„Gebiets­ver­zicht schafft keinen Frieden“

In den medien, Marie, Ralf, Beck, Fücks
Foto: Julia Baier

Die oft gefor­derten terri­to­rialen Zugeständ­nisse bringen weder der Ukraine noch dem Westen Frieden und Sicherheit – denn sie ignorieren fünf grund­le­gende Fakten. Ralf Fücks und Marie­luise Beck im Gastbeitrag für den Tagesspiegel.

Die Appelle, den Krieg in der Ukraine durch einen „terri­to­rialen Kompromiss“ zu beenden, sind Legion. Bezeich­nen­der­weise richten sie sich durchweg an die Angegrif­fenen. Sie sollen ihren Wider­stand gegen die russische Aggression einstellen und sich in die Teilung ihres Landes fügen.

Die Forderung „Land gegen Frieden“ mag gut gemeint sein, um das Blutver­gießen zu stoppen. Sie ignoriert aber eine ganze Reihe funda­men­taler Faktoren, die diese Idee zu einer Schimäre werden lassen. Der Reihe nach:

1) Russland will keine eigen­ständige Ukraine 

Es ist bloßes Wunsch­denken, dass sich die russische Führung mit den gegen­wärtig besetzten Gebieten zufrie­den­geben würde. Am ursprüng­lichen Ziel der russi­schen Offensive hat sich nichts geändert. Putin ging und geht es um die Zerstörung der Ukraine als eigen­ständige Nation, ihrer politi­schen Souve­rä­nität und kultu­rellen Identität.

Dass die Ukraine ein Kunst­ge­bilde sei und auf ewig zur russi­schen Welt gehört, hat er vor dem Krieg offen formu­liert. Dummer­weise hat das im Westen kaum jemand ernst genommen. Im russi­schen Staats­fern­sehen wird dieses Narrativ täglich in neuen Varia­tionen wiederholt, bis hin zur Forderung, dass alle Ukrainer, die sich nicht zu Russland bekennen, elimi­niert werden müssen. Putin geht es um die Restau­ration des russi­schen Imperiums.

Die Ukraine ist der Schlüssel für dieses Projekt. Die Erfahrung seit 2014 hat gezeigt, dass ein Waffen­still­stand nur das Zwischen­spiel für den nächsten Angriff ist, sobald der Kreml die politische und militä­rische Gelegenheit dazu sieht.

2) Eine Aufteilung wäre der Sargnagel der Rechtsordnung 

Eine terri­to­riale Aufteilung der Ukraine, die den russi­schen Anspruch auf die Krim, den Donbass und die Südost­ukraine formell oder faktisch akzep­tiert, wäre der Sargnagel für die regel­ba­sierte inter­na­tionale Ordnung. Wenn ein groß angelegter Angriffs­krieg und massive Kriegs­ver­brechen mit terri­to­rialen Gewinnen prämiert werden, ist die Büchse der Pandora offen.

Das wäre nicht nur eine Ermutigung für Putin, sondern für alle autori­tären Regimes der Welt, ihre expan­siven Ambitionen mit Gewalt durchzusetzen.

3) Selbst­be­stimmung: Die Ukrainer lehnen Gebiets­ab­tre­tungen ab 

Nicht zuletzt ignoriert der Ruf nach Gebiets­ab­tre­tungen an Russland den erklärten Willen der ukrai­ni­schen Regierung, des frei gewählten Parla­ments und der großen Mehrheit der ukrai­ni­schen Gesell­schaft. In der letzten reprä­sen­ta­tiven Meinungs­um­frage lehnten 90 Prozent der Befragten die Preisgabe von Gebieten ebenso ab wie Abstriche an der politi­schen Souve­rä­nität der Ukraine.

Die Entschlos­senheit, die von Russland besetzten Gebiete zu befreien, ist trotz – oder sogar wegen – aller Opfer und Entbeh­rungen ungebrochen.

4) Russland verwüstet Regionen unter dauer­hafter Besatzung 

Für diese Haltung gibt es gute Gründe. Wir haben auf unserer jüngsten Reise in die Ukraine auch Izium im Osten der Ukraine besucht. Die Stadt war von Anfang April bis Mitte September letzten Jahres von russi­schen Truppen besetzt. Bei der Eroberung wurde sie tagelang aus der Luft bombar­diert und mit schwerer Artil­lerie beschossen.

Die Hälfte der Bevöl­kerung hat die Stadt verlassen. Zahlreiche Wohnge­bäude sind nur noch Ruinen, die städtische Klinik und das Rathaus liegen in Trümmern, Brücken sind einge­stürzt, Heizkraft­werke zerstört.

Die materielle Verwüstung ist das eine. Schwerer noch wiegen die mensch­lichen Verhee­rungen. Russische Besatzung, das heißt Recht­lo­sigkeit, Massen­gräber mit ermor­deten Zivilisten und Kriegs­ge­fan­genen, willkür­liche Verhaf­tungen und Folter, sexuelle Gewalt, Entführung von Kindern nach Russland, Verbannung der ukrai­ni­schen Sprache und Kultur.

Ukrai­nische Gebiete abzutreten, bedeutet Millionen von Menschen der russi­schen Gewalt­herr­schaft auszu­liefern. Von Frieden keine Spur.

5) Ohne Schwarz­meer­häfen keine souveräne Ukraine 

Auch sicher­heits­po­li­tisch und ökono­misch wäre ein Einfrieren des Krieges entlang der jetzigen Front­linien für die Ukraine verheerend. Ohne die Befreiung des Südostens und die Rückge­winnung der von Russland okkupierten ukrai­ni­schen Häfen gibt es für die Ukraine keine militä­rische Sicherheit. Sie wäre extrem verwundbar für neue russische Angriffe.

Gleich­zeitig spielen die ukrai­ni­schen Schwarz­meer­häfen eine zentrale Rolle für den Getrei­de­export wie für den Import von Maschinen, Rohstoffen und Konsum­gütern. Ohne die Befreiung dieser Gebiete bliebe die Ukraine ein Rumpf­staat weit unter seinem Potential. Auch die Besatzung der Krim ist eine perma­nente militä­rische Bedrohung.

Wie man es auch dreht und wendet: terri­to­riale Zugeständ­nisse an Russland bringen der Ukraine weder Frieden noch Sicherheit. Statt­dessen schaffen sie einen Präze­denzfall für weitere Erobe­rungs­kriege und demolieren die inter­na­tionale Sicherheitsordnung.

Unser Ziel muss bleiben, die terri­to­riale Unver­sehrtheit und politische Souve­rä­nität der Ukraine zu bewahren. Beides hängt entscheidend von der Bereit­schaft des Westens ab, sie militä­risch mit voller Kraft zu unterstützen.

Der Beitrag erschien zuerst im Tagesspiegel.

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