Vom Recht auf Leid

„Das Glücksdiktat“ von Edgar Cabanas und Eva Illouz führt uns den Wert des Pessimismus vor Augen

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte vom Tellerwäscher, der durch harte Arbeit und optimistische Zielstrebigkeit zum Millionär wird, ist ein Mythos. Gelingt dieser Sprung in der Realität wenn überhaupt nur den Allerwenigsten, wirkt der Mythos mehr oder weniger bewusst auf Massen. Als Motivationsformel kann er den Einzelnen dazu anhalten, Widrigkeiten und Niederlagen zu ertragen, immer wieder zurückzustecken und nicht aufzugeben – ohne je zu wissen, ob er sein Ziel erreichen wird.

Um die Wissenschaft von der Positivität und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft geht es den beiden Autoren von Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht, das 2019 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Der spanische Psychologe Edgar Cabanas und die israelische Soziologin Eva Illouz, Expertin für Emotionen im Konsumkapitalismus, nehmen darin eine Forschungsrichtung auseinander, die sich von Illusionen nährt.

Unsere heutige Vorstellung vom Glück ist im Grunde nicht besonders alt: Sie wurde Cabanas und Illouz zufolge in den 1950er Jahren von Ökonomen der Chicagoer Schule geprägt, floriert mit der Positiven Psychologie seit den 1990er Jahren und stand von Anfang an Pate für die weltweite neoliberale Revolution. Ihre Haltung zur Glücksforschung machen die Autoren gleich zu Beginn deutlich: Es handele sich um eine Pseudowissenschaft, deren Postulate und Logik sich durchweg als fehlerhaft erwiesen. Ihr Buch will aufzeigen, welche gesellschaftlichen Akteure die Idee des Glücks für sich nutzen, welchen Interessen sie dient und worin die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen ihrer Anwendung in der Gesellschaft bestehen.

Im Fokus der Kritik steht der US-amerikanische Psychologe und Bestsellerautor Martin Seligman, der Bücher wie Flourish – Wie Menschen aufblühen, Wahre Freude oder Pessimisten küsst man nicht schrieb. Der Begründer der Positiven Psychologie beschreibt beispielhaft zwei Typen von Menschen, Douglas und Walter, die von ihren Wall-Street-Arbeitgebern entlassen wurden. Zwar geraten beide ins Trudeln, doch Douglas fängt sich schon nach zwei Wochen wieder – dank seiner positiven Einstellung. Er bewirbt sich etliche Male, bis er eine Stelle findet. Walter dagegen versinkt in Depressionen, genährt durch Selbstzweifel und Pessimismus. Können aus Walters Douglasse werden? Diese Frage stellt Seligman und sie ist exemplarisch für die Positive Psychologie, die ein nicht ungefährliches, da normatives Verständnis von emotionaler Gesundheit voraussetzt.

Cabanas und Illouz werfen solchen Darstellungen vor, dass sie Glück wie auch Leid als persönliche Entscheidung behandeln. Positivität mache die Menschen für den Großteil ihres Unglücks und ihrer faktischen Machtlosigkeit selbst verantwortlich. Das Glücksdiktat liest sich darum wie ein Pamphlet für das Recht auf Leid und auf die persönliche Machtlosigkeit – und richtet sich damit gegen den Neoliberalismus und seine Werte.

Den Neoliberalismus begreifen die Autoren „als ein neues Stadium des Kapitalismus“. Dieses zeichne sich unter anderem aus durch die Ausdehnung der Wirtschaft auf alle Bereiche der Gesellschaft, die Zunahme von Arbeitsmarktunsicherheit, wirtschaftlicher Instabilität, Wettbewerb sowie Flexibilisierung, die Vermarktung des Symbolischen und Immateriellen wie etwa von Identitäten, Gefühlen und Lebensstilen sowie ein therapeutisches Ethos, das emotionale Gesundheit und das Bedürfnis nach individueller Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt stelle. Konzepte wie „Resilienz“ oder „Achtsamkeit“, die derzeit en Vogue sind, werden im Neoliberalismus zu Instrumenten, mit denen der oder die Einzelne verantwortlich für die eigene emotionale Gesundheit und damit den eigenen wirtschaftlichen Erfolg gemacht wird – und der wiederum anderen nützt. Denn Unternehmen wollen glückliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht darauf warten, dass ihr Arbeitgeber die Strukturen schafft, in denen sie gut arbeiten können, sondern dies selbst in die Hand nehmen.

„Finden wir resiliente Mitarbeiter, die gegen die Ausbeutung und Nötigung seitens der Chefetagen immunisiert sind, bewundernswerter als ihre Kollegen, die darunter leiden? … Führt die positive Wirkung der Resilienz in Wirklichkeit nicht zu Konformismus?“ Cabanas und Illouz zeigen das neoliberale Glücksverständnis als Ausgangspunkt eines politischen Desinteresses, eines Rückzugs aus der bürgerlichen Verantwortung. Der Individualismus erlaubt es, in der Aufmerksamkeit für sich selbst die äußeren Umstände zu akzeptieren und sich an sie anzupassen, nicht umgekehrt.

Die Hollywoodproduktion Das Streben nach Glück von 2006, die die Autoren gleich zu Beginn aufgreifen, beschreibt die Geschichte eines afroamerikanischen Handelsvertreters, der sich aus ärmlichen Verhältnissen zum erfolgreichen Geschäftsmann und Börsenmakler hocharbeitet. In endlosen Varianten kursieren solche Geschichten durch die Populärkultur, die eigentlich nur der Ausschnitt einer einzigen Geschichte sind: eine biografische Episode, in der einem Einzelnen negativen Umständen zum Trotz das gelingt, was gesellschaftlich als Erfolg gewertet wird. Auf diese Glücksformel gebracht lassen sich unzählige, oft US-amerikanische Fiktionen finden, im Hip Hop, in der Filmindustrie, in den sozialen Medien. Dieser Traum, der keine Realität besitzt außer in ebendiesen Fiktionen, hält sich jedoch genauso hartnäckig wie der Neoliberalismus, der uns alltäglich zu Anpassungsleistungen auffordert: zur Ökonomisierung unseres Selbst, um den Ansprüchen des privaten und beruflichen Umfelds gerecht zu werden. Cabanas und Illouz streifen damit auch die interessante Frage, wie Storytelling das Glücksdiktat kulturell wirksam werden lässt, ohne jedoch ausführlicher darauf einzugehen.

Das Glücksdiktat kämpft für negative Emotionen wie Neid oder Hass, die für Cabanas und Illouz eine soziale Funktion und im Kern einen politischen Charakter haben. Wie die Autoren zu Beginn schon formulieren und dann widerspruchsfrei ausführen – was die Lektüre hin und wieder etwas spannungslos macht –, so endet das Buch auch: „In seiner jetzigen Form und Anwendung ist Glück ein mächtiges Instrument, mit dem sich Organisationen und Institutionen gehorsame Arbeitnehmer, Soldaten und Bürger schmieden können.“ Wenn auch eine etwas dialektischere und weniger polemische Argumentation wünschenswert wäre, bleibt Cabanas‘ und Illouz‘ These aufschlussreich für unsere gegenwärtige soziale und ökonomische Kultur – und das Selbst, das wir darin entwerfen.

Titelbild

Eva Illouz / Edgar Cabanas: Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Adrian.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
244 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518469989

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