„Mirie it is while sumer ilast“ – Versionsunterschied
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Der einem ''j'' ähnelnde Buchstabe am Ende der vierten Zeile ist uneindeutig. Er ist länger als das ansonsten im Text verwendete ''i''. Zugleich unterscheidet er sich in seiner Ausführung von dem in den beiden französischen Texten verwendeten ''j'', weshalb ihn Helen Deeming als ''y'' interpretiert.<ref name="Deeming2013-189" /> An mehreren Stellen ist der Text (und die Notation) durch Löcher beschädigt. Das zweite Wort der vierten Zeile wird als ''weder'' (Wetter) rekonstruiert; in der fünften Zeile wird in Textbearbeitungen das Wort ''is'' (ist) ersetzt. Etwas schwieriger gestaltet sich die Rekonstruktion des Wortes ''fast'' (darben, fasten) in der abgerissenen achten Zeile. Es lässt sich in erster Linie über das Reimschema ''{{lang|enm|ilast}}'' – ''{{lang|enm|blast}}'' erschließen. E. W. B. Nicholsons sowie [[Cecie Stainer|Cecie]] und [[John Stainer]]s Rekonstruktion des letzten Wortes als ''{{lang|enm|fast}}'' ist heute allgemein akzeptiert,<ref name="Dobson&Harrison1979-121" /> auch weil es sich in [[Geoffrey Chaucer|Chaucer]]s ''{{lang|en|[[Canterbury Tales]]}}'' in ähnlichen, weltlichen Zusammenhängen findet.<ref name="Duncan1994-55" /><ref name="Reichl2005-25" /> Es ist aber nicht die einzige plausible Ergänzung: Auch ''{{lang|enm|wast(e)}}'' für „vergehen“ oder „dahinschwinden“ wäre in den Augen des [[Sprachwissenschaft|Linguisten]] [[Karl Reichl]] möglich. In dieser Bedeutung ist es allerdings erst ab dem späten 14. Jahrhundert belegt.<ref name="Reichl2005-25" /> |
Der einem ''j'' ähnelnde Buchstabe am Ende der vierten Zeile ist uneindeutig. Er ist länger als das ansonsten im Text verwendete ''i''. Zugleich unterscheidet er sich in seiner Ausführung von dem in den beiden französischen Texten verwendeten ''j'', weshalb ihn Helen Deeming als ''y'' interpretiert.<ref name="Deeming2013-189" /> An mehreren Stellen ist der Text (und die Notation) durch Löcher beschädigt. Das zweite Wort der vierten Zeile wird als ''weder'' (Wetter) rekonstruiert; in der fünften Zeile wird in Textbearbeitungen das Wort ''is'' (ist) ersetzt. Etwas schwieriger gestaltet sich die Rekonstruktion des Wortes ''fast'' (darben, fasten) in der abgerissenen achten Zeile. Es lässt sich in erster Linie über das Reimschema ''{{lang|enm|ilast}}'' – ''{{lang|enm|blast}}'' erschließen. E. W. B. Nicholsons sowie [[Cecie Stainer|Cecie]] und [[John Stainer]]s Rekonstruktion des letzten Wortes als ''{{lang|enm|fast}}'' ist heute allgemein akzeptiert,<ref name="Dobson&Harrison1979-121" /> auch weil es sich in [[Geoffrey Chaucer|Chaucer]]s ''{{lang|en|[[Canterbury Tales]]}}'' in ähnlichen, weltlichen Zusammenhängen findet.<ref name="Duncan1994-55" /><ref name="Reichl2005-25" /> Es ist aber nicht die einzige plausible Ergänzung: Auch ''{{lang|enm|wast(e)}}'' für „vergehen“ oder „dahinschwinden“ wäre in den Augen des [[Sprachwissenschaft|Linguisten]] [[Karl Reichl]] möglich. In dieser Bedeutung ist es allerdings erst ab dem späten 14. Jahrhundert belegt.<ref name="Reichl2005-25" /> |
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⚫ | Ungewöhnlich wäre aber laut Eric Dobson für einen so frühen Text, dass der damals gebräuchliche [[Indikativ]] des Wortes auf ''faste'' lautete, für den Reim mit ''ilast'' und ''blast'' also die Anfang des 13. Jahrhunderts noch vorhandene Endsilbe ''-e'' hätte entfallen müssen. Dobson erklärt dies mit einer möglichen Tendenz des frühen Mittelenglisch, bei Wortstämmen, die auf ''-st'' endeten, das ''-e'' in flektierten Formen wegzulassen.<ref name="Dobson&Harrison1979-122" /> Auch über den ergänzten Reim hinaus bereitet das unbetonte ''e'' im Text Schwierigkeiten. Obwohl es bei einigen Wörtern in späteren Stadien des geschriebenen Englischen entfiel – etwa in ''{{lang|en|merry}}'' < ''{{lang|enm|mirie}}'' oder ''{{lang|en|mourn}}'' < ''{{lang|enm|murne}}'' –, wurde es wohl schon Ende des 14. Jahrhunderts im Alltag nicht mehr gesprochen, wenngleich die formelle und die Schriftsprache es noch länger beibehielten. [[Thomas Gibson Duncan|Thomas Duncan]] erkennt im gesungenen Liedtext von ''{{lang|enm|Mirie it is}}'' vier verschiedene [[Phonetik|phonetische]] Reduktionsprozesse, bei denen ein unbetontes ''e'' entweder im Vokalanlaut (oder einem ''h'') des nachfolgenden Wortes aufging ([[Elision]]), in der Wortmitte entfiel ([[Synkope (Sprachwissenschaft)|Synkope]]), nach einem ''i'' mit diesem zu <nowiki>[</nowiki>[[Stimmhafter palataler Approximant|j]]<nowiki>]</nowiki> verschmolz ([[Synthese]]) oder in Schlusssilben vor einem Konsonanten verschwand ([[Apokope (Sprachwissenschaft)|Apokope]]).<ref name="Duncan2005-23" /> |
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Das [[Lyrisches Ich|lyrische Ich]] des Textes schwelgt zunächst in den Erinnerung an die warme Jahreszeit (''{lang|enm|Mirie it is while sumer ilast}}''), die vom Gesang der Vögel erfüllt ist (''{{lang|enm|with fugheles song}}''). Dieser nostalgische Rückblick wird mit dem Einbruch schlechten Wetters und Sturmwinde kontrastiert (''{{lang|enm|oc nu neicheth windes blast and weder strong}}''). Auch sind die Tage schon kurz geworden; im nächsten Satz beklagt der Sänger die nicht enden wollende Nacht (''{{lang|enm|Ey ey what this nicht is long}}''). Die darauf folgende Passage ''{{lang|enm|and ich with wel michel wrong}}'' ist nicht klar zu deuten: Beklagt sich das lyrische Ich über in der Vergangenheit erlittenes oder begangenes Unrecht (''wrong'') oder darüber, dass es in der Gegenwart ungerechter Weise leiden müsse? Die Strophe schließt mit der kläglichen Situation des lyrischen Ichs ab, das sich reut und klagt und hungert (''{{lang|enm|soregh and murne and fast}}'').<ref name="Reichl2005-24-25" /><!-- |
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Auch solche Gegenüberstellungen finden sich in in anderen Liedern der Z |
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Bei beidem handelt es sich um häufige Motive der mittelenglischen Lieddichtung: Der Sommer wird auch in ''[[Sumer is icumen in]]'' (Mitte des 13. Jahrhunderts) besungen, Vögel in ''{{lang|enm|[[Fugheles in the frith]]}}'' und ''{{lang|enm|[[Bryd one brere]]}}''. |
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⚫ | Ungewöhnlich wäre aber laut Eric Dobson für einen so frühen Text, dass der damals gebräuchliche [[Indikativ]] des Wortes auf ''faste'' lautete, für den Reim mit ''ilast'' und ''blast'' also die Anfang des 13. Jahrhunderts noch vorhandene Endsilbe ''-e'' hätte entfallen müssen. Dobson erklärt dies mit einer möglichen Tendenz des frühen Mittelenglisch, bei Wortstämmen, die auf ''-st'' endeten, das ''-e'' in flektierten Formen wegzulassen.<ref name="Dobson&Harrison1979-122" /> Auch über den ergänzten Reim hinaus bereitet das unbetonte ''e'' im Text Schwierigkeiten. Obwohl es bei einigen Wörtern in späteren Stadien des geschriebenen Englischen entfiel – etwa in ''{{lang|en|merry}}'' < ''{{lang|enm|mirie}}'' oder ''{{lang|en|mourn}}'' < ''{{lang|enm|murne}}'' –, wurde es wohl schon Ende des 14. Jahrhunderts im Alltag nicht mehr gesprochen, wenngleich die formelle und die Schriftsprache es noch länger beibehielten. [[Thomas Gibson Duncan|Thomas Duncan]] erkennt im gesungenen Liedtext von ''{{lang|enm|Mirie it is}}'' vier verschiedene [[Phonetik|phonetische]] Reduktionsprozesse, bei denen ein unbetontes ''e'' entweder im Vokalanlaut (oder einem ''h'') des nachfolgenden Wortes aufging ([[Elision]]), in der Wortmitte entfiel ([[Synkope (Sprachwissenschaft)|Synkope]]), nach einem ''i'' mit diesem zu <nowiki>[</nowiki>[[Stimmhafter palataler Approximant|j]]<nowiki>]</nowiki> verschmolz ([[Synthese]]) oder in Schlusssilben vor einem Konsonanten verschwand ([[Apokope (Sprachwissenschaft)|Apokope]]).<ref name="Duncan2005-23" />--> |
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Version vom 12. September 2020, 22:11 Uhr
Mirie it is while sumer ilast (deutsch Heiter ist es solang der Sommer währt) oder kurz Mirie it is ist ein mittelenglisches Lied aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es handelt von der Sehnsucht nach dem Sommer im Angesicht der herannahenden kalten Jahreszeit. Der Verfasser des Liedes ist unbekannt; Text und Melodie sind unvollständig auf einer einzelnen, beschädigten Manuskriptseite überliefert, was zusammen mit der teils uneindeutigen Ausführung der Neumennoten die Rekonstruktion des Liedes erschwert. So ist unklar, ob das Lied ursprünglich weitere Zeilen oder Strophen enthielt.
Mirie it is while sumer ilast ist eines der ältesten überlieferten Lieder in englischer Sprache. Es stellt eines der wenigen Zeugnisse nichtliturgischer Musik aus dem Großbritannien des Mittelalters dar. Das Manuskript fand sich zusammen mit zwei altfranzösischen Liedern in einem Buch der Psalmen aus der Bodleian Library. In den 1960er Jahren wurde es von Frank Llewelyn Harrison das erste Mal in moderne Notation übertragen. Seine von moderner Ästhetik geprägte Rekonstruktion fand als Miri it is while sumer ilast durch den britischen Horrorfilm The Wicker Man von 1973 Verbreitung und hat sich seitdem auch in der Alten Musik als die populärste durchgesetzt.
Überlieferungsgeschichte
Manuskript
Mirie it is while sumer ilast ist nur aus einer einzigen Quelle bekannt. Es findet sich gemeinsam mit zwei zeitgenössischen altfranzösischen Musikstücken – […] chant ai entendu und Mult s'asprisme auf einer Pergamentseite. Sie wurde nachträglich als Vorsatzblatt in ein Buch der Psalmen aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eingebunden. Womöglich stammt das Buch ursprünglich aus der ostenglischen Benediktinerabtei Thorney bei Peterborough.[1] Über die Sammlung des Antiquars Richard Rawlinson (1690–1755) gelangte sie in den Bestand der Bodleian Library der Universität Oxford. Dort ist sie unter der Signatur MS Rawlinson G. 22 katalogisiert.[2]
Das Lied findet sich auf der (in Einbindungrichtung) Rückseite des Pergaments in der rechten Textspalte. Das Pergament weist an mehreren Stellen Löcher auf, zudem ist der untere Rand der Seite abgerissen, sodass auch Teile des Liedtexts und der Notation fehlen.[2]
Datierung
Anhand sprachlicher Merkmale wird die Handschrift mit Mirie it is auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert. E. W. B. Nicholson setzte ihre Niederschrift um das Jahr 1225 an. Darauf deutet das gh in fugheles und soregh hin, das ab etwa 1250 zunehmend durch w ersetzt wurde. Eric Dobson wendet allerdings ein, dass die Lautverschiebung des altenglischen sang zu mittelenglisch song (durch Verlängerung des a vor ng), wie sie sich im Liedtext bereits findet, in den Midlands kaum vor 1225 stattgefunden haben dürfte. Auch der Verlust der Endsilbe -e in fast deute eher auf einen späteren Zeitpunkt der Niederschrift hin. Dobson hält daher eine Entstehung zwischen 1230 und 1240 für etwas wahrscheinlicher.[3]
Eine solche Datierung über sprachliche Merkmale wird allerdings durch die Überlieferung mittelalterlichen Liedgutes verkompliziert. Zunächst handelt es sich bei dem Manuskript wohl um die Niederschrift bereits existierender Texte. Zwischen Komposition und Verfassung des Manuskripts kann also eine nicht unbeträchtliche Zeitspanne gelegen haben. Auch ist dadurch unklar, um wessen Worte es sich im Liedtext handelt: um die des Liedes, wie es der Kopist gehört beziehungsweise gelernt hat, oder um die des Kopisten, der einen womöglich fremden Dialekt des Mittelenglischen in seine eigene Mundart übertrug. Viele mittelenglische Liedtexte weisen zudem eine starke dialektale Mischung auf. Das impliziert, dass sie womöglich quer durch das damalige England Verbreitung fanden, bevor sie in einer bestimmten Fassung schriftlich festgehalten wurden.[4] Derart entstandene Texte sind also nicht einem klar abgegrenzten Dialekt oder einer bestimmten Entwicklungsphase des Mittelenglischen zuordenbar. Zu guter Letzt gab es auch zwischen gesprochenem und geschriebenen Wort eine sprachliche Kluft, die sich in der Beibehaltung archaischer Formen in der Schriftsprache ausdrückte, während sich diese im zeitgenössischen gesprochenen Mittelenglisch bereits verloren hatten. Sprachliche Entwicklungen schlagen sich daher auch nicht zwangsläufig in geschriebenen Texten wieder, zumal das gesprochene Mittelenglische wohl schon früh eine große Flexibilität bei der Verwendung von Archaismen und Neologismen zeigte.[5]
Zumindest das Alter des Manuskripts lässt sich aber auch über andere Indizien erschließen. Die Neumennotation etwa wird in England um die Mitte des 13. Jahrhunderts von Modal- und Mensuralnotation abgelöst. Das Manuskript des Kanons Sumer is icumen in, wahrscheinlich einige Jahrzehnte nach dem von Mirie it is verfasst, ist bereits in Mensuralnotation verfasst. E. W. B. Nicholson, von dem die Datierung des Pergaments auf etwa 1220 stammt, führt neben der Sprache des Textes auch den Stil der Minuskelschrift als Indiz an.[6] Damit wäre Mirie it is neben Ar ne kuth ich sorghe non das früheste bekannte Lied in englischer Sprache.[7]
Urheber und Entstehungskontext
Wie auch bei anderen englischen Manuskripten des Hochmittelalters ist über den Urheber von Lied und Manuskript nichts bekannt. Von den etwa 100 überlieferten Musikstücken aus dem England des 12. und 13. Jahrhunderts lassen sich lediglich vier dem Heiligen Godric von Finchale und einer Renaud de Hoilande zuordnen.[8] Bücher und Manuskripte wechselten häufig den Besitzer; wie unterschiedliche Handschriften bezeugen teils sogar während ihrer Entstehung. Diese beiden Umstände erschweren es, das Motiv für die Komposition und Niederschrift von Liedern festzustellen oder den Kontext zu rekonstruieren, in dem sie entstanden und gesungen wurden. Mit großer Sicherheit stammen aber fast alle Lieder dieser Zeit aus einem klerikalen, klösterlichen Kontext, der im Fall von Mirie it is auch durch die Einbindung in das Buch der Psalmen nahegelegt wird. Die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens waren bis weit ins 13. Jahrhundert auf mönchische Kreise beschränkt. Das kommerzielle Verfertigen von Abschriften durch professionelle Schreiber ist erst aus der Mitte des 13. Jahrhunderts aus Paris belegt und breitete sich wohl nur langsam in die Peripherien des mittelalterlichen Westeuropas aus.[9]
Lieder aus dem England des 12. und 13. Jahrhundert sind, anders als etwa die aus dem zeitgenössischen Frankreich, nicht in Liedbüchern überliefert. Häufig wurden sie auf freigebliebenen Seiten anderer Werke notiert oder, wie Mirie it is, in solche eingebunden. Das legt nahe, dass die Verschriftlichung von Musik in den englischen Klöstern einen eher geringen Stellenwert einnahm und von der Muße und dem Interesse einzelner Mönche abhängig war. Es kann aber ebenso gut ein Artefakt der Vernichtung von Büchern und Manuskripten im Zuge der Auflösung der englischen Klöster sein: Genauso plausibel ist, dass Liedersammlungen einst in größerem Umfang existierten und die Handschrift von Mirie it is Teil einer solchen war. Der Verfasser der Mirie-Niederschrift war, wie das Manuskript zeigt, in der Notation von Musik bewandert und sprach neben Mittelenglisch auch das altfranzösische Anglonormannisch. Während die beiden französischen Troubadourlieder […] chant ai entendu und Mult s'asprisme sprachlich wie inhaltlich einen höfisch-romantischen Kontext nahelegen, ist das in der englischen Volkssprache gehaltene Mirie it is deutlich düsterer, was einige Kommentatoren als Fortsetzung altenglischer Dichttradition, andere als Ausdruck angelsächsischen bäuerlichen Lebens gedeutet haben.[10][2]
Text
Mittelenglisches Original | Transkription | Aussprache | Modernes Englisch | Deutsch |
---|---|---|---|---|
[M]Irie it iſ while ſumer |
[M]Irie it is while sumer |
mɪr̩iɛ ɪt ɪs hwiːlɛ sumɛr̩ |
Merry it is while summer |
Heiter ist es solang der Sommer |
Der Originaltext des Manuskripts ist in für das 13. Jahrhundert typischer Minuskel verfasst und enthält neben dem heute im Englischen gebräuchlichen lateinischen Alphabet auch die Buchstaben ƿ (Wynn), ð (Eth) und ſ (langes S), das durchgehend für das s verwendet wird. Während ð im Manuskript durchgängig den heutigen Digraph th vertritt, nutzte der Verfasser für den Laut [ ] sowohl ƿ als auch w. Die handschriftliche Ausführung von ð hebt sich lediglich durch einen Querstrich von d ab, der im Manuskript nur sehr schwach ausfällt. Am Anfang der ersten Zeile ist Platz für den dekorierten Anfangsbuchstaben M ausgespart; dieser wurde jedoch nicht eingesetzt.[11]
Der einem j ähnelnde Buchstabe am Ende der vierten Zeile ist uneindeutig. Er ist länger als das ansonsten im Text verwendete i. Zugleich unterscheidet er sich in seiner Ausführung von dem in den beiden französischen Texten verwendeten j, weshalb ihn Helen Deeming als y interpretiert.[11] An mehreren Stellen ist der Text (und die Notation) durch Löcher beschädigt. Das zweite Wort der vierten Zeile wird als weder (Wetter) rekonstruiert; in der fünften Zeile wird in Textbearbeitungen das Wort is (ist) ersetzt. Etwas schwieriger gestaltet sich die Rekonstruktion des Wortes fast (darben, fasten) in der abgerissenen achten Zeile. Es lässt sich in erster Linie über das Reimschema ilast – blast erschließen. E. W. B. Nicholsons sowie Cecie und John Stainers Rekonstruktion des letzten Wortes als fast ist heute allgemein akzeptiert,[3] auch weil es sich in Chaucers Canterbury Tales in ähnlichen, weltlichen Zusammenhängen findet.[12][13] Es ist aber nicht die einzige plausible Ergänzung: Auch wast(e) für „vergehen“ oder „dahinschwinden“ wäre in den Augen des Linguisten Karl Reichl möglich. In dieser Bedeutung ist es allerdings erst ab dem späten 14. Jahrhundert belegt.[13]
Inhalt
Das lyrische Ich des Textes schwelgt zunächst in den Erinnerung an die warme Jahreszeit ({lang|enm|Mirie it is while sumer ilast}}), die vom Gesang der Vögel erfüllt ist (with fugheles song). Dieser nostalgische Rückblick wird mit dem Einbruch schlechten Wetters und Sturmwinde kontrastiert (oc nu neicheth windes blast and weder strong). Auch sind die Tage schon kurz geworden; im nächsten Satz beklagt der Sänger die nicht enden wollende Nacht (Ey ey what this nicht is long). Die darauf folgende Passage and ich with wel michel wrong ist nicht klar zu deuten: Beklagt sich das lyrische Ich über in der Vergangenheit erlittenes oder begangenes Unrecht (wrong) oder darüber, dass es in der Gegenwart ungerechter Weise leiden müsse? Die Strophe schließt mit der kläglichen Situation des lyrischen Ichs ab, das sich reut und klagt und hungert (soregh and murne and fast).[14]
Verweise
Quellen
- MS Rawlinson G22, Bodleian Library, Oxford. Digitalisat
Literatur
- Helen Deeming: Songs in British sources, c.1150–1300 (= Musica Britannica. XCV). Stainer & Bell, London 2013, ISBN 978-0-85249-935-1.
- Helen Deeming: Record-Keepers, Preachers and Song-Makers: Revealing the Compilers, Owners and Users of Twelfth- and Thirteenth-Century Insular Song Manuscripts. In: Lisa Colton, Tim Shephard (Hrsg.): Sources of Identity: Makers, Owners and Users of Music Sources before 1600 (= Epitome Musical (EM)). Brepolis, Turnhout 2016, ISBN 978-2-503-56778-5, S. 63–76.
- E. J. Dobson, F. Ll. Harrison: Medieval English Songs. Faber, London 1979, ISBN 978-0-571-09841-5.
- Thomas G. Duncan: A Companion to the Middle English Lyric. D.S. Brewer, Cambridge; Rochester, NY 2005, ISBN 978-1-84384-065-7.
- Luciano Formisano: Le chansonnier anglo-francais du MS. Rawlinson G.22 de la Bodleienne. In: Ian Short (Hrsg.): Anglo-Norman Anniversary Essays. Anglo-Norman Text Society, London 1993, S. 135–148.
- Christopher Page: A Catalogue and Bibliography of English Song From Its Beginnings to c 1300. In: R.M.A Research Chronicle. Band 13, 1976, S. 67–83, doi:10.1080/14723808.1976.10540877.
- Karl Reichl: Die Anfänge der mittelenglischen weltlichen Lyrik: Text, Musik, Kontext (= Vorträge / Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften G, Geisteswissenschaften. Band 404). Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005, ISBN 978-3-506-75682-4.
Weblinks
- Ian Pittaway: Mirie it is while sumer ilast: decoding the earliest surviving secular song in English (revised and updated). www.earlymusicmuse.com, 25. August 2018. Abgerufen am 15. August 2020.
Einzelnachweise
- ↑ Deeming 2017, S. 74.
- ↑ a b c Pittaway 2018. Abgerufen am 15. August 2020.
- ↑ a b Dobson & Harrison 1979, S. 121.
- ↑ Deeming 2013, S. xli.
- ↑ Duncan 2005, S. 23.
- ↑ Formisano 1993, S. 136.
- ↑ Reichl 2005, S. 24.
- ↑ Deeming 2017, S. 63.
- ↑ Deeming 2013, S. xxxiii–xxxiv.
- ↑ Formisano 1993, S. 139.
- ↑ a b Deeming 2013, S. 179.
- ↑ Duncan 1994, S. 55.
- ↑ a b Reichl 2005, S. 25.
- ↑ Reichl 2005, S. 24–25.