DAGST
Deutsche Akademie für ganzheitliche Schmerztherapie
Zukunftsperspektiven auf Sterben, Tod
und Trauer
Wie beeinflusst die Digitalisierung unsere Erinnerungskultur?
Claude-Hélène Mayer, Elisabeth Vanderheiden, Lolo Jacques Mayer
S
tudien zu Sterben, Tod und Trauer
haben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen [1, 2, 3]. Dabei werden soziokulturelle, ökonomische und politische Faktoren berück-
sichtigt und in Verbindung mit der
Digitalisierung thematisiert [4, 5]. Digitalisierung wird in diesem Zusammenhang verstanden als ein „breitenwirksames, facettenreiches […] Bündel ver-
schiedener partikularer wie übergreifender Prozesse und Phänomene“ [6].
Die Digitalisierung wirkt sich auf den
„Sozialraum als wesentlichen Ort sozialen Handelns“ aus sowie auf das generelle Verständnis von sozialen Interaktionen [7]. Jörissen et al. nehmen an, dass
Digitalisierungsprozesse auch kulturelle
Prozesse sind, welche die Thematisierung von Sterben, Tod und Trauer in sozialen Netzwerken fördern und zu neuen Bedeutsamkeitskonstruktionen beitragen [2, 8, 9]. Online-Praktiken und
digitale Kulturen gewinnen dabei an Relevanz und verändern ihre Dynamik [10].
© Gabriele Rohde / stock.adobe.com
Virtuelle Friedhöfe, gestreamte Beerdigungen, Hologramme der
Verstorbenen – die Digitalisierung beschäftigt uns nicht nur im Leben,
sondern begleitet mittlerweile viele Menschen bis in den Tod. Welche
virtuellen Tools zum Umgang mit Trauer und Tod schon heute Realität
sind – und wie unsere Gedächtnis- und Erinnerungskultur in wenigen
Jahrzehnten aussehen könnte.
Während Hinterbliebenen bisher nur Fotos
bleiben, sollen Verstorbene schon bald in der
virtuellen Welt fortbestehen.
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Online-Praktiken zu Sterben, Tod
und Trauer
Der Tod als soziokulturelles Konstrukt
ist von philosophischen Diskursen geprägt, die zunehmend virtuell und online diskutiert werden [11, 12]. Menschen unterschiedlicher Kulturen, Generationen, Sprachen und Genderkonstrukte gestalten virtuelle Friedhöfe oder
virtuelle Ergänzungen auf Friedhöfen.
Beispiele sind QR-Codes auf Grabsteinen, live gestreamte und hybrid stattfindende Beerdigungen sowie digitale Rituale zu Sterben, Tod und Trauer [2, 13,
14, 15]. Zudem gibt es rund um die Uhr
virtuelle Hilfsangebote zu Sterbe- und
Trauerprozessen oder Online-SupportGruppen [16]. Allerdings bleiben diese
Trends den virtuell privilegierten Menschen vorbehalten, was zu Ungleichheiten in der virtuellen Welt führt [17].
Auch werden die virtuellen Friedhöfe,
die seit den 1990er Jahren existieren, stetig interaktiver und partizipatorischer,
indem beispielsweise digitale Kondolenzkarten, Erzählungen und persönliche digitale Erinnerungen hochgeladen
werden [18, 19, 20]. Entsprechend werden digitale Gedenkstätten und weiterer
digitaler Nachlass neu organisiert und
gepflegt [21]. So entstehen neue Räume,
die es Lebenden ermöglichen, mit den
Toten zu interagieren, was technologisiert mediiert werden kann [22]. Dadurch bildet sich eine neue, dynamische,
öffentliche Trauerkultur, die unabhängig vom geografischen Lebensort ist,
Platz für öffentliche Emotionen und kollektive Trauer schafft und Erinnerungsräume konstruiert [12, 18].
Auch die Zahl der digitalen Friedhöfe
wächst. Seit Mitte der 1990er Jahre verweist zum Beispiel der Gedenkstättenfinder „Find a grave“, das größte Angebot dieser Art, auf über 210 Millionen
analoge Grabstätten. Auch wachsen virtuelle Erinnerungsseiten, die Menschen
gewidmet sind, die Opfer von politischer,
struktureller oder individueller Gewalt
wurden. Beispielhaft zeigt das die Verwendung von Hashtags, wie zum Beispiel #MMIW für „Missing and Murdered Indigenous Women“ (Verschwundene und ermordete indigene Frauen in
Nordamerika) oder #mahsaamini für
die im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei verstorbene Mahsa Amini. Da
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die Bedeutung der sozialen Medien
wächst und deren Handhabung einfacher wird, ist damit zu rechnen, dass virtuelle Formen von Diskursen zu Sterben,
Tod und Trauer weiter zunehmen.
Auch ist davon auszugehen, dass Menschen künftig stärker daran arbeiten
werden, wie die Erinnerung an sie nach
ihrem Ableben aussehen sein soll – zum
Beispiel indem sie bereits zu Lebzeiten
entsprechende Websites als digitale
Nachrufe oder Vermächtnisse gestalten.
Dabei ist zu erwarten, dass sich der
Trend verstärken wird, die eigene Identität aktiv zu kontrollieren und zu
(re-)konstruieren. Hein verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass soziale Erinnerung und die entsprechenden Narrative stark von „gesellschaftliche und massenmediale“ Diskurse beeinflusst sind und insofern auf
besondere Weise „gesellschaftlich und
kollektiv“ geprägt sind [23]. Auch Nierobisch geht davon aus, dass Menschen im
wendig und kostenintensiv ist, könnte
die rasant wachsende Verbreitung von
Virtual-Reality-Anwendungen dazu
führen, dass sie nicht nur für viele Menschen erschwinglich wird, sondern auch
ohne Aufwand in private Kontexte integriert werden kann – was dazu führen
könnte, dass sich Menschen entscheiden,
ihr alltägliches Leben mit Hologrammen eines Verstorbenen zu gestalten.
Virtual oder Augmented Reality wird
vermutlich auch in einem weiteren Bereich an Bedeutung gewinnen, der das
Verhältnis zu Sterben, Tod und Trauer
grundlegend verändern kann: das Metaversum. Dieses Kunstwort beschreibt
das Zusammenwirken vielfältiger, an
sich separierter Serviceleistungen des
Internets in einer eigenständigen „realen“ Welt. So entsteht „eine Verknüpfung aus der realen und der virtuellen
Welt“ [38, 29]. Aktuell ist das Metaversum noch in Entwicklung und seine Entstehung, Funktionalitäten und Akzep-
Es bildet sich eine neue, dynamische Trauerkultur, die unabhängig
vom geografischen Lebensort ist, Platz für öffentliche Emotionen
und kollektive Trauer schafft.
digitalen Raum „Identitäten erproben,
verwerfen, bewerten und gestalten“ und
es durch kulturelle Erwartungshorizonte zur einer verstärkten Selbstoptimierung kommt [24].
Dabei könnte sich vor allem die Technik der Holografie als bedeutsam und
zukunftsfähig erweisen. So erhielt etwa
die Unternehmerin und Influencerin
Kim Kardashian zu ihrem 40. Geburtstag von ihrem Ehemann ein Hologramm
ihres verstorbenen Vaters, das ihr wertschätzende und liebevolle Worte des
Verstorbenen übermittelt [25]. Im Rahmen einer Fernsehshow traf in Korea
eine Mutter unter Nutzung von VirtualReality-Technologie ihre verstorbene siebenjährige Tochter wieder [26].
Panasovskyi verweist darauf, dass inzwischen eine Software zur Verfügung
steht, deren Zweck es ist, holografische
Video-Konversationserfahrungen mit
verstorbenen Angehörigen zu vermitteln
[27]. Auch wenn eine solche Art der
Kommunikation aktuell noch sehr auf-
tanz hängen vom Verlauf zahlreicher
technologischer Entwicklungen ab, die
sich zurzeit noch nicht seriös bewerten
lassen. Würde es aber ein derartiges Metaversum geben, könnten sich daraus
neue Praktiken für den Umgang mit
Sterben, Tod und Trauer ergeben – etwa
weil es hier keine Zeit- und Raumbegrenzungen geben wird, wodurch in der
virtuellen Parallelwelt vielleicht kein
Tod mehr existieren wird.
Umgang mit virtuellem Nachlass
Soziale Netzwerke wie Facebook haben
inzwischen spezielle Richtlinien entwickelt, um die Webseiten verstorbener
Menschen handzuhaben [30]. So können
Familienangehörige den FacebookAccount der Verstorbenen entweder aufrechterhalten oder schließen [31]. Profilinhaberinnen und -inhaber können
mittlerweile sogar ihren virtuellen
Nachlass vor ihrem Tod selbst regeln
oder digitale Nachlassverwalter und
-verwalterinnen als integrierten Bestand-
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teil des Betriebssystems einstellen [12,
32]. Das ist umso wichtiger, weil im Jahr
2100 um die 1,4 Milliarden Nutzerinnen
und Nutzer von Facebook verstorben
sein werden und virtuelle Identitäten
nach dem Tod verwaltet werden müssen
[33, 34]. Dabei werden die meisten Nutzerinnen und Nutzer „non-Western“
sein [33]. Die Anzahl der Facebook-Accounts verstorbener Profilinhaberinnen
und -inhaber wird die der Lebenden bei
Weitem übersteigen [33]. Dies wird auch
ethische Diskurse und länder- und kulturübergreifende Gesetzesgrundlagen
erfordern [35, 36, 37].
Digitalisiertes Bewusstsein
Das digitale Bewusstsein ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen und stark
umstrittenen Thema geworden. Dabei
bezieht sich „digitales Bewusstsein“ auf
die Verpflanzung des menschlichen Bewusstseins in eine Maschine, in der es
weiterlebt [38]. Einige Forschende sind
der Auffassung, dass das Hochladen des
Bewusstseins mathematisch unmöglich
sei oder keinen Zweck erfülle [39]. Andere hingegen sind der Meinung, dass
ein digitales Bewusstsein schon Mitte
des 21. Jahrhunderts möglich sein könnte [39]. Daraus können sich neue ethische Diskurse und religiöse Fragestellungen zur (Un-)Endlichkeit des Lebens
ergeben, da der physische Tod einen
Übergang in ein artifizielles Leben darstellen würde [38, 39]. Seit dem Jahr
2008 wird bereits an entsprechenden
Applikationen gearbeitet [40]. Websites
zum Upload entsprechender biografischer Informationen stehen zur Verfügung, etwa von der Terasem Movement
Foundation, und werden untersucht [41].
Aktuell arbeiten Forschende auch daran,
„Persönlichkeiten [zu] digitalisieren“, um
„das komplette Gehirn in einen Roboterkörper [zu] verpflanzen [...]. Das soll bis
2045 geschehen.“ [40]. Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen solche Entwicklungen kritisch und
bezweifeln, dass dies in absehbarer Zeit
möglich sein wird [42].
Trauer und KI
Bereits jetzt bieten auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Anwendungen
neue Möglichkeiten des Trauerns. Beispielhaft soll hier OpenAI vorgestellt
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werden. Die Website bietet zahlreiche
Tools, die auf künstlicher Intelligenz basieren und im Rahmen der jeweiligen
Anwendung automatisch Codes generieren, die sich dann in andere Anwendungen integrieren lassen. Eine Anwendung
ist zum Beispiel der „friends chat“. Hier
öffnet sich ein Textfeld mit vier Sätzen
einer Beispielkonversation. Diese werden angepasst und die KI reagiert mit
passenden Antworten. Im vorliegenden
Bespiel wird der Dialog eines Liebesoder Freundespaares simuliert, bei dem
die zurückgebliebene um eine verstorbene Person trauert. Im vorliegenden Fall
wurden zu Beginn lediglich die ersten
drei Zeilen eingegeben und die KI antwortet passend:
Ich: Ich vermisse dich, seit du verstorben bist.
KI:
Ich vermisse dich auch.
Ich: Wie geht es dir?
KI:
Mir geht es hier gut im Leben
nach dem Leben. Wie geht es
dir?
Ich: Ich bin traurig und fühle mich
allein.
KI:
Ich verstehe. Es ist hart, jemanden zu verlieren, den man liebt.
Erinnere dich daran, dass ich
immer bei dir bin, wenn auch
nicht mehr in der gleichen Art
und Weise wie zuvor.
Ich: Es fühlt sich so gut an, dich das
sagen zu hören. Aber mein tägliches Leben hat sich so verändert, seit du gegangen bist.
KI:
Ich weiß, dass muss schwer
sein, und es tut mir sehr leid.
Dann zeigt sich im Dialog ein Missverständnis: Die KI formuliert: „Versuche
dich auf die glücklichen Momente zu fokussieren, die ihr geteilt habt, und die
guten Zeiten, die ihr geteilt habt. Das
kann Frieden in dein Leben bringen.“
Während das Ich also in der KI den verstorbenen Partner sieht, agiert die KI aus
der Rolle der treuen Freundin heraus,
die der trauerden Person zur Seite steht.
Wird nun eine Korrektur vorgenommen
und das Ich macht etwa durch eine
grammatikalische Korrektur deutlich,
dass es hier nicht um eine dritte Person
geht (dass »du« der KI wird durch ein
»wir« ersetzt), reagiert die KI entsprechend der modifizierten Rollenzuschreibung. Es ist anzunehmen, dass solche
Apps im Jahr in einigen Jahren deutlich
intuitiver anzuwenden sind und Verbreitung gefunden haben. Sie werden zudem in unterschiedlichen Sprachen zugänglich und möglicherweise in der
Lage sein, kulturadäquat zu reagieren
und sogar zu interagieren.
Fazit
Anfangs stand die Frage, wie Sterben,
Tod und Trauer in wenigen Jahrzehnten
im Kontext von Digitalisierung aussehen werden. Zusammenfassend lässt
sich feststellen, dass grundlegende
Neuverhandlungen und (Re-)Konstruktionen unserer Beziehungen, unserer
Wahrnehmungen und Umgangsweisen
mit Sterben, Tod und Trauer zu erwarten sind. Inwiefern sich daraus neue
transkulturelle Konstrukte ergeben, die
sich angleichen oder gemeinsam neu
entwickeln, ist noch offen und muss weiter untersucht werden.
Weitere Forschungen braucht es auch
hinsichtlich ethischer Fragestellungen
sowie im Bereich von Identitätskonstruktionen, kulturellen Anpassungen
und nicht westlichen Kontexten. Es gilt
zu diskutieren, inwieweit kulturelle Gemeinsamkeiten, Unterschiede und universale Annahmen den Umgang mit
Sterben, Tod und Trauer in den kommenden Jahrzehnten beeinflussen. Dazu
ist es notwendig, kulturspezifische Einstellungen zu unterschiedlichen (Online-)Kulturen zu erforschen [11]. Es
werden verstärkt interkulturelle globale
Diskurse geführt werden müssen, um
Online-Kontrolle, Erb-, Privat- und Öffentlichkeitsrechte neu zu verhandeln.
Wie sich diese digitalen Welten auf die
psychische Gesundheit von Lebenden
auswirken, bleibt abzuwarten. Jedoch
könnten es Menschen zunehmend als
belastend empfinden, kontinuierlich
und über den Tod hinaus virtuelle Identity-Design-Prozesse zu konstruieren,
die ein Vergessen erschweren [43].
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Prof. Claude-Hélène
Mayer
Department of Industrial
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Management
University of
Johannesburg,
Kingsway Campus
D Ring 436, Auckland
Park, Johannesburg
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Elisabeth Vanderheiden
Geschäftsführerin
Katholische
Erwachsenenbildung
Rheinland-Pfalz
Landesarbeitsgemeinschaft e. V.
Welschnonnengasse 2–4
55116 Mainz
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International Pretoria,
Südafrika
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