Papers by Christian Baier

Christoph Jürgensen/Michael Scheffel (Hg): Günter Grass Handbuch, Feb 2025
Grass' Verhältnis zum Autobiographischen ist geprägt von einem grundlegenden "Misstrauen gegenübe... more Grass' Verhältnis zum Autobiographischen ist geprägt von einem grundlegenden "Misstrauen gegenüber Autobiografien" (Doerry und Hage 2003, 144), da er es für unmöglich hält, das eigene Leben wahrheitsgemäß zu erzählen: "Ich könnte gar nicht autobiographisch schreiben, weil ich sofort ins literarische Lügen geriete." (Grass und Zimmermann 2000, 38) Gerade deshalb üben Literarisierung und Fiktionalisierung der eigenen Person einen unwiderstehlichen Reiz auf Grass aus: "Wenn ich eine Möglichkeit sähe, mich gewissermaßen in Variation zu erzählen -das wäre vielleicht reizvoll. Aber eigentlich mag ich Autobiographisches in der verschlüsselten Form der Fiktion, des Romans, lieber." (Doerry und Hage 2003, 144) Entsprechend sind seine Werke bevölkert von "fictional first-person narrators unmistakably endowed with Grass's biography" (Braun 2008, 4). Doch obgleich autobiographisches und autofiktionales Schreiben damit als "one of the most unifying aspects of his literary work" (Braun 2008, 3) anzusehen ist, steht eine umfassende Auseinandersetzung mit dieser Form literarischer Selbstinszenierung bei Grass noch aus (Ansätze dazu finden sich u. a. in Braun 2008, Neuhaus 2010 und Stolz 2023). Im Rahmen der folgenden Ausführungen werden, nach einer kurzen Einführung in die theoretischen Grundlagen autobiographischen und autofiktionalen Schreibens, chronologisch teilweise weit auseinander liegende Werke gemeinsam behandelt, um strukturelle Parallelen zu zeigen. Aus praktischen Erwägungen beschränkt sich die Darstellung dabei auf ausgewählte literarische Texte, während Interviews, Reden oder Werkstattberichte zwar gegebenenfalls als Sekundärquellen herangezogen, nicht aber als eigenständige Ego-Dokumente behandelt werden.
Theory Culture&Society, 2024
In recent years, the post-truth phenomenon has dominated public and political discourse. This art... more In recent years, the post-truth phenomenon has dominated public and political discourse. This article offers a functional analysis of its mechanisms based on the category of narrative. After providing a brief definition of post-truth as a conceptual foundation, I trace the meaning of the term ‘narrative’ in the works of Jean-François Lyotard, focusing on the elusive category of small narrative. Utilizing terms and concepts of contemporary narrative theory, I propose a general definition of cultural narrative and re-conceptualize Lyotard’s petit récit as a particular case of this superordinate category. Drawing on Lyotard’s phrase linguistics as set out in The Differend, I develop the category of epistemic sphere to analyze Donald Trump’s MAGA movement as an example of post-truth politics, the rise of populism and the epistemic fragmentation of society.

Colloquia Germanica, 2023
Dieser Aufsatz untersucht Theo Wuttkes erfolgreiche Wiederverkörperung Theodor Fontanes in Günter... more Dieser Aufsatz untersucht Theo Wuttkes erfolgreiche Wiederverkörperung Theodor Fontanes in Günter Grass’ Roman "Ein weites Feld" im Kontext kontrastierender Mythos-Konzepte. Einerseits wird das Berlin der Wendezeit unter Rückgriff auf Walter Benjamins "Passagenarbeit" als eine zutiefst mythische Epoche beschrieben, geprägt von scheinbarem Fortschritt und den Phantasmagorien des Konsums. Andererseits stellt Fonty dieser Vorstellung des Mythos als schicksalhafter Gewalt eine mythische Lebensform in der Nachfolge Thomas Manns gegenüber, die es ihm erlaubt, sich über alle Wechselfälle hinweg der eigenen Identität zu versichern und die Ereignisse der Gegenwart in seinem Sinne zu deuten.
Indem der vorliegende Aufsatz die Kunstfigur Fonty als Adaption Mann’scher Mythos-Vorstellungen im Geiste Walter Benjamins interpretiert, eröffnet er nicht nur eine neue Perspektive auf Günter Grass’ "Ein weites Feld". Die Analyse des Romans mittels dieser beiden kontrastierenden Mythos-Konzepte leistet darüber hinaus einen Beitrag zur vergleichenden Mythos-Forschung sowie zur Diskussion um das Verhältnis von Mythos und Moderne.

Symposium: A Quarterly Journal in Modern Literatures, 2022
This article offers a comparative reading of “Ein Hungerkünstler” and “In der Strafkolonie,” comb... more This article offers a comparative reading of “Ein Hungerkünstler” and “In der Strafkolonie,” combining the topic of incomprehension and miscommunication with the motif of the body. It analyzes how meaning and signification are conceptualized within the two stories, how problems of misunderstanding are framed and possible solutions explored. In an attempt to overcome the limitations of speaking and writing, each story proposes a form of somacentric signification: the hunger artist turns his whole body into a sign, and the torture apparatus in the penal colony inscribes its sentence directly onto the delinquent’s skin.
Using Charles Sanders Peirce’s triadic concept of the sign, Friedrich Nietzsche’s principle of the conven-tional nature of meaning and Jacques Derrida’s critique of Western metaphysics, I analyze mechanisms and limitations of somacentric signification. Exploring the reasons for its ultimate failure leads me to consider the social foundation of meaning as depicted within the two stories, addressing the question under which circumstances understanding and communication are possible in the works of Franz Kafka.

Deutsche Literatur / 독일어문학, 2023
Der vorliegende Aufsatz untersucht die Rolle und Funktion von Rätseln in
Thomas Manns biblischer ... more Der vorliegende Aufsatz untersucht die Rolle und Funktion von Rätseln in
Thomas Manns biblischer Tetralogie "Joseph und seine Brüder". Nach einer Einführung in die Theorie der Gattung sowie einer Einordnung des Rätselmotivs in den Kontext des Romans werden zunächst zwei Beispiele für traditionelle Rätsel analysiert: eine mathematische Prüfungsaufgabe und ein Rätselspiel zu geistreicher Unterhaltung. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, dass Josephs berühmte Deutung der Träume Pharaos von den fetten und mageren Kühen und Ähren als eine Abfolge von Rätseln aufgefasst werden kann.
Von diesen sprachlichen Rätseln unterscheiden sich sogenannte Lebensrätsel: Konstellationen, in denen ein Kleidungsstück als Zeichen verwendet wird und damit ein Rätsel bildet, das es zu lösen gilt. Ein Lebensrätsel liegt auch vor, als Joseph vom Ratenden zum Wissenden wird, indem er seinen Brüdern die Aufgabe stellt, in der Gestalt des ägyptischen Würdenträgers ihren verschollenen Bruder wiederzuerkennen. Schlussendlich zeigt sich, dass Josephs ganzes Leben als ein Rätsel Gottes angesehen werden kann, das auf die Erkenntnis der 'conditio humana' zielt: Wie kann ein Mensch ganz zu dem werden, der er sein soll?

Moderne deutsche Literatur (독일현대문학), 2022
Dieser Aufsatz untersucht die Vorstellung des Genies in Patrick Süskinds Roman "Das Parfum" (1985... more Dieser Aufsatz untersucht die Vorstellung des Genies in Patrick Süskinds Roman "Das Parfum" (1985) vor dem Hintergrund der traditionellen Genieästhetik. Er zeigt, dass der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille zwar viele Eigenschaften des Originalgenies aufweist, diese Darstellung im Text aber gezielt unterlaufen wird: Grenouille bringt sein Werk nicht nur aus sich selbst hervor, sondern erlernt und perfektioniert die Techniken und Fertigkeiten der Parfumeurskunst. Diese Vorstellung der Genies als eines
systematisch arbeitenden Handwerkers ist geprägt von Friedrich Nietzsches scharfsichtiger Kritik an der Genie-Ideologie.
Zugleich fragt der Aufsatz nach den Gründen für das Scheitern des Genies: Mit der Erschaffung des vollkommenen Parfums gelingt Grenouille ein triumphaler Erfolg – warum endet sein Leben trotzdem in Verzweiflung und Selbstmord? Dieses scheinbare Paradox hat seinen Grund in der Tatsache, dass der Protagonist als genuin moderne Figur erscheint, die über keine in sich geschlossene Persönlichkeit verfügt, was im Roman in seinem fehlenden Eigengeruch zum Ausdruck kommt. Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches Vorstellung des Genies als Schauspieler wird untersucht, wie Grenouille versucht, diesen essentiellen Mangel zu korrigieren, indem er sich einen Duft und damit eine Persönlichkeit erschafft. Er verzweifelt, weil diese Täuschung nur auf seine Mitmenschen wirkt, nicht aber auf ihn selbst, und dieses Scheitern illustriert die Grenzen der Genieästhetik unter den Bedingungen der Moderne.

Life Writing, 2022
This article analyses autofictional constellations and their role as
sources of humour in Günter ... more This article analyses autofictional constellations and their role as
sources of humour in Günter Grass’s "Beim Häuten der Zwiebel"
(‘Peeling the Onion’). Keenly aware of the unreliability of memory
and the transient nature of self, Grass is suspicious of any
autobiography’s claim to accurately represent past experiences.
He therefore recreates his life story by blending fact and fiction,
experience and imagination, literature and reality. Addressing the
limitations of Philippe Lejeune’s notion of the autobiographical
pact by offering alternative definitions of the terms
autobiography and autofiction, the category of ‘autofictional
interference’ is introduced to analyse the narrative constellation
in "Beim Häuten der Zwiebel". The article demonstrates how many
of the seemingly authentic experiences presented in the text are
shaped by literary allusions, either to Grass’s own works or, most
prominently, to Grimmelshausen’s picaresque novel "Der
abenteuerliche Simplicissimus". Grass uses these picaresque
patterns to present himself as a trickster figure, which accounts
for much of the humour in Beim Häuten der Zwiebel. Additional
humour is provided by the contradiction between the claim of
authenticity inherent to all autobiographical writing and the
author’s strategy to fictionalise himself and his life, creating a
structural form of autofictional humour.

Postfaktisches Erzählen? Post-Truth − Fake News − Narration, 2021
The rise of 'alternative facts' and the so-called Post-Truth era can be considered one of the mos... more The rise of 'alternative facts' and the so-called Post-Truth era can be considered one of the most significant developments in recent political and social history. Using Jean-François Lyotard's essay 'The Postmodern Condition' as a theoretical framework, this article explores the mechanisms that allow for the prolonged political influence of factually untrue statements from a narratologi-cal perspective. It analyzes how the legitimizing discourse of critical knowledge has fractured into a multitude of small narratives, each of which in turn constitutes the legitimizing foundation of a separate 'discursive bubble'. Some of the real-life consequences of this fragmentation are then illustrated with reference to the worldview and self-perception of white, Christian, conservative, middle-class Americans as described by Arlie Russell Hochschild in her book 'Strangers in Their Own Land' (2016).

Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen (독일어문화권연구), 2020
In summer 2020, young Korean author Kim Bong-gon (김봉곤) was accused of having incorporated private... more In summer 2020, young Korean author Kim Bong-gon (김봉곤) was accused of having incorporated private text messages into his stories "Summer, Speed" and "Such A Life" without consent, causing a public outcry and significant backlash: although Kim apologized for his transgression and returned a prestigious literary award, his books were recalled by the publishers, and readers were even offered a refund.
More than a century earlier, German author Thomas Mann faced similar allegations of having exposed friends and acquaintances to public ridicule by using their real appearances and mannerisms for the description of fictional characters in his debut novel "Buddenbrooks" (1901). As a reaction, Mann published "Bilse und ich" (1906): an eloquent and passionate defence of the autonomy of literature and the artist’s right to incorporate elements of the real world into his fiction.
In this essay, I reflect on the conflict between right to privacy and freedom of artistic expression that lies at the heart of both cases, focusing on the public reaction to the Kim Bong-gon controversy and its wider implications for Korean society.

카 프 카 연 구 (Kafka-Forschung), 2020
Im Jahr 1919 verfasst Franz Kafka einen langen Brief, in dem er das komplizierte Verhältnis zu se... more Im Jahr 1919 verfasst Franz Kafka einen langen Brief, in dem er das komplizierte Verhältnis zu seinem Vater Hermann ausführlich analysiert. Dieser Text, der als "Brief an den Vater" in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist, zeichnet sich durch eine eigentümliche Mittelstellung aus: Auf der einen Seite handelt es sich um ein persönliches Dokument, in dem Kafka Episoden aus seinem Leben sowie kindlichen Erfahrungen berichtet. Auf der anderen Seite steht außer Zweifel, dass der Autor seine Darstellung in hohem Maße literarisch gestaltet hat.
Diese Ambivalenz von Fiktionalität und Referenz hat seit langem das Interesse der literaturwissenschaftlichen Forschung auf sich gezogen. In diesem Aufsatz wird Kafkas Text zunächst mit den Begriffen und Konzepten der modernen Autobiographie-Theorie analysiert, um auf diese Weise herauszuarbeiten, wie sich fiktionale und referentielle Elemente zueinander verhalten und inwiefern es sich bei dem Brief an den Vater um ein autofiktionales Werk handelt. In einem zweiten Schritt werden die gewonnenen Ergebnisse dazu genutzt, zwei gängige Definitionen autobiographischen sowie autofiktionalen Schreibens auf ihre Eignung zu überprüfen, Kafkas komplexen Text adäquat zu beschreiben. Der vorliegende Beitrag eröffnet somit neue Einsichten sowohl in eines der interessantesten Werke Franz Kafkas als auch in den Bereich moderner Autobiographie-Theorie.

Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen (독일어문화권연구), Dec 2018
Obwohl Thomas Manns zwischen 1933 und 1943 erschienene Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“... more Obwohl Thomas Manns zwischen 1933 und 1943 erschienene Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ eine biblische Geschichte erzählt und somit in einer weit entfernten Vergangenheit spielt, handelt es sich doch um ein ausgesprochen politisches Werk. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat viele dieser Aspekte bereits herausgearbeitet, und in diesem Aufsatz wird eine weitere Dimension beleuchtet: Ausgehend von der Annahme, dass Kultur und Identität im Roman als narrative Konstrukte aufgefasst werden können, wird zunächst dargestellt, wie das Volk Israel seine kollektive Identität auf der Grundlage überlieferter Geschichten konstituiert. Anschließend wird gezeigt, dass Joseph sich an die fremde Kultur Ägyptens anpassen kann, ohne dabei seine kulturellen Wurzeln aufzugeben, weil die identitätsstiftenden Mythen, auf die er sich jeweils bezieht, große strukturelle Ähnlichkeit aufweisen. Im ‚Vorspiel: Höllenfahrt‘ schließlich wird diese Konstellation auf die gesamte Welt übertragen: Wenn alle Völker der Erde sich auf analoge konstituierende Narrative beziehen, dann verfügen sie, aller kulturellen Unterschiede ungeachtet, über eine gemeinsame interkulturelle Identität – und diese Botschaft bildet eine deutliche Absage an jede Art von Rassismus und Nationalismus.

Sebastian Donat, Martin Fritz, Monika Raič, Martin Sexl (Hg.): Interferenzen. Dimensionen und Phänomene der Überlagerung in Literatur und Theorie, Innsbruck 2018, S. 135-144., 2018
Auf den ersten Blick mag es überraschend und beinahe beliebig erscheinen, ausgerechnet das physik... more Auf den ersten Blick mag es überraschend und beinahe beliebig erscheinen, ausgerechnet das physikalische Konzept der Interferenz auf das Gebiet der Literatur-und Kulturwissenschaften zu übertragen, denn was hat die Überlagerung, gegenseitige Verstärkung oder Auslöschung von Licht-oder Schallwellen schon mit Texten, Theorien und diskursiven Konstellationen zu tun? Die Beiträge im vorliegenden Sammelband geben exemplarische Antworten auf diese Frage und demonstrieren damit die Anschlussfähigkeit und das interpretative Potential dieser terminologischen und konzeptionellen Übertragung. In meinem Aufsatz werde ich darlegen, dass sich auch das erzählerische Phänomen der Autofiktion als eine Form der Interferenz auffassen lässt, und zwar am Beispiel von Günter Grass' letztem Werk Grimms Wörter (2010). Bevor ich jedoch genauer auf mein Thema eingehen kann, ist es erforderlich, einige Begriffe und Kategorien aus dem Bereich der Autobiographie-Theorie zu erläutern, die für meine weiteren Ausführungen von Bedeutung sind.
History&Memory, 2017
This article seeks to demonstrate how the myth of Troy is still relevant to modern-day European c... more This article seeks to demonstrate how the myth of Troy is still relevant to modern-day European culture and identity, drawing on Gregor Feindt et al.’s concept of “entangled memory” as a theoretical foundation. In order to support this claim, it discusses Wolfgang Petersen’s movie Troy (2004), the successful exhibition Troy—Dream and Reality that opened in Germany in 2001; the heated debate sparked by this exhibition among German scholars; and the political discussion about Turkey’s unsuccessful application for membership in the European Union, in which references to Troy played a surprising role.

Germanisch-Romanische Monatsschrift, Sep 2016
In seinem letzten Werk ‚Grimms Wörter‘ (2010) verwebt Günter Grass die Lebensgeschichte der Brüde... more In seinem letzten Werk ‚Grimms Wörter‘ (2010) verwebt Günter Grass die Lebensgeschichte der Brüder Grimm mit Episoden seines eigenen Lebens. Die Besonderheit dieser Erzählperspektive besteht darin, dass er die eigenen Erlebnisse nicht aus der autobiographischen Perspektive des Augenzeugen berichtet, sondern sich selbst zur Figur macht, sich auf der Ebene der fiktionalen Welt in seine eigene Geschichte einschreibt und persönlich mit seinen Protagonisten interagiert. Als Folge dieser Selbst-Fiktionalisierung des Autors verschwimmen in ‚Grimms Wörter‘ die Gegensätze von Autobiographie und Roman, Fiktionalität und Referenz, was dazu führt, dass manche Szenen zugleich autobiographisch und fiktional erscheinen. Um dieses Phänomen zu beschreiben, wird in diesem Aufsatz auf der Grundlage von Philipp Lejeunes Konzept des ‚autobiographischen Pakts‘ der Begriff der ‚autofiktionalen Interferenz‘ entwickelt. In einem zweiten Schritt wird diese Kategorie dann dazu verwendet, die komplexe narrative Struktur von ‚Grimms Wörter‘ zu analysieren. (English Version below)
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In 'Grimms‘ Words', Günter Grass tells the story of the famous German scholars Jacob and Wilhelm Grimm, and combines these biographical episodes with recollections and anecdotes from his own life. While the autobiographical passages are naturally told from a first person perspective, so are the tales from the nineteenth century. Grass appears as a figure even in the fictional parts of his own work, interacts with the Grimm Brothers, and observes the events of their lives as an eye witness, blurring the lines between history and fiction, biography and autobiography: Certain scenes in 'Grimms’ Words' paradoxically seem to be autobiographical as well as fictional. In this paper I develop the concept of ‘autofictional interference’ to describe this unique phenomenon, using Philipp Lejeune’s notion of ‘autobiographical pact’ as a theoretical foundation. This newly coined category is subsequently used to analyze the complex narrative structure of Günter Grass’ final work.

In diesem Aufsatz wird dargelegt, dass Thomas Manns biblische Tetralogie ‚Joseph und seine Brüder... more In diesem Aufsatz wird dargelegt, dass Thomas Manns biblische Tetralogie ‚Joseph und seine Brüder‘ zentrale Postulate der romantischen Poetik adaptiert und auf inhaltlicher wie formaler Ebene erfüllt. In Übereinstimmung mit der Annahme der Romantik, hinter der ‚gewöhnlichen’ Oberfläche der Welt verberge sich eine andere, ‚phantastische’ Wirklichkeit, lässt sich in der mythischen Welt der Tetralogie jedes Geschehen auf kosmische Rollenbilder zurückführen, und Novalis’ berühmte Forderung nach einer ‚Romantisierung’ der Welt setzt Joseph um, indem er die eigene Person durch Selbstinszenierung und Redegabe für das Göttliche durchscheinend macht.
Auch auf der Ebene der Form erfüllt Joseph und seine Brüder die Anforderungen einer ‚progressiven Universalpoesie’, wie etwa die Enthüllung des Kunstwerks als Werk, die Einheit von Poesie und Kritik oder die Selbstreflexivität der romantischen Literatur: Von Anfang an wird Josephs Geschichte als ‚Nacherzählung’ und ‚Tempeltheater’ ausgewiesen von einem Erzähler, der nicht nur in essayistischen Einschüben Mythen- und Bibelkritik betreibt, sondern sich auch pausenlos Gedanken über die Möglichkeit des eigenen Erzählens macht. Allerdings bleibt Joseph nicht nur ein dem Mythos verhafteter ‚romantischer‘ Künstler, sondern lernt im Laufe seiner Entwicklung zugleich, als ‚Ernährer‘ gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Damit ist ‚Joseph und seine Brüder‘ ein Roman, der einerseits eindeutig von der Romantik beeinflusst ist, zugleich aber über diese Tradition hinausgeht und sie – ganz im Geiste der Romantik selbst – transzendiert.

In seinem philosophischen Roman 'Nachtzug nach Lissabon' (2004) erzählt Pascal Mercier die Geschi... more In seinem philosophischen Roman 'Nachtzug nach Lissabon' (2004) erzählt Pascal Mercier die Geschichte des Lehrers und Altphilologen Raimund Gregorius und seiner Suche nach dem portugiesischen Arzt, Poeten und Widerstandskämpfer Amadeu de Prado. Allem Anschein nach hat Prado ein glückliches Leben geführt, doch findet Gregorius bald heraus, dass er in Wahrheit von Ängsten und Selbstzweifeln geplagt wurde – eine Folge der erdrückenden Ansprüche seines übermächtigen Vaters, eines berühmten Richters.
Diese Konstellation eines Sohnes, der vergeblich versucht, sich dem väterlichen Einfluss zu entziehen und sich dabei in die schriftstellerische Tätigkeit flüchtet, erinnert an Franz Kafka und das in seinem Werk in vielfachen Formen auftretende Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes. Bezugnehmend auf Gérard Genettes Konzept der Hypertextualität als theoretische Grundlage demonstriere ich in diesem Aufsatz, dass der 'Nachtzug nach Lissabon' tatsächlich als Hypertext, der berühmte 'Brief an den Vater' (1919) aber als Hypotext angesehen werden kann, der in diesem Zusammenhang Kafkas gesamtes Werk repräsentiert: Bekannte Motive tauchen in Merciers Roman in abgewandelter Gestalt wieder auf, so dass die vorliegende Lesart nicht nur neue Einblicke in einen der erfolgreichsten zeitgenössischen deutschen Romane eröffnet, sondern darüber hinaus einen Beitrag zur Kafka-Rezeption leistet.
Thomas Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Andreas Blödorn u. Friedhelm Marx, Stuttgart: Metzler 2015, S. 285-287
J . B . M e t z l e r V e r l a g IV. Konzeptionen: Denkfiguren, Schreib weisen, Motive © J . B .... more J . B . M e t z l e r V e r l a g IV. Konzeptionen: Denkfiguren, Schreib weisen, Motive © J . B . M e t z l e r V e r l a g 3 Bürger vs. Künstler
Yuichi Kimura und Thomas Pekar (Hg.): Kulturkontakte. Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten, Bielefeld 2015, S. 171-196
Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage nach der Relation zwischen einer als 'textuell' versta... more Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage nach der Relation zwischen einer als 'textuell' verstandenen Kultur und einer persönlichen Identität, die mit Paul Ricœur als narratives Konstrukt gedacht wird. Anhand von Thomas Manns Roman 'Joseph und seine Brüder' sowie Manns eigenem Exil in den USA wird gezeigt, dass zwischen beiden Kategorien ein dynamisches Verhältnis besteht, und wie beide Exilanten - die literarische Figur wie der reale Autor - sich an ihr neues Umfeld anpassen, indem sie entweder die eigene Identität oder die sie umgebende Kultur neu deuten und damit teilweise (re-)konstruieren.
Andrea Bartl und Martin Kraus (Hg): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung. Bd. 2, Würzburg 2014, S. 253-278.
Im Gedenken an Walter Jens, der am 9. Juni 2013 im Alter von 90 Jahren in Tübingen verstorben ist.
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Papers by Christian Baier
Indem der vorliegende Aufsatz die Kunstfigur Fonty als Adaption Mann’scher Mythos-Vorstellungen im Geiste Walter Benjamins interpretiert, eröffnet er nicht nur eine neue Perspektive auf Günter Grass’ "Ein weites Feld". Die Analyse des Romans mittels dieser beiden kontrastierenden Mythos-Konzepte leistet darüber hinaus einen Beitrag zur vergleichenden Mythos-Forschung sowie zur Diskussion um das Verhältnis von Mythos und Moderne.
Using Charles Sanders Peirce’s triadic concept of the sign, Friedrich Nietzsche’s principle of the conven-tional nature of meaning and Jacques Derrida’s critique of Western metaphysics, I analyze mechanisms and limitations of somacentric signification. Exploring the reasons for its ultimate failure leads me to consider the social foundation of meaning as depicted within the two stories, addressing the question under which circumstances understanding and communication are possible in the works of Franz Kafka.
Thomas Manns biblischer Tetralogie "Joseph und seine Brüder". Nach einer Einführung in die Theorie der Gattung sowie einer Einordnung des Rätselmotivs in den Kontext des Romans werden zunächst zwei Beispiele für traditionelle Rätsel analysiert: eine mathematische Prüfungsaufgabe und ein Rätselspiel zu geistreicher Unterhaltung. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, dass Josephs berühmte Deutung der Träume Pharaos von den fetten und mageren Kühen und Ähren als eine Abfolge von Rätseln aufgefasst werden kann.
Von diesen sprachlichen Rätseln unterscheiden sich sogenannte Lebensrätsel: Konstellationen, in denen ein Kleidungsstück als Zeichen verwendet wird und damit ein Rätsel bildet, das es zu lösen gilt. Ein Lebensrätsel liegt auch vor, als Joseph vom Ratenden zum Wissenden wird, indem er seinen Brüdern die Aufgabe stellt, in der Gestalt des ägyptischen Würdenträgers ihren verschollenen Bruder wiederzuerkennen. Schlussendlich zeigt sich, dass Josephs ganzes Leben als ein Rätsel Gottes angesehen werden kann, das auf die Erkenntnis der 'conditio humana' zielt: Wie kann ein Mensch ganz zu dem werden, der er sein soll?
systematisch arbeitenden Handwerkers ist geprägt von Friedrich Nietzsches scharfsichtiger Kritik an der Genie-Ideologie.
Zugleich fragt der Aufsatz nach den Gründen für das Scheitern des Genies: Mit der Erschaffung des vollkommenen Parfums gelingt Grenouille ein triumphaler Erfolg – warum endet sein Leben trotzdem in Verzweiflung und Selbstmord? Dieses scheinbare Paradox hat seinen Grund in der Tatsache, dass der Protagonist als genuin moderne Figur erscheint, die über keine in sich geschlossene Persönlichkeit verfügt, was im Roman in seinem fehlenden Eigengeruch zum Ausdruck kommt. Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches Vorstellung des Genies als Schauspieler wird untersucht, wie Grenouille versucht, diesen essentiellen Mangel zu korrigieren, indem er sich einen Duft und damit eine Persönlichkeit erschafft. Er verzweifelt, weil diese Täuschung nur auf seine Mitmenschen wirkt, nicht aber auf ihn selbst, und dieses Scheitern illustriert die Grenzen der Genieästhetik unter den Bedingungen der Moderne.
sources of humour in Günter Grass’s "Beim Häuten der Zwiebel"
(‘Peeling the Onion’). Keenly aware of the unreliability of memory
and the transient nature of self, Grass is suspicious of any
autobiography’s claim to accurately represent past experiences.
He therefore recreates his life story by blending fact and fiction,
experience and imagination, literature and reality. Addressing the
limitations of Philippe Lejeune’s notion of the autobiographical
pact by offering alternative definitions of the terms
autobiography and autofiction, the category of ‘autofictional
interference’ is introduced to analyse the narrative constellation
in "Beim Häuten der Zwiebel". The article demonstrates how many
of the seemingly authentic experiences presented in the text are
shaped by literary allusions, either to Grass’s own works or, most
prominently, to Grimmelshausen’s picaresque novel "Der
abenteuerliche Simplicissimus". Grass uses these picaresque
patterns to present himself as a trickster figure, which accounts
for much of the humour in Beim Häuten der Zwiebel. Additional
humour is provided by the contradiction between the claim of
authenticity inherent to all autobiographical writing and the
author’s strategy to fictionalise himself and his life, creating a
structural form of autofictional humour.
More than a century earlier, German author Thomas Mann faced similar allegations of having exposed friends and acquaintances to public ridicule by using their real appearances and mannerisms for the description of fictional characters in his debut novel "Buddenbrooks" (1901). As a reaction, Mann published "Bilse und ich" (1906): an eloquent and passionate defence of the autonomy of literature and the artist’s right to incorporate elements of the real world into his fiction.
In this essay, I reflect on the conflict between right to privacy and freedom of artistic expression that lies at the heart of both cases, focusing on the public reaction to the Kim Bong-gon controversy and its wider implications for Korean society.
Diese Ambivalenz von Fiktionalität und Referenz hat seit langem das Interesse der literaturwissenschaftlichen Forschung auf sich gezogen. In diesem Aufsatz wird Kafkas Text zunächst mit den Begriffen und Konzepten der modernen Autobiographie-Theorie analysiert, um auf diese Weise herauszuarbeiten, wie sich fiktionale und referentielle Elemente zueinander verhalten und inwiefern es sich bei dem Brief an den Vater um ein autofiktionales Werk handelt. In einem zweiten Schritt werden die gewonnenen Ergebnisse dazu genutzt, zwei gängige Definitionen autobiographischen sowie autofiktionalen Schreibens auf ihre Eignung zu überprüfen, Kafkas komplexen Text adäquat zu beschreiben. Der vorliegende Beitrag eröffnet somit neue Einsichten sowohl in eines der interessantesten Werke Franz Kafkas als auch in den Bereich moderner Autobiographie-Theorie.
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In 'Grimms‘ Words', Günter Grass tells the story of the famous German scholars Jacob and Wilhelm Grimm, and combines these biographical episodes with recollections and anecdotes from his own life. While the autobiographical passages are naturally told from a first person perspective, so are the tales from the nineteenth century. Grass appears as a figure even in the fictional parts of his own work, interacts with the Grimm Brothers, and observes the events of their lives as an eye witness, blurring the lines between history and fiction, biography and autobiography: Certain scenes in 'Grimms’ Words' paradoxically seem to be autobiographical as well as fictional. In this paper I develop the concept of ‘autofictional interference’ to describe this unique phenomenon, using Philipp Lejeune’s notion of ‘autobiographical pact’ as a theoretical foundation. This newly coined category is subsequently used to analyze the complex narrative structure of Günter Grass’ final work.
Auch auf der Ebene der Form erfüllt Joseph und seine Brüder die Anforderungen einer ‚progressiven Universalpoesie’, wie etwa die Enthüllung des Kunstwerks als Werk, die Einheit von Poesie und Kritik oder die Selbstreflexivität der romantischen Literatur: Von Anfang an wird Josephs Geschichte als ‚Nacherzählung’ und ‚Tempeltheater’ ausgewiesen von einem Erzähler, der nicht nur in essayistischen Einschüben Mythen- und Bibelkritik betreibt, sondern sich auch pausenlos Gedanken über die Möglichkeit des eigenen Erzählens macht. Allerdings bleibt Joseph nicht nur ein dem Mythos verhafteter ‚romantischer‘ Künstler, sondern lernt im Laufe seiner Entwicklung zugleich, als ‚Ernährer‘ gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Damit ist ‚Joseph und seine Brüder‘ ein Roman, der einerseits eindeutig von der Romantik beeinflusst ist, zugleich aber über diese Tradition hinausgeht und sie – ganz im Geiste der Romantik selbst – transzendiert.
Diese Konstellation eines Sohnes, der vergeblich versucht, sich dem väterlichen Einfluss zu entziehen und sich dabei in die schriftstellerische Tätigkeit flüchtet, erinnert an Franz Kafka und das in seinem Werk in vielfachen Formen auftretende Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes. Bezugnehmend auf Gérard Genettes Konzept der Hypertextualität als theoretische Grundlage demonstriere ich in diesem Aufsatz, dass der 'Nachtzug nach Lissabon' tatsächlich als Hypertext, der berühmte 'Brief an den Vater' (1919) aber als Hypotext angesehen werden kann, der in diesem Zusammenhang Kafkas gesamtes Werk repräsentiert: Bekannte Motive tauchen in Merciers Roman in abgewandelter Gestalt wieder auf, so dass die vorliegende Lesart nicht nur neue Einblicke in einen der erfolgreichsten zeitgenössischen deutschen Romane eröffnet, sondern darüber hinaus einen Beitrag zur Kafka-Rezeption leistet.
Indem der vorliegende Aufsatz die Kunstfigur Fonty als Adaption Mann’scher Mythos-Vorstellungen im Geiste Walter Benjamins interpretiert, eröffnet er nicht nur eine neue Perspektive auf Günter Grass’ "Ein weites Feld". Die Analyse des Romans mittels dieser beiden kontrastierenden Mythos-Konzepte leistet darüber hinaus einen Beitrag zur vergleichenden Mythos-Forschung sowie zur Diskussion um das Verhältnis von Mythos und Moderne.
Using Charles Sanders Peirce’s triadic concept of the sign, Friedrich Nietzsche’s principle of the conven-tional nature of meaning and Jacques Derrida’s critique of Western metaphysics, I analyze mechanisms and limitations of somacentric signification. Exploring the reasons for its ultimate failure leads me to consider the social foundation of meaning as depicted within the two stories, addressing the question under which circumstances understanding and communication are possible in the works of Franz Kafka.
Thomas Manns biblischer Tetralogie "Joseph und seine Brüder". Nach einer Einführung in die Theorie der Gattung sowie einer Einordnung des Rätselmotivs in den Kontext des Romans werden zunächst zwei Beispiele für traditionelle Rätsel analysiert: eine mathematische Prüfungsaufgabe und ein Rätselspiel zu geistreicher Unterhaltung. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, dass Josephs berühmte Deutung der Träume Pharaos von den fetten und mageren Kühen und Ähren als eine Abfolge von Rätseln aufgefasst werden kann.
Von diesen sprachlichen Rätseln unterscheiden sich sogenannte Lebensrätsel: Konstellationen, in denen ein Kleidungsstück als Zeichen verwendet wird und damit ein Rätsel bildet, das es zu lösen gilt. Ein Lebensrätsel liegt auch vor, als Joseph vom Ratenden zum Wissenden wird, indem er seinen Brüdern die Aufgabe stellt, in der Gestalt des ägyptischen Würdenträgers ihren verschollenen Bruder wiederzuerkennen. Schlussendlich zeigt sich, dass Josephs ganzes Leben als ein Rätsel Gottes angesehen werden kann, das auf die Erkenntnis der 'conditio humana' zielt: Wie kann ein Mensch ganz zu dem werden, der er sein soll?
systematisch arbeitenden Handwerkers ist geprägt von Friedrich Nietzsches scharfsichtiger Kritik an der Genie-Ideologie.
Zugleich fragt der Aufsatz nach den Gründen für das Scheitern des Genies: Mit der Erschaffung des vollkommenen Parfums gelingt Grenouille ein triumphaler Erfolg – warum endet sein Leben trotzdem in Verzweiflung und Selbstmord? Dieses scheinbare Paradox hat seinen Grund in der Tatsache, dass der Protagonist als genuin moderne Figur erscheint, die über keine in sich geschlossene Persönlichkeit verfügt, was im Roman in seinem fehlenden Eigengeruch zum Ausdruck kommt. Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches Vorstellung des Genies als Schauspieler wird untersucht, wie Grenouille versucht, diesen essentiellen Mangel zu korrigieren, indem er sich einen Duft und damit eine Persönlichkeit erschafft. Er verzweifelt, weil diese Täuschung nur auf seine Mitmenschen wirkt, nicht aber auf ihn selbst, und dieses Scheitern illustriert die Grenzen der Genieästhetik unter den Bedingungen der Moderne.
sources of humour in Günter Grass’s "Beim Häuten der Zwiebel"
(‘Peeling the Onion’). Keenly aware of the unreliability of memory
and the transient nature of self, Grass is suspicious of any
autobiography’s claim to accurately represent past experiences.
He therefore recreates his life story by blending fact and fiction,
experience and imagination, literature and reality. Addressing the
limitations of Philippe Lejeune’s notion of the autobiographical
pact by offering alternative definitions of the terms
autobiography and autofiction, the category of ‘autofictional
interference’ is introduced to analyse the narrative constellation
in "Beim Häuten der Zwiebel". The article demonstrates how many
of the seemingly authentic experiences presented in the text are
shaped by literary allusions, either to Grass’s own works or, most
prominently, to Grimmelshausen’s picaresque novel "Der
abenteuerliche Simplicissimus". Grass uses these picaresque
patterns to present himself as a trickster figure, which accounts
for much of the humour in Beim Häuten der Zwiebel. Additional
humour is provided by the contradiction between the claim of
authenticity inherent to all autobiographical writing and the
author’s strategy to fictionalise himself and his life, creating a
structural form of autofictional humour.
More than a century earlier, German author Thomas Mann faced similar allegations of having exposed friends and acquaintances to public ridicule by using their real appearances and mannerisms for the description of fictional characters in his debut novel "Buddenbrooks" (1901). As a reaction, Mann published "Bilse und ich" (1906): an eloquent and passionate defence of the autonomy of literature and the artist’s right to incorporate elements of the real world into his fiction.
In this essay, I reflect on the conflict between right to privacy and freedom of artistic expression that lies at the heart of both cases, focusing on the public reaction to the Kim Bong-gon controversy and its wider implications for Korean society.
Diese Ambivalenz von Fiktionalität und Referenz hat seit langem das Interesse der literaturwissenschaftlichen Forschung auf sich gezogen. In diesem Aufsatz wird Kafkas Text zunächst mit den Begriffen und Konzepten der modernen Autobiographie-Theorie analysiert, um auf diese Weise herauszuarbeiten, wie sich fiktionale und referentielle Elemente zueinander verhalten und inwiefern es sich bei dem Brief an den Vater um ein autofiktionales Werk handelt. In einem zweiten Schritt werden die gewonnenen Ergebnisse dazu genutzt, zwei gängige Definitionen autobiographischen sowie autofiktionalen Schreibens auf ihre Eignung zu überprüfen, Kafkas komplexen Text adäquat zu beschreiben. Der vorliegende Beitrag eröffnet somit neue Einsichten sowohl in eines der interessantesten Werke Franz Kafkas als auch in den Bereich moderner Autobiographie-Theorie.
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In 'Grimms‘ Words', Günter Grass tells the story of the famous German scholars Jacob and Wilhelm Grimm, and combines these biographical episodes with recollections and anecdotes from his own life. While the autobiographical passages are naturally told from a first person perspective, so are the tales from the nineteenth century. Grass appears as a figure even in the fictional parts of his own work, interacts with the Grimm Brothers, and observes the events of their lives as an eye witness, blurring the lines between history and fiction, biography and autobiography: Certain scenes in 'Grimms’ Words' paradoxically seem to be autobiographical as well as fictional. In this paper I develop the concept of ‘autofictional interference’ to describe this unique phenomenon, using Philipp Lejeune’s notion of ‘autobiographical pact’ as a theoretical foundation. This newly coined category is subsequently used to analyze the complex narrative structure of Günter Grass’ final work.
Auch auf der Ebene der Form erfüllt Joseph und seine Brüder die Anforderungen einer ‚progressiven Universalpoesie’, wie etwa die Enthüllung des Kunstwerks als Werk, die Einheit von Poesie und Kritik oder die Selbstreflexivität der romantischen Literatur: Von Anfang an wird Josephs Geschichte als ‚Nacherzählung’ und ‚Tempeltheater’ ausgewiesen von einem Erzähler, der nicht nur in essayistischen Einschüben Mythen- und Bibelkritik betreibt, sondern sich auch pausenlos Gedanken über die Möglichkeit des eigenen Erzählens macht. Allerdings bleibt Joseph nicht nur ein dem Mythos verhafteter ‚romantischer‘ Künstler, sondern lernt im Laufe seiner Entwicklung zugleich, als ‚Ernährer‘ gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Damit ist ‚Joseph und seine Brüder‘ ein Roman, der einerseits eindeutig von der Romantik beeinflusst ist, zugleich aber über diese Tradition hinausgeht und sie – ganz im Geiste der Romantik selbst – transzendiert.
Diese Konstellation eines Sohnes, der vergeblich versucht, sich dem väterlichen Einfluss zu entziehen und sich dabei in die schriftstellerische Tätigkeit flüchtet, erinnert an Franz Kafka und das in seinem Werk in vielfachen Formen auftretende Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes. Bezugnehmend auf Gérard Genettes Konzept der Hypertextualität als theoretische Grundlage demonstriere ich in diesem Aufsatz, dass der 'Nachtzug nach Lissabon' tatsächlich als Hypertext, der berühmte 'Brief an den Vater' (1919) aber als Hypotext angesehen werden kann, der in diesem Zusammenhang Kafkas gesamtes Werk repräsentiert: Bekannte Motive tauchen in Merciers Roman in abgewandelter Gestalt wieder auf, so dass die vorliegende Lesart nicht nur neue Einblicke in einen der erfolgreichsten zeitgenössischen deutschen Romane eröffnet, sondern darüber hinaus einen Beitrag zur Kafka-Rezeption leistet.
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Rezensionen
1. Ruprecht Wimmer: Rezension. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 54 (2013), S. 460-465.
2. Joseph A. Kruse: Rezension, in: Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographi-schen Hinweisen 53 (2012), Heft 1-2, S. 245.
3. Bastian Schlüter: Das moderne Genie von der Einsamkeit in die humane Vergemeinschaftung, auf IASL online:
http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3656
4. Markus Lorenz: Zwischen Sowohl und Sowohl-als-auch, literaturkritik.de:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16102
Im Zuge des sogenannten cultural turn, der sich in Deutschland in den 1990er Jahren vollzogen hat, waren die bisher geisteswissenschaftlichen Fächer, die sich plötzlich als Kulturwissenschaften verstehen sollten, tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. So sah sich die Literaturwissenschaft mit der Forderung konfrontiert, nicht mehr nur literarische Werke oder Texte des täglichen Gebrauchs in den Mittelpunkt ihres Untersuchungsinteresses zu stellen, sondern, in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen kulturwissenschaftlichen Fächern, kulturelle Phänomene aller Art wie Rituale, politische Machtstrukturen oder gesellschaftliche Konstellationen.
Eine Möglichkeit, das Verhältnis von Text und kulturellem Kontext zu denken, bildet die Vorstellung der Textualität der Kultur, die von Stephen Greenblatt, Louis Montrose und anderen Vertretern des New Historicism unter Bezugnahme auf den Kulturbegriff des Ethnologen Clifford Geertz entwickelt wurde. Geertz versteht unter Kultur „Netzwerk von bedeutungstragenden Verknüpfungen“ (Geertz 1973), dem ein semiotischer, also ein textueller Charakter eigen ist. Dieses analytische Modell eröffnet die Möglichkeit eines bruchlosen Übergangs zwischen einem zu untersuchenden Text und dem ihn umgebenden Kontext – eines Übergangs, der in beide Richtungen funktioniert: Anders als in der traditionellen Einflussforschung wird ein Text nicht mehr nur als das Produkt zeitgenössischer Einflüsse angesehen und in einen bereits existierenden Kontext eingeordnet, sondern die Auffassung der Kultur als eines semiotischen Geflechts führt zu einer „dynamischen“ Wechselbeziehung zwischen Text und Kontext, der auch seinerseits aus Texten besteht bzw. „textuelles“ Gepräge hat. Die hier skizzierte Auffassung von der Textualität der Kultur und der Kulturalität von Texten bildet den Ausgangspunkt für die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes.
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After the ‘cultural turn’ of the 1990s redefined the traditional humanities under the label “Cultural Studies”, literary studies were confronted with new challenges. Suddenly, instead of concentrating mainly on literary works or texts from everyday life, they were expected to analyse and explain cultural phenomena such as rituals, structures of power or social constellations, using interdisciplinary methods.
One possibility for conceptualizing the relationship between text and context is the notion of the ‘textuality of culture’. This idea was coined by Stephen Greenblatt, Louis Montrose, and other scholars of "the New Historicism," referring to a concept of culture first developed by the ethnologist Clifford Geertz. To Geertz, culture is a “web of significance” of a semiotic and textual nature (Geertz 1973). Assuming a dynamic rather than a static relationship, this analytical model allows for fluent interactions between text and context: No longer is a text just considered to be a product of cultural influences set within a given context. Instead, this context, being a web of signs, was understood to be itself ‘textual’, creating unfulfilled potentials of meaning. Only by being ‘read’ and actualized, are these cultural meanings solidified and thus made real. These notions of the ‘culturality of texts’ and the ‘textuality of culture’ constitute the common methodological assumptions of all the articles assembled in this volume.
Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Text und Kommentar. 2 vols. in 2 pts. Eds. Jan Assmann, et al. (Vols. 7(1–2) and 8(1–2) of Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke — Briefe — Tagebücher. Eds. Heinrich Detering, et al.) Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2018.