Z Politikwiss (2018) 28:225–232
https://doi.org/10.1007/s41358-018-0137-0
FORUM
Identitäten jenseits des Nationalstaats
Keine wirkliche Antwort auf die Frage, ob es eine europäische
Identität gibt
Armin Nassehi
Online publiziert: 1. August 2018
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
Vor allem im Hinblick auf Europa ist die öffentliche Diskussion davon geprägt,
das Fehlen einer transnationalen Identität zu beklagen. Gemeint ist damit, dass die
Loyalitäts- und Solidaritätsformen, die wir aus Nationalstaaten kennen, nicht auf Europa übertragbar waren und sind. Man denke etwa an die Einlassungen Peter Graf
Kielmannseggs (1996), in denen der neuen europäischen Realität ein Demokratiedilemma und -defizit attestiert wird. Verantwortlich dafür sei ein Mangel an Identität
stiftender Gemeinschaft. Weder eine „Erinnerungsgemeinschaft“ sei Europa, noch
eine „Kommunikationsgemeinschaft“ oder gar eine „Erfahrungsgemeinschaft“ konstituiere jenes Gebilde, das exakt deswegen keine Demokratie sein könne, weil ihm
jene Ingredienzen fehlen, die aus einer Bevölkerung ein Volk machen, um an Bertolt
Brechts Unterscheidung zu erinnern. Lässt sich über Europa nicht anders nachdenken
als in den Kategorien, mit denen man historisch kontingent entstandenen Nationen
in Europa den Charakter von Schicksalsgemeinschaften zuschreiben konnte?
Es war jüngst wieder Jürgen Habermas, der in seiner Dankesrede für den deutschfranzösischen Medienpreis im Juli 2018 die mangelnde Solidarität in Europa damit
erklärt, dass es so etwas wie eine grundlegende Vertrauensbeziehung zwischen den
europäischen Administrationen nicht gebe – obwohl die Bevölkerungen hier bereits
erheblich weiter seien (vgl. Habermas 2018). Empirische Ergebnisse scheinen diese
These bestätigen zu können, denn tatsächlich lässt sich ein recht hoher Level europäischer Solidarität in allen europäischen Ländern empirisch messen (vgl. Gerhards
et al. 2018).
Prof. Dr. A. Nassehi ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Konradstr. 6, 80801 München,
Deutschland
E-Mail:
[email protected]
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Heißt das also, dass es doch so etwas wie eine europäische Identität gibt? Man
könnte die Frage mit Ja beantworten. Das würde dann freilich die weitere Frage provozieren, warum sich dies nicht in so etwas wie einer europäischen Identität niederschlägt, die sich auch politisch niederschlägt. Politisch und politikwissenschaftlich
müssten dann also die Bedingungen diskutiert werden, warum die Adresse Europa als politische Adresse nicht zu jener Form von Solidarität führt, die man im
Nationalstaat weitgehend voraussetzen kann. Die Flüchtlingskrise ist das aktuelle
Beispiel, an dem besonders deutlich wird, wie nationale Egoismen so etwas wie
eine europäische Perspektive politisch unmöglich machen. Man könnte sich dann
erhoffen, dass eine europäische Identität einen solchen Missstand heilen könnte.
Aus einer soziologischen Perspektive stellt sich eine weitere Frage, nämlich nach
der Identität bzw. danach, wovon wir reden, wenn wir das Problem als ein Identitätsproblem diskutieren.
In einem ersten Schritt wäre die Frage nach der Funktion des politischen Systems
zu stellen. Die Funktion des politischen Systems besteht nicht nur darin, für kollektiv
bindende Entscheidungen zu sorgen, sondern, wie ich verschiedentlich vorgeschlagen habe, auch darin, jene Kollektivitäten erst zu erzeugen, denen Entscheidungen
als bindend zugemutet werden können (vgl. Nassehi 2002, 2003). Erst dieser Gedanke kann aus jenem methodologischen Nationalismus herausführen, der all unsere
politischen Begriffe insofern infiziert hat, als sie die in diesem Sinne nationale Kollektivität ihres Geltungsraums immer schon voraussetzen müssen. Dies ist gar nicht
als Kritik formuliert, denn gerade am methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften wie der politischen Semantik selbst lässt sich viel über die Funktion
des Politischen lernen: die Paradoxie invisibilisieren zu müssen, dass mit der Zumutung von kollektiver Bindung auch jene Kollektivitäten erst entstehen. Insofern
erstaunt es nicht, dass sozialwissenschaftliche Texte, die sich etwa für die Überwindung dieses Syndroms einsetzen, ungewollt und unvermeidlich in den Zugzwang
normativ-politischer Rede geraten. Man beachte nur den politischen Grundzug von
Ulrich Becks appellativer Rede über Europa als kosmopolitisches Projekt (vgl. Beck
2004, S. 245 ff.), in dem die Frage nach einer Europa konstituierenden Kollektivität
strukturell ähnlich gestellt wird, wie sie Kielmannsegg noch eng mit dem begrifflichen Arsenal (national-)staatsrechtlicher Möglichkeiten in Angriff nimmt. Wohlgemerkt: Ich spreche nur von einer strukturellen Ähnlichkeit. Die Unterschiede liegen
darin, worin sich diese Art Kollektivität der europäischen Erfahrung empirisch niederschlägt. Beiden gemeinsam ist jedenfalls der Fokus auf eine Identität, die Unterschiedliches, also Differenz, integriert – in Kielmannseggs Perspektive noch die
Idee der Klassen transzendierenden Integration, in Becks kosmopolitischem Ansatz
dann die Idee einer „Kulturen“ übergreifenden Integrationsidee und bei Habermas
die Idee der politischen Solidarität. Oder anders gewendet: in Kielmannseggs trauriger Beschwörung nationalstaatlicher Reflexionsbegriffe erscheint eine europäische
Identität als Bedingung europäischer Demokratie als unmöglich; in Becks positiver
Konnotierung fungiert die kosmopolitische Identität als Integrator von Unterschiedlichem, und Habermas vertraut darauf, dass die Bürger bereits weiter sind als die
partikularistischen Operationsräume der politischen Eliten. Identität bleibt aber stets
vorausgesetzt – und wie anders sollte eine politik-nahe Perspektive auch aussehen?
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1 Identität als Frage
Identität bleibt der blinde Fleck der Debatte um transnationale Identitäten, deshalb
lohnt sich vielleicht ein verschobener Blick. Ich möchte und ich kann die Frage,
ob es eine europäische Identität bereits gibt, ob es sie geben könnte, welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen oder gar ob sie denn wünschenswert sei, nicht
beantworten. Ich möchte vielmehr behaupten, dass die Frage nach der Identität selbst
ein europäisches Konzept ist. Ich verlege mich also letztlich auf nichts anderes als
auf eine gepflegte Begriffsgeschichte. Und in diesem Rahmen erweist sich die Frage
nach der Identität als eine europäische Frage – und das heißt, wenn man Europa zunächst als einen kulturellen Raum mit historischer Ausdehnung behandelt, als eine
griechische Frage (vgl. dazu schon Nassehi 2010).
Schon der Begriff der Identität spielt auf den Satz der Identität an, der neben dem
Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten
und dem Satz der Kontravalenz zu den Grund-Sätzen der europäischen Denkgeschichte gehört und, wie ich behaupten möchte, bis heute den Grundzug dessen
darstellt, was als europäisches Denkkonzept gelten kann. Der Satz der Identität ist
gewissermaßen die Startrampe für jene europäische Metaphysik, deren basso continuo das selbständige Sein von Seiendem zum Thema hat, die Frage seiner Substanz, seiner Konstanz und seines wesentlichen Kerns. Ich möchte nun freilich nicht
die philosophische Geschichte des Satzes der Identität nachverfolgen, nicht jene
Entwicklung von der ontologischen Metaphysik zur Bewusstseinsphilosophie nachzeichnen, in der die Identität des Dings an sich zur bloßen Möglichkeitsbedingung
seiner Erkennbarkeit schrumpft, auch nicht Heideggers Wiederbelebung des Gleichheitszeichens in der Formel A = A, nach der die Behauptung, etwas sei sich selbst
gleich, zunächst nicht auf die Gleichheit, sondern auf das Prädikat abstellt. Etwas
muss sein, um gleich sein zu können (Heidegger 1957). All das ist nicht Gegenstand
meiner Überlegungen. Gleichwohl lebt die Idee der Identität als Frage nach der Substanz wider die Akzidenzen auch in jenem Identitätsbegriff fort, der in den Sozialund Politikwissenschaften Fragen etwa des folgenden Typs beantwortet: Wie kann
ein Individuum, das im Laufe seines Lebens seine Zustände wechselt und damit
sich selbst verändert, also: nicht-identische Momente enthält, mit sich selbst identisch sein/bleiben/werden? Dieser Art Fragen reagiert letztlich darauf, dass Identität
zum Problem geworden ist, dass die Substanz einer Person gegen ihre wechselnden Zustände in der Zeit und vor allem gegen die wechselnden Anforderungen in
der Gesellschaft gesichert werden muss. Die Semantik der Identität enthält letztlich
bereits Spuren des Verlustes eines Identitätsdenkens, das ein Denken in Substanzen
ist. Das starke Interesse an Identität ist sozusagen eine Folge von Nicht-Identität,
vom Prekärwerden der mit sich identischen Substanz. Dass meine Identität auch
eine andere sein könnte, ist sprachlich ebenso befremdlich wie empirisch wahr. Und
dass Identitäten wechseln können, ja dass einer mehrere Identitäten haben kann, ist
logisch ebenso unsinnig wie lebenspraktisch notwendig. Die Rede von der Identität
wird also nötig, sobald Identität sich nicht schlicht aus dem Gleichheitszeichen des
Satzes der Identität ergibt.
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Die folgenreichste – und ich meine: auch soziologisch folgenreichste – Dekonstruktion des Subjekts entstammt Hegels Kant-Kritik. Hegel bescheinigte diesen
bürgerlichen Subjekten, „die in selbständiger Freiheit und als Besondere für sich
sind“, sie verlören ihre „sittliche Bestimmung“. Diese „Atomistik“ aber habe „der
Staat als bürgerliche Gesellschaft“ aufzuheben (Hegel 1970, S. 321). Die Hegelsche
Aufhebung des bewusstseinsphilosophischen Innerlichkeitsmodells in seiner Philosophie des Geistes ist gewissermaßen die erste gesellschaftstheoretische Fassung des
Identitätsproblems, modelliert als Problem der Versöhnung des einzelnen mit seinen
Differenzen: mit den zeitlichen Differenzen einer je eigenen Vergangenheit und Zukunft; mit den sachlichen Differenzen in einer sich entzweienden Moderne; mit den
sozialen Differenzen einer Gesellschaft der Individuen, die Individuen nur so weit
sein konnten, als sie sich der Einsicht in die Notwendigkeit fügten und dafür eine
sittliche Totalität benötigten, die im postrevolutionären Zeitalter Hegels noch in der
sittlichen Totalität des Staates zu finden war und in der Sprache der späteren Soziologie normative Integration heißen sollte – von Hegel geschrieben übrigens wenige
Jahre nach der Friedensordnung des Wiener Kongresses von 1815, der nicht nur
dem Expansionismus Frankreichs ein Ende setzte, sondern mit seiner konservativen
Lösung den Boden für die liberalen und bürgerlichen Befreiungsbewegungen bereitet hat, deren Stärke vor allem die Ressource einer dem Volk als Nation unterstellten
Sittlichkeit sein sollte, der nun eine Identität zu entnehmen war.
Die Hegelsche Gesellschaftstheorie betont die Identität von Identität und Differenz
und strebt dabei die dialektische Versöhnung von subjektivem und objektivem Geist
an. Ihr wesentliches theoretisches Problem ist ganz offensichtlich die Frage danach,
wie sich die Unterwerfung des Besonderen unters Allgemeine als Freiheit denken
lässt. Erst dies macht es plausibel, den Staat für einen wirklichen Gott zu halten.
Denn allein die Unterwerfung unter einen Gott lässt sich letztlich in Freiheit umdefinieren. Die theorietechnische Funktion der Sittlichkeit, als deren Wirklichkeit
der Staat erscheint, postuliert analog die Einschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten zugunsten eines Allgemeinen. Es wäre eine Überinterpretation, der
mainstream-Gesellschaftstheorie eine Hegelsche Denkfigur zu unterstellen – aber
die Hegelsche Kontextur des Problemaufrisses ist dieselbe: Wie lässt sich soziale Ordnung denken, obwohl Individuen prinzipiell mehr Handlungsmöglichkeiten
zur Verfügung stehen, als sie letztlich wählen? Wie lässt sich Allgemeinheit herstellen, obwohl Akteure sich – gesellschaftsstrukturell gesehen – als besondere, als
Ichheiten, als endlich setzen? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Identität.
Wohlgemerkt: die theoretische Antwort – und das bis heute. Die praktische Antwort freilich verweist auf die europäischste aller Praktiken: auf die Etablierung des
Nationalstaats, bzw. der Nationalstaaten als jenem Identitätsfokus, der die Identität
von Identität und Differenz verbürgt. Er haucht dem Besonderen, dem Individuellen
jenen Geist ein, der als objektiver, als Volksgeist jene Formen der Selbstbeschreibung
etabliert, in denen sich sowohl Praktiken als auch Personen identisch setzen können, identisch nämlich mit der Allgemeinheit ihrer kulturellen, das heißt hier immer:
nationalen Livree. Der einzelne, so formuliert treffend Alain Finkielkraut in einem
lesenswerten Essay über die Niederlage des Denkens, und er meint damit ausdrücklich: des europäische Denkens, der einzelne werde ausschließlich „im Gewahrsam
seiner Zugehörigkeit“ gehalten, gefangen im „absoluten Primat des Kollektivs“, was
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im übrigen die empirische Staatenentwicklung Europas seit Beginn des 19. Jahrhunderts abbildet (Finkielkraut 1989). Der Europäer wurde nun primär Angehöriger
nicht mehr von interaktionsnahen sozialen Gebilden, sondern von Großgruppen,
von Staaten. Die politische Zugehörigkeit sollte sich mit der kulturellen decken, und
diese wiederum ihr ästhetisches Abbild in Territorien finden, und zwar exklusiv. Logischerweise waren dann kriegerische Auseinandersetzungen oftmals das Ergebnis
von Befreiungsbewegungen, von separatistischen oder unitarischen Bestrebungen,
also Kriege um Kollektivität bildende Grenzen, Kriege um Zugehörigkeiten.
Es ist dies letztlich eine erstaunliche Diagnose, denn mit der europäischen Kultur
verbinden wir doch eher den Individualismus, die Idee der individuellen Lebensführung und der Pluralität der Urteile – und der Identitätsbegriff scheint diesen Geist
ebenfalls zu atmen. Wir muten nur jemandem zu, eine Identität zu haben bzw. seine Identität zu erzählen, wenn er tatsächlich als Individuum angesprochen wird, als
Akteur mit Freiheitsgraden, als ein Ich, das Du zu sich sagen kann – für diesen Sachverhalt hat das europäische Denken den ebenso unpräzisen wie unsinnigen Begriff
des Subjekts erfunden.
2 Identität als theoretische Strategie
Wie stark die Konstruktion der Identität auch im 20. Jahrhundert kontinuiert wurde,
lässt sich – und ich belasse es nur bei Andeutungen – noch in den sozialwissenschaftlichen Formierungen der Identitätssemantik nachverfolgen. Man denke nur an
Erik H. Eriksons geradezu schulbildende Überlegungen über psychische Gesundheit, die er dann gefährdet sieht, wenn es dem Individuum nicht gelingt, die eigenen
Aspirationen mit denen des Kollektivs zu versöhnen – und selbst diese sozialpsychologische Perspektive gibt als Referenzgruppe die politische Einheit der Nation
bzw. einer universalen kollektiven Identität an, die die Identität des Einzelnen konditioniert (vgl. Erikson 1975). Eine gelungene Identität ist also eine Identität, die sich
zwischen den Zielen einer Gruppe und denen eines Individuums einstellt, das also
gewissermaßen auf dem Boden einer allgemeinen Sittlichkeit steht und in ontogenetischer Entwicklung eine Ich-Identität ausbildet, das heißt ein reflexives Bewusstsein
dieser gruppenspezifischen Quelle des Individuellen erlangt. Man könnte in Abwandlung von Hegels Affirmation des Wirklichen mit dem Vernünftigen sagen: Das
Gesunde ist das Vernünftige.
Oder man denke an Jürgen Habermas’ geradezu epochalen Aufsatz über die
Frage, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden könnten
(vgl. Habermas 1976). Habermas rekonstruiert die Bedingungen einer vernünftigen
Identität nicht nur im Kontext, sondern sogar mit den Begriffen jener Philosophie, die
die Entfaltung jener Art von Kollektivität meint, die als das dialektische Gegenüber
einer Vermittlungsbeziehung fungiert und die Geschichtsphilosophie vom Kopf auf
die nun nicht mehr politökonomischen, sondern empirisch rekonstruierbaren Füße
stellt. Und sie findet – bezogen auf Europa – ihren Höhepunkt dort, wo Habermas
die führenden Intellektuellen Kern-Europas ganz in Hegelscher Manier für jene
Allgemeinheit stehen lässt, die den angeblich jüngeren und peripheren europäischen
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Nationen kontinentalgeschichtlich (oder meinte er heilsgeschichtlich?) noch nicht
zusteht. Wohl müssen diese erst identisch werden.1
Wer die Semantik der Identität in Anspruch nimmt, muss nicht diesen ganzen
Ballast mitschleifen, den ich hier herbeiargumentiert habe. Aber der Begriff, auch
seine Selbstverständlichkeit, sogar seine Unschuld – haben wir nun schon eine europäische Identität? – steht nolens volens in diesem Kontext. Für mich wird – nicht nur
an diesem Topos – immer deutlicher, wie sehr die gesamte sozialwissenschaftliche
Intelligenz und wie sehr die gepflegten politischen staatstragenden Semantiken von
jenem Untoten umgetrieben werden, der die Identität von Identität und Differenz auf
den Begriff gebracht hat. In all unseren Identitätsdiskursen treibt sich der Hegelsche
Wiedergänger herum und erzwingt seine Lösung: Identität.
Ich habe bis jetzt nur destruktiv argumentiert und kein Gegenkonzept, keine Alternative vorgestellt. Jedenfalls möchte ich meine Ausführungen nicht als Vorschlag
für eine Theorie der Identität missverstanden wissen. Vielleicht ist das Konzept gar
nicht theoriefähig, sondern nur als Gegenstand theoretischer Erörterung tauglich.
Insofern sollte man nicht die Frage beantworten, ob es eine europäische Identität
schon, noch oder wieder gibt. Vielleicht ist die angemessene Frage, warum man so
fragt!
An dieser Frage übrigens lässt sich lernen, dass der oft zitierte Satz stimmt,
das praktischste sei eine gute Theorie. Denn erst wenn man sein Denken von Substanzen und Kausalitäten auf Bezugsprobleme und Funktionen umgestellt hat, wird
man die Identitätsfixiertheit des europäischen Projekts angemessen verstehen können. Die Fixierung auf Identität, der auch der methodologische wie der praktischpolitische und kulturelle Nationalismus entstammt, ist nur die andere, die reflexive
Seite jener Offenheit, Pluralität und Inklusivität Europas. Das Bezugsproblem allen
Identitätsdenkens ist die Erfahrung der Differenz. Wenn Ulrich Beck schreibt, es
sei „uneuropäisch, die Muslime auf den Islam zu reduzieren“ (Beck 2004, S. 250),
dann hat er völlig Recht. Beck paraphrasiert damit nur die Erfahrung einer multiinkludierenden Gesellschaft, die Individuen punktuell und nicht vorgeordnet im
Sinne einer Totalinklusion in ihre funktional differenzierte Struktur integriert. Aber
gerade eine solche „uneuropäische“ Praxis hat Europa stets begleitet – gerade weil
sie „uneuropäisch“ ist, weil sie sichtbar machen kann, was Gesellschaft strukturell
nicht mehr hergibt: Zurechnungsfoci, identifizierbare Gruppen aus „ganzen“ Personen und nicht nur Merkmalsgruppen eines statistischen Samples. Nur solchen
Gruppen lässt sich vollständige Inklusion zumuten, nur solchen Gruppen kann die
Strategie eines „stahlharten Gehäuses der Zugehörigkeit“ (Nassehi 1999, S. 203)
widerfahren. Worauf Beck hinweist, ist jene alte (sic!) Erfahrung Europas, dass es
offenbar eine unheilbare Wunde zwischen dem Menschen als Menschen und dem
Menschen als Bürger gibt (vgl. Kristeva 1990) – beides reagiert auf jene Umstellung
von vormodernen Zugehörigkeitsformen auf Multiinklusion einer sich modernisie-
1 Ich spiele an auf eine inzwischen 15 Jahre alte Initiative (kern-)europäischer Intellektueller, die „Wiedergeburt Europas“ in Gang zu setzen. Vgl. dazu den initiativen gemeinsamen Zeitungsartikel von Jacques
Derrida und Jürgen Habermas (2003) in einer deutschen und einer französischen Tageszeitung. Zeitgleich
erschienen in anderen europäischen Blättern flankierened Artikel von Adolf Muschg, Umberto Eco, Gianni
Vattimo und Fernando Savater. Für atlantische Westbindung sorgte Richard Rorty.
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renden Gesellschaft. Die Idee des Menschen (wie die des Subjekts) ist eine Reaktion
darauf, dass die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft Personen mit vielfältigen Inklusionsangeboten traktiert und deshalb die Menschlichkeit des Menschen
vergleichsweise unterdeterminieren muss; und die Idee des Bürgers ist ein Inklusionsangebot, das Identität dadurch ermöglicht, dass es Gruppen identifizierbar macht
und damit vor allem andere identifizierbare Gruppen sichtbar macht. Die Idee des
Menschen ist eine europäische Idee, weil der europäische Pfad der Modernisierung
seine Effizienz und seinen Erfolg gerade daher bezieht, ein Moment Fremdheit in
die soziale Ordnung einbauen zu können, die den jeweiligen Eigensinn des Ökonomischen, Politischen, Wissenschaftlichen und Künstlerischen erst ermöglichte. Und
die Idee des politischen Bürgers ist eine europäische Idee, weil sie dieser Fremdheit
einen Rahmen geben konnte, der sich in erster Linie über politische Inklusionsangebote ermöglichte. Erst vor diesem Hintergrund ist das möglich, was man normativ
für das Europäische halten mag: die Bedingung von Diversität und Toleranz, von
Vielfältigkeit und kultureller Indifferenz, in der ein jeder nach seiner Facon selig
werden kann – und ihre politische, kulturelle und militärische Dementierung, die
nur dementieren kann, was sie vorfindet. So viel Dialektik muss sein – auch wenn
sie offensichtlich niemand mehr lesen kann.
Es spricht deshalb vieles dagegen, den Begriff Europas allzu substantialistischnormativ zu bilden. Anders als die Kern-Europa-Enthusiasten um Habermas und
Derrida gelingt es etwa Ulrich Beck erheblich genauer, alle empirischen Abschattungen jener normativen Idee eines „kosmopolitischen“ Europas wenigstens mitzudenken. Womöglich scheint hier ansatzweise, gar ungesehen die Idee jener dialektischen Bedingung aller Strategie auf, die noch ihr Gegenteil mit vollzieht. Aber
anders als Beck, der das kosmopolitische Argument letztlich normativ zuspitzt, in
die ästhetische Figur eines Kierkegaardschen Sprungs bringt, plädiere ich eher dafür,
nach der Funktion solcher Diskurse zu fragen, die mit „Identität“ auf „Differenz“,
heute sagt man „diversity“, reagieren. Das gilt auch für Beck selbst, auch wenn er
dies im Gewande einer offeneren, einer pluraleren, einer liberaleren, einer – so das
alte, immer wieder neue Versprechen der Moderne – neuen Identität vorträgt. Womöglich enthält das Konzept des „kosmopolitischen Europa“ selbst ein erhebliches
Moment an „Identität“ im Sinne der Unterwerfung unter ein Allgemeines, das nun
als „Europa“ identifiziert werden muss. Nur so ist seine Normativität zu erklären –
aber wie sollte es auch anders gehen, denn es ist ein genuin „europäisches“ Konzept,
ebenso europäisch wie die Zumutung von Identität. Insofern lässt sich hier kein Ergebnis erzielen; außer diesem: das Europäische am Europäischen sind weniger die
Antworten, sondern die Fragen.
3 Europäische Identität
All dies ist keine Antwort auf die Frage, ob es eine europäische Identität gibt. Es ist
aber vielleicht eine Antwort auf die Frage, welche Frage beantwortet werden muss.
Es ist die Frage danach, wie die Adressierung jenes Allgemeinen funktioniert, das
wir mit dem Begriff der Identität belegen. Im Nationalstaat war dies die Herstellung
jenes Resonanz- und Relevanzraumes, der für die Imagination einer gemeinsamen
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Wirklichkeit gesorgt hat. Identität war die Differenz nach außen. Es bezog sein inneres Mit-sich-identisch-Sein durch das Jenseits der Grenze, das eben nicht identisch
ist und damit eine (andere) Identität aufweist. Muss man daraus die Konsequenz
ziehen, dass Europa zugleich zu stark auf sich fixiert ist und zu wenig über sich
selbst weiß? Es scheint exakt diese Widersprüchlichkeit zu sein, die die europäische Identität als das Fehlen einer europäischen Differenz sichtbar werden lässt.
Vielleicht ist also eine politische Identität jenseits des Nationalstaats nur denkbar,
wenn eine solche Identität sich von etwas anderem, von einem Außen unterscheiden
kann, damit es seine inneren Konflikte als die eigenen Konflikte wahrnimmt. Eine
europäische Identität kann es so lange nicht geben, so lange europäische Konflikte
Konflikte zwischen ihren Mitgliedern sind. Es wird sie erst geben, wenn es Konflikte
gibt, die innerhalb Europas um Sachfragen, politische Überzeugungen und politische Ziele streiten. Vielleicht braucht Europa also ein Außen. Wäre man Dialektiker,
könnte man sagen: Vielleicht ist die Trump-Administration ein Identitätsstifter für
Europa, weil sie jenes Andere darstellen könnte, das die Europäer dazu zwingt,
alltagspolitische, nicht sonntagspolitische Reden über sich selbst zu halten.
Literatur
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Derrida, Jacques und Jürgen Habermas 2003: Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 31. Mai 2003.
Erikson, Erik H. 1975. Dimensionen einer neuen Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Finkielkraut, Alain. 1989. Die Niederlage des Denkens. Reinbek: Rowohlt.
Gerhards, Jürgen, et al. 2018. How Strong is European Solidarity? Berlin Studies on the Sociology of
Europe (BSSE), Bd. 37
Habermas, Jürgen. 1976. Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Hrsg. Jürgen Habermas, 92–126. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen 2018: Sind wir noch gute Europäer?, in: Die Zeit vom 5. Juli 2018.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1970. Die Philosophie des Geistes. Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften, Bd. 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Jachtenfuchs, Beate Kohler-Koch, 47–72. Opladen: VS.
Kristeva, Julia. 1990. Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Nassehi, Armin. 1999. Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen: VS.
Nassehi, Armin. 2002. Politik des Staates oder Politik der Gesellschaft? Kollektivität als Problemformel
des Politischen. In Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie, Hrsg. Kai-Uwe Hellmann, Rainer Schmalz-Bruns, 38–59. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Nassehi, Armin. 2003. Der Begriff des Politischen und die doppelte Normativität der „soziologischen“
Moderne. In Der Begriff des Politischen, Soziale Welt-Sonderband, Hrsg. Armin Nassehi, Markus
Schroer, 133–170. Baden-Baden: Nomos.
Nassehi, Armin. 2010. Identität als europäische Inszenierung. In Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler, Hrsg. Anne Honer, Michael Meuser, und Michaela Pfadenhauer, 261–276.
Wiesbaden: VS.
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