K - Dyspraxie Final
K - Dyspraxie Final
K - Dyspraxie Final
Störung
(Dyspraxie)
Infoblatt K
Dyspraxie in der Schule
Informationen zuhanden der Lehrpersonen zu Dyspraxie, zu
Massnahmen der Differenzierung im Unterricht und zum
Nachteilsausgleich
Vollversion
1
Verfasst von der Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik
Im Auftrag der Conférence intercantonale de l’instruction publique de la Suisse romande et du Tessin
Dieses Dokument ist eine Übersetzung aus dem Französischen. Aus diesem Grund sind sämtliche genannten
Quellen in französischer Sprache.
Redaktion:
Géraldine Ayer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH
Fachliche Überprüfung:
Eliae Roulet Perez, Chefarzt und Christopher Newman, Assistenzarzt, Einheit für Neuropädiatrie, CHUV
Sylvie Ray-Kaeser, Ergotherapeutin MSc, beigeordnete Professorin HES-SO
Stéphanie Corminboeuf, spezialisierte Lehrkraft, Ausbildnerin, Spezialistin der Kompensationshilfsmittel
Marie-Laure Kaiser, Ergotherapeutin, Direktorin der Hochschule für Gesundheit Freiburg
Übersetzung:
Martin Aebischer, Konferenzdolmetscher Simultanübersetzungen und Übersetzungen, Freiburg
Spezialisiertes Korrektorat:
Christa Aebischer, Schulinspektorin, Amt für deutschsprachigen obligatorischen Unterricht DOA, Freiburg
Barbara Egloff, Vize-Direktorin SZH
Olga Meier, Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH
2
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis........................................................................................................................... 3
Vorbemerkungen ........................................................................................................................... 5
1 Allgemeine Informationen zu Dyspraxie ................................................................................ 6
1.1 Definition .................................................................................................................................... 6
1.2 Prävalenz .................................................................................................................................... 6
1.3 Ursachen .................................................................................................................................... 6
1.4 Begleitende Störungen ................................................................................................................ 6
1.5 Symptome .................................................................................................................................. 7
2 Merkmale und Auswirkungen von Dyspraxie ........................................................................ 7
2.1 Generelle Auswirkungen in der Schule ......................................................................................... 8
Körperhaltung und Positionierung des Körpers ............................................................................... 8
Präzision und Schnelligkeit der Gesten............................................................................................ 8
Automatisierung der Gesten .......................................................................................................... 8
Räumliche und zeitliche Orientierung ............................................................................................. 9
Organisation und Anpassung an Veränderung ................................................................................ 9
Alltagsaktivitäten ........................................................................................................................... 9
2.2 Auswirkungen auf das Lernen in der Schule ................................................................................. 9
Schreiben ...................................................................................................................................... 9
Lesen .......................................................................................................................................... 10
Mathematik ................................................................................................................................ 10
Aktivitäten, die gute räumliche Wahrnehmung erfordern .............................................................. 10
Arbeitsmethode........................................................................................................................... 11
Soziale Kompetenzen .................................................................................................................. 11
2.3 Persönliche Auswirkungen ......................................................................................................... 11
3 Unterrichtsdifferenzierung, um Lernende mit einer Dyspraxie angemessen unterstützen
zu können ..................................................................................................................................... 12
3.1 Akzeptanz und soziale Integration ............................................................................................. 12
3.2 Umgebung und Haltung ............................................................................................................ 13
3.3 Material und Ausrüstung ........................................................................................................... 13
3.4 Orientierung ............................................................................................................................. 14
3.5 Erlernen der manuellen Fertigkeiten ........................................................................................... 14
3.6 Schreiben lernen ....................................................................................................................... 15
3.7 Organisation ............................................................................................................................. 16
3.8 Generelle Lernprozesse .............................................................................................................. 16
3.9 Motivation und Partizipation ...................................................................................................... 17
3.10 Besondere Aufmerksamkeit .................................................................................................. 17
4 Massnahmen zum Nachteilsausgleich ................................................................................... 17
4.1 Anpassen der zeitlichen Rahmenbedingungen............................................................................ 18
4.2 Reduzieren der motorischen Anstrengung und des Umfangs der Schreibtätigkeit ........................ 18
4.3 Anpassen der Arbeitsdokumente ............................................................................................... 18
4.4 Anpassen der Arbeits- und Prüfungsform ................................................................................... 19
3
4.5 Material und persönliche Betreuung........................................................................................... 19
4.6 Anpassen der Arbeits- und Prüfungsmodalitäten ........................................................................ 20
5 Ausgewählte pädagogische Ressourcen ............................................................................. 20
5.1 Informatik- und pädagogische Hilfsmittel ................................................................................... 20
5.2 Sensibilisierung für Dyspraxie ..................................................................................................... 20
5.3 Weitere offizielle Seiten ............................................................................................................. 20
Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 21
4
Vorbemerkungen
Bei Lernenden mit einer Dyspraxie können gewisse Lernschwierigkeiten auftreten und sie können mit
Hindernissen in der Schule konfrontiert sein. Deshalb ist es wertvoll, wenn Lehrpersonen über spezifische
Kenntnisse über die Folgen einer Dyspraxie im Schulalltag verfügen. Bei der Lektüre dieses Dokuments,
insbesondere der unter Kapitel 3 und 4 vorgeschlagenen Massnahmen, gilt es, folgende Punkte zu
beachten.
Die Auswirkungen einer Dyspraxie können von einer Person zur anderen stark variieren. Zwei Lernende
mit Dyspraxie können unterschiedlichen Unterstützungsbedarf haben. Es ist daher wichtig, die
Gesamtsituation des Kindes zu betrachten und mit den Eltern sowie mit den in der Abklärung bzw.
Unterstützung involvierten Fachpersonen zusammenzuarbeiten. Ausserdem unterscheiden sich Kinder
mit Dyspraxie untereinander in ihren vielfältigen Möglichkeiten und ihrer Persönlichkeit. Wenn die
Lernenden auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden, besteht die Gefahr für die Lehrperson, deren
spezifische Bedürfnisse nicht wahrzunehmen.
Nebst den Lernenden mit einer Dyspraxie muss sich die Lehrperson auch um alle anderen Lernenden in
der Klasse kümmern, die teilweise auch Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten haben können.
In diesem Dokument wird nicht die Ansicht vertreten, dass die Lehrperson – parallel zum
Unterrichtsbetrieb mit dem Rest der Klasse – systematische und weitreichende Massnahmen umsetzt,
welche einzig auf Lernende mit einer Dyspraxie zugeschnitten sind. Vielmehr geht es darum, durch
Massnahmen der Differenzierung im Unterricht gleichzeitig den Bedürfnissen der Lernenden mit
Dyspraxie und der gesamten Klasse gerecht zu werden. Für Bedürfnisse von Lernenden mit einer
Dyspraxie, welche den üblichen Rahmen eines differenzierten Unterrichts überschreiten, werden
Fachpersonen der Sonderpädagogik (z. B. der Schulischen Heilpädagogik und der Psychomotorik) zur
Unterstützung einbezogen. Die Klassenlehrperson und die Fachpersonen analysieren im kollegialen
Austausch die Situation der Lernenden (Unterstützungsbedarf, mögliche Massnahmen etc.) und
beschliessen, welche Massnahmen von der Klassenlehrperson und welche von der Fachperson der
Sonderpädagogik durchgeführt werden können.
5
1 Allgemeine Informationen zu Dyspraxie
1.1 Definition
Unter Dyspraxie versteht man eine Anzahl spezifischer Funktionsstörungen bei der Entwicklung der
Motorik und Gestik. Dieser Begriff wird in der Schule oft verwendet, um Schwierigkeiten bei
Bewegungsabläufen oder bei der Raumwahrnehmung zu bezeichnen.
Die Dyspraxie wird in den diagnostischen Klassifikationen nicht aufgeführt, es werden aber andere
Begriffe verwendet. Es gibt auch keinen Konsens über die Definition und die typischen
Funktionsstörungen, die sie kennzeichnen (Inserm, 2019).
Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5) (APA, 2000; APA, 2013)
verwendet den Begriff Entwicklungsstörung der Koordination (APA, 2002), ein Begriff, der international
anerkannt ist. Die letzte Version der internationalen statistischen Klassifikation von Krankheiten und
verwandten Gesundheitsproblemen (ICD-11, Version 4/2019) spricht von Developmental motor
coordination disorder, was mit «Entwicklungsstörung der motorischen Koordination» übersetzt werden
kann (WHO, 2018).
Im DSM-5 wird Dyspraxie aber als Begriff aufgeführt und als die Entwicklungsstörung der Koordination
beschrieben. Sie wird mit den folgenden vier Kriterien1 gekennzeichnet:
1. Aneignung und Ausführung der Kompetenzen der motorischen Koordination der Person sind
wesentlich tiefer, als dies altersbedingt erwartet werden dürfte, wenn die Lerngelegenheiten und
der Gebrauch dieser Kompetenzen in Betracht gezogen werden.
2. Die Beeinträchtigung der motorischen Kompetenzen erschwert signifikant und dauerhaft den
Alltag der Person. Dies hat unter anderem einen Einfluss auf schulische Leistungen, Freizeit und
Spiele.
3. Erste Symptome treten bereits in der frühkindlichen Entwicklung auf.
4. Die Beeinträchtigungen können nicht durch eine verzögerte geistige Entwicklung, durch
Probleme beim Sehen oder durch andere neurologische motorische Störungen erklärt werden
(z. B. infantile Zerebralparese).
Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist bei der Frage geteilter Meinung, ob es sich bei der
Entwicklungsstörung der motorischen Koordination und der Dyspraxie um ein und dasselbe handelt
(Chaix et al., 2013). Trotzdem hat sich herausgestellt, dass die Dyspraxie eine Störung ist, die weit über
einfache Ungeschicklichkeit hinausgeht.
1.2 Prävalenz
Gemäss der Klassifikation nach DSM-5 sind 5 bis 6 % der Kinder zwischen 5 und 11 Jahren von einer
Entwicklungsstörung der motorischen Koordination betroffen (APA, 2015). Bei mindestens 2 % der
Kinder hat die Störung gravierende Konsequenzen im Alltag, während sie bei 3 % der Kinder zu einer
Funktionseinschränkung im Alltag und in der Schule führen kann. Jungen sind stärker betroffen als
Mädchen, es wird von einem Verhältnis von zwei bis sieben Knaben auf ein Mädchen ausgegangen
(Blank et al., 2019). Selbst wenn im Verlaufe der Zeit Fortschritte erzielt werden können, bleiben die
Probleme in 50 bis 70 % der Fälle in der Jugendzeit bestehen (APA, 2015).
1.3 Ursachen
Die Entwicklungsstörung der motorischen Koordination ist eine Störung auf neuronaler
Entwicklungsebene. Genetische Ursachen scheinen plausibel (Blank et al., 2019; Inserm, 2019). Belegt
dagegen ist die Tatsache, dass sie bei Frühgeburten oder Kindern mit geringem Geburtsgewicht doppelt
so häufig diagnostiziert wird (Blank et al., 2019; Inserm, 2019; Mazeau et al., 2005).
1
Die Definition Entwicklungsstörung der motorischen Koordination erscheint im ICD-11. Obwohl nicht vier Kriterien unterschieden
werden, ist sie beinahe gleich wie beim DSM-5
6
knapp die Hälfte der Kinder weist eine isolierte Dyspraxie auf (Mazeau et al., 2005). Mehr als 50 % der
Kinder mit einer Entwicklungsstörung der motorischen Koordination leiden auch unter einer
Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität (AD(H)S). Die Verbindung mit anderen
Lernschwierigkeiten kommt häufig vor: Ungefähr ein Drittel der Kinder mit einer spezifischen
Sprachstörung hat auch eine Entwicklungsstörung der motorischen Koordination und diese steht oftmals
in Verbindung mit Beeinträchtigungen beim Lesen und Schreiben – in mehr als 50 % der Fälle – sowie
in der Mathematik. Genannt werden auch Zusammenhänge mit einer Autismus-Spektrum-Störung
(ASS), weil es vorkommt (weniger als 10 %), dass ein Kind Symptome beider Störungen aufweist (Blank
et al., 2019; Inserm, 2019).
1.5 Symptome
Die Mechanismen, welche bei Motorik und Gestik eine Rolle spielen, sind zahlreich. In der Regel kann
gesagt werden, dass die Schwierigkeiten eines Kindes mit einer Entwicklungsstörung der motorischen
Koordination die Grobmotorik (Bewegungen des Körpers), die Feinmotorik (Bewegungen der Hände und
Finger), die Programmierung der Gestik (auf kognitiver Ebene) und deren Ausführung (auf motorischer
Ebene) betreffen. Diese verschiedenen Formen können bei einem Kind kumuliert auftreten (Breton et al.,
2007; Mazeau, 2013).
Symptome einer Entwicklungsstörung der motorischen Koordination können sich schon früh in der
Entwicklung durch leichte neuromotorische Anomalien oder eine Verspätung der Entwicklung der
Motorik bemerkbar machen. Aktivitäten wie Kriechen, Sitzen, Laufen, Rennen, eine Jacke anziehen,
einen Reissverschluss zumachen, die Schuhe binden, ein Glas halten, ein Messer handhaben, lassen dies
beobachten (APA, 2015; Missiuna, 2007). Häufiger wird eine Entwicklungsstörung der motorischen
Koordination dagegen erst bei Schuleintritt entdeckt, wenn kompliziertere Programmierung der Gesten
(Puzzles zusammensetzen, Bauen von Konstruktionen, Ballspielen, Zeichnen, Lesen, Schreiben etc.)
wichtiger werden.
Im Folgenden werden Auswirkungen der Dyspraxie und Wege zum besseren Verständnis aufgezeigt.
Weil die Auswirkungen der Beeinträchtigung individuell sind, treten die unten aufgeführten Punkte nicht
bei allen Kindern auf (Breton et al., 2007).
7
2.1 Generelle Auswirkungen in der Schule
Körperhaltung und Positionierung des Körpers
– Kinder mit einer Dyspraxie haben oft Schwierigkeiten, eine bestimmte Körperhaltung zu halten,
wenn sie sich nicht bewegen. Wenn die Lernenden auf dem Stuhl oder auf dem Boden sitzen, haben
sie die Tendenz, kraftlos zusammenzusinken, den Kopf zwischen den Händen zu halten, sich auf
andere zu stützen, sich hinzulegen, zu zappeln oder sich auf den Boden fallen zu lassen. Es kann
vorkommen, dass sie sich stark auf die Ellbogen aufstützen und dieses Gelenk dann versteifen, um
die schlechte Haltung zu kompensieren, was sie dann wiederum bei der Ausführung von Arbeiten,
welche feinmotorische Fertigkeiten erfordern, einschränkt.
– Gewisse Kinder bleiben dauernd in Bewegung, um ein bestimmtes Niveau an Gehirnaktivität zu
erreichen, welches ihnen erlaubt, das Gleichgewicht zu halten.
– Es gibt auch das gegenteilige Phänomen: Lernende, die Mühe mit Aktivitäten haben, bei welchen
die Körperhaltung andauernd gewechselt werden muss (siehe Punkt «körperliche Aktivitäten»).
Präzision und Schnelligkeit der Gesten
– Kinder mit einer Dyspraxie führen Bewegungen und Gesten oft unpräzise aus. Zwischenfälle, wie sie
unten beschrieben sind, gibt es bei ihnen häufiger, weshalb sie oft als ungeschickt angesehen
werden. Ihre Schwierigkeiten können die Grobmotorik (Seilspringen, Werfen und Fangen eines
Balles, Rad fahren etc.) und/oder die Feinmotorik betreffen. Zum Beispiel Gegenstände umstossen;
mit anderen Personen oder dem Mobiliar kollidieren; die Kraft nicht gut dosieren können; beim
Schreiben Löcher ins Papier drücken; die Mine des Bleistifts brechen; beim Radieren das Papier
zerknittern, zerreissen oder zu wenig Druck ausüben, um etwas auszuradieren; Probleme bei der
Manipulation mit (kleinen) Objekten, wenn ein Gegenstand in der Hand gehalten werden soll;
Schwierigkeiten, jeden Finger richtig zu steuern; ein Blatt mit einer Schere schneiden oder es halten,
um darauf zu zeichnen; einen Bereich ausmalen und dabei die Begrenzungslinien einhalten.
– Die langsame Ausführung – oft stark ausgeprägt – ist charakteristisch für die Dyspraxie und erscheint
bei allen Aktivitätstypen der Motorik. Dies hat Konsequenzen auf den Arbeitsrhythmus der
Lernenden und die Fähigkeit, eine Arbeit zügig in Angriff zu nehmen. Und das selbst dann, wenn sie
motiviert sind, die Sache gut zu machen.
Automatisierung der Gesten
– Kinder mit einer Dyspraxie benötigen mehr Übung, um motorische Fertigkeiten zu beherrschen. Sind
sie einmal gefestigt, können gewisse Funktionen gut ausgeführt werden. Es kann aber auch
vorkommen, dass gewisse Funktionen nie vollständig beherrscht werden. In diesem Fall wird die
gleiche motorische Bewegung vom Kind immer wieder so ausgeführt, als ob es sie zum ersten Mal
machen würde. Häufig können Kinder mit einer Dyspraxie gewisse Bewegungen problemlos, andere
dafür aber gar nicht ausführen. Oder es gibt eine gewisse Unbeständigkeit bei der Ausführung: Mal
gelingt die Bewegung gut, mal gelingt sie nicht.
– Das Übertragen einer Bewegung von einer Aktivität auf eine andere oder von einer Situation auf eine
andere kann grosse Schwierigkeiten bereiten. Auf den Gehsteig zu steigen erfordert zum Beispiel die
gleichen Bewegungen wie das Treppensteigen. Das Kind muss aber jede Variante einer Aufgabe
lernen, als wäre sie neu.
– Mangelnde Automatismen führen dazu, dass das Kind stark auf das Sehen zurückgreift, um seine
Bewegungen zu lenken. Diese Kompensation ist wenig effizient, was zu zahlreichen Schwierigkeiten
beim Bewältigen vieler Aufgaben führt, unter anderem beim Schreiben.
– Motorische Aufgaben erfordern oft eine hohe Konzentration, was das Kind nicht nur ermüdet,
sondern es auch daran hindert, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf andere Dinge zu richten. Es ist
ihm zum Beispiel nicht möglich, sein Heft auszupacken und gleichzeitig der Lehrperson zuzuhören.
Die Lernenden können also fälschlicherweise als unachtsam betrachtet werden. Angesichts der
Bedeutung des Schreibens bei vielen Lernprozessen sind Lernende mit einer Dyspraxie permanent
8
einer doppelten Aufgabe ausgesetzt (siehe unter «Schreiben lernen»).
Räumliche und zeitliche Orientierung
– Kinder mit einer Dyspraxie haben oft Schwierigkeiten mit der Orientierung im Raum sowie der
Wahrnehmung von Distanzen und der Tiefe. Ein Objekt in seiner Umgebung zu situieren, kann zum
Beispiel schwierig sein (Ist das Objekt auf der Vorder- oder Rückseite? Ist es oben oder unten?).
– Die Planung der Handlungen in einer zeitlich organisierten Abfolge kann auch eine Herausforderung
sein (Welche Handlung ist zuerst? Was kommt vorher, was nachher?).
Organisation und Anpassung an Veränderung
– Kinder mit einer Dyspraxie können sich durch die verschiedenen Handlungen, welche sie ausführen
müssen, überfordert fühlen. Zum Beispiel wissen die Lernenden nicht, ob sie beim Aufräumen mit
dem Schreibtisch oder der Schultasche beginnen sollen, was sie mit nach Hause nehmen sollen und
was in der Schule bleiben kann. Oft haben sie das Material, welches benötigt wird, nicht sofort zur
Hand und verlieren wertvolle Minuten, die für den Lernprozess notwendig sind.
– Veränderungen in der Umgebung oder im Programm, welche es den Lernenden abverlangen, die
Handlungsweise anzupassen, können für sie eine Herausforderung sein.
Alltagsaktivitäten
Anzeichen einer Dyspraxie können sich bei den folgenden Aktivitäten zeigen:
– Ankleiden: Jacke auf- und zuknöpfen, Reisverschluss öffnen/schliessen, Schuhe binden, die Kleider
richtig anziehen (z. B. Jacke verkehrt anziehen, Finken auf dem falschen Fuss tragen) oder sich in der
richtigen Reihenfolge anziehen (z. B. Schuhe vor den Socken anziehen).
– Körperpflege: Hände waschen, Nase schnäuzen und abwischen etc.
– Essen und Trinken: sitzen bleiben; Nahrungsmittel schneiden und sie in den Mund führen;
Verpackungen öffnen; Deckel öffnen; sich etwas zum Trinken einschenken; Tablett mit Geschirr
tragen, ohne es fallen zu lassen; etwas essen, ohne die Kleider oder das Gesicht zu bekleckern etc.
– Sich orientieren: Mensa finden, sich auf dem Pausenplatz orientieren etc.
– Körperliche Aktivitäten: Anpassung an Veränderung in der Umgebung; schnell reagieren;
Schätzung der Distanzen; Geschwindigkeit und Gewicht; zu wissen, wie viel Kraft anzuwenden ist;
Werfen und Fangen eines Balls; Treffen eines Ziels; Bewegungen synchronisieren (Schwimmen,
Choreografie) etc.
11
3 Unterrichtsdifferenzierung, um Lernende mit einer Dyspraxie
angemessen unterstützen zu können
Auch wenn die Auswirkungen der Dyspraxie den schulischen Alltag schwieriger gestalten können, sind
die Kompetenzen und die Persönlichkeit der Lernenden vielfältig. Sie können verschiedene Strategien
aufbauen, welche ihnen helfen, besser mit den Schwierigkeiten im Schulalltag umzugehen. In diesem
Sinne sind sie Hauptakteure in ihrer Ausbildung.
Ein Kind mit einer Dyspraxie wird sicherlich therapeutische Hilfe benötigen, um die Autonomie im Alltag
zu verbessern (Kaiser, 2018). Dies ist in der Regel das Ressort der Ergotherapie und der Eltern, welche ihr
Kind im Alltag unterstützen. Es gibt verschiedene effiziente Ansätze, um Kinder mit einer Dyspraxie zu
unterstützen. Zum Beispiel kognitive Ansätze, welche eine Methode des Typs «Problemlösung»
verwenden, die ein Kind veranlassen, über die Natur der Schwierigkeiten nachzudenken, denen es
begegnet ist und an Möglichkeiten zu denken, wie man ihnen begegnen kann (Breton et al., 2007). Der
Schule kommt ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Lernenden zu, es können auch
Fachpersonen aus anderen Disziplinen einbezogen werden (Psychomotorik, Logopädie, Sprachtherapie
und Sonderpädagogik). Es ist sehr wichtig, den Lernenden mit Dyspraxie die Möglichkeit zu geben, ihre
motorischen Kompetenzen zu verbessern und sie zu ermutigen, an den verschiedenen Alltagsaktivitäten
teilzunehmen, die zu Hause, in der Freizeit und in der Schule stattfinden (Blank et al., 2019). Es ist
notwendig, dass sich die verschiedenen Fachpersonen und die Eltern austauschen und koordinieren. Für
eine optimale Betreuung der Lernenden ist es entscheidend, dass sich die verschiedenen Fachpersonen
und die Familie gut untereinander absprechen und auf Kohärenz bei den Massnahmen achten (z. B.
Lernen der Bewegungen, visuelle Orientierung beim Lesen oder in der Mathematik, Einführung der
Tastatur etc.) (Inserm, 2019).
Mithilfe von differenzierten Unterrichtsformen kann die Lehrperson die betroffenen Lernenden gut
unterstützen. Dank eines guten Verständnisses der durch die Beeinträchtigung hervorgerufenen
Schwierigkeiten und unter Mithilfe weiterer Fachpersonen kann die Lehrperson adaptive
Unterrichtsformen sowie geeignete Hilfsmittel implementieren, um die negativen Auswirkungen der
Beeinträchtigung zu verringern. Dies ermöglicht es den Lernenden, ihre Kompetenzen besser zu entfalten
und die Lernprozesse zu erleichtern.
Die nachfolgend beschriebenen adaptiven Massnahmen gehen auf die spezifischen Bedürfnisse von
Lernenden mit Dyspraxie ein. Sie gehören zu den im Unterricht verwendeten Best Practices. Die
Auswirkungen einer Dyspraxie können von Person zu Person unterschiedlich sein. Deshalb ist es wichtig,
sich mit der Situation der einzelnen Lernenden vertraut zu machen, damit die Schule angemessen darauf
eingehen kann. Viele der unten beschriebenen Massnahmen können auch anderen Lernenden der Klasse
von Nutzen sein, unabhängig davon, ob sie von einer Beeinträchtigung betroffen sind oder nicht (z. B.
Lese-Rechtschreibstörungen, Dysphasie, Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeitsstörungen mit
oder ohne Hyperaktivität). Die Massnahmen müssen selbstverständlich den individuellen Bedürfnissen
der Lernenden, dem Alter, dem Kontext und der Schulstufe angepasst werden.
3.1 Akzeptanz und soziale Integration
– Den Lernenden zu helfen, bedeutet in erster Linie, sie in einem positiven Licht wahrzunehmen
(Akzeptieren der Verschiedenheit). Für Lernende mit Dyspraxie ist es sehr wichtig, dass ihnen die
Möglichkeit geboten wird, positive Erfahrungen zu machen, zum Beispiel indem sie im Unterricht
Erfolgserlebnisse haben, bewusst wahrnehmen, wenn sie «es geschafft» haben oder indem jene
Bereiche wertgeschätzt werden, in welchen sie gut sind und sich wohlfühlen (wo sie Talent, Interesse
oder spezielle Kenntnisse haben).
– Gegenseitige Hilfestellung und Zusammenarbeit zwischen den Lernenden fördern (kooperatives
Lernen; Arbeit in Zweiergruppen; Tutoring, dessen Form je nach Aufteilung der Verantwortung und
der zur Verfügung stehenden Zeit variieren kann etc.). Zum Beispiel bei Spielen können andere
Lernende bestimmt werden, die sich um die betroffenen Lernenden kümmern. Sie können bei Orts-
oder Aktivitätswechsel (Turnhalle, Schwimmbad) begleitet werden oder man bietet ihnen
12
teilstrukturierte Aktivitäten für die Pause an (einen Ort zum Austausch einrichten; Vorschläge zur
Integration in einen Freundeskreis unterbreiten, wenn sie isoliert sind; Spiele vorschlagen, die keine
besonders grosse Geschicklichkeit erfordern).
– Ihnen die Möglichkeit geben, in verschiedenen Situationen Verantwortung zu übernehmen (z. B. als
Klassenchef oder Bibliothekspersonal) oder anderen in Bereichen zu helfen, in welchen sie sehr gut
sind.
– Sensibilisierung der anderen Lernenden, des Kollegiums der Schule sowie vorschulischer
Einrichtungen: Die besonderen Bedürfnisse und die Schwierigkeiten der betroffenen Lernenden
erklären, zum Beispiel durch Rollenspiele (Schreiben oder Zeichnen mit der nicht dominanten Hand,
mit Fausthandschuhen, auf einem wackeligen Stuhl etc.). Bei Bedarf sollen Situationen geklärt
werden, die zu Missverständnissen führen könnten (z. B. wenn die anderen Lernenden eine
Massnahme als Bevorzugung wahrnehmen oder wenn es zu Konflikten mit ihnen kommt). 2
2
Im Sinne des Respekts des Persönlichkeits- und Datenschutzes ist das Einverständnis der Eltern und der Schülerin bzw. des Schülers für eine
Information an Drittpersonen notwendig.
13
– Einen Werkzeugkasten für das Schreiben und Zeichnen zur Verfügung stellen, damit die Lernenden
verschiedene Hilfsmittel ausprobieren und selbst wählen können, was ihnen am besten passt.
3.4 Orientierung
– Visuelle Orientierungspunkte explizit in den Raum stellen (z. B. Piktogramme oder Fotos an die Türen
hängen, welche die Funktion eines Zimmers erklären oder den eigenen Platz im Umkleideraum
markieren).
– Vokabular der Raumorientierung explizit verwenden und Nuancen anhand von Beispielen, von
Piktogrammen oder durch Bezüge zum eigenen Körper definieren.
– Platz der Unterlagen auf dem Arbeitsplatz hervorheben (z. B. Rahmen mit Klebeband für ein Blatt);
Vermeiden von zu grossen Unterlagen (A3-Blätter) sowie von Dokumenten, die keine klaren
Informationen liefern (Fotokopien mit schlechter Qualität, Übungsformen wie Labyrinth oder
Wörterschlangen, Zeichnungen im Hintergrund, ungeordnete Elemente); Vermeiden von
verschiedenen Unterlagen bei einer Aktivität (Hin- und Hergehen von einem Blatt zum nächsten).
– Organisation der Information auf strukturierte und klare Art (linear; wenig Informationen auf einmal;
einfach zu lesende Schriftarten wie Arial oder Verdana; doppelter Zeilenabstand; Illustrationen vor
oder nach dem Text anbringen, ohne den Text zu unterbrechen; an der Wandtafel nach und nach
auswischen, was nicht mehr gebraucht wird; nur eine Übung pro Seite anbringen; nur die Vorderseite
von Blättern verwenden) (siehe nächstes Kapitel unter Punkt «Anpassen der Arbeitsdokumente»).
– Beim Lesen das Kind dazu ermutigen, eine taktile Orientierungshilfe unter die Zeile zu legen (z. B. ein
Lineal). Oder es kann eine Schablone benutzen, die nur eine oder mehrere Zeilen auf einmal sichtbar
werden lässt, oder es kann dem Text mit seinen Fingern folgen. Man kann an der Wandtafel präzise
mit dem Finger zeigen, worüber man spricht, oder stumme Silben oder Buchstaben mit anderen
Farben hervorheben, was einigen Lernenden beim Lesen und bei der Rechtschreibung helfen wird.
– In der Mathematik Norm-Farben verwenden (z. B. Stellenwerte: Einer grün, Zehner rot, Hunderter
blau; bei gemischten Operationen Multiplikationen rot, Divisionen grün; für das Lesen der Uhr
Stundenzeiger oder Zahlen rot, Minutenzeiger blau etc.), die dann von allen verwendet werden sollen
(Lehrpersonen, Fachpersonen und Eltern). Bei schriftlichen Rechenverfahren Formate wählen, die das
korrekte Untereinanderschreiben der Zahlen erleichtern oder – nach Absprache mit den
Fachpersonen der Sonderpädagogik – die halbschriftlichen Verfahren bevorzugen.
– Im Turnunterricht visuelle oder auditive Orientierungshilfen einsetzen (z. B. ein farbiges Spielband
auf das zu erreichende Ziel legen, farbige Markierungen für das Spielfeld oder farbige Spielbänder
für die Mannschaften, eine Trillerpfeife für Signale einsetzen, ein farbiges Band an einen Federball
binden etc.).
3.7 Organisation
– Den Lernenden ein System für die Ablage und Ordnung der Schulsachen vorschlagen. Das kann zum
Beispiel eine Farbe pro Fach sein, wobei die gleichen Farben auch zum Ordnen des Materials in der
Klasse verwendet werden. Das können auch farbige Klebebänder zum Markieren der Hefte und des
Faches oder Farben für digitale Ordner sein.
– Darauf achten, dass die Lernenden (nur) das benötigte Material bereitliegen haben und dieses sofort
verwendet werden kann (z. B. gespitzte Bleistifte). Zusätzliches Material abgeben: Einen Teil behalten
sie zu Hause, den anderen Teil in der Schule (Füller, Handbücher etc.).
– Dem Lernenden in der Nähe des Arbeitsplatzes genügend Raum zum Unterbringen der Sachen
geben.
– Die Agenda systematisch prüfen. Man kann die Hausaufgaben zu Beginn der Lektion eintragen oder
die Dokumente zu den Hausaufgaben in eine Cloud stellen.
– Die Lernenden beim Planen und beim Einteilen der Zeit unterstützen. Sie können zum Beispiel einen
TimeTimer® oder eine Sanduhr beim Erledigen einer bestimmten Aufgabe benutzen. Vor der
Evaluation soll definiert werden, was in welchem Zeitraum genau gemacht werden muss. Man kann
ihnen signalisieren, wann sie zur nächsten Aufgabe übergehen sollen.
– Mindmaps verwenden, um die Gedanken zu strukturieren.
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– Bei einem neuen Lernprozess explizit auf die bekannten Vorerfahrungen Bezug nehmen, um den
Transfer des Gelernten von einer Situation auf eine andere zu fördern. Man kann eine Verbindung
mit Erlebtem oder mit einem bekannten Begriff bzw. einer bekannten Situation herstellen, oder die
Lernenden zählen die Strategien auf, welche sie bereits genutzt haben.
3
Die Dyspraxie wird in der Medizin als eine Störung angesehen, ist aber auf juristischer Ebene als Behinderung im Sinne
des Artikels 2 der Bundesgesetzgebung, als Beseitigung der Ungleichheiten für behinderte Personen
(Behindertengesetzgebung) zu verstehen.
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Die folgende Liste mit Massnahmen zum Nachteilsausgleich bei Lernenden mit Dyspraxie ist nicht
vollständig. Die Massnahmen zum Nachteilsausgleich müssen auf jeden Fall auf die persönliche Situation,
das Alter und die Schulstufe der Lernenden angepasst werden. Sie werden in einem Netzwerkgespräch
mit allen beteiligten Parteien diskutiert und festgelegt. Ausserdem müssen sie regelmässig evaluiert und
bei Bedarf angepasst werden.
Es muss beachtet werden, dass einzelne Lernende mit Dyspraxie Anpassungen der Lernziele benötigen.
In diesem Fall haben die schulischen Anpassungen nicht den formalen Status des Nachteilsausgleichs,
sondern sind Teil ihrer individuellen Lernziele. Schliesslich ist zu beachten, dass sonderpädagogisches
Fachpersonal bei der Auswahl geeigneter Hilfsmittel behilflich sein kann.
18
– Einfache, gut lesbare Schriftarten wählen. Man kann die Schrift, die Wörter, den Zeilenabstand oder
die Felder für eine schriftliche Antwort gegebenenfalls vergrössern (Rahmen, Lückentexte etc.).
– Jeden Satz oder jede Zeile mit einer anderen Farbe markieren. Man kann den Anfang des Textes
markieren (farbiger Punkt, Pfeil, Zeichnung), bei Tabellen mit Kopfzeile und Vorspalte die Zeilen oder
Spalten mit zwei alternierenden Farben hinterlegen oder die wichtigen Informationen hervorheben
(z. B. Fettdruck, Schlüsselwörter unterstreichen oder einen Rahmen um das Antwortfeld machen).
– In der Mathematik immer die gleichen Farbnormen verwenden (siehe Kap. 3, Orientierung).
– Wichtige Informationen hervorheben (Kreis, Fettdruck). Zum Beispiel können in der Geometrie
Figuren (z. B. Teilflächen, spezielle Punkte) farbig markiert oder mit einer dickeren Linie
gekennzeichnet werden etc.
4
Dieses Dokument ist eine Übersetzung aus dem Französischen. Aus diesem Grund sind sämtliche genannten Quellen in
französischer Sprache.
20
Literaturverzeichnis 5
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Dieses Literaturverzeichnis listet die im Text zitierten Quellen sowie weitere Dokumente (Bücher, wissenschaftliche Artikel,
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