Ich habe eine Verabredung zum bloggen mit Simone von Mein weisser Elefant.
Jede von uns schreibt über einen langen gemeinsamen Stadtspaziergang neulich in Istanbul.
Die Idee kam irgendwie herangeflogen, auch inspiriert durch die Blogverabredungen von Novemberregen und Frau Fragmente.
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Eigentlich bin ich mit der Kamera am liebsten alleine unterwegs. Ich bin überhaupt sehr gerne alleine unterwegs, ich mag das. Das schweigsame Alleinsein hilft mir, mich mit der Welt um mich herum zu verbinden, gedankenlos in den Moment zu fallen. Die Richtung wechseln, ohne es besprechen zu müssen. Verharren, verweilen, entdecken, in Situationen und Begebnisse geraten, die eben nur dann so passieren, wie sie passieren, wenn man alleine unterwegs ist, weil alle Antennen komplett freien Empfang haben.
Simone ist auch am liebsten alleine unterwegs, aber seit einigen Jahren laufen wir hin und wieder auch mal gemeinsam stundenlang durch Istanbul, und wundern uns dann, wie gut das klappt. An einem Sonntag im Juli treffen wir uns am Anleger in Karaköy und nehmen die Fähre nach Sütlüce, ein Stadtteil, in dem wir beide bislang nicht waren.
Istanbul (und überhaupt fremde Orte) zu erkunden ist für mich nicht an Sehenswürdigkeiten orientiert. Mich zieht es dorthin, wo das alltägliche, vermeintlich belanglose Leben stattfindet, mich interessiert der Rhythmus, der Klang, der Geruch, die Stimmung in den Straßen. Wie leben die Menschen hier, was für Menschen leben hier, wie sind die so? Wie ist es sonntags, wie ist es montags, wie ist es in diesem Viertel und wie in jenem?
Menschen anzusprechen und zu fotografieren geht auch wenn man zu zweit unterwegs ist; Ruhe für ein Gespräch habe ich aber nicht. Hier sitzt ein Schneider auf der Strasse gegenüber seines Ladens und macht Pause. Sonntags ist nicht viel los in den Straßen, viele Geschäfte haben aber trotzdem auf.
Links im Bild der Sohn der Bäckerin, bei der wir eine Pause machen. Er ist total außer Rand und Band, dass Touristen da sind und er fragt sicherheitshalber nochmal nach: Ja, bestätigen wir, wir sind extra und absichtlich nach Sütlüce hergekommen, wirklich wahr. Er guckt uns demonstrativ verblüfft an und zieht eine Grimasse, als wären wir nicht ganz dicht. Dann holt er seine Freundin herbei, die soll uns auch sehen. Die beiden möchten uns unbedingt die Moschee zeigen und geben uns dann noch allerlei Tipps, beispielsweise, wo man schwimmen kann. Das erklärt uns der Junge nachdrücklich und mit Vehemenz, er scheint davon auszugehen, dass Touristen immer schwimmen möchten. Leider habe ich die Namen der beiden vergessen, unverzeihlich.
Das Brot möge man mit den Augen wählen, nicht mit den Händen, steht auf dem Schild. Die Bäckerin möchte nicht aufs Bild, aber sie holt eine Frau aus der Backstube nach vorne, die allerlei Häkelarbeiten vor uns ausbreitet. Ich bestaune die Auswahl und kaufe eine kleine rote Tasche, die aus sehr festem Sisal-Garn gehäkelt ist.
Istanbul ist eine Stadt mit vielen Hügeln und steilen Straßen. Die Bürgersteige mit teils abenteuerlichen Bordsteinkanten sind häufig sehr schmal und oft von ein paar rumpeligen Treppenstufen unterbrochen, damit es nicht ganz so steil zugeht. Mitten auf dem Weg wächst schon mal ein Bäumchen. Die Autos stehen meist dicht an dicht, obwohl oder gerade weil auf den Bürgersteigen Metallbügel und Steinklötze das parken erschweren sollen. Eins ist Istanbul sicher nicht: behindertengerecht oder barrierefrei.
Simone in Sütlüce. Wir sind schon so lange befreundet, dass wir in naher Zukunft eine 40 auf die Torte malen können.
Ich frage die Männer, ob ich ein Foto machen kann und ja, ich darf. „Das kostet aber 50 Lira“, sagt einer der Männer und alle lachen über seinen Witz. Dann möchten sie die Fotos in der Kamera angucken und ich antworte: „Das kostet aber 50 Lira.“
Alle lachen, ich auch. Im weggehen höre ich, dass sie sich die Situation gegenseitig nochmal erzählen und damit ihren Spaß haben.
Die Moschee wurde 1804 fertiggestellt, die Haliç-Köprüsü, eine von vier Brücken die das Goldene Horn überqueren, kam 170 Jahre später dazu. Leider hatte ich kein passendes Objektiv dabei, um die Minarette abzubilden.
Die Fatih Sultan Mehmet Vakıf Üniversitesi unter der Brücke. Sütlüce endet hier, unser Stadtspaziergang aber nicht. Wir entscheiden, dass wir nicht die Fähre nehmen, sondern lieber – möglichst in Ufernähe – zurück nach Karaköy laufen wollen.
Wen der ganze Weg interessiert: Unten ist eine Karte angefügt1 mit Rückweg zu (ungefähr) dieser Textstelle.
Der Weg führt uns zunächst weg vom goldenen Horn durch halbindustrielles Hinterland. Viele der alten Hallen scheinen leer zu stehen, hohe Bauzäune begrenzen immer wieder Sicht und Weg. Auf ehemaligem Werftgelände am goldenen Horn entsteht zwischen den Stadtteilen Hasköy und Kasımpaşa eines der Istanbuler Mega-Bau-Projekte: Tersane. Die Abbildungen auf den Bauzaun-Planen zeigen die glattgebügelte Plastik-Fantastik-Welt des Luxus und die übliche ermüdende Verheißung von Shopping-Tempeln, ergänzt um ein bisschen Kultur. Vorne dran ein Yachthafen; über den Bosporus schippern mehr und mehr teure Yachten, die Anzahl hat sich drastisch erhöht, so viele wie in diesem Jahr habe ich noch nie gesehen. Gleich mehrere Luxus-Hotels entstehen auf dem neuen Areal, Büros und Wohnungen wird es geben für jene, die Geld haben, ebenso Lofts und Serviced Appartements.
Die Gegenwart zeigt ein anderes Bild. In den Strassen hinter Tersane ist von Reichtum nichts zu sehen. Hier leben ganz normale Menschen, die mit eher wenig Geld haushalten müssen, in engen verkrumpelten Vierteln mit bröckelnden Pflastersteinen, Wäscheleinen und baumelnden Stromkabeln.
Die Viertel entlang des goldenen Horns sind traditionell Arbeiterviertel; Werften, der Schlachthof, Industrie- und Handwerksbetriebe waren und/oder sind hier angesiedelt. Das goldene Horn führte lange Zeit nur vergiftetes Brackwasser, so ist zu lesen, weil die ansässige Industrie sämtliches Abwasser ungeklärt dort abgelassen hat. Einige Betriebe, wie der Schlachthof in Sütlüce wurden geschlossen oder umgelagert, das Goldene Horn in aufwändiger Prozedur gereinigt. Seitdem sind die Stadtgebiete dort für den Immobilienmarkt interessant geworden. Parks und öffentliche Sportstätten wurden eingerichtet und zahlreiche Baustellen erzählen vom Wandel, der arme oder normal verdienende Menschen über kurz oder lang verdrängen wird.
Ein Müllsammler am Rande des Galata-Viertels. 500.000 Müllsammler gibt es in der Türkei laut dieses Berichts auf DW. Der Müll wird nicht getrennt in der Türkei; alles landet in den Müllcontainern, die in den Straßen bereit stehen. Die Müllsammler sammeln Plastik, Pappe und recycelbare Wertstoffe aller Art, die dann in Sammelstellen zu Kilopreisen sortiert und abgeliefert werden. Zu sehen sind die Müllsammler in Istanbul überall und zu jeder Tageszeit. Noch, denn in Zukunft sollen private Unternehmen den dann bereits getrennten Müll einsammeln. „Wem gehört der Abfall?“ fragt diese Arte Reportage (dort leider ohne Video, hier bei youtube ist der Film zu sehen).
Im Film gibt es eine Szene, in der Orhan der Müllsammler am Ende des Tages seinen Verdienst ausgezahlt bekommt: „48 türkische Lira“, sagt er und hält den Taschenrechner in die Kamera, „Knapp 5 Euro.“
Der Film ist aus dem Jahr 2021. Heute, in Zeiten der Inflation, sind 48 Türkische Lira nur noch ca. die Hälfte wert: 2,64 €. Die Lebensmittelpreise hingegen sind rasant gestiegen, sie haben sich nahezu verdoppelt, teilweise sogar mehr als das.
An breiten, mehrspurigen Strassen entlang führt unser Weg schließlich zur Atatürk-Brücke, die wir unterqueren müssen, um ans Ufer des Goldenen Horn zu gelangen. Durch den Azapkapı Sahil Parkı laufen wir bis zur Galata-Brücke und lungern dort an der Mündung zum Bosporus noch ein bisschen in der tief stehenden Abendsonne herum.
Ich bin nun wirklich sehr gespannt, wie sich dieser Ausflug bei Mein weisser Elefant liest. Vermutlich sehr anders, wie ich uns so kenne.
Das ist die ungefähre Strecke, grob hingekrickelt.
Für alle die den Sprunglink genutzt haben: einfach auf den Pfeil, dann gehts zurück nach oben. Diesen tollen Trick habe ich der Kaltmamsell abgeguckt.⇑ ⇑ ⇑
Und falls ich die letzte auf der Sprunglinkparty bin: seien Sie gnädig und helfen mir bitte über die Straße.
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Mit viel Freude verfolge ich übrigens derzeit die Urlaubsberichte aus Prag von Frau Novemberregen und Frau Herzbruch.
Kurzweilig und vergnüglich, der eine oder andere Seitenhieb in inniger Verbundenheit, und es gibt auch was zu lernen, z.B. dass Zuhören Leben retten kann. Was ich immer sage!
Ach ist das schön. Und wie aufregend es war, zusammen über einen Tag zu schreiben.
Skurril, auf dem Schild und auf dem Stein das Rollstuhlsymbol zu sehen und es in nicht harmonierenden Einklang zu bringen mit Deinen Bildern und Worten und einigen Informationen, die ich aus meinem persönlichen Umfeld über Istanbul habe. Was kennzeichnet das Schild dort eigentlich? Einen – barrierefreien ?? – Parkplatz an der Straße? Ich frage mich – nicht erst jetzt: Sieht man in dieser Stadt mobilitätseingeschränkte Menschen? Wenn ja, wie bewegen sie sich in ihr? Wie gehen sie mit ihren nicht mobilitätseingeschränkten Mitmenschen um, wie reagieren diese auf die mobilitätseingeschränkten Menschen?
Fast 40 Jahre Freundschaft – die Torte anlässlich dieses beeindruckenden Jubiläums solltet Ihr in jener Bäckerei backen lassen, deren Bäckerin nicht aufs Foto wollte!
Nun lese ich, was „Mein weisser Elefant“ zum Ausflug schreibt.
Liebe Anna, das ist, wie ich annehme, ein Anwohnerbehindertenparkplatz. So steil wie es an der Stelle ist vermutlich nicht für einen Rollstuhlfahrer, wobei man sich da ja nicht sicher sein kann. Es ist wirklich nicht leicht in Istanbul für Menschen mit Einschränkungen aller Art.
Auf der Hinfähre war ein Mann mit Handrad, wie ich Istanbul erlebe ist ja allerorten viel Freundlichkeit unter den Menschen, das ist vermutlich eher nicht das Problem. Aber die steilen Straßen sind definitiv eins. Steile Straßen gibts ja nun überall, außer vielleicht in Köln, aber der Zustand macht es natürlich nicht leichter. Leider kann ich deine Fragen nicht gut beantworten; ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen in Istanbul und ehrlich gesagt kann ich aus meinen Beobachtungen nur sagen; ich sehe oft Menschen mit Gehbehinderungen, aber Rollstuhl? Nein. Oder wenn dann fällt es auf. Ähnlich ist es übrigens mit Radfahrer*innen.
Ich habe mich sehr über die Karte mit der Route gefreut und dann gleich auch den Wikipediaeintrag zu Sütlüce (englisch) und dem Goldenen Horn (deutsch) gelesen. Ich kannte von dem nur den Namen, ohne eigentlich zu wissen, was das genau ist.
Und Menschen fotografieren, so schön.
Ach, das freut mich, dann hatte die Karte ja einen Sinn.
Einen englischen Wikipedia Eintrag habe ich gar nicht gefunden; nur den türkischen.
Hab eben noch mal geguckt, zugegeben hurtig, nix gefunden.
Ist nicht viel: https://en.wikipedia.org/wiki/Sütlüce,_Beyoğlu
Ach, so ein Artikel lässt mich ja doch überlegen, ob ich mein Fernweh doch mal auch nach Süden richten sollte. Danke für den schönen Bericht!
Wie schön! Obwohl ich einige Jahre in Istanbul gelebt habe,war ich nie wirklich in Sütlüce.
Du scheinst inzwischen Türksch gelernt zu haben, beeindruckend!
Oh nein, ich hab nicht türkisch gelernt, ich habe e t w a s türkisch gelernt und vor jedem Besuch in Instanbul muss ich mühsam auffrischen. Dabei lerne ich dann immer etwas dazu, aber insgesamt denke ich sehr oft, dass ich inzwischen viel, viel besser sprechen müsste.
Danke, dass du das alles gelesen hast, ist ja etwas lang geworden… liebe Grüße!