorität weckt potentiell immer auch
Zweifel auf Seiten des Adressaten der Rede. Schon der Prophet Mohammed
selbst war mit Zweifeln konfrontiert und reagierte darauf - nicht argumentativ,
sondern performativ und beharrlich. Er entwickelte bestimmte „Methoden“,
um Zweifel stillzustellen (vgl. Peirce 1967), wozu auch die widersprüchliche
Struktur von Herausgehobenheit und Sich-in-den-Dienst-Stellen gehörte.
Diese Methoden sind zum Bestandteil der Tradition geworden und diejenigen,
98 ∙ Pädagogische Korrespondenz ∙ 54/16
die in der Geschichte des Islam „sich in die Fußstapfen des Propheten“ begaben, um am prophetischen Charisma zu partizipieren, konnten sich dieser Methoden bedienen. – So wie es auch Vogel hier tut.6
Zu diesen Methoden gehört auch das Arrangement des Auftritts, gehört
der Name – Vogel hat sich den Namen Abu Hamza gegeben, genauer gesagt,
er hat seinen Sohn Hamza genannt und sich sodann auf Arabisch als dessen
Vater bezeichnet –, gehört die Kleidung, die Kulisse und nicht zuletzt auch die
Verwendung der arabischen Sprache. Dass er sie beherrscht, lässt Vogel unmittelbar zu Beginn des Videos erkennen: Mit arabischen Worten – einem
Lobpreis Gottes - werden seine Ausführungen zum Gebet gerahmt.7
V
Das Gebet im Islam
Nachdem analysiert wurde, in welcher Position Pierre Vogel in dem Video erscheint, ist kurz darauf einzugehen, was der Gegenstand ist, den zu vermitteln
Vogel anhebt. Was ist ein Gebet und was ist das Gebet im Islam?8
Auf einer basalen Ebene lässt sich festhalten, dass das Gebet ein Gespräch
ist, eine Form von Kommunikation. Diese Form zeichnet aus, dass der Adressat, mit dem das Gespräch aufgenommen wird, nicht unmittelbar sinnlich präsent ist, vielmehr eine Instanz ist, die gedanklich konstruiert wurde. Der Sprecher hat es deswegen immer mit mindestens zwei grundlegenden Problemen
zu tun. Zum einen stellt sich potentiell immer die Frage, ob diese gedachte
Instanz tatsächlich existiert. Wenn zum anderen davon ausgegangen wird, dass
diese Instanz gegeben ist, hört sie dann auch, was der Sprecher sagt? In der
alltäglichen Kommunikation kann ein Sprecher sich diese Frage beantworten,
indem er wahrnimmt, ob und wie der Adressierte reagiert. Wenn der Adressat
aber eine Instanz ist, welche gedanklich konstruiert wurde, wie kann der Sprecher dann eine Antwort von diesem erhalten? Auf der einen Seite ließe sich
zwar sagen, dass alles als eine Antwort auf das Gebet interpretiert werden
kann. Die Instanz, an die das Gebet gerichtet ist, muss nicht (wie das menschliche Gegenüber) im Medium der Sprache antworten, vielmehr ist sie so konstruiert, dass sie sich für ihre Mitteilung auch anderer Medien bedienen kann.
Doch wie kann der Betende sich sicher sein, dass er erhört wurde und dasjenige, was er wahrnimmt, eine Antwort auf sein Gebet ist?
Das Gebet im Islam ist ein äußerst komplexes Ritual, das in verschiedenen
Varianten ausgeübt wird, als Pflichtgebet, als Bittgebet, als Freitagsgebet oder
Festtagsgebet. Vorgesehen ist, dass es unter bestimmten Bedingungen stattfindet: Der Betende soll „rein“ sein und hat sich entsprechend vor dem Gebet zu
6
7
8
Aus einer machttheoretischen Perspektive würde man diese Methoden als Strukturen bezeichnen, auf die im Diskurs rekurriert werden kann, um sich durchzusetzen, womöglich
auch gegen das bessere Argument; vgl. Abu Zaid 1996.
Damit diese aber nicht zum Hindernis für ein Verständnis werden, übersetzt er sie sofort:
Gelobt sei der allmächtige Gott Allah und Friede und Segen sei auf seinem Propheten Mohammed, sallahu wa sallam.
Die folgenden Gedanken über das Gebet sind wesentlich durch Tilman Allert angeregt.
Pädagogik des Salafismus? ∙ 99
waschen. Körperliche Blöße ist zu bedecken, gewisse Zeiten sind für das Gebet
einzuhalten. Das Gebet soll in Richtung Mekka gesprochen werden und es
wird für notwendig erachtet, dass der Betende sich mit einer bestimmten inneren Einstellung an Gott wendet. Bestandteil des Gebets sind sodann in der Regel die 1. Sure, die fatiha und vor allem bestimmte Gebetseinheiten, raka’a
genannt, in denen der Betende verschiedene Körperhaltungen einnimmt, die
des Stehens (qiyam), die der Niederbeugung (raka) und die der Niederwerfung
(sugud). Ein Gebet kann aus einer unterschiedlichen Anzahl solcher Gebetseinheiten bestehen (vgl. Kouhry 1981). Deuten lassen sich die verschiedenen
Facetten des Gebets, vor allem die verschiedenen Körperhaltungen – freilich
aus einer Außenperspektive –, indem sie funktional auf das oben genannte
Problem bezogen werden: Sie mildern die Unsicherheit ab, ob das Gebet tatsächlich erhört wird und Gott der im Gebet formulierten Bitte entspricht.
Bezogen auf das Video stehen nun folgende Fragen im Raum: Welche Aspekte des Gebets werden auf welche Art und Weise von Vogel vermittelt? Und
werden die einzelnen Facetten als etwas vorgestellt, das einen bestimmten Sinn
hat und sich begründen lässt, oder als etwas, das einfach hinzunehmen und
mechanisch zu befolgen ist?
VI
Die weitere Rahmung der Ausführungen zum Gebet
Vogel setzt seine Rede an die Zuschauer folgendermaßen fort:
Dies soll eine kleine Einleitung zum Gebet sein, damit man nur sieht, wie das
ungefähr genau aussieht, wenn man das Gebet lernen will, und was für Fehler
die Leute machen.
Es stellt sich die Frage, warum Vogel „Dies soll .., sein“ sagt und nicht: „Dies
ist …“? Mit letzterem würde er deutlich machen, dass für ihn als Sprecher außer Frage steht, was es ist, das er gerade zu machen gedenkt. Indem er aber die
Formulierung „Dies soll … sein“ verwendet, entsteht der Eindruck, als sei er
sich über die Identität des Folgenden nicht sicher. Auch stellt sich die Frage,
auf wen das Sollen zurückgeht: Ist Vogel selbst derjenige, der will, dass das
Folgende etwas Bestimmtes sein soll? Dann ist erst recht fraglich, warum er
sich dessen nicht gewiss ist. Oder es gibt jemand anderen, auf den das Sollen
zurückgeht. Dann wird verständlich, warum Vogel die besagte Formulierung
verwendet – und es reproduziert sich die oben rekonstruierte Struktur, dass
Vogel sein Handeln als im Auftrag einer übergeordneten Instanz, sprich: im
Auftrag Gottes stehend darstellt.
Im Folgenden möchte ich mich auf einige für die Deutung wesentliche
Aspekte beschränken. Der erste wichtige Punkt besteht m.E. darin, dass mit
der obigen Bemerkung der Gegenstand – also das Gebet – in besonderer Weise
konstituiert wird. Zunächst kann festgestellt werden, dass Vogel erneut davon
ausgeht, es gebe im Islam nur eine Art zu beten, gewissermaßen ein Standardgebet. Diese Annahme ist keineswegs abwegig. Entscheidend ist jedoch, dass
100 ∙ Pädagogische Korrespondenz ∙ 54/16
dieses Gebet sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Welche Interpretation bzw. welche praktische Realisation Vogel zu präsentieren gedenkt, wird
noch nicht deutlich, doch zeigt sich bereits, dass er diese dogmatisch als die
einzig richtige ansieht. Und er kündigt an, dass, wenn er diese präsentiere, sich
zeigen werde, dass und inwiefern alle anderen Interpretationen fehlerhaft
seien.
Mit den „Leuten“, von denen Vogel spricht, sind alle anderen Muslime
gemeint. Deren Art und Weise, das Gebet zu interpretieren und zu praktizieren,
wird nicht als eine ebenso legitime angesehen wie die eigene, sondern als fehlerhaft bezeichnet. Anders gesprochen: Die Pluralität möglicher praktischer
Deutungen des Gebets wird zwar gesehen, die nun vorzustellende Variante
wird jedoch als die einzig richtige, einzig wahre behauptet.
Der zweite wichtige Punkt besteht darin, wie Vogel seine Präsentation des
Gebets beschreibt. Zum einen erklärt Vogel, was er biete, solle nur „eine kleine
Einleitung zum Gebet“ sein. Dem entspricht die Ankündigung, dass der Zuschauer nur „ungefähr“ sehen werde, wie das Gebet durchzuführen sei. Damit
behauptet er, zu dem Eigentlichen nur hinzuführen und dass das Gebet wesentlich präziser dargestellt werden könne. D.h. er konzediert, dass seine Interpretation des Gebets durchaus kritisiert werden könnte. Gleichzeitig aber unterstellt er, dass diese Kritik sich nur auf den Grad der Genauigkeit seiner Präsentation beziehen könne. Der Absolutheitsanspruch, den er mit dieser Deutung
verbindet, wird also letztlich nicht zurückgenommen.9
Zum anderen behauptet Vogel, der Zuschauer werde „sehen“ können, wie
das Gebet „aussieht“. D.h. Vogel wird zeigen, wie man betet – und wer es
lernen will, dem wird versprochen, dass er einfach nur hinsehen müsse. Weder
wird eine intellektuelle Anstrengung verlangt, noch ist sich Vogel der Schwierigkeit bewusst, etwas Gesehenes in die eigene Körperhaltung zu überführen.
Irritierend ist schließlich, dass es nicht heißt, der Zuschauer werde sehen, wie
das Gebet praktiziert werden sollte, sondern man könne sehen, „wie das (…)
aussieht, wenn man das Gebet lernen will“. Zwei Lesarten sind hier möglich:
Entweder das „das“ bezieht sich allein auf das Gebet und der Einschub „wenn
man das Gebet lernen will“, wird als Konditionalsatz interpretiert. Wenn diese
Bedingung erfüllt ist, kann man sich Vogels Präsentation ansehen und wird
wahrnehmen, wie das Gebet aussieht. Oder das „das“ wird als auf den Nebensatz referierend interpretiert: Wer Vogels Präsentation sieht, wird wahrnehmen, wie das Gebet erlernt wird. Das würde der obigen Lesart des Titels entsprechen, dieser fordere dazu auf, mit Vogel das Gebet zu lernen in dem Sinne,
dass auch Vogel ein Lernender sei. Diese Lesart kann allerdings als unplausibel gelten und scheidet deswegen aus.
Im Folgenden zitiert Vogel die oberste Autorität, die es im Islam gibt, den
Koran und behauptet:
9
Das kommt auch in der Formulierung „ungefähr genau“ zum Ausdruck. Diese könnte als
semantischer Unsinn abgetan werden. Der obigen Interpretation zufolge drückt sich in ihr
jedoch genau der Widerspruch aus, eine Angreifbarkeit zuzugestehen und gleichzeitig am
absoluten Geltungsanspruch festzuhalten.
Pädagogik des Salafismus? ∙ 101
(…) Wir wollen heute, wir beten als Muslime so, wie der Prophet, sallalahu
wa sallam, Mohammed es den Menschen gezeigt hat. Wir beten nicht, wie unsere Opas gezeigt haben und unsere Omas, und wir beten so, wie der Prophet
gezeigt hat.
Mit dieser Formulierung nimmt Vogel für sich in Anspruch, für alle Muslime
zu sprechen. Es ist nicht seine individuelle Interpretation, die er hier bietet,
sondern die Art und Weise der Gemeinschaft der Muslime, zu der er gehört
und für die er zu sprechen sich legitimiert sieht.
Er behauptet aber auch, die eigene Interpretation sei mit derjenigen identisch, die der Prophet gezeigt hat. Er leitet den Geltungsanspruch für seine
Deutung unmittelbar von der Autorität des Propheten ab – und delegitimiert
damit gleichzeitig alle anderen Deutungen. Diese werden – pejorativ – „Omas
und Opas“ zugeschrieben. Wer konkret damit gemeint ist, bleibt offen, so dass
die Adressaten an unterschiedliche Personen denken können: an den Imam in
der Moschee, an die Eltern, ja, überhaupt an erwachsene alte Leute. Diesen
wird abgesprochen, so zu beten, wie es der Prophet gelehrt hat. D.h. aber, letztlich wird die gesamte Tradition delegitimiert und nur das als verbindlich behauptet, was unmittelbar auf den Propheten zurückgeführt werden kann.
Auffällig ist der Stil, in dem Vogel spricht. Nicht nur die Formulierung
von den „Omas und Opas“, sondern auch das zweimal weggelassene „es“ kann
als Anlehnung an die Sprache von Jugendlichen, speziell von solchen mit Migrationshintergrund interpretiert werden. Offensichtlich versucht Vogel, gerade
diese für sich und seine Interpretation des Gebets zu gewinnen.
Und dies wird uns überliefert in den authentischen Traditionen des Propheten.
Deswegen wollen wir nur einmal ganz kurz erläutern, wie das ungefähr aussieht.
Vogel verweist auf seine Quellen. Er beziehe sich auf bestimmte hadithe.
Diese werden als „authentisch“ bezeichnet, was bedeutet, dass ihre Gültigkeit,
ihre Verbindlichkeit außer Frage stehe, da sie durch eine Kette von Überlieferern beglaubigt seien (vgl. Twardella 2012).
Einzugehen ist schließlich noch auf das „wir“. Ließ es sich soeben interpretieren als Ausdruck des Anspruchs für die Gemeinschaft der Muslime zu
sprechen, bezieht es sich hier allein auf Vogel, ist also als pluralis majestatis
zu interpretieren. Zudem zeigt sich erneut der Widerspruch von absoluter Verbindlichkeit auf der einen Seite und der Behauptung einer Einfachheit auf der
anderen, die auch als Ausdruck einer gewollten Lässigkeit gesehen werden
kann. Er wolle, so behauptet Vogel, die Sache nur „kurz“ erläutern, nur zeigen,
wie das Gebet „ungefähr“ aussieht.
VII
Zur Gebetsrichtung
Im Folgenden kommt Vogel auf die Gebetsrichtung zu sprechen. Wenn man
mit dem Gebet beginnen wolle, müsse man sich erst einmal mit dem Körper in
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die richtige Position begeben, damit man sein Gebet in Richtung Mekka spreche, genauer gesagt, in die Richtung, in der die ka’ba liegt.
(…) Wie beten nicht dorthin, weil wir die ka’ba anbeten, sondern wir beten
den allmächtigen Gott an und der allmächtige Gott hat uns befohlen, Richtung
kibla zu beten.
Zunächst geht Vogel auf ein mögliches Missverständnis ein. Dieses könnte
sich einstellen, wenn jemand danach fragt, warum diese Gebetsrichtung eingenommen werden soll. D.h., es geht um die Frage der Begründung. Nachdem
zunächst die Norm genannt wurde, eben die Einnahme der Gebetsrichtung, liefert Vogel jetzt eine Begründung dafür. Tatsächlich wirft die Gebetsrichtung
Fragen auf: Selbstverständlich ist nicht die ka’ba, sondern Gott anzubeten.
Doch ist es mit der Vorstellung von der Allmacht Gottes kompatibel, wenn mit
der Einnahme der Gebetsrichtung unterstellt wird, Gott sei nur in der ka’ba
bzw. dort in besonderer Weise anwesend? Ist er dann an anderen Orten weniger
präsent? Diese diffizile theologische Fragestellung meidet Vogel jedoch, stattdessen konstruiert er ein Missverständnis, das allenfalls ein vollkommen Unwissender haben könnte, also die Vorstellung, Muslime würden die ka’ba anbeten. Und schließlich begründet er die Norm schlicht mit dem Befehl des „allmächtigen Gottes“. Einen sachlichen Grund gibt es also eigentlich gar nicht,
die Gebetsrichtung ist schlicht aus Gehorsam gegenüber der göttlichen Autorität einzunehmen.
Deswegen erfüllen wir diesen Befehl.
Es wird nicht berücksichtigt, dass dem Adressaten die Vorstellung, sich beim
Gebet nach Mekka ausrichten zu müssen, fremd sein, dass es für ihn ein Problem sein könnte, diese Norm zu verstehen. Ja, es ist keine Spur des Bewusstseins davon erkennbar, dass die Gebetsrichtung etwas ist, das verstanden werden könnte. Vielmehr tritt an die Stelle einer möglichen Begründung allein der
Bezug auf den göttlichen Befehl. Und Befehl ist nun einmal Befehl. Ja, die
Natur des Befehls sei eben, dass man ihn erfüllen müsse. Und weil das so ist,
machen „wir“ das eben so.
Und wenn mit „wir“ auch hier alle Muslime gemeint sind, heißt das: Wir,
die Muslime, machen das so, denn gerade das kennzeichnet uns, dass wir wissen, was ein Befehl ist und nicht nach einem Warum fragen, sondern ihn einfach erfüllen. Aber umgekehrt bedeutet dies, dass, wer den Befehl nicht erfüllt,
auch nicht dazugehört.10
Vogel setzt die Beschreibung des Rituals fort, indem er angibt, wie man
den Körper ausrichten soll – eben in Richtung Mekka –, wie man die Arme
halten soll, wohin die Hände gelegt werden und wie diese liegen sollen, was
10
Der Literatur zufolge ist diese Figur typisch für den Salafismus: Entscheidend ist für diesen
allein der Glaube an den einen Gott (tauhid). Wenn dieser vorhanden ist, versteht sich alles
andere wie von selbst, weil alles andere seinem Willen entspringt. Fragen gibt es dann nicht
mehr, Zweifel gibt es nicht mehr, zu interpretieren gibt es auch nichts mehr. Befehl ist Befehl,
ihm muss schlicht Gehorsam geleistet werden; vgl. Khorchide 2015.
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mit den Fingern ist, wie diese zu halten sind usw. usf. Eine gewisse Flexibilität
wird angedeutet, indem auf verschiedene Rechtsschulen verwiesen und zwischen Pflicht und „Kür“ unterschieden wird. Nur auf ersteres wolle Vogel sich
beschränken, gibt er an. Dies legitimiert er mit der Metapher der „Säulen“. Es
gebe zahlreiche Details, wie etwas gemacht werden könne. Er aber beschränke
sich auf dasjenige am Gebet, was „unerlässlich“ sei. Würden diese tragenden
Elemente nicht beachtet, gehe das Gebet „kaputt“.
Was deutlich wird: Vogel präsentiert eine einfache und eindeutige Interpretation des Gebets. Diese wird nicht weiter begründet. Die Vereinfachung
wird allenfalls legitimiert mit der Metapher der „Säulen“. Zugrunde liegt die
Vorstellung von einem Grundgerüst, mit dem das Gebet als Praxis letztlich
verdinglicht wird. Und damit vervollständigt sich das Bild. Der Präsentation
des Gebets liegt die Vorstellung von dem Adressaten als jemandem zugrunde,
der zwar frei ist, aber der das Gebet weder verstehen kann, noch will. Und er
muss es auch nicht, weil das Gebet so zu beten, wie Vogel es darstellt, schlicht
ein Befehl ist, der befolgt werden muss. Implizit wird das Gebet vorgestellt als
etwas Dingliches bzw. als ein Programm, bestehend aus einer Folge von
sprachlichen und körperlichen Handlungen, die gelernt werden müssen. Und
der Adressat des Gebets? Die als transzendent vorgestellte Instanz wird gedacht als jemand, der nur reagiert, wenn das Handlungsprogramm, das Ritual
eben so durchgeführt wird, wie Vogel es zeigt.
VIII
Fazit
Schon der Titel des Videos ließ erkennen, dass mit ihm ein gewisser didaktischer Anspruch verbunden ist. Nachdem einige wichtige Elemente des Videos
detailliert interpretiert wurden, soll abschließend die Frage beantwortet werden, ob das Video als eine pädagogische Praxis interpretiert werden kann. Dafür spricht zunächst nicht nur, dass es mit der Aufforderung zu lernen beginnt,
sondern auch, dass Vogel in einer Position erscheint, die einige Merkmale mit
der des Lehrers teilt. Er befindet sich in einem asymmetrischen Verhältnis zu
dem (impliziten) Adressaten, kann und weiß etwas, worüber dieser nicht verfügt. Indem der Adressat in der 2. Person Singular angesprochen wird, wird
zudem unterstellt, dass bereits eine Bekanntschaft bzw. Vertrautheit zwischen
Vogel und diesem besteht. Und zudem hat letzterer die Wahl, ob er sich belehren lassen möchte oder nicht.
Auch wenn das Verhältnis zwischen Vogel und dem Adressaten tatsächlich einige Gemeinsamkeiten mit einem pädagogischen Verhältnis hat, so ist
es doch mit diesem nicht gleichzusetzen, da es nicht Bestandteil einer pädagogischen Praxis ist. Diese setzt voraus, dass jemand Verantwortung für einen
anderen übernimmt und dass eine Interaktion begonnen wird, deren Ausgang
ungewiss ist und die auch scheitern kann. Das ist hier aber schon aufgrund
dessen nicht der Fall, dass es sich um ein Video handelt, das unverbindlich von
Vogel ins Netz gestellt wurde.
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Aber auch in anderer Hinsicht ist fraglich, ob hier von Pädagogik gesprochen werden kann: Von Erziehung könnte bei dem Video insofern gesprochen
werden, als Vogel als Vorbild auftritt, als ein gläubiger Muslim, der seiner religiösen Pflicht zu beten nachkommt, der sich in den Dienst der Religion stellt
und im Auftrag Gottes sein Wissen und Können an andere weitergibt. Und er
erscheint auch insofern als vorbildlich, als er den Gehorsam, welcher verlangt
wird, selbst leistet. Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass Erziehung
letztlich immer darauf zielen sollte, dass Heranwachsende mündig werden und
ihr Leben eigenständig und in Verantwortung für die Gesellschaft führen, dann
ist es fraglich, ob hier von Erziehung gesprochen werden kann, denn letztlich
wird von dem Adressaten des Videos erwartet, dass er gehorsam ist und sich
unterwirft. Ja, erwartet wird nicht nur ein einmaliger Akt des Gehorsams, sondern ein immer wiederkehrender, ein auf Dauer gestellter sowie einer, der sich
auf das Denken und Handeln, den Geist sowie den Körper des Adressaten bezieht. Letztlich wird also erwartet, dass dieser sich bis in die letzte Fingerspitze
hinein unterwirft.11
Gegenstand der Belehrung ist ein zentrales Element der religiösen Praxis
des Islam, eine der „Fünf Säulen“, das Gebet. Kann davon gesprochen werden,
dass der Präsentation des Gebets eine bestimmte Didaktik zugrunde liegt? Herausgearbeitet wurde, dass jene Variante des Gebets, welche gelehrt wird, auf
der einen Seite zwar eine spezifische Interpretation des Gebets darstellt, auf
der anderen Seite jedoch so präsentiert wird, als sei sie die einzig wahre und
richtige. Jede Möglichkeit des Zweifels oder von Ambiguität wird dadurch
ausgeschlossen, dass diese Variante unmittelbar auf den Propheten zurückgeführt wird. Durch dessen Autorität wird sie legitimiert – und gleichzeitig werden alle anderen Varianten, welche dem Adressaten von anderen Autoritäten
vermittelt worden sein könnten, delegitimiert. Von einer Didaktik Vogels
könnte insofern gesprochen werden, als zum einen behauptet wird, das Gebet
werde nur in einer vereinfachten, reduzierten Form präsentiert, zum anderen
insofern, als es im Modus des Zeigens präsentiert wird (ergänzt durch knappe
Kommentare). Wenn unter Didaktik allerdings das Bemühen um eine Vermittlung von Subjekt und Objekt, von Adressat und der Sache, also dem Gebet
verstanden wird, die letztlich auf eine „wechselseitige Erschließung“ (Klafki)
zielt, so muss ein Fehlen jeglicher Didaktik konstatiert werden. Das Gebet wird
als eine Folge von Einzelhandlungen präsentiert, eine Vermittlung z.B. in
Form von Begründungen findet nicht statt. Das Gebet wird vielmehr vorgeführt wie eine Anleitung zum Fahrradflicken oder zum Häkeln von Topflappen
– mit der einzigen Begründung, dass „man“ das eben so und nicht anders mache.
Derjenige, welcher das Video ansieht, kann, wenn er vorher mit dem islamischen Gebet nicht vertraut war, durchaus über dieses etwas lernen, kann ein
11
Kaschiert wird diese Erwartung jedoch dadurch, dass Vogel äußerst locker und lässig auftritt,
ja, den Eindruck von Permissivität vermittelt. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass
Vogel sich in einer schnodderigen, z.T. an die Jugendsprache angelehnten Art an den Adressaten wendet.
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Wissen über die Regeln des Rituals erlangen.12 Davon aber, dass Bildung hier
möglich wäre, kann allenfalls in dem Sinne gesprochen werden, dass, wenn
ein Rezipient tatsächlich mit Hilfe des Videos das Gebet lernen und sich die
salafistische Lesart des Islam zu eigen machen sollte, sich sein Verhältnis zur
Welt grundsätzlich ändert. Dann wird sein gesamtes Denken und Handeln
durch das System des Salafismus strukturiert. – Von Pädagogik kann also letztlich nicht die Rede sein.
Literatur
Abu Zaid, Nasr Hamid (1996): Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses. Frankfurt/Main.
Ceylan, Rauf/Kiefer, Michael (2013): Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention. Wiesbaden.
Edler, Kurt (2015): Islamismus als pädagogische Herausforderung, Stuttgart.
Heiler, Friedrich (1920): Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München.
Kepels, Gilles (2016): Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa. München.
Kermani, Navid (2015): Jaques Mourad und die Liebe in Syrien. In: Blätter für deutsche und
internationale Politik, Heft 11, S. 35-48.
Khoury, Adel-Theodor (1981): Gebete des Islam. Mainz.
Khorchide, Mouhanad (2015): Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg/Br.
Oevermann, Ulrich (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung
sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In: Kraimer, Klaus: Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt/Main,
S. 58-156.
Peirce, Charles S. (1967): Die Festlegung einer Überzeugung. In: Ders.: Schriften I. Zur
Entstehung des Pragmatismus. Frankfurt/Main, S. 293-325.
Twardella, Johannes (2012): Zur Soziologie der Hadithe. Eine exemplarische Analyse des
„Hadith mit Gabriel". In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung,
Heft 2, S. 199-214.
Twardella, Johannes (2014): Pädagogischer Takt und kulturelle Heterogenität. Eine Fallstudie. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 49, S. 24-42.
Twardella, Johannes (2016): Der Lehrer als Erbe der prophetischen Mission. Rekonstruktion
eines Textes von Fethullah Gülen. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Heft 1, S. 69-93.
Said, Behnam T./Fouad, Hazim (Hrsg.) (2014): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren
Islam. Freiburg/Br.
12
Dass die Regeln auch verstanden werden könnten, dass sie einen Sinn, eine Funktion haben
könnten, diese Möglichkeit wird durchgehend implizit negiert.