Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
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Dominik Bertrand-Pfafff (Angers)
Religion als Thema der Ethik – Kant mit der Brille Ricoeurs gelesen
1. Einführung
Dass man sich heutzutage früher oder später mit dem Phänomen der Religion
auseinandersetzen muss, daran führt angesichts der medialen Fokussierung dieses
Themas kein Weg vorbei. Religion wird in Verbindung gebracht mit Fanatismus,
Terrorismus, Fundamentalismus, Ausgrenzung, Exklusion, Abwertung, kurz Haltungen, die
ein wohlwollendes Miteinander verunmöglichen. So seien religiöse Menschen
beispielsweise auch anfälliger für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Vergleich
zum gesellschaftlichen Durchschnitt.1 Dies ist nun der negative Aspekt der Religion, den
eine Ethik bewusst wahrnehmen muss. Zugleich wird immer wieder betont, wie sehr
Religionen ethisch hochstehende Haltungen und Regeln des Miteinanders fördern und
fordern würden. So hat auch der Philosoph Jürgen Habermas, der sich seinerseits als
religiös unmusikalisch bezeichnet hat, in einer Veröffentlichung darauf hingewiesen, wie
sehr Religionen einen Sinn für Humanität zum Inhalt hätten. Anstatt von einem säkulären
sei nun von einem postsäkulären Zeitalter zu sprechen, da keineswegs vom lange Zeit
angenommenen Absterben der Religion gesprochen werden kann.2 In beiden Fällen stellt
sich die Frage für die Ethik nach dem Anspruch der Allgemeingültigkeit, der Universalität
von Religionen.
Diese Frage hat auch die Autoren beschäftigt, um die es heute gehen soll. Immanuel Kant
stellt für Paul Ricoeur eine Referenz dar, die sich wie ein roter Faden durch viele seiner
Reflexionen zieht. Auch seine Gedanken über die Beziehung zwischen Religiosität und
Ethik sind davon geprägt, wenngleich er zeitlebens an dem Anspruch festgehalten hat, die
Bereiche von Philosophie und Religion strikt zu trennen. Das ging so weit, dass er nicht
alle Gifford-Lectures in sein Buch das Selbst als ein Anderer aufnahm, weil die letzten
Beate Kü pper, Zum Zusammenhang von Religiositä t und Vorurteilen. Eine empirische Analyse. (Ethik und
Gesellschaft 2/2010: Der ganz alltä gliche Rassismus)
1
2
Jü rgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/Main 22013
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Religion als Thema der Ethik
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beiden den Vorwurf hätten provozieren können, eigentlich Theologie zu sein. Folgende
Fragen werden unser Vorgehen bestimmen: Wie sieht Kant das Verhältnis von Ethik und
Religion? Wie integriert Ricoeur Kant in seine Ethik? Welchen Anknüpfungspunkt hebt er
besonders hervor? Und wie kann wiederum eine Ethik in einem religiösen Kontext heute
diesen Ansatz aufnehmen? Gerade die Aktualität der Religion fordert die Ethik heraus,
sich diesen Fragen zu stellen.
Der Verlauf dieses Teils gestaltet sich dementsprechend so, dass in einem ersten
Abschnitt unter dem Titel Kant und die „moralische Religion“ zunächst auf die zweite Frage
Kants nach dem, was wir tun sollen, eingegangen wird, darauf aufbauend dann die
Behandlung seiner dritten Frage nach dem, was wir daraufhin hoffen dürfen, folgt. Im
zweiten Abschnitt geht es um Paul Ricoeur als einem Denker der Vermittlung, in einem
ersten Schritt im Bereich des Selbst zwischen Streben und Sollen, in einem zweiten wird
die ethische Funktion des Religiösen thematisiert. Darauf folgt der Blick auf die Autonome
Moral im religiösen Kontext als Antwortversuch aus dem Bereich religiöser Ethik und ein
Ausblick auf die weitere Diskussion.
2. Kant und die „moralische Religion“
Wie sieht also Kant das Verhältnis von Ethik und Religion? Man kann dieses Verhältnis
kurz und prägnant gleich zu Anfang mit Reiner Wimmer so bestimmen, als Kant die
„Religion als Schöpfung der moralisch-praktischen Vernunft“3 sieht. Dies bedeutet: wenn
man wissen will, was die Religion nach Kant ausmacht, muss man sich zuerst mit dem
moralphilosophischen Referenzpunkt beschäftigen, der die Antwort auf die dritte der
Kantschen Fragen versucht, nämlich was wir hoffen dürfen. Diese Frage setzt die Antwort
auf die Frage voraus, was wir tun sollen. Dafür legen also zunächst die Kritik der
praktischen Vernunft und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Grund, bevor die
Schrift zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in den Blick zu nehmen ist.
2.1. Ausgangspunkt: was sollen wir tun?
Nicht von Neigungen sollen sich nach Kant menschlicher Wille und menschliches Handeln
bestimmen lassen, sondern durch das Gesetz, das der praktischen Vernunft vor aller
Erfahrung apriori inne wohnt und das im Kategorischen Imperativ seinen Ausdruck findet.
Reiner Wimmer, Das Verhä ltnis von Religion und Moral bei Kant, in: Josef Schuster (Hg.), Zur Bedeutung der
Philosophie fü r die Theologische Ethik, Fribourg 2010, 111-128, 111.
3
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Religion als Thema der Ethik
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Dieses lässt sich nicht aus der Erfahrung, sondern bei Kant aus dem Begriff des ethisch
guten Willens ableiten.4 Nur ein guter Wille kann als uneingeschränkt gut bezeichnet
werden und besitzt damit einen unbedingten Wert. Menschliche Anlagen und Neigungen
unterliegen der Möglichkeit des Missbrauchs. Der gute Wille hingegen ist das Sich-selbstzum-Handeln-Bestimmen-Können nach Grundsätzen5, das keinen Neigungen unterworfen
ist. Die subjektiven Grundsätze des Handelns nennt Kant Maximen.6 Dieser gute Wille ist
mehr als die Entsprechung der Maximen mit den Neigungen des Handelnden. Wäre das
Wohlergehen der eigentliche Zweck des Menschen, müsste er auf eine entsprechende
Anlage zurückgreifen können, die dies adäquater erlaubt. Die praktische Vernunft ist in
Bezug auf die Verwirklichung von Neigungen nur unzureichend. Diese muss sich eher an
der Pflicht orientieren, worin sich allein ein guter Wille verwirklicht. Nicht ein äußerlicher
Zweck, sondern das Gebotensein einer Handlung adelt den Willen. Diese Pflicht ist nicht
nur ein äußerliches Gebot, sondern auch ein innerliches. Der Wille ist erst dann unbedingt
und in sich gut, wenn sich seine der Handlung zugrunde liegende und seine innere
Ausrichtung darstellende Maxime, nicht auf die Erreichung eines von den Neigungen
bestimmten, äußeren Zweckes richtet, sondern die Erfüllung der Pflicht um ihrer selbst
willen in den Blick nimmt. Ihm kommt damit Moralität und nicht nur Legalität zu.
Der Inhalt dieser Pflicht liegt in einem Gesetz, das die praktische Vernunft ohne
Bezugnahme auf Neigungen dem Willen vorschreibt. Dieses Gesetz würde unbedingt, da
unabhängig von Neigungen, gelten und stellt damit als kategorischer einen Gegensatz zu
einem hypothetischen Imperativ dar, der mit wenn...dann-Formulierungen operiert und nur
unter bestimmten Bedingungen gilt. Ist der Inhalt der Pflicht ein unbedingtes Gesetz, dann
ist mit dieser formalen Bestimmung des Gesetzes bereits sein Inhalt gegeben. Der Begriff
des Kategorischen Imperativs impliziert apriori dessen Formulierung. Der hypothetische
Imperativ bleibt abhängig von der Kenntnis der Bedingungen, weshalb ein solcher Schluss
nicht möglich ist. Da also der Kategorische Imperativ nicht nur unter bestimmten
Bedingungen gilt, ist er nur als reines Gesetz zu verstehen. Daraus folgt, dass die
Verpflichtung darin besteht, nach derjenigen Maxime zu handeln, die diese allgemeine
Form des Gesetzes hat. Nach ihm folgt die Handlung dem rein formalen Verfahrensprinzip
der praktischen Vernunft und nicht etwa einer natürlichen Zielausrichtung. Dieses liegt im
4
GMS BA 1
5
KpV A 36
6
KpV A 49f Anm.
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Kategorischen Imperativ. Dieses Prinzip ist ein ursprüngliches, der praktischen Vernunft
selbst immer schon inhärentes Gesetz, nicht aber aus der Natur oder Erfahrung abgeleitet.
Es ist unhintergehbare Voraussetzung der praktischen Vernunft.
Ein solches ist dann jedoch nicht nur die Maxime als subjektiver Handlungsgrundsatz,
sondern dass es allgemein gilt. „Wesentlich für das Gesetz als Gesetz ist die Form der
Allgemeinheit, nach der sich der einzelne Handelnde und damit alle einzelnen Handelnden
in ihren Maximen zu richten haben.“ Nur in dieser Form der Allgemeinheit wird das Gesetz
zum Gesetz.7 Dies wird von Kant in folgendem Wortlaut des Kategorischen Imperativs
formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass
sie ein allgemeines Gesetz werde.“8
Kant unterscheidet diese Grundformel des KI von seinen bestimmte Aspekte
hervorhebenden Unterformen.
-„Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen
Naturgesetz werden sollte.“9
-„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines
jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“10
-„Handle so, dass alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reich der
Zwecke, als einem Reich der Natur, zusammenstimmen sollen.“11
Kant leitet also den Inhalt des Kategorischen Imperativs ohne den Rekurs auf die
Erfahrung oder das Sein her. Der Kategorische Imperativ präsentiert sich so als ein
Verfahrensprinzip, das in seiner Anwendung konkrete Maximen dahingehen überprüft, ob
sie dem ethischen Anspruch genügen oder nicht. Dieses ist nicht aus empirischen
Tatsachenaussagen hergeleitet, sondern erfährt seinen Aufweis im als ursprünglich in der
praktischen Vernunft gegebenen Sollensspruch. Damit ist Kants Ansatz weder dem
Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses, noch dem des Dezisionismus ausgeliefert.
7
GMS BA 51/52
8
GMS BA 52
9
GMS BA 52
10
GMS BA 67f
11
GMS BA 80
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Sein Ansatz übersteigt auch wesentlich den Ansatz bei einem natürlichen Sittengesetz.12
Aus dem einen Kategorischen Imperativ lassen sich viele einzelne konkrete kategorischen
Imperative ermitteln. Kants Beispiele richten sich auf Pflichten gegen sich selbst und
andere und auf vollkommene und unvollkommene Pflichten.13 Diese Ge- und Verbote sind
als kategorisch zu verstehen und dürfen auch um eines guten Zweckes willen in Frage
gestellt werden. Auch in Bezug auf die Lüge weist Kant auf die Widersprüchlichkeit einer
solchen Maxime hin, sollte sie zu einem allgemeinen Gesetz werden. Auch die Rettung
eines Verfolgten durch die Lüge ist damit nicht erlaubt.
Für Kant liegt die objektive Gültigkeit des Kategorischen Imperativs im unbedingten
Anspruch und in der Voraussetzung, die Freiheit des Menschen denken zu können.
Negative Freiheit kann es nur geben, wenn das apriorische Gesetz des Kategorischen
Imperativs den Willen leitet. Lässt er sich durch Neigungen leiten, ist er unfrei. Freiheit als
Autonomie des Willens setzt also die Existenz des apriorischen Sittengesetzes voraus.
Allerdings ist auch nur dann ein Sittengesetz sinnvoll, wenn es in der menschlichen
Freiheit begründet ist. Ohne die Voraussetzung von Freiheit würde der ethische
Sollensanspruch ins Leere stoßen. Kant ist sich dessen bewusst, dass hier ein
Zirkelschluss vorliegt. Deshalb bezeichnet er das Bewusstsein dieses Grundgesetzes als
ein Faktum der Vernunft und zugleich als ursprüngliches Datum der praktischen Vernunft
das unableitbar ist aus anderen Prämissen. Die Begründung des Anspruchs des
moralischen Sollens kann bei Kant nur den Charakter des Aufweises haben, der die
ursprüngliche Erfahrung des unbedingten Sollens bewusst macht. Kant begründet auch
nicht noch einmal in methodisch reflektierter Form das Faktum der Vernunft, sondern
behauptet es nur, sodass er letztlich keine Gründe dafür angeben kann, warum man sich
überhaupt für ein ethisches Handeln im Sinne des KI entscheiden soll.
Das Problem stellen hier nach Walter Lesch (Theologische Ethik im Diskurs, Tübingen 1995, 17) folgende Punkte
dar:
„1 zwischen Urteilen und Handeln gibt es einen Graben, der mit ethischen Argumenten allein nicht überbrückt werden
kann. Offensichtlich ist es durchaus möglich, zu einer Einsicht im Bereich der praktischen Vernunft zu gelangen und
dennoch abweichend davon zu handeln.
2. es ist nicht klar, ob moralische Erkenntnis bereits eine motivationale Komponente beinhaltet und wie die Genese der
Urteilsstruktur aussieht.
3. ein empirisch beobachtbares Verhalten kann durchaus zu wünschbaren Resultaten führen, obwohl es gar nicht auf
eine moralisch begründbare Handlungsstruktur zurückgeht.
Auch die Selbstzweckformel kann sich als problematisch erweisen, da nicht ausgeführt wird, wie ein konkretes Handeln
in diesem Sinne aussieht. Wie weit geht die Achtung des Anderen? Und welcher ist dessen Beitrag? Dennoch ist diese
Formel von großer Bedeutung, da sie dazu aufruft, jeden und jede nach verallgemeinerbaren Maßstäben zu behandeln.“
2es wird auch die Frage nach der Begründetheit des Verfahrensprinzips selbst gestellt. Warum sollte man überhaupt
dieses Prinzip anerkennen und anwenden? Warum soll man überhaupt im Sinne der o.g. Versionen des KI handeln?
12
Diese umfassen das Suizidverbot, das falsche Versprechen, die Entfaltung der eigenen Anlagen und die
Hilfsbereitschaft.
13
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Als einen Ort, der den Übergang von der Moralphilosophie Kants zur Religion markiert,
kann der Gewissensbegriff betrachtet werden. Er definiert das Gewissen als die sich
selbst richtende moralische Urteilskraft14 und sieht im Gewissensspruch die formale
Beurteilung der Vernünftigkeit einer Entscheidung, die somit nicht aus seinen Neigungen
heraus getroffen wird. Das Gewissen wird mit dem Pflichtanspruch in eins gesetzt, nicht
als äußerlicher, sondern im Verbund mit der Maxime (subjektiver Charakter und
allgemeiner Anspruch). Das Gewissen prüft damit die Übereinstimmung einer
Entscheidung mit dem formalen ethischen Anspruch. Die Irrtumsfreiheit liegt nach ihm
nicht im konkreten ethischen Urteil, sondern im reflektierenden Urteil der praktischen
Vernunft über sich selbst.15 Das Gewissen verortet im Menschen darüber hinaus den
unbedingten ethischen Anspruch in ursprünglicher Weise. Hätte man kein Gewissen, wäre
auch die moralische Pflicht unverständlich, was für Kant heißt, dass man eigentlich nur
den Aufruf seines Gewissens nicht hören will. Im Gewissen tritt sich der Mensch als
Richter gegenüber, es stellt den inneren Gerichtshof dar.16 Da aber Richter und
Angeklagter nicht dieselbe Person sein können, muss die Stimme des Gewissens die
Stimme einer idealen Person sein, die herzenskundig und allverpflichtend ist. In der Folge
setzt Kant diese Stimme mit dem Anspruch Gottes im Handelnden gleich, ohne damit
jedoch schon eine Art Gottesbeweis durchführen zu wollen.
2.2. Und: was dürfen wir daraufhin hoffen?
Auf dieser Grundlage nun nähert sich Kant dem Phänomen der Religion. Gott, Welt und
Seele stellen nach ihm Begriffe dar, die „weder Sachverhalte bezeichnen, die in einer
möglichen Erfahrung gegeben sein können“17, noch Formen unserer Anschauung oder
unseres erfahrungsbezogenen Denkens. Letztere sind transzendental, d.h. Bedingungen
der Möglichkeit von Erkenntnis, erstere transzendent, d.h. weder erfahrbar, noch
Konstitutionsbedingungen unserer Erkenntnis. Allerdings kann die Vernunft nicht anders
als nach einem systematischen Abschluss all ihrer Aktivitäten zu fragen, welche sich in
den sog. Vernunftideen widerspiegeln. Der Zwang zur Bildung dieser Ideen liege denn
auch im moralischen Interesse des Menschen, weshalb der praktischen der Primat vor der
14
RGV A271.
15
MS Tugendlehre A38.
16
MS Tugendlehre A 99-103
17
Wimmer 2010, 111.
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theoretischen Vernunft gebühre. Kant verweist auf das unabweisbare Bewusstsein des
Menschen von einem unbedingt gültigen moralischen Verpflichtetsein, das er Faktum der
apriorisch gültigen Vernunft nennt. Aus diesem Faktum gewinnt die Frage nach der
Hoffnung des Menschen die Möglichkeit ihrer positiven Beantwortung. Die praktische
Vernunft verlange demnach nach der Vereinigung von Moralität und Wohlergehen, von
Pflicht und Glückseligkeit, welche Kant das höchste von der moralischen Vernunft
anzustrebende Gut nennt. Dieses Gut bestehe in der moralischen Welt, d.h. einer Welt,
die nach Moralgesetzen verfasst ist.
„Da der Mensch nur zur Beförderung nicht aber zur Realisierung der moralischen Welt moralisch
verpflichtet sein kann, gibt diese Idee, auf die das moralische Bewusstsein nicht verzichten kann,
Anlass zu einem religiösen Glauben an eine Instanz, die zu jener Realisierung imstande ist,
sodass sich die moralische Welt in jesuanischer Sprechweise, die Kant aufnimmt, als Reich Gottes
bezeichnen lässt.“18
Die von der reinen praktischen Vernunft erlassenen moralischen Gesetze können
darüberhinaus als göttliche Gebote angesehen werden. Moralphilosophie sei für Kant
dementsprechend Philosophie vom Endzweck des Menschen „als Philosophie der
Autonomie zur Bestimmung dieses Endzwecks und der Freiheit zur Verwirklichung dieses
Endzwecks in einem guten und glücklichen Leben.“19 Die moralischen Gesetze haben das
alleinige Ziel, den Menschen darauf hinzuweisen, wie er sich als des Glückes würdig
erweisen kann. Letzteres vermag der Mensch jedoch nicht selbst herzustellen, trotzdem
es eine unabweisliche Forderung der moralischen Vernunft sei. In diesem Sinne erscheine
die moralische Welt zwar als moralisch notwendig, jedoch in der Realität praktisch
unmöglich, ein Zustand, mit der sich die moralische Vernunft sinnvoller Weise nur abfinden
kann, wenn sie die Existenz eines gerechten und allmächtigen Wesens, der
Unsterblichkeit der Seele und der Willensfreiheit fordert. Diese Postulate der praktischen
Vernunft wurzeln im moralischen Bewusstsein, welches wiederum den Grund darstelle für
den Glauben der moralisch praktischen Vernunft an die moralisch-praktische Realität
dieser Postulate. „Diese Religion besteht für Kant aber in nichts anderem als der
Anerkenntnis aller moralischer Pflichten als göttlicher Gebote, d.h.: Sie werden vorgestellt
als von Gott, dem obersten moralischen Gesetzgeber, erlassen“20, obwohl sie laut
18
Wimmer 2010, 113
19
Wimmer 2010, 113
20
Wimmer 2010, 114.
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Wimmer den autonomen Charakter der von der reinen praktischen Vernunft erlassenen
Moralgesetze nicht in Frage stellen, insofern nicht nur Gott als auch der Mensch an ihr Teil
hat.
Der Lehrgehalt dieser moralischen Vernunftreligion findet in der Schrift Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ihren Ausdruck. Darin orientiert sich Kant zwar
am dogmatischen Gehalt der christlichen Religion, als Kriterium für Erweis eines Glaubens
oder einer Religion als vernünftig diene letztlich jedoch die reine moralisch-praktische
Vernunft. Offenbarung schließt Kant nicht aus, insofern deren Inhalt Gegenstand der
praktischen Vernunft sein kann und sich hierin auch bewähren muss, um vernünftige
Religion zu sein. Gelingt diese Bewährung auf dem Hintergrund einer real existierenden
Religion, so kann auf eine zumindest teilweise Übereinstimmung von religiösen und
moralischen Inhalten geschlossen werden. Dies versucht Kant anhand der christlichen
Religion zu exemplifizieren. Dabei analysiert und rekonstruiert er diese in der Perspektive
einer Übereinstimmung mit seinem Verständnis einer Religion der moralischen Vernunft.
Dabei könne für Kant auch eine Offenbarungsreligion Quelle rationaler Religion sein,
insofern sie durch die bloße Vernunft erkannt werden kann. In diesem Sinne sei nur eine
vernünftige Religion wahre Religion, die darin bestehe, „die Gebote der Vernunftmoral als
Gebote Gottes aufzufassen und anzuerkennen“21. So könne der Mensch autonom durch
seine eigene Vernunft den Willen Gottes erkennen, der seiner Religion zugrunde liegt. Aus
dem Bewusstsein dieser Gesetze entspringe der Begriff der Gottheit und zugleich aus
dem Bedürfnis der Vernunft, „eine Macht anzunehmen, welchen diesen den ganzen, in
einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzwecke zusammenstimmenden Effekt
verschaffen kann.“22 Es sei die reine moralische Gesetzgebung nicht nur die
unumgängliche Bedingung aller wahren Religion, sondern auch das, was sie als solche
ausmacht. Historische Religionen seien nur das Mittel zur Beförderung der moralischen
Religion. Die christliche sei hier dann anderen voraus, was Kant auf den Ebenen der
Erbsünde und Erlösung, der Person und des Werkes Christi, der Kirche und der
Gnadenmittel ausführt, wobei er transzendente Lehren wie die Trinität, die Inkarnation, Die
leibliche Auferstehung Jesu und die Geistsendung vernachlässigt. Anfang, Durchgang und
21
Wimmer 2010, 115
22
RGV B 147f
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Ende der Geschichte behandelt Kant in anderen Schriften, ausgehend von der Frage, ob
„das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei.“23
Zusammenfassend lässt sich mit Wimmer sagen, dass Kant in einem ersten,
vorbereitenden Schritt in der Kritik der reinen Vernunft die philosophische Begründung der
Grundlage einer metaphysischen Psychologie, Kosmologie oder Theologie destruiert, um
dann in einem zentralen zweiten Schritt in der Kritik der praktischen Vernunft aus dem
Faktum des moralischen Selbstbewusstseins auf ein nur in dieser Perspektive zu
forderndes Dasein Gottes (Postulat) schliesst. Der sich anschliessende dritte Schritt stelle
eher eine Ergänzung zum zweiten dar und deute religiöse Gehalte aus dieser Perspektive.
„Der zentrale zweite Schritt stellt seinem Anspruch nach die vernunfterzeugte Genesis jener
einzigen Religion und jenes einzigen religiösen Glaubens dar, der aus Vernunft möglich ist und vor
ihrem Forum Bestand hat. Diese rationale Genesis der Vernunftreligion ist - vielleicht nicht faktisch,
wohl aber prinzipiell - ohne die Existenz von Religionen oder religiösen Einstellungen möglich; sie
ist für Kant ja begriffslogisch unabhängig von aller bestehenden Religiosität. Insofern kann diese
Religion als Schöpfung der reinen moralisch-praktischen Vernunft betrachtet werden.“24
Soweit zu den Überlegungen, die Kant zum Verhältnis von praktischer Vernunft und
Religion anstellt.
3. Ricoeur - ein Denker der Vermittlung?
Wie integriert nun Ricoeur Kant in seinen Ansatz und an welcher Stelle ergibt sich in
seinen Überlegungen ein Mehrwert?
3.1. Das Selbst zwischen Streben und Sollen
Man kann zunächst Hans Joas, dem Träger des Paul-Ricoeur-Preises 2017, zustimmen,
wenn er Paul Ricoeur als einen Denker der Vermittlung bezeichnet.25 Dabei spielen sich
diese Vermittlungsversuche auf mehreren Ebenen ab, die auch ineinandergreifen:
23
Wimmer 2010, 116.
Wimmer kritisiert an diesem Ansatz, dass Kant die Religion funktionalisiere, ein Motiv, das Hand in Hand geht mit
einer moralischen Reduktion von Religion. So entwirft Kant ein Verständnis von Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft und eine moralische Religion, insofern eine Religion nur dann legitim ist, wenn sie sich als
anschlussfähig an das Regelwerk der Autonomie der praktischen Vernunft erweist.
24
Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? U_ ber Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg/Br. 22007,
108-121.
25
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zwischen Selbstheit und Selbigkeit, zwischen Ethik und Ästhetik, zwischen Pflicht- und
Glücksethik, zwischen Philosophie und Religion. Die Brille, die ich im Titel nannte und
durch die Ricoeur Kant liest, möchte ich mit einem Schaubild veranschaulichen, das auf
seinen Ansatz in dem Buch Das Selbst als ein Anderer und auf die Kreativität von Alain
Thomasset zurückgeht.26
Verweist bei Kant die Forderung der Vernunft nach der Vermittlung von Pflicht und
Glückseligkeit in den Bereich der Transzendenz, ist der Ansatz einer narrativen Ethik bei
Ricoeur als ein solcher Vermittlungsversuch zu verstehen. Ricoeur geht von einem Primat
der Ethik des guten Lebens aus, da er die Frage nach demselben für die ursprünglichere
hält als die nach dem Sollen, auch wenn er die beiden ethischen Zugangsweisen in einem
Verweisungsverhältnis sieht. Es ist wichtig, dies an dieser Stelle zu betonen, es gibt
Ricoeur zufolge zwischen teleologischer und deontologischer Ethik mehr Übergänge, als
gemeinhin angenommen wird. Dies könne für den Universalisierungsanspruch gelten,
aber auch für den Begriff des guten Willens, welcher aus dem Streben entspringt. Ich
möchte mich in meinem Vortrag zunächst an dem Vorgehen orientieren, wie es Paul
Ricoeur in seinem Buch „Das Selbst als ein Anderer“27 vorschlägt. Ricoeur geht also
26
Alain Thomasset, Interpré ter et agir, Paris 2011, 40.
27
Mü nchen 1996.
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davon aus, dass die erste ursprüngliche ethische Frage die nach dem guten Leben ist.
Welches Leben kann demnach als erstrebenswert bezeichnet werden? Ricoeur bringt dies
in folgender Sequenz auf eine Kurzformel: ein gutes Leben führen mit und für die anderen
in gerechten Institutionen. Dieses Streben führt letztlich als Streben nach gerechten
Institutionen den Menschen hin zur Frage normativer Regeln, denen diese Institutionen
gehorchen sollen. Hier geht für Ricoeur das Streben über in die Frage nach dem Respekt
sich selbst, dem Anderen und der Norm gegenüber in der möglichen Universalisierung von
Gerechtigkeitsstrukturen. Diese Ethik des guten Lebens differenziert sich aus in einer
dreifachen Struktur der Selbstschätzung, die von der Ausrichtung auf das gute Leben über
die Fürsorge hin bis zum Sinn für Gerechtigkeit führt und die der Struktur der deontisch
gedachten Selbstachtung entspricht. Damit ist letztere „derjenige Aspekt, den die
Selbstschätzung unter der Herrschaft der Norm annimmt“28 und begleitet die Prüfung der
Ausrichtung auf das gute Leben durch die Norm. Ricoeur differenziert die Selbstachtung
aus in Achtung der Norm, Achtung des Anderen und des Selbst als eines Anderen und
Achtung eines Jedermann, der Anspruch auf einen gerechten Anteil innerhalb einer
gerechten Verteilung hat.29 Nach Ricoeur werden die Übergänge auf den drei Ebenen wie
folgt gewährleistet: der gute Wille, der ohne Einschränkung als gut zu bezeichnen ist
ermöglicht den Übergang von der Ausrichtung auf ein gutes Leben hin zu seiner
moralischen Umsetzung im Prinzip der Verpflichtung; die Goldene Regel gewährleistet den
Übergang zwischen Fürsorge und dem Imperativ, demzufolge jeder andere Mensch
niemals als Mittel, sondern nur als Zweck an sich des Handelns zu sehen ist; die Frage
nach der Verteilung gewährleistet den Übergang vom Gerechtigkeitssinn zur
Gerechtigkeitsregel. Dabei wird die Reinigung dieses Strebens von allen Partikularitäten,
die das Begehren kennzeichnet, forciert, sodass auch tatsächlich von einem guten Willen
in seiner umfassenden Universalität die Rede sein kann. Das eine kann nach Ricoeur
nicht ohne das Andere, das Streben nach dem Glück muss durch die Norm hindurch,
welche ihrerseits ohne dieses Streben leer bliebe. Das Streben muss vor allem deshalb
durch die Norm hindurch, um den Anforderungen an das autonome Selbst, des Anderen
und der Gerechtigkeit gerecht zu werden. Hier setzt die Kritik Ricoeurs an Kant ein, indem
er das Gefühl der Achtung als Triebfeder auf der Ebene der Autonomie, die sich mithilfe
des Universalitätsanspruchs vollzieht, zugleich als ein passives Element versteht: „Die
Achtung ist insofern eine Triebfeder, als sie dazu führt, im Modus einer passiv
28
Ricoeur 1996, 209
29
Ricoeur 1996, 248.
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empfangenen Affektion das Sittengesetz selbst „in sich zur Maxime zu machen“ (…).“30
Das Verhältnis von Affektion des Selbst durch den Anderen, die hier dahinter steckt, und
der Quasi-Selbstsetzung der Autonomie werde von Kant nicht problematisiert. Im Laufe
dieses Durchganges kann es jedoch zu Konflikten kommen, die sich innerhalb des
Schemas zwischen dem Streben nach Glückseligkeit und der Pflichtforderung auftut.
Diese betreffen die Ebene der Institution, die der Achtung und die der Autonomie. Wenn es
zu solchen Konflikten kommt, schlägt Ricoeur vor, auf die ursprüngliche Frage nach dem
guten Leben zurückzugreifen und sie, angereichert durch den Durchgang durch die Norm
in einem Akt praktischer Weisheit zu beantworten. Diese Haltung der praktischen Weisheit
wäre die, die die speziellen Ethiken oder Bereichsethiken auszeichnen sollte. In dieser
praktischen Weisheit verortet Ricoeur den Begriff der Überzeugung, die angereichert
durch die kritische Arbeit einer Argumentationsethik zu einer wohlerwogenen Überlegung
wird und darin ein Überlegungs-Gleichgewicht realisiert. Ricoeurs Vermittlungsversuch
positioniert sich folglich eindeutig auf Seiten einer Strebensethik.
3.2. Die ethische Funktion des Religiösen
Die Entscheidung für die Ethik des guten Lebens schlägt sich auch in Ricoeurs
Reflexionen zur Beziehung von Religion und Ethik nieder. Diese offenbart sich
exemplarisch in einem Artikel im Band 11 der Université de tous les savoirs, in dem er sich
mit dem religiösen Gläubigsein („croyance religieuse“)31 und dem schwierigen Weg des
Religiösen („le difficile chemin du religieux“) auseinandersetzt.32 Im ersten Teil des Artikels
30
Ricoeur 1996, 259.
Die Beziehung von Vertrauen, Glauben und Glä ubigkeiten einerseits und gesellschaftlichem Engagement
andererseits wird auch von Jean-Marc Ferry betont. Er fokussiert die Herausforderung des ontologischen
Vertrauens angesichts der neuen Glä ubigkeiten. Die Topik, die Hermeneutik, die Dialektik und die Dogmatik
stellen vier Momente dar, denen vier Ebenen oder Grade des Vertrauens in eine Realitä t entsprechen, die jeweils
spezicische Bestimmungen annehmen. Der ersten Ebene entsprechen die neuen Glä ubigkeiten, die gelebte
Erfahrungen zum Gegenstand haben, die außergewö hnlich, jedoch durch Zeugen bescheinigt wä ren, welche frei
vom Verdacht sind, mysticizierend oder von schwachem Geist zu sein. In dem Fall, dass das Vertrauen ersten
Grades keine Leichtglä ubigkeit, sondern Offenheit ist, kann es ein ontologisches Vorverstä ndnis erschü ttern und
zugleich eine Grundlage fü r metaphysische Glä ubigkeiten bieten. Das Vertrauen zweiten Grades drü ckt sich ü ber
Glaubensartikel aus, die eine natü rliche Ordnung voraussetzen, welche grundlegend gerecht und gut ist. Der
Glaube an die Realitä t einer endgü ltigen Ordnung der Welt stü tzt ein Vertrauen in die Realitä t der Ideen. Dieser
dritte Grad beruht auf reclexiven Evidenzen. So wird beispielsweise postuliert, dass die menschliche Freiheit
angesichts der Tatsache sehr wohl real ist, dass die Verneinung freier Handlungen selbstwidersprü chlich wä re.
An dieser Stelle endet die Anerkennung der Realitä t der Ideen als ein einfaches Faktum des Verstandes, um sie
mit einer Macht gesellschaftlichen Engagements zu versehen. Fü r diejenigen, die sich dementsprechend
engagieren, stellt die Welt der Ideen den Charakter dessen dar, was am konkretesten und lebendigsten ist. (JeanMarc Ferry, La religion reclexive, Paris 2010).
31
32
Paris 2002, 207-224.
Bertrand-Pfaff
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13
baut er auf seinen Ansatz beim „homme capable“33 eine kurze Sequenz über die
Ausführungen Kants zur Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft ein. Dieser „homme
capable“ bewege sich nach Ricoeur zwischen Praxis und Pathos und sei demnach
agissant und souffrant zugleich.34 In diesem Rahmen ergeben sich für Ricoeur vier
Ebenen der Fähigkeit und in ihrer Negation der Un-Fähigkeit: die des Sprechens eines
Sprechers, der jemandem etwas über etwas zu sagen vermag; die des Handelns eines
Gestalt angenommenen/inkarnierten Handelnden, der Veränderungen in der Welt
hervorzurufen vermag; die des Erzählens eines historischen Subjekts, das nach einer
Identität in der Zeit strebt; die der Zuschreibung eines moralischen Subjekts, welches
verantwortlich für seine Taten ist, die er als wahrhaftiger Autor anerkennt. Ein solcher
„homme capable“ – und „non-capable“ – sei der Adressat der religiösen Botschaft. So wie
Kant seine Religionsschrift mit dem Phänomen des Bösen beginnt, fährt Ricoeur seine
Überlegungen nun mit diesem Thema fort und problematisiert dies auf dem Hintergrund
seines Ansatzes beim „homme capable“, indem er das Religiöse als das Angebot einer
Antwort auf eine spezifische Un-Fähigkeit ist, nämlich die, aus sich selbst heraus das Gute
zu tun. Auf der Grundlage dieser intimen Erfahrung, in der das Selbst hinter sich
zurückbleibt, wird der „homme capable“ zum „homme coupable"35. Hier setzt Ricoeurs
Auseinandersetzung mit Kant ein, der seine Religionsschrift ja mit der Frage nach dem
Bösen beginnt.36 Zwar dürfe die Erfahrung der Fülle, die das Religiöse mit sich bringe,
nicht vernachlässigt werden, der Ansatz am Bruch des radikalen Bösen, wie es Kant
unternimmt, stelle jedoch darüber hinaus die glückliche Kontinuität zwischen den neuen
Fähigkeiten, die das Religiöse hervorruft und den fundamentalsten Fähigkeiten des
Menschseins wieder her. Kant unterscheide Ricoeur zufolge zwischen der Anlage zum
Guten, welche den Grund der condition humaine bestimmt und des Hanges zum Bösen,
welche die empirische Conditio beherrscht. Der Hang zum Bösen („propension au mal“)
bestehe für Kant in den „conditions existentielles“37, welche sich in partikulären, schlechten
Maximen niederschlagen und das radikal Böse darin, dass man die Befolgung des
Sittengesetzes der Erfüllung der eigenen Neigung unterordnet, womit auch das
33
Ricoeur 2002, 208.
34
Ricoeur 2002, 208.
35
Ricoeur 2002, 209.
Ricoeurs Verstä ndnis des Kantischen Ansatzes als ein hermeneutischer ist nicht unproblematisch. So beharrt
Ehrsam auf dem kritischen Anspruch der Kantischen Religionsphilosophie: Raphael Ehrsam, La critique sans
l’hermé neutique. Principes kantiens pour l’é tude des religions, in: Kant. Thé ologie et religion. R. Theis (Hg.) Paris
2013, 317-327.
36
37
Ricoeur 2002, 209.
Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
14
Sittengesetz nicht mehr als kategorisch zu bezeichnen wäre. Der Egoismus wäre
bestimmend für das Handeln, das deshalb noch nicht dem obersten Grundsatz folgen
würde, sich einzig durch das Sittengesetz bestimmen zu lassen. Frei wäre eine
Entscheidung dann, wenn man das Gute tut, weil es gut ist, das Richtige, weil es richtig
ist. Jedoch sei das radikal Böse nie so ursprünglich wie die Anlage zum Guten. Die
positive Sicht auf das Religiöse drückt sich nun für Ricoeur darin aus, dass es
fundamental mit diesem ursprünglichen Grund der gefangenen und versteckten Güte und
mit deren Befreiung verbunden ist. Seine Schrift „Amour et justice“ kann uns hier
weiterhelfen.38 Hier bezieht er sich auf die allgemeine Anmerkung des ersten Stücks in
Kants Religionsschrift, in der es um die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum
Guten und die Gnadenwirkungen geht und die Ricoeur mit dem Satz ausdrückt, dass es
nach Kant die Aufgabe der Religion sei, im moralischen Subjekt seine Fähigkeit
wiederherzustellen, gemäß der Pflicht zu handeln („la tâche de la religion est de restaurer
dans le sujet moral sa capacité d’agir selon le devoir“39) Damit stellt sich zunächst die
Frage nach den Ressourcen des Religiösen angesichts der Vorherrschaft dieses Hanges
zum Bösen in der Geschichte der Individuen, der Gemeinschaften und der Völker. Ricoeur
folgt im Weiteren Kant in seiner Analyse des Phänomens des Religiösen, welches sich auf
den Ebenen des Symbolischen, des Glaubens und der Gemeinschaft artikuliert. Das erste
finde im Christussymbol seinen Ausdruck, als Gott wohlgefälligen Menschen, der sein
Leben für seine Freunde hingibt. Die Ebene des Glaubens betreffe das Vertrauen in die
Macht, die Gutes bewirke und die durch das Christussymbol ausgeübt werde. Die Ebene
der Gemeinschaft bestehe in der Beihilfe, die die Gläubigen als Hörer und Interpreten der
Botschaft sich untereinander zukommen lassen, die im Gründungssymbol enthalten sei
und des Glaubens in die regenerierende Macht dieses Symbols. Ricoeur zufolge, der sich
damit in der Linie Kants sieht, bestehe nun die Funktion des Religiösen über die Ebenen
des Symbolischen, des Glaubens und der Gemeinschaft in der Befreiung des Grundes der
Güte von den Banden, die sie gefangen halten. („la religion comme libération du fonds de
la bonté“: „Le religieux a pour fonction la délivrance du fond de bonté des liens qui le
tiennent captifs“40) Demnach resümiere sich die religiöse Problematik in der
außergewöhnlichen Fähigkeit den gewöhnlichen Menschen zum Tun des Guten zu
befähigen. In diesem Sinne wäre der „homme capable“ Adressat des Religiösen und
38
Paris 2008.
39
Ricoeur 2008, 9 (Bei Kant: RGV A44/B48ff)
40
Ricoeur 2002, 211.
Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
15
Träger des religiösen Glaubens. Im Anschluss daran unternimmt es Ricoeur, die
Wirkungsfelder des Religiösen und des Moralischen voneinander abzugrenzen. Wieder
Bezug nehmend auf Kant, der für das autonome Subjekt plädiert, bestimmt Ricoeur die
moralische Erfahrung als Beziehung zwischen der Stellung nehmenden Vernunft und einer
Regel, die sich an ein Subjekt wendet, welches der Zuschreibung fähig ist. Auf dieser
Ebene der Zuschreibung artikuliert sich die Stellung eines Selbst und der
Zwangscharakter einer Regel. Die Autonomie wäre dann die Verbindung zwischen einem
Selbst und einer Regel. Ein Anderes wäre die tatsächliche capacité zum Handeln gemäß
einer Regel, welche Kant unter den Begriff der Triebfedern der praktischen Vernunft fasst
und die er auf den Respekt reduziert. Ricoeur tendiert hier allerdings dazu, die
moralischen Triebfedern nicht allein im Respekt zu sehen, sondern führt auch die capacité,
durch das Religiöse das Gute zu tun, als einen solchen Beweggrund ein. Wenn auch
Ricoeur nicht soweit geht, wie Kant von einer moralischen Religion zu sprechen, kann
dem Religiösen zumindest auf der Ebene der Triebfedern eine wichtige Stellung
zugeschrieben werden. So stimmt er andererseits mit Kant darin überein, dass er das
Problematische der historischen Religionen, insbesondere des Christentums hervorhebt,
aber andererseits auch feststellt, dass das Religiöse nicht anders kann, als sich in
historischen Religionen auszudrücken, die sich aus einem gemeinsamen Grund nähren.
An späterer Stelle geht er noch weiter und spricht davon, dass der optatif du bonheur in
einer Art religiösem Gefühl verwurzelt ist.41 Anders als Kant, der die moralische Religion
auf ihre Übereinstimmung mit dem Sollensanspruch der praktischen Vernunft hin
bestimmt, schreibt Ricoeur so das Religiöse in den Bereich des menschlichen Strebens
nach dem guten Lebens ein. Während Kant eine moralische Religion entwirft, die sich aus
der Korrespondenz der Maximen mit dem Gesetz speist, und an dieser ihr Maß nimmt,
verbindet Ricoeur die Religiosität mit einem Optativ des Glücks, der mit der Befreiung der
Grundlage der Güte einhergeht (la religion comme libération du fonds de la bonté) oder in
seinen o.g. Worten: die Funktion des Religiösen besteht darin, dass es die Grundlage der
Güte von den Banden befreit, die sie gefangen halten.42 Kant habe, wie bereits erwähnt,
Ricoeur zufolge die Aufgabe der Religion dahingehend bestimmt, als sie im moralischen
Subjekt seine Fähigkeit zum Handeln gemäß der Pflicht wieder herzustellen imstande ist
(„la tâche de la religion est de restaurer dans le sujet moral sa capacité d’agir selon le
41
Ricoeur 2002, 220.
42
„Le religieux a pour fonction la dé livrance du fond de bonté des liens qui le tiennent captifs.“
Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
16
devoir“43). Diese Figur kann man wohl mit der Formel Ricoeurs zur Funktion des
Religiösen parallel setzen, allerdings nur dann, wenn man berücksichtigt, dass Ricoeur
diese Figur in einen entgegen gesetzten ethischen Bereich stellt (von dem des Sollens in
den des Glücks) und damit transformiert.
Gibt es hier für eine Ethik in einem religiösen Kontext Anschlussmöglichkeiten?
4. Autonome Moral im religiösen Kontext
Beweggründe und Beweisgründe für moralisches Handeln
Der Optatif weist auf eine Option hin, welche für das moralische Handeln dem Bereich der
Handlungsmotive und Handlungsmotivation zuzuordnen ist. Was bringt mich überhaupt
zum Handeln? Hier ist für Ricoeur im Gegensatz zu Kant die Frage nach dem Glück höher
zu veranschlagen als die nach der Pflicht, was sich auch in der ethischen Bestimmung des
Religiösen niederschlägt. So folgt er Kant zwar nicht, wenn dieser den Weg einer
moralischen Religion einschlägt. Andererseits verliert er wie Kant nicht aus den Augen,
dass das Religiöse in einem genau umrissenen Bereich einen konstruktiven Beitrag für
eine philosophische Ethik darstellen kann, ein Bereich, den die philosophische mit einer
religiösen Ethik teilen kann. Gründe für die Moralität einer Handlung müssen der Vernunft
entspringen, sollen sie universalisierbar sein. Man kann sie Beweisgründe nennen.
Gründe, die den Menschen zum moralischen Handeln motivieren, können
unterschiedlichen Quellen entspringen und vielgestaltige Motive haben, müssen die
Beweisgründe jedoch stärken und dürfen sie nicht untergraben. Diese kann man begrifflich
als Beweggründe fassen, die bei Kant Triebfedern heißen und die Befähigung zum Sollen
wiederherstellen oder bei Ricoeur die Befreiung zum Guten ermöglichen. Auch wenn für
Ricoeur nicht psychologisch verstandene Motive, sondern Quellen des Selbst die
Motivation für den existenziellen Selbstvollzug begründen, können solche Quellen doch
auch Motive darstellen, wenn sie so verstanden werden, dass man keine
Verfügungsgewalt über sie hat.44
In einem religiösen Kontext begegnet man v.a. bei Vertretern der sogenannten autonomen
Moral Möglichkeiten, an das o.g. anzuknüpfen. Diese weisen dem Religiösen einen voroder nachargumentativen Status für die Ethik zu, der in Motiven oder Funktionen zu
43
a.a.O.
44
Paul Ricoeur, Critique et conviction, Paris 1995, 227.
Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
17
suchen ist. Der Wille Gottes wird ganz aus der ethischen Argumentation herausgehalten.
Da Gottes Wille sich nicht unter ein sittliches Gesetz subsumieren lässt, muss eine Ethik
im religiösen Kontext dessen Verbindlichkeiten extrahieren. Exemplarisch kann hier auf die
Unterscheidung Franz Böckles zwischen Glaubenssätzen und sittlich normativen Sätzen
verwiesen werden: beide seien „nur in menschlichen Begriffen und Denkformen zu fassen“
und unterliegen insofern auch „beide einer allgemeinen Bedeutungsoffenheit menschlicher
Begriffe und Sprache“45. Gleichzeitig ist der unterschiedliche Charakter von
Glaubenssätzen und Normsätzen hervorzuheben:
„Im Unterschied nun zu diesen Glaubenssätzen, die in univoken Begriffen gar nicht zu fassen sind,
müssen Normsätze, die konkretes menschliches Handeln regulativ bestimmen, univoken
Charakter haben. […] Dieser Unterschied zwischen Glaubenssätzen und sittlichen Normsätzen ist
von fundamentaler Bedeutung. Glaubenssätze sprechen Wahrheiten aus, deren Einsicht auf die
Nichtbeweisbarkeit eines Widerspruchs beschränkt bleiben; sittliche Normen stellen sachliche
Forderungen, für deren Inhalt eine positive Einsehbarkeit verlangt werden muß. Die Intelligibilität in
das zu Tuende ist für ein verantwortliches zwischenmenschliches Handeln konstitutiv.“46
In eine ähnliche Stoßrichtung gehen die Überlegungen Alfons Auers, des Begründers der
autonomen Moral. Nach ihm zeitigt die christliche Botschaft
„keine konkreten materialethischen Weisungen im Hinblick auf das menschliche Weltverhalten;
deren Findung ist Sache der gesellschaftlich-geschichtlichen Vernunft des Menschen. Der Christ
ist zunächst Mensch wie jeder andere auch; es gibt für ihn kein eigenes ethisches Einmaleins, kein
eigenes ethisches Alphabet. Das Menschliche ist menschlich für Heiden wie für Christen.“47
In diesem Sinne vertritt er die Auffassung, „dass das Sittliche eine Schöpfung des
menschlichen Geistes ist. Es gehört in den Bereich der Wahrheit der Welt, deren
Entfaltung im göttlichen Kulturauftrag dem Menschen als originäre Aufgabe zugewiesen
ist.“48 Nach Auer könne die ethische Ordnung gänzlich vom Menschen aufgefunden und
entfaltet werden kann. So versuche er von der Wirklichkeit inspiriert, einen fundamentalen
Entwurf für die verschiedenen Dimensionen seiner Existenz zu gewinnen. Es gelangten
hinsichtlich des Inhalts der christlichen Moral weder die einzelnen Christen noch die
45
Franz Bö ckle, Fundamentalmoral, Mü nchen 41985, 292
46
Bö ckle 41985, 293f
47
Alfons Auer, Autonome Moral und christlicher Glaube, Dü sseldorf 21989, 212.
48
ebd.
Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
18
Träger des Amts durch eine wie auch immer geartete Privatoffenbarung zur Erkenntnis der
sittlichen Wahrheit. Der Inhalt der christlichen Moral ist menschlich und nicht
unterscheidend christlich, darum stammt das sittliche Bewusstsein der christlichen
Gemeinde erkenntnismäßig aus menschlichem Verstehen.49 Das christliche Proprium liegt
in dem neuen Sein in Christus und in dem damit erschlossenen neuen Sinnhorizont. Die
Verbundenheit mit Christus macht den Christen frei. Aus dieser Freiheit heraus kann er
sich mit ungebrochenem Engagement für die Verbesserung der Zustände der Welt
einsetzen, und er muss es auch, weil aus seinem Glaubenswissen neue Motivationen
entstehen.
„Dieser christliche Sinnhorizont wirkt sich nun in einer doppelten Richtung aus: Für das konkrete
sittliche Handeln ergeben sich aus dem Evangelium spezifische Grundhaltungen und Motivationen
(Glaube, Hoffnung, Liebe, Dankbarkeit, Wachsamkeit u. a.), für den Prozeß der Normfindung
erbringt es einen integrierenden, kritisierenden und stimulierenden Effekt.“50
-Die integrierende Funktion des Glaubens bindet die autonome Sittlichkeit in eine
umfassende Zielausrichtung des Lebens ein.
-Die stimulierende Funktion des Glaubens bringt zentrale ethische Prinzipien erneut zur
Geltung und ruft sie mit Nachdruck in Erinnerung.
-Die kritisierende Funktion des Glaubens richtet sich gegen Weltanschauungen, die die
innerweltliche Wirklichkeit verabsolutieren und in der Immanenz die Sinnerfüllung des
Menschen sehen.
Übereinstimmend wird auch hier die Funktion der Religion bzw. des Religiösen betont.
Diese Funktionen werden durchzogen von Motiven, die sich aus den religiösen
Überlieferungen nähren und die die ethischen Argumente stärken können wie z.B. das
Schöpfungsmotiv, das Exodus- und Bundesmotiv, das prophetische Motiv, das ReichGottes-Motiv, das Freiheitsmotiv und das Gemeindemotiv. Aus diesen Motiven können
dann Optionen gewonnen werden, die sich in Überzeugungen niederschlagen und die die
ethische Argumentation anreichern können, jedoch nicht ersetzen dürfen. Dabei beweist
eine Ethik im religiösen Kontext dann Anschlussfähigkeit an ethische Diskurse, wenn sie
Monika Bobbert u.a., Das Proprium der christlichen Ethik. Zur moralischen Perspektive der Religion, Luzern
2015.
49
50
Auer 213
Bertrand-Pfaff
Religion als Thema der Ethik
19
eine Begründung der sittlichen Autonomie leistet, die nicht zugleich exklusivistisch
verstanden ist.
5. Ausblick auf eine „gute Religion“:
Zu guter Letzt können zum Einen folgende Punkte problematisiert werden: die beiden
protestantischen Philosophen wie auch die beiden Moraltheologen denken v.a. in Bezug
auf eine Referenzreligion, nämlich die christliche (wobei auch hier bereits ein Pluralismus
vorliegt). Ricoeur gibt selbst zu, dass er in Sachen nichtchristliche Religionen
insbesondere Islam über keine Kompetenz verfügen würde. Wie gestalten sich die oben
ausgeführten Überlegungen in Bezug auf andere Religionen? Zum Pluralismus der
Religionen gesellt sich der Pluralismus der Vernunftkonzeptionen, die eine
Herausforderung gesellt sich zur anderen. Ein Versuch, in einem Dialogprozess zu einem
gemeinsamen Ethos der Religionen zu kommen, stellt das Projekt Weltethos und das
Weltparlament der Religionen dar, welche sich noch dem Anspruch einer philosophischen
Ethik zu stellen hätten. Dies kann sich formal darin ausdrücken, dass der Weg der
Verständigung den Ansprüchen der kommunikativen Vernunft genügt.
Auf diesen Gedanken baut auch Dagmar Fenner in ihrem Grundriss einer Religionsethik
auf, in dem sie oft auf diese autonome Moral im religiösen Kontext zu sprechen kommt
und formuliert am Ende ihres Buches Kriterien, anhand derer man von einer guten
Religion in einem ethischen Sinne sprechen kann. Sie sieht diese Kriterien gegeben in
der Reflexionsfähigkeit und der Vernunftorientierung, in der Anerkennung der
Religionsfreiheit und des religiösen Pluralismus, in der Anerkennung aufklärerischer
Rationalitätsstandards und der Säkularisierung als Ausdifferenzierung der Wertsphären, in
der Anerkennung der Methoden und Erkenntnisse der Wissenschaften, in der
Anerkennung der modernen Demokratie mit ihren normativen Grundlagen, in der
Anerkennung einer universellen Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung und Beistand
zum erfüllten Leben im Diesseits.51
51
Dagmar Fenner, Religionsethik. Ein Grundriss, Stuttgart 2016, 270-279