In Europa waren wir nur Gnadenbrotesser, nach Asien kommen wir als Herren. In Europa sind wir Tataren, aber in Asien sind wir auch Europäer" -Fedor Dostoevskij 1 "Maurice: (…) Nein, nicht in Finnland. Darunter, in jedem Sinn darunter. (…)...
moreIn Europa waren wir nur Gnadenbrotesser, nach Asien kommen wir als Herren. In Europa sind wir Tataren, aber in Asien sind wir auch Europäer" -Fedor Dostoevskij 1 "Maurice: (…) Nein, nicht in Finnland. Darunter, in jedem Sinn darunter. (…) Es genügt, daß ich aus einem Land komme, das im Westen vom Osten und im Osten vom Westen liegt" -Sławomir Mrożek 2 Verweist der Auszug aus Dostoevskijs Tagebuch auf die eurasischen Eigentümlichkeiten der russischen Geschichte, die sich bis zum Mongolenjoch zurückverfolgen lassen? Waren die Russen demnach ursprünglich Europäer/Herren und degenerierten unter der mongolischen Besatzung zu Asiaten /Sklaven? Wer sind die Russen in Dostoevskijs Wahrnehmung: Asiaten oder Europäer? Was meint Maurice aus Mrożeks Theaterstück Kontrakt (Der Vertrag) von 1986 mit den Worten, "daß ich aus einem Land komme, das im Westen vom Osten und im Osten vom Westen liegt"? Ist "der Westen vom Osten" Westen? Und ist der "Osten vom Westen" Osten? Wozu gehört Maurice's Heimatstadt "Bereźnica Wyżna", ein polnisches Landstädtchen an der Grenze zur Ukraine: zum Osten oder Westen? Ist es Europa in Asien oder Asien in Europa? Sowohl Dostoevskij als auch Mrożek stellen die selbstgefällige Wissenschaftlichkeit des geo-positivistischen Konzepts von Osten/Asien und Westen/Europa in Frage, indem sie die metaphorische Kraft der literarischen Intuition nutzen. Diese belletristischen Zitate können die Augen für ein postkoloniales Verständnis von "Ostforschung" und "myśl zachodnia" öffnen. So wie Dostoevskij das allgemeine Verständnis der Identitätsdichotomie von Tataren und Europäern unter den 1 Zit. nach Jörn Happel, Shukrullos Erinnerungen. Ein usbekisches Leben im 20. Jh., In: zeitgeschichte-online, Juni 2009 [URL:
http://www.zeitgeschichte-portals_rainbow/documents/pdf/usbekistan.pdf] 2 Peter Oliver Loew (Hg.), Polen denkt Europa (Franfurt am Main: Suhrkamp, 2004), 11. Russen erschüttert, so tastet Mrożek den populären Glauben an eine geo-positivistische Grenze zwischen Osten/Asien und Westen/Europa an. Für beide waren Osten und Westen, Asien und Europa keine festen geographischen Einheiten, sondern politische Konstrukte in Bewegung. Tatsächlich sind Osten und Westen relationale Konzepte, 3 die nur dann Bedeutung erhalten, wenn sie im Diskurs von Geschichte, Kultur, Zivilisation, Religion usw. konfiguriert werden. Allerdings ist die Beziehung zwischen Osten und Westen nicht gleich, da die Hierarchie der Zivilisationen von der zugeschriebenen Position in der homogenen und vereinheitlichten Zeit der Geschichte bestimmt wird. Damit gleicht Mrożeks "Westen vom Osten" "vorwärts von rückwärts", während "Osten vom Westen" "rückwärts von vorwärts" im schematischen Historizismus heißt. Aus postkolonialer Perspektive schuf die deutsche "Ostforschung" den slavischen Osten, so wie der anglo-französische Orientalismus den Orient, den Orientalen und seine Welt schuf. 4 Es ist das Wissen über den Orient/den Osten, das den Orient/den Osten schafft, nicht umgekehrt. Als Antwort darauf versuchte die polnische "myśl zachodnia" symmetrische Äquivalente zur europäischen Geschichte zu finden und setzten den polnisch-slavischen Marsch nach Westen dem deutsch-germanischen "Drang nach Osten" entgegen. Die polnische Westforschung ging sogar weiter, indem sie darauf bestand, dass die Kluft zwischen Polen und dem angeblichen Westen kleiner war als die Kluft zwischen Deutschland und dessen Westen. Man sollte hier aber nicht gefragt werden, welche Kluft kleiner war. Postkoloniale Perspektiven helfen uns, die zugrunde liegende Epistemologie der Frage des Eurozentrismus aufzuspüren. 5