Sebastian Scholz, Gerald Schwedler, Kai-Michael Sprenger (Hg.):Damnatio in Memoria. Deformation und Gegenkonstruktion in der Geschichte, Wien, Köln, Weimar, 2014
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 , 2011
Das 17. Jahrhundert gilt in der Historiographie als Zeitalter der Krise. Der Aufsatz behandelt vo... more Das 17. Jahrhundert gilt in der Historiographie als Zeitalter der Krise. Der Aufsatz behandelt vor diesem Hintergrund die Wahrnehmungs-und Handlungsformen der Zeitgenossen und verfolgt die These, dass sich diese Formen im Laufe des Jahrhun-derts zunehmend verändern. Entscheidend hierfür ist die Medialität des Spiels, in welcher Wahrscheinlichkeit, Risiko und Kontingenz eine zentrale Rolle spielen. Historiography has cast the seventeenth century as an age of crisis. Against this background, the article treats contemporary modes of perception and ac tion, advancing the thesis that these are subject to increasing change in the course of the century. Crucia l in this respect is the mediality of the game, in which probability, risk and contingency play a centrat role. I. Im Spätsommer des Jahres 1675 wurde Gottfried Wilhelm Leibniz in Pari s Zeuge einer spektakulären Vorführung: Vor den Augen zahlreicher Zuschauer versuchte ein Mann mithilfe einer Apparatur über die Seine zu laufen. Leibniz war sowohl von der Apparatur, es handelte sich wohl um eine Art Flugma-schine, als auch von der öffentlichen Inszenierung begeistert. Unter dem Ein-druck des Gesehenen unterbrach er seine Arbeit a m Infinitesimalkalkül und ver-fasste einen kurzen Text, dem er den Titel Drole de Pensee, touchant une nou-velle sorte de REPRESENTATIONS-zu deu tsch: Gedankenscherz, eine neue Art von Repräsentationen betreffend-gab. 1 In sehr assoziativer Form entwarf er darin eine Academie des representations, in welcher die unterschiedlichsten Einrichtungen versammelt werden sollten. 2 Theaterbühnen und Konzertsäle, Gärten, Galerien und Sportstätten gehörten ebenso dazu wie Kunstkammern, Naturalienkabinette und eine Art Patentamt. Vorgesehen waren zudem regel-mäßige Automaten-und Maschinenaufführungen, wie die an der Seine beob-ac hte te; des Weiteren schlug Leibniz vor, die Besucher mit Schlachtendarstellun-1 Gottfried Wilhelm Leibniz, Drole de Pensee [September 16751, in: ders., Sämtli-che Schriften und Briefe, hrsg. Akademie der Wissenschaften der DDR, Vierte Reihe: Politische Schriften, Berlin 1983, I (1667-1676), 562-568. Für kritische Lektüre und zah lreiche Hinweise danke ich Rudolf Schlögl, C hri stopher Möll111ann, Jan Behn-stedt und Anna-Lisa Bauer.
Homo ludens is one of the most important figures in modern anthropology. At the same time, (post-... more Homo ludens is one of the most important figures in modern anthropology. At the same time, (post-)modern theories have invoked the game to formulate a firm antithesis to anthropological concepts. This essay outlines 20 th and early 21 st century controversies about the game and homo ludens in order to develop a third position: one that, following Leibniz and Walter Benjamin, has the human being vanish in substance for the sake of subsequent historical recurrence. Kaum ein Begriff ist mit der Moderne so eng verbunden wie der des Spiels. Seine narrative Produktivität, die Evidenz der aus ihm zu entfaltenden Argumentation, nicht zuletzt die Möglichkeit seiner utopischen Aufladung scheinen mit der neue-ren und neuesten Geschichte in besonderer Weise zu konvergieren. 1 Insbesondere die moderne Kontingenzerfahrung findet im Spiel ihre vermeintlich adäquate Ausdrucksform. Dabei zeichnet sich der Spielbegriff weniger durch die (analyti-sche) Distanz aus, die er in Bezug auf den Gegenstand ‚Moderne' herzustellen erlaubt, als durch die Koinzidenz einer Bewegung, die Spiel und Moderne zu teilen scheinen. Das Spiel nimmt die Dynamik und Wandelbarkeit, die der Epoche zugeschrieben wird, auf; Theorie und Gegenstand greifen ineinander, verschrän-ken sich und bilden gerade deshalb einen ebenso überzeugenden wie in sich geschlossenen Erklärungszusammenhang. Eine Folge dieser Geschlossenheit ist, dass das Spiel immer wieder auf eine Metageschichte hin transparent gemacht
Sebastian Scholz, Gerald Schwedler, Kai-Michael Sprenger (Hg.):Damnatio in Memoria. Deformation und Gegenkonstruktion in der Geschichte, Wien, Köln, Weimar, 2014
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 , 2011
Das 17. Jahrhundert gilt in der Historiographie als Zeitalter der Krise. Der Aufsatz behandelt vo... more Das 17. Jahrhundert gilt in der Historiographie als Zeitalter der Krise. Der Aufsatz behandelt vor diesem Hintergrund die Wahrnehmungs-und Handlungsformen der Zeitgenossen und verfolgt die These, dass sich diese Formen im Laufe des Jahrhun-derts zunehmend verändern. Entscheidend hierfür ist die Medialität des Spiels, in welcher Wahrscheinlichkeit, Risiko und Kontingenz eine zentrale Rolle spielen. Historiography has cast the seventeenth century as an age of crisis. Against this background, the article treats contemporary modes of perception and ac tion, advancing the thesis that these are subject to increasing change in the course of the century. Crucia l in this respect is the mediality of the game, in which probability, risk and contingency play a centrat role. I. Im Spätsommer des Jahres 1675 wurde Gottfried Wilhelm Leibniz in Pari s Zeuge einer spektakulären Vorführung: Vor den Augen zahlreicher Zuschauer versuchte ein Mann mithilfe einer Apparatur über die Seine zu laufen. Leibniz war sowohl von der Apparatur, es handelte sich wohl um eine Art Flugma-schine, als auch von der öffentlichen Inszenierung begeistert. Unter dem Ein-druck des Gesehenen unterbrach er seine Arbeit a m Infinitesimalkalkül und ver-fasste einen kurzen Text, dem er den Titel Drole de Pensee, touchant une nou-velle sorte de REPRESENTATIONS-zu deu tsch: Gedankenscherz, eine neue Art von Repräsentationen betreffend-gab. 1 In sehr assoziativer Form entwarf er darin eine Academie des representations, in welcher die unterschiedlichsten Einrichtungen versammelt werden sollten. 2 Theaterbühnen und Konzertsäle, Gärten, Galerien und Sportstätten gehörten ebenso dazu wie Kunstkammern, Naturalienkabinette und eine Art Patentamt. Vorgesehen waren zudem regel-mäßige Automaten-und Maschinenaufführungen, wie die an der Seine beob-ac hte te; des Weiteren schlug Leibniz vor, die Besucher mit Schlachtendarstellun-1 Gottfried Wilhelm Leibniz, Drole de Pensee [September 16751, in: ders., Sämtli-che Schriften und Briefe, hrsg. Akademie der Wissenschaften der DDR, Vierte Reihe: Politische Schriften, Berlin 1983, I (1667-1676), 562-568. Für kritische Lektüre und zah lreiche Hinweise danke ich Rudolf Schlögl, C hri stopher Möll111ann, Jan Behn-stedt und Anna-Lisa Bauer.
Homo ludens is one of the most important figures in modern anthropology. At the same time, (post-... more Homo ludens is one of the most important figures in modern anthropology. At the same time, (post-)modern theories have invoked the game to formulate a firm antithesis to anthropological concepts. This essay outlines 20 th and early 21 st century controversies about the game and homo ludens in order to develop a third position: one that, following Leibniz and Walter Benjamin, has the human being vanish in substance for the sake of subsequent historical recurrence. Kaum ein Begriff ist mit der Moderne so eng verbunden wie der des Spiels. Seine narrative Produktivität, die Evidenz der aus ihm zu entfaltenden Argumentation, nicht zuletzt die Möglichkeit seiner utopischen Aufladung scheinen mit der neue-ren und neuesten Geschichte in besonderer Weise zu konvergieren. 1 Insbesondere die moderne Kontingenzerfahrung findet im Spiel ihre vermeintlich adäquate Ausdrucksform. Dabei zeichnet sich der Spielbegriff weniger durch die (analyti-sche) Distanz aus, die er in Bezug auf den Gegenstand ‚Moderne' herzustellen erlaubt, als durch die Koinzidenz einer Bewegung, die Spiel und Moderne zu teilen scheinen. Das Spiel nimmt die Dynamik und Wandelbarkeit, die der Epoche zugeschrieben wird, auf; Theorie und Gegenstand greifen ineinander, verschrän-ken sich und bilden gerade deshalb einen ebenso überzeugenden wie in sich geschlossenen Erklärungszusammenhang. Eine Folge dieser Geschlossenheit ist, dass das Spiel immer wieder auf eine Metageschichte hin transparent gemacht
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