Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung
Geschichte ist für Wladimir Putin zur wichtigsten Machtressource geworden. Am 12. Juli veröffentlichte er einen Essay über die historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern. Aus der gemeinsamen Geschichte der beiden Völker in der mittelalterlichen Kiewer Rus leitet er darin ab, dass Russen und Ukrainer über die Jahrhunderte hinweg in einem „spirituellen Raum“ lebten und bis heute ein Volk bilden.
Über die Funktion des Textes kann kaum ein Zweifel bestehen: Er enthält eine unverhüllte Drohung an die Ukraine und warnt Kiew vor der Verbindung mit den westlichen Staaten, die Putin als systematische Feinde der Einheit von Russen und Ukrainern darstellt. Ein ukrainischer Staat als eigenständiger Akteur der internationalen Politik kommt für Putin nur in enger Verbindung mit Russland in Frage. Ein apokalyptisches Szenario zeichnet er für den – ohne tatsächliche Grundlage angenommenen – Fall einer erzwungenen Assimilation der in der Ukraine lebenden Russen. Dies komme, so Putin, „der Anwendung von Massenvernichtungswaffen gegen uns“ gleich. Man kann den Text als Ankündigung einer weiteren militärischen Aggression gegen die Ukraine lesen. Wie bei der Annexion der Krim könnte der Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit der in der Ukraine lebenden Russen als Legitimation für eine künftige Intervention dienen. Die Mythen vom „spirituellen Raum“ und die angedeutete Dystopie der Massenvernichtung sind eingebettet in einen historischen Text, der bei allen darin vorkommenden Verfälschungen und Halbwahrheiten den Anspruch auf rationale Argumentation erhebt. Der Kreml hat auch eine englische Version des Essays verfasst, Putin wendet sich also auch an die globale Öffentlichkeit.
Geschichtsforschung unter Strafandrohung
Auch in anderen Staaten gehen Politik und Geschichte Hand in Hand. Im Vergleich mit Polen und Ungarn erschien Russland in dem Bereich eines institutionellen Ausbaus von Geschichtspolitik lange eher als Nachzügler. In den vergangenen Jahren hat die russische Regierung jedoch die ostmitteleuropäischen Staaten in diesem Bereich eingeholt und teilweise überholt. Neue Institutionen wurden geschaffen, um der staatlichen Sicht auf die Geschichte Geltung zu verschaffen. So wurde z.B. in der russischen Staatsanwaltschaft 2020 eine eigene Abteilung für die Verteidigung der offiziellen historischen Wahrheit gegründet, die auch über strafrechtliche Mittel verfügt. Geschichtsklitterung spielte eine große Rolle, als der Kreml die Krim als vermeintlich urrussisches Gebiet annektierte und den Ukrainern auf dem Maidan faschistische Traditionen andichtete. Geschichte gelangte ganz oben auf die Agenda des Kremls, seitdem Präsident Putin in jüngster Zeit begann, verstärkt selbst historische Themen aufzugreifen. Im Dezember 2019 hielt der Präsident im Kreise seiner Amtskollegen aus den GUS-Staaten eine Art Vorlesung über den Hitler-Stalin-Pakt, ein halbes Jahr später legte er dazu einen Artikel vor, der an die Lehrstühle für osteuropäische Geschichte in Deutschland mit dem Hinweis versandt wurde, man möge den Text verwenden und dabei den Autor vollständig zitieren. Putin will offenbar als Historiker verstanden werden. Zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion verfasste er einen Essay, in dem er – klassischen Historikern gleich – zwischen „Grundursachen“ und oberflächlichen Ereignisketten unterschied. In dem jüngsten Aufsatz zur Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen wartet er mit der Historiker-Sentenz auf: „Um besser die Gegenwart zu verstehen und in die Zukunft zu blicken, müssen wir uns der Geschichte zuwenden.“
Ein Präsident im Amt des Historikers wäre eine bloß skurrile Erscheinung, ginge es nicht um die umfassende Deutungshoheit, die Putin auf dem Feld der Geschichte erhebt. Richtig hat er erkannt, dass es in dem raschen Veränderungsprozess, der die internationale Politik erfasst hat, einen viel größeren Bedarf an historischer Einordnungen gibt als in den relativ stabilen Zeiten des Kalten Kriegs.
Was Putin zur Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen zu sagen hat, ist dabei nicht neu. Er wiederholt eine bekannte Deutungsfigur der imperialen russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, derzufolge der mittelalterliche Herrschaftsverband der Kiewer Rus die Wiege der ostslawischen orthodoxen Völker der Russen, Ukrainer und Belarusen bildete. Nach dem Untergang der Kiewer Rus in der Niederlage gegen die Goldene Horde habe schließlich das Großfürstentum Moskau die Aufgabe der Wiedervereinigung der ostslawischen Völker, das sogenannte „Sammeln der russischen Erde“, übernommen. In diese Mission ordnet das imperiale russische Geschichtsnarrativ auch die Teilungen Polens ein, durch die sich Russland im Bündnis mit Preußen und Österreich ukrainische und belarusische Gebiete aneignete. Heute legitimiert Putin seine aggressive Ukraine-Politik mit dem alten imperial-russischen Narrativ der Wiederherstellung und Erhaltung der Einheit der ostslawischen orthodoxen Völker.
Widerspruch aus der Ukraine
Die russische Geschichtserzählung ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben: Ukrainische Historiker verbinden die Kiewer Rus eng mit Staatsgebilden, die sie als Vorläufer der modernen Ukraine ansehen wie dem Großfürstentum Litauen, das im Spätmittelalter große Teile der belarusischen und ukrainischen Bevölkerung in sich vereinte, und dem Hetmanat der Kosaken in der Frühneuzeit. Für diese Sicht auf die Geschichte gibt es gute Gründe, doch ist das russische Narrativ nicht nur in Russland, sondern auch in historischen Überblicksdarstellungen im Westen sehr viel besser etabliert. Auf diesen ungleichen Kenntnisstand kann Putin sich mit seiner höchst einseitigen Geschichtsdeutung stützen.
Religion als national konstituierender Faktor?
Den Artikel kennzeichnet ein Widerspruch. Im Wesentlichen ist die Argumentation Putins von einer Geschichtsauffassung geleitet, die von Kollektiven mit unveränderlicher Identität geprägt werden. Der eigentliche Akteur in der Geschichte ist bei Putin das Volk, dem bestimmte unverrückbare Eigenschaften eigen sind, nämlich die Sprache und Religion. Ein ähnliches Konzept hat 1913 Josef Stalin in seiner Schrift „Marxismus und nationale Frage“ vorgelegt: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“ Stalins Auffassung, dass Nationen aufgrund objektiver Kennzeichen fassbar sind, ist in der sowjetischen Wissenschaft – weit über die Zeit des Stalinismus hinaus – wirksam gewesen. Putins Verständnis von der Nation gleicht im Wesentlichen diesem Konzept, doch haben sich die konkreten Merkmale der Nation verändert. Neben den Kriterien der Sprache und des Territoriums hebt Stalin die Wirtschaft hervor, während Putin die Religion als Merkmal betont. Die Annahme einer überzeitlichen Kontinuität der Nation, die Putin als eine gemeinsame Großnation der Russen, Ukraine und Belarusen begreift, lässt eigenständige nationale Entwicklungen der Ukrainer und Belarusen nicht zu. Abweichungen von dem gemeinsamen Weg können nur als fehlgeleitet oder verräterisch gelten. Entsprechend negativ bewertet Putin historische Figuren wie den Hetman der ukrainischen Saporoger Kosaken Iwan Mazepa, der im Nordischen Krieg 1709 von der Seite Peters I. auf die Seite Schwedens wechselte. Eine Parallele dazu deutet Putin in Bezug auf die gewählte ukrainische Regierung heute an.
Seit wann ist eigentlich Österreich eine Nation?
Jedoch macht Putin an einer Stelle im Text eine bemerkenswertes Zugeständnis, wenn er ganz im Gegensatz zu seiner gesamten Argumentation von der Wandelbarkeit von Identitäten spricht: „Dinge ändern sich. Länder und Gemeinschaften sind keine Ausnahme. Selbstverständlich kann ein Teil eines Volkes im Prozess seiner Entwicklung, beeinflusst von einer Reihe von Gründen und historischen Umständen, sich selbst als separater Nation bewusst werden.“ Einem solchen Prozess müsse „mit Respekt“ begegnet werden. Das Kernproblem des Essays ist, dass aus dieser abstrakten Feststellung keine Folgerungen für die Bewertung der ukrainischen Geschichte folgen. Tatsächlich unterliegt die Entwicklung nationaler Identitäten einem mitunter fundamentalen Wandel, wie man an der Geschichte vieler europäischer Nationen zeigen kann. Österreich teilte bis ins 19. Jahrhundert eine gemeinsame Geschichte mit den deutschen Territorien im Rahmen des Heiligen Römischen Reichs bzw. des Deutschen Bunds, und bis weit in das zwanzigste Jahrhundert konnte man nicht von gefestigten nationalen Identität Österreichs sprechen, die heute unzweifelhaft gegeben ist. An der österreichischen Geschichte kann man zeigen, dass eine Nation spät und erfolgreich entstehen kann.
Die frühe Europäisierung der Ukraine und Belarus
Die Differenzierung von Russen und Ukrainern als eigenständigen Nationen kann man in ihren Grundlagen mindestens so weit historisch zurückverfolgen wie die Unterschiede im deutsch-österreichischen Verhältnis. Der Zerfall des gemeinsamen Herrschaftsverbands der Kiewer Rus im 13. Jahrhundert war der Anfang einer divergierenden Entwicklung von Russen und Ukrainern. Während die westlichen, d.h. die ukrainischen und belarusischen Territorien der zerfallenen Kiewer Rus sich bald aus der mongolischen Oberherrschaft lösten und zu Bestandteilen des Großfürstentums Litauen wurden, blieb Moskau länger im Herrschaftsbereich der Goldenen Horde, bevor es seine Eigenständigkeit erlangte. Diese historische Weggabelung war auch strukturell folgenreich: Ukrainer und Belarussen waren in dem Großfürstentum Litauen in einen fundamentalen politischen und sozialen Wandel einbezogen, den man als eine frühe Form der Europäisierung begreifen kann. Städte wie Lemberg, Kiew und Minsk erhielten städtische Privilegien, sie gewannen Selbstverwaltungsrechte und wurden in diesem Sinne zu europäischen Städten. Nicht weniger weitreichend war es, dass sich in der Folge der Realunion, die das Großfürstentum Litauen mit dem Königreich Polen schloss, neue Formen von mehrstufiger Herrschaft im Gesamtstaat verbreiteten. Dem König stand in der gemeinsamen Adelsrepublik Polens und Litauens eine Reichsversammlung gegenüber, ein System von checks and balances entstand, das Gemeinwohl wurde im Ausgleich zwischen Königsmacht und den Repräsentanten der Stände gefunden, damit verbreiteten sich die Konzepte von Gewaltenteilung und Subsidiarität.
Über diese verfassungspolitischen Fundamentalvorgänge ist bei Putin nichts zu finden. Vielmehr betont er – wiederum in der Tradition der russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts – die kulturellen Konflikte in der Adelsrepublik. In der Tat war der Aufstieg der Adelskultur in Polen-Litauen mit einer Polonisierung der gesellschaftlichen und politischen Eliten verbunden. Zugleich erweiterte die römisch-katholische Kirche in Polen-Litauen ihren Einfluss. Viele orthodoxe Ukrainer und Belarusen betrachteten diese Entwicklungen als Gefahr. Für die von der Adelsrepublik geprägte Kultur der Ukrainer ist es jedoch signifikant, dass sich auch der Widerstand gegen die Politik der Adelsrepublik in den Formen vollzog, die in der Adelsrepublik selbst entstanden waren. Die lateinische Offensive wehrten Orthodoxe ab, indem sie ihren eigenen Glauben nach dem katholischen Vorbild reformierten, was eine modernisierende Wirkung auf die orthodoxe Kirchenorganisation und Glaubenspraktiken hatte.
Adelsrepublik vs. autokratisches Zarentum
Die strukturelle Divergenz zwischen Russland und der Ukraine wurde vor allem im 16. Jahrhundert sichtbar, als die Adelsrepublik Polen-Litauen ihre Blütezeit erlebte, während in Moskau das autokratische Zarentum obsiegte. Dieser Gegensatz ist nicht auf die schlichte Formel „europäische Ukraine – nicht-europäisches Russland“ zu verkürzen. Russland verband sich auf anderen Wegen mit der europäischen Geschichte, etwa durch Ideenaustausch in der Aufklärung und Romantik. Aber die Wege Russlands und der Ukraine in ihren Verbindungen mit West- und Mitteleuropa waren verschieden, und dies hatte weitreichende Folgen für die jeweiligen kollektiven Identitäten.
Der Maidan als Zäsur
Die zweite Epoche, die das Selbstverständnis der russischen und der ukrainischen Nation in unterschiedlicher Weise prägt, ist die jüngste Zeitgeschichte. Seit dem Maidan hat die Ukraine den Weg einer Europäisierung im Sinne der Verknüpfung von Nationalstaatlichkeit mit einer liberal und demokratisch verfassten Regierungsform eingeschlagen, während in Russland das Nationalgefühl mit imperialer Tradition verbunden ist. Selbst unter Kriegsbedingungen ist in der Ukraine eine Demokratie entstanden, die politische Willensbildung unter freien Bedingungen gewährleistet. Die Entwicklung der Ukraine als unabhängige Nation hat dabei nichts so befördert wie die machtpolitische Herausforderung durch Russland seit der Annexion der Krim. Putin schreibt Geschichte in doppelten Sinn. Paradoxerweise hat er als Präsident das mitgeschaffen, was er als Historiker nun leugnen will.
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