Academia.eduAcademia.edu

Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique

2020, Kindlers Literatur Lexikon (KLL)

Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique Hanjo Berressem und Frank Estelmann Sprache französisch Übersetzung Die Revolution der poetischen Sprache (1978) Übersetzer/in R. Werner Hauptgattung Sachliteratur Untergattung Philologie Die 1974 erschienene literaturtheoretische Habilitationsschrift der Autorin will unter Rückgriff auf die Interpretation der ▶ Freud'schen Psychoanalyse durch ▶ Lacan eine Reihe von Autoren des späten 19. Jh.s – vor allem ▶ Mallarmé und ▶ Lautréamont – neu deuten, indem sie die Begriffe poetische Sprache und Revolution mittels der Idee des literarischen Textes miteinander verknüpft. Von Lacan übernimmt sie den radikal versprachlichten Subjektbegriff und, parallel dazu, die Versprachlichung des Unbewussten sowie die Einteilung des menschlichen (psychischen) Raumes in die Bereiche des Realen (das Objekt), Ursprünglich veröffentlicht unter © J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH H. Berressem (*) · F. Estelmann (*) des Imaginären (das Visuelle) und des Symbolischen (die Sprache). Zugleich beinhaltet ihre psychoanalytische Reinterpetation eine Dekonstruktion der Theorie Lacans, von deren „phallokratischen Strukturen“ sie sich distanziert. Ging es Lacan hauptsächlich um die Verarbeitungen der Triebe und Triebenergien durch und im symbolischen, phallokratischen System der Sprache, so geht es Kristeva um die Auswirkungen dieser Triebe im symbolischen System. Sie unterscheidet dabei zwischen dem vorsprachlichen Bereich in der kindlichen Entwicklung, dem sie die Freud'schen Primärvorgänge (die im Unbewussten stattfindenden Prozesse) und die sie besetzenden Triebenergien zuordnet und den sie den „semiotischen“ Bereich nennt, und dem sprachlich strukturierten „symbolischen“ Bereich. Der semiotische Bereich liegt also vor der vollständigen Ausbildung des psychischen Apparats. Den Übergang vom (theoretisch gesetzten) semiotischen zum sprachlich-symbolischen Bereich nennt Kristeva in Anlehnung an ▶ Husserls Begriff der „thesis“ die „thetische Phase“: „Jedes Aussagen [...] ist thetisch, denn es setzt Identifizierung voraus, das heißt einerseits die Scheidung des Subjekts von und in seiner imago wie auch von und in seinen Objekten, andererseits deren Setzung in einem von nun an symbolischen Feld, das beide auf diese Weise geschiedenen Positionen wieder einbindet, aufnimmt und in einer Kombinatorik aus jetzt offenen Positionen neu verteilt.“ Wenn in der Entwicklung des Kindes dieser Übergang vom semiotischen zum symboli- © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur Lexikon (KLL), https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_4106-1 1 2 schen Bereich vollzogen ist, erhält die Gesamtheit der Triebbewegungen, die „semiotische chora“, „eine genauere Stellung“. Das Semiotische, das im Hinblick auf die Ausbildung des Symbolischen dessen Bedingung war, funktioniere im sprachlichen Bereich als „Übertretung des Symbolischen“. Die Beschreibung dieses Funktionierens und Erscheinens im Symbolisch-Sprachlichen, insbesondere in der Poesie, ist das Ziel der Untersuchung. Sie will die unaufhörlichen Operationen der Triebe in und durch Sprache sichtbar machen und die repressiv starren Sprach- und Subjektformationen auflösen. Den von Lacan entlehnten Begriff des Symbolischen unterzieht sie einer Kritik, die sich hauptsächlich gegen die Überbetonung der Bestimmung des Subjekts durch das phallokratische Symbolische, die Kastrationsdrohung und seine (repressiven) Strukturen richtet. So findet das Subjekt seine Identität im Symbolischen, trennt sich von der Einheit mit der Mutter und transferiert semiotische Motilität auf die symbolische Ordnung. Kristevas Verschiebung führt auch zu einer Neudefinition des Begehrens. Für die Autorin geht der Eintritt in das Symbolische einher mit einer Fixierung auf eine nicht mehr „polymorph perverse“, sondern innerhalb eines spezifisch phallischen Geschlechterverhältnisses definierte Sexualität. Ihre Betonung des Semiotischen richtet sich daher gegen die Idee eines in festen Strukturen definierten Subjekts, also gegen das transzendentale Ego E. Husserls, das Cogito R. ▶ Descartes' sowie das phallische Subjekt Lacans. Das nun postulierte „Subjekt in Bewegung“ sei besonders in der poetischen Sprache (dem Genotext) erkennbar, in der die Unbeweglichkeit, die – wiederum repressive linguistisch/logische – Linearität und Idealität der kommunikativen Sprache (des Phänotextes) durchstoßen werde. Aufgrund der Komplizenschaft des Semiotischen und des Symbolischen leugnet die poetische Sprache das Thetische nicht vollständig ab. Sie geht vielmehr durch seine Strukturen hindurch, derer sie sich bemächtigt, um es als thetisch H. Berressem und F. Estelmann zu enthüllen. Innerhalb dieser Dynamik entwickelt Kristeva eine Neudefinition des Begriffs Intertextualität, der bei ihr die konstante Bewegung der Zerstörung und des Wiederaufbaus von Bedeutung durch den Wechsel des Diskurses/Mediums bezeichnet. Die Art und Weise der Verweigerung der Sprache gegen ihre eigenen Grundstrukturen ist einerseits „Negativität“, also eine bloße Verneinung, aber stärker noch eine bewusste „Verwerfung“, eine Zerstörung der logischen Einheit und eine libidinös geregelte Neuorganisation und Markierung des Sprachmaterials mit dem Verdrängten. Diese Verwerfung repressiver Sprachstrukturen schließt den Kreis zum revolutionären Anspruch des semiotischen Subjekts. Da die herrschende Kultur und ihre Gesetzmäßigkeiten gegen diese Verwerfung gerichtet sind, erzeugt der Prozess der Produktion „semiotischer Texte“ nach Kristeva einen revolutionären Diskurs. Literatur wird so zum Feld einer revolutionären Praxis, die sich sowohl gegen phallokratische als auch gegen kapitalistische Strukturen richtet. Kristeva denkt jedoch nicht an eine vollständige Anarchie, da die komplette Auflösung symbolischer Strukturen durch die „Komposition“ des semiotischen Textes verhindert werde. Der semiotische Text sei insofern nicht „verrückt“, sondern repräsentiere eine „sozialisierte Verrücktheit“. Ob Kristevas Textbegriff tatsächlich eine für konkrete soziale Probleme relevante Wirkung hat, wird zwar von einigen Kritikern bezweifelt; einflussreich war das Werk aber dennoch, insbesondere im Bereich feministischer Theoriebildung. Bibliographie Literatur S. Bayerl: Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, K. und Barthes, 2002.