Innovatives Und Digitales Marketing in Der Praxis

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Christian Lucas

Gabriele Schuster Hrsg.

Innovatives
und digitales
Marketing in
der Praxis
Insights, Strategien und Impulse für
Unternehmen
Innovatives und digitales Marketing in der
Praxis
Christian Lucas · Gabriele Schuster
(Hrsg.)

Innovatives und digitales


Marketing in der Praxis
Insights, Strategien und Impulse
für Unternehmen
Hrsg.
Christian Lucas Gabriele Schuster  
IU Internationale Hochschule Düsseldorf IU Internationale Hochschule Hamburg
Düsseldorf, Deutschland Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-38209-4 ISBN 978-3-658-38210-0 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0

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Planung/Lektorat: Imke Sander


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Geleitwort

Im Marketing hat sich in den letzten 5 bis 10 Jahren ein weiterer Paradigmenwechsel
vollzogen. Marketing- und Vertriebsinstrumentarien verschmelzen mittlerweile zu einem
Instrument, das gleichzeitig Kaufabschlüsse erzielt und das Markenimage beim Kunden
prägt.
Die ursprünglich klar definierten Grenzen zwischen Above- und Below-the-line-
Marketingmaßnahmen verschwinden. Längst dominieren individualisierbare, digitale
Instrumente der Kundenidentifikation, -ansprache und -kommunikation die Marketing-
planung und -budgets. Die Gewinnung und langfristige Nutzung von Kundendaten sowie
die Abschöpfung des Customer Lifetime Values stehen im Mittelpunkt. Breit streuende,
unpräzise Marketingmaßnahmen, die in erster Linie große Kundensegmente adressieren,
folgen in den Überlegungen nachgeordnet. Diese sichern vor allem die Performance im
sog. Upper Funnel der Customer Journey, d. h. sie sind mittlerweile „lediglich“ auf den
Auf- und Ausbau der Brand Awareness fokussiert.
Veränderte digitale Rahmenbedingungen bspw. durch Blockchaintechnologien
und NFTs oder durch den Einsatz von NLP, Deep Learning oder AI-Technologien
treiben diese Veränderungen im Marketing weiter voran. Exemplarisch seien nur die
Konsequenzen in der Zielgruppenkommunikation, -analyse oder der Produkt- oder Preis-
entwicklung genannt. Diese haben bereits ihren Einzug in weite Teile des Marketing-
alltags vollzogen. Die Konsequenz: eine branchenübergreifende, gesteigerte Dynamik
in den Märkten, höhere Individualität in der Zielgruppenansprache und vielfältige neue
Wege, auf veränderte Kundenbedürfnisse schneller, konsequenter und bedürfnisgerechter
zu reagieren.
Diese Entwicklungen werden durch Unternehmen aller Branchen vorangetrieben,
implementiert und laufend adaptiert. Umso wichtiger ist es für Studierende wie
Praktiker:innen, einen möglichst übergreifenden, praxisbezogenen Blick auf den
aktuellen Stand innovativer Marketingansätze im digitalen Zeitalter zu bekommen. So
können der aktuelle Status quo im Marketing beleuchtet, Ausblicke auf sich bereits am
Horizont abzeichnende Entwicklungen gewonnen und Optionen für die Gestaltung des
eigenen Marketings abgeleitet werden.

V
VI Geleitwort

Den Autor:innen dieses Herausgeberwerkes gelingt es, ein breites, interdisziplinär


geprägtes Spektrum der Auswirkungen und Entwicklungen im digitalen Marketing auf-
zuspannen. Ausgehend von der Betrachtung der Rolle der Konsument:innen werden
im Verlauf die zentralen Aufgabenfelder und Bereiche des Marketings und die dortige
Relevanz digitaler Innovationen praxisnah dargestellt. Konkrete Anwendungsbeispiele
und detailliertere Betrachtungen der Auswirkungen digitaler Marketinginnovationen in
unterschiedlichen Branchen runden die Analysen und Darstellungen ab. Dabei gelingt
es, stets praxisrelevant und anwendungsbezogen die jeweiligen digitalen Entwicklungen
und die Konsequenzen für die Gestaltung des Marketings darzustellen. So erhalten
interessierte Studierende, Praktiker:innen wie Marketingexpert:innen einen umfassenden
und fundierten Überblick über den aktuellen Status quo und künftige Entwicklungen im
digitalen Marketing.

München Prof. Dr. Patrick Geus


im Herbst 2022 Prorektur On Campus,
IU Internationale Hochschule
Vorwort

Die Anfänge der Digitalen Revolution datieren auf den Ausgang des 20. Jahrhunderts,
als nahezu weltweit ein Umbruch in fast allen Lebensbereichen hin zu einem digital
vernetzten Lebensstil führte. Die Digitale Revolution wird in Fachkreisen auch als
sogenannte vierte industrielle Revolution bezeichnet, kommt ihr doch eine ähnliche
Bedeutung zu, wie den ersten dreien, etwa 250, 150 bzw. 50 Jahre zuvor.
Marketing muss im Zeitalter der digitalen Revolution völlig neu gedacht werden. Eine
Erweiterung bestehender Konzepte und Modelle, wie sie seit den 1950er Jahren immer
wieder vorgenommen wurden, ist nicht mehr ausreichend. Das bedeutet, dass Erkennt-
nisse der letzten Jahrzehnte, wie zum Beispiel der Kundenfokus oder auch die Kunden-
segmentierung, jeweils besser in das Modell eingepasst werden können. Das neue
Konzept stellt nun die einzelnen Konsument:innen direkt, von Anfang an in den Mittel-
punkt der Betrachtung und richtet das Marketing konsequent auf sie aus. Aus Sicht der
Konsument:innen geht es dann nicht mehr um die Optimierung eines Marketingmixes,
sondern um die Optimierung eines wahrgenommenen kundenspezifischen Angebots.
Dieser Perspektivenwechsel hat weitreichende Konsequenzen: Das Innovations-
management wird aus dem Marketingmix herausgelöst, die Informationsbeschaffung
erhält eine zentralere Rolle, und neuere Möglichkeiten der Individualisierung und ver-
netzten Kundenbeziehung werden besser berücksichtigt. Die Marketinginstrumente
werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern immer im größeren Zusammenspiel
untereinander und in Interaktion mit den Konsument:innen. Die damit verbundene
Komplexitätssteigerung führt in einem ersten Schritt von einer personenzentrierten
Marketing- und Zielgruppenanalyse zu einer prozesszentrierten Analyse. Die Abläufe
werden automatisiert und mittels mustererkennender künstlicher Intelligenz verarbeitet,
als Ergebnis werden Handlungsalternativen auf Basis von Zukunftswahrscheinlichkeiten
vorgeschlagen.
Das vorliegende Werk ist von Hochschuldozierenden für Wirtschaftsunternehmen
geschrieben. Es liefert einen Überblick über Einsatzmöglichkeiten, Sichtweisen und
Impulse für innovatives sowie digitales Marketing. Die zahlreichen Beiträge präsentieren
ein breites Portfolio vielfältiger Ideen und Inspirationen für den praktischen Einsatz in
der Wirtschaft.

VII
VIII Vorwort

Einführend wird in einem Überblicksbeitrag eine Neukonzeptionierung des


Marketings im digitalen Zeitalter dargestellt und die Grundlage für die Struktur und die
Ausarbeitungen in diesem Buch erläutert. Der Sammelband ist in fünf Themenbereiche
gegliedert, in denen die Aspekte der Digitalisierung entlang der Marketingkonzeption in
unterschiedlicher Art und Weise zum Tragen kommen.
Teil eins befasst sich mit Konsumentenverhalten: Hier findet sich eine Abhandlung
zur Zukunft des Homo sapiens und der Erkenntnis, dass eine Integration zwischen
Empathie, Emotionen und Digitalisierung möglich ist, wenn auch eher als Homo
hybridus denn als Homo digitalis. Vertiefend ein Einblick in die Fragestellung, ob
digitale Kommunikation auch in der Lage ist, Emotionen beim Empfänger auszulösen
und abschließend eine Prognose auf die immer höhere Relevanz älterer Zielgruppen für
das digitale Marketing.
Teil zwei ist den Themen Marktforschung und Marktanalyse gewidmet. In diesem
Teil wird sich intensiv damit beschäftigt, wie die Digitalisierung die Umfrageforschung
im Speziellen und die Marktforschung im Allgemeinen in den letzten 20 Jahren ver-
ändert hat und aufgezeigt, dass einige Prozessschritte bereits heute schon vollständig
automatisiert sind. So ist eine Do-it-Yourself-Marktforschung auch für Nicht-Experten
möglich geworden ist. Abschließend wird sehr praxisnah dargestellt, wie auch kleine und
mittelständige Unternehmen kostengünstig eine Analyse ihres Webauftritts durchführen
können.
Im dritten Teil Ziele, Strategien und Innovationen geht es um die Verfolgung nach-
haltiger Ziele im Rahmen der digitalen Unternehmensverantwortung (Corporate Digital
Responsibility), die Schlüsselrolle der Digitalisierung in Bezug auf Innovationsprozesse
und eine moderne Marketingstrategie „Growth Hacking“, die als Erfolgsfaktor für
starkes Unternehmenswachstum mit kosteneffizienten Maßnahmen gesehen wird.
Die Beiträge in Teil vier beleuchten die sechs Marketinginstrumente genauer, wobei
People und Processes zu den klassischen vier Marketinginstrumenten Product, Price,
Place und Promotion, hinzukommen. In diesem Abschnitt wird u.a. die Wichtig-
keit von Employer Branding aufgezeigt und dargelegt, wie People Analytics den ent-
scheidenden Mehrwert liefern kann, um im War for Talents bestehen zu können. Eine
genauere Betrachtung möglicher menschlicher Fehler bei der Entscheidungsfindung hilft
dabei einzuschätzen, ob und wenn ja, welche Prozesse automatisiert werden können und
sollten. Künstliche Intelligenz könnte dabei helfen. In zwei weiteren Beiträgen wird
untersucht, für welche Marketingzwecke diese Technologie bereits heute einsetzbar ist
und woher die Datenbasis dafür kommt, wenn das Zeitalter der Internet-Cookies aus-
läuft. Es werden die Potenziale von Blockchains und Non-Fungible Tokens (NFTs) für
das Marketing ausgeleuchtet, und in einem praktischen Anwendungsfall untersucht, wie
digitale Tools in der touristischen Besucherlenkung zu einer höheren Attraktivität und
Akzeptanz führen können.
Bezüglich der klassischen vier P wird das Produkt P einmal neu aus Sicht der
Kund:innen interpretiert. Digitales Pricing wird allgemein vorgestellt und anhand von
zwei praktischen Beispielen (Verlagswesen und Luftfahrtgeschäft) analysiert. Dabei
Vorwort IX

wird u.a. auf die Wahrnehmung der Preisfairness seitens der Kund:innen eingegangen.
Der durch die Corona-Pandemie noch weiter forcierte digitale Vertrieb, bspw. mittels
E-Commerce oder Social Selling, wird inhaltlich erläutert und strategisch differenziert,
bevor dann in einem weiteren Beitrag die Auswirkungen der Digitalisierung auf den
B2B-Vertrieb untersucht werden. Abgeschlossen wird dieser Themenblock mit einem
Ausblick auf den Vertrieb im Metaversum. Der Themenbereich Kommunikation startet
mit einer Übersichtarbeit. Es werden drei zentrale Trends beobachtet und Anwendungs-
felder für datenbasierte Analysen vorgestellt. Im Folgenden werden dann konkrete
Situationen betrachtet: Wie ist bspw. mit einem digitalen Shitstorm umzugehen? Welche
Potenziale haben Podcasts in der digitalen Marketingkommunikation? Und wird uns die
künstliche Intelligenz beim Erstellen von Texten unterstützen oder ersetzen?
Teil fünf widmet sich der Implementierung, d. h. es geht darum, den Marketingmix
analog und digital auf die Straße zu bringen, Kundenbeziehungen entlang der Customer
Journey aufzubauen und zu stärken, einen Ausblick auf digitale Marketingmöglichkeiten
in Arztpraxen zu werfen und last but not least die DS-GVO im Lichte des digitalen
Marketings zu betrachten.
Die Entscheidung, wie in den Buchbeiträgen gegendert wird, wurde den Autor:innen
überlassen. Als Herausgeber:innen nehmen wir hier keinen inhaltlichen Einfluss.
Zum Gelingen dieses Sammelbandes haben viele Personen beigetragen. Unser Dank
gilt vor allem den Autor:innen, die erst durch ihre Expertise die Entstehung dieses
Buches ermöglicht haben. Unser Dank gilt auch Frau Imke Sander vom Springer Gabler
Verlag, die unser Projekt mit viel Umsicht und Initiative unterstützt hat.

Düsseldorf Christian Lucas


Hamburg Gabriele Schuster
im Herbst 2022
Inhaltsverzeichnis

1 Marketing-House-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Christian Lucas
1.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Das neue Marketing-House-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3 Grundbestandteile des Marketing-House-Konzepts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3.1 Progress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3.2 Market Research. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3.3 Customer Oriented Offering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3.4 Perception. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.3.5 Paradigm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.3.6 Market . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.4 Fazit, Abgrenzung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Teil I Konsumentenverhalten
2 Quo vadis, Homo digitalis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Gabriele Schuster, Verena Renneberg und Susanne O’Gorman
2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.2 Individualistischer Massenkonsum im Zeichen der Digitalisierung . . . . . . 26
2.3 Harte Währung Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.4 Menschliche Grundbedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.5 Konsequenzen für Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.6 Chancen und Risiken neuer Technologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

XI
XII Inhaltsverzeichnis

3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und


Grenzen der digitalen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Daniel Schmid
3.1 Auswirkungen der Digitalisierung auf das Marketing
und die Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.2 Die Bedeutung von Kommunikation und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.2.1 Digitale Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.3 Konsument:innenverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.3.1 Erklärungsmodelle des Kund:innenverhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.3.2 Multisensorische Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
3.4 Emotion als Treiber des Kund:innenverhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.4.1 Definition und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.4.2 Entstehung von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.5 Digitale Kommunikation und ihre Möglichkeiten der
Emotionalisierung der Kund:innenbeziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.5.1 Bedeutung der Kommunikation für das Kund:innenverhalten. . . . 52
3.5.2 Emotionsreduzierende Effekt der digitalen Kommunikation. . . . . 53
3.5.3 Reduzierte emotionale Ansteckung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.5.4 Reduzierte Hintergrundinformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3.5.5 Eingeschränkte Sinneswahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3.5.6 Eingeschränkte Interaktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
3.6 Emotionssteigernde Effekte der digitalen Kommunikation. . . . . . . . . . . . . 58
3.6.1 Einflüsse von Social Media auf die Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . 58
3.7 Einflüsse von Big Data, Marketingautomation und KI auf
die Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen
Marketing für ältere Zielgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Jonas Polfuß
4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4.2 Ältere Generationen auf digitalem Vormarsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
4.2.1 E-Commerce-Anschub durch die Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
4.2.2 Zugang zu unterschiedlichen Produktkategorien. . . . . . . . . . . . . . 67
4.3 Generationsunterschiede im digitalen Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
4.3.1 Agentur-Jugendwahn und Marketingverständnis für Ältere . . . . . 68
4.3.2 Abzocke und Vertrauen in älteren Zielgruppen. . . . . . . . . . . . . . . 69
4.3.3 Vorbild Asien? Wo es hinführen könnte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
4.4 Social-Media-Kreative im höheren Alter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.4.1 Influencertum zwischen den Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.4.2 Dynamik zwischen den Generationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.4.3 Besonderes Potenzial der Älteren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Inhaltsverzeichnis XIII

4.5 Fazit – Chancen durch Zuhören. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73


Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Teil II Marktforschung & Marktanalyse


5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung der
Forschungsmethode Beobachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Marion Kalteis
5.1 Aller Anfang ist digital. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
5.2 Erweiterung der Beobachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
5.3 Digitale Beobachtung für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
5.4 Grenzen des Homo Digitalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Tanja Zweigle
6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
6.2 Ausgangssituation: Entwicklung der Umfrageforschung . . . . . . . . . . . . . . 92
6.3 Digitalisierung des Forschungsprozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
6.3.1 Auswirkungen der Digitalisierung auf die Datenerhebung. . . . . . 96
6.3.2 Digitale Datenanalysetools. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.3.3 Automatisierte Datenaufbereitung und Dokumentation . . . . . . . . 100
6.4 Trends in der Umfrageforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
6.4.1 Do-it-yourself-(DIY)-Umfragen etablieren sich . . . . . . . . . . . . . . 101
6.4.2 Online-Research wird zum Mobile-Research . . . . . . . . . . . . . . . . 103
6.4.3 Digitale Sprachassistenten, Chatbots und Avatare ersetzen
menschliche Interviewer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
6.5 Fazit und Implikationen für die Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner und mittelständischer
Unternehmen in der Tourismusbranche am Beispiel
von Google Lighthouse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Anna Klein, Ina zur Oven-Krockhaus und Sven Pastowski
7.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.2 Bewertung eines Internetauftritts – Messkriterien und -verfahren. . . . . . . . 117
7.3 Digitale Analysetools als Instrument zur Bewertung von Websites. . . . . . . 122
7.3.1 Anforderungen an ein Analysetool. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
7.3.2 Vorstellung von Website-Analysetools für
touristische KMUs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
7.4 Vorstellung und Bewertung von Lighthouse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
7.4.1 Allgemeine Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
7.4.2 Case Study. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
XIV Inhaltsverzeichnis

7.4.3 Bewertung von Lighthouse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135


7.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Teil III Ziele, Strategien und Innovationen


8 Open Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Natascha Hebestreit
8.1 Worum es geht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8.2 Erfolgsgeschichte eines Begriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8.3 Digitalisierung – treibende Kraft und eigenes Innovationsfeld. . . . . . . . . 144
8.4 Kontextabhängigkeit von Open Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
8.5 Herausforderungen bei der Umsetzung in Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . 148
8.6 Unterschiedliche Arten von Open Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
8.6.1 Crowdsourcing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
8.6.2 Gezielte Auslagerung an externe Spezialisten. . . . . . . . . . . . . . 152
8.6.3 Eingliederung und externe Verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
8.7 Open Innovation als Erfolgskonzept für Volkswirtschaften
und supranationale Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
9 Digitale Unternehmensverantwortung (Corporate Digital
Responsibility, CDR) im Marketing der Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Carsten Skerra
9.1 Von der sozialen Unternehmensverantwortung zur digitalen
Unternehmensverantwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
9.2 Anwendung der Corporate Social Responsibility auf
Unternehmen im ITK-Sektor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
9.3 Die Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale „Belange“
und Szenarien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
9.3.1 Produkt und Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
9.3.2 Kundenbedürfnisse und Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
9.3.3 Digitalisierung und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
9.4 Neubetrachtung im Sinne einer Corporate Digital
Responsibility (CDR). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
9.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . 177
Thomas Bolz und Georg Bouché
10.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
10.2 Ursprung und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Inhaltsverzeichnis XV

10.3 Growth Hacking in der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180


10.3.1 Dropbox. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
10.3.2 Airbnb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
10.3.3 Dollar Shave. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
10.3.4 Facebook. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
10.3.5 Foundr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
10.3.6 Gmail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
10.3.7 Groupon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
10.4 Growth-Hacking-Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
10.4.1 E-Mail-Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
10.4.2 Rabatte als Gegenleistung für Social Sharing . . . . . . . . . . . . . . 185
10.4.3 Gamification beim Onboarding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
10.4.4 Kostenlose Produkte mit hohem Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
10.4.5 Gewinnspiele und Verlosungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Teil IV Marketinginstrumente
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Katharina-Maria Rehfeld, Michaela Moser und Maik Günther
11.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
11.2 Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
11.3 Personalmarketing als Selektionsfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
11.4 Employer Brand im Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
11.5 Smart Data als Grundlage von People Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
11.6 Anwendungen von People Analytics für das externe und
interne Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
11.6.1 People Analytics im externen Personalmarketing . . . . . . . . . . . 196
11.6.2 People Analytics im internen Personalmarketing. . . . . . . . . . . . 198
11.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
12 Menschen machen Fehler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Christian Lucas
12.1 Entscheidungen als Grundbestandteil betriebswirtschaftlicher
Unternehmensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
12.2 Warum machen Menschen Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
12.3 Systematische und zufällige Fehler bei der Entscheidungsfindung. . . . . . 207
12.3.1 Systematische Fehler, kognitive Verzerrungen, Biases . . . . . . . 207
12.3.2 Zufällige Fehler, Rauschen, Noise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
XVI Inhaltsverzeichnis

12.4 Lösungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213


12.4.1 Veränderungen bei Personen durch Auswahl und
Schulungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
12.4.2 Veränderungen bei Prozessen, Debiasing und
Entscheidungshygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
12.4.3 Austausch von Personen durch KI-basierte Prozesse. . . . . . . . . 216
12.5 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
13 Künstliche Intelligenz im Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Jan Pieper
13.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
13.2 Heutige KI-Anwendungen im Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
13.3 Vier Arten von KI-Anwendungen im Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
13.3.1 Einfache Automatisierungsanwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
13.3.2 Fortgeschrittenes maschinelles Lernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
13.3.3 Eigenständige KI-Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
13.3.4 Integrierte KI-Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
13.4 Ein schrittweiser Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
13.4.1 Erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
13.4.2 Herausforderungen und Risiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
13.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für
zielgruppen­orientierte Werbung im Internet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Claudia Heß und Ralf Kneuper
14.1 Einführung und Motivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
14.2 Werbetracking im Internet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
14.2.1 Cookies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
14.2.2 Alternative Technologien für das Werbetracking. . . . . . . . . . . . 236
14.2.3 Am Werbetracking Beteiligte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
14.3 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
14.3.1 Googles Privacy Sandbox. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
14.3.2 Federated Learning of Cohorts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
14.3.3 Erfahrungen mit FLoC aus Pilotversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . 239
14.4 Bewertung von FLoC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
14.4.1 FLoC aus Sicht der Internetnutzer:innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
14.4.2 FLoC aus Sicht der Werbetreibenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
14.4.3 FLoC aus Sicht anderer Ad Exchanges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
14.4.4 FLoC aus Sicht der Betreiber von Webpräsenzen . . . . . . . . . . . 242
14.4.5 FLoC aus Sicht anderer Browser-Anbieter. . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Inhaltsverzeichnis XVII

14.5 Topics API . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243


14.5.1 Funktionsweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
14.5.2 Topics API im Vergleich zu FLoC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
14.6 Apples Alternative: Das App Tracking Transparency
Framework (ATF). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
14.7 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
15 Blockchain im Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Dietmar Janetzko
15.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
15.2 Stand der Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
15.3 Kontrolle und Vertrauen im Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
15.4 Kleines Blockchain-Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
15.4.1 Airdrop. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
15.4.2 Blockchain. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
15.4.3 Hash. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
15.4.4 Hash. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
15.4.5 Kryptographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
15.4.6 Metaverse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
15.4.7 Non Fungible Tokens (NFTs). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
15.4.8 Smart Contract. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
15.4.9 Token Gating . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
15.5 Blockchainanwendungen im Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
15.5.1 Non-Fungible Tokens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
15.5.2 Digitaler Ad-Betrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
15.5.3 Supply Chain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
15.5.4 Non-Fungible Tokens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
15.5.5 Loyalitätsprogramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
15.5.6 Datenaustausch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
15.6 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
16 Digitale Anwendungen in der touristischen Besucherlenkung –
Erhalt und Steigerung der Attraktivität und Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . 267
Felix Wölfle und Simon Ens
16.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
16.1.1 Aufgaben der Besucherlenkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
16.1.2 Digital vs. analog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
16.2 Anwendungsbeispiele digitaler Besucherlenkungsmaßnahmen . . . . . . . . 271
16.2.1 WunderlineGo-App . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
16.2.2 Digitaler Urlaubsplaner Oberstdorf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
XVIII Inhaltsverzeichnis

16.2.3 Freizeitampel Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273


16.2.4 Open Source Projekt NRW. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
16.3 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Christian Lucas
17.1 Dinge, für die es Märkte gibt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
17.2 Unternehmerische Fokussierung auf Bedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
17.3 Das Product „P“ im Rahmen der Bedürfnisbefriedigung . . . . . . . . . . . . . 280
17.3.1 Der Nutzen als Kern des Angebots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
17.3.2 Rechte, als Teil des immateriellen Bestandteils
des Angebots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
17.3.3 Dienstleistungen, und in der Vergangenheit durchgeführte
Dienstleistungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
17.3.4 Materielle Bestandteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
17.3.5 Dimensionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
17.4 Überprüfung der Passung des Konzepts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.1 Passung bei digitalen Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.2 Passung bei Personen (z. B. Influencern). . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
17.4.3 Passung bei Sportveranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
17.4.4 Passung bei Non Fungible Tokens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
17.5 Zusammenfassung und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
18 Digital Pricing für digitale Produkte – Herausforderungen
und Chancen für die Preispolitik und –kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . 293
Jochen Panzer und Daniel Schmid
18.1 Bedeutung des digitalen Pricings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
18.2 Ausgewählte Grundlagen der Preispolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
18.3 Pricing digitaler Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
18.3.1 Besonderheiten digitaler Produkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
18.3.2 Nicht-dynamische Pricing-Modelle für digitale Produkte. . . . . 299
18.3.3 Dynamische Pricing-Modelle für digitale Produkte. . . . . . . . . . 300
18.4 Anforderungen an die Preisstrategien der Zukunft für
digitale Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
18.4.1 Preisdifferenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
18.4.2 Innovative Preismodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
18.4.3 Preiskommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
18.5 Resümee und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Inhaltsverzeichnis XIX

19 Dynamisches Pricing bei Fluggesellschaften und


Wahrnehmung der Preisfairness bei Flugreisenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Ina zur Oven-Krockhaus und Christoph Albers
19.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
19.2 Pricing-Prozess bei Fluggesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
19.2.1 Preiselastizität der Nachfrage beim Pricing-Prozess von
Fluggesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
19.2.2 Preisdifferenzierung im Luftverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
19.2.3 Revenue-Management bei Fluggesellschaften. . . . . . . . . . . . . . 322
19.3 Technologische Treiber der dynamischen Pricing-Entwicklungen
bei Fluggesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
19.3.1 Klassische Algorithmen zur Preisbildung von
Flugprodukten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
19.3.2 Einfluss von Künstlicher Intelligenz und Big Data bei der
Preisbildung von Flugprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
19.3.3 Automatisierung von Prozessen der Preiskalkulation . . . . . . . . 326
19.4 Kundenwahrnehmung der Preisfairness von Fluggesellschaften. . . . . . . . 327
19.4.1 Negative Reaktionen durch unfair wahrgenommene
Preisgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
19.4.2 Preisfairness als Gestaltungselement des
Pricing-Prozesses bei Fluggesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
19.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen – eine vergleichende
Analyse führender Zeitungen aus den USA und Deutschland. . . . . . . . . . . 335
Matthias Zeisberg und Nele Hansen
20.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
20.2 Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
20.3 Die sechs wichtigsten Paywall-Modelle im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 337
20.3.1 Harte Bezahlschranke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
20.3.2 Freemium-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
20.3.3 Metered-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
20.3.4 Dynamische Paywalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
20.3.5 Hybrid-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
20.3.6 Spenden-Modell/Freiwillige Bezahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
20.4 Paid-Content-Strategien in den USA und Deutschland
im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
20.5 Weitere Trends. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
20.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
XX Inhaltsverzeichnis

21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb und aktuelle


Praxisbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Benjamin Schulte
21.1 Einleitung – der digitale Kaufprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
21.2 Digitale Vertriebswege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
21.2.1 Vertrieb mit eigenem Online-Store. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
21.2.2 Vertrieb mit Intermediär. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
21.3 Digitale Vertriebsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
21.3.1 Digitaler Direktvertrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
21.3.2 Digitaler Vertrieb durch Intermediär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
21.3.3 Hybridstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
21.4 Fazit und Ausblick – Die Zukunft der digitalen Vertriebswege. . . . . . . . . 359
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen,
Bestandsaufnahme und Gestaltungsempfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Jan Thido Karlshaus
22.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
22.2 Zielsetzungen der Digitalisierung im B2B-Vertrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
22.3 Bestandsaufnahme und aktuelle Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
22.4 Gestaltungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
22.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum: Ein
E-Commerce-Szenario. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Sibylle Kunz
23.1 Vom Web 2.0 zum Metaverse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
23.1.1 Der klassische Onlinehandel im Web 1.0 bis Web 3.0. . . . . . . . 380
23.1.2 Die Entwicklung von Augmented und Virtual Reality. . . . . . . . 382
23.1.3 Facebook wird zu Meta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
23.2 Immersive Shopping in 3D – Das Metaversum als
immersive Einkaufswelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
23.2.1 Räumliche und soziale Dimension von Verkaufsstätten im
Metaversum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
23.2.2 Eigenschaften gehandelter Güter im Metaversum. . . . . . . . . . . 386
23.3 Risiken und Gefahren im Metaversum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
23.3.1 Physische, psychologische und soziale Risiken
des Einzelnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
23.3.2 Psychologische und soziale Risiken innerhalb von
Nutzergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
23.3.3 Risiken für die Kundenbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Inhaltsverzeichnis XXI

23.4 Konsequenzen für die „Metaversum“-gerechte Gestaltung


der Corporate Digital Responsibility. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
23.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Alexandra Kühte und Angela Rohde
24.1 Einleitung: Zum Strukturwandel in der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . 396
24.2 Kurzer Überblick zu Forschungsstand und Berufsbild in
der Unternehmenskommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
24.2.1 Marketing oder Kommunikation? Zum Stand
der Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
24.2.2 Die Rolle der Unternehmenskommunikation als Teil der
Unternehmensstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
24.2.3 Eine Branche im Aufbruch: Wandel des Berufsbildes in
Kommunikation und PR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
24.3 Chancen und Herausforderungen in der
Unternehmenskommunikation: Drei Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
24.3.1 Trend 1: Die neue, große Vielfalt der Kommunikationskanäle
und Kommunikation in Echtzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
24.3.2 Trend 2: Die Unkalkulierbarkeit der Kommunikation
durch Social Media. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
24.3.3 Trend 3: Professionalisierung der Kommunikation durch
datengetriebene und automatisierte Prozesse. . . . . . . . . . . . . . . 405
24.4 Ausgewählte Anwendungsfelder für datenbasierte Analysen
des Kommunikationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
24.5 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation bei
digitalen Markenkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Nele Hansen und Josef Arweck
25.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
25.2 Firestorms: Markenkrisen im digitalen Zeitalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
25.3 Einflussfaktoren auf die Markenwahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
25.4 Krisenkommunikation für Praktiker:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation. . . . . . 427
Lisa-Charlotte Wolter und Elisa Dorothee Adam
26.1 Podcasts im Digitalen Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
26.2 Podcasts: Hintergrund und Trends. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
XXII Inhaltsverzeichnis

26.2.1 Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428


26.2.2 Podcast-Nutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
26.2.3 Podcasts als Werbeplattform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
26.3 Podcasts als Marketinginstrument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
26.3.1 Podcasts als Kommunikationskanal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
26.3.2 Podcasts im Digitalen Marketing-Umfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . 435
26.4 Potenziale und Wirkungsweisen von Podcasts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
26.4.1 Podcast-Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
26.4.2 Emotionale Podcast-Qualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
26.4.3 Podcast-Potenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
26.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

Teil V Implementierung
27 Künstliche Intelligenz in der PR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
Josef Arweck
27.1 Wertschöpfung durch KI in der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit . . . . . 447
27.2 Einsatzgebiete von KI im Medienbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
27.3 Ethische Aspekte und Risiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
27.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung
im digitalen Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Rico Manß
28.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
28.2 Begriffe und bestehende Ansätze zur Implementierung . . . . . . . . . . . . . . 459
28.2.1 Begriffliche Abgrenzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
28.2.2 Vorgehensmodell zur Implementierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
28.3 Implementierung im digitalen Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
28.3.1 Herausforderungen im digitalen Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . 461
28.3.2 Implementierungskonzept für das digitale Marketing. . . . . . . . 462
28.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter:
Kundenbeziehungen entlang der Customer Journey
aufbauen und stärken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Uta Scheunert
29.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
29.2 Digitalisierung im Rahmen des CRM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
Inhaltsverzeichnis XXIII

29.2.1 Begriffsabgrenzung Customer Relationship Management. . . . . 470


29.2.2 Digitalisierung im Kontext von CRM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
29.3 Customer Journey Management – Entwicklungen und Trends. . . . . . . . . 473
29.4 Customer Experience entlang der Customer Journey –
Key Factors für ein erfolgreiches CRM. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
29.5 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
Cordula Kreuzenbeck und Gabriele Schuster
30.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
30.2 Marketinginstrumente und deren Relevanz für Arztpraxen. . . . . . . . . . . . 486
30.3 Praktische Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
30.3.1 Marketingmaßnahmen der Ärzt:innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
30.3.2 Unerwünschtes Fremdmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
30.4 Hinderungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
30.4.1 Fehlender Konkurrenzdruck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
30.4.2 Die Zielgruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
30.4.3 Gesetzliche Einschränkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
30.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
Eva Ghazari-Arndt
31.1 Bedeutung und Grundlagen des Datenschutzrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
31.2 Anwendungsbereich der DS-GVO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
31.2.1 Sachlicher Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
31.2.2 Räumlicher Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
31.3 Grundsätze der Verarbeitung personenbezogener Daten. . . . . . . . . . . . . . 506
31.4 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
31.5 Sanktionen bei Nichteinhaltung von Datenschutzbestimmungen. . . . . . . 511
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber

Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-
Management und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt
hier als Professor für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u.a. in den
Fächern Digital Business, Marketing, Marktforschung und Innovation Management.
Parallel bietet er als Geschäftsführender Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen
internationalen Fahrservice für Teams und Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.

Prof. Dr. Gabriele Schuster ist Professorin und Fachgebietsleitung für Marketing-
Management an der IU Internationale Hochschule in Hamburg und seit mehr als 23
Jahren in der dualen Lehre tätig. Außerdem hatte sie Fach- und Führungsfunktionen in
verschiedenen Branchen inne. In ihrer Arbeit als selbstständige Beraterin begleitet sie
zahlreiche Projekte und Veränderungsprozesse und unterstützt Führungskräfte und Mit-
arbeiter durch Coaching, Workshops und Seminare.

Autorenverzeichnis

Elisa Dorothee Adam ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der IU Internationale


Hochschule und forscht dort im Rahmen eines Promotionsprojektes zum Thema
Media Sustainability. Sie ist Absolventin im Studiengang Intercultural Business
Psychology M.Sc. an der Hochschule Hamm-Lippstadt mit Schwerpunkt Market &
Consumer Psychology. Zuvor studierte sie Kulturwissenschaften (Kulturorganisation/-
kommunikation) und BWL an der Leuphana Universität Lüneburg, Business Psychology
an der Teesside University (UK) sowie Wirtschaftspsychologie B.Sc. mit Vertiefung
Marketing an der FH Bielefeld. Studienbegleitend sammelte sie Praxiserfahrung in ver-
schiedenen Bereichen des Marketings, darunter Marketingforschung, institutionelle und
betriebliche Marktforschung sowie Marketingkommunikation im Profit- und Non-Profit-
Umfeld.

XXV
XXVI Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Christoph Albers ist für die TUI AG als Head of Delivery Central Region tätig und
verantwortet u.a. in dieser Position das IT-Projektportfolio von TUI Deutschland,
Österreich, Polen und der Schweiz. Er studierte Wirtschaftsinformatik und Business
Administration und ist seit 2013 in der Tourismusbranche für namenhafte Online-
Travel-Agencies sowie seit 2015 in unterschiedlichen leitenden Funktionen bei der
TUI AG beschäftigt. Darüber hinaus ist er Autor von Fachartikeln zu den Themen IT-
Management, agile und digitale Transformation sowie IT-Projektmanagement. Zusätz-
lich engagiert er sich als Dozent zu den Themen Digitalisierung und Tourismus.
Prof. Dr. Josef Arweck ist Professor für Medienmanagement an der IU International
University of Applied Sciences. Seine Schwerpunkte sind Krisen-PR und Reputations-
management. Der gelernte Journalist arbeitete vorher für McKinsey sowie den Porsche-
Konzern, wo er seit 2015 Leiter der weltweiten Konzernkommunikation war. Seit 2020
ist er als Investor im Start-up-Bereich und Kommunikationsberater tätig.
Prof. Dr. Thomas Bolz ist seit 2020 Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce
und Online-Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungsschwer-
punkte liegen in der Entwicklung und Vermarktung von digitalen Geschäftsmodellen.
Durch seine nationale und internationale Praxiserfahrung sowie seine langjährige Tätig-
keit im Management Consulting lernte er digitale Geschäftsmodelle aus verschiedenen
Blickwinkeln kennen. Im Rahmen seiner beruflichen Aktivitäten begleitete er diverse
Unternehmensgründungen und -transaktionen im digitalen Umfeld.
Prof. Dr. Georg Bouché arbeitet als Honorardozent und Professor an Hochschulen und
Universitäten in Deutschland, Frankreich, Mexiko, Spanien und Vietnam. Als geschäfts-
führender Gesellschafter einer Marketing- und Strategieberatung mit Sitz in Berlin,
liegen seine Tätigkeitsschwerpunkte in den Bereichen Marketing, Digitalisierung, Inter-
nationalisierung, strategischer Vertrieb, Business Development und Growth Hacking. Für
LinkedIn ist er als Autor und Trainer tätig und hat zu Growth Hacking und Marketing
mit kleinem Budget Filme für die Plattform veröffentlicht. Vor der Gründung seiner
Beratungsgesellschaft Bouché & Jakob war Georg in Spanien für ein Private Equity
Unternehmen als Management Consultant tätig und baute unter anderem für die Gesell-
schaft eine Niederlassung in China auf. Davor hat er für eine Stuttgarter Werbemedien
Agentur ein Büro in München etabliert. Georg engagiert sich mit einer eigenen Stiftung
in Gambia, Westafrika.
Simon Ens ist seit 2019 an der IU Internationale Hochschule Campus Düsseldorf
Student im Fachbereich „Tourismuswirtschaft“. Gemeinsam mit Professoren der IU
verschiedener Standorte konnte er bereits einige Projekte in der Tourismusbranche
realisieren und seine Interessen an und Kompetenzen in der Tourismusbranche ausbauen.
Dr. Eva Ghazari-Arndt LL.M. ist seit 2015 Rechtsanwältin und Dozentin auf dem
Gebiet des Privat- und Europarechts sowie des Informationstechnologierechts. Das IT-
Recht mit den Bereichen Internetrecht, E-Commerce, Datenschutz und Vertragsrecht
bilden dabei ihren Interessenschwerpunkt.
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XXVII

Prof. Dr. Maik Günther unterrichtet seit 2020 als Professor für Wirtschaftsinformatik
an der IU Internationale Hochschule. Seine Schwerpunkte liegen u. a. in den Bereichen
Big Data, Data Analytics und Künstliche Intelligenz. Nach seiner Promotion an der TU
Ilmenau wechselte er 2010 in die Energiewirtschaft, wo er bis heute tätig ist. Daneben
arbeitet er als Research Affiliate am Center for Energy Markets und ist Mitglied in den
Arbeitskreisen verschiedener Branchenverbände.
Prof. Dr. Nele Hansen ist Professorin für Medienmanagement an der IU Inter-
nationale Hochschule. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Lehrstuhl für Marketing & Medien der Universität Münster und als Redakteurin der
WirtschaftsWoche. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Gebiet Social und News
Media.
Dr. Natascha Hebestreit leitet seit 2014 an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS)
den Fachbereich Innovation Management. Als Business Development Managerin für
einen Mailänder Dienstleistungsunternehmen für Open Innovation hat sie Einblicke
in die praktische Umsetzung für große und mittelständische Unternehmen in unter-
schiedlichen Branchen erhalten. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin über die
Verantwortung des Wirtschaftsakteurs promoviert und studiert zusätzlich seit 2022 Philo-
sophie.   
Prof. Dr. Claudia Heß ist Professorin für Digitale Transformation an der IU
Internationale Hochschule. Neben Lehre und Forschung ist sie auch in der Industrie
tätig. Als Beraterin und Projektleiterin unterstützt sie Unternehmen in Digitalisierungs-
projekten und begleitet Teams bei der agilen Entwicklung neuer, digitaler Produkte und
Services.
Prof. Dr. Dr. Dietmar Janetzko ist Head of Research bei der Stockpulse GmbH in
Bonn. Zugleich ist er der Cologne Business School in Köln assoziiert, wo er bis Mai
2022 Wirtschaftsinformatik, Marketing, Statistik und Datenwissenschaft unterrichtet hat.
Prof. Dr. Marion Kalteis ist seit 2018 an der IU Internationale Hochschule als
Professorin für Marketing tätig und hält Vorträge im In- und Ausland. Konzernstrukturen
und Großraumatmosphäre sind ihr nach jahrelanger Tätigkeit in zentralen Marketing-
Positionen bestens vertraut. Auch die Vortragstätigkeit an Fachhochschulen und Uni-
versitäten begleitet sie seit mehr als sechs Jahren regelmäßig. Besonders das Thema
Corporate Social Responsibility und Market Research stehen im Fokus ihrer Forschung.
Prof. Dr. Jan Thido Karlshaus ist als Professor für Marketingmanagement an der
IU Internationale Hochschule tätig. Nach dem Studium (Dipl.-Kfm., Universität zu
Köln, Pennsylvania State University in State College und FGV in São Paulo) und der
Promotion (Dr. rer. pol., WHU Koblenz) war er zunächst als Unternehmensberater
für McKinsey & Co. tätig, wo er vor allem Automobil-, Logistik- und High-Tech-
Unternehmen begleitete. Anschließend wechselte er als Vice President und Leiter der
Konzernstrategie in den Konzern Deutsche Post DHL. Nach Tätigkeit in verschiedenen
XXVIII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Führungspositionen im Vertrieb wurde er dort zum Chief Customer Officer (CCO) inner-
halb von DHL Supply Chain befördert und übernahm im Anschluss als Senior Vice
President und Geschäftsbereichsleiter die Verantwortung für das weltweite Geschäft
mit Kunden in der High-Tech-Industrie. Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung und
Beratungstätigkeit liegen im Bereich Sales, Strategie, Digitalisierung, Supply Chain und
E-Fulfillment.
Prof. Dr. Anna Klein ist Professorin für Tourismusmanagement an der IU Inter-
nationale Hochschule – Duales Studium und akademische Leiterin am Standort
München. Darüber hinaus ist sie Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Touris-
muswissenschaft e. V. (DGT) und Mitglied im Wissenschaftsbeirat des Bayerischen
Zentrums für Tourismus e. V. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Digitalisierung im Touris-
mus, Destinationsmanagement und nachhaltiger Tourismus. Sie verfügt über jahrelange
praktische Erfahrungen im Tourismusbereich, die sie als Senior Consultant bei BTE
Tourismusberatung und Regionalberatung in Berlin sammeln konnte. Sie war dort für die
internationalen Projekte, insbesondere in Ost- und Südosteuropa, verantwortlich.
Prof. Dr. Ralf Kneuper ist Professor für Datenschutz und IT-Sicherheit an der
IU Internationale Hochschule im Bereich Fernstudium sowie Fachgebietsleiter IT und
Technik. Daneben berät er Unternehmen zu Softwarequalitätsmanagement, Prozessver-
besserung und Datenschutz und ist TÜV-zertifizierter externer Datenschutzbeauftragter.
Prof. Dr. Cordula Kreuzenbeck Professorin für Gesundheitsökonomie an der IU Inter-
nationale Hochschule in Essen seit 2020. Sie verfügt über zehn Jahre Erfahrungen im
Krankenhaus – zuletzt in leitender Funktion – und arbeitete in der Versorgungsforschung
am Lehrstuhl für Medizinmanagement in Essen. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesell-
schaft für Gesundheitsökonomie sowie assoziiertes Mitglied im Verein Digital Health
Germany und darüber hinaus in viele digitale Projekte im Gesundheitswesen ein-
gebunden.
Prof. Dr. Alexandra Kühte ist seit 2020 Professorin für Marketing und
Kommunikation & PR an der IU Internationale Hochschule in Berlin. Sie verfügt
über langjährige Berufserfahrung in der digitalen Transformation von Medienmarken,
Vermarktungs- und Geschäftsmodellen. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind
Marketing- und Unternehmenskommunikation sowie Medienwandel und Medien-
management.
Prof. Dr. Sibylle Kunz ist seit 2020 Professorin im Fernstudium der IU Internationale
Hochschule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangleiterin für Medien-
informatik. Nach dem Diplom in Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität
Darmstadt machte sie sich mit einem IT-Beratungs- und Schulungsunternehmen
selbständig und arbeitete über zwei Jahrzehnte in IT-Projekten u.a. in Versorgungs-
unternehmen, Banken, Verbänden, Verlagen und Kammern. 2011 kehrte sie parallel
dazu zurück in die akademische Welt als Lehrkraft für Wirtschaftsinformatik an der
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XXIX

Hochschule Mainz sowie als Lehrbeauftragte an der European Management School und
der Hochschule Darmstadt, wo sie 2020 mit dem Sonderpreis für Digitalisierung in der
Lehre ausgezeichnet wurde. Ebenfalls 2020 promovierte sie als erste Doktorandin im
Fach Digital Humanities an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Prof. Dr. Rico Manß ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, ins-
besondere Marketing, an der IU Internationale Hochschule am Campus Leipzig. Herr
Manß promovierte im Multichannel-Marketing und setzt sich in seinen Forschungs-
arbeiten mit der Integration von analogen und digitalen Kundenkontaktpunkten aus-
einander.
Prof. Dr. Michaela Moser ist Professorin für Personalmanagement im Fernstudium
an der IU Internationale Hochschule. Sie lehrt und forscht vorwiegend im Bereich
Leadership und Digital HR. Dabei untersucht sie vor allem die Optimierung von Wert-
schöpfungsprozessen im HR-Bereich durch moderne digitale Tools. Die promovierte
Diplom-Kauffrau verfügt über langjährige Management-Erfahrung in verschiedenen
international tätigen Konzernen, unter anderem als obere Führungskraft eines inter-
national tätigen Baukonzerns sowie als Geschäftsführerin einer Konzerngesellschaft.
Prof. Dr. Susanne O’Gorman ist Professorin für Marketing mit Schwerpunkt
Customer Centricity. Sie war vor ihrer akademischen Laufbahn mehr als 20 Jahre lang in
der Marktforschung und Beratung tätig und hat dort Kunden in der Strategie, Umsetzung
und Messung ihrer Customer Experience Projekte unterstützt. Ihre Schwerpunkte liegen
im Bereich Customer Experience, Customer Journeys und Digitalisierung.
Prof. Dr. Jochen Panzer ist seit 2015 an der IU Internationale Hochschule als
Professor für Marketing Management tätig. Nach Studium und Promotion war er für ver-
schiedene nationale und internationale Unternehmensberatungen mit Fokus auf Finanz-
dienstleistungen, Marketing und Vertrieb tätig. Im Anschluss leitete er als Commercial
Director Europe für einen der großen europäischen Versicherungskonzerne den Direkt-
vertrieb. Aktuell verbindet er im Rahmen des Evidence Based Management praktische
Branchenerfahrung und theoretische Expertise in Kooperationen mit ausgewählten
Unternehmensberatungen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Sales Force
Effectiveness, Direct Marketing sowie Ökosystemen und Innovationen.
Prof. Dr. Sven Pastowski ist Professor für Wirtschaft und Management an der IU
Internationale Hochschule – Duales Studium. Er lehrt und forscht u. a. in den Fach-
bereichen Betriebswirtschaftslehre, Tourismusmanagement, Marketing und Strategisches
Management. Nach dem Studium der BWL an der Universität Bayreuth arbeitete und
promovierte er am dortigen BWL-Lehrstuhl für Dienstleistungsmanagement zum
„Qualitätsmanagement bei Dienstleistungen“. Sein besonderes Interesse gilt dienst-
leistungsspezifischen Fragestellungen, u. a. aus der Sportartikelbranche, dem Handel,
der Kultur oder dem Tourismus. Sven Pastowski verfügt über langjährige Berufs- und
Führungserfahrung bei der adidas AG in den Themengebieten Konsumgüterbranche,
XXX Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, Projektmanagement, Organisationsentwicklung


sowie Nachhaltigkeits- und Innovationsmanagement.
Prof. Dr. Jan Pieper ist seit 2016 an der IU Internationale Hochschule Professor für
Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. Nach seinem Doktorat am Lehrstuhl für Unter-
nehmensführung und -politik der Universität Zürich war er für ein Schweizer Start-up
sowie an verschiedenen Hochschulen in der Schweiz und Italien tätig. Seine Lehr- und
Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Unternehmensstrategie und Innovations-
management.
Prof. Dr. Jonas Polfuß ist Marketing-Professor und Leiter des Bachelorstudiengangs
Internationales Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungs-
schwerpunkte sind digitales Marketing und globale Markenführung. Als Berater und
Marketer unterstützt er regionale und internationale Unternehmen beim Community-
Marketing und digitalen Branding.
Prof. Dr. Katharina-Maria Rehfeld ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule
als Professorin für Personalmanagement (HRM) tätig. Ihre Schwerpunkte liegen dabei
in den Bereichen Internationales HRM, Digital HR & People Analytics sowie Personal-
und Führungskräfteentwicklung. Nach ihrer Promotion an der Universität Heidelberg,
war sie mehr als zwölf Jahre im Personalbereich für deutsche Unternehmen in Asien
tätig. Neben Ihrer Tätigkeit an der IU Internationale Hochschule führt Frau Rehfeld
Führungskräfteseminare insbesondere im Bereich interkulturelle Kommunikation und
interkulturelle Zusammenarbeit durch.
Prof. Dr. Verena Renneberg ist promovierte Publizistik- und Kommunikations-
wissenschaftlerin und war, u.a. im Bundestag, bei Red Bull, TV-Sendern, Konzernen
und Institutionen im Europa und Lateinamerika tätig. Sie berät Redaktionen und Unter-
nehmen mit Blick auf Workflow- und Produkt-Optimierung. Ihr Forschungsschwerpunkt
liegt auf Internationalisierung und Digitalisierung von Medien.
Prof. Dr. Angela Rohde ist seit 2019 Professorin für Medien & PR an der IU Inter-
nationale Hochschule im Fernstudium und Lehrende im IU Duales Studium in Hamburg.
Sie war über viele Jahre in leitenden Funktionen in Marketing und Unternehmens-
kommunikation internationaler Unternehmen (Finanzdienstleistung und Verlage) tätig.
Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Medien & Kommunikation, Corporate
Communications, Konflikt- und Stressmanagement sowie Mindful Leadership.
Prof. Dr. Uta Scheunert erlangte im Anschluss an ihr Diplom-Hochschulstudium
„Betriebswirtschaftslehre/ Interkulturelles Management“ mit den Schwerpunkten Inter-
nationales Management, Interkulturelle Wirtschaftskommunikation sowie Marketing an
der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena, mit ihrer Promotion zum Thema „Das
subjektive Alter von Konsumenten – Entwicklung, empirische Überprüfung und Wertung
eines Messansatzes zur Evaluation des gefühlten Alters von Personen als Basis für eine
erfolgreiche Segmentierung und Strategieentwicklung im Marketing“ den akademischen
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XXXI

Grad Dr. rer. pol. Seit Oktober 2019 hat Uta Scheunert die Professur für ABWL, ins-
besondere Marketing & Kommunikation an der IU Internationale Hochschule GmbH am
Campus Erfurt inne.
Prof. Dr. Daniel Schmid ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als Professor
für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre insbesondere Marketing tätig. Nach dem
Studium und der Promotion arbeitete er zunächst in einer internationalen Unternehmens-
beratung. Danach war er über 20 Jahre in einem internationalen Dienstleistungsunter-
nehmen tätig. Als Vorstand verantwortete er u.a. die Bereiche Marketing und Strategie.
Zuletzt war er Bereichsdirektor eines der größten Kinderhilfswerke der Welt. Aktuelle
Themen seiner Forschung sind Digitales Marketing, E-Commerce, Handel und Nach-
haltigkeitsmanagement.
Prof. Dr. Benjamin Krischan Schulte nahm im Jahr 2020 eine Position als Professor
für Marketingmanagement an der IU Internationalen Hochschule in Berlin an. Nach
seinem Studium und der Promotion an der Freien Universität in Berlin arbeitete Schulte
als Projektmanager in einer Unternehmensberatung, bevor es ihn zurück an die Hoch-
schule zog. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Vertriebsstrategie und
-management, Digitales Marketing sowie Konsumentenverhalten und quantitative
Methoden der Marketingforschung.
Prof. Dr. Carsten Skerra ist seit 2021 Professor im Fernstudium der IU Internationale
Hochschule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangsleiter für Computer
Science. Carsten Skerra studierte Technische Informatik an der Berufsakademie in
Stuttgart. An der Universität von Gloucestershire, UK, promovierte Carsten Skerra.
Dabei begründete er Einsichten in den Bereich sozio-kultureller Zusammenhänge
von Kreativität und Erfindung und entwickelte eine neue Theorie zur Stimulanz von
Erfindungen in der Gesellschaft. Seit 2011 lehrte Carsten Skerra an Hochschulen für den
Bereich International Business, Innovationsmanagement und für den Bereit Informatik,
Themen wie IT-Grundlagen, IT-Projektmanagement, IT-Datensicherheit und Soft-
ware Engineering. Carsten Skerra arbeitete zudem langjährig in der Forschung eines
internationalen Technologienunternehmens. Er ist Autor, Mitautor und Reviewer von
Publikationen und aktives Mitglied in der Gesellschaft für Informatik (GI), dem Project
Management Institute (PMI) und dem Design Management Institute (DMI) sowie der
Scrum Alliance.
Prof. Dr. Felix Wölfle ist seit April 2017 an der IU Internationale Hochschule Professor
für Tourismuswirtschaft. Nach seinem Studium der Sportwissenschaften promovierte
er im sporttourismusbezogenen Destinationsmanagement und arbeitete mehrere Jahre
in der Destinationsberatung und im Management eines Bergsportausrüsters. Seine viel-
fältigen Erfahrungen bringt er in seine praxisorientierte Lehre mit ein und führt viel-
fältige (Forschungs-)Projekte mit Praxispartnern mit aktivtouristischer Ausrichtung
durch.
XXXII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Lisa-Charlotte Wolter ist Professorin und Studiengangsleiterin für Online
Marketing und Customer Centricity an der IU (Internationale Hochschule) und forscht
am College of Journalism & Communications der University of Florida (UF) u. a. zu
Media Sustainability, Media & Consumer Engagement sowie Vertrauen in Marken und
Medien. Im Laufe ihrer Karriere implementierte sie an verschiedenen Instituten neuro-
wissenschaftliche Forschungsmethoden zur Erweiterung bestehender Methoden der
Medien- und Kommunikationsforschung. Mit interdisziplinären Forschergruppen initiiert
sie zudem Grundlagenstudien, aktuell unter anderem zum Thema „Development and
Validation of the Media Brand Trust Scale“.
Prof. Dr. Matthias Zeisberg ist Professor für Marketingmanagement im Dualen
Studium der IU Internationale Hochschule am Campus Hamburg. Er verfügt über
eine langjährige Berufs- und Führungserfahrung in Management und Beratung ver-
schiedenster Branchen mit den Schwerpunkten Consumer Marketing, Marktforschung
und Vertriebsunterstützung. Seine Interessensgebiete liegen in der empirischen
Forschung und im strategischen Marketing.
Prof. Dr. Ina zur Oven-Krockhaus ist Studiengangsleiterin und Professorin für Touris-
musmanagement an der IU Internationale Hochschule – Duales Studium. Sie verfügt als
Diplombetriebswirtin und promovierte Kommunikationswissenschaftlerin sowie durch
eine 18-jährige Berufstätigkeit im weltweit führenden Tourismuskonzern TUI über
ein sehr umfangreiches Fachwissen im Bereich Tourismuswirtschaft. Als Direktorin
Marketing TUI Cruises sowie Direktorin Marketing und Kommunikation TUI Business
Travel und Leiterin Unternehmenskommunikation TUI AG entwickelte sie z. B. das
TUI Logo „Smile“ mit und zeichnete für die internationale Einführung verantwort-
lich. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit
Digitalisierung sowie Kommunikation und Marketing von touristischen Unternehmen.
Prof. Dr. Tanja Zweigle ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre
mit Schwerpunkt Marketing Management an der IU Internationalen Hochschule in
Düsseldorf. Ihre Forschungsinteressen liegen im digitalen Marketing, im Marken- und
Kommunikationsmanagement, im Konsumentenverhalten sowie in der Marktforschung.
Mit ihrer Marketingberatung i4m insights4management berät sie als selbstständige
Research- und Insights-Expertin verschiedene Praxisunternehmen. Vor ihrer Lehrtätig-
keit und Selbstständigkeit war sie in unterschiedlichen Beratungsfirmen, u.a. bei GfK
und BBDO Consulting, in leitenden Positionen tätig. Sie ist persönliches Mitglied im
Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher (BVM).
Marketing-House-Konzept
1
Konsumentenorientiertes Marketing
in Zeiten der Digitalisierung

Christian Lucas

Zusammenfassung

Marketing muss im Zeitalter der digitalen Revolution völlig neu gedacht werden.
Erweiterungen bestehender Konzepte und Modelle, wie sie seit den 1950er Jahren
immer wieder vorgenommen wurden, sind nicht mehr ausreichend. Das bedeutet, dass
Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, wie zum Beispiel der Kundenfokus oder auch
die Kundensegmentierung, jeweils besser in das Modell eingepasst werden können.
Das neue Konzept stellt nun den:die einzelne Konsument:in direkt von Anfang an in
den Mittelpunkt der Betrachtung und richtet das Marketing konsequent auf ihn:sie
aus. Aus Sicht des Konsumenten geht es dann nicht mehr um die Optimierung eines
Marketingmixes, sondern um die Optimierung der Wahrnehmung eines kundenspezi-
fischen Angebots. Dieser Perspektivenwechsel hat weitreichende Konsequenzen:
Das Innovationsmanagement wird aus dem Marketingmix herausgelöst, die
Informationsbeschaffung erhält eine zentralere Rolle, und neuere Möglichkeiten
der Individualisierung und vernetzten Kundenbeziehung werden besser berück-
sichtigt. Die Marketinginstrumente werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern
immer im größeren Zusammenspiel untereinander und in Interaktion mit dem:der
Konsument:in. Die damit verbundene Komplexitätssteigerung führt in einem
ersten Schritt von einer personenzentrierten Marketing- und Zielgruppenanalyse
zu einer prozessorientierten Analyse. Die Abläufe werden automatisiert und mittels

C. Lucas (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 1


Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_1
2 C. Lucas

­ ustererkennender künstlicher Intelligenz verarbeitet, als Ergebnis werden Hand-


m
lungsalternativen auf Basis von Zukunftswahrscheinlichkeiten vorgeschlagen.

1.1 Hintergrund

Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der Neukonzeptionierung des Marketings aus-
einander und dient als Grundlage für die Struktur und die Ausarbeitungen in diesem
Buch.
Der Konsum, so wie auch das Vermarkten von Produkten und Dienstleistungen haben
geschichtlich keinen wirklichen Startpunkt, wie Trentmann (2017, S. 22 ff.) in seinem
Buch „Herrschaft der Dinge“, anhand der Geschichte des Konsums, ausgehend vom
15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit, analysiert. Schon vor dem Nachkriegsboom in
den 1950er und 1960er Jahren, und auch schon vor Einführung der Massenproduktion –
durch Firmen wie Bahlsen im Jahre 1905, oder Ford im Jahre 1913 (vgl. Bongard, 1964)
– wurden Dinge gehandelt und auf Märkten weltweit zum Kauf angeboten. Bereits 1776
stellte auch bspw. Adam Smith in seinem Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“ den:die
Konsument:in schon in den Mittelpunkt der Betrachtung, wenn er schreibt: “Der Ver-
brauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen
des Produzenten eigentlich nur so weit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das
Wohl des Konsumenten zu fördern.“ (vgl. Smith, 1978, S. 558).
Das bisherige, heutige und sogenannte „moderne Marketing“, als eigenes Fach, ent-
steht allerdings nach aktuell etablierter Sichtweise erst Mitte der 1950er Jahre (vgl. u. a.
Sepehr, 2014, S. 76 f.; Meffert et al., 2019, S. 8) mit.

1. dem wirklichen Erkennen von Phänomenen,


2. der Ableitung generalisierbarer Erklärungen hieraus, sowie
3. dem Bestreben bedingte Voraussagen machen zu können (Meffert et al., 2019,
S. 43 ff.).

Seit also etwa 70 Jahren hat sich das aktuelle Marketingverständnis nach deutscher
Sichtweise von einer vorrangigen Distributionsorientierung (bis Mitte der 1950er
Jahre), über eine stärkere Verkaufsorientierung (bis in die 1970er Jahre), der stärkeren
Kundenorientierung (seit den 1970er Jahren), zu einem ganzheitlichen Führungs- und
Orientierungskonzept weiterentwickelt (vgl. Sepehr, 2014, S. 77).
Kotler et al., 2021, S. 3 ff.) sprechen von einem.

• Marketing 1.0 mit Schwerpunkt auf dem Produkt,


• Marketing 2.0 mit Schwerpunkt auf dem Verbraucher,
• Marketing 3.0 mit Schwerpunkt auf dem Menschen an sich,
• Marketing 4.0 unter stärkerer Berücksichtigung einer digitalen Umwelt, und
1 Marketing-House-Konzept 3

• Marketing 5.0, welches die neuen Tools und Technologien, wie künstliche Intelligenz
(KI), natürliche Sprachverarbeitung (NLP), oder auch das Internet of Things (IoT)
konsequent nutzt.

Allen diesen Sichtweisen ist jedoch gleich, dass aufbauend auf schon vorhandenem
Wissen, Ergänzungen gemacht wurden. So gab es am Anfang dieser Betrachtung, in
den 1950er Jahren, nur zwei ‚P‘ des klassischen Marketingmixes1: Product und Place
(materielle Güter und die Distribution). Darauf aufbauend kam mit der Werbung das
dritte ‚P‘, die Promotion (Kommunikation) hinzu, sowie als viertes ‚P‘ die Möglich-
keit mit unterschiedlichen preislichen Maßnahmen Konsumentenrenten besser abzu-
schöpfen (P für Price). Einige Autor:innen haben diese 4P um weitere ‚P‘ ergänzt, um
dem Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft besser gerecht
zu werden: bspw. durch die dezidierte Betrachtung der People (Personal), Processes
(Prozesse) oder Physical Facilities (Ausstattung) (vgl. u. a. Homburg, 2017, S. 7 &
1003 ff.; Kotler et al., 2017b, S. 27 f.; Kotler et al., 2010, S. 43 f.).
In diesem Buch soll das Marketing noch einmal neu gedacht werden, ohne bereits
vorgegebene Leitplanken, und konsequent aus der Konsumenten-/Kundensicht heraus.
So wird der Versuch unternommen, eine neue, integrierte und konsumentenorientierte
Marketingkonzeption vorzuschlagen, die der Digitalisierung und den damit einher-
gehenden neuen Möglichkeiten Rechnung trägt.

1.2 Das neue Marketing-House-Konzept

Stellt man den:die Konsument:in in den Mittelpunkt der Betrachtung, muss man sich an
seinen:ihren Bedarfen und Bedürfnissen orientieren. Diese Bedürfnisse verändern bzw.
entwickeln sich, und zwar kontinuierlich. Im Folgenden sind einige Quellen dieser Ver-
änderung beispielhaft aufgezeigt:

• Persönliche Faktoren (z. B. Lebenssituation, Alter, Gesundheit, soziales Umfeld),


• Gesellschaftliche Faktoren (z. B. kultureller Wandel, politischer Wandel, sozialer
Wandel),
• Technologische Faktoren (z. B. technischer Fortschritt, Digitalisierung, Auto-
matisierung),
• ….

Somit bilden das Verstehen (der Bedürfnisse) und das Verändern (der Bedürfnis-
befriedigung) das Fundament des Marketings. Mit anderen Worten: die Markt- & Konsu-
mentenforschung (Market Research) sowie das Innovationsmanagement (Progress).

1 auch wenn noch nicht so genannt.


4 C. Lucas

Process
Paradigm
Product
& Service

Place Price

People
Promoon

Process
Product
& Service
Paradigm

Place Price COOij


(Customer Oriented
Offering)
People

Promoon

i = specific Customer-Oriented-Offering

Market Research j = for specific customer (segment)

Progress Market

Abb. 1.1 Schematische Darstellung des Marketing-House-Konzepts (Eigene Darstellung in


Anlehnung an Lucas, 2020, S. 7)

Um als Unternehmen neue bzw. veränderte Bedürfnisbefriedigungen hervorzu-


bringen, werden also zwingend Informationen benötigt. Einerseits, dem Market Based
View folgend, bspw. über die (Konsument:innen-) Bedürfnisse, andererseits, dem
Competence Based View folgend, allerdings auch über die Unternehmens- & Wett-
bewerbssituation (vgl. u. a. Meffert et al., 2019, S. 5 f. & 46; Becker, 2019, S. 6; Hom-
burg, 2017, S. 11 f.).
Im Dach des Marketing-House-Konzepts (vgl. Abb. 1.1) befindet sich das grund-
legende Geschäftsmodell des Unternehmens (Innenverhältnis), sowie dessen
Positionierung, als Verhältnis zu den Anspruchsgruppen (Außenverhältnis) (vgl. u. a.
Müller-Stewens & Lechner, 2016, S. 26 f.). Gesamthaft kann hier vom Paradigma
gesprochen, dem Unternehmens-Selbstverständnis (→ Paradigm). Hier setzt auch die
Zielplanung an. Es geht um die grundlegenden Fragen:

1. was das Unternehmen erreichen will (→ welche Bedürfnisse es befriedigen will), und
2. wie das Unternehmen (von wem) wahrgenommen werden will?

Im Verhältnis zu den Anspruchsgruppen (Außenverhältnis) ist das Stakeholder-


vom Shareholderprinzip zu unterscheiden (vgl. Wöhe et al., 2016, S. 49 ff.), eine
Positionierungsalternative, die sich aktuell in starkem Wandel befindet (vgl. u. a.
Gartenberg & Serafeim, 2019; Schwab, 2019; Kotler et al., 2010, S. 119 ff.). Stehen
1 Marketing-House-Konzept 5

die Konsumentenbedürfnisse allerdings im Mittelpunkt der Betrachtung, wird das


Shareholderprinzip obsolet.
Sind die „Wunschorte“ (marktorientierte Ziele) festgelegt, beschäftigt sich die
Strategie mit der Festlegung der „Route“ und damit der Frage „wie dort hinkommen?“
(vgl. Becker, 2019, S. 137). Es werden Regeln und Grundsätze formuliert, wie und mit
welchen Marketing-Instrumenten die Ziele erreicht werden sollen und wie nicht.
Auf der operativen Ebene sind die Ausgestaltung und Zusammensetzung der
Marketing-Instrumente festzulegen. Hier sieht der vorliegende Beitrag die größten
Änderungen zur bisherigen Sichtweise: der Fokus wandelt sich vom unternehmens-
zentrierten Marketing-Mix zur konsumentenbezogenen Wahrnehmung eines Angebots.
Es wird also nicht der Marketing-Mix optimiert, sondern die Wahrnehmung des:der
Kund:in bzgl. eines Angebots. Im Folgenden wird von einem Customer Oriented
Offering (COO) gesprochen.
Grundsätzlich bestehen unternehmensseitige Angebote immer aus einem (Kern-)
Nutzen für den:die Konsument:in, welcher durch Produktleistungen und/oder
(ergänzenden) Dienstleistungen (→ Product&Service) bedingt bzw. angereichert wird.
Dieser Nutzen wird zu einem direkten oder indirekten Preis angeboten (bei der Google
Suchmaschine zahlt man beispielsweise u. a. dadurch, dass man einer Werbung aus-
gesetzt ist) (→ Price). Er muss dem:der Kund:in auch in irgendeiner Art und Weise
zugehen, physisch bspw. mittels Ladenverkaufs oder auch immateriell per Stream, falls
es sich um ein digitales Angebot handelt (→ Place). Und zu guter Letzt muss der:die
(potenzielle) Kund:in/Konsument:in in irgendeiner Art und Weise mitbekommen, dass es
dieses Angebot überhaupt gibt, sei es über klassische Wege (z. B. Printanzeigen) oder
auch in digitaler Form (z. B. Word of Mouth via Social Media) (→ Promotion). Diese
vier Marketing-Mix-Instrumente werden von Personen und/oder Prozessen bedingt
und durchzogen. So entscheidet jemand (→ People) oder etwas (→ Process) über das
konkrete (kundenindividuelle) Angebot, genauso wie besonders dienstleistungslastige
Angebote ohne personelle Durchführung häufig nicht angeboten werden könnten. Auch
der Verkauf, besonders via Ladenlokal, kann auf eine personelle Durchführung meist
nicht verzichten. Das Verhalten des Verkäufers wird in diesem Fall das Kaufverhalten
beeinflussen. Preise werden entweder per Algorithmus oder durch Personen festgesetzt
und genauso verhält es sich mit der Kommunikation. Personen und/oder Prozesse sind
also überall in der operativen Marketingmix-Ausgestaltung, in unterschiedlichen Aus-
prägungen, integrativer Bestandteil des Angebots. Die Physical Facilities (sprich Aus-
stattungspolitik), wie bspw. Homburg, 2017, S. 1003 ff.) vorgeschlagen, gehen in diesem
Denkmodell in den Marketingmix-Instrumenten Product&Service sowie Place auf (vgl.
Abschn. 1.3).
Eine dem:der Kund:in angebotene Produkt-/Dienstleistung kann also nie isoliert von
den anderen Instrumenten am Markt existieren. Dementsprechend sieht das vorliegende
Marketing-Konzept im Zentrum unternehmerischer Tätigkeiten ein kundenorientiertes
Angebot, das Customer Oriented Offering, welches an die Bedürfnisse unterschiedlicher
Kundengruppen anzupassen ist. Von diesen Customer Oriented Offerings (kurz COO)
6 C. Lucas


haben Unternehmen im Normalfall mehrere im Angebot ( ni=1 COOi) und spezifizieren

diese je Kunde/Kundensegment ( nj=1 COOj).
Um nun vom Kunden konsumiert zu werden, muss das COO wahrgenommen werden
(→ Perception) und für gut bzw. nützlich erachtet werden. Diese Wahrnehmung kann
unterschiedlich intensiv sein. So kann ein:e Kund:in grundsätzlich wissen, dass es ein
Angebot gibt, kann dies für sich als passend wahrnehmen, eine positive Einstellung
gegenüber dem Angebot haben, ein Verlangen danach entwickeln und nach dem Kauf
und Konsum dieses auch positiv (oder negativ) bewerten, wiederkaufen und weiter-
empfehlen (vgl. u. a. Foscht et al., 2017, S. 4, 26, 183 ff.; Meffert et al., 2019, S. 88;
Siggelkow & Terwiesch, 2019, S. 65 ff.). Man kann hier von einer Art Customer Journey
der Wahrnehmung (Perception), bzw. Burmann et al., 2018, S. 15) folgend, von einem
Zusammenspiel zwischen Angebotsidentität und wahrgenommenem Angebotsimage
(bzw. spezieller: einem wahrgenommenen Bedürfnisbefriedigungspotenzial), aufseiten
des:der Kund:in, sprechen.
Abschließend ist noch zu beachten, dass sich ein Unternehmen eingebettet in einer
Umwelt (→ Market) befindet und sich dieser gegenüber verhält. Bedingt wird dieses
Verhalten dabei durch Wirkmechanismen der Wirtschaftspsychologie und Soziologie
(vgl. u. a. Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019, S. 10 f.). Diese zu verstehen und zu
beachten, muss ebenfalls Grundlage einer jeden marktorientierten Unternehmensaktivität
im Außenverhältnis sein (vgl. ebenda, S. 4; Kotler et al., 2007, S. 11). In Abb. 1.1 ist das
soeben vorgestellte Marketing-House-Konzept schematisch dargestellt.

1.3 Grundbestandteile des Marketing-House-Konzepts

Im Folgenden werden die einzelnen Elemente des Marketing-House-Konzepts im Detail


vorgestellt und anhand praktischer Beispiele erläutert. Die Nutzung der neuen Tools und
Technologien wird dabei, soweit dies möglich ist, aufgezeigt und diskutiert.

1.3.1 Progress

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass alle Elemente des Marketing-House-Konzepts


innoviert, bzw. verändert werden können. So kann eine Unternehmung beispiels-
weise neu(artige) Produkt-/Dienstleistungen auf den Markt bringen, neue oder andere
Kommunikationsinstrumente nutzen, eine andere und vielleicht indirektere Art der Preis-
gestaltung wählen (wie bspw. Abo-Modelle), die Mitarbeiten schulen, automatisierte
Prozesse nutzen, oder auch das Unternehmensselbstverständnis (Paradigm) den
Gegebenheiten anpassen. Die Innovationen können sich dabei auf:

• die Art (das Ding an sich, bzw. die Technologie) oder


• die Anwendung (den Prozess oder Ablauf)
1 Marketing-House-Konzept 7

beziehen (vgl. Porter, 1990) und unterschiedliche Intensitäten annehmen: inkrementell


vs. radikal (vgl. Tidd & Bessant, 2021, S. 29). Im vorliegenden Beitrag wird eine
Definition in Anlehnung an Tidd & Bessant (2021, S. 18 f. & 65) für das Innovieren
genutzt: „Innovation is about of creating value from ideas“. Demnach sind Innovationen
auf den Markt ausgerichtet und fördern den Wert der Share- und/oder Stakeholder (z. B.
der Kund:innen).
Innovationen kommen dabei entweder aus internen Quellen, von Mitarbeiter:innen
(People) oder Prozessen (z. B. im Rahmen von künstlicher Intelligenz), oder sie ent-
stammen aus externen Quellen, im Sinne des Open Innovation Paradigmas von
Chesbrough (2003, S. 43 ff.) (vgl. auch Kap. 8: Open Innovation – Vom gehypten
Sammelbegriff zum dominanten Prinzip). Quellen von Innovation sind mannigfaltig und
beinhalten Tidd & Bessant (2021, S. 215) folgend:

• Systemschocks (z. B. 9/11 oder die Corona-Krise),


• Unfälle (z. B. die zufällige Entdeckung Viagras oder der Post-it-Klebezettel),
• die Beobachtung anderer (im Rahmen von Benchmarks, Reverse Engineering oder
durch das Kopieren),
• rekombinante Innovationen (bei denen bspw. Ideen und Techniken aus der Natur in
einem anderen Kontext genutzt werden),
• Regulationen (bspw. im Sinne der marktwirtschaftlichen Öffnung von vormals
regulierten Märkten, wie beispielsweise dem Telekommunikationsmarkt in Deutsch-
land in den 1990er Jahren),
• Werbung (und der damit einhergehenden Entdeckung latenter Wünsche und Bedürf-
nisse),
• Erforschung von Kundenbedürfnissen,
• wissenschaftliche Erfindungen (wie aktuell bspw. die mRNA-Technologie),
• Zusammenarbeit mit Nutzer:innen (im Sinne der Lead User (vgl. Hippel, 2006,
S. 19 ff.),
• Inspiration (klassisch, der Ideenfunken), oder
• der Extrapolation (dem versuchten Blick in die Zukunft).

Dementsprechend ist in Abb. 1.1 Progress in den Markt (→ Market) eingebettet.


Strategisch bedeutet das, dass ein Unternehmen sich genau überlegen muss, in welchem
Markt es wie präsent sein will, um vom Innovationspotenzial profitieren zu können.
Stellt man den:die Konsument:in in den Mittelpunkt der Betrachtung und orientiert
sich an dessen:deren Bedürfnissen, bieten sich mit der Blue Ocean Strategy (vgl. Kim
& Mauborgne, 2015, S. 12 ff.) oder auch der Design-Driven Innovation (vgl. Verganti,
2016, S. 4) zwei Konzepte an, wie man diese Bedürfnisse aktiv beeinflussen bzw. ver-
ändern kann. In beiden Fällen geht es darum, den Wert bzw. die Bedeutung eines
Angebots (COO) für den:die Kund:in zu verändern und zu erhöhen. Beide Innovations-
strategien beziehen sich hierbei also auf den für den:die Kund:in dahinterliegenden
Grund (sprich: das Bedürfnis), ein Customer Oriented Offering (COO) zu konsumieren.
8 C. Lucas

Diese Bedürfnisse können mittels solcher Konzepte einerseits (1) fokussiert werden,
durch Performance-Steigerung in bestimmten Bereichen des Angebots.

Beispiel Bedürfnisfokussierung

Bei Mobiltelefonen kann durch eine höhere Sprachqualität (höherwertigere Mikrofone


und Lautsprecher) und Sprachquantität (längere Akkulaufzeiten) die Telefonfunktion
stärker in den Fokus der Bedürfnisbefriedigung rücken, weil das Mobiltelefon nun als
akzeptabler Ersatz für ein Festnetztelefon wahrgenommen wird. ◄

Oder die Bedürfnisse können andererseits (2) durch einen Bedeutungsshift des Angebots
im Gesamten verändert werden.

Beispiel Bedürfnisveränderung

Bei Mobiltelefonen traten das Fotografieren und der soziale Austausch in den Bedürf-
nisfokus, nachdem hochwertige Kameras und eine Internetfunktion verbaut wurden
und das Mobiltelefon dadurch auch sprachlich zum Smartphone wurde. ◄

Einen Vorschlag, die (3) Intensität der Wahrnehmung (Perception) des Angebots zu
verändern, machen Siggelkow und Terwiesch (2019, S. 61 ff.), indem sie den kunden-
individuellen Informationsaustausch in den Fokus ihrer Betrachtung stellen.

Beispiel Wahrnehmungsintensität

Bei Smartphones kann ein Unternehmen durch die Beobachtung des Verwendungs-
verhaltens, sei es durch Cookies, FaceID, Bewegungssensoren, oder sonstige
Möglichkeiten, prüfen, ob eine bestimmte Information über ein neues Angebot
(z. B. eine App) wahrgenommen wurde und diese Wahrnehmung aktiv und kunden-
individuell steuern. ◄

Auch das Unternehmensselbstverständnis (Paradigm) lässt sich innovieren. Osterwalder


und Pigneur (2010, S. 55 ff.) sowie auch Gassmann et al. (2017, S. 21 ff.) schlagen
bspw. vor, durch die Analyse von Geschäftsmodellen anderer Unternehmen, das eigene
Business Modell weiterzuentwickeln. Wirtz (2019, S. 189) ergänzt diese Arbeiten durch
eine spezifische Konzentration auf digitale Geschäftsmodelle.

1.3.2 Market Research

Informationen stellen eine wichtige Voraussetzung für den Markterfolg von Unter-
nehmen dar (vgl. Homburg, 2017, S. 250). Die Marktforschung ist in diesem Sinne das
Mittel zum Zweck, um Informationen zu erlangen.
1 Marketing-House-Konzept 9

Folgt man dem strategischen Dreieck mit den Eckpunkten Kunde, Unternehmen
und Wettbewerber (Market), ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten, spezifische
Informationen zu ergründen. Eine Übersicht ist beispielsweise bei Homburg (2017,
S. 252) zu finden. Der im Mittelpunkt stehende Kunde ist hier auch als potenzielle:r
Kund:in zu verstehen. So schlagen beispielsweise Kim & Mauborgne (2015, S. 30) vor,
den Marktforschungsfokus speziell auf Nichtkunden sowie Bedürfnisbefriedigungsalter-
nativen (Angebote anstatt Wettbewerber) zu legen. Ähnlich sehen dies auch Gassmann
et al. (2017, S. 12 ff.), wenn sie vorschlagen die eigene Branchenlogik zu durchbrechen
und außerhalb dieser zu denken, um das Geschäftsmodell des Unternehmens (Paradigm)
zu innovieren.
Auch bei der Informationsbeschaffung hat sich in den letzten 70 Jahren einiges
getan (vgl. auch Kap. 5: Digitale Beobachtung in der Marktforschung und Kap. 6:
Digitale Transformation der Umfrageforschung). Berichten Berekoven et al. (2009,
S. 141) beispielsweise noch davon, dass Beobachtungen zwar eine wichtige, hinsicht-
lich ihres Volumens aber eher bescheidene Rolle spielen, haben sich im Rahmen der
Digitalisierung die Voraussetzungen massiv verändert. So schlagen Siggelkow und
Terwiesch (2019, S. 101 ff.) ‚connected‘ Customer Relationships vor, um einerseits
durch die Verbindung intensiver zu lernen und andererseits auch aus der Wiederholung
des Kauf- & Konsumaktes zu lernen, um so die Kundenbeziehung zu intensivieren. Sie
unterscheiden hier eine Informationsbeschaffung auf individueller Ebene, dem Lernen
durch Beobachtung einzelner Personen, von der Informationsbeschaffung auf kollektiver
Ebene, dem Lernen durch Beobachtung vieler Personen (vgl. Siggelkow & Terwiesch,
2019, S. 112). Beide Arten haben spezifische Vorzüge und führen jeweils zu einem
größeren Fit zwischen Angeboten und Bedürfnissen.

Beispiel Lernen auf individueller Ebene

Konsument:innen nutzen ihr Smartphone individuell sehr unterschiedlich: der:die eine


eher um Informationen/Wissen zu recherchieren, ein:e andere:r als Navigation im
Auto, ein:e dritte:r zur Kontaktpflege via Social Media und ein:e weitere:r eventuell
zum Fotografieren. Die Beobachtung des Nutzungsverhaltens einzelner, hilft Unter-
nehmen dabei, Konsument:innen besser zu verstehen und in bestimmte Segmente zu
gruppieren. Dadurch können Bedürfnisse besser befriedigt werden. ◄

Beispiel Lernen auf kollektiver Ebene

Die identifizierten Konsumentengruppen sind unterschiedlich groß und auch unter-


schiedlich wichtig für Unternehmen, um ihre Ziele zu erreichen. Stehen die Bedürf-
nisse der Fotograf:innen im Mittelpunkt der Betrachtung, hilft das Lernen auf
kollektiver Ebene, um zu entscheiden, ob von diesem Segment eine höherwertige
Linse, ein Weitwinkelobjektiv, oder eine bessere Bildauflösung erwartet wird. ◄
10 C. Lucas

Durch die neueren Möglichkeiten der Datenbeschaffung, z. B. mittels automatisierter


Beobachtungen, und auch der Datenauswertung, z. B. mittels automatisiert erstellter
und trainierter neuronaler Netze (Process), entstehen neue Herausforderungen für
Unternehmen (vgl. u. a. Zuboff, 2018, S. 22 ff.; Siggelkow & Terwisch, 2019, S. 44 ff.;
Steinhoff et al., 2019), S. 381). Lobschat et al. (2021, S. 876 ff.) warnen in diesem
Zusammenhang vor einem unstrukturierten Vorgehen und schlagen die Anwendung
einer Corporate Digital Responsibility vor (vgl. auch Kap. 9: Digitale Unternehmensver-
antwortung im Marketing der Zukunft).

Beispiel Verwendung automatisiert erhobener Beobachtungsdaten bei


Automobilnutzer:innen

Bei konsequenter Nutzung der Möglichkeiten kann ein Automobilhersteller u. a.


wissen, wie ein:e individuelle:r Konsument:in das Fahrzeug nutzt (sportlich,
umsichtig, verkehrssicher o.ä.), ob er:sie ein:e Vielfahrer:in ist, wohin und wie schnell
er:sie regelmäßig fährt, wo er:sie wohnt. Zusätzlich könnte er auch wissen, welchen
Radiosender der:die Kund:in vornehmlich hört, welche Lieder er:sie besonders mag
(bspw. durch das Erhöhen der Lautstärke), bei welchen Liedern er:sie schneller fährt
oder welche spezifischen Werbespots er:sie in letzter Zeit gehört hat… All dies führt
zu einem sehr genauen Bild des:der individuellen Konsument:in, welches in der
Produktentwicklung oder auch der direkten Kundenansprache am Point of Sale oder
auch per Direktmarketing genutzt werden kann, um dem:der Kund:in eine bessere
Bedürfnisbefriedung anbieten können. ◄

1.3.3 Customer Oriented Offering

Die Customer Oriented Offerings (COOs), als Kombinationen der unterschiedlichen


Marketingmix-Instrumente, welche auf spezifische Kund:innen zugeschnitten sind,
unterscheiden sich von klassischen Produkten dadurch, dass sie aus Sicht eines:einer
Kund:in zu verstehen sind. So kauft der:die Kund:in nach dieser Sichtweise kein Produkt
an sich, sondern eine Problemlösung bzw. Bedürfnisbefriedigung. Beispielsweise will
ein:e Kund:in vielleicht gar keine Bohrmaschine, sondern nur das Loch in der Wand.
Er:sie will auch keinen Haarschnitt, sondern eine passende Frisur, oder aber das Gefühl
vom Frisör umsorgt worden zu sein. Im Bildungsbereich will er:sie keinen Abschluss
an sich, sondern eine gute zukünftige Karriere, ein gutes Auskommen, oder die Selbst-
bestätigung, eine große Herausforderung gemeistert zu haben.
Aus dem Kernprodukt eines Unternehmens wird nach dieser Vorstellung der wahr-
genommene Kernnutzen (des Customer Oriented Offerings) für den:die Konsument:in
(vgl. u. a. Kotler et al., 2017b, S. 460; Meffert et al., 2019. S. 396). Dieser Kernnutzen
wird durch die Wahrnehmung und Bewertung von materiellen und/oder immateriellen
Bestandteilen erweitert und besteht demnach immer aus einer Kombination der ver-
1 Marketing-House-Konzept 11

schiedenen Marketingmix-Instrumente (vgl. u. a. auch Kap. 17: Produkt vs. Bedürfnis-


befriedigung).

Zitat aus „Der Kleine Prinz“


„So hatten, als ich ein kleiner Junge war, die Lichter des Weihnachtsbaums, die Musik
der Mitternachtsmesse und das sanfte Lächeln der Menschen den Glanz des Weihnachts-
geschenks ausgemacht, das ich erhielt.“ (Saint-Exupéry, 2015, S. 85)

Beispiel (Kern-) Nutzen eines Customer Oriented Offerings

Ein Hotelgast kauft Erholung und Schlaf (Kernnutzen). Dazu benötigt er u. a. ein
Zimmer, ein Bett, einen Schrank und eine Waschgelegenheit. Der Kernnutzen wird
also durch verschiedene materielle Bestandteile (Produkte) erweitert, allerdings auch
durch immaterielle Bestandteile (Dienstleistungen), wie zum Beispiel einem freund-
lichen Check-In, 24h Service oder Ruhe. Je höherwertiger nun diese Nutzenbestand-
teile2 für den Konsumenten sind, desto höher ist auch seine Zahlungsbereitschaft.
Zusätzlich generiert bspw. auch ein angemessener Preis, eine interessante und
ansprechende Informationsübermittlung, sowie ein passender Verkaufskanal mit
individuellen Zahlungsmodalitäten einen Nutzen. ◄

Da viele Kund:innen (j) mit unterschiedlichen Bedürfnissen ein bestimmtes Angebot


(i) eines Unternehmens offeriert bekommen, ist auch die Distribution (Place) zu
individualisieren. So kann man sich leicht vorstellen, dass je nach Angebot einige
Kund:innen die räumliche Nähe und den persönlichen Kontakt eines Verkaufsraums
präferieren, während andere dieses Angebot online oder mobil erwerben möchten3. Um
Distributionswege kundenspezifisch individualisieren zu könnten, bedarf es einer Multi-
Channel-Strategie (vgl. Kotler, 2017a, S. 167 ff.).

Beispiel Konsum eines Films

Einige Kund:innen präferieren das Erlebnis im Kino, für andere bleibt nur die Zeit
im Flugzeug, wiederum andere wollen den Film im FreeTV sehen oder vorab schon
streamen. Auch der Konsum mittels physischer Datenträger (z. B. Blueray) ist aktuell

2 Homburg 2017, S. 1003 ff.) spricht hier u. a. von der Ausstattungspolitik, die im vorliegenden

Fall allerdings im Verständnis der Produkt- & Dienstleistungen aufgeht. Die Ausgestaltung des
Verkaufsraums selber (im Verfügungsbereich des Händlers), zählt für einen Händler ebenso zur
Produkt- & Dienstleistung ggü. dem Hersteller auf der einen Seite, sowie dem Endkunden auf der
anderen Seite (vgl. u. a. Müller-Hagedorn 2005, S. 397 ff.).
3 Die Gestaltung des Vertriebsweges, und damit indirekt verbunden auch die Entscheidung für

die Qualität der Ausstattung eines typischen Verkaufsraums, ist Teil der Distributionspolitik (vgl.
Homburg 2017, S. 878 ff.)
12 C. Lucas

noch nicht ausgestorben und teilweise durch eine Sammelleidenschaft und dem damit
verbundenen Erwerb einer materiellen Kopie beeinflusst. ◄

Geht man davon ausgeht, dass ein Unternehmen entweder mehr als ein singuläres
Angebot offeriert (i ≥ 1) oder aber dieses an mehr als eine:n einzelne:n Kund:in ver-
kauft (j ≥ 1), bietet sich, im Sinne einer Preisdifferenzierung, eine Mischkalkulation zur
Deckung der Kosten an (vgl. Simon & Fassnacht, 2016, S. 244). Die Beziehungen sind
dabei heutzutage nicht mehr nur auf eine einseitige Verbindung vom Unternehmen zum
Kunden beschränkt, sondern können auch:

• vom Kunden zurück zum Unternehmen, oder


• vom Unternehmenskunden (Mittler) zu anderen Kunden

laufen und von dort in einer Art Netzwerk zu weiteren Marktteilnehmern (vgl. u. a.
Bruhn, 2014, S. 23). Durch diese Zwei- bzw. Mehrseitigkeit des Informationsflusses,
u. a. vom Unternehmen zum Kunden und zurück, ergeben sich ganz neue Preismodelle.

Beispiel Kostenlose Angebote

Die (kostenlose) Filmdatenbank Prime Video von Amazon oder auch die Such-
funktion von Google dienen vornehmlich dazu, Verhaltensinformationen über
Nutzer:innen zu generieren, um so andere Produkte des Unternehmens besser ver-
kaufen zu können (vgl. u. a. Siggelkow & Terwiesch, 2019, S. 189 f.). ◄

Als besonders effektiv haben sich bei der kundenindividuellen (dynamischen) Preis-
gestaltung auch Algorithmen (Process) erwiesen. Erkennt ein Algorithmus beispiels-
weise, dass ein:e potenzielle:r Kund:in einen hochwertigen Laptop zum Onlinekauf
verwendet, erhöht sich der Preis teilweise signifikant (Borgesius & Poort, 2017, S. 353).
Auch in der Kommunikationspolitik (Promotion) hat sich in den letzten 70 Jahren viel
entwickelt und erweitert. Zu klassischen Kommunikationsinstrumenten above-the-line,
wie bspw. der Mediawerbung, sind im Laufe der Zeit weitere Instrumente below-the-
line hinzugekommen, wie bspw. das Event-Marketing, Sponsoring, oder auch Product
Placement. Weitere, digitale Instrumente ergänzen diese seit den 2000er Jahren, wie
bspw. die Online-, Social-Media- oder mobile Kommunikation (vgl. Meffert et al., 2019,
S. 652). Bruhn (2016, S. 200 f.) erkennt in dieser Entwicklung unterschiedliche Phasen
und spricht aktuell von einer Phase der Dialog- bzw. Netzwerkkommunikation (seit den
2000er Jahren), die der individuellen kundenspezifischen Kommunikation des hier vor-
gestellten Marketing-House-Konzepts entspricht.

Beispiel Individuelle kundenspezifische Kommunikation

Die Nutzung von verschiedenen Amazon-Endgeräten und -diensten, wie bspw.


Amazon Alexa, Amazon Online & Offline Stores, Amazon Web Services, Amazon
1 Marketing-House-Konzept 13

Marketplace, Amazon Credit Cards, Amazon Prime Video, Music & Reading ermög-
licht es Amazon, eine sehr spezifische (Bedürfnis-)Persona eines Kunden, Kotler
et al. (2021, S. 132 ff.) sprechen hier von einem Segment-of-One, zu erstellen. Mit-
hilfe dieser Daten kann Amazon seinen Kund:innen individuelle und bedürfnis-
optimierte Informationen zur Verfügung stellen, wie zum Beispiel Empfehlungen
für den nächsten Film oder das nächste Buch (vgl. Lernen auf individueller Ebene,
Abschn. 1.3.2)4. ◄

1.3.4 Perception

Customer Oriented Offerings sind immer aus der Konsumentensicht heraus gedacht
und zu verstehen. Dementsprechend ist über die (Unternehmens-)Kommunikation
die individuelle Wahrnehmung (Perception) der Stakeholder zu optimieren. Sämt-
liche marktrelevanten Unternehmensaktivitäten haben sich also auf die Perception zu
konzentrieren, sodass die Ziel- und Strategieplanung genau hier ansetzen muss.
Diese Wahrnehmung kann nun in unterschiedliche Phasen unterteilt werden, sodass
aus Konsumentensicht von einer Customer Journey gesprochen werden kann. Siggelkow
und Terwiesch (2019, S. 65 f.) erkennen drei Phasen der Customer Journey (i.w.S).:

• Recognise the customer need: ‚Warum‘ ein:e Konsument:in interagieren möchte, dem
Ergründen seiner:ihrer individuellen Bedürfnisse
• Request the desired option: ‚Wie‘ findet der:die Konsument:in heraus, dass es ein
Angebot gibt, wie wählt er:sie aus, bestellt und bezahlt er:sie? (Customer Journey,
i. e. S.)
• Respond and provide the desired option: ‚Welche‘ spezifische Ausgestaltung des
Angebots passt, um die Erwartungen des:der Konsument:in zu erfüllen?

Durch einen unterschiedlich intensiven, wechselseitigen Informationsaustausch ent-


stehen dabei verschiedene Arten von möglichen Angeboten (COOs), je nachdem,
welchen Teil der Customer Journey der Kunde und welchen Teil die Unternehmung
übernimmt. Siggelkow und Terwiesch (2019, S. 67 ff.) identifizieren bspw.:

• Respond-to-Desire-Angebote, bei denen Unternehmen eher klassisch auf Konsu-


mentenbedürfnisse reagieren, in dem sie konkrete Konsumanfragen bedienen,
• Curated-Offering-Angebote, bei denen Konsumempfehlungen gemacht werden,

4 Zusätzlich
lernt Amazon noch auf kollektiver Ebene (vgl. Abschn. 1.3.2), bei welchen Produkt-
& Dienstleistungen Kunden markentreu sind, um so ihrerseits Hersteller von eher generischen
Produkten zu werden und schnell Marktanteile zu gewinnen (vgl. Siggelkow and Terwiesch 2019,
S. 105).
14 C. Lucas

• Coach-Behaviour-Angebote, bei denen ein Bedarf antizipiert wird und dem:der


Konsument:in proaktiv eine Bedürfnisbefriedigung angeboten wird,
• Automatic-Execution-Angebote, die beim Erkennen eines (auch unbewussten) Konsu-
mentenbedürfnisses automatisch ausgeführt werden.

Beispiel5 Respond-to-Desire-Angebot

Die Druckerpatrone ist leer, man loggt sich in einem Online-Store ein, sucht die
richtige Druckerpatrone, bestellt und bezahlt mit einem Klick, da die Zahlungs-
informationen und die Adresse bereits hinterlegt sind. ◄

Beispiel Curated-Offering-Angebot

Die Druckerpatrone ist leer, man loggt sind wiederum in seinem Online-Store ein,
diesmal schlägt die Website basierend auf vorangegangenen Interaktionen bereits die
richtig Druckerpatrone vor und empfiehl gleichzeitig noch passendes Druckerpapier
dazu. ◄

Beispiel Coach-Behaviour-Angebot

Der Online-Store schickt einem, aufgrund von vorangegangenen Interaktionen, einen


Hinweis, dass man regelmäßig nach X Wochen neue Druckpatronen bestellt hätte, in
der Vermutung, es könnte dieses Mal wieder soweit sein, dass die Patrone leer ist. ◄

Beispiel Automatic-Execution-Angebot

Der Druckerhersteller schickt einem automatisch eine neue Druckerpatrone, da der


Drucker selbstständig eine Rückmeldung an den Hersteller gesendet hat, dass die
Patrone bald leer ist. ◄

Wie diese unterschiedlichen Angebotsarten wahrgenommen werden, hängt vom


individuellen Konsumenten ab: einige sind hier offen für einen intensiven Datenaus-
tausch, während andere dies eher nicht wollen. Auch hier ist also wieder zwischen den
Angeboten (COOs) zu unterscheiden und diese sind kunden- und angebotsspezifisch zu
individualisieren. Eine eher datenaustauschkritische Person, die bspw. im Internet alle
Cookies blockiert, kann bspw. trotzdem daran interessiert sein, dass im Falle eines Auto-
unfalls automatisiert der Notruf gewählt wird6.

5 Die Druckerpatronenbeispiele sind Siggelkow und Terwiesch (2019, S. 67 ff.) entliehen.


6 in Deutschland gehört dieses Feature (auch eCall genannt) beim Kauf eines Neuwagens zur
Pflichtausstattung.
1 Marketing-House-Konzept 15

1.3.5 Paradigm

Das Unternehmensselbstverständnis (Paradigm) setzt sich aus dem(/den)


Geschäftsmodell(en) (Innenverhältnis) und der Positionierung (Außenverhältnis) zusammen,
welche ebenfalls aus Sicht des Kunden heraus zu betrachten ist. Das marktorientierte
Geschäftsmodell orientiert sich dabei grundlegend an zwei elementaren Entscheidungen:

1. Wie viele grundlegend unterschiedliche Customer Oriented Offerings ( ni=1 COOi)
sollen angeboten werden?
2. An wie viele unterschiedliche Kunden/Kundensegmente sollen die jeweiligen

Customer Oriented Offerings ( nj=1 COOj) angepasst werden?

Die theoretisch möglichen Alternativen reichen von einem Angebot für ein Kunden-
segment bis hin zu mehreren Angeboten für unendlich viele (Individual-)Kund:innen.
Beispielhaft könnte man sich die Alphabet Inc. vorstellen, deren Google-Such-
maschinenergebnisse für jede:n Kund:in individualisiert angeboten werden. Gleich-
zeitig hat Alphabet aber mehrere grundlegend unterschiedliche Angebote im Sortiment,
speziell für die Sparte Google bspw. Google Analytics, Android, Chrome, Gmail, Maps,
Shopping, Translate oder YouTube, um nur einige zu nennen. Die erste Dimension
betrifft also die Angebotsbreite und die zweite Dimension die Angebotstiefe (vgl. auch
Meffert et al., 2019, S. 399 ff.).
Eine dritte Frage, die hier beantwortet werden muss, ist die Frage nach dem Ertrags-
modell über alle Customer Oriented Offerings (COOi) hinweg (vgl. u. a. Gassmann
et al., 2017, S. 6 f.; Siggelkow & Terwiesch, 2019, S. 173 ff.):

3. Wie wird langfristig und unternehmensweit Wert erzielt?


In den letzten Jahren haben sich Gassmann et al. (2017, S. 91 ff.) folgend, 55 Grund-
modelle entwickelt, aus denen sich weitere Varianten zusammensetzen lassen (vgl.
ebenda, S. 23).

Beispiel Geschäftsmodelle

Bei Wikipedia wird bspw. ein Ertrag durch Spenden generiert, bei LinkedIn bezahlt
nur ein Teil der Konsumenten (Freemium-Modell), bei Ryan Air wird ein Ertrag durch
den Verkauf von Zusatzleistungen generiert (Add-On-Modell). Ebay und Airbnb nutzen
Modelle, bei denen das Unternehmen als Plattformbetreiber agiert (Peer-to-Peer-
Modell), Gilette und Nespresso verpflichten Kunden dazu, Zusatzleistungen zu kaufen
(Lock-In-Modell), und ShareNow lässt sich bspw. nur für die Nutzung bezahlen (Pay-
per-Use-Modell). ◄
16 C. Lucas

Im Außenverhältnis, der Positionierung des Unternehmens, geht es ebenfalls um zwei


grundlegende Fragestellungen:

1. Welches ist der relevante und zu bearbeitende Markt?


2. Wie positioniere ich mich auf diesem?

Bei erster Frage geht es um die Anspruchsgruppen, die „einen Einfluss auf die Aktivi-
täten des Unternehmens ausüben können oder im Gegenzug von diesem beeinflusst
werden“ (Müller-Stewens & Lechner, 2016, S. 26): Mit welchen will das Unternehmen
konkret zu tun haben, bzw. welche werden als relevant erachtet? Dazu müssen Markt-
segmente gebildet werden und es muss sich für ein spezifisches Marktsegment ent-
schieden werden (vgl. Kotler et al., 2021, S. 20 f.). Die zweite Frage beschäftigt sich
mit der Wahrnehmung (Perception) bei diesen Anspruchsgruppen, auf diesem Markt.
Positionierung ist also „What you do to the mind of the prospect“ (Ries & Trout, 2001,
S. 2): Das Unternehmen wird im Verstand des Konsumenten etabliert und positioniert.

Beispiel Positionierung

Zigarettenmarken wie Marlboro versuchten vor einigen Jahren noch für Werte wie
Freiheit, Pflichterfüllung, Männlichkeit und Unabhängigkeit zu stehen, personifiziert
im Marlboro-Mann. Mittlerweile wurde aber verstanden, dass die Wahrnehmung
der Konsumenten eine andere ist und so konzentriert man sich nun darauf, diese
Wahrnehmung für sich zu nutzen, um die neue Marke Iqos richtig im Verstand der
Anspruchsgruppen zu positionieren: der Marlboro-Mann ist Geschichte (vgl. u. a.
Weiguny, 2019). ◄

1.3.6 Market

Im vorliegenden Denkmodell wird davon ausgegangen, dass sich Unternehmen auf


einem Markt im Zusammenspiel mit ihrer Umwelt in einer Atmosphäre befinden, die
durch verhaltenswissenschaftliche Gesetze beschrieben werden kann. Zu diesen Wissen-
schaften gehören Kroeber-Riel & Gröppel-Klein (2019, S. 10 f.) folgend, stark verein-
facht, die Psychologie auf der einen Seite, die sich mit den individuellen Aspekten des
Verhaltens beschäftigt, sowie die Soziologie auf der anderen Seite, die sich mit den
sozialen Aspekten der Beziehungen zwischen Marktteilnehmern beschäftigt (vgl. auch
Kotler et al., 2010, S. 34). Nur wenn diese Gesetzmäßigkeiten beachtet werden und in
die Ausgestaltung des Angebots (Customer Oriented Offering) integriert werden, kann
von einer zielgerichteten Marktbearbeitung gesprochen werden.
1 Marketing-House-Konzept 17

1.4 Fazit, Abgrenzung und Ausblick

Was ist neu an diesem Konzept, worin unterscheidet sich das Marketing-House-Konzept
von anderen Sichtweisen?

• Das zu optimierende Zielobjekt ist in diesem Denkmodell die Wahrnehmung


(Perception) des Customer Oriented Offerings (COO).
• Wahrgenommene Angebote (COOs) bestehen aus einem (Konsument:innen-)Nutzen
(Bedürfnisbefriedigung), welcher sich aus unterschiedlichen Nutzenkomponenten,
u. a. bedingt durch die Ausgestaltung der Marketingmix-Instrumente, zusammensetzt.
• Sämtliche Bestandteile dieser Wahrnehmung (Perception) können aktiv verändert
werden und sollten regelmäßig überprüft werden: das Innovation Management
(Progress) wird damit zu einem grundlegenden und zentralen Bestandteil des
Marketings.
• Dem Stakeholder-Prinzip folgend, wird in diesem Konzept stets die Wahrnehmung
aller Beteiligter (Kunden, Aktionäre, Staat, Öffentlichkeit, etc.) optimiert.

Die beschriebenen Unterscheidungen führen in ihrer Konsequenz zu sehr unterschied-


lichen Implikationen, die hier nur kurz angerissen werden können:

• Die individuelle Beobachtung rückt in den Fokus marktforscherischer Tätigkeit.


• Die Datenbasis wird damit um ein Vielfaches vergrößert.
• Der Komplexitätsgrad steigt, sodass künstliche Intelligenz die Auswertung der Daten
übernehmen muss und Handlungsalternativen (Wahrscheinlichkeiten) vorschlagen
wird7 (vgl. auch Kap. 12: Menschen machen Fehler).
• Die ethischen und moralischen Anforderungen an Mitarbeiter:innen werden steigen,
welche nun zwischen den unterschiedlichen Handlungsalternativen auswählen
müssen.

Das hier vorgestellte Konzept ist mit der Marketingdefinition der American Marketing
Association, zumindest in großen Teilen, vereinbar:

„Marketing is the activity, set of institutions, and processes for creating, communicating,
delivering, and exchanging offerings that have value for customers, clients, partners, and
society at large“ (vgl. AMA, 2017).

Auch bei dieser Definition steht das Angebot (Offering) im Mittelpunkt der Betrachtung,
welches für eine größere Unternehmensumwelt (Stakeholder) Wert haben muss
(Perception). Dieses Angebot wird erzeugt (create: Product&Service) durch aktives

7 Kahneman et al., (2021, S. 345 ff.) schlagen mit dem Strukturierten Entscheidungsprotokoll einen
Weg vor, der schon jetzt in diese Richtung deutet.
18 C. Lucas

Handeln (Activity) oder auch Prozesse (Processes), kommuniziert (communicate:


Promotion), zur Verfügung gestellt (deliver: Place) und eingetauscht (exchange: Price).
Über die Werttreiber wird in dieser Definition allerdings nichts gesagt. Das vorliegende
Konzept geht hier von einer Kombination materieller und immaterieller Bestand-
teile aus, die durch eine individuelle Wahrnehmung und Bewertung dieser Bestandteile
(Perception) ergänzt wird.
Die Akzeptanz des hier vorgestellten Konzepts führt dazu, dass einzelne Bestand-
teile und Elemente des Marketings noch einmal genauer auf ihre Passung hin überprüft
werden müssen. Einige Aspekte kommen, auch aufgrund des aktuellen technologischen
Wandels und der damit verbundenen Möglichkeit Konsument:innen viel näher als bisher
zu beobachten, neu hinzu. Deren Auswirkungen auf das marktorientierte Unternehmen
müssen analysiert werden. Die folgenden Beiträge versuchen dies in einem ersten Schritt
zu tun.

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Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-Management
und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt hier als Professor für
Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u.a. in den Fächern Digital Business,
Marketing, Marktforschung und Innovation Management. Parallel bietet er als Geschäftsführender
Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen internationalen Fahrservice für Teams und
Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Teil I
Konsumentenverhalten
Quo vadis, Homo digitalis?
2
Menschen, Medien und Marketing im digitalen Zeitalter

Gabriele Schuster   , Verena Renneberg und Susanne O’Gorman

Zusammenfassung

„Um die Zukunft zu bewahren, brauchen wir eine umfassendere Kenntnis der
historischen Prozesse, durch die wir in die Gegenwart gelangt sind.“ (Trentmann
in Herrschaft der Dinge: Die Geschichte des Konsums vom 15. Deutsche Verlags-
Anstalt, S. 33, 2017). Heute sind Informationen überwiegend digital verfügbar, sie
sind digitaler Natur. Ebenso innovative Waren und Dienstleistungen. Aber welchen
Einfluss hat diese Digitalität auf die Natur des Menschen? Eine ganze digitale Welt
ist im Entstehen befindlich; der „digitale Zwilling“ unseres Planeten soll noch in
dieser Dekade Realität werden (EU-Initiative DestinationE in Shaping Europe’s
digital future, 2022). Auch der Markt für digitale Werbung boomt – allerdings hat
der Zuwachs an verfügbaren Plattformen und Kanälen nicht nur Vorteile gebracht:
Aufmerksamkeit ist zur hart umkämpften Währung geworden und Unternehmen
stellen sich zunehmend die Frage, wie sie ihr Marketing auch für die Zukunft erfolg-
reich gestalten können. Werden wir zu digitalen Avataren unserer selbst, die auf dem
Planeten „DestinationE“ durch das digitale „Metaversum“ schweben? Was macht die

G. Schuster (*)
IU Internationale Hochschule, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
V. Renneberg
IU Internationale Hochschule, Bad Reichenhall, Deutschland
E-Mail: [email protected]
S. O’Gorman
IU Internationale Hochschule, Eglharting, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 23


Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_2
24 G. Schuster et al.

digitale Revolution mit uns als Menschen und welche Konsequenzen ergeben sich
für Unternehmen? Theorien menschlicher Grundbedürfnisse zeigen, dass persönliche
Beziehungen, multisensorische Erfahrungen und der direkte und physische Kontakt
zur Umwelt nötig sind. Storytelling, disruptive und emotionale Ansprache in der
Marketingkommunikation, kundenzentrierte Angebote im Customer Service: Best
Practice Cases zeigen, dass Empathie, Emotion und Digitalisierung sich nicht gegen-
seitig ausschließen, sondern einander im digitalen Transformationsprozess ergänzen.
Eine gelungene Integration ist möglich und der Mensch ist letztendlich vielleicht
weniger ein Homo digitalis, als ein Homo hybridus.

2.1 Einleitung

„Die kognitive Revolution vor etwa 70.000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in
Gang. (…) Niemand, schon gar nicht die Menschen selbst, konnte ahnen, dass ihre Nach-
fahren eines Tages über den Mond spazieren, Atome spalten, das Genom entschlüsseln oder
Geschichtsbücher schreiben würden.“ (Harari, 2019, S. 11 f.).

„Wie lange sind wir noch Mensch?“ fragt der europäische Kulturkanal Arte in seiner
Reihe Homo Digitalis, die diese Frage im Untertitel trägt (Arte, n. d.).
Diese Frage lässt sich damals wie heute und auch in Zukunft im Grunde ganz ein-
fach beantworten: So lange Menschen aus Fleisch und Blut sind, sind sie Menschen,
keine Androiden, keine Cyborgs, keine Hybriden jeglicher Art. Und auf die nahe-
liegende Frage, was das Menschsein ausmacht, liefert – um eine zeitgemäße Quelle
zu konsultieren – der US-amerikanische Autor Philip K. Dick in seinem dystopischen
Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ (1968) die Antwort: Es ist die
Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen. Empathie im Fokus
des Menschseins.
Arte stellt nach der bewusst ostentativen Auftaktfrage im Teaser seines crossmedialen
Angebots schließlich aber doch noch die viel zentralere, entscheidende Frage: Was
macht die digitale Revolution mit uns als Menschen?
Die digitale Revolution datiert auf den Ausgang des 20. Jahrhunderts, als nahezu
weltweit der Umbruch in fast allen Lebensbereichen hin zu einem digital vernetzten
Lebensstil führte. Die digitale Revolution wird in Fachkreisen auch als sogenannte vierte
industrielle Revolution postuliert, kommt ihr doch eine ähnliche Bedeutung zu, wie der
ersten und der dritten, etwa 250 bzw. 50 Jahre zuvor.
Der Technikkritiker, Medienphilosoph und Sozialanthroposoph Günter Anders
fokussierte bereits in den 1950er Jahren auf die Konsequenzen der Medialisierung der
Gesellschaft, die am Rande bzw. infolge der Zweiten industriellen Revolution den Weg
zur Digitalisierung ebnete:
2 Quo vadis, Homo digitalis? 25

Abb. 2.1 Werdegang des Menschen (Darstellung von Holger Ziemann)

„Massenkonsum findet heute solistisch statt – Jeder Konsument, jede Konsumentin


ist ein unbezahlter Heimarbeiter für die Herstellung des Massenmenschen. Ehe man
die Kulturwasserhähne der Radios in jeder ihrer Wohnungen installiert hatte, waren
die Schmids und Müllers, die Smiths und Millers in die Kinos zusammengeströmt,
um die für sie in Masse und stereotyp hergestellte Ware kollektiv, also auch als Masse,
zu konsumieren“, konstatiert Anders in: Über die Seele im Zeitalter der zweiten
industriellen Revolution“ (Anders, 1956, S. 2).
Binnen der fast 70 Jahren, die zwischen Anders‘ Erkenntnissen und der Gegen-
wart liegen, hat sich dieser solistische Massenkonsum erhalten – aber neben ihn ist der
individualisierte, individualistische Massenkonsum getreten, bedingt durch die vierte
industrielle Revolution, die Digitalisierung, die digitale Revolution – dank Crossmediali-
tät und Internet.
Kurz nachdem sich Fernsehen und Radio in der Zeit des Wirtschaftswunders
etabliert hatten – und von Anders spitzfindig analysiert und kritisiert wurden –
wurden bereits ab Mitte der 1960er Jahre die Grundlagen des Internets gelegt. Ende
der 1970er Jahre begann bereits die internationale Ausbreitung des zunächst rein
militärischen Kommunikationsmittels (vgl. Schmitt, 2016), ab 1990 dann die sogenannte
kommerzielle Phase des WWW, in der wir uns seither befinden.
Der Zeitstrahl in Abb. 2.1 zeigt den Werdegang des Menschen seit seiner Entwicklung
zum Homo sapiens ca. 70.0000 v.Chr. auf. Ungefähr 55.000 Jahre lang ist bis zur ersten
Höhlenmalerei wenig Fortschritt erkennbar. Ca. 9.000 Jahre v. Chr. fingen die Menschen
an, sesshaft zu werden und Ackerbau zu betreiben. Bis zum Buchdruck im Jahre 1440
verging wiederum viel Zeit bis dann nach der Erfindung der Dampfmaschine im Jahr
1765 in kurzen Abständen eine industrielle Revolution der nächsten folgte. Zusammen-
fasst hat in den letzten ca. 250 Jahren eine rapide Entwicklung stattgefunden, die 1979
mit der Ausbreitung des Internet nochmals an Fahrt aufgenommen hat.
26 G. Schuster et al.

2.2 Individualistischer Massenkonsum im Zeichen der


Digitalisierung

„(.) Homo sapiens hat die Spielregeln neu geschrieben. Diese eine Affenart hat es inner-
halb von 70.000 Jahren geschafft, das globale Ökosystem radikal und beispiellos zu ver-
ändern. Unser Einfluss entspricht schon heute dem der Eiszeiten und der tektonischen
Verschiebungen. Binnen eines Jahrhunderts dürfte unser Einfluss noch den des Asteroiden
übertreffen, der vor 65 Millionen Jahren den Dinosauriern den Garaus machte. (Harari,
2019, S. 103)

Bahnbrechende (insbesondere technische) Entwicklungen bzw. Meilensteine der


Medienentwicklung sind in den übrigen Mediengattungen (Print, Radio, Fernsehen)
weitgehend abgeschlossen. Doch letztere wird es dennoch weiterhin geben, wie es das
sogenannte Rieplsche Gesetz, das Gesetz der Unverdrängbarkeit von Medien, weiß: Es
wurde von dem deutschen Journalisten Wolfgang Riepl in seiner Dissertationsschrift im
Jahr 1913 aufgestellt (Beck, 2017, S. 250) und – das hat die Zeit bewiesen – besitzt bis
heute uneingeschränkte Gültigkeit. Kurz gesagt: Mediengattungen sterben nicht aus, sie
existieren nebeneinander. Denn feststeht, dass alle Mediengattungen ihre Liebhaber und
letzten Endes eben auch ihre Alleinstellungsmerkmale und Nischen haben. Am Strand
lässt sich besser ein Buch lesen, um elektrische Geräte vor Sand, Wasser und Wind zu
schützen. Um auf langen Autofahrten nicht zu ermüden und informiert zu sein, bevor-
zugen es zahlreiche Autofahrer, Radio zu hören und somit auch über die aktuelle Ver-
kehrslage direkt ausführlich informiert zu werden, anstatt Hörbücher oder eigene
Playlists zu rezipieren.
Flankiert durch die Etablierung von Mobile Devices wie Smartphones, Phablets
und Tablets sind zusätzliche medienspezifische Angebote wie beispielsweise Apps
(Applikationen) entstanden sowie auch eine eigene Sektion in der Gaming-Industrie für
diese Endgeräte. Letztere tragen zur sogenannten Gamification von Bildung aber auch
Marketing bei.
Auch Medien wie Piktogramme oder Schemata wie das Storytelling sterben nicht aus:
Die Höhlenmalereien in der großen Höhle von Lascaux sollen etwa 15.000 vor Christus
entstanden sein (Cumming, 2006; Harari, 2019). Damals vermutlich mangels Materialien
in ihrem Stile naiv, finden sich heute Piktogramme als Wegweiser im öffentlichen Raum
– oder beispielsweise als App-Icons auf Smartphones. Sie waren und sind Formen des
sogenannten visuellen Storytellings. Und auch das Storytelling selbst liegt in seinen
Grundzügen (Campbell, 2008) den mythologischen Erzählungen der griechischen
Antike, Hollywood-Blockbustern, Serien und Social-Media-Storys zugrunde. Insofern
ist, nebenbei bemerkt, Anthropologie immer auch zugleich Sozial- und eben Medien-
anthropologie.
Das Internet und seine Distribution respektive Devices sind insofern über alle übrigen
Mediengattungen erhaben, als dass sie die gesamten Inhalte (Text, auditiver und audio-
visueller Content) bündeln, ubiquitär verfügbar machen und dafür sorgen, dass in
der Regel alle Inhalte jederzeit abrufbar sind. Das ist eine große Stärke von Online-
2 Quo vadis, Homo digitalis? 27

Content, ergänzt um den interaktiven Ansatz des Web 2.0 und spezifische Applikationen
(sogenannte Apps), die genau auf die Bedürfnisse und Ansprüche der Zielgruppen
zugeschnitten sind.
Bedingt durch die Herausforderungen des digitalen Zeitalters haben sich die Voraus-
setzungen der Medien- und Kommunikationsbranche in den vergangenen drei Jahr-
zehnten von Grund auf verändert. Die sich über alle gesellschaftlichen Bereiche
erstreckende Einbindung von neuen Kommunikationstechnologien in den Alltag
der Menschen stellt in ihrer Bedeutung einen ähnlich großen Einschnitt dar wie die
Erfindung des Buchdrucks. Nicht nur der Medienkonsum, sondern auch die Organisation
des (virtuellen) Zusammenarbeitens und des Lebens an sich sind ohne Smart Devices
kaum noch vorstellbar; man denke beispielsweise an die Smart-Steuerung im Rahmen
von Smarthome-Konzepten. Und genau deshalb sind die smarten, digitalen Devices
von Alexa bis zum Smartphone heutzutage nicht mehr wegzudenken, für manch einen
unersetzlich.
Aber – und genau das ist der wesentliche Punkt in der Diskussion um den Menschen
als digitales Wesen – diese Devices sind bloß Instrumente, Werkzeuge, derer sich
der Mensch seit Menschengedenken bedient. Nur eben sind sie jetzt nicht mehr
ausschließlich mechanisch oder elektronisch, sondern auch digital; es sind digitale Werk-
zeuge. Insofern ist der Mensch ein digitales Wesen, ein Homo digitalis – aber er bleibt
Mensch, ein empathisches, emotionales Wesen, das sich digitaler Werkzeuge bedient,
um seinen Alltag zu erleichtern, um sich zu bilden, zu informieren, zu unterhalten und
zu kommunizieren. Nur hat sich die Vielfalt an Medien und Kommunikationsmitteln im
Zuge der Digitalisierung stark vergrößert. Es bieten sich nun also zahlreiche Möglich-
keiten der Rezeption und der Kommunikation. Diese neue Vielfalt lässt den von Anders
proklamierten solistischen Massenkonsum zu einem individuellen, individualistischen
Massenkonsum werden. Die Individualität des Menschen wird insofern sogar durch die
Digitalisierung unterstrichen, und überwindet – auch dank des Web 2.0 – mit Blick auf
die Massenmedien die Nachteile der ausschließlich rezipierenden Teilhabe der zweiten
industriellen Revolution.

2.3 Harte Währung Aufmerksamkeit

Das bevorstehende Ende der Third-Party-Cookies ist nur eine der Herausforderungen,
mit denen die digitale Werbewirtschaft zu kämpfen hat. Auch das massive Wachstum
an Angeboten und Formaten hat paradoxerweise nicht nur Vorteile für Unternehmen
gebracht. Mit der Zahl der Nutzer:innen von sozialen Medien ist auch die Anzahl an
Plattformen stark gestiegen. Brands kämpfen in sozialen Netzwerken, Messenger-
Diensten, bei Streaming Services, aber auch weiterhin in traditionellen Formaten um
die Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Konsument:innen. Manche Webseiten werden regel-
recht von Anzeigen überflutet, Nutzer und Nutzerinnen erleben dies nicht nur als äußerst
störend (Gordon et al., 2021, S. 16), sondern sie blenden Werbung zunehmend mental
28 G. Schuster et al.

aus. Im Rahmen einer Studie von P&G lag die durchschnittliche Aufmerksamkeits-
spanne für eine Anzeige bei 1,7 s – „little more than a glance.“ (Pritchard, 2021, S. 27).
Hwang (2020) spricht von einer „subprime attention crisis“ und warnt vor einer
bevorstehenden Krise insbesondere im Bereich des programmatic advertising. Es wird
immer schwieriger, Aufmerksamkeit für Werbung im Internet zu erzielen: Die click-
through-rate von Bannerwerbung liegt (Studien von Google und Facebook zufolge)
bei unter einem Prozent und sogar diese Zahl unterschätzt noch den Effekt des unbe-
absichtigten Clicks auf Werbung, vor allem bei der Nutzung von Smartphones (Hwang,
2020, S. 78 f.). Zudem wird es immer schwieriger, die Aufmerksamkeit jüngerer
Generation für Werbung im Internet zu gewinnen und zu halten:

„Since the Millennial and Generation Z consumer are distracted multitaskers in terms of
their digital behavior, a marketing challenge is to capture their attention with their digital
marketing communication and advertising.“ (Munsch, 2021, S. 22)

Laut Hwang hat diese Krise nicht nur unmittelbare Auswirkungen für diejenigen Unter-
nehmen, die Werbung im Internet plazieren, sondern sie gefährdet auch den Grund-
gedanken des Webs an sich: „Intense dysfunction in the online advertising markets
would threaten to create a structural breakdown of the classic bargain at the core of the
information economy: services can be provided for free online to consumers, insofar as
they are subsidized by the revenue generated from advertising.“ (Hwang, 2020, S. 26).
Die Pandemie und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen bis hin zu
Lockdowns haben innerhalb weniger Monate die Mediennutzung insgesamt – und auch
die Nutzung digitaler Medien quer über alle Generation hin – verstärkt. Sie war somit
digitaler Katalysator – zugleich aber auch „Brandbeschleuniger der Einsamkeit“ (Klug
& Hörmanseder, 2021). Für viele Menschen war der Verlust an menschlicher Nähe durch
„social distancing“ mit sehr belastenden Erfahrungen verbunden und es zeigt sich bereits
jetzt, dass psychische Erkrankungen häufiger geworden sind.
Auch hier hat die Digitalisierung dazu beigetragen, die Auswirkungen der Kontakt-
reduktionen zumindest teilweise zu mildern. Viele Menschen nutzten während der
Pandemie soziale Netzwerke, Messenger-Dienste und Videoanrufe, um den Kontakt
zu Freunden und Familie nicht zu verlieren. Eine Kompensation für persönliches Mit-
einander sind digitale Medien allerdings nicht, wie (Beck, 2020, S. 61) ausführt:

„Die Transformation unserer Gesellschaft hin zu einer allumfassenden Digitalisierung


führt zu einer radikalen Veränderung der Nähe-Distanz-Vorstellungen und Gewohnheiten.
Beziehungsstrukturen und Beziehungskohärenz sind in den sozialen Medien generell
und in der onlinebasierten Kommunikation brüchiger, fragiler, unzuverlässiger, störan-
fälliger, zerbrechlicher und in ihrem Kohärenzpotential schwächer als in realen, analogen
Beziehungen.“

Die Digitalisierung hat eine Fülle von Möglichkeiten für Unternehmen und Kunden
geschaffen. Gleichzeitig stellen sich aber auch Fragen, welche Auswirkungen durch
die Überflutung mit digitalen Angeboten auf unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und
2 Quo vadis, Homo digitalis? 29

auf die Ausgestaltung von sozialen Beziehungen entstehen. Die entscheidende Frage
ist dabei nicht, ob Digitalisierung mit einem „Verlust an Menschlichkeit“ einhergeht,
sondern was Unternehmen leisten müssen, um Digitalisierung erfolgreich zu gestalten:
Wie können Anforderungen von Menschen zu einem wesentlichen Bestandteil digitaler
Transformationsprozesse werden?

2.4 Menschliche Grundbedürfnisse

Ein großes Gehirn, der Gebrauch von Werkzeugen, verbesserte Lernfähigkeit und
komplexe gesellschaftliche Strukturen waren für den Homo sapiens ein gewaltiger Über-
lebensvorteil gegenüber anderen Tier- und Menschenarten (vgl. Harari, 2019, S. 20).
In unserer zivilisierten VUCA1-Welt geht es meist nicht mehr ums nackte Überleben,
sondern oftmals um Grundbedürfnisse eines angenehmen Lebens.

„Es ist Zeit für eine neues Menschenbild.“ postuliert Bregman (2021, S. 433).

Diese Aussage von Bregman in seinem jüngst veröffentlichten Buch, in dem er auf die
positiven Aspekte der Menschheit fokussiert, sollte von mehreren Seiten betrachtet
werden.
Maslow spricht zum ersten Mal 1943 in seinem Artikel „A theory of human
motivation“ von fünf Grundbedürfnissen (Existenzbedürfnisse, Sicherheitsbedürf-
nisse, Sozialbedürfnisse, Bedürfnisse nach Anerkennung und Wertschätzung und dem
Bedürfnis nach Selbstaktualisierung) (vgl. Maslow, 1943). In seinem Buch „The Farther
Reaches of Human Nature“ (vgl. Maslow, 1971) erweiterte er das Modell um drei
weitere Bedürfnisse: kognitive Bedürfnisse, ästhetische Bedürfnisse und Transzendenz.
Maslows Modell ist bekannt und umstritten zugleich, wegen seines pyramidenförmigen
Aufbaus, der suggeriert, dass erst das unterste Bedürfnis erfüllt sein muss, bevor das
nächste erfüllt werden kann. Tatsächlich hat Maslow selbst diese stringente Reihen-
folge nie festgelegt. So kann beispielsweise ein Künstler in einer frühen Phase über-
lappende physiologische Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Sicherheit haben sowie
gleichzeitig das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung spüren. In der Abb. 2.2 werden
die acht Bedürfnisse nach Maslow (vgl. Maslow, 1971) grafisch so dargestellt, dass die
Überlappung der Bedürfnisse deutlicher wird, wobei die Größe der einzelnen Elemente
keinen Hinweis auf ihre für jeden Menschen individuelle Wichtigkeit geben soll.
Überlappende Bedürfnisse sind auch bei den Sinus-Milieus (Sinus Institut, 2022) zu
erkennen. Bei der Segmentierung nach Grundorientierung und Sozialer Lage in zehn
Milieus überlappt sich jedes Milieu mit den jeweils angrenzenden Milieus (Pitters &

1 VUCA: volatility, uncertainty, complexity, ambiguity.


30 G. Schuster et al.

Abb. 2.2 Bedürfnisse nach Maslow (Darstellung von Holger Ziemann)

Kastlunger, 2020, S. 51). Klaus Grawe (Grawe, 2000) hingegen sieht fünf psycho-
logische Grundbedürfnisse: das Bedürfnis nach

• Lustgewinn und Unlustvermeidung


• Bindung
• Selbstwerterhöhung
• Orientierung und Kontrolle
• Stimmigkeit/Konsistenz

Grawe (2000) geht davon aus, dass eine dauerhafte Nichtbefriedigung der von ihm
benannten Bedürfnisse zur Schädigung der psychischen Gesundheit führt.
Allen Ansätzen gemeinsam ist die Notwendigkeit gesellschaftlicher Strukturen,
sozialen Bedingungen und Sozialbedürfnissen. Auch für den modernen Menschen ist es
wichtig, persönliche Beziehungen zu anderen (Menschen) aufzubauen und zu erhalten.
Weltweit erfahren die Apple-Stores einen enormen Zulauf: Die persönliche Beratung
durch einen versierten und zugewandten Verkäufer – verbunden mit der Haptik der
neuen Apple-Geräte – ist immer noch von hohem Wert. Hier wird deutlich, wie sehr
für uns Homo sapiens die Gesellschaft anderer wichtig ist, und wo die Digitalisierung
an ihre Grenzen kommt. Während der Pandemie ließ sich gut beobachten, dass nicht
nur zwangsläufig digitale Technologie mehr genutzt wurde, sondern vielfach auch
ein stärkeres Bedürfnis nach menschlicher Interaktion entstanden ist und psychische
Erkrankungen zugenommen haben. Gemeinsam sind den Ansätzen zu menschlichen
Grundbedürfnissen ebenfalls die Bedeutung von verbesserter Lernfähigkeit, kognitiven
Bedürfnissen, Orientierung und Kontrolle. In diesen Bereichen ist die Digitalisierung
2 Quo vadis, Homo digitalis? 31

in den zurückliegenden Jahren enorm weiterentwickelt worden und es ist ein deutlicher
Nutzen für die Konsument:innen zu erkennen.
Hinzu gekommen sind in der modernen Welt Bedürfnisse nach Transzendenz sowie
Lustgewinn und Unlustvermeidung. Prestige und Selbstwerterhöhung klingen zwar
modern, bei der Betrachtung des Federschmucks indianischer Häuptlinge, der Aus-
stattung römischer Herrscher oder Monarchen ist es aber offensichtlich ein Bedürf-
nis, welches den Menschen schon lange begleitet. Die Selbstwertsteigerung durch
Konsum funktioniert, da der Konsum uns das gute Gefühl vermittelt, attraktiv, aus-
reichend versorgt, wohltätig oder gar clever zu sein. Der Kauf eines Produktes oder einer
Dienstleitung stimmt uns positiv und gibt für den Moment des Erwerbs unserem Leben
einen tieferen Sinn. Wir fühlen uns einer Gemeinschaft zugehörig und akzeptiert. Hier
spielt es keine Rolle, ob der Kauf offline oder online stattgefunden hat (Pitters, 2020,
S. 50 ff.). Konsum ist ein wesentlicher Teil unserer sozialen Identität. Über die Dinge
drücken wir uns aus und treten mit anderen in Beziehung (Trentmann, 2017, S. 23).
Wir Menschen sind geprägt durch unser Umfeld, vor allem durch andere Menschen.
Die Verknüpfung mit anderen Menschen ist tief in uns verwurzelt und lässt sich sogar
durch Neurowissenschaften belegen. Die – auf der Basis neuronaler Forschung
basierende – Limbic Map (Häusel, 2021) spricht davon, dass Kaufverhalten durch drei
Emotionssysteme (Stimulanz, Dominanz und Balance) geprägt ist. Ähnlich der zwölf
Archetypen nach C.G. Jung (Jung, 2021) klassifiziert Häusel sieben Limbic-Typen,
wie bspw. den Abenteurer und den Hedonisten. Als Archetypen bezeichnet C.G. Jung
die dem kollektiven Unbewussten zugehörigen vermuteten Grundstrukturen mensch-
licher Vorstellungs- und Handlungsmuster (Jung, 2021). Ein Archetyp steht also für eine
symbolische Figur, die mittels sozialpsychologischer Lernprozesse über Generationen
und Kulturen hinweg dieselben Emotionen und Assoziationen bei Menschen auslöst.
Auch er identifiziert Helden/Abenteurer und Schöpfer/Hedonisten. Auch hier geht es um
Identifizierung mit einem Typen, der dem eigenen Ich am meisten ähnelt oder dessen
Züge man sich für die eigene Persönlichkeit wünscht. Eine Übersicht der zwölf Arche-
typen nach C.G. Jung findet sich in der Abb. 2.3.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass wir den direkten und physischen Kontakt
zur Umwelt benötigen, um uns zu identifizieren und ein Teil der Gesellschaft zu sein.
Einiges lässt sich digital herleiten oder gar ersetzen – aber gänzlich kann ein Roboter, so
gut er auch programmiert ist, einen Menschen nicht überflüssig machen.

2.5 Konsequenzen für Unternehmen

Nach dem Blick auf menschliche Bedürfnisse, die uns schon seit vielen Jahrtausenden
prägen, soll es hier um die Frage gehen, welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für
die Digitalisierung von Unternehmen haben. Wie können diese Bedürfnisse trotz oder
mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung berücksichtigt werden? Wie
erreichen Unternehmen den Kunden nicht nur als Touchpoint, sondern wie erreichen sie
32 G. Schuster et al.

Abb. 2.3 Archetypen nach C.G. Jung (Darstellung von Holger Ziemann)

den potenziellen Kunden mit seinen Bedürfnissen und damit auch als zufriedenen und
loyalen Kunden für die Zukunft?
Wie in 2.3 ausgeführt existiert nicht nur ein Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung
durch z. B. Berater:innen oder Verkäufer:innen, sondern auch der Wunsch nach multi-
sensorischen Erfahrungen, wie in dem Beispiel von Apple in 2.4 oben angeführt, das
neueste Apple-Produkt in die Hand zu nehmen und auszuprobieren. Es ist wichtig,
anzuerkennen, dass Konsument:innen nicht nur funktionale, sondern auch emotionale
Bedürfnisse haben. Auch Storytelling befriedigt das Bedürfnis, am Leben anderer teil-
haben zu können. Jedes Jahr warten die Marketing-Community (und sicherlich auch
viele Konsument:innen) auf den neuen Weihnachtsspot von John Lewis, UK, um
jedes Mal wieder ob der emotionalen zwischenmenschlichen (oder vermenschlichten)
2 Quo vadis, Homo digitalis? 33

Storys zutiefst gerührt zu sein. Auch hier ist nicht entscheidend, ob der Kanal, über die
Konsument:innen erreicht werden, online oder offline genutzt wird.
Konsument:innen sollten die Wahl haben, wie und wo sie sich über ein Unternehmen
informieren, und Unternehmen stehen vor der Aufgabe zu verstehen, an welchem Punkt
in der Customer Journey welche Kundenansprache den größten Wert für den Kunden
stiftet. Dabei kommt es vor allem auf Qualität der Marketingkommunikation an und
weniger auf den Kanal. Menschen lieben Überraschungen und ansprechende, humor-
volle Werbung hat meist eine positive Wirkung, ob offline oder online, wie diese Bei-
spiele zeigen:

Kentucky Fried Chicken offline

Kentucky Fried Chicken (KFC) musste mehrere Filialen schließen, da dem Unter-
nehmen Ware fehlte. Die Kunden waren verärgert, riefen die Polizei oder – noch viel
dramatischer – gingen zu Burger King. Die in den Zeitungen The Sun und Metro
erschienene Anzeige, die in Zusammenarbeit mit der Werbeagentur Mother London
erstellt wurde, zeigt ein Foto des leeren „FCK“-Eimers und einen Text mit dem Wort-
laut:

„We’re sorry. A chicken restaurant without any chicken. It’s not ideal. Huge apologies to
our customers, especially those who travelled out of their way to find we were closed. And
endless thanks to our KFC team members and our franchise partners for working tirelessly
to improve the situation. It’s been a hell of a week, but we’re making progress, and every
day more and more fresh chicken is being delivered to our restaurants. Thank you for
bearing with us. (Amatulli, 2018)“ ◄

Kentucky Fried Chicken online

Für ihre Instagram-Kampagne hat die Fastfoodkette KFC am Computer den jungen,
hippen Influencer-Colonel Sanders jr gebastelt. Der präsentiert sich heiß, zeitgemäß,
natürlich in Posen, wie sie zu Instagram gehören. Und mit den modernen Botschaften
dazu. In Besprechungen mit seinem Team ist „natürlich alles super, tolle Leute, super
Partner“. Sanders jr. fühlt sich der Natur innig verbunden, liebt es, selbst zu kochen:
„Ich mag zwar ein Restaurant-Mogul und ein weltweites Vorbild sein, aber ich bin
immer noch ein Kind, das es liebt, in der Küche zu stehen und rät: „Mach dein Ding.“
(Hermann, 2019). ◄

McDonald’s offline

Für die McDonald’s NO-LOGO-Kampagne wurden „Bite Billboards“ entworfen.


Für die drei hinterleuchteten Plakatwände wurden die beliebtesten Produkte von
McDonald’s aufgenommen: ein BigMac, ein Cheeseburger und Pommes Frites.
34 G. Schuster et al.

Jedes Produkt wurde detailliert fotografiert, sodass die Nahaufnahmen leicht erkenn-
bar sind. Um zu zeigen, wie unwiderstehlich die amerikanischen Fast-Food-Produkte
sind, wurde jedes Plakat „angebissen“, sodass Zahnabdrücke hinterlassen wurden
– als Zeichen eines überwältigenden Verlangens nach Produkten von McDonald’s
(Neira, 2020). ◄

McDonalds online

„McDonald’s Monopoly digital“


In einer langfristigen Marketingkampagne, die 1987 begann, konnten McDonald’s-
Kunden analog zum bekannten Spiel Straßen in Form von Aufklebern sammeln.
Auf fast jedem Produkt waren Sticker mit Namen von Monopoly-Straßen befestigt.
Sobald der Kunde mehrere Straßen der gleichen Farben gesammelt hatte, konnte er
Preise gewinnen. Auch Sofortgewinne für kleine Burger, Getränke oder Ice Creams
befanden sich auf den Stickern. In der digitalen Version nutzen Spieler ein virtuelles
Spielfeld und geben dort einen Code der Sticker ein, um Straßen zu sammeln. ◄

Coca-Cola offline

Eine Werbetafel von Coca-Cola an einer Hauswand, versehen mit einem riesigen
Strohhalm, der in ein Fenster führt: Die berühmte Getränkemarke zeigte ein Plakat
mit dem Bild einer leeren Flasche und einem Strohhalm sowie der Aufschrift
"Refresh on the Coca-Cola Side of Life". Auch OOH-Plakatwerbung kann attraktiv
und innovativ sein und viele Besucher anlocken (Studiousguy, 2020). ◄

Coca-Cola online

London 2012: Gemäß den beiden Leitprinzipien "flüssige und verknüpfte" Inhalte
zu schaffen, beschloss Coke für die Olympischen Spiele 2012, jugendliche Ver-
braucher anzusprechen, indem es die inhärenten sozialen Werte der Spiele nutzte, bei
denen die ganze Welt zusammenkommt, um sich auf ein Ereignis zu konzentrieren.
Die (crossmedial inszenierte) Kampagne hieß “Move To The Beat", und die Idee
war, Musik als entscheidendes Element der Erzählung zu nutzen. Coke engagierte
den in London ansässigen Produzenten Mark Ronson und die Sängerin Katie B, die
mit fünf Olympia-Hoffnungen einen Song mit dem Sound ihrer Sportarten kreierten
(eConsultancy, 2018). ◄

Diese Beispiele machen deutlich, dass der Kanal nur ein Aspekt in der Marketing-
kommunikation ist. Der Kunde sollte im Mittelpunkt stehen, wie er es nach der
ursprünglichen Definition von Meffert (Meffert, 1986, S. 31) schon immer sollte. Der
moderne Begriff Consumer-centric betont dies seit einigen Jahren. Der Kunde sollte als
2 Quo vadis, Homo digitalis? 35

„Mensch“, als Wesen mit Empathie, Emotionen und Bedürfnissen eben gesehen werden,
nicht bloß als „User“.

2.6 Chancen und Risiken neuer Technologien

Digitale Medien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Mehr als 74 Mio.
Menschen nutzten in Deutschland im Jahr 2021 das Internet (Statista, 2022a), 57 Mio.
sind auch in sozialen Netzwerken aktiv (Statista, 2022b). Über alle Altersgruppen hinweg
verbrachten die Deutschen im Jahr 2021 im Schnitt 149 min täglich im Web (Seven.
One Media GmbH, 2021, S. 10), bei den 12–19-Jährigen sind es sogar 241 min – eine
Steigerung von fast 90 % seit dem Jahr 2011 (mpfs, 2021, S. 33). In dieser „Generation
Z“ haben digitale Medien klassische Formate wie TV oder Radio zwar nicht komplett ver-
drängt, aber zurückgedrängt: 88 % der Jugendlichen nutzen täglich das Internet, nur knapp
die Hälfte sieht täglich TV (mpfs, 2021, S. 16). Messenger-Dienste und soziale Netzwerke
erreichen hohe Anteile, insbesondere WhatsApp wird von 92 % der Jugendlichen mehr-
mals pro Woche genutzt, gefolgt von Instagram und TikTok (mpfs, 2021, S. 37).
Unternehmen haben erkannt, dass sie dort aktiv sein müssen, wo ihre Kunden und
Kundinnen sind und dass sie vielfältige digitale Touchpoints in allen Phasen der
Customer Journey anbieten müssen.
Es ist nur konsequent, dass der Markt für digitale Werbung boomt. Besseres Targeting
und dadurch Verringerung von Streuverlusten, bessere Steuerung von Kampagnen durch
konkrete und messbare Indikatoren (wie Clicks oder Likes), erhöhte Glaubwürdigkeit
(z. B. durch Influencer-Marketing) sind nur einige der Vorteile, die Firmen zu schätzen
wissen. Für 2022 werden die globalen Ausgaben für digitale Werbung voraussichtlich bei
524 Mrd. US$ liegen (Cramer-Flood, 2021) und Prognosen zufolge werden im Jahr 2024
mehr als 65 % aller Werbeausgaben auf das Internet entfallen, im Vergleich zu 21 % für
TV-Werbung (Zenith, 2021, S. 2).
Es ist eine große Herausforderung, die ständig wachsende Zahl an Touchpoints
zu pflegen, einen konsistenten Markenauftritt in allen Kanälen und einheitliche
Servicelevels zu sichern. Gleichzeitig profitieren Unternehmen von den zahlreichen
neuen Chancen, die Online-Marketing im Web 2.0 bietet: Immer neue kreative Formate
und Funktionen können zur Bekanntmachung und Stärkung der Marke genutzt werden.

Just spices

Das Gewürze-Startup „Just Spices“ hat sich zum Ziel gesetzt, mithilfe von Rezepten
neue Follower zu gewinnen. Sogenannte „Reels“, also Kurzvideos, sind ideale
Formate, um potenzielle Kunden zum Kochen zu inspirieren, ihnen neue Rezepte zu
zeigen und auch, um den Einsatz der jeweiligen Gewürzmischungen zu vermarkten.
Die Reels von Just Spices erreichen zwischen 140.000 und 275.000 Views (Gardt,
2021). ◄
36 G. Schuster et al.

Auch im Customer Service werden digitale Medien seit vielen Jahren eingesetzt. Unter-
nehmen haben erkannt, dass sie die neuen Möglichkeiten der direkten Interaktion mit
Kunden nutzen können, um Kundenanfragen zu beantworten und haben zum Bei-
spiel spezielle Twitter Accounts aufgesetzt oder beantworten Anfragen über Facebook,
Instagram und andere soziale Netzwerke.

jetBlue

Die amerikanische Fluggesellschaft jetBlue hat ein umfangreiches Social-Media-


Listening-System implementiert, um auf alle Erwähnungen von jetBlue reagieren
zu können und diese direkt zu beantworten. Es werden also nicht nur solche
Kommentare im Netz erfasst, bei denen jetBlue explizit über @mention erwähnt wird,
sondern auch die generelle Nennung der Marke (Harrison, 2021). ◄

Aber auch für die Produktinnovation und -entwicklung sind digitale Technologien
essenziell geworden. Mithilfe von „Crowdsourcing“ nutzen Unternehmen den
kollaborativen Charakter des Web 2.0 für Ideengenerierung oder Produktdesign und
erzielen damit gute Erfolge, unter anderem mit Blick auf die Bedienungsfreundlichkeit
von Produkten (Allen et al., 2018). Digitales Marketing ist dabei ständig im Wandel –
getrieben durch neue technologische Entwicklungen (Hoffman et al., 2022), die unter
anderem die Interaktion zwischen Konsument:innen und Unternehmen verändern:

Chatbots Viele Unternehmen setzen bereits seit einigen Jahren Chatbots (digitale Kon-
versationsagenten) ein, um Interaktionen mit Kunden effizienter zu gestalten. Chatbots
sind insbesondere dann erfolgreich, wenn Aufgaben oder Anfragen klar abgrenzbar sind
und ein hohes Maß an Standardisierung erlauben. Sie können im Kundenservice ein-
gesetzt werden und einfache Fragen beantworten, bei Buchungen unterstützen, den Erst-
kontakt bei gesperrten Passwörtern managen oder auch automatisiert Kundenfeedback
einholen. Die Nutzung von Chatbots ist nicht nur für Unternehmen effizient: Viele
Kunden bevorzugen es bei einfachen Fragen, eine kurze Textnachricht zu schreiben, die
automatisiert sofort beantwortet wird.

Avatare Avatare können vergleichbare Funktionen erfüllen. Sie unterstützen im


Kundenservice, beraten bei Kaufentscheidungen von Geräten oder Tarifen und helfen
beim Check-in. Entscheidend ist allerdings ihr anthropomorphisches Erscheinungs-
bild, d. h. Avatare werden mit menschlichen Zügen gestaltet, wobei der Grad des
Anthropomorphismus von einfachen comicartigen Figuren bis hin zu sehr realistischen
Avataren schwankt und bei ihrer Entwicklung berücksichtigt werden sollte. Je nach-
dem wie realistisch und „human“ Avatare gestaltet sind, werden beim Kunden ent-
sprechende Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens ausgelöst. Ein hoher Grad an
2 Quo vadis, Homo digitalis? 37

Anthropomorphismus bei gleichzeitig eingeschränkter Verhaltenskompetenz, löst bei


Nutzern und Nutzerinnen kognitive Dissonanz aus und kann so zu Unzufriedenheit
führen (Crolic et al., 2022; Miao et al., 2022).

Augmented Reality Marketing Augmented Reality Marketing als „potentially dis-


ruptive, subdiscipline within marketing“ (Rauschnabel et al., 2022, S. 1140) wird in
allen Phasen der Customer Journey bedeutsam werden. Gegenwärtig wird Augmented
Reality (AR) vor allem zur Visualisierung von Produkten eingesetzt. So können Kunden
von IKEA mit der IKEA Studio App ihr Zimmer virtuell einrichten. Möbel, Leuchten
und Dekorationsartikel lassen sich in einem dreidimensionalen Raum platzieren, den die
App zuvor anhand der erfassten Maße erstellt hat (DYConcept Product News, 2021).
Neue Use Cases für AR liegen unter anderem in der Integration in soziale Medien.
Zukünftig könnte AR vermehrt eingesetzt werden, um neue Produkte (zum Beispiel
Brillen, Kosmetik) direkt im sozialen Netzwerk zu testen. Pokemon Go hat gezeigt, dass
AR auch für eine breite Basis an Nutzern und Nutzerinnen attraktiv sein kann, branded
AR games sind eines der Anwendungsfelder, bei denen ein hoher Anstieg erwartet wird
(Rauschnabel et al., 2022, S. 1145).

NFTs Ein weiterer Meilenstein der Digitalisierung wurde mit NFTs erreicht. Als im
März 2021 das britische Auktionshaus Christie’s ein digitales Kunstwerk im Wert von
69 Mio. US$ versteigerte, wurde deutlich, dass NFTs im Mainstream angekommen sind.
Die Abkürzung NFT steht für „non-fungible token“, d. h. es handelt sich um nicht aus-
tauschbare, digitale Zertifikate. Ein NFT ist also eine digitale Besitzurkunde, und die
Speicherung auf einer Blockchain stellt sicher, dass Besitzverhältnisse von digitalen
Gütern eindeutig nachvollzogen werden können. Die Meinungen gehen derzeit aus-
einander: Sind NFTs tatsächlich „marketing’s latest idiot magnet“ (Ritson, 2022) oder
haben NFTs das Potenzial für grundlegende Innovationen auch im Marketing?
Die Anwendungsfelder für digitale Technologien sind in den letzten Jahren immer
vielfältiger und gleichzeitig auch immer „digitaler“ geworden. Bei aller Euphorie über
die Einsatzmöglichkeiten für das Marketing werden aber auch vermehrt Stimmen
laut, die fordern die „‘dark side‘ of new technology“ (Hoffman et al., 2022, S. 5) zum
Forschungsgegenstand zu machen.
Es ist schwer, dem scheinbar unaufhaltsamen Erfolgszug neuer, digitaler Technologien
nicht nur mit Begeisterung zu begegnen. Für den weiteren Erfolg der digitalen Trans-
formationsprozesse in Unternehmen ist es allerdings entscheidend, immer wieder zu hinter-
fragen, ob die Entwicklungen und der Einsatz von neuen Technologien wirklich durch
Kundenzentrierung geprägt sind. Ein Customer-Oriented-Offering (Lucas, 2020) sollte
die Erlebnisse der Kunden in den Mittelpunkt zu stellen. Problematisch wird es, wenn
Unternehmen den Einsatz von neuen Technologien lediglich unter dem Gesichtspunkt der
Effizienzoptimierung (sowohl mit Blick auf Serviceprozesse als auch für Marketing KPIs)
vorantreiben und nicht mit dem Ziel, bessere Kundenerfahrungen zu schaffen.
38 G. Schuster et al.

Fazit

Der Mensch wird immer in der realen Welt bleiben, solange er aus Fleisch und Blut
besteht, solange der menschliche Körper stoffliche Materie ist. Wir werden uns nicht
auflösen in digitale Pixel, aber die Welt um uns herum ist de facto bereits um eine
nicht-stoffliche Dimension, eine virtuelle Sphäre, also eine digitale Welt, die wir
selbst geschaffen haben, ergänzt: Medien-/Freizeiterlebnisse werden zunehmend
digitaler. Früher galten Besuche auf Jahrmärkten oder später in Fernsehstuben oder
Kinos als ultimative Highlights, heute haben wir die Wahl zwischen diesen Ereig-
nissen in der realen Welt und Erlebnissen mittels Virtual-Reality-Brillen. Wir können
beispielsweise wählen zwischen Theaterbesuch und Theaterabend mit VR-Brille
(Staatstheater Augsburg, 2022).
Hybride Events mit realen und virtuellen Veranstaltungen können künftig, konkret
auf die Bedürfnisse der Zielgruppen hin zugeschnitten, zentrale Instrumente in
Marketing und Werbung werden. Denn – und das hat die Corona-Pandemie gezeigt –
Menschen wollen an Veranstaltungen teilnehmen, Produkte vor Ort ausprobieren,
reisen, urlauben und feiern. Und sie wollen nicht nur digital, sondern von Angesicht
zu Angesicht kommunizieren, sich umarmen oder auf die Schulter klopfen. Auch
diese Kommunikationsformen werden niemals aussterben und gehören zum Mensch-
sein dazu. Und hier zeigt sich wiederum auch der Unterschied zu Androiden, Cyborgs
und Co: Der Mensch ist ein kommunikatives und empathisches Wesen. Aber keines-
falls im technischen Sinne empaticus und digitalis, sondern letzten Endes vielleicht
doch ein Homo hybridus. ◄

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Prof. Dr. Gabriele Schuster ist Professorin und Fachgebietsleitung für Marketing-Management
an der IU Internationale Hochschule in Hamburg und seit mehr als 23 Jahren in der dualen Lehre
tätig. Außerdem hatte sie Fach- und Führungsfunktionen in verschiedenen Branchen inne. In ihrer
Arbeit als selbstständige Beraterin begleitet sie zahlreiche Projekte und Veränderungsprozesse und
unterstützt Führungskräfte und Mitarbeiter durch Coaching, Workshops und Seminare.
2 Quo vadis, Homo digitalis? 41

Prof. Dr. Verena Renneberg ist promovierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaftlerin


und war, u.a. im Bundestag, bei Red Bull, TV-Sendern, Konzernen und Institutionen im Europa
und Lateinamerika tätig. Sie berät Redaktionen und Unternehmen mit Blick auf Workflow-
und Produkt-Optimierung. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Internationalisierung und
Digitalisierung von Medien.

Prof. Dr. Susanne O’Gorman ist Professorin für Marketing mit Schwerpunkt Customer
Centricity. Sie war vor ihrer akademischen Laufbahn mehr als 20 Jahre lang in der Marktforschung
und Beratung tätig und hat dort Kunden in der Strategie, Umsetzung und Messung ihrer Customer
Experience Projekte unterstützt. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich Customer Experience,
Customer Journeys und Digitalisierung.
Emotionalisierung der
Kundenbeziehung – Möglichkeiten und 3
Grenzen der digitalen Kommunikation
Stand der Forschung sowie
Handlungsempfehlungen für die Praxis

Daniel Schmid

Zusammenfassung

Emotionen spielen im Marketing eine beutende Rolle, da sie einen großen Einfluss
auf das Kaufverhalten haben. Emotionen werden durch Kommunikation beein-
flusst bzw. in vielen Fällen dadurch ausgelöst. Die zunehmende Digitalisierung
führt dazu, dass die persönliche und analoge Kommunikation zunehmend durch die
digitale Kommunikation ersetzt wird. Das heißt, die Nachricht wird nicht mehr von
Mensch zu Mensch übermittelt, sondern beispielsweise durch einen Computer. Für
das Marketing stellt sich die Frage, ob digitale Kommunikation auch in der Lage
ist, Emotionen bei den Empfänger:innen auszulösen. Um diese Frage zu klären,
beleuchtet die Arbeit zunächst die Besonderheiten digitaler Kommunikation, die
Entstehung von Emotionen sowie die Wahrnehmung von Botschaften über die
menschlichen Sinnesorgane. Darauf aufbauend untersucht die Arbeit auf Basis
aktueller Forschungen, ob beispielsweise digitale Kommunikation für „emotionale
Ansteckung“ der Teilnehmer eines virtuellen Events sorgen kann, oder wie sich der
Verlust von Hintergrundinformation, wie zum Beispiel der Gesichtsausdruck des/
er Empfängers:in der Nachricht, auf die Kommunikation und die Entstehung von
Emotionen auswirkt. Abschließend werden für den Einsatz digitaler Kommunikation
Handlungsempfehlungen für die Praxis gegeben.

D. Schmid (*)
IU Internationale Hochschule, Frankfurt, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 43


Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_3
44 D. Schmid

3.1 Auswirkungen der Digitalisierung auf das Marketing und


die Kommunikation

Die Digitalisierung verändert die Welt radikal und eröffnet Anbieter:innen und
Nachfrager:innen von Produkten und Dienstleistungen zusätzliche Perspektiven. Zum
einen haben heute die Konsument:innen viel mehr Angebote, sich über ein Produkt zu
informieren und es zu kaufen. Zum anderen haben die Herstellenden und Händler:innen
viel mehr Möglichkeiten, auf die Wünsche ihrer Kund:innen einzugehen, sie individuell
anzusprechen und auf vielseitige Weise mit ihnen zu kommunizieren. Auf diese Ent-
wicklung haben viele Unternehmen reagiert, indem sie beispielsweise ihre Werbeaktivi-
täten von klassischen Medien auf Onlinemedien verlagert haben. Unternehmen, wie zum
Beispiel Adidas, setzen den größten Teil ihres Werbeetats für Online-Marketingaktivi-
täten oder Aktivitäten, die über die digitalen Kanäle erfolgen, ein. Die Covid-Pandemie
hat diese Entwicklung nochmals beschleunigt. Aufgrund der Ansteckungsgefahr
wurden immer mehr Aktivitäten ins Internet verlagert. Die Folge war, dass Automobil-
herstellende ihre neuen Modelle nicht mehr auf Events dem Publikum präsentierten,
sondern auf digitalen Veranstaltungen. So wurde beispielsweise die Vorstellung des
neuen Audi Elektrofahrzeuges e-tron GT in das weltweite Datennetz verlagert. Das
interessierte Publikum konnte die Autopremiere über Livestream verfolgen. Mehrere
Millionen Menschen haben in den ersten 12 Monaten das Video von der Premiere im
Internet angesehen. Die Zahl ist deutlich höher als die Zahl der Besucher von Autoneu-
vorstellungen in den vergangenen Jahren. Es ist nicht verwunderlich, dass immer mehr
Unternehmen überlegen, auch künftig solche Events mittels digitalen Formaten durchzu-
führen.
Viele Unternehmen fragen sich, ob solche digitalen bzw. virtuellen Events künftig
die klassischen Events der analogen realen Welt ersetzen können. Die Marketingwissen-
schaft steht dabei vor neuen Herausforderungen und ist gefordert, Antworten zu finden
und Handlungsempfehlungen zu geben. Um die Frage klären zu können, inwieweit
digitale Kommunikation analoge und persönliche Kommunikation ersetzen kann, ist
es unabdingbar, sich mit dem Konsument:innenverhalten auseinanderzusetzen. Hierbei
ist zu untersuchen, ob beispielsweise bei einer virtuellen Autopremiere bei den Teil-
nehmenden genauso viele positive Effekte ausgelöst oder Emotionen erzeugt werden
können, wie bei einem Event im Showroom. Ähnliche Fragestellungen ergeben sich
bei der Kund:innenberatung via Zoom oder Whatsapp im Vergleich zur persönlichen
Beratung, bei der sich zwei Menschen gegenübersitzen.
Der folgende Beitrag zielt darauf ab, Antworten darauf zu finden und Empfehlungen
für die Praxis zu geben. Insbesondere geht es um die Frage, inwieweit digitale
Kommunikation in der Lage ist, Emotionen bei Kund:innen zu erzeugen. Die
Emotionen werden deshalb genau analysiert, weil die Marketingwissenschaft in den
letzten Jahren zu der Kenntnis erlangt ist, dass Emotionen einen wesentlichen Ein-
fluss auf das Kund:innenverhalten ausüben. Wissenschaftler gehen davon aus, dass
95 % der Entscheidungen unterbewusst und emotional getroffen werden (Mayer
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 45

de Groot, 2014). Die folgende Arbeit setzt sich deshalb zunächst mit den Themen
der digitalen Kommunikation auseinander. Danach wird dargestellt, durch welche
Faktoren das Kund:innenverhalten beeinflusst wird. Anschließend wird ein Über-
blick darüber gegeben, welche Bedeutung Emotionen für die Kaufentscheidung haben
und wie Emotionen entstehen beziehungsweise gesteuert werden können. Im zweiten
Kapitel wird untersucht, ob und inwieweit digitale Kommunikation in der Lage ist,
bei Konsument:innen Emotionen hervorzurufen. Es wird erörtert, welche Besonder-
heiten digitale Kommunikation aufweist. Im letzten Teil des Beitrags werden konkrete
Handlungsempfehlungen für die Praxis gegeben, denn es zeigt sich immer wieder, dass
nicht die digitalen Kommunikationskanäle in den Kinderschuhen stecken, sondern die
Medienkompetenz der Nutzer (Bauer & Müssle, 2020).

3.2 Die Bedeutung von Kommunikation und Emotionen

3.2.1 Digitale Kommunikation

Definition und Bedeutung


In der Wissenschaft wird der Begriff „digitale Kommunikation“ unterschied-
lich verwendet und definiert. So wird beispielsweise in älteren Werken von vielen
Wissenschaftler:innen der Begriff der Computer-Mediated Communication (CMC)
bzw. der computervermittelten Kommunikation gebraucht (Spitzberg, 2006). CMC
definieren Lengel et al. zum Beispiel als „jede menschliche Kommunikation, die
durch oder mit Hilfe von Computertechnologie erreicht wird“ (2004) oder Hering als
„Kommunikation, die zwischen Menschen über die Instrumentalität von Computern
stattfindet“ (1996). Auch andere Forschende definieren digitale Kommunikation als Aus-
tausch von Informationen mithilfe von Computern (Spitzberg, 2006). Für Trepte und
Reineke ist die digitale Kommunikation das Erstellen, das Austauschen, das Empfangen
sowie das Reagieren auf Informationen, und zwar mithilfe von Computern (2013). In
all den Definitionen gibt es eine breite Auslegung des Begriffs Computer. Unter dem
Begriff Computer werden auch technische Geräte wie Smartphones, Tablets oder Smart-
TVs verstanden. (Yao & Ling, 2020). Meinel und Sack beziehen noch die Besonder-
heiten der Technik in ihre Begriffsbestimmung ein. Zentrales Kennzeichen der digitalen
Kommunikation ist für die Forschenden der „Austausch von Signalfolgen“, die lediglich
die beiden Grundsignale 0 und 1 verwenden. (2009, S. 14).

Für Bauer und Müssle sind die oben genannten Definitionen zu eng gefasst (2020).
Sie kritisieren, dass viele Besonderheiten der digitalen Kommunikation in diesen
Definitionen keine Berücksichtigung finden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen
digitaler und analoger Kommunikation machen sie daran fest, dass man bei der digitalen
Kommunikation nicht erkennt, wie eine E-Mail-Nachricht bei den Empfänger:innen auf-
genommen wird.
46 D. Schmid

Insgesamt sind sich die meisten Forschenden einig, dass sich digitale Kommunikation
letztlich von der bisherigen (analogen) Kommunikation nur darin unterscheidet, dass
die Übermittlung der Botschaft über digitale Kanäle erfolgt. In der Praxis ist es dennoch
schwierig, die Kommunikation klar in die genannten Kategorien einzuordnen. So ist ein
analoges Meeting, bei denen zwei Teilnehmende via Zoom zugeschaltet sind, als digital
zu bezeichnen. Viele Forschende betonen, dass digitale Kommunikation nicht alle Eigen-
schaften von analoger Kommunikation besitzt und umgekehrt. Digitale Kommunikation
hat, im Unterschied zur persönlichen bzw. analogen Kommunikation, eine Vielzahl an
Besonderheiten, die im Verlauf des Beitrags erörtert werden.
In diesem Beitrag wird als digitale Kommunikation alle Arten von Kommunikation
verstanden, die über digitale Kanäle, wie zum Beispiel E-Mail, vermittelt wird.

Instrumente der digitalen Kommunikation Kanäle der digitalen Kommunikation sind


zum Beispiel (Bauer & Müssle, 2020):

• Messenger-Dienste
• Chatrooms
• E-Mails
• Social Media
• Videokonferenzen, z. B. Zoom
• Blogs
• Transfer-Dienste, z. B. dropbox
• Plattformen, z. B. Amazon
• Online-Welten, z. B. Second Life
• Open-Source-Communitys
• Crowdworking, z. B. Wikipedia

Ferner gehören digitale bzw. virtuelle Veranstaltungen, wie Online-Kongresse oder


digitale Produktpremieren zur digitalen Kommunikation, denn auch hier erfolgt der Aus-
tausch der Botschaften ausschließlich über digitale Medien.

3.3 Konsument:innenverhalten

3.3.1 Erklärungsmodelle des Kund:innenverhaltens

Das Konsument:innenverhalten zu verstehen beziehungsweise es vorhersagen zu


können, ist ein großes Anliegen des Marketings. In den letzten 50 Jahren wurde
intensiv zu diesem Thema geforscht und viel Wissen zusammengetragen. Die durch
die hauptsächlich empirischen Forschungen gesammelten Informationen helfen den
Marketingexperten bei der Entwicklung von Marketingstrategien (Kroeber-Riel &
Groeppel-Klein, 2019, S. 4). Marketingmaßnahmen können zielgerichtet auf die spezi-
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 47

fischen Bedürfnisse der Kund:innen ausgerichtet werden. Die Aufgabe des Marketings
ist es, das Konsument:innenverhalten zu lenken mit der Absicht, die Kund:innen zum
Kauf zu motivieren. In den letzten Jahren wurden verschiedene Ansätze und Modelle
zur Erklärung des Kund:innenverhaltens entwickelt (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein,
2019, S. 10). Mit dem SR-Modell wurde ein Ansatz erarbeitet, der sich auf die von
außen ersichtlichen und messbaren Parameter Stimulus und Reaktion beschränkt. Er
bietet jedoch nur eine grobe Beschreibung für die Erklärung des Kaufverhaltens. Es
hat sich gezeigt, dass in diesem Modell wesentliche Punkte des Kaufverhaltens nicht
berücksichtigt werden. Insbesondere finden die psychischen Prozesse im Gehirn der
Konsument:innen, die einen wesentlichen Einfluss auf den Kauf haben, in dem Modell
keinen Niederschlag. Deshalb wurde das SOR-Modell entwickelt (Bagozzi et al.,
2000, S. 242). Dieses Modell versucht zusätzlich, die Abläufe und Prozesse im Gehirn
der Konsument:innen möglichst genau zu beschreiben. Das neobehavioristische SOR-
Modell wurde in den letzten Jahren weiter verfeinert und hat das Ziel, menschliches Ver-
halten möglichst exakt vorherzusagen. (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 14)
Wie in Abb. 3.1 vorgestellt, geht das SOR-Modell auf die psychischen Prozesse
im Gehirn der Konsument:innen ein und berücksichtigt auch die nicht beobacht-
baren Konstrukte des Kund:innenverhaltens. Insbesondere werden die kognitiven und
aktivierenden Faktoren, die zu einer Bewertung führen, analysiert.
Forschungen, die sich mit den Abläufen im Gehirn befasst haben, kamen zum
Ergebnis, dass insbesondere die Emotionen für die Bewertung eine sehr bedeutende
Rolle spielen. Emotionen gelten für viele Wissenschaftler als Treiber der Kaufent-
scheidung (Schlegel, 2011, S. 35). Deshalb sollen im weiteren Verlauf der Arbeit die
Bedeutung von Emotionen, ihre Entstehung und ihr Einfluss auf die Kaufentscheidung
näher untersucht werden. In einem weiteren Schritt wird überprüft, inwieweit digitale
Kommunikation Emotionen auslösen kann.

Abb. 3.1 Das SOR-Modell. (Eigene Darstellung)


48 D. Schmid

3.3.2 Multisensorische Wahrnehmung

Um die Wirkung von Kommunikation zu analysieren, ist es erforderlich, sich mit dem
Modell der Kommunikation auseinanderzusetzen. Im Sender-Empfänger-Modell
von Shannon und Weaver wird der Kommunikationsprozess anschaulich beschrieben
(Abb. 3.2.). Das Modell basiert auf der Annahme, dass zur Kommunikation immer
ein Sender/eine Senderin und ein Empfänger/eine Empfängerin gehören. Der Sender
übermittelt mit einem Code (der Sprache) seine Nachricht an den Empfänger/die
Empfängerin. Der Empfänger/die Empfängerin entschlüsselt den Code und sendet eine
Antwort an den Sender/die Senderin zurück (Meinel und Sack 2009, S. 19).
Das Kommunikationsmodell hat sich durch weiterführende Forschungen dahingehend
verändert, dass sich die Übermittlung des Codes nicht nur einem Kanal, sondern ver-
schiedener Kanäle bedient. Es herrscht Einigkeit darin, dass Kommunikation in vielen
Fällen über mehrere Kanäle, meistens auch zeitgleich, erfolgt. Das bedeutet wiederum,
dass die Konsument:innen die Nachricht über verschiedene Sinnesorgane empfangen.
In diesem Zusammenhang wird von Multisensualität gesprochen. Der Begriff Multi-
sensualität beinhaltet für Steiner die „Ansprache einer Person über verschiedene
menschliche Sinne“ (2011). Er nennt den Gesichts- (Optik), Gehör- (Akustik), Geruchs-
(Olfaktorik), Geschmacks- (Gustatorik) und Tastsinn (Haptik) als besonders relevant für
das Marketing (Abb. 3.3). Multisensorische Ansätze gehen davon aus, dass die Wirkung
der kognitiven Verarbeitung eingehender Reize umso höher ist, desto mehr Reize gleich-
zeitig angesprochen werden (Steiner, 2011).
Mit dem Ziel, die Konsument:innen ganzheitlich über möglichst viele Sinne anzu-
sprechen, ist das Multisensorische Marketing entstanden. Nölke und Gierke verstehen
darunter eine gezielte Strategie, den Kund:innen die multisensorischen Eigenschaften
eines Produktes durch ein „multisensorisches, alle Sinne berührendes positiv-vertrauen-
erweckendes Gesamterlebnis“, zu vermitteln (2011). Um die Bedeutung der einzelnen
Reize und die Ansprache der verschiedenen Sinne besser zu verstehen, ist es wichtig,

Abb. 3.2 Kommunikationsmodell nach Shannon/Weaver. (Eigene Darstellung)


3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 49

Abb. 3.3 Systematisierung der 5 Sinne. (Eigene Darstellung)

die jeweilige Wirksamkeit einzelner Reize zu analysieren. Untersuchungen zeigen,


dass Informationen über die Sinnesorgane unabhängig voneinander wahrgenommen
und anschließend zu einem ganzheitlichen Bild zusammengeführt werden (Steiner,
2011, S. 48).
Der Mensch besitzt fünf Sinnesorgane, die Reize aufnehmen. Alle fünf Sinnes-
organe – Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut – verfügen über Rezeptoren, die jeweils
auf bestimmte Reize spezialisiert sind. Die Rezeptoren wandeln die Reize in nervöse
Erregungen um und senden diese über sensible Nerven weiter an das zentrale Nerven-
system. Dort werden optische, akustische, olfaktorische, gustatorische und haptische
Sinneseindrücke ausgelöst. Anschließend werden diese Eindrücke mit vorhandenen
sensorischen Erfahrungen verbunden und die sensorische Wahrnehmung entsteht
(Steiner, 2011). Der Konsument nimmt beispielsweise die Farbe des Rotweins in seinem
Glas wahr, gleichzeitig aber auch den Geruch. Das heißt, der Gesamteindruck des
Weines entsteht aus der Zusammenfügung vieler Einzeleindrücke. Forschenden haben
nachgewiesen, dass der Mensch über verschiedene Sinnesorgane pro Sekunde über eine
Milliarde Informationseinheiten aufnimmt (Steiner, 2011). Damit es im Gehirn zu keiner
Überflutung von Reizen kommt, blenden Rezeptoren gleichbleibende Reize aus. Dieses
Phänomen wird in der Wissenschaft als Adaption benannt. Da in der Regel das Angebot
an stimulierenden Reizen größer als der Bedarf ist, muss das Gehirn entscheiden, welche
Informationen Priorität haben (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 78). Die Reize
werden im Cortex empfangen und verarbeitet. Je mehr Reize eintreffen, desto wahr-
scheinlicher ist es, dass der Reiz Wirkung erzielt. Auch das Zusammenwirken von ver-
schiedenen Reizen kann spezifische Prozesse im Gehirn auslösen (Steiner, 2011). Die
Wissenschaft unterscheidet zwischen dem verbalen und dem nonverbalen, bildhaften
System. Steiner zeigt auf, dass Bilder und Sprache voneinander unabhängig verarbeitet
werden. Seine Studien kommen zum Ergebnis, dass Bilder einen höheren Wieder-
50 D. Schmid

erkennungswert als die Sprache haben. Diese Erkenntnis wird in der Literatur auch als
„Picture Superiority Effect“ bezeichnet (Whitehouse et al., 2006). Dass verbale und non-
verbale Reize im Gehirn in zwei getrennten Bereichen verarbeitet werden, wird auch als
duale Konditionierung bezeichnet (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 369). Der
Mensch nimmt deshalb nicht nur einzelne Reize war, sondern deren Summe. Deshalb ist
es wichtig, mehrere Sinne gleichzeitig anzusprechen.
Die Ergebnisse haben dazu geführt, dass im Marketing die mulitsensorische
Kommunikation bzw. modalspezifische Gestaltung der Kommunikation zunehmend
an Bedeutung gewinnt. Ziel dabei ist es, durch die gleichzeitige Ansprache mehrerer
Sinnesorgane die Wahrnehmung einer Marke oder Botschaft zu verstärken. Esch geht
davon aus, „dass das Erfahren und Erleben einer Marke mit unterschiedlichen Sinnes-
modalitäten signifikante Wertschöpfungsbeiträge leisten kann und einen multiadditiven
Effekt auf den Aufbau von Markenbekanntheit“ hat (2022). Durch aufeinander
abgestimmte multisensuale Reize wird die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung der
Informationen erleichtert und die Markenwirkungen verstärkt. Das heißt, dass eine Bot-
schaft, die über mehrere Sinneskanäle das Gehirn erreicht, „schneller und bis zu zehnmal
intensiver verarbeitet wird als ein einzeln ankommendes Signal“ (Nölke & Gierke, 2011,
S. 22).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Konsument:innen über unter-
schiedliche Kanäle angesprochen werden können. Um eine große Wirkung zu erzeugen
bzw. um überhaupt wahrgenommen zu werden, sollte die Ansprache mehrere Sinne
bestreffen.

3.4 Emotion als Treiber des Kund:innenverhaltens

3.4.1 Definition und Bedeutung

Emotionen spielen im Alltag eine große Rolle. Emotionen entscheiden, ob uns etwas
gefällt oder ob wir uns wohlfühlen. Aus diesem Grund machen sich beispielsweise
Handelsunternehmen oder Hotels sehr viele Gedanken, wie sie die Geschäftsräume oder
Hotelzimmer gestalten. Die Wissenschaft hat aufgezeigt, dass Unternehmen, denen es
gelingt, Emotionen bei den Konsument:innen zu erzeugen, viele Vorteile haben. Positive
Emotionen wirken sich positiv auf den Kaufabschluss und die Kund:innenbindung aus
(Ackermann & Furchheim, 2018).
Der Begriff Emotion wird in der Wissenschaft unterschiedlich definiert. Insbesondere
in der Psychologie gibt es zahlreiche Definitionen (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein,
2019, S. 94). Grund für die unterschiedlichen Auffassungen ist die Tatsache, dass die
Entstehung von Emotionen bis heute nicht endgültig geklärt ist. Einen guten Überblick
über die verschiedenen Emotionsbegriffe gibt Plutchik (1991). Die meisten Definitionen
stimmen darin überein, dass eine Emotion eine innere Erregung ist, die als angenehm
oder unangenehm wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung der inneren Erregung wirkt
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 51

sich häufig auf das Ausdrucksverhalten, wie z. B. den Gesichtsausdruck, aus. Grund
dafür sind neuropsychologische Vorgänge, die auf die Gesichtsmuskulatur Einfluss
haben (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 94).
Die Gehirnforschung kommt zum Ergebnis, dass Emotionen mit und ohne
Beteiligung kognitiver Prozesse entstehen können (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein,
2019, S. 99). Die Forschenden sind sich einig, dass Emotionen durch interne Prozesse
und externe Stimuli ausgelöst werden können und letztlich zu konkreten Verhaltens-
weisen führen. Emotionen kennzeichnen im Gedächtnis insbesondere solche Verhaltens-
weisen, die erfolgreich waren und solche, die zu Misserfolg führten. Die „Somantic
marker“-Hypothese besagt, dass sich das Gehirn emotional bedeutsame Ereignisse als
angenehme oder unangenehme Situation abspeichert. Ferner sind es auch die Emotionen,
die die Dauer und die Intensität von Verhaltensweisen bestimmen, beispielsweise ob ein
Produkt nochmals gekauft werden soll oder nicht.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass Emotionen sehr wichtig sind und das Kauf-
verhalten beeinflussen. Die Konsument:innen suchen Situationen auf, die sich für
ihn gut anfühlen. Gleichzeitig geht er Situationen aus dem Wege, die bei ihm negative
Assoziationen hervorrufen.

3.4.2 Entstehung von Emotionen

Menschen lassen sich von Emotionen leiten. Studien zeigen, dass die Mehrheit
der Kund:innenerlebnisse durch Emotionen geprägt ist (Shaw & Hamilton, 2016).
Emotionen sind deshalb so bedeutend, da sie sich unmittelbar auf unser Denken aus-
wirken. Marketingexperten haben das Zusammenspiel von Emotionen und Kauf-
verhalten erkannt und setzen deshalb gezielt Maßnahmen ein, um Emotionen bei
den Konsument:innen zu wecken. In der Praxis gibt es sehr viele Beispiele für
Werbemaßnahmen, die darauf abzielen, positive Emotionen bei den Konsument:innen
zu erzeugen. Reize, die beispielsweise beim Betrachten einer Anzeige hervorgerufen
werden, sind jedoch nicht allein für die Entstehung von Emotionen verantwortlich. Die
Forschung zeigt, dass erst die Verarbeitung der aufgenommenen Reize im Gehirn dazu
führt, dass Konsument:innen eine Entscheidung treffen. Forschende sind sich einig, dass
der kognitiven Komponente eine besonders wichtige Rolle zu Teil wird. Die sogenannten
kognitiven Emotionstheorien gehen davon aus, dass Emotionen nicht primär durch
externe Stimuli, sondern vor allem durch innere kognitive Prozesse hervorgerufen
werden (Rothermund & Eder, 2020, S. 187). Folglich werden Emotionen nicht nur durch
Reize aus der Umwelt erzeugt, sondern sind Ergebnis der Verarbeitung der Reize im
Gehirn. Durch den Vergleich der inneren und äußeren Stimuli bekommt der Konsument
eine Einschätzung, wie schwierig es ist, das Ziel zu erreichen. Erst durch den Vergleich
eines externen Stimulis mit der internen Kognition können Emotionen, wie Enttäuschung
oder Freude, entstehen (Rothermund & Eder, 2020). Emotionen entstehen demnach aus
52 D. Schmid

der Verknüpfung von externen physischen Reizen (Situation) und internen kognitiven
Stimuli (z. B. Erwartungshaltungen). Rothermund und Eder sprechen hierbei von „Ziel-
relevanz und Zielkongruenz“ (2020, S. 187). Eine emotionale Reaktion kann folglich nur
dann ausgelöst werden, wenn die externe Situation in Bezug auf die eigenen Ziele als
relevant eingestuft wird.
Die Erkenntnisse der kognitiven Emotionspsychologie sind für das Marketing sehr
richtungsweisend (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 99). Sie zeigen, dass bei-
spielsweise eine erlebnisorientierte Warenpräsentation oder die Verwendung von ver-
schiedenen Schlüsselreizen bei der Gestaltung einer Anzeige alleine nicht ausreichen,
um Emotionen hervorzurufen. Vielmehr ist es notwendig, auch die Werte, Ziele und
Wünsche der Zielkund:innen zu kennen. Die angesprochenen Reize müssen als relevant
angesehen werden. Dies bedeutet, dass die Kenntnis der Bedürfnisse einer Person die
Grundvoraussetzung ist, um mit einer darauf ausgerichteten Reizgestaltung, durch eine
Zielkongruenz Emotionen zu wecken.

3.5 Digitale Kommunikation und ihre Möglichkeiten der


Emotionalisierung der Kund:innenbeziehung

3.5.1 Bedeutung der Kommunikation für das Kund:innenverhalten

Wie dargestellt, ist das Kund:innenverhalten sehr komplex. Viele Faktoren haben Ein-
fluss auf das Verhalten. Mit dem SOR-Modell werden die unterschiedlichen Einfluss-
faktoren erklärt und schematisch eingeordnet. Schwierigkeiten ergeben sich aus der
Komplexität der kognitiven Vorgänge, denn hierbei spielen auch die Wahrnehmung
oder auch das Lernen wichtige Rollen. Prozesse, die im Gehirn ablaufen, waren in
der Vergangenheit nicht direkt beobachtbar und messbar. Fortschritte in der Medizin-
technik und der Neurologie führen dazu, dass zunehmend mehr Fragen geklärt werden
können (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 112). Im Zuge der Erforschung
des Konsument:innenverhaltens und der Abläufe im Gehirn hat ebenso die Emotions-
forschung viele neue Erkenntnisse erlangt. Auch hier helfen moderne Verfahren, Kennt-
nisse über die Entstehung und das Empfinden von Emotionen zu erlangen. Zahlreiche
Studien zeigen, dass Emotionen mit der Kommunikation eng in Verbindung stehen.
Auch die Wahl des Kanals entscheidet darüber, welche Wirkung die Kommunikation
erzielt und ob Emotionen ausgelöst werden. Häufig ist die Kommunikation Auslöser der
Emotion. Im Zuge der Werbeforschung wurden viele Studien durchgeführt und Modelle
entwickelt, die die Wirkung der Kommunikation auf das Kaufverhalten erklären. Diese
Erkenntnisse erhielten Einzug in die Praxis. Die Werbeindustrie versucht, durch ziel-
gerichtete Kommunikation das Konsument:innenverhalten in bestimmte Bahnen zu
lenken. Hierfür setzen sie verschiedene Kommunikationstechniken, wie z. B. die Technik
der emotionalen Konditionierung, ein. Anzeigen oder TV-Spot werden entsprechend
konzipiert (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 557). Kroeber-Riel und Groeppel-
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 53

Klein gehen davon aus, dass sich Kommunikationsmaßnahmen unterschiedlich stark auf
die Emotionen auswirken. Sie unterscheiden in informative, emotionale und gemischte
Werbung. Als emotionale Werbung bezeichnen sie Werbung, bei der die „Darbietung
emotionaler Reize (Bilder einer Traumlandschaft …)“ dominiert (2019, S. 560).
Wie im SOR-Modell beschrieben, kann zielgerichtete Kommunikation der Auslöser
von Aktivierungsvorgängen sein. Auslöser sind jedoch nicht nur externe Reize, sondern
auch interne. Interne Reize sind zum Beispiel Vorstellungsbilder der Konsument:innen,
die im Gehirn durch die Kommunikation erzeugt werden. Zum Beispiel löst die bildliche
Darstellung der Lieblingsspeise Hunger aus. (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019)
Äußere Reize sind Töne, Bilder, Texte oder Gerüche.
Für die Kommunikation bzw. die Werbung spielen affektive Stimuli als Reize eine
große Bedeutung. Studien belegen, dass emotionale Stimuli bevorzugt wahrgenommen
werden und ihre Werbeerinnerung deutlich höher ist. Studien zeigen, dass emotionale
Werbereize auch unkontrollierbare Wirkungen auf Einstellung und Kaufverhalten aus-
üben können. Die Untersuchungen von Hütter und Sweldens kommen zum Ergebnis,
dass aufgrund einer Konditionierung die Einstellungsbildung und das Kaufverhalten
automatisch ablaufen kann (2018). Ebenso ist sich die Wissenschaft darüber einig, dass
Schlüsselreize eine große Rolle für die Aktivierung haben, denn sie initiieren biologisch
vorprogrammierte Reaktionen beim Empfänger:innen. Natürliche Schlüsselreize können
beispielsweise durch Bilder oder Fotos in Gang gesetzt werden. Als Beispiel nennt Wein-
berg das Kindchenschema (1986). Emotionale Stimuli können visuell erfolgen, aber
auch akustisch, taktil und olfaktorisch. Ebenso gibt es viele Studien, die belegen, dass
Sprache, Texte und Zeichen Emotionen auslösen können (Lohmann et al, 2015a).

3.5.2 Emotionsreduzierende Effekt der digitalen Kommunikation

Es wurde gezeigt, wie vielschichtig die Kommunikation ist und wie stark sie für die
Auslösung von Emotionen verantwortlich ist. Im Folgenden geht es um die Frage, ob
durch digitale Kommunikation die gleichen Emotionen ausgelöst werden, wie durch
die analoge Kommunikation. So fragen sich beispielsweise Autoherstellende, ob eine
Neuwagenpräsentation im Internet die gleichen Emotionen hervorrufen, wie eine
Präsentation im Autohaus oder in einer schönen Event-Location.
Page und Mapstone haben zum Thema Emotionen im digitalen Marketing geforscht
und deren Auswirkungen auf die Marketingaktivitäten analysiert (2010). Sie kommen
wie viele andere Forschende zu dem Ergebnis, dass auch im digitalen Marketing
Emotionen eine große Bedeutung für die Entscheidungsfindung der Kund:innen
haben (Damasio, 2005; Page & Mapstone, 2010). Ferner zeigen Studien, dass sich
Konsument:innen online wie offline nicht immer rational verhalten und stattdessen ihrem
Bauchgefühl vertrauen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Handlungen, die aus rationalen
Gründen unverständlich sind. Es zeigt sich, dass solchen nicht rationalen Verhalten
54 D. Schmid

häufig ein Erlebnis vorausgeht, das Emotionen und Gefühle auslöst, die wiederum zu
einer Anpassung des Verhaltens führen (Damasio, 2005).
Basierend auf ihren Untersuchungen haben Page und Mapstone das Modell
Consumption Emotions Set (CES) entwickelt (2010, S. 1348). Dieses Modell zeigt
auf, welche Emotionen in der digitalen Kommunikation ausgelöst und wahrgenommen
werden können. Das CES-Modell betrachtet 13 Emotionen, die anschaulich beschrieben
werden.
Studien zeigen auf, dass die Wahl des Onlinekanals bzw. der verwendeten Online-
medien, einen großen Einfluss auf das Auslösen von Emotionen haben (Richins,
1997) (Kwortnik & Ross, 2007). Forschende kommen zum Ergebnis, dass per se alle
digitalen Medienkanäle geeignet sind, Emotionen in Gang zu setzen (Jones & Cross,
2009) (Hartig et al., 1999). Darüber hinaus wurde auch gezeigt, dass die digitale
Kommunikation bei den Empfänger:innen Emotionen erzeugen können, die dem
digitalen Kommunikationsweg geschuldet sind und mit der analogen Kommunikation
nicht hätten erzeugt werden können. Als Beispiel hierfür können Postings in Social
Media genannt werden.
Im Folgenden soll deshalb aufgezeigt werden, worin sich die digitale Kommunikation
von der persönlichen und/oder der analogen Kommunikation hinsichtlich der Auslösung
von Emotionen unterscheidet.
Digitale Kommunikation hat insbesondere folgende Effekte (Bauer & Müssle, 2020)
(Lohmann et al., 2015a, b) (Nölke & Gierke, 2011) (Lünenborg, 2020), die sich auf die
Emotion niederschlagen, und im Folgenden näher betrachtet werden.

• Reduzierte emotionale Ansteckung


• Fehlende Hintergrundinformationen
• Eingeschränkte Sinneswahrnehmung
• Eingeschränkte Interaktion
• Eingeschränkter Ausdruck von Emotionen

3.5.3 Reduzierte emotionale Ansteckung

Personen, die an virtuellen Veranstaltungen teilgenommen haben, bemängeln häufig die


fehlenden Emotionen. So berichten die Teilnehmer, dass die Veranstaltung uninteressant
und langweilig war. Andere sprechen vom „Funken“, der nicht übergesprungen ist.
Aussagen wie diese werden von wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert. In der
Wissenschaft wird seit Jahren das Erleben von Events erforscht. Unter anderem wird
untersucht, wie sich das gemeinsame Erleben in einer Gruppe auf die Psyche jedes
Einzelnen auswirkt. Das Phänomen, dass das Erlebnis in einer Gruppe auf den Einzel-
nen Einfluss hat, wird als „emotionale Ansteckung“ bezeichnet (Lohmann et al., 2015a,
b, S. 65). Die emotionale Ansteckung beschreibt den Prozess (Abb. 3.4), der sich zum
Beispiel durch kollektives Erleben entwickelt (Hatfield et al., 1994, S. 5.). Durch das
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 55

Abb. 3.4 Prozess der emotionalen Ansteckung. (Eigene Darstellung basierend auf den Aus-
führungen von Lohmann et al. (2020))

gemeinsame Erleben werden kollektive Energieströme auf andere Personen während


einer Veranstaltung übertragen. Forschende sehen in der emotionalen Ansteckung einen
unbewussten Versuch der Annäherung eines Individuums an ein anderes Individuum.
Durch die automatische Nachahmung von bestimmten Verhaltensweisen wird Nähe
erzeugt (Schlesinger, 2010 S. 140). Der Teilnehmende einer Veranstaltung kann zum
einen als Empfänger:in gesehen werden, der die kollektiven Emotionen für sich auf-
nimmt, zum anderen aber ebenfalls als Träger:in und Verstärker:in der kollektiven
Emotion. Voraussetzung für die emotionale Ansteckung ist, dass die anzusteckende
Person sich mit der ansteckenden Person identifiziert (Abb. 3.4).
Je nachdem welche Form der Kommunikation gewählt wird, ist eine emotionale
Ansteckung mittels digitaler Kanäle mehr oder weniger möglich. Bei virtuellen oder
hybriden Events, die beispielsweise während der Corona-Pandemie regelmäßig statt-
gefunden haben, sitzen die Teilnehmenden häufig allein vor dem Bildschirm und ver-
folgen die Veranstaltung. Da die anderen Teilnehmenden, die ebenso alleine vor
dem Bildschirm sitzen, jedoch nicht zu sehen sind, kommt es zu keiner emotionalen
Ansteckung unter den Teilnehmenden. Veranstalter versuchen diese Mängel dadurch
auszugleichen, indem die Kamera häufig sich freuende und applaudierende Menschen
einfängt und zeigt. Dennoch bleibt festzuhalten, dass in der Regel solch virtuelle Ver-
anstaltungen aufgrund der fehlenden emotionalen Ansteckung weniger positive
Emotionen bei den Teilnehmenden hervorrufen.

Virtuelle Events

Virtuelle Events schaffen es häufig nicht, dass der „Funke“ auf die Teilnehmer
überspringt. Grund dafür ist die fehlende „Emotionale Ansteckung“ durch andere
Teilnehmer. Um den Teilnehmenden von solchen virtuellen oder hybriden Ver-
anstaltungen zu zeigen, wie gut das Event ankommt, werden häufig von der Kamera
Bilder von sichtlich begeisterten Teilnehmenden gezeigt. ◄
56 D. Schmid

3.5.4 Reduzierte Hintergrundinformationen

Hintergrundinformationen nehmen eine wichtige Rolle in der Kommunikation ein. Je


nach Situation und Ziel der Kommunikation liefern Hintergrundinformationen, wie bei-
spielsweise die körperliche Erscheinung oder das nonverbale Verhalten, wichtige zusätz-
liche Informationen (Bauer & Müssle, 2020, S. 71). An der Körpersprache und der
Mimik lässt sich die Gemütslage des Gegenübers meistens sehr gut erkennen. So kann
ein bejahendes Augenzwinkern oder ein leichtes Kopfnicken in einer Verhandlung viel
bedeuten. Ebenso zeigen Studien, dass der direkte Augenkontakt – das „Sich in die
Augen schauen“ – sehr bedeutend für die Beziehung zwischen zwei Individuen sind
(Gehrer et al., 2020).
Durch die Verwendung digitaler Kommunikationskanäle gehen wichtige Hinter-
grundinformationen verloren (Döring, 2016, S. 345). Bei textbasierter digitaler
Kommunikation lässt sich beispielsweise das Augenzwinkern nicht erkennen. Bei einem
Telefonat ist es dagegen meistens möglich, die Stimmung des Kommunikationspartners
zu erfahren. Bei textbasierter Kommunikation ist dies deutlich schwieriger. Es ist zwar
möglich, anhand der Formulierung auf die ungefähre Stimmungslage des Schreibenden
zu schließen, doch eine korrekte Einschätzung ist vergleichsweise schwierig. Sie hängt
stark davon ab, wie gut man den Sender/die Senderin kennt. In der Wissenschaft wird
hierbei auch von „Lack of social context cues“ gesprochen (Trepte und Reinecke,
2013, S. 160).
Abschließend ist festzuhalten, dass ein Empfänger/eine Empfängerin durch die
reduzierte Informationsbandbreite digitaler Kommunikationskanäle weniger Hinter-
grundinformationen erhält. Gefühlszustände und Emotionen lassen sich weniger über-
mitteln, was sich wiederum negativ auf die emotionale Ansteckung des Empfängers/der
Empfängerin auswirken kann.

3.5.5 Eingeschränkte Sinneswahrnehmung

Kommunikation ist vielseitig und kann über unterschiedliche Kanäle erfolgen. Unser
Gehirn empfängt über die Sinnesorgane permanent Informationen über Beschaffenheit
oder Qualität eines Produktes. Diese Informationen werden von unseren äußeren Sinnen,
wie Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmackssinn und Tastsinn sowie unsere physiologischen
Sinne (Temperatursinn, Schmerzempfindung, Gleichgewichtssinn, Körperempfindung)
aufgenommen. Sie alle stimulieren auch unsere inneren Sinne, die wiederum für
Emotionen sorgen. Häufig verleiten sie uns auch zu einem unbewussten Verhalten.
Aus diesem Wissen heraus ist in den letzten Jahren das multisensorische Marketing
entstanden. Es zielt darauf ab, all die Wahrnehmungskanäle so zu beeinflussen, dass
positive Emotionen entstehen (Nölke & Gierke, 2011, S. 19). Eine Untersuchung des
Marktforschungsunternehmens Milward Brown hat ergeben, dass eine Ansprache der
Kund:innen über mehrere Sinnesorgane zu einer höheren Markenloyalität führt. Eine
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 57

Botschaft, die über mehrere Sinnesorgane aufgenommen wird, wird schneller und
intensiver verarbeitet als ein einzeln ankommendes Signal (Nölke & Gierke, 2011).
Diese Vorzüge des multisensorischen Marketings lassen sich im Rahmen der digitalen
Kommunikation nur bedingt nutzen. Das Innenleben eines Autos lässt sich digital –
trotz VR-Brillen – nur eingeschränkt erleben. So ist weder das Probesitzen möglich,
noch kann die Haptik des Lederbezugs erfasst werden. Auch der Geruch eines Neufahr-
zeuges lässt sich auf digitalen Kanälen nicht übertragen. Da die Wahrnehmung letztlich
eingeschränkt ist, wird das Interieur des Fahrzeuges folglich auch anders bewertet und
positive Emotionen mitunter nicht hervorgerufen werden.

VR-Brillen

Autoherstellende setzen zunehmend VR-Brillen ein, um den Interessenten die Fahr-


zeuge zu präsentieren. Die Kund:innen können beispielsweise vom heimischen Bild-
schirm mittels einer VR-Brille das Innenleben eines Autos detailliert betrachten. Da
die Sinneswahrnehmung bei dieser virtuellen Besichtigung eingeschränkt ist (Geruch
oder Haptik des Lederbezugs lässt sich nicht erfassen), gehen viele Informationen
verloren. Dieser Verlust an Informationen führt häufig dazu, dass weniger Emotionen
entstehen. ◄

3.5.6 Eingeschränkte Interaktion

Traditionelle Modelle der Kommunikation gehen vom folgenden Prozess aus: Es gibt
einen Sender/eine Senderin und einen Empfänger/eine Empfängerin einer Botschaft.
Der Sender/die Senderin schickt die Botschaft dem Empfänger/der Empfängerin.
Dann wird der Empfänger/die Empfängerin zum Sender:in und sendet eine Botschaft
zurück. Mittlerweile gehen Forschende davon aus, dass insbesondere persönliche
Kommunikation anders abläuft. Der Sender/die Senderin ist immer zeitgleich auch
Empfänger/Empfängerin, da er/sie, während er seine Botschaft übermittelt, die Mimik
und Gestik des Gegenübers wahrnimmt. Das bedeutet, dass das Feedback des Gegen-
übers unmittelbaren Einfluss auf seine Botschaft hat. Das heißt, die Botschaft ent-
steht durch das Zusammenwirken von Sender/Senderin und Empfänger/Empfängerin
(Hadi & Valenzuela, 2014). Die Botschaft wird folglich vom Empfänger/Empfängerin
mitgestaltet und ist davon abhängig, wie aufmerksam er zuhört, wie seine Mimik
und Gestik dabei ist (Venus et al., 2019). Das Phänomen wird auch als „Embodied
Communication“ bezeichnet (Storch & Tschacher, 2016). Der Ansatz der Embodied
Communication geht davon aus, dass Gesprächspartner:innen sich besonders gut ver-
stehen, wenn sie das Gefühl der „Stimmigkeit“ empfinden. Stimmigkeit entsteht dann,
wenn die Gesprächspartner:innen den Eindruck haben, dass sie über dasselbe sprechen
und wenn sie eine gemeinsame Beziehung entwickeln. Dies ist häufig daran zu
erkennen, dass Gesprächspartner:innen zunehmend die gleichen Worte nutzen und sich
58 D. Schmid

„synchronisieren“. Häufig ist zu beobachten, dass sich zwei Gesprächspartner:innen,


die miteinander im guten Kontakt sind, einander anpassen. Sie setzen sich ähnlich hin,
passen Gestik und Mimik an und sprechen in ähnlicher Tonhöhe, ähnlicher Sprach-
melodie, ähnlicher Lautstärke und ähnlichem Tempo (Venus et al., 2019).
Diese Art der Kommunikation ist jedoch nur dann möglich, wenn die
Gesprächspartner:innen direkt miteinander kommunizieren, d. h. wenn Sender:innen
und Empfänger:innen synchron agieren. Die digitale Kommunikation stößt hierbei
an ihre Grenzen, die Anpassung ist nur eingeschränkt möglich. Je nachdem, welche
Kommunikationsform gewählt wird, ist die synchrone Kommunikation ausgeschlossen.
Antworten bzw. das Feedback der Empfänger:innen kommen bei vielen digitalen
Kanälen mit zeitlicher Verzögerung an. Als Beispiel hierfür können Sprachnachrichten
oder E-Mails genannt werden. Ferner ist es nicht möglich, beim Formulieren der Bot-
schaften das Gesicht des Gegenübers zu betrachten und mögliche Reaktionen abzulesen.
Anders verhält es sich bei Videokonferenzen, bei denen Bild und Ton übertragen werden.
Hier erfolgt die Kommunikation ohne große Einbußen. Mimik und Gestik lassen sich gut
erkennen. Jedoch ist auch hier der direkte Augenkontakt in der Regel nicht möglich.

3.6 Emotionssteigernde Effekte der digitalen Kommunikation

Wie dargestellt, besitzt digitale Kommunikation Eigenschaften, die negative Aus-


wirkungen auf die Entstehung von positiven Emotionen haben. Je nach Art des
Kommunikationskanals, gehen mehr oder weniger Informationen im Prozess der
Kommunikation verloren. Die digitale Kommunikation hat jedoch auch Besonder-
heiten, die dafür sorgen, dass positive Emotionen ausgelöst werden. Zum einen bieten
die Sozialen Medien viele Ansatzpunkte für Emotionen, zum anderen erzeugen die Ent-
wicklungen auf dem Gebiet der Marketingautomation sowie der Künstlichen Intelligenz
(KI) viele Möglichkeiten, Emotionen bei Sender:innen und Empfänger:innen von Nach-
richten auszulösen.

3.6.1 Einflüsse von Social Media auf die Emotionen

Soziale Medien spielen heutzutage in der Kommunikation eine bedeutende Rolle. Die
zahlreichen Plattformen bieten die Möglichkeit, Botschaften mit Bild und Ton zu ver-
breiten. Die Besonderheit ist, dass Sender:innen und Empfänger:innen, im Gegensatz
zu anderen Formen der Kommunikation, spontane und unmittelbare Gefühlsausdrücke,
wie zum Beispiel Freude oder Begeisterung, kundtun können (Bauer & Müssle, 2020).
Ein Kennzeichen von Social Media ist, dass solche Emotionsäußerungen nicht im Ver-
borgenen bleiben, sondern einer größeren Gruppe oder der Öffentlichkeit sichtbar
werden. Die persönliche Gefühlsäußerung wird öffentlich. Die Empfänger:innen der
Botschaft können darauf schnell und unkompliziert reagieren, indem sie die Nachricht
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 59

teilen, liken oder kommentieren. Die Plattformbetreiber bieten zudem symbolische


Ausdrucksformen von Emotionen an. Mit den sog. Emoticons lassen sich gezielt die
jeweiligen Emotionen ausdrücken.

Social Media

Social Media eignet sich gut, um Emotionen mitzuteilen. Persönliche


Gefühlsäußerungen können öffentlich gemacht werden. Mit Emoticons, wie z. B.
Smileys, die häufig vom Plattformbetreiber angeboten werden, lassen sich emotionale
Zustände schnell und einfach übermitteln. ◄

Studien zeigen, dass Nutzer mit ihrer Social-Media-Plattform sehr emotional ver-
bunden sind (Lünenborg, 2020). Das kommt u. a. daher, dass die Benutzer sich häufig
viele Gedanken machen, welche Nachricht sie posten oder welchen Beitrag sie teilen
(Ozimek et al., 2020; Stsiampkouskaya et al., 2021). Botschaften, die über Social-
Media-Plattformen verbreitet werden, und im Feed der Nutzer landen, sind aufgrund der
Algorithmen auf die Interessen der jeweiligen Nutzer zugeschnitten und sorgen dadurch
zudem meistens für positive Emotionen (Bauer & Müssle, 2020). Dies wird dadurch
unterstützt, dass Empfänger:innen und User zeitlich einen Beitrag bzw. einen Post
kommentieren können. Die Nähe von Sender:innen und Empfänger:innen wird dadurch
hergestellt (Andalibi & Buss, 2020). Auch in sogenannten “Livevideos“, in denen zum
Beispiel ein Influencer live im Video zu sehen ist und Fragen beantwortet, die zeit-
gleich von der Fan-Community über die Chatfunktion gestellt werden, sorgen für Nähe.
Dadurch, dass die Zuschauer an den Kommentaren und Likes die Stimmung anderer
Teilnehmer erkennen können, kommt es häufig zu einer emotionalen Ansteckung (Bauer
& Müssle, 2020). Auch die Likes und Kommentare, die ein Teilnehmer für sein Posting
bzw. seinen Kommentar erhält, sorgen für positive Emotionen, da sie als Zustimmung
oder Anerkennung wahrgenommen werden (Klaas, 2018).

Livevideos

Livevideos bei Facebook oder Instagram haben ein hohes Emotionalisierungs-


potential. Kommuniziert beispielsweise ein Influencer live per Video mit seinen
Followern, so fühlen sich diese eng mit der Person und dem Geschehen verbunden.
Dadurch, dass die Zuschauer das Livevideo kommentieren können, und sie die
Reaktionen anderer Zuschauer erkennen können, wird die emotionale Wirkung ver-
stärkt. ◄

Das Sichtbarwerden der Reaktionen Anderer führt dazu, dass man seine eigene
Meinung an der Meinung anderer orientiert. In der Psychologie spricht man auch vom
„Chamäleoneffekt“ (Kutter & Müller, 2008). Dies kann auch dazu führen, dass es zu
kollektiven Emotionsäußerungen kommt. Im negativen Fall zu sog. Shitstorms (Steg-
bauer, 2018).
60 D. Schmid

3.7 Einflüsse von Big Data, Marketingautomation und KI auf


die Emotionen

Die voranschreitende Digitalisierung eröffnet dem Marketing sehr viele zusätzliche


Perspektiven. Zum einen gewinnen Unternehmen aus der Kund:innenanbahnungs- oder
Geschäftsbeziehung sehr viele Informationen über die Einstellung und das Kaufver-
halten ihrer Kund:innen. Die Sammlung dieser schier unendlich vielen Kund:innendaten
wird auch als Big Data bezeichnet. Zum anderen führt die Digitalisierung dazu, dass
Prozesse im Marketing zunehmend digital ablaufen. Die Entwicklungen haben bei-
spielsweise zur Folge, dass Mailings an Kund:innen automatisch erstellt und versendet
werden, oder, dass die Preise für die Produkte im Onlineshop automatisch mehrmals
am Tag verändert werden können. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist
es zudem möglich, allen Kund:innen ein individuelles Angebot zu machen, das pass-
genau seinen/ihren spezifischen Wünschen entspricht. Die Verbindung von Big Data
mit der Automatisierung des Marketings lassen viele Maßnahmen entstehen, die in
Bezug auf den Kund:innen ein hohes Emotionalisierungspotential haben (Hannich
& Hüttermann, 2018). So ist es beispielsweise heute ohne großen Aufwand möglich,
Kund:innen zu besonderen Anlässen, wie z. B. Geburtstag oder Geburt eines Kindes,
mit einer freundlichen digitalen Glückwunsch-E-Mail zu überraschen. Des Weiteren
können dem Kund:innen individuelle Angebote von Produkten seiner Lieblingsmarke
automatisch unaufgefordert übermittelt werden. Da die Werbung sehr stark an den
jeweiligen Bedürfnissen oder Präferenzen der jeweiligen Empfänger:innen ausgerichtet
ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass bei Kund:innen positive Emotionen entstehen.
Viele Unternehmen nutzen diese technischen Möglichkeiten aus und führen weit-
gehend automatisierte Marketingmaßnahmen durch. Reiseunternehmen schicken ihren
Kund:innen in emotionalen Situationen Grüße, beispielsweise kurz vor dem Abflug oder
bei der Ankunft am Ziel. Auch die Möglichkeit, dass Kund:innen über das Internet die
Zusammensetzung des zu erwerbenden Produktes bestimmen können, wie es beispiels-
weise bei Mymuesli der Fall ist, wirkt sich positiv auf die Emotionen aus (Hannich &
Hüttermann, 2018).

Internet

Das Internet ermöglicht es, den Konsument:innen passgenaue Angebote zu machen,


die ein hohes Emotionalisierungspotential haben. Bei Mymuesli kann der Kunde die
Zusammensetzung bzw. die Inhalte seines Müsli selbst bestimmen. Die Beteiligung
des Käufers führt zu einer hohen emotionalen Verbundenheit mit dem Produkt. ◄

Fazit und Handlungsempfehlungen

Dieser Beitrag untersuchte die Frage, ob die digitale Kommunikation so wirk-


sam ist wie die analoge Kommunikation im Hinblick auf die Beeinflussung
des Kund:innenverhaltens. Da Emotionen einen großen Einfluss auf das
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 61

Kund:innenverhalten haben, beschäftigte sich die Arbeit insbesondere mit der Frage,
ob digitale Kommunikation beim Konsument:innen Emotionen hervorrufen kann. Um
die Frage zu beantworten, wurden vor allem Erkenntnisse aus der Psychologie und
Soziologie betrachtet.
Die Ergebnisse zeigen, dass durch digitale Kommunikation bei Konsument:innen
Emotionen ausgelöst werden können. Das Auslösen von Emotionen ist jedoch im
Vergleich zur analogen und persönlichen Kommunikation schwieriger und bedarf
in vielen Fällen mehr Anstrengungen. Nachteile der digitalen Kommunikation
sind insbesondere das Fehlen wichtiger Hintergrundinformationen, die geringere
emotionalere Ansteckung sowie die eingeschränkte Zahl an Sinnen, die durch die
digitale Kommunikation angesprochen werden.
Der Beitrag zeigt auch, dass digitale Kommunikation gegenüber der herkömm-
lichen Kommunikation auch Vorteile hat. Insbesondere die Kommunikation über
Soziale Medien sowie individuell auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnittene
Direktmarketingaktionen bieten viele Möglichkeiten, Emotionen auszulösen. Diese
resultieren u. a. aus der einfachen Möglichkeit der Interaktion zwischen Sender:innen
und Empfänger:innen sowie des Sendens, des Teilens oder des Bewertens von Bot-
schaften. ◄

Aus den Erkenntnissen der Wissenschaft ergeben sich folgende Handlungs-


empfehlungen für den Einsatz der digitalen Kommunikation
• Digitale Kommunikation ist generell weniger zu empfehlen, wenn die
unmittelbare Reaktion des Gegenübers wichtig für das Gespräch ist.
Kommunikation zwischen Einzelnen oder Gruppen, bei denen es wichtig ist,
die Reaktionen der Gegenseite zu erfassen, sollte persönlich und nicht digital
stattfinden. Mimik und Gestik werden in der digitalen Kommunikation nur
erschwert wahrgenommen. Ebenso ist ein direkter Augenkontakt zwischen zwei
Menschen nicht möglich.
• Die Wahl des Kommunikationskanals sollte auf den Inhalt der Nachricht
abgestimmt sein. Denn je nach Kommunikationskanal, lassen sich Nach-
richten und Informationen mehr oder weniger gut übertragen. Eine SMS reicht
aus, um eine Frage mit Ja oder Nein zu beantworten. Das Medium SMS ist
jedoch weniger geeignet, um eine Preisverhandlung zu führen (Hintergrund-
informationen fehlen).
• Digitale Kommunikation ist zur Erzeugung emotionaler Ansteckung
weniger geeignet. Bei einem virtuellen Event erschwert das fehlende Gruppen-
gefühl, dass der Funke auf die Teilnehmer überspringt. Wenn es darum geht,
Menschen emotional anzusprechen und zu begeistern, sind live Gruppenevents
virtuellen Events vorzuziehen. Die persönliche Kommunikation mit der
62 D. Schmid

Möglichkeit, alle Sinne der Empfänger:innen oder Teilnehmenden anzu-


sprechen, ist der digitalen Kommunikation überlegen.
• Soziale Medien eignen sich, um Emotionen zu generieren und zu über-
mitteln. Sie bieten der Kommunikation viele Möglichkeiten und sind geeignet,
Emotionen bei Sender:innen und Empfänger:innen auszulösen. Zum einen sind
Nutzer per se emotional eng mit den Sozialplattformen verbunden, zum anderen
bietet die Konzeption der Plattform viele Instrumente des Kommunikationsaus-
tausches, wie z. B. Livevideos, Storys, Posts. Ferner gibt es die Möglichkeit,
empfangene Botschaften zu liken, teilen oder kommentieren.
• Die Vorteile von Big Data und der Marketingautomation sollten
genutzt werden, um viele Kund:innen individuell anzusprechen. Die
Nutzung digitaler Technik hilft, umfangreiche Kund:innenakquisitions- und
-betreuungsmaßnahmen durchzuführen, die sich positiv auf die Emotionen aus-
wirken.

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Prof. Dr. Daniel Schmid ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als Professor für
Allgemeine Betriebswirtschaftslehre insbesondere Marketing tätig. Nach dem Studium und der
Promotion arbeitete er zunächst in einer internationalen Unternehmensberatung. Danach war
er über 20 Jahre in einem internationalen Dienstleistungsunternehmen tätig. Als Vorstand ver-
antwortete er u. a. die Bereiche Marketing und Strategie. Zuletzt war er Bereichsdirektor eines der
größten Kinderhilfswerke der Welt. Aktuelle Themen seiner Forschung sind Digitales Marketing,
E-Commerce, Handel und Nachhaltigkeitsmanagement.
Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen
im digitalen Marketing für ältere 4
Zielgruppen

Jonas Polfuß  

Zusammenfassung

Längst nutzen auch ältere Generationen das Internet für unterschiedlichste Zwecke.
Die Covid-19-Pandemie hat diesen Trend seit 2020 zusätzlich beschleunigt. Das hat
auch Konsequenzen für digitales Marketing, das in der öffentlichen Wahrnehmung
häufig auf jüngere Nutzerschaften ausgerichtet ist. Ältere Zielgruppen werden
nicht nur als passive Käuferschaft für Unternehmen oder Organisationen relevanter.
Immer mehr Menschen höheren Alters teilen Inhalte im Internet, die Marketers für
strategische Zwecke auswerten und Unternehmen in die eigene Kommunikation ein-
binden können. Außerdem wächst die Anzahl der älteren Medienschaffenden, die
in sozialen Medien große Reichweiten erzielen und Trends beeinflussen. Hierdurch
ergeben sich neue Chancen für generationsübergreifendes und altersspezifisches
Marketing.

4.1 Einleitung

Dass digitales und insbesondere Social-Media-Marketing vor allem für die jungen
Generationen tauge, ist bis heute eine weit verbreitete Annahme. Tatsächlich haben
auch Nutzer:innen im höheren Alter längst das Internet für sich entdeckt, was durch

J. Polfuß (*)
IU Internationale Hochschule, Essen, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 65


Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_4
66 J. Polfuß

die Coronavirus-Pandemie innerhalb kurzer Zeit zusätzlich beschleunigt wurde. Die


wachsende Teilhabe älterer Generationen im Internet und speziell in sozialen Medien
wird in der wissenschaftlichen Literatur überraschend wenig berücksichtigt (vgl. Nunan
& Di Domenico, 2019). Eine der ersten umfassenden Publikationen für den deutsch-
sprachigen Raum stammt aus dem Jahr 2012 und trägt den plakativen Titel Die Alten
und das Netz (Kampmann et al., 2011). Der vorliegende Beitrag betrachtet das Potenzial
und die Besonderheiten der deutschen Babyboomer-Generation, d. h. grob der zwischen
1945 und 1970 Geborenen (Thuresson, 2021, S. 19), als Zielgruppe und als Multi-
plikator im digitalen Marketing (vgl. für die USA Kotler et al., 2021, S. 21–23).
Während ältere Generationen in Deutschland innerhalb kürzester Zeit im Internet
aufgeholt haben, gilt es zu klären, ob die meist jüngeren Marketingverantwortlichen bei
dieser Entwicklung mithalten können. Aktuell scheint das Marketing hierzulande noch
nicht angemessen auf Zielgruppen höheren Alters ausgerichtet zu sein (Richter, 2020,
S. 118). Um mögliche Zukunftsszenarien altersgerechter Digitalisierung einzusehen,
werden Entwicklungen aus Asien einbezogen, wo Internet und Marketing teils schon
weitaus stärker auf ältere Zielgruppen zugeschnitten sind. Darüber hinaus wird eine
Bestandsaufnahme und Klassifizierung betagter Medienschaffender im englisch- und
deutschsprachigen Raum vorgestellt. Die Leserschaft aus der Marketingpraxis erhält
praktische Empfehlungen für künftige Marketingstrategien.

4.2 Ältere Generationen auf digitalem Vormarsch

Deutschland steht wie viele andere Länder vor den enormen Herausforderungen einer
alternden Gesellschaft. Die Zahl der jüngeren Menschen geht stetig zurück und die
der älteren nimmt zu, wobei besonders die Anzahl der Über-80-Jährigen beständig
ansteigen wird (Destatis, 2021). Schätzungen zufolge sinkt in Deutschland der Anteil der
Menschen im Alter von 20 bis 59 zwischen 2020 und 2030 von 43,9 auf 39,6 Mio.; dem-
gegenüber wird die Anzahl der Menschen im Alter von 60 Jahren oder älter in diesem
Zeitraum von 24,1 auf 27,8 Mio. ansteigen (Statista, 2021a). Die wachsende Zahl älterer
Menschen schlägt sich auch in der digitalen Welt nieder. Seit vielen Jahren wächst die
Gruppe der betagten Internetnutzer:innen an, allein in Deutschland hat sich die Nutzer-
gruppe der 60- bis 69-Jährigen zwischen 2009 und 2019 mehr als verdoppelt (ARD/ZDF,
2020).

4.2.1 E-Commerce-Anschub durch die Pandemie

Dieser Trend lässt sich ebenso im deutschen E-Commerce beobachten, wo schon vor
der Covid-Pandemie die Anzahl der Online-Shopper besonders bei den über 60-Jährigen
stark angestiegen war (HDE, 2019). Die pandemiebedingten Lockdowns haben derartige
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 67

Entwicklungen seit dem Frühjahr 2020 noch beschleunigt und der gesamte Online-Ver-
kauf ist nicht nur in Deutschland weiter stark angewachsen (z. B. Glas, 2021).
Im Online-Banking beispielsweise, dem viele ältere Deutsche lange skeptisch gegen-
überstanden, ist die Nutzung unter den 65-Jährigen innerhalb eines Jahres von 22 % auf
39 % hochgesprungen (Bitkom, 2021a). Umfragen haben außerdem gezeigt, dass hier-
zulande speziell ältere Menschen das Shoppingverhalten auch künftig stärker ins Inter-
net verlagern möchten (Klarna, 2021). Zwar kaufen im Verhältnis immer noch mehr
junge Menschen im Internet ein (VuMA, 2021), die Zahl der älteren wächst aber über-
proportional und die früher Geborenen sind als Zielgruppe oftmals deutlich kaufkräftiger
(Niehues & Stockhausen, 2020).

4.2.2 Zugang zu unterschiedlichen Produktkategorien

Mit Blick auf Generationsunterschiede lässt sich der Konsum digitaler Produkte und
Dienstleistungen grob in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen gibt es traditionelle
Produkte wie Zeitungen, die im Zuge der Digitalisierung auch als Onlineversionen ver-
fügbar gemacht wurden (Donnerstag und Mika 2015). Hier lässt sich argumentieren,
dass der Zugang für ältere Generationen leichter ist, weil ihnen das ursprüngliche
Produkt sehr vertraut ist und die Digitalisierung relativ wenig daran verändert hat.
Zum anderen gibt es eine Vielzahl von neuartigen Produkten und Services, die erst
durch das Internet möglich geworden sind und in der analogen Welt nie oder nur stark
abgewandelt vorhanden waren bzw. sind. Hierzu gehören z. B. soziale Medien, in denen
die Nutzung älterer Menschen ebenfalls von Jahr zu Jahr ansteigt (Statista, 2021b). Da
ältere Nutzerschaften in zahlreichen Onlinebereichen aufholen, stellt sich die Frage, wie
sich das digitale Marketing heute und in Zukunft mit diesen Zielgruppen befassen muss.

4.3 Generationsunterschiede im digitalen Marketing

Anfang der 2010er-Jahre wurde zurecht festgestellt, dass ältere Zielgruppen im Inter-
net bisweilen komplett vernachlässigt wurden (Köhler & Kirchhof, 2011). Nach wie
vor werden ältere Nutzer:innen teilweise ignoriert oder wenig zielgruppengemäß
angesprochen (z. B. Fron, 2018), was verschiedene Gründe hat. In sozialen Medien
liegt dies unter anderem daran, dass jüngere Zielgruppen deutlich dominanter sind, da
sie als Digital Natives authentischer kommunizieren, mit nutzergenerierten Inhalten
neue Trends beeinflussen, und auch die größten Influencer bis heute jüngeren Alters sind
(Deges, 2018, S. 19–23).
68 J. Polfuß

4.3.1 Agentur-Jugendwahn und Marketingverständnis für Ältere

Dass der inzwischen durchaus vorhandene Beitrag älterer Nutzer:innen in der Inter-
net-Community oft übersehen wird, dürfte mit den jeweiligen Peer-Groups zusammen-
hängen. Viele Verantwortliche im Onlinemarketing sind deutlich jünger und somit
emotional weiter entfernt von den Nutzergruppen im Seniorenalter. In Kommunikations-
und Werbeagenturen, wo ein Altersschnitt von 32 Jahren keine Seltenheit ist, wird seit
Jahren ein „Jugendwahn“ beklagt (Weber, 2015). In heutigen Digitalagenturen dürfte
diese Altersstruktur nicht anders, wenn nicht noch ausgeprägter sein. Auch deutlich
mehr als die Hälfte der Gründer:innen von Start-ups in Deutschland, die maßgeblich
zur Digitalisierung des Landes beitragen, ist im Durchschnitt jünger als 35 Jahre (DSM,
2019; Lammers, 2018). Dort, wo Ältere und Jüngere zusammenarbeiten, kommt es nicht
selten zu Missverständnissen und dem Vorwurf, die jeweils andere Generationen nicht zu
verstehen (Kotler et al., 2021, S. 19).
Natürlich ist vielen Werbenden klar, dass ältere Zielgruppen einflussreicher werden,
und das digitale Marketing hat sich in den letzten Jahren stärker in deren Richtung ent-
wickelt (z. B. Steiger, 2021a). Es stellt sich indes die Frage, ob die jüngere Generation
von Marketingverantwortlichen dazu fähig und gewillt ist, sich in die Lage der Älteren
zu versetzen (Bily, 2019, S. 154). Dass dies notwendiger wird, steht außer Zweifel. Fach-
leute gehen davon aus, dass das Verständnis von Alter und Alterungsprozessen in Zukunft
auch im Marketing eine ganz zentrale Rolle spielen wird (Bily, 2019, S. 122; Bui, 2021).
Im digitalen Marketing, beispielsweise auf Facebook, lassen sich ältere Menschen
zwar leicht mit den demografischen Tracking-Möglichkeiten als Zielgruppen erfassen
(Facebook for Business, 2021). Das heißt jedoch nicht, dass damit auch ein tief-
ergehendes Verständnis für diese Generationen einhergeht. Ein Blick in die Werbe-
bibliothek von Facebook mit Schlagwörtern wie „Best Ager“ zeigt eher das Gegenteil
(Facebook, 2021). Altersphasen werden mit den in der Werbebranche üblichen Klischees
verklärt – etwa durch die Darstellung retuschierter Dauersportler oder beschwerdefreier
Wohlstandsgenießer ohne jegliche Verpflichtungen (vgl. Richter, 2020, S. 118–120).
Online und offline werden Ältere regelmäßig so illusorisch jung dargestellt, dass sich
dies nicht mehr mit einem vermeintlichen Wunsch nach Jugendlichkeit im Alter erklären
ließe (z. B. Steiger, 2021b). Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass – deutlich
jüngere – Werbeleute ältere Zielgruppen aus ökonomischen Gründen und ohne großen
Aufwand ködern möchten.
Um ältere Menschen langfristig und erfolgreich zu erreichen, wird es aber nicht aus-
reichen, kurzfristig deren Kaufkraft abschöpfen zu wollen. Neben fraglos wertvollen
Werbemöglichkeiten bieten sich im digitalen Raum essenzielle Chancen, das Konsum-
verhalten und die Lebenswelten der Menschen höheren Alters besser kennen- und ver-
stehen zu lernen. Erst so lässt sich vermeiden, dass Seniorenwerbung nicht aufgesetzt
oder anbiedernd wirkt und sich betagtere Zielgruppen nicht bevormundet oder übervor-
teilt fühlen (vgl. Balazs, 2014, S. 30–32).
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 69

4.3.2 Abzocke und Vertrauen in älteren Zielgruppen

Heutzutage führen Profitgier und Rücksichtslosigkeit noch immer dazu, dass ältere
Nutzer:innen auch im Internet getäuscht und abgezockt werden (z. B. Seitel, 2021). Dass
Betrüger:innen hier Chancen wittern und leider oft finden, hat unterschiedliche Gründe.
Nachdem eine ganze Generation von Jugendlichen mit der eigenen Unachtsamkeit beim
Umgang mit z. B. persönlichen Fotos im Netz konfrontiert wurde, können sich jüngere
Menschen mittlerweile besser im Netz schützen, als dies bei Senior:innen der Fall ist
(Trepte & Masur, 2015; vgl. Bitkom, 2021b).
Nach diversen Datenskandalen und Missbrauchsfällen haben außerdem einige
Medienanbieter begonnen, den Jugendschutz auf ihren Plattformen ernster zu nehmen,
sodass beispielsweise auf Instagram die Möglichkeiten für Teenager-Werbung ein-
geschränkt wurden (Bayer, 2021). Für ältere Nutzer:innen gibt es hingegen bis heute
wenige Vereinfachungen und kaum Schutzmaßnahmen im Netz. Die Verhinderung von
Betrug und die Einführung von schützenden Initiativen sind jedoch sehr wichtig, um das
Internet und besonders die sozialen Medien als sicheren Ort für alle Generationen zu
etablieren.
Nur auf diese Weise lässt sich auch schrittweise generationsübergreifendes Ver-
trauen für neuartige Produkte und Dienstleistungen wie Streaming-Dienste oder gar
den Kryptohandel aufbauen, gegenüber denen Senior:innen noch zurückhaltend sind
(Bitkom, 2020; Kraus & Winkler, 2021).

4.3.3 Vorbild Asien? Wo es hinführen könnte

In Bezug auf altersgerechtes Internet und Online-Shopping lohnt ein Blick nach Asien,
wo ältere Generationen teils deutlich länger und aktiver im (mobilen) Internet unterwegs
sind als in Deutschland. In Südkorea fanden zum Beispiel schon im Jahr 2017 welt-
weit die meisten Einkäufe von Online-Lebensmitteln statt (FEW 2017) und im gleichen
Jahr ließ sich dort in höheren Altersgruppen ein Trend zum Kauf von Kryptowährungen
beobachten (Ramirez, 2017).
Im stark digitalisierten China setzt sich die Regierung dafür ein, dass die rund
300 Mio. älteren Menschen nicht online bzw. mobil abgehängt werden, was bei der
digitalen Entwicklungsgeschwindigkeit im Land leicht passieren kann (Li, 2020). Aus
diesem Grund – und angeregt vom enormen Marktpotenzial – haben zahlreiche Platt-
form- und App-Betreiber längst Produkt- und Serviceversionen eingeführt, die sich
vornehmlich an die ältere Nutzerschaft richten (Deng & Hu, 2021; HR Asia, 2021). In
vielen dieser Varianten gibt es eine vereinfachte Bedienung und schützende Werbeein-
schränkungen, die so beliebt sind, dass sie sogar jüngere Menschen bevorzugen und
gerne mitnutzen (Lew, 2018).
Die digitale Einbeziehung älterer Menschen ist in sowohl technisch stark ent-
wickelten als auch überalternden Gesellschaften wie derjenigen in Singapur ebenfalls
70 J. Polfuß

ein großes Thema. Hier und anderorts geht es dabei nicht nur um Shopping und Enter-
tainment, sondern zugleich um die medizinische Aufklärung und Versorgung der älteren
Bevölkerung (GovTech, 2021).
Ein besonderer Raum, der gesellschaftliche Chancen, aber gleichermaßen Risiken
beinhaltet, sind die sozialen Medien. Die chinesische Universal-App WeChat wies schon
im Jahr 2015 eine hohe Penetrationsrate unter Über-50-Jährigen auf (Statista, 2021c).
Heutzutage finden sich in China zudem mehr und mehr betagte Influencer:innen (Qu &
Deng, 2021). Auch in Deutschland lassen sich auf den vermeintlich jugendlichen Platt-
formen mehr Über-50-Jährige antreffen und ins Marketing einbeziehen.

4.4 Social-Media-Kreative im höheren Alter

In einer Umfrage von 2020–2021 gaben 76 % der 50–59-Jährigen und 54 % der Über-
60-Jährigen in Deutschland an, soziale Medien zu nutzen (Faktenkontor, 2021a).
Während Teenager:innen sich stark von Facebook abgewandt haben, verwenden
Deutsche ab 30 Jahren die Plattform weiterhin recht aktiv; Instagram nutzten 30 % der
50–59-Jährigen und 15 % der Über-60-Jährigen (Faktenkontor, 2021b). Die App TikTok
kannten im Jahr 2020 immerhin 33 % der befragten Deutschen ab 55 Jahren (YouGov,
2021).
Auch als Folge der Pandemie-Lockdowns wurden immer mehr ältere Menschen über
die passive Nutzung hinaus zu engagierten Netizens, d. h. zur aktiven Nutzerschaft im
Netz, indem sie sich mit eigenen Meinungen und Inhalten in Online-Communities ein-
bringen (Dinges, 2020). Dadurch ergeben sich nicht nur wertvolle Einblicke für Marken-
verantwortliche und Marktforschende, die sich auf ältere Zielgruppen konzentrieren.
Einige Kreative im Rentenalter haben sich in den sozialen Medien große Fan-Gemein-
schaften aufgebaut, wodurch neue Chancen für generationsspezifisches und -über-
greifendes Marketing entstehen.

4.4.1 Influencertum zwischen den Generationen

Ab den 2010er-Jahren und im Zuge des großen Erfolgs von YouTube und Instagram
kam jungen Influencer:innen, die oft bereits im Teenageralter medial gestartet waren,
wachsende Aufmerksamkeit zu. Diese Medienschaffenden, neudeutsch auch Content
Creator genannt, wurden dank ihrer Fähigkeiten, Inhalte interessant aufzubereiten und
damit große Reichweiten aufzubauen, zu Lieblingen der Werbeindustrie (Nymoen &
Schmitt, 2021, S. 24–36).
Unzählige junge Menschen folgten in den sozialen Medien den neuen Vorbildern, die
– anders als die Models und Akteure in der traditionellen Werbung – in der Regel jünger,
alltäglicher und nahbarer erschienen (Schach, 2018, S. 31–32). Influencer:innen können
in Hinblick auf ihre Zielsetzung und ihr Publikum in die Bereiche Hobby, Information,
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 71

Entertainment und Infotainment unterteilt werden (Gross & Wangenheim, 2018), wobei
die Professionalisierung der Branche in den letzten Jahren stetig zugenommen hat. Dies
lässt sich tendenziell auch für Social-Media-Persönlichkeiten im höheren Alter fest-
stellen.
Ältere Menschen, die seit einigen Jahren in der Influencer- und Creator-Szene mit-
mischen, lassen sich auf Grundlage ihrer medialen Partizipation und Kreativität grob in
die Kategorien der 1) „Einsteiger:innen“, 2) „Imitator:innen“ und 3) „Innovator:innen“
unterteilen, wobei insgesamt die Bereiche Hobby und Unterhaltung bisher überwiegen.
Tab. 4.1 vergleicht die drei Typen älterer Influencer:innen überblickshaft.

4.4.1.1 Einsteiger:innen: Ältere als Models und Darsteller:innen


Mit wachsender Konkurrenz unter den jüngeren Influencer:innen wurden zunehmend
neue Ideen und Formate gesucht, um bestehende und neue Follower:innen für sich zu
begeistern. Hier kam es unter anderem zu ersten reichweitenstarken generationsüber-
greifenden Kooperationen. Anfang 2017 begann beispielsweise der Student Jannik
Diefenbach damit, seinen Großvater auf Instagram in Streetwear zu kleiden und
erschuf damit eine Modeikone mit heute über einer Million Followern auf Instagram
(Instagram, 2021a). Schon seit 2015 auf YouTube und seit 2020 auf TikTok zeigen
zwei jüngere Medienmacher unter dem Titel und Motto „Senioren zocken“ ausgewählte
Rentner:innen, die Computer spielen oder Produkte testen, was ebenfalls zu einem
großen Erfolg wurde (YouTube, 2021a; TikTok, 2021a). In diesen Fällen kam den älteren
Teilnehmenden zumindest ursprünglich eine eher darstellende Rolle zu, beim Computer-
spiel-Projekt wurden zudem kleine Honorare für die Teilnahme bezahlt (Schellschmidt,
2020).

4.4.1.2 Imitator:innen: Ältere als Nachahmer:innen der Jung-


Influencer:innen
Seit einigen Jahren treten außerdem ältere Menschen in die Fußstapfen der ersten und
jungen Influencer-Generation, indem sie die bereits etablierten Formate der Jüngeren
aufgreifen. Auf TikTok hat beispielsweise Erika Rischko aus Langenfeld mit ihren über
80 Jahren und den ohnehin sehr beliebten Fitnessvideos eine respektable Gefolgschaft
aufgebaut (Tiktok, 2021b). Auf Instagram finden sich zahlreiche Influencer:innen, die

Tab. 4.1  Typologie von Influencer:innen im höheren Alter


1) Einsteiger:in 2) Imitator:in 3) Innovator:in
Startzeit Verstärkt ab 2015 Verstärkt ab 2018 Verstärkt ab 2020
Eigenständigkeit Gering Mittel Hoch
Kreativität Gering Mittel bis hoch Sehr hoch
Einfluss Gering Mittel Groß
72 J. Polfuß

mit Hashtags wie #50plusmodel, #bestager oder #grandfluencer nicht nur ihre eigene
Altersgruppe, sondern ebenso Unternehmen mit Zielgruppen in diesem Alter ansprechen.
Ein Beispiel ist die 68-jährige Barbara Lutz, die sich als „German Silverhair Classic-
Model“ vorstellt und rund 4.200 Follower:innen angesammelt hat (Instagram, 2021b).
In dieser Kategorie finden sich generell zahlreiche Fotomodelle und Unternehmer:innen,
die schon vor dem Instagram-Hype in der Mode und Werbung tätig waren. Eine deutlich
jüngere und sehr erfolgreiche Influencerin ist die 1973 geborene Gitta Banko, die auf
Instagram weit über 600.000 Follower:innen angelockt hat, für Firmen wie Breuninger
modelt und vor ihrer Social-Media-Karriere als Modeunternehmerin gearbeitet hat
(Instagram, 2021c; YouJoy, 2021).

4.4.1.3 Innovator:innen: Ältere als Social-Media-Avantgarde


Neben den generationsübergreifenden Projekten und älteren Models, die junge Werbe-
medien für sich nutzen, finden sich auch mehr und mehr ältere Creators, die neuartige
Ansätze und Formate einführen. Als alternative Stilikone gilt die über 90-jährige Inter-
netpersönlichkeit Baddie Winkle aus Kentucky, der auf Instagram über 3,4 Mio.
Menschen folgen (Instagram, 2021d). Sie verbindet auf ihrem Account Comedy, Kunst
und Style, wirbt für Produkte, aber nimmt zugleich die Influencerbranche aufs Korn.
Im deutschsprachigen Raum verbindet z. B. die 1967 geborene Kunsthistorikerin
Elke Backes Interviews mit Künstlern, Kunstkritik und Performance Art, um als „Art
Influencerin“ unter anderem auf Instagram zu wirken (Instagram, 2021e). Der eben-
falls 1967 geborene TV-Moderator Kai Pflaume ist auf YouTube und TikTok unter die
Videoproduzenten gegangen (YouTube, 2021b; TikTok, 2021c). Er trifft und interviewt
dort meist deutlich jüngere Social-Media-Persönlichkeiten und bricht auf diese Weise
Medientraditionen und Generationsgrenzen auf, was ihm etwas Spott, aber auch eine
ansehnliche Gefolgschaft eingebracht hat (RND, 2020).

4.4.2 Dynamik zwischen den Generationen

Obwohl die generationsübergreifenden Projekte häufig noch einseitig sind und ältere
Influencer:innen weiter die Ausnahme bleiben, deutet sich bereits großes soziales,
kreatives und ökonomisches Potenzial durch mehr generative Vielfalt in Social-Media
an. Während die jüngeren Digital Natives technisch-intuitiv mit sozialen Medien auf-
gewachsen sind, ist bei älteren Medienschaffenden, die nicht mit Smartphones groß
geworden sind, die zusätzliche Lebenserfahrung ein inhaltlicher Pluspunkt.
Hier zeigt sich in Hinblick auf Altersstrukturen ein interessantes Paradoxon:
Zumindest in den Bereichen Beauty, Mode und Luxus präsentieren junge Creators in
den sozialen Medien einen Lebensstil, den sich die meisten Menschen erst im höheren
Alter – nach einem erfolgreichen und langen Arbeitsleben – leisten können. Hier findet
insofern ein erstes Umdenken statt, als beispielsweise einige Luxushotels wählerischer
bei Kooperationen mit jungen Influencern geworden sind (Reinhard, 2019). Tatsächlich
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 73

haben jüngere Medienschaffende oftmals ein größeres Publikum, dessen überwiegender


Teil sich altersbedingt aber nur selten oder noch gar nicht teure Luxuswaren leisten kann.

4.4.3 Besonderes Potenzial der Älteren

Viele junge Influencer:innen und Blogger:innen verfügen durchaus über Expertise und
Erfahrungen in ihren Kerngebieten. Aufgrund ihres Alters bringen betagtere Medien-
schaffende indes zusätzliche Lebens- und Konsumerfahrung mit. Im Modebereich haben
sie zum Beispiel bestimmte Trends, die aktuell ein Comeback feiern, vor Jahrzehnten
schon in der Ursprungsversion miterlebt.
Nicht selten verschulden sich junge Influencer:innen, die noch bei ihren Eltern
wohnen, um ihrer Gefolgschaft ein Jetset-Leben präsentieren zu können (z. B. W&V,
2018). Demgegenüber führen einige Best Ager nicht nur weitaus länger, sondern auch
glaubwürdiger einen Instagram-tauglichen Lebensstil. Dass sie ihre Altersgruppen
direkter ansprechen können, müsste auf der Hand liegen. Doch obwohl in Konsum-
sparten, die ein bestimmtes Lebensalter voraussetzen, ältere Testimonials deutlich
organischer und authentischer sein dürften, werden sie bis heute relativ selten eingesetzt.
Phasenweise haben zwar ältere Models auf Laufstegen für Aufsehen gesorgt, ver-
abschiedet hat sich die Werbebranche von der Altersdiskriminierung vor den Kameras
hingegen nicht (Arnett, 2020). Einige Marketingverantwortliche scheinen regelrecht
Angst davor zu haben, ihre Zielgruppen über 50 Jahren altersgerecht anzusprechen (Bily,
2019, S. 145).

4.5 Fazit – Chancen durch Zuhören

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ältere Menschen längst im Internet und in
den nur anfangs von der Jugend dominierten sozialen Medien angekommen sind. Die
digitalen Strukturen und Angebote für diese Gruppierungen erscheinen allerdings weiter-
hin wenig altersgerecht.
Ein Grund dafür ist der jugendliche Fokus, der sich nach wie vor in (digitalen)
Agenturen und in Werbekampagnen findet, selbst wenn diese auf höhere Altersgruppen
ausgerichtet sind. Genauso wie junge Menschen Jugendsprache aus dem Mund älterer
Generationen oft befremdlich finden, dürften sich betagte Zielgruppen wundern, warum
in werbenden Webvideos Seniorendarsteller als Skateboard-Fahrer präsentiert werden.
Auch erscheint es seltsam, dass noch immer 35-jährigen Models graue Haare gefärbt
werden, um sie Produkte für Über-60-Jährige bewerben zu lassen (vgl. Fellmann &
Natterer, 2021).
Erfolgreiches Marketing für Konsument:innen im höheren Alter erfordert ein tief-
ergehendes Verständnis für deren Lebenssituationen und die daraus resultierenden
Vorstellungen und Bedürfnisse (Felser, 2015, S. 324–326). Hierbei ist zu beachten,
74 J. Polfuß

dass sich das Selbstbild der älteren Generationen, unter anderem als Folge digitaler
Partizipation, stetig weiterentwickeln wird. Menschen im höheren Alter kennen nicht
nur viele sich wiederholende Konsumtrends von früher, sondern haben auch unterschied-
liche Marketingphasen von der einst produktbezogenen bis zur heute stark technologie-
fokussierten Herangehensweise miterlebt (Kotler et al., 2021, S. 30–33). Teils sind sie
noch besser mit klassischer Werbung zu erreichen, zugleich öffnen sie sich im Zuge der
eigenen Digitalisierung schnell für neuartige Ansätze wie das Omnichannel-Shopping,
was sich eindrucksvoll in der Covid-Pandemie gezeigt hat. Das Internet selbst bietet
sich an, um den Wandel der Zielgruppen im höheren Alter mitzuverfolgen. Dies gelingt
zum Beispiel durch die direkte Kommunikation mit der Webshop-Kundschaft, die Aus-
wertung von altersspezifischem Online-Nutzerverhalten oder durch Social Monitoring/
Listening-Analysen innerhalb größerer Gruppen in Foren und sozialen Medien (Makita
et al., 2021; vgl. Reinikainen et al., 2020).
Auf diese Weise stellen Unternehmen und Organisationen nicht nur sicher, dass
sie Zielgruppen im höheren Alter an sich binden, sondern können im Dialog hin
zu einer wertschöpfenden Co-Creation die eigenen Produkte, Dienstleistungen und
Kommunikationsmaßnahmen altersgerecht optimieren (z. B. Mansson et al., 2020).
Nicht zuletzt verpassen Marketingverantwortliche so keine Trends der über 50-jährigen
Influencer:innen mehr, die in Zukunft immer zahlreicher werden dürften.

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Dez. 2021b.

Prof. Dr. Jonas Polfuß ist Marketing-Professor und Leiter des Bachelorstudiengangs Inter-
nationales Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind
digitales Marketing und globale Markenführung. Als Berater und Marketer unterstützt er regionale
und internationale Unternehmen beim Community-Marketing und digitalen Branding.
Teil II
Marktforschung & Marktanalyse
Digitale Beobachtung in der
Marktforschung – Erweiterung der 5
Forschungsmethode Beobachtung

Marion Kalteis  

Zusammenfassung

Das Repertoire der Marktforschungsmethoden wird durch die voranschreitende


Digitalisierung ergänzt und erweitert. Es ist für Unternehmen so einfach wie nie
an Daten von Konsument:innen zu gelangen – teilweise unabhängig von deren
Zustimmung. Das nachfolgende Kapitel beleuchtet die Methode der digitalen
Beobachtung aus Unternehmenssicht, zeigt Anwendungen, Grenzen und mögliche
Weiterentwicklungen auf.

5.1 Aller Anfang ist digital

Die Digitalisierung der Marktforschung war bereits Anfang der 2000er-Jahre als Thema
im wissenschaftlichen und wirtschaftspraktischen Diskurs zu finden (Theobald, 2009;
Wiedmann & Buxel, 2003). Wie in den vorangegangenen Jahrzehnten des letzten
Jahrhunderts bleibt die methodische Bandbreite in der modernen, digitalen Markt-
forschung erhalten. Zur Verfügung stehen Befragung und Beobachtung im quantitativen
sowie qualitativen Forschungsparadigma sowie deren experimentelle Variationen. Im
quantitativen Paradigma wird das Auszählen PageViews, Use-Time, Unique Clients,
AdImpressions etc. als statistische Analyse betrieben. Besonders der A/B-Test ist aus

M. Kalteis (*)
IU Internationale Hochschule, Wien, Österreich
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 81


Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_5
82 M. Kalteis

digitalen Marketing-Abteilungen nicht mehr wegzudenken. Dieser erlaubt es, innerhalb


der Zielgruppe z. B. eine Verlinkung, ein neues Design oder einen neuen Call-to-Action-
Button zu testen, und mit der bestehenden Variante zu vergleichen.
In den ersten Abhandlungen zum Thema digitale Marktforschung finden sich
Überlegungen zu ethischen und verbraucherpolitischen Aspekten, insbesondere zur
digitalen Beobachtung (u. a. Buxel, 2007). Der Bereich der digitalen Beobachtung
kann aus zwei zentralen Perspektiven betrachtet werden: der Unternehmens- und der
Konsument:innensicht. Unternehmen sind bemüht, aktuelle und valide Daten über ihre
Kund:innen zu erhalten. Kund:innen dieser Unternehmen sind in erster Linie daran
interessiert, Informationen über Produkte, Dienstleistungen, Erfahrungen, Ideen, aktuelle
Entwicklungen zu erhalten, zu generieren oder auszutauschen. In einigen Fällen ist es
den Verbraucher- und Nutzer:innen von digitalen (mobilen) Endgeräten nicht bewusst,
dass sie minütlich, stündlich, täglich jede Menge Daten im Internet sowie in zahlreichen
Apps von sich preisgeben (Berliner Beauftragte für Datenschutz & Informationsfreiheit,
2020). Auch in der frischen Luft gibt es zunehmend mehr Beobachtung. In den letzten
Jahren ist der Absatz von privat genutzten Drohnen in Deutschland deutlich angestiegen.
Für das Jahr 2022 wird ein Bestand von 337.000 privaten Drohnen prognostiziert. Dies
entspricht mehr als 80 % des Gesamtmarktes für Drohnen auf deutschem Bundesgebiet
(Verband Unbemannte Luftfahrt, 2021).

Beispiel

Beim Weltcup-Slalom von Madonna di Campiglio stürzt eine kommerziell ein-


gesetzte Kameradrohne auf die Rennpiste und verfehlt den österreichischen Skirenn-
fahrer Marcel Hirscher mit wenigen Metern Abstand nur knapp. Nach anschließenden
Untersuchungen war der Drohne der Akku ausgegangen. Erlaubt war bereits zu
diesem Zeitpunkt das direkte Überfliegen der Piste laut Skirennverband FIS nicht
(Spiegel, 2015). ◄

Diese generierten Daten sind der neue Goldstandard der Daten für Unternehmen, da
diese nur schwerlich durch die Nutzer:innen in ihrer Qualität verfälscht werden können.
Woche für Woche erinnert das Smartphone an die Bildschirmnutzung, aufgegliedert
nach diversen Rubriken wie die genutzten Applikationen in Zeiteinheiten und einen Hin-
weis, ob das mobile Endgerät mehr oder weniger als in der Vorwoche in Verwendung
war. Österreichische Smartphone-Nutzer:innen geben an, im Schnitt 20-mal pro Tag
bewusst auf ihr mobiles Endgerät zu blicken (Marketagent, 2022). Andere Studien
weisen darauf hin, dass Proband:innen dokumentiert durch eigens entwickelte Nutzungs-
verhaltens-Apps durchschnittlich mehr als 80-mal pro Tag das Handy zur Hand nehmen
(Hartner-Tiefenthaler, 2018). Aus Sicht der Nutzer:innen ist die Information über die
Bildschirmnutzungszeit eine Form der digitalen Selbstkontrolle, die durch die Hersteller-
unternehmen bereitgestellt wird. Es handelt sich dabei um die vermeintliche Trans-
parenz an Informationen, die die Hersteller bislang ohnehin gesammelt hatten. Einige
5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung … 83

Herstellermarken stehen in diesem Zusammenhang mehr in der Kritik als andere (apfel-
page.de, 2019; Federrath, 2015; Rall, 2020).

Beispiel

Der digitale Sprachassistent von Apple namens Siri war im Sommer 2019 bei
Nutzer:innen weltweit in Ungnade gefallen. Siri schnappte inaktiviert und ungefragt
Fragmente von Gesprächen mit medizinischen oder geschäftlichen Inhalten, mög-
liche kriminelle Aktivitäten oder auch Nutzer:innen beim Geschlechtsverkehr auf. Die
fehlerhaften Aktivierungen, bei denen die Software glaubte, die Aktivierungsworte
„Hey, Siri“ gehört zu haben, waren dabei ein brisantes Problem. Denn dabei zeichnete
das Gerät möglicherweise Sätze und Unterhaltungen auf, die nicht an Apples Sprach-
assistentin gerichtet waren. Die Analyse der auditiven Daten durch Apple wurde kurz
nach Bekanntwerden des Abhörskandals eingestellt und als Konsequenz wurden mehr
als 300 Mitarbeiter:innen des IT-Konzerns entlassen (Computerbild, 2019). ◄

Nicht nur Smartphones, sondern auch Home-Sprachassistent:innen (siehe Beispiel


Apple) oder neue Automodelle diverser Hersteller erheben und speichern eifrig Daten,
die von Unternehmen, Behörden oder durch nicht gewünschte Attacken von außen
zugänglich gemacht werden können (Der Standard, 2020) (Abb. 5.1).
Trotz der vielen Daten, die zur Verfügung stehen, verliert die Marketingstrategie im
Marketing 4.0 ihren vorausschauenden Charakter. Es ist unmöglich, die Rolle neuer
Informationsflüsse zu ignorieren und die Möglichkeit, einen Teil der Marktforschung
durch digitale Beobachtung zu ersetzen, die darauf abzielt, ausgewählte Merkmale im

Abb. 5.1 Abb. 1: Der/die Konsument:in als profunde Datenquelle


84 M. Kalteis

Kaufverhalten zu korrelieren. Im Kontext von Marketing 4.0 ist „customer community


confirmation“ ein zentrales Schlagwort. Die dahinterliegende Idee ist, dass heutige
Konsument:innen stärker sozial vernetzt sind und horizontale Gemeinschaften im
Internet schaffen. Von modernen Organisationen wird erwartet, dass sie wie Freunde
agieren und sich auf natürliche Weise an die Bedürfnisse und Wünsche der Kund:innen
anpassen. Zweifellos ist ein regelmäßiger direkter Kontakt zwischen Verbraucher:innen
und einem Unternehmen mit neuen digitalen Tools und Analysen besser möglich
(Prymon, 2022, S. 101).

5.2 Erweiterung der Beobachtung

Das Interesse an diesen unverfälschten Daten von Millionen von Menschen in den
modernen Gesellschaften ist enorm. Die Beobachtung an sich ist so alt wie die Mensch-
heit selbst (Weischer & Gehrau, 2017). Bereits im zarten Babyalter erlernt der Mensch
durch Beobachtung wie seine Welt um ihn herum funktioniert (Treml, 2002). Diese
Form des sozialen Lernens erfolgt durch wichtige Bezugspersonen, durch Bücher
und in der heutigen Zeit durch vermehrte digitale Mediennutzung (z. B. Videos am
Tabletcomputer). Als Forschungsmethode zählt die Beobachtung zu den qualitativen
Forschungsmethoden. Ihr Einsatz erfolgt über die unterschiedlichsten Wissenschafts-
disziplinen von der Medizin über die Psychologie bis hin zur Betriebswirtschaftslehre.
Eine gängige Einteilung nach Friedrichs erfolgt anhand von fünf Dimensionen (Thier-
bach & Petschick, 2019, S. 1166):

1. Verdeckt (Beobachter:in gibt sich nicht als solche/r zu erkennen)/offen (Information


über Beobachtung ist bekannt)
2. Nicht-teilnehmend (passive Teilnahme durch Beobachter:in)/teilnehmend (aktive Teil-
nahme durch Beobachter:in)
3. Systematisch (stark strukturiert)/unsystematisch (schwach strukturiert)
4. Natürlich (alltägliches Umfeld)/künstlich (z. B. im Labor im Rahmen eines
experimentellen Settings)
5. Selbstbeobachtung (Beobachter:in beobachtet sich selbst)/Fremdbeobachtung (andere
Personen werden beobachtet)

Diese Einteilung kann durch die sechste Dimension – analog vs. digital – ergänzt werden
(s. Abb. 5.2).
Die moderne Marktforschung hat sich diese neue, digitale Spielart der Beobachtung
zu eigen gemacht. Der an Fahrt aufnehmende Prozess der Digitalisierung war vor der
Corona-Pandemie in den kleinen und großen Marktforschungsinstituten im deutsch-
sprachigen Europa deutlich vernehmbar (zB IPSOS, Kantar, GfK). Die zahlreichen Ein-
schränkungen der zwischenmenschlichen Interaktionsmöglichkeiten ausgelöst durch
Corona-Schutzbestimmungen, die für zahlreiche qualitative Marktforschungsmethoden
5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung … 85

Beobachtung

nicht
verdeckt vs. systemasch vs. natürlich vs. digital vs.
teilnehmend vs. selbst vs. fremd
offen unsystemasch künstlich analog
teilnehmend

Abb. 5.2 Abb. 2: Einteilung der Forschungsmethode Beobachtung

bis zu diesem Zeitpunkt Voraussetzung waren, erleben eine Methoden-Modernisierung


durch die notwendige, rasante Umstellung der Erhebungsmethodik der qualitativen
Forschung. So ist es nicht mehr eigenartig oder abwegig, eine Fokusgruppe online via
einem datenschutzkonformen Multikommunikationsprogramm von zu Hause aus durch-
zuführen bzw. daran teilzunehmen. Zahlreiche Vorteile wie die nicht notwendige Anreise
der Proband:innen schlagen hier zu Buche. Die fehlende zwischenmenschliche Inter-
aktion kann mit ein wenig technischem Geschick und entsprechender Moderations-
leitung kompensiert werden. Zielgruppen, die davor nur schwer zugänglich waren, sind
einfacher erreichbar geworden. Lediglich ein digitales Endgerät, eine stabile Internetver-
bindung und ein wenig technisches Geschick sind vorauszusetzen. Diese Situation ist
eine für die Teilnehmer:innen bewusste Entscheidung. Sie werden zu Beginn der Online-
Fokusgruppe über die Aufnahme und Auswertung im Detail aufgeklärt, geben dazu ihre
Zustimmung und erhalten eine Gegenleistung für ihren Aufwand.

5.3 Digitale Beobachtung für Unternehmen

Sind dieselben Proband:innen als Privatpersonen mit ihrem Smartphone im Internet zum
Informationsaustausch, zu Recherchezwecken etc. unterwegs, dann haben sie diesen
Analysen ihres Nutzungsverhaltens sehr wahrscheinlich nicht zugestimmt. Mit jedem
Update der mobilen Betriebssysteme verbessern sich die Optimierungsmöglichkeiten
rund um Tracking, Datenanalyse und Privatsphären-Einstellungen. Als eine weitere
Möglichkeit der Datenanalyse steht der modernen Marktforschung Social-Media-
Listening und Social-Media-Monitoring zur Verfügung. Unter Social-Media-Listening
wird mithilfe weniger Klicks sichtbar, wie und was Konsument:innen sowie Nicht-
Nutzer:innen anlassbezogen über eine Marke in diversen Social-Media-Kanälen denken
(Digital Business Institut der Fachhochschule Oberösterreich, 2022; Reinikainen et al.,
2020). Unternehmen wie Spinklr bieten diese Analysen gestützt mittels Künstlicher
Intelligenz (KI) an (Spinklr, 2022). Bei rund geschätzten 700.000 geteilten Storys auf
Instagram, annähernd 70 Mio. gesendeten Nachrichten auf WhatsApp in einer Minute im
Jahr 2021, kann die automatisierte KI-Unterstützung bei der Auswertung hilfreich sein.
86 M. Kalteis

Social-Media-Monitoring wird im Gegensatz zu Social-Media-Listening kontinuier-


lich durchgeführt. Um über problematische Beiträge zeitnah informiert zu werden,
werden beim Social-Media-Monitoring automatische Benachrichtigungen eingerichtet.
So können Krisensituationen rechtzeitig erkannt werden (Ceyp & Scupin, 2013). Vor-
teil dieser Form der digitalen Beobachtung ist, dass diese mittels aggregierter Daten zur
Analyse des Stimmungsbildes, der Tonalität gegenüber einer Marke, einer Branche etc.
durchgeführt wird, und somit Datenschutzbedenken ausgeräumt werden können.
Mit Spannung darf das neu entstehende Metaverse betrachtet werden (Wired, 2022).
Da in dieser digitalen Second World jegliche Nutzung, Markenkontakt, Austausch mit
anderen Avataren bis ins kleinste Detail nachvollzogen und analysiert werden kann, ist
das eine überaus interessante Spielwiese und kann als virtuelles Echtzeitlabor sowie
Testmarktsituation von Unternehmen genutzt werden. Große Marken wie H&M oder
Adidas kaufen sich derzeit in das Metaverse ein und statten neuankommende Avatare
mit digitaler Fashion gegen Entgelt – meist in Form von gängiger Kryptowährung –
aus (Handelsblatt, 2022). Weiters finden im Metaverse Kund:innengespräche statt,
Nutzer:innen können Außenwerbemaßnahmen betrachten, und Unboxing-Events von
namhaften Unternehmen wie Amazon werden inzensiert (Trend One, 2022).

Beispiel

Metaverse-Pressekonferenz: Österreichs erster hybrider Presseevent der Öster-


reich Werbung, bei dem sich die Gäste auch via VR-Brille ins Geschehen einklinken
konnten, lieferte erste Metaverse-Vibes. Der „Einstieg“ in diese neue Welt erfolgt über
Virtual-Reality-Brillen. Nach dem Event ist ein Austausch unter Kolleg:innen eben-
falls im Metaverse möglich (Der Standard, 2022; Internet World Austria, 2022). ◄

5.4 Grenzen des Homo Digitalis

Wie bisherige Erfahrungen bei Chance-Management-Projekten in Unternehmen


gezeigt haben, gibt es meist zwei Kategorien an direkter Reaktion auf Neuerungen:
Befürworter:innen und Ablehner:innen von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem
Wandel. Besonders der Megatrend der Digitalisierung bietet beiden Akteursgruppen eine
breite Bühne. So genannte Transhumanisten bilden die Speerspitze des ‚Homo Digitalis‘
(Capurro, 2017), streben die reale körperliche Verbindung zwischen Technik in Form
von transplantieren Sensoren für z. B. die Öffnung der Wohnungstüre, der Büroräumlich-
keiten an und finden sogar den Upload ihres Selbst ins Internet nicht befremdlich – frei
nach dem Motto „Fortschritt um des Fortschritts willen“. Die andere Seite des Spektrums
– die Social-Media-Askese – lehnt jeglichen technischen Fortschritt in Verbindung mit
dem World Wide Web ab. Mobiltelefone ohne Internetzugang sind für diese Klientel
der alltägliche Begleiter. Straßenkarten anstelle von Google Maps oder alternativen
Navigations-Apps kommen zum Einsatz, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung … 87

Beide erwähnten Positionen zur Digitalisierung sind als extrem in ihrer Auslegung
anzusehen. Fakt ist, dass stetig mehr Menschen ihren digitalen Konsum hinterfragen
und ihre Privatsphäreneinstellungen regelmäßig überprüfen. Dazu beigetragen haben
nicht zuletzt Aktivisten wie Max Schremser oder der weltbekannte Whistleblower
Edward Snowden (Nocun, 2018). Sensible Daten wie Gesundheitsdaten sind für Unter-
nehmen, Arbeitgeber:innen und Gesundheitsbehörden sehr wertvoll und aus diesem
Grund besonders schützenswert, da es medizinisch sowie technisch möglich ist, von Ver-
sicherten gezeigte Verhaltensweisen als Risikofaktoren auf spätere Erkrankungen sowie
körperliche Komplikationen zu berechnen und entsprechend einzupreisen (Nocun, 2018).

Beispiel

Ausgewählte deutsche Krankenkassen unterstützen ihre Versicherungsnehmer:innen


finanziell beim Ankauf von Smartwatches und belohnen definierte Leistungsziele
(z. B. zurückgelegte Schritte pro Tag) mit Prämiengutschriften (Krankenkassen.de,
2022). ◄

Digitale Ethik beschäftigt sich als junge Forschungsdisziplin mit diesen Überlegungen
und analysiert die Möglichkeiten für menschliche Digitalisierung der heutigen sowie
zukünftigen Gesellschaft oder in den Worten von Spiekermann ausgedrückt „menschen-
gerechter Fortschritt durch Werteethik“ (2019, S. 36). In diesem Zusammenhang wird
der Begriff des „Technologie-Paternalismus“ von Pallas geprägt, der darauf hinweist,
dass technische Systeme bevormunden können, wo sie ihre Nutzer:innen vorgeblich
schützen (z. B. Pkw-Sicherheitsgurt meldet sich bei Nicht-Angurten, vermeintliche
Datenschutzeinstellungen einer mobilen App) (iRights, 2014).

Fazit

Dieser Beitrag dient dem Überblick der Forschungsmethode Beobachtung, erweitert


durch die digitale Komponente, die spätestens seit der weltweiten Covid19-Pandemie
Aufschwung unter Betriebs- und Institutsmarktforscher:innen findet. Vorteile wie KI-
gestützte Datenauswertung, scheinbar unendliche Verfügbarkeit von auswertbaren
Daten im Internet durch User generated Content in den sozialen Netzwerken machen
die digitale Beobachtung zu einem spannenden Anwendungsfeld der modernen
Marktforschung. Nicht zu vernachlässigen ist es, die Privatsphäre jedes/r Nutzer:in
zu respektieren und sensible Daten ausschließlich mit deren ausdrücklichen Ver-
arbeitungserlaubnis als Informationsquelle zu nutzen. In diesem Zusammenhang wird
der Ruf nach einem humanistischen Ansatz der Digitalisierung laut.
88 M. Kalteis

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Prof. Dr. Marion Kalteis ist seit 2018 an der IU Internationale Hochschule als Professorin
für Marketing tätig und hält Vorträge im In- und Ausland. Konzernstrukturen und
Großraumatmosphäre sind ihr nach jahrelanger Tätigkeit in zentralen Marketing-Positionen
bestens vertraut. Auch die Vortragstätigkeit an Fachhochschulen und Universitäten begleitet sie
seit mehr als sechs Jahren regelmäßig. Besonders das Thema Corporate Social Responsibility und
Market Research stehen im Fokus ihrer Forschung.
Digitale Transformation der
Umfrageforschung 6
Tanja Zweigle  

Zusammenfassung

Die Digitalisierung hat die Umfrageforschung in den letzten 20 Jahren radikal ver-
ändert. Das betrifft nahezu alle Teile der Wertschöpfung entlang des Forschungs-
prozesses. Einige Prozessschritte sind bereits so erfolgreich automatisiert (z. B.
Qualitätsmanagement bei Online-Panels, Datenanalyse und -aufbereitung in
Dashboards), dass eine Do-it-Yourself-Marktforschung für Nicht-Marktforscher:innen
möglich ist. Die Datenerhebung von Umfragen sollte sich stets am üblichen
Kommunikationsverhalten der Konsument:innen orientieren. Daher wird der App-
basierte Mobile-Research immer wichtiger. Potenziale zeigen sich auch im Voice-
Assisted-Interview, das über Sprachassistenten wie Alexa oder Siri Umfragen
durchführt. Darüber hinaus gibt es interessante auf Basis selbstlernender Systeme
basierende Methoden, die sich zwar derzeit noch in der Erprobungsphase befinden,
die allerdings die Umfrageforschung künftig stark verändern könnten (z. B. Einsatz
von Bots bzw. Avataren, KI-basierte Textanalysen).

6.1 Einleitung

Die Art und Weise, wie Unternehmen Umfrageforschung durchführen, hat sich in den
letzten beiden Jahrzehnten radikal verändert. Das betrifft nahezu alle Teile der Wert-
schöpfung entlang des klassischen Marktforschungsprozesses. Anhand der Dimensionen

T. Zweigle (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 91


Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_6
92 T. Zweigle

„Preis“ und „Zeit“ lassen sich deutlich die Folgen für die Marktforschungsbranche
erkennen: Befragungsergebnisse werden heute ein Vielfaches schneller und zu
deutlich geringeren Preisen als früher zur Verfügung gestellt. Die Prozesse sind
derart standardisiert und automatisiert, dass oft Unternehmen kein klassisches Markt-
forschungsinstitut mehr beauftragen (müssen), sondern die Befragungen in Eigenregie
mit Do-it-Yourself-(DIY)-Softwarelösungen durchführen. Chancen und Risiken der
Automatisierung von Umfragen sind aber wesentlich weitreichender als die Effekte,
die sich aus einer Standardisierung ergeben. Daher wird nachfolgend entlang des
Forschungsprozesses für Befragungen aufgezeigt, wo und wie die Digitalisierung die
einzelnen Forschungsschritte bereits transformiert hat oder weiter transformieren wird.
Ferner wird auf die derzeit am häufigsten eingesetzte Befragungsform, die Online-
Marktforschung, und deren Entwicklung eingegangen. Ein besonderes Augenmerk wird
auf den Methodenmix gelegt, der daraus resultiert, dass anstelle des stationären Desk-
tops immer öfter die Online-Befragungen über mobile Smartphones beantwortet werden.
Hieraus ergibt sich eine weiterführende Diskussion zum Thema Mobile-Research und
zwar dahingehend, wie Research-Applikationen (Apps) für das Smartphone gestaltet
sein sollten, die über den App-Store von Panelisten hochgeladen werden können.
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Umfrageforschung sind ferner die
verschiedenen Softwarelösungen zu berücksichtigen, die dazu dienen, die Arbeit der
Marktforscher:innen effizienter zu gestalten und/oder die Datenqualität zu erhöhen.
Neben automatisierten Prozessen sind es vor allem die selbstlernenden KI-Systeme,
die künftig die Umfrageforschung weiter revolutionieren werden. Beispiele hierfür sind
Tools zur automatisierten Textanalyse, Sentimentsanalyse, Emotionsmessung oder auch
Chatbots bzw. Avatare, die einfache Interviewtätigkeiten selbstständig durchführen.
Mit VAI (Voice-Assisted-Interviews) steht bereits eine weitere Befragungsform in
den Startlöchern, welche die bisherigen computergestützten Befragungsformen CATI
(Computer-Assisted-Telephone- Interviews), CAPI (Computer-Assisted-Personal-
Interviews), CAWI (Computer-Assisted-Web-Interviews) bzw. Online-Interviews sowie
App-Interviews ersetzen oder ergänzen wird.

6.2 Ausgangssituation: Entwicklung der Umfrageforschung

Die Anfänge der Digitalisierung in der Umfrageforschung finden sich in den 1990iger
Jahren mit den computergestützten telefonischen (CATI) und persönlichen (CAPI)
Befragungen. Kennzeichnend für diese Form der Interviews ist, dass mensch-
liche Interviewer:innen Fragen aus dem Computer vorlesen und die Antworten direkt dort
eingeben. Hierdurch können komplexe Fragebogenabläufe wie beispielsweise Filter-
führungen umgesetzt werden. Zugleich stehen die Daten direkt nach der Erhebung in
maschinenlesbarer Form zur Verfügung (Wübbenhorst, 2018). CAWI bzw. Online-
Befragungen, die ebenfalls computergestützt erfolgen, ermöglichen vergleichsweise
günstige und schnelle Befragungen, da keine Interviewer:innen benötigt werden und die
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 93

QUANTITATIVE INTERVIEWS NACH


BEFRAGUNGSART IN DEUTSCHLAND
Persönliche Interviews Telefoninterviews Schriliche Interviews
Online-Interviews Befragungen per Mobile App

3% 1%
10% 6%
13%
22%
22%
38% 34%
22% 30% 9%
49%

6% 8%
41%
45%
33% 7%
35%
65%
60%
22%

34%
24% 21% 24%
17%

1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020

Abb. 6.1 Quantitative Interviews nach Befragungsart in Deutschland. (Quelle: ADM, 2021)

Rekrutierung der Befragten meist über sogenannte Online-Access-Panel stattfindet. Ein


Online-Access-Panel besteht aus einem Pool von Menschen, die sich bereit erklärt haben,
an Umfragen teilzunehmen. Aus dem Gesamtpool dieser sogenannten Panelisten werden
spezielle Zielpersonen ausgewählt und zur Teilnahme an bestimmten (Online)-Befragungen
eingeladen.
Methoden der Umfrageforschung entwickelten sich parallel zum Fortschritt der ver-
schiedenen Informationstechnologien. Als fast jeder Haushalt in Deutschland einen
Telefonanschluss in den 1990iger Jahren hatte, wurden bis Mitte der 2000er Jahre tele-
fonische Interviews die dominierende Befragungsform. Infolge der Substitution der
Festnetzanschlüsse durch mobile Anschlüsse geht seit einigen Jahren der Ausstattungs-
grad der deutschen Haushalte mit Festnetzanschluss zurück (von 96 % in 2000 auf
84 % in 2021) (Statistisches Bundesamt, 2021). Wie in Abb. 6.1 ersichtlich, wurde mit
der Etablierung des Internets die Telefonbefragung zunehmend durch Online-Umfragen
abgelöst (ADM, 2021). Im Jahr 2020 wurde bereits die Hälfte aller quantitativen
Umfragen der ADM-Mitglieder1 mittels Onlineinterviews durchgeführt. Telefonische
Interviews sind hingegen rapide zurückgegangen und betrugen 2020 nur noch 22 %. Ein

1 Dabeihandelt es sich um alle Marktforschungsinstitute, die dem Arbeitskreis Deutscher Markt-


und Sozialforschungsinstitute (ADM) angehören.
94 T. Zweigle

Grund hierfür sind neben der rückläufigen Entwicklung von Festnetzanschlüssen auch
die abnehmende Akzeptanz von spontanen Telefonbefragungen in der Bevölkerung. Die
Zukunft der quantitativen Umfrageforschung scheint in der Befragung per Mobile App
zu liegen. Auch wenn ihr Anteil in 2020 lediglich bei 6 % lag, besaßen 2021 immerhin
fast 90 % der Deutschen (Statista, 2021) ein Smartphone.
Die Etablierung des Smartphones als Kommunikationsgerät Nummer eins der
Konsument:innen hat auch einen erheblichen Einfluss auf die derzeit gängigste
Befragungsform der Online-Umfrage. Immer mehr Personen nehmen an den Online-
Umfragen mit mobilen Endgeräten und weniger mit dem klassischen Desktop oder
Laptop teil (Theobald et al., 2018, S. 18). Dieses trifft nicht nur für junge Generationen
zu, sondern auch für Altersgruppen über 50 Jahre (Vitt & Friedrich-Freska, 2018, S. 33).
Der Online-Panel-Anbieter CINT weist aus, dass im Zeitraum April bis Juni 2021 die
über CINT in Deutschland durchgeführten Umfragen zu 56 % über Desktop, zu 40 %
über Smartphones und zu 4 % über Tablets beantwortet wurden (Cint, 2021).
Infolge der Automatisierung des Marktforschungsprozesses bieten viele
Marktforschungsdienstleister DIY-Plattformen an, über die Unternehmen selbst Umfragen
ins Panel einpflegen können – ohne Zuhilfenahme von Marktforschungsexpert:innen
(Hedewig-Mohr, 2018). Mit Baukastensystemen werden vordefinierte Fragetypen, Frage-
texte, Antwortkategorien etc. angeboten. Viele DIY-Tools verfügen über Schnittstellen zu
Online-Panelanbietern, sodass Unternehmen zugleich eine spezifische Zielgruppenaus-
wahl anhand bestimmter Merkmale eigenständig vornehmen können. DIY-Befragungen
sind seit Jahren auf dem Vormarsch. Laut einer Studie werden im Jahr 2022 bereits 50 %
aller Forschungsprojekte intern in den Unternehmen durchgeführt und an kein klassisches
Marktforschungsinstitut vergeben (Müßigmann, 2020).
Chancen und Risiken, die sich für die Marktforschungsbranche aus der Auto-
matisierung und der DIY-Marktforschung ergeben, wurden bereits 2016 intensiv dis-
kutiert (Poynter & Murphy, 2016). Tab. 6.1 fasst die Erkenntnisse zusammen.
Die skizzierte Entwicklung der Umfrageforschung hat erheblichen Einfluss auf das
magische Dreieck der Marktforschung mit seinen Dimensionen Zeit, Kosten und Quali-
tät. Infolge der Digitalisierung sind Zeit und Kosten für die Durchführung von Markt-
forschungsstudien deutlich gesunken. Umfragen können deutlich effizienter als vor
20 Jahren durchgeführt werden. Allerdings muss nun ein besonderes Augenmerk
auf die Qualität der Umfragedaten gelegt werden. Dieses ist umso wichtiger, da viele
Beteiligte auf dem Markt der Umfrageforschung zu finden sind, deren Kernkompetenzen
eher in der technologischen Umsetzung von Softwarelösungen liegen und weniger in
der institutionellen klassischen Marktforschung. Gleichzeitig führt diese Entwicklung
zu einem erheblichen Preisdruck bei klassischen Marktforschungsinstituten und dort
zu Kompromisslösungen, die ihrerseits wieder kritisch von Unternehmen, die Markt-
forschung betreiben, gesehen wird (Thunig, 2020, S. 38).
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 95

Tab. 6.1  Chancen und Risiken der Automatisierung für die Marktforschungsbranche


Chancen der Automatisierung Risiken der Automatisierung
Research wird günstiger und schneller Automatisierung bedeutet Veränderung, die
Ermöglicht Forscher:innen, sehr große Daten- nicht jeder möchte (z. B. Abnehmer:innen von
mengen zu verarbeiten Marktforschungsleistungen)
Mehrere Kundendatenquellen können Automatisierung kann dazu führen, einfache
zusammengeführt werden (z. B. Verhaltens- Wahrheiten zu berichten, nicht die wichtigsten
und Befragungsdaten) Künstliche Intelligenz (KI) könnte große
Marktforscher:innen werden von Routinetätig- Teile der derzeitigen Automatisierung künftig
keiten entlastet und haben mehr Zeit für Ana- ersetzen
lyse, Insightgenerierung und Beratung Die „Mentalität der Kostenreduzierung“ könnte
Ermöglicht mehr evidenzbasierte Ent- sich auf Aufgaben ausweiten, die ohne Auto-
scheidungen bei geringeren Kosten matisierung auch künftig besser funktionieren
Kleine und mittelständische Unternehmen Wenn Einkäufer:innen von Forschung durch
können sich eigenen Research leisten KI-Systeme ersetzt werden, verliert der
Entwicklung von Forschungsansätzen, die Mensch bei der Bereitstellung von Research an
an das veränderte Konsumentenverhalten Bedeutung
anknüpfen (z. B. App-basierte Ansätze) Möglichkeit, dass ein marktbeherrschendes
„Abgespeckte Studien“ zu niedrigeren Preisen Unternehmen auftritt und den Markt verzerrt
oder Abo-Modelle können angeboten werden (ähnlich Google für Onlinewerbung)
Der Lebenszyklus einiger neuer automatisierter
Tools kann zu kurz sein, um damit Geld zu
verdienen
Quelle: in Anlehnung an Poynter und Murphy (2016, S. 8–9)

6.3 Digitalisierung des Forschungsprozesses

Die Wertschöpfung der Umfrageforschung entsteht entlang des klassischen Forschungs-


prozesses. Dieser lässt sich in sechs Schritte (sechs Ds) zerlegen, die unterschiedlich
stark von der Digitalisierung betroffen sind (in Anlehnung an Hammann & Erichson,
1990, S. 26; Magerhans, 2016, S. 5):

1. Definition des Problems (Informationsbedarf festlegen, Forschungsziel definieren)


2. Design der Befragungsstudie (Forschungsplan entwickeln)
3. Datenerhebung (Informationsbeschaffung)
4. Datenanalyse und -auswertung (Informationsverarbeitung)
5. Datenaufbereitung und Dokumentation der Ergebnisse (Informationssynthese)
6. Decision (Informationsverwendung)

Während die Schritte 1, 2 und 6 derzeit weitestgehend durch den Menschen selbst
erfolgen, zeigt sich die Auswirkung der Digitalisierung insbesondere in den Schritten 3 bis
5. Daher wird hierfür der Einfluss der Digitalisierung nachfolgend spezifischer aufgeführt.
96 T. Zweigle

6.3.1 Auswirkungen der Digitalisierung auf die Datenerhebung

Die Hälfte aller Umfragen wird derzeit online durchgeführt (siehe Abb. 6.1). Damit
sind Online-Interviews die mit Abstand bevorzugte Befragungsart. Sie sind mithilfe
von Online-Access-Panels schnell durchführbar, vergleichsweise günstig pro erhobener
Stimme und können Multimedia-Elemente im Fragebogen berücksichtigen.

River-Sampling zur Optimierung der Stichprobenausschöpfung


Felddienstleister sind gefordert, ihre Position in Zeiten voranschreitender Auto-
matisierung zu behaupten. So haben die Anforderungen an das Panelmanagement, an
die Stichprobenauswahl, an das Feldmanagement sowie an das Datacleaning erheb-
lich zugenommen und werden ständig weiter optimiert. Standard für das klassische
Online-Panel ist die Rekrutierung des Samples über Quotenstichprobe: potenzielle
Teilnehmer:innen werden über eine E-Mail-Einladung anhand festgelegter Quoten der
Zielgruppe kontaktiert. Der Vorteil ist, dass Panelisten nur in bestimmten zeitlichen
Abständen zu einzelnen zielgruppenrelevanten Online-Studien eingeladen werden
(Vitt & Friedrich-Freska, 2018, S. 34–35). Das sogenannte River-Sampling ermöglicht,
die Ausschöpfung der Stichproben zu optimieren. Das bedeutet, dass bei erfolgreicher
Teilnahme der Panelisten an der Umfrage, diese die Möglichkeit haben, falls sie auf-
grund nicht erfüllter Auswahlkriterien „ausgescreent“ wurden, sofort an einer weiteren
Befragung teilzunehmen. Dieses Verfahren ist nicht nur für den Panelanbieter von Vor-
teil, sondern auch für die Panelisten. Letztere sind nicht (mehr) frustriert, dass sie aus
der Stichprobe gefallen sind und werden so motiviert, das nächste Mal auch wieder an
der Umfrage teilzunehmen. Kritisch wird allerdings gesehen, dass hierdurch Panelisten
wie am Fließband an einer Vielzahl von Online-Befragungen teilnehmen (Hellwig, 2016,
S. 107).

Automatisiertes Qualitätsmanagement der Onlinepanel-Dienstleister


Neben der Stichprobenziehung ist das Qualitätsmanagement bei der Feldarbeit der
Paneldienstleister von großer Bedeutung. Automatisierte Qualitätskontrollen helfen
menschliche Fehler zu vermeiden und systematische Fehler aufzudecken. So lassen sich
Betrugsfälle in einer Online-Stichprobe durch neue technische Möglichkeiten relativ
gut erkennen und herausfiltern. Falsche Angaben der Teilnehmer:innen, die alles daran-
setzen, an möglichst vielen Panels und Umfragen teilzunehmen, um Geld zu verdienen,
werden von KI-basierten Systemen identifiziert. Der Paneldienstleister Dynata bei-
spielsweise hat sich zum Ziel gesetzt „bei jeder Interaktion mit einem Teilnehmer, bei
jedem Touchpoint, umfassende Daten zur Prüfung der Reputation zu erheben“ (Müller-
Lessmann, 2021).
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 97

Beispiel: Automatisierte Qualitätsprozedur bei Dynata

• Bei der Registrierung von Panelisten erfolgen verschiedene automatisierte


(Plausibilität-)Kontrollen. So werden die technischen Parameter des digitalen
Fußabdrucks (IP Adresse, Browsertyp, Typenbezeichnung der Devices etc.) sowie
Logik und Konsistenz von Antworten mittels KI-basierter Methoden (z. B. das
Antwortverhalten in Bezug auf offene Fragen) überprüft.
• Die bei der Registrierung der Panelteilnehmer:innen durchgeführten Kontrollen
werden bei der Einladung zu neuen Umfragen wiederholt sowie um weitere
digitale Fußabdrücke und Geokoordinaten ergänzt. So kann beispielsweise jemand
ausgeschlossen werden, der an einer Umfrage in München und an einer anderen
10 min später in Hamburg teilnimmt.
• Während der Umfrage werden weitere qualitätssichernde Maßnahmen durch-
geführt, um das Verhalten der Befragten zu analysieren und betrügerisches Ver-
halten aufzudecken. Automatisch analysiert werden Aspekte wie ein zu schnelles
Durchklicken der Befragung (Speeding), der generelle Umgang mit offenen
Fragen sowie das gleichförmige, unüberlegte Beantworten von skalierten Fragen
(Straightlining).

(Quelle: in Anlehnung an Müller-Lessmann, 2021) ◄

Diese Qualitätschecks werden umso wichtiger, je mehr verschiedene Online-Panels für


eine Umfrage herangezogen werden, wie es etwa bei niedrigen Inzidenzen von Ziel-
gruppen der Fall sein kann (Stokes, 2021).

Neue Fragetypen durch computergestützte Fragebögen


Computergestützte Fragebögen bieten viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten als analoge
Papierfragebögen. Die technischen Möglichkeiten sind sehr vielfältig: Bild-, Audio- und
Textdateien können Umfragen sehr ansprechend für die Befragten gestalten, beispielsweise
in Form von animierten, grafischen Skalen. Benutzerfreundlich sind auch Wischfragen, die
durch die Touchtechnologie möglich wurden. So können beispielsweise durch einfaches
Wischen Bilder oder Markennamen sortiert werden. Smartphones und Tablets bieten
darüber hinaus die Möglichkeit des Einsatzes von sogenannten Bewegungsfragetypen. Mit
Hilfe der technischen Einheit „Gyroscope“ werden Bewegungen der Geräte gemessen und
es wird ermittelt, ob das Gerät bewegt wird, wenn ja, in welche Richtung und mit welcher
Geschwindigkeit. Die Marktforschung nutzt diese Technik unter dem Begriff GyroScale.
Diese Wackeltechnik wird für verschiedene grafische Skalen verwendet und Befragte
wackeln sich mittels Links-, Rechts-, Oben- und Unten-Bewegungen durch die Antworten
(Lütters, 2018, S. 81–82). Vor allem Zielgruppen, die das Gaming gewohnt sind, können
mittels dieser innovativen Befragungsform zur Teilnahme an der Umfrage motiviert
werden.
98 T. Zweigle

6.3.2 Digitale Datenanalysetools

In der Marktforschung erfolgt bereits seit Jahrzehnten die Analyse quantitativ erhobener
Daten, also das Data Mining, computerunterstützt. Programme wie SPSS oder R, die
eine benutzerfreundliche Oberfläche aufweisen, führen komplexe Analysen vergleichs-
weise einfach und schnell durch. Einfache Analysen sind bereits mit dem allgegen-
wärtigen Microsoft-Standardprogramm Excel möglich.
Vergleichsweise viele Innovationen gab es in den letzten Jahren aufgrund der
exponentiell steigenden Rechenleistungen und Speicherkapazitäten von Computern
in der Analyse von Informationen mithilfe der Künstlichen Intelligenz. Hierbei geht
es um die Automatisierung von Entscheidungsprozessen, die auf neuronalen Netzen
und Algorithmen beruhen, um aus Entscheidungen zu lernen. Durch diese Techno-
logie können Systeme die menschliche Intelligenz nachahmen und langfristig eigen-
ständige Lösungen ableiten. In der Umfrageforschung helfen Algorithmen den
Marktforscher:innen bei aufwendigen, standardisierten Aufgaben, bei denen der Mensch
alleine weniger gut zurechtkommt bzw. sehr viel Zeit hierfür aufwenden müsste.
Algorithmen sind in der Lage, diese Tätigkeit schneller, zuverlässiger und teilweise
intelligenter durchzuführen (Engel, 2021a).

Speech2text- und Text2speech-Verfahren


Eine Entwicklung betrifft die automatische Auswertung von gesprochenen Texten, das
sogenannte Speech2text-Verfahren. Gesprochene Texte werden direkt in geschriebene
Texte übertragen, die dann ihrerseits automatisch geclustert und ausgewertet werden
können. Problematisch sind hier allerdings die derzeit noch bestehenden Qualitätsver-
luste in der automatischen Auswertung, wenn beispielsweise das Speech2text-Verfahren
die Sprache aufgrund von Dialekten, undeutlichem Sprechen oder Nebengeräuschen
nicht richtig erfassen kann. Eine Übereinstimmung von 80 % gilt als qualitativ gute
Speech2text-Übertragung. Das bedeutet, dass von 100 gesprochenen Wörtern 80 Wörter
richtig als Text wiedergegeben werden (Gapfish et al., 2019). Vergleichsstudien zeigen,
dass Sprachnachrichten zu mehr Informationen als eingetippte Nachrichten führen und
damit als qualitativ bessere Informationsquelle für die Datenanalyse zu bewerten sind
(Lütters & Friedrich-Freska, 2018). Ein Grund hierfür ist, dass auch Zielgruppen, die
sich in der schriftlichen Äußerung nicht wohlfühlen, mittels des gesprochenen Wortes
ihre Meinung offener und spontaner preisgeben.
Den umgekehrten Weg geht das Text2speech-Verfahren. Hier werden Textdateien in
Audiodateien (künstliche Computerstimmen) transformiert. Werden beide Verfahren
gemeinsam eingesetzt, dann können Chatbots auch als interaktive, intelligente Sprach-
assistenten fungieren. Mit der zunehmend steigenden Computerleistung ist davon aus-
zugehen, dass Chatbots künftig als virtuelle persönliche Assistenten autonome Dialoge
führen und als Avatare eingesetzt werden können. Beide Richtungen, von Sprache zu
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 99

Text sowie von Text zu Sprache, sind daher für die Umfrageforschung in Bezug auf den
Einsatz von Avataren äußert interessant (Zweigle, 2021, S. 173).

Automatisierte Übersetzungssoftware
Ein weiterer Nutzen der Automatisierung ergibt sich aus der Übersetzungssoftware. So
werden Tools wie Google Übersetzer oder deepl.com für Mehrländerstudien eingesetzt,
um vergleichende oder aggregierte Daten auszuwerten. Kritisch ist allerdings beim
automatisierten Übersetzen von umfangreichen Texten anzumerken, dass sprachliche
Feinheiten oder geäußerte Emotionen von der Übersetzungssoftware oft nicht zufrieden-
stellend erkannt werden. Daher empfiehlt sich, die automatisierte Übersetzung eher
als Gerüst im Sinne von „Top-Lines“ für die Auswertung heranzuziehen (Appleton &
Haehling von Lanzenauer, 2019).

Automatisiertes Coding offener Antworten (Text Mining, Semantic Mining)


Automatisierte Datenauswertung stellt für geschlossene Fragen mit festgelegten
Antwortkategorien kein Problem dar. Sobald allerdings offene Fragen in der Umfrage-
forschung zum Einsatz kommen, wird die Datenauswertung aufwendig und teuer.
Daher wird der automatischen Auswertung freier Antworten viel Effizienzpotenzial
zugesprochen. In der Praxis werden die zu analysierenden Texte meist nur durch das
Auszählen von Worthäufigkeiten, z. B. Wörterwolken, geclustert. Herausfordernd wird
die automatische Datenerfassung bei der computergestützten qualitativen Textanalyse
wie beim Tool MAXQDA, das zwar bei der Koordinierung und Strukturierung der
Textstellen helfen kann, die eigentliche Denkarbeit der inhaltlichen Kategorienbildung
müssen aber die Marktforscher:innen selbst erbringen (Kirchmair, 2020, S. 219). Die
automatisierte Textanalyse bzw. das Text Mining geht darüber hinaus und erkennt
mittels KI-Auswertungssoftware Muster und analysiert die Texte selbstständig. Das
funktioniert allerdings nur, wenn im Vorfeld Textklassifizierungsalgorithmen vom
Forschenden festgelegt wurden. In Ergänzung zur syntaktischen Information der
Textanalyse wird zusätzlich das kontextuelle Wissen, also die Bedeutung von Text-
elementen, bei der Analyse berücksichtigt. So soll beispielsweise automatisch vom
System erkannt werden, ob es sich im Kontext beim Wort „Golf“ um eine Sportart
oder aber um ein Automodell von VW handelt (Zweigle, 2021, S. 176). Noch einen
Schritt weiter geht das Semantic Mining. Hier werden Stimmungen bzw. emotionale
Aussagen, die in Texten von den Befragten ausgedrückt werden, automatisch erkannt,
indem die Texte anhand der verwendeten Wörter vom System als positiv, negativ oder
neutral bewertet werden (Grünwald, 2019). Grundlage hierfür ist ein Wörterbuch, in
dem jedes Wort entweder der Kategorie negativ, positiv oder neutral zugeordnet ist.
Automatisierte Sentimentsanalysen werden nicht nur auf Basis von Texten, sondern
auch mittels Bildern oder Videofrequenzen durchgeführt (Schleier & Held, 2019,
S. 128–136).
100 T. Zweigle

Automatisierte Emotionsanalyse: Affective Computing


Seitdem es Computerunterstützung in der Auswertung gibt, wird von Forschenden ver-
sucht, auch die Emotionen mittels apparativer Verfahren automatisiert zu erfassen und
auszuwerten. Die Forschungsdisziplin hierfür heißt Affective Computing. Sie beschäftigt
sich mit Softwarelösungen, die menschliche Emotionen wahrnehmen, interpretieren,
nachvollziehen und simulieren können. In der Forschungspraxis bereits erfolgreich ein-
gesetzte automatisierte Emotionsanalysen sind Facial Coding, also das Erkennen der
Emotionen anhand der Mimik, sowie Voice Recognition, das Erkennen der Emotionen
anhand der Stimmlage.
Das Facial Coding basiert auf dem von Ekman bereits in den 1970er Jahren ent-
wickelten Facial Action Coding System (FACS), das die emotionalen Basisdimensionen
in Gesichtern der Menschen erkennen kann (Schnabel, 2016). Softwaresysteme erfassen
automatisch die Mimik der Menschen und übersetzen diese in die zuvor definierten
Basisemotionen. Angewendet wird das Verfahren vor allem, um spontane Reaktionen
auf Werbemittel oder Produkte zu messen. Viele Marktforschungsinstitute bieten Facial
Coding bereits standardmäßig für Werbepretests an. Einen Schritt weiter geht das Unter-
nehmen Hyve: Es verfügt über eine KI-gesteuerte Emotionssoftware namens Tawny,
die Maschinen „empathisch“ macht. Der Algorithmus kann die Herzfrequenz eines
Befragten auf Basis von Videoaufnahmen des Gesichts bestimmen und in sein Modell
integrieren. Das System findet Anwendung bei Produkttests, explorativen Interviews
oder in Customer-Journey-Analysen (Bilgram & Füller, 2020).
Eine weitere Möglichkeit, die Emotionen der Befragten zu messen bietet Voice
Recognition. Die Stimme sagt viel über den Sprechenden aus (Sendlmeier, 2012;
Wolfangel, 2018). Das Unternehmen Audeering beispielsweise hat eine Software ent-
wickelt, die Tonhöhe, Klangfarbe, Betonung, Sprachrhythmus usw. der Befragten ana-
lysiert. Mit Hilfe dieser Informationen kann das Tool automatisiert Alter, Geschlecht und
mehr als 50 verschiedene emotionale Zustände von befragten Personen identifizieren
(Körbel, 2019). Marktforscher:innen benutzen Voice Recognition zur Emotionsanalyse
bei Werbemitteltests. Kritisch anzumerken ist, dass die fehlenden Nutzungsmöglich-
keiten von Mikrophonen sowie die geringe Teilnahmebereitschaft der Befragten bisher
zu keinen repräsentativen Ergebnissen führen konnten.
Abschließend ist festzuhalten, dass Stimmaufzeichnungen also für zwei verschiedene
automatisierte Analyseverfahren eingesetzt werden können: sowohl für die Textana-
lyse zur inhaltlichen Klassifizierung des Gesagten als auch zur Emotionsanalyse, um zu
erkennen, wie die oder der Befragte das Gesagte tatsächlich empfindet.

6.3.3 Automatisierte Datenaufbereitung und Dokumentation

Automatisierte Reportings und Dashboards sind für standardisierte Umfragen bereits


State of the Art. Viele Marktforschungsunternehmen bieten ihren Kund:innen eigene
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 101

Online-Reporting-Portale (Plattformen) an, in welche die erhobenen Daten automatisch


und oft in Echtzeit eingepflegt und vom Auftraggeber der Studien aufgerufen werden
können.
Bei der Visualisierung der Daten besteht die Herausforderung der
Marktforscher:innen darin, über standardisierte Balken-, Säulen- und Tortendiagramme
hinauszugehen und diese durch Storytelling zu veredeln. Zielsetzung ist hier, dass Ent-
scheider schnell die visualisierte Aussage der Umfrageergebnisse erfassen und ver-
stehen können, um darauf aufbauend richtige Entscheidungen zu treffen. Disziplinen, die
hier erforderlich sind und in vielen Unternehmen noch fehlen, betreffen Informations-
design und Datenjournalismus (Engel, 2021b). Diese sind insbesondere auch vor dem
Hintergrund einer zunehmenden „Demokratisierung“ der Marktforschungsdaten in
Unternehmen wichtig. Immer mehr Abteilungen bekommen Zugriff auf digitale Studien-
ergebnisse und müssen mit den Dateninformationen, die ihnen im System angeboten
werden, selbstständig arbeiten (Müßigmann, 2020).

6.4 Trends in der Umfrageforschung

Im Folgenden werden die Bereiche konkreter ausgeführt, die aufgrund der digitalen
Transformation der Umfrageforschung auch in Zukunft die Marktforschungs-
branche weiter verändern. Denn DIY-Plattformen werden sich weiter etablieren,
mobile Befragungen weiter auf dem Vormarsch sein und digitale Sprachassistenten
in Form von Chatbots oder Avataren als Alternative oder Ergänzung zu menschlichen
Interviewer:innen eingesetzt.

6.4.1 Do-it-yourself-(DIY)-Umfragen etablieren sich

Seit 1999 bietet die Umfrage-Plattform Survey Monkey jedem die Möglichkeit, digitale
Umfragen selbst zu erstellen und diese an eine selbst definierte und selbst rekrutierte
Zielgruppe zu schicken. Lange Zeit galten diese DIY-Befragungssoftwarelösungen in
der Marktforschungsbranche als „billig und zweitklassige Alternative“ (Hedewig-Mohr,
2018). Die neuesten Entwicklungen der DIY-Anwendungen allerdings bieten neben der
reinen Befragung nahezu den gesamten Forschungsprozess an, indem sie standardisierte
Befragungen mit professionellen Online-Access-Panels verbinden. Interessant ist, dass
nicht nur DIY-Softwarelösungsanbieter den DIY-Markt bestimmen, sondern auch die
Online-Access-Panelanbieter selbst. Letztere besitzen bereits Plattformen zur Ver-
waltung der Panelisten und ergänzen diese mit Schnittstellen zur Befragungssoftware,
kombinieren diese mit einem Dashboard für das Reporting und bieten somit ihr eigenes
DIY-Tool an.
102 T. Zweigle

Beispiel: Vorgehensweise des DIY-Befragungstools Kvest von Earsandeyes

• Für klar umgrenzte Fragestellungen (z. B. Produkttest) wird ein standardisierter


Fragenkatalog als Vorlage zur Verfügung gestellt. Die vordefinierten, wissen-
schaftlich fundierten Fragen können um einige kundenspezifische Fragen ergänzen
werden.
• Unternehmen definieren Befragungsland, gewünschte Stichprobengröße sowie die
Zusammensetzung der Stichprobe nach Alter und Geschlecht sowie nach kunden-
spezifischen Screeningkriterien (z. B. nach Frauen, die gerne Dekorationsartikel
kaufen).
• Nach der Konfiguration der Studie kann der Fragebogen von den Unternehmen
selbst getestet und ggf. optimiert werden.
• Über die integrierte Schnittstelle zum Online-Access-Panel geht die Umfrage ins
„Feld“.
• Innerhalb von 48 h werden die Ergebnisse auf dem Echtzeit-Online-Dashboard
aufbereitet und visualisiert.
• Bei Bedarf unterstützen Experten von Kvest die Unternehmen bei der
Konfiguration der Studie sowie bei der Ergebnisinterpretation.

Quelle: in Anlehnung an Jurowskaja, 2021 ◄

Wie das Beispiel von Kvest zeigt, offerieren DIY-Dienstleister einen automatisierten
Forschungsprozess, ohne dass fundierte Marktforschungskenntnisse vonnöten sind.
Deshalb können auch Mitarbeitende aus dem Marketing, aus kleinen Firmen, aus
Beratungen oder Agenturen selbstständig Befragungsstudien durchführen, ohne ein
Marktforschungsinstitut oder die Marktforschungsabteilung zu involvieren. Darüber
hinaus erkennen immer öfter betriebliche Marktforscher:innen die Vorteile der auto-
matisierten Tools für sich, da sie dadurch bei Routinetätigkeiten entlastet werden und
sich stärker um die Generierung von Insights kümmern können.
Die Vorteile der DIY-Tools für Anwendende liegen auf der Hand. Sie bieten eine
schnelle, günstige und effiziente Umfrageforschung. Kritisch ist der Ansatz allerdings
bezüglich der Datenqualität zu sehen. Zwar bieten DIY-Tools meist vorgefertigte Frage-
bogenkonstruktionen an, aber die Gefahr der falschen Anwendung bleibt bestehen,
in etwa, wenn die Fragen in der falschen Reihenfolge angeordnet werden oder die
gewählten Antwortkategorien nicht passend zur Fragestellung sind. Ein weiteres
Risiko bezüglich der Datenqualität betrifft den richtigen Umgang mit Abbrechenden,
also mit Panelisten, die das Interview nicht bis zum Ende durchführen. Bei zu vielen
Abbrechenden leidet die Repräsentativität der Stichprobe. Je geringer die Inzidenz der
Zielgruppe ist, desto dramatischer wirkt sich dieser Effekt aus. Für Unternehmen, die
DIY-Befragungsplattformen nutzen, ist es daher essentiell bereits bei der Konzeption
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 103

Tab. 6.2  Chancen und Risiken der DIY-Marktforschung für Unternehmen


Chancen der DIY-Marktforschung Risiken der DIY-Marktforschung
Geringe Kosten im Vergleich zu Auftrags- Mögliches Fehlen an fachlichem Wissen und
studien Erfahrung
Schnelle Ergebnisse (meist in 12 bis 48 h) Herausforderungen der Stichprobenziehung
Jederzeit verfügbar (man ist nicht auf freie werden unterschätzt (dadurch mangelnde
Kapazitäten in Instituten angewiesen) Repräsentativität der Stichprobe)
Einfach und benutzerfreundlich in der Fehlendes Bewusstsein bezüglich der Folgen
Anwendung bei hohen Abbrecherquoten
Standardisierte wissenschaftlich fundierte Fehlender Service von
Fragebogendesigns für Standardstudien (z. B. Marktforschungsexpert:innen
Produkttests, Werbetests) Zu Beginn der Anwendung von DIY ist mehr
Kann aufgrund der All-in-One-Lösung auch Einarbeitungszeit notwendig (auf lange Sicht
von Nicht-Marktforscher:innen durchgeführt wird allerdings Zeit gespart)
werden (z. B. Marketingabteilung, Werbe- Wenn DIY schlecht durchgeführt wurde, kann
agenturen) es am Ende zu höheren Kosten führen als eine
Eine gute Alternative für KMU Unternehmen Auftragsstudie
ohne eigene Marktforschungsabteilung
Wird zunehmend auch von Marktforschungs-
abteilungen in Unternehmen zur Entlastung der
eigenen Mitarbeiter:innen genutzt
Quelle: in Anlehnung an Planung & Analyse, 2021

des Fragebogens darauf zu achten, dass Panelisten die Befragung interessant finden.
DIY-Dienstleister versuchen diese Qualitätsrisiken für ihre Kund:innen zu minimieren,
indem sie wissenschaftlich-fundierte Fragebogenvorlagen oder auch ihre fachliche
Unterstützung in Form von Leitfäden anbieten (Wigmore, 2021). Weitere Hilfsangebote
betreffen den sogenannten On-Demand-Service, der hinzugebucht werden kann, falls
während des DIY-Forschungsprozesses seitens der Anwendenden Fragen auftauchen
(Jurowskaja, 2021). Chancen und Risiken der DIY-Marktforschung für Unternehmen
zeigt zusammengefasst Tab. 6.2.

6.4.2 Online-Research wird zum Mobile-Research

Ebenso stark diskutiert wie der DIY-Trend in der Marktforschungsbranche wird Mobile-
Research, also die Befragung über Smartphones (Woppmann, 2017). Dabei gibt es zwei
grundsätzliche Ansätze der mobilen Marktforschung: Browser-basiert und App-basiert.
Während es sich bei Browser-basierten mobilen Umfragen eigentlich um Online-
Umfragen handelt, die in ihrer gestalterischen Umsetzung für das Smartphone mobil
„optimiert“ werden, ist die Gestaltung der App-basierten Umfragen bereits auf die
mobilen Endgeräte ausgerichtet.
104 T. Zweigle

Browser-basierter Mobile-Research (im Rahmen eines Online-Panels)


Online-Panelisten können meist auch auf mobilen Devices wie dem Smartphone an
den Online-Umfragen teilnehmen. Hierfür ist allerdings eine Befragungssoftware
nötig, die automatisch erkennt, mit welchem Endgerät die Befragten auf die Umfrage
zugreifen. Diese automatische mobile Optimierung von Befragungen ist unter dem
Begriff Responsive Design bekannt. Darunter wird die Anpassung des Desktop-Web-
seiten-Layouts an mobile Devices wie Smartphone oder Tablet verstanden. So wird
sichergestellt, dass Befragte unabhängig von den verwendeten Geräten einen vergleich-
bar guten Zugang zu einer Umfrage haben (Theobald et al., 2018, S. 18). Dieses auto-
matische Anpassen des Fragebogens kann allerdings dazu führen, dass Skalen je
nachdem, welches Gerät benutzt wird, unterschiedlich dargestellt werden. Beispiels-
weise eine 10-er Skala am Desktop im Querformat, am Smartphone im Längsformat
(Lütters, 2018, S. 73). Diese unterschiedliche Darstellung kann zu unterschiedlichem
Antwortverhalten seitens der Befragten führen und damit zum Reliabilitätsverlust der
Umfrage. Vergleichsstudien zeigen, dass es signifikante Unterschiede im Antwortver-
halten gibt, wenn Probanden den Fragebogen am PC bzw. Laptop oder aber am Smart-
phone ausfüllen (Bosnjak et al., 2018, S. 61–62). Eine Abhilfe wäre hier, einen mobil
optimierten Fragebogen zu programmieren und diesen dann auch auf einem normalen
Desktop-Bildschirm 1:1 wie auf dem Smartphone anzuzeigen (Theobald et al., 2018,
S. 19). Es gibt allerdings auch Untersuchungen, die belegen, dass Multimode-Ansätze
durchaus valide sein können. So zeigte eine Vergleichsstudie von Forsa im Rahmen von
standardisierten Werbemitteltests, dass es bei der Beantwortung der Fragen keine signi-
fikanten Unterschiede gab, ob die Befragten am PC, am Laptop, mit dem Tablet oder am
Smartphone an der Umfrage teilgenommen haben (Wachenfeld-Schell & Winkle, 2018,
S. 164–169).
Die Praxis offenbart, dass das Fragebogendesign bei vielen mobilen Befragungen
oft eine Herausforderung für Befragte darstellt. Zu oft wird noch der Fragebogentypus
aus dem Papierfragebogenzeitalter als Grundmuster für online und damit für responsive
mobile Befragungen eingesetzt (Lütters, 2018, S. 74–75).

App-basierter Mobile-Research (im Rahmen eines Mobile-Panels)


Ein Mobile-Panel funktioniert grundsätzlich ähnlich wie ein Online-Panel,
allerdings mit der Devise „Mobile First“. Bei diesem Ansatz installieren die
Befragungsteilnehmer:innen auf ihren Endgeräten eine Research-App, über die sie sich
registrieren, und werden dann per Push Notification zu für sie passende Umfragen ein-
geladen. Viele Mobile-Research-Betreiber bieten Panelisten allerdings auch die Möglich-
keit, ihre E-Mail-Adresse anzugeben und über diese am Desktop oder Laptop an der
Befragung teilzunehmen. Die Programmierung des Fragebogens erfolgt direkt App-
basiert, ein responsives Design ist nicht notwendig. Beispiele für Mobile-Panels sind
die App „I love MyMedia“ vom Medienvermarkter IP Deutschland (Vitt & Friedrich-
Freska, 2018, S. 32) sowie die Appinio-App (Kurfess, 2018, S. 47–48). Wichtig ist, dass
Umfrageforscher:innen die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die die App-basierte
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 105

Umfrage ermöglicht, nutzen und neue Antwortformate entwickeln. Möglichkeiten hier-


für sind beispielsweise das Uploaden von Fotos (in etwa für Tagebuchstudien), von
Audiodateien (z. B. mit freien Antworten auf offene Fragen) oder von Videodateien,
die beispielsweise aufzeigen, wie bestimmte Produkte geöffnet werden. Darüber hinaus
müssen aber auch Wege gefunden werden, komplexe Studien wie etwa Conjoint-
Analysen Apps-basiert umsetzen zu können, was derzeit noch nicht möglich ist (Lütters,
2018, S. 74–75).
Die Betreuung eines Mobile-Panels ist grundsätzlich anders als Online-Panels. Denn
ein passives Warten auf wenige Befragungseinladungen pro Monat, wie es für Online-
Umfragen üblich ist, würde im Rahmen des Mobile-Research die App aus Usersicht sehr
unattraktiv erscheinen lassen. Auch die Motive, an einer Umfrage mittels Smartphone
teilzunehmen, sind oft andere als bei Desktop-Befragungen. Sie haben viel mit „Zeit-
vertreib“ und „Neugier“ zu tun. Mobile Panelbetreiber stehen daher vor der großen
Herausforderung, App-Interaktionsmodelle zu entwickeln, die von den App-Usern
akzeptiert werden. Appinio beispielsweise bietet einen App-basierten Erhebungs-
ansatz, der permanent die verschiedensten Fragen an die Nutzer:innen der App stellt.
Das Beantworten von Fragen wird als Spiel wahrgenommen, analog zu einer Gaming-
App, bei welchem man sich von Level zu Level nach oben spielen kann. Die relevanten
Fragen für das Panel werden dann zwischendurch ausgespielt. Laut Kurfess (2018,
S. 48–50), CEO von Appinio, induziere dieser spielerische Umgang mit den Fragen
eine intrinsische Motivation zur Teilnahme an den Befragungen und münde in einer sehr
hohen Teilnahmebereitschaft von durchschnittlich 80 % – die Abbrecherquote läge unter
4 %.
Der Vorteil in der Rekrutierung von mobilen Panelisten liegt in der schnelleren
Reaktionszeit. Im „I love MyMedia-Panel“ beispielsweise liegen nach einer halben
Stunde 39 % und nach einer Stunde 50 % der benötigen Samples vor, während im
Online-Panel nach einer halben Stunde erst 19 % und nach einer Stunde 28 % der Quote
erreicht ist (Vitt & Friedrich-Freska, 2018, S. 35). App-Panels können also zu einer sehr
schnellen Rekrutierung der Stichproben führen. Innerhalb weniger Minuten nehmen
mehrere Hundert Teilnehmer:innen an der Befragung teil, weil sie über ihr Smart-
phone auf die Umfrage per Push aufmerksam gemacht wurden. Kritisch ist allerdings
zu betrachten, dass es dadurch zu einer Verzerrung der Stichprobe führen kann, weil ein
bestimmter Typus von Mensch sehr schnell antwortet, während andere erst auf die Push-
Nachricht reagieren (könnten), wenn die Befragung bereits abgeschlossen ist. Gemäß
dem Motto: First come, first serve.
Generell besteht bei der Teilnahme an Befragungen über Smartphone das Problem,
dass die Befragten überall, wo sie sich befinden, an der Umfrage teilnehmen können.
Aus Vergleichsstudien ist bekannt, dass die Befragungssituation einen erheblichen Ein-
fluss auf das Antwortverhalten der Befragten hat. Es macht also einen Unterschied im
Antwortverhalten, ob die Umfrage von zu Hause oder von unterwegs durchgeführt
wurde (Theobald, 2018, S. IX). Die Mobilität der Befragten kann allerdings auch zum
Vorteil für die Umfrageforschung genutzt werden. Denn mobile Befragungen ermög-
106 T. Zweigle

Tab. 6.3  Chancen und Risiken von Mobile-Research via App


Chancen Mobile-Research via App Risiken Mobile-Research via App
Hohe Akzeptanz von Mobile-Research in fast Züchten von Befragungsprofis durch
allen Altersgruppen spielerischen Charakter von Kleinst-
Sehr schnelle Rekrutierung der Samples (teil- Befragungen
weise innerhalb von 1 bis 2 Stunden) Mangelnde Präsentationsmöglichkeit von
Sehr schnelle Ergebnislieferung möglich (teil- Stimulusmaterial (z. B. Supermarktregale,
weise innerhalb von wenigen Stunden) Cockpits im PKW-Bereich)
Sehr effiziente Umfrageforschungsmethode Nur für kurze Befragungen von maximal 5
Spieltrieb der Panelisten kann zur hohen Minuten geeignet
Motivation der Teilnehmer:innen führen Anwenden komplexer Methoden wie multi-
Junge Zielgruppen sind meist nur noch mobil variate Einstellungsmessungen oder Conjoint-
erreichbar Analysen kaum möglich (methodischer
Teilnahme an mobilen Umfragen wächst bei Rückschritt)
Personen auch über 50 Jahre stetig Verzerrung der Stichprobe und dadurch
Nutzen von GPS-Daten für „Aufgaben für mangelnde Repräsentativität aufgrund des
unterwegs“ First-Come-First-Serve-Prinzips
Befragungssituation kann sehr turbulent und
ablenkend sein (damit wenig kontrollierbar)
Quellen: in Anlehnung an Woppmann (2017); Kurfess (2018, S. 48–50)

lichen standortbezogene Umfragen über Geo-Fencing oder Beacon-Technologie (Vitt &


Friedrich-Freska, 2018, S. 43). So können beispielsweise auf Grundlage der GPS-Daten
„Aufgaben für unterwegs“ angeboten werden, wie beispielsweise Fotos von bestimmten
Produktplatzierungen oder von Lieblingsprodukten im stationären Handel zu erstellen.
App-Paneldienstleister bieten in der Regel ihren Kunden ebenfalls wie die meisten
Online-Panelanbieter DIY-Tools an, sodass auch für Mobile-Panels die weiter oben
skizzierten Chancen und Risiken zu beachten sind. In Tab. 6.3 werden die spezifischen
Chancen und Risiken, die sich aus dem Mobile-Research mittels App-Befragung
ergeben, gegenübergestellt.

6.4.3 Digitale Sprachassistenten, Chatbots und Avatare ersetzen


menschliche Interviewer:innen

Digitale Sprachassistenten bieten eine einseitige Dialogfähigkeit (VAI-Research)


Digitale Sprachassistenten erhalten zunehmend Einzug in den Gebrauch der
Konsument:innen. Siri von Apple und Alexa von Amazon sind mittlerweile allgegen-
wertig. In einer im Mai 2019 durchgeführten bevölkerungsrepräsentativen Studie wurde
ermittelt, dass etwas mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung ab 18 Jahren sich
bereits mit Devices auf Audioebene verständigt. Am häufigsten wurde die Beantwortung
von Whatsapp-Nachrichten (27 %), gefolgt von der Bedienung von Smartphones (22 %)
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 107

sowie Surfen im Internet mit Alexa, Google etc. (17 %) mittels Spracheingabe bzw.
Voice, genannt (Absatzwirtschaft, 2019). Es ist davon auszugehen, dass die Nutzung
künftig weiter ansteigen wird. Daher liegt es auf der Hand, dass Sprachassistenten auch
in der Umfrageforschung in Form von Voice-Assisted-Interviews (VAI) an Bedeutung
gewinnen und im Studiendesign Berücksichtigung finden. Das Marktforschungsinstitut
Dialego beispielsweise setzte Amazons Alexa zur Befragung von Konsumenten in
der Innenstadt von Aachen zum Thema „Einkaufen der Zukunft“ ein (Gadeib, 2018).
Für diesen Zweck wurde Alexa allerdings umprogrammiert, weil Sprachassistenten
normalerweise Fragen beantworten und nun Alexa aber die Fragen stellen sollte. Auch
das Institut FFIND führt seit kurzem neben CATI- und CAPI-Befragungen auch VAI-
Research mit Alexa durch (Hedewig-Mohr, 2021).

Chatbots oder Avatare als interaktive Interviewpartner:innen


Während es sich bei digitalen Sprachassistenten um eine einseitige Dialogfähigkeit der
Software handelt, geht es beim Chatbot um eine interaktive, also zweiseitige Dialog-
fähigkeit. Denn Chatbots können durch selbstlernende Systeme mit den Befragten
kommunizieren. Ein Beispiel hierfür ist der Chatbot MS-Rinna von Microsoft, der die
Kommunikation einer stereotypen japanischen Highschool Schülerin simuliert (Dis-
ruptive.asia, 2018). Chatbots als „vermenschlichte Maschinen“ sind in der Lage,
emotionale Nähe zu den Befragten aufzubauen, insbesondere, wenn sie in Gestalt von
Figuren bzw. Avataren auftreten.
In Pilotprojekten beschäftigt sich die Umfrageforschung mit Chatbots oder Avataren
als Ersatz für menschliche Interviewer:innen. Damit Avatare echte Dialoge führen
können, ist während des Befragungsprozesses ein Textklassifizierungsalgorithmus not-
wendig, der einzelne Antworttexte jeweils in zuvor fest definierte und vom System
erlernte Antwortkategorien einordnet (Olzem & Spiegel, 2019). Hierfür ist allerdings
ein enorm hoher (Selbst-)Lernprozess seitens der KI erforderlich, der derzeit noch nicht
in dem Umfang möglich ist, als dass Avatare auf nicht gelernte Rückfragen angemessen
reagieren können. Um eine „echte“ Interviewsituation zu schaffen, müsste es dem
Avatar darüber hinaus möglich sein, auf Emotionen im Dialog angemessen zu reagieren.
Die oben erwähnte Forschungsdisziplin Affective Computing könnte künftig diese
Lücke schließen, sodass Avatare in der Lage sind, sich empathisch mit den Befragten
zu unterhalten. Es bleibt festzuhalten, dass Avatare derzeit (noch) keine menschlichen
Interviewer:innen bei komplexen Umfragen ersetzen können. Für kurze Interviews ohne
komplexe Dialogführung können Chatbots allerdings bereits heute sinnvoll und effizient
eingesetzt werden. Beispielsweise beim standardisierten Nachfragen, warum einer
befragten Person etwas gefällt oder missfällt (wenn zuvor der Chatbot erkannt hatte,
dass etwas gefällt oder nicht gefällt). Den erfolgreichen Einsatz eines Chatbots in Gestalt
eines Avatars hat die Kantar-Gruppe vorgestellt. In einer Studie zum Thema Essverhalten
in Südafrika befragte ein mit einer weiblichen Stimme agierender Avatar namens Serena
via Facebook Panelisten mehrmals täglich über ihre Essgewohnheiten. Die offenen
Antworten wurden gesammelt und mittels KI ausgewertet. Die Akzeptanz von Serena
108 T. Zweigle

Tab. 6.4  Chancen und Risiken beim Einsatz von Chatbots bzw. Avataren in der Umfrage-
forschung
Chancen von Chatbots Risiken von Chatbots
Hohe Akzeptanz digitaler Sprachassistenten bei Mangelndes Vertrauen der Befragten in den
(jungen) Konsument:innen Chatbot
Schnelle Befragungsergebnisse durch Mangelnde Akzeptanz seitens der
Speech2text-Verfahren möglich (älteren) Befragten
Qualitativ höherwertige Daten, da Befragte in Nur für einfache standardisierte Nachfragen
gleicher Zeit mehr Informationen als beim Ein- derzeit möglich
tippen preisgeben Hohe Fehleranfälligkeit der Systeme, da
24/7 verfügbar und einsetzbar Technik derzeit noch nicht ausgereift ist
Unterstützt Spieltrieb Gaming-affiner Ziel- Echte Dialoge sind derzeit noch nicht möglich
gruppen (z. B. Erstellen eigener Avatare) (KI wird überschätzt)
Durch Standardisierung der Interviewer-
situation gibt es keinen Reliabilitätsverlust
durch Einflüsse der Interviewer:innen
Eigene Darstellung

war so groß, dass auch nach der Studie die Teilnehmer mit Serena weiterchatten wollten
(Geißler, 2020).
Chatbots bzw. Avatare bieten zwar ein großes Potenzial für die Umfrageforschung,
die Erwartungen an die KI sowie an den Einsatz von Chatbots bzw. Avataren sind der-
zeit allerdings überzogen (Thommes, 2020). Chancen und Risiken für den Einsatz von
Chatbots bzw. Avataren im Rahmen der Umfrageforschung stellt Tab. 6.4 zusammen-
fassend gegenüber.

6.5 Fazit und Implikationen für die Praxis

Die Ausführungen zeigen, dass es bereits diverse Ansätze für automatisierte Lösungen
entlang des Umfrageforschungsprozesses gibt. Computergestützte Datenerhebungen
mittels CATI, CAPI oder CAWI sowie die digitale Datenanalyse mittels Auswertungs-
software wie SPSS, R und Excel sind schon seit Jahrzehnten fester Bestandteil der
Umfrageforschung. Erhebliche Potenziale bei der Datenanalyse liegen allerdings in der
Textanalyse und im Semantic Mining. Hier können automatisierte und selbstlernende
Systeme den menschlichen Forscher:innen viel Routine- und Präzisionsarbeit abnehmen.
Neben der Datenanalyse unterstützt die Automatisierung insbesondere auch die Daten-
aufbereitung in Form von standardisierten Reportings, die über vollautomatisierte
Dashboards jederzeit abrufbar sind – meist sogar in Echtzeit.
Bereits etablierte Trends in der Umfrageforschung betreffen DIY-Research sowie
Mobile-Research. In den letzten Jahren hat sich DIY-Research für standardisierte
Erhebungen durchgesetzt und wird von den unterschiedlichen Nutzergruppen
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 109

wie Marketers, Agenturen, kleineren Unternehmen aber auch von betrieblichen


Marktforscher:innen viel genutzt. Auch wenn die Effizienzvorteile überwiegen, muss
weiterhin ein Augenmerk darauf geworfen werden, ob die Datenqualität bezüglich der
erhobenen Stichprobe für die Interpretation der Ergebnisse ausreichend ist. Mobile-
Research ist auf dem Vormarsch. Es ist davon auszugehen, dass künftig die Befragung
per Research-App zum zeitgemäßen Befragungsmedium avancieren wird. Die große
Herausforderung liegt in der Gestaltung der jeweiligen Research-App, um einerseits
Befragte zu motivieren, an den Umfragen teilzunehmen, um andererseits aber auch
den Gütekriterien an die Forschung wie Validität, Reliabilität und Objektivität gerecht
zu werden. Wie auch bei den DIY-Umfragen muss beim Mobile-Research via Apps ein
Augenmerk auf die Repräsentativität der Stichproben gelegt werden. Hier gibt es der-
zeit noch viel Optimierungsbedarf. Toolanbieter sollten dahingehend differenzieren,
was technisch möglich ist und was seitens der Befragten akzeptiert wird. Wenn die
Zielgruppen Jugendliche oder junge Erwachsene sind, dann sind App-Befragungen
mit vielen technischen Features kein Hindernis. Wenn allerdings eine bevölkerungs-
repräsentative Erhebung angestrebt wird, ist derzeit eine Multimode-Befragung, bei der
die Befragten selbst entscheiden können, über welche Geräte sie die Befragung durch-
führen möchten, zielführender.
Einen weiteren relevanten Baustein in der Umfrageforschung wird künftig die
Voice-Befragung also das VAI einnehmen. Zum einen, weil sie immer mehr dem
Kommunikationsverhalten der Menschen entspricht, zum anderen, weil sie qualitativ
höherwertige Daten für nicht-standardisierte Fragestellungen liefert. Der KI-basierten
Speech2text-Technologie kommt hier eine große Bedeutung zu. Generell wird KI
die Umfrageforschung in den kommenden Jahren weiter disruptiv verändern. Erste
Ansätze hierzu bieten Chatbots bzw. Avatare, die selbstständig Interviews durch-
führen. Die Technologie ist allerdings aktuell noch nicht so ausgereift, als dass mensch-
liche Interviewer:innen bei komplexen nicht-standardisierten Umfragen ersetzt werden
könnten.

Was bedeutet die skizzierte fortschreitende Digitalisierung der Umfrageforschung


für das Marketing in Unternehmen?
Marketers können mithilfe der DIY-Tools schnell und effizient Umfragen selbst durch-
führen und die Ergebnisse per Dashboard in Echtzeit verfolgen. App-Research ermög-
licht dieses für kurze und einfache Befragungen in (jungen) Zielgruppen sogar in
wenigen Minuten. Automatisierte oder gar KI-unterstützte Datenerhebungen und -ana-
lysen verhelfen, die eigenen Kund:innen noch besser zu verstehen, indem beispiels-
weise mittels Facial Coding oder Voice Recognition Emotionen bei der Beantwortung
von Fragen mitaufgedeckt werden können. Voice-Befragungen mittels Sprachassistenten
wie Alexa, Cortina und Siri entsprechen zunehmend den Kommunikationsgewohnheiten
der Konsument:innen und sollten daher in künftigen Forschungsdesigns in Form von VAI
berücksichtigt werden.
110 T. Zweigle

Umfragen mittels Chatbots bieten sich für kurze Rückfragen beispielsweise im


Rahmen von Kundenzufriedenheitsabfragen an, um durch freiformulierte Antworten tief-
ergehende Einstellungen und Motive zu erfassen. Interessant ist der Einsatz von Avataren
für qualitative Studien, um beispielsweise mehr über die Lebenswelten bestimmter
Zielgruppen zu erfahren. Studien mit jungen Zielgruppen liefern hierfür bereits viel-
versprechende Erkenntnisse, da die Gaming-affinen Befragten sich gerne auf die künst-
lichen Avatare einlassen und sogar eine emotionale Bindung hierzu aufbauen. Bei der
Interpretation der Ergebnisse sollten Marketers allerdings stets das gesamte Studien-
design vor Augen haben, um Validität und Reliabilität der erhobenen Daten richtig ein-
schätzen zu können. Ausgebildete Marktforscher:innen sollten hierbei gegebenenfalls
unterstützen.
Für Marketers können die gewonnenen Erkenntnisse auch genutzt werden, um eigene
kostenlose Kunden-Apps zu installieren. Über diese könnten beispielsweise kurze
Umfragen erstellt werden, Texteingaben mittels Sprachaufzeichnung erfolgen, Avatare
erstellt und/oder eine App-Kunden-Community aufgebaut werden. Zusätzlich lässt sich
durch Geolocation erkennen, wo sich die App-User derzeit befinden (zum Beispiel im
Autohaus, wenn es sich um eine Kunden-App eines Automobilunternehmens handelt),
um hieraus weitere Erkenntnisse zu gewinnen.

Und was bedeutet die Digitalisierung generell für die Zukunft der Umfrage-
forschung?
Auch wenn es mittels der digitalen Möglichkeiten und der KI immer leichter wird, das
digitale Verhalten von Konsument:innen zu beobachten, ohne direkt Fragen zu stellen,
wird die originäre Befragung von Menschen auch künftig von Relevanz sein. Nur durch
Befragungen kann das individuelle Warum von Entscheidungen näher analysiert werden.
Informationen über Einstellungen, Motive und Beweggründe der Konsument:innen sind
weiterhin von großer Bedeutung für das Marketing (Kirchmair, 2020, S. 217). Daher
kommt der Umfrageforschung auch künftig eine große Bedeutung zu. Nur das Wie muss
unter ökonomischen Gesichtspunkten (siehe DIY-Research) sowie dem allgemeinen
Verhalten der verschiedenen Zielgruppen (beispielsweise Smartphone als präferiertes
Kommunikationsmittel) angepasst werden. Marktforschungsinstitute reagieren hierauf.
So wurde beispielsweise jüngst der digitale Testmarkt der GfK SE in Haßloch nach
35 Jahren geschlossen. Er war nicht mehr zeitgemäß. Die Erhebungen erfolgen nun unter
Einsatz der KI-Technologie deutschlandweit mittels Smartphone-App (Business Insider
Deutschland, 2021).

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Prof. Dr. Tanja Zweigle ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt
Marketing Management an der IU Internationalen Hochschule in Düsseldorf. Ihre Forschungs-
interessen liegen im digitalen Marketing, im Marken- und Kommunikationsmanagement,
im Konsumentenverhalten sowie in der Marktforschung. Mit ihrer Marketingberatung i4m
insights4management berät sie als selbstständige Research- und Insights-Expertin verschiedene
Praxisunternehmen. Vor ihrer Lehrtätigkeit und Selbstständigkeit war sie in unterschiedlichen
Beratungsfirmen, u. a. bei GfK und BBDO Consulting (heute: Batten & Company), in leitenden
Positionen tätig. Sie ist persönliches Mitglied im Berufsverband Deutscher Markt- und Sozial-
forscher (BVM).
Tools zur Analyse des Internetauftritts
kleiner und mittelständischer 7
Unternehmen in der Tourismusbranche
am Beispiel von Google Lighthouse

Anna Klein   , Ina zur Oven-Krockhaus   und Sven Pastowski

Zusammenfassung

Eine Analyse des unternehmenseigenen Internetauftritts stellt häufig für kleine


und mittelständische touristische Unternehmen (KMUs) eine Herausforderung
dar. Was bedeutet und beinhaltet eine „gute“ Website und welche Tools stehen
gerade Kleinstunternehmen zur Verfügung, um einen schnellen Überblick in Bezug
auf Optimierungsmöglichkeiten zu bekommen? Was sind relevante Kriterien und
Bewertungsmaßstäbe und welche konkreten Werkzeuge bzw. Tools können auch
durch Nicht-Experten verwendet werden? Der vorliegende Beitrag beantwortet
diese Fragen und liefert vor allem touristischen KMUs Unterstützung bei der Ana-
lyse des unternehmenseigenen Internetauftritts. Dafür erfolgt zunächst eine
Betrachtung von grundlegenden Kriterien und Indikatoren zur Bewertung einer

A. Klein (*)
IU Internationale Hochschule, München, Deutschland
E-Mail: [email protected]
I. zur Oven-Krockhaus
IU Internationale Hochschule, Hannover, Deutschland
E-Mail: [email protected]
S. Pastowski
IU Internationale Hochschule, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 115
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_7
116 A. Klein et al.

Website. Darauf aufbauend fokussiert der Beitrag vor allem technische Kriterien
wie Suchmaschinenoptimierung, Barrierefreiheit und Ladegeschwindigkeit, die
mithilfe eines Online-Analysetools quantitativ erhoben werden können. Eine Dar-
stellung der Anforderungen an Tools zur Analyse von Websites wird um einen Über-
blick momentan verfügbarer Tools ergänzt. Auf dieser Grundlage erfolgt dann eine
praktische Anwendung des Tools Google Lighthouse anhand einer Case Study. Neben
einer Vorstellung des Tools werden auch Vorteile sowie Restriktionen aufgezeigt und
kritisch betrachtet. Die Analyse der Startseiten von drei (anonymisierten) Unter-
nehmen aus touristischen Teilbereichen (Hotellerie und Reiseanbieter) veranschau-
licht die praktische Anwendung von Google Lighthouse.

7.1 Einführung

2021 nutzten in Deutschland fast 67 Mio. Menschen das Internet. Dabei ist es auch zum
Leitmedium der kaufkräftigen Altersklassen jenseits der 50 geworden (ARD/ZDF, 2021).
Im Zusammenspiel von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring sowie Print- und
Onlinemarketing gehört mittlerweile der Internetauftritt1 zum unverzichtbaren Bestand-
teil der Unternehmenspräsentation. Die veränderte Mediennutzung geht dabei vor allem
zulasten der gedruckten Medien – also der klassischen Kommunikationsinstrumente der
KMUs (Bernsau, 2021).
Über die reine Kommunikationsform hinausgehend kommt dem Internetauftritt
eines Unternehmens bei vielen Onlineanbietern allerdings noch eine viel zentralere
Rolle zu: Er ist die Basis ihres Geschäftsmodells und damit ihrer wertschöpfenden
Geschäftsaktivitäten im Internet. Internetanbieter weisen oftmals eine Wertschöpfungs-
konfiguration auf, die nicht dem Geschäftsmodell der „klassischen” Wertkette, sondern
dem Wertshop oder dem Wertnetzwerk folgt (Stabell & Fjeldstad, 1998). Vor allem
ist zu berücksichtigen, dass der Wettbewerb im Internet immens hoch ist: Der nächste
Wettbewerber ist nur einen Mausklick oder ein Wischen auf dem Smartphone entfernt,
die Transparenz über andere Anbieter und deren Konditionen ist weitgehend gegeben
und die Wechselbarrieren sind gering. Gleichzeitig steigt die Bereitschaft, Einkäufe
über das Internet zu tätigen (HDE Deutscher Handelsverband, 2021). Informieren sich
Kund:innen beispielsweise über eine Pauschalreise und vergleichen die oftmals aus-
tauschbaren Angebotsbestandteile verschiedener Reiseveranstalter (Flug, Hotel und

1 Nach Jacobsen (2017, S. 468–469) werden in diesem Beitrag die Begriffe Internetauftritt, Website
und Webpräsenz synonym betrachtet und zur Beschreibung einer „Sammlung von HTML-Seiten
und anderen Dateien, die unter einer Domain“ (www.Domainname.Endung) erreichbar sind, ver-
wendet. Der Begriff Seite dagegen wird als Bezeichnung eines „einzelnen HTML-Dokuments, das
in einem Browser angezeigt wird“ und die Begriffe Homepage bzw. Startseite für die erste HTML-
Seite einer Website verwendet.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 117

Transferangebote), dann ist innerhalb kurzer Zeit und mit wenig Aufwand ein Anbieter-
und Preisvergleich möglich. Spezialisierte Preissuchmaschinen liefern diesen Marktüber-
blick ebenfalls auf Mausklick.
Damit ist die Güte einer Webpräsenz – sowohl der eher kommunikationspolitisch
ausgerichteten als auch des im und übers Internet funktionierenden Geschäftsmodells –
von grundsätzlicher Bedeutung für das Unternehmen. Deren Analyse stellt allerdings
häufig für kleine und mittelständische touristische Unternehmen eine Herausforderung
dar. Was bedeutet und beinhaltet ein „guter“ Internetauftritt und welche Tools stehen
gerade für Kleinstunternehmen zur Verfügung, um einen schnellen Überblick in Bezug
auf Optimierungsmöglichkeiten zu bekommen? Was sind relevante Kriterien und
Bewertungsmaßstäbe und welche konkreten Werkzeuge bzw. Tools können auch durch
Nicht-Expert:innen verwendet werden? Auf diese Fragen wird in den kommenden
Abschnitten eingegangen.

7.2 Bewertung eines Internetauftritts – Messkriterien und


-verfahren

Auf die Frage nach einem „guten“ Internetauftritt gibt es trotz umfassender wissen-
schaftlicher Auseinandersetzung mit der Thematik keine allgemeingültige Antwort
bzw. kein Standardset an Kriterien (Bernsau, 2021). Eine Möglichkeit der Betrachtung
besteht in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Functionality und Usability
(Law, 2019), wobei unter der ersten Dimension die inhaltlichen Kriterien (Content
und Design/Layout) zusammengefasst werden und die zweite Dimension sich auf die
technischen Kriterien (Aufbau der Seite/Programmierung) konzentriert. Dabei bestehen
allerdings zahlreiche Interpretationen darüber, wie konkret Functionality und Usability
zu definieren sind und welche Kriterien in deren Bewertung einfließen. Oft überlappen
bzw. beeinflussen sich die Kriterien der beiden Dimensionen, sodass hier eine scharfe
Trennung nicht wirklich möglich ist.
Darüber hinaus existieren in der wissenschaftlichen Literatur einige theoretische
Modelle zur Bewertung der Qualität der Websites (Jeddi et al., 2017), deren Bedeutung
aber in der Praxis als gering einzuschätzen ist. Vielmehr wird das Augenmerk auf
einzelne Kriterien gelegt bzw. es werden – ähnlich wie bei der allgemeinen Betrachtung
des Qualitätsbegriffs (Bruhn, 2020, S. 34–35) – unterschiedliche Perspektiven ein-
genommen. Eine Übersicht der häufigsten Perspektiven findet man beispielsweise
bei Bernsau (2021), der zwischen vier Ansätzen zur Bewertung der Websitequalität
unterscheidet. Der erste Ansatz fokussiert die Auffindbarkeit der Seiten durch die
Suchmaschinen (SEO-Performance), der zweite die Nutzerfreundlichkeit der Seite
(Usability + User Experience), der dritte und vierte die technischen bzw. gestalterischen
Elemente. Diese können auf unterschiedliche Art und Weise realisiert werden, je nach-
dem, ob eine subjektive Sicht der Nutzer bzw. der Expert:innen herangezogen oder
118 A. Klein et al.

Abb. 7.1 Ansätze und Erhebungsmethoden bei der Bewertung der Qualität von Websites.
(Quelle: [3, S. 12])

aber eine Messung anhand von objektiven Faktoren vorgenommen wird. Die Abb. 7.1
beinhaltet eine Übersicht der angesprochenen Ansätze und Erhebungsmethoden.
Ungeachtet der methodischen Aufteilung der unterschiedlichen Messkriterien
gilt es für die Unternehmen, sich im globalen Wettbewerb so darzustellen, dass
einerseits Suchmaschinen die Website finden und möglichst hoch in den Ergebnis-
listen aufführen, gleichzeitig aber die technischen und inhaltlichen Aspekte von den
Websitebesucher:innen positiv eingeschätzt werden. Immerhin gibt es weltweit über
364,6 Mio. Websites als sogenannte registrierte Top-Level-Domains (Stand 03/2021,
Verisign Inc., 2021).
Demzufolge werden an dieser Stelle die Kriterien erläutert, die als am wichtigsten
für die touristischen KMUs zu betrachten sind: Suchmaschinenoptimierung (SEO),
Barrierefreiheit (Accessibility), Ladegeschwindigkeit (Quality Performance) und Inhalt
der Seite (Content). Im Anschluss wird auf sogenannte Progressive Web Apps (PWA)
eingegangen, die als eine Mischung zwischen einer im Browser abrufbaren Website und
einer nativen App zu betrachten sind, und deren Bedeutung im Tourismus zunehmend
wächst.

Suchmaschinenoptimierung (SEO)
Eine Suchmaschine ist letztendlich nichts anderes als eine große Bibliothek, in der
Informationen zusammengestellt, eingeordnet und kategorisiert werden, damit sie bei
Bedarf wiedergefunden und dargestellt werden können (Alpar et al., 2015, S. 46–47)2.
In der Praxis ist Suchmaschinenoptimierung ein von den Unternehmen häufig genanntes
Kriterium in Zusammenhang mit dem eigenen Internetauftritt. Dabei gilt es, nicht die
Suchmaschine zu optimieren, sondern vielmehr die eigene Website so zu programmieren
und zu gestalten, dass sie von Suchmaschinen besser gefunden, indiziert (also in einen

2 Die globalen Marktanteile von Suchmaschinen verteilen sich wie folgt: Google ist mit Stand
Dezember 2021 die größte Suchmaschine (78,6 %), gefolgt mit großem Abstand von Bing
(9,86 %), dem chinesischen Marktführer Baidu (3,46 %) oder Yahoo! (2,19 %) und dem russisch-
niederländischen Unternehmen Yandex (4,8 %) (Netmarketshare, 2021).
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 119

Index aufgenommen) und möglichst hoch gerankt wird. Die Aufnahme in den Index
erfolgt dabei auf der Basis eines Algorithmus und mithilfe der sogenannten Webcrawler,
also kleiner Programme, die automatisch das Internet durchsuchen und Informationen
über die Websites sammeln (Raaf, 2021, S. 7–8).
Bei der Anzeige der Suchergebnisse werden üblicherweise für jeden Suchtreffer
der Seitentitel, die Adresse (URL) und die Meta-Description3 aufgelistet. Weitere
ergänzende Informationen, beispielsweise Preisinformationen oder Bewertungen,
werden als „Rich Snippets“ bezeichnet und werden ebenfalls aus dem Quelltext der
jeweiligen Datei ermittelt (Czysch, 2017). Diese Informationen kann ein Website-
betreiber auf seiner Website und im Quelltext hinterlegen und somit der Suchmaschine
das Finden und Erstellen von Informationen „erleichtern“.
Insofern empfiehlt Raaf (2021, S. 11–14) einen achtstufigen Prozess der
Websiteoptimierung, indem folgende Schritte systematisch abgearbeitet werden:

1. Optimierung der Technik


2. Verbesserung der Usability
3. Recherche relevanter Keywords4
4. Analyse des Wettbewerbs
5. Erstellung von Content
6. Auswahl und Setzen von Links
7. Vermarktung des Contents
8. Überprüfung der SEO-Performance

Auch wenn Google keinen detaillierten Einblick in den Algorithmus gewährt, nach
dem Websites indiziert und in Suchergebnissen aufgeführt werden, so gibt Google die
Möglichkeit, sich mit den Grundlagen und dem Aufbau vertraut zu machen. Wie eine
Suche bei Google funktioniert, erläutert das Unternehmen ausführlich im SEO-Leitfaden
(http://seobuch.net/719), nicht nur mit Hinweisen für ein richtlinienkonformes Vorgehen,
sondern gleichermaßen mit Tipps über Maßnahmen für eine erfolgreiche SEO.

Barrierefreiheit (Accessibility)
Barrierefreiheit – also die Abwesenheit von Hindernissen – ist nicht nur für Menschen
mit Behinderung in Gebäuden oder Einrichtungen hilfreich und notwendig, sondern

3 Mit Meta-Description wird die Programmzeile bezeichnet, in der spezifische, die Websiteinhalte
beschreibende Begriffe aufgeführt werden. Zusammen mit der Titel-Programmzeile, in der ein
Titel für die Website vergeben werden kann, bildet sie die Informationen, die von Suchmaschinen
ausgelesen und i. d. R. für die Ergebnisdarstellung verwendet werden (Lammenett, 2021, S. 243–
247).
4 Keywords sind Suchbegriffe, die Nutzer:innen in Suchmaschinen eingeben. Für das Ranking

spielt die Platzierung von Keywords an den richtigen Stellen eine sehr wichtige Rolle.
120 A. Klein et al.

ebenso im Internet. Übertragen auf die Gestaltung und die Programmierung von Web-
sites gilt es, einen barrierefreien Zugang und Nutzung zu ermöglichen. Dies ist in
einigen Ländern bereits gesetzlich vorgeschrieben: In den USA beispielsweise ist
ein barrierefreies Webdesign bei öffentlichen Websites bereits heute Pflicht und wird
gemäß den Richtlinien zum „American Disabilities Act (ADA 1990)“ verbindlich vor-
geschrieben. In Europa – und damit auch in Deutschland – müssen seit der Veröffent-
lichung der EN 301 549 (Version 3.2.1) im Jahr 2021 öffentliche Stellen des Bundes
die aktualisierten rechtlichen Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit umsetzen. Diese
wurden in der Barrierefreien-Informationstechnik-Verordnung (BITV) konkretisiert
(Bundesfachstelle Barrierefreiheit, 2022)5. Dazu zählen beispielsweise Websites, Apps,
Intranet, Extranet und elektronische Verwaltungsabläufe (Behindertengleichstellungs-
gesetz, § 12a Absatz 1).
Neben dem rechtlichen Aspekt wird dem Faktor Barrierefreiheit von immer mehr
Suchmaschinen umfassende Bedeutung zugemessen und in die Berechnung eines Scores
einbezogen (Lammenett, 2021, S. 243). Diese können sich dabei auf international gültige
Standards zur Barrierefreiheit stützen. Daher ist es empfehlenswert, dass der Code einer
Website auf die Einhaltung der Standards des W3C Konsortiums (World Wide Web Con-
sortium) überprüft wird. Dieser Standard soll sicherstellen, dass Websites eine hohe
technische und redaktionelle Qualität erreichen (Kreutzer, 2018, S. 292–293).
Ein wichtiges Element zur Vermeidung von Barrieren ist ein guter Kontrast von Text
und Hintergrund sowie die Vergabe von Alternativtexten für Bilder (sog. Alt-Attribut).
Der Alternativtext wird im Quelltext hinterlegt und wird anstelle des nicht sichtbaren
Bildes angezeigt. Das ermöglicht es Menschen mit Sehbehinderung, die den Vorlese-
modus einschalten, die Websiteinhalte zu erfassen. Die Vergabe von alternativen Bild-
texten soll zudem eine höhere Score-Berechnung der Suchmaschinen ergeben (Sens,
2020, S. 28).

Ladegeschwindigkeit (Quality Performance)


Die Ladegeschwindigkeit ist ein wichtiger Indikator sowohl für die Nutzerfreundlich-
keit einer Website als auch für die Suchmaschinenoptimierung (Bernsau, 2021, S. 15).
Denn Suchmaschinen platzieren stets die schnellsten Websites weit oben und auch
Google betont aus diesem Grund, dass die Performance als Rankingfaktor künftig eine
wichtigere Rolle spielen wird (Bernsau, 2021, S. 15). Hier reicht es in der Regel aus,
die Startseiten zu bewerten. Diese können gerade bzgl. Suchmaschinen als zentrales Ein-
fallstor bezeichnet werden, da kurze Ladezeiten es wesentlich angenehmer machen, das
Web zu nutzen.

5 Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit ist bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-


Bahn-See angesiedelt und die zentrale Anlaufstelle in Deutschland zu Fragen der Barrierefreiheit
für die Behörden (Bundesfachstelle Barrierefreiheit, 2022).
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 121

Zur Betrachtung der Geschwindigkeit können unterschiedliche Faktoren heran-


gezogen werden, wie beispielsweise Anzeige des ersten Inhalts (Textes oder Bildes)
oder Anzeige aller Inhalte einer Seite. Bei dem ersten Indikator wird die Wartezeit von
maximal 3 s als akzeptabel betrachtet (Bernsau, 2021, S. 15).

Inhalt der Seite (Content)


Neben den eher technisch geprägten Kriterien bewerten Websitebesucher:innen den
Inhalt eines Internetauftritts auch und sicherlich vor allem dahingehend, ob und in
welchem Ausmaß ihre Bedürfnisse hinsichtlich Informationen, Leistungserstellung
etc. bedient werden. Es geht also um die inhaltliche Qualität einer Website. In einem
Literaturüberblick analysiert Law (2019) wissenschaftliche Studien aus der Tourismus-
branche mit reisebezogenen Informationen. Dabei werden unterschiedliche, die
Informationsqualität von Websites beschreibende Dimensionen identifiziert:

• allgemeine Produktinformationen (z. B. Produktvariationen, Details, Vergleichs-


möglichkeiten)
• detaillierte Produktinformationen zur Unterkunft (z. B. Umfeld, Transport, Gebäude,
Services, Bezahloptionen, Preisaspekte und Einrichtungen)
• Kombinationen aus allgemeinen und Detailinformationen (z. B. Grobbeschreibungen
und detaillierte Infos zu Zimmerraten und Fotos)
• Qualität der bereitgestellten Informationen (z. B. Zugänglichkeit, Korrektheit und
Zusatznutzen)

Progressive Web App (PWA)


Bis vor einigen Jahren beschränkte sich die grundsätzliche Betrachtung eines Inter-
netauftritts auf zwei Möglichkeiten: eine „normale“ Website, die über einen Browser
abrufbar ist und eine native App, also ein Programm, das speziell für das jeweilige
Betriebssystem (zum Beispiel Android oder iOS) geschrieben wurde und über App
Stores installiert werden konnte. Beide Möglichkeiten hatten ihre eigenen Schwächen,
sodass in den letzten Jahren eine neue Entwicklung zunehmend Beachtung findet: eine
„Progressive Web App (PWA)“. Damit ist eine Website gemeint, die durch spezielle
Programmierung das Beste von beidem – einer über den Browser abrufbaren Website
und einer App – in sich vereint. Eine PWA kann beispielsweise wie eine ganz gewöhn-
liche native App auf Handy, Tablet oder Desktop installiert werden, erfordert aber dafür
nicht zwangsläufig einen Besuch in einem App Store. Ihre Ladezeit ist deutlich geringer
als bei normalen Websites und sie bietet eine Offline-Funktion (Adetunji et al., 2020,
S. 93).
Die Entwicklung von PWAs steht im Zusammenhang mit einem weiteren
Charakteristikum von „guten“ Websites – und zwar deren Responsivität. Ein Internet-
auftritt mit einem responsiven Design zeichnet sich dadurch aus, dass er auf unterschied-
liche Endgeräte der Websitebesucher:innen reagiert. Überschriften, Bildgrößen oder
die Navigation funktionieren unabhängig vom Endgerät (z. B. Tablet, Desktop-PC oder
122 A. Klein et al.

Tab. 7.1  Anforderungen von KMUs an ein Website-Analysetool


Anforderung Erläuterung
Bedienbarkeit einfache Bedienung des Tools ohne aufwendige Installationen
Umsetzungen können selbst erfolgen oder auf Basis von Lösungs-
vorschlägen an externe Dienstleister übergeben werden
Zeitaufwand Durchführung von Analysen mit wenigen Klicks und geringem
Zeitbedarf
Pflege der Website sollte keine Vollzeitbeschäftigung erfordern
vorhandene Kenntnisse Erkenntnisgewinn über Schwachpunkte der eigenen Website ohne
tiefgreifende IT-, Marketing- und Design-Kenntnisse möglich
Darstellung Übersichtliche und für Laien verständliche Darstellung der Ergeb-
nisse
Lösungsvorschläge mit Erklärungen und Anleitungen, Tutorials
Kosten in einigen Bereichen kostenlos oder zu einem max. zweistelligen
monatlichen Betrag
externe Vergaben nach Leistungsumfang
Eigene Darstellung in Anlehnung an Raaf (2021) und Bernsau (2021)

Smartphone) und bereiten keine optischen Hindernisse (Bernsau, 2021, S. 23–24). Damit
verbunden ist auch die Devise „mobile first“, die bedeutet, dass sich die Erstellung und
Pflege von Websites auf den Abruf auf mobilen Endgeräten – und nicht wie ursprünglich
auf stationären Computern – konzentriert.

7.3 Digitale Analysetools als Instrument zur Bewertung von


Websites

7.3.1 Anforderungen an ein Analysetool

Von den zuvor genannten Erhebungsmethoden zur Bewertung der Qualität von Web-
sites kann insbesondere die Messung anhand objektiver Faktoren gerade für kleinere
Unternehmen im Tourismus wie z. B. Privathotels oder selbständige Reisebüros als
besonders hilfreich betrachtet werden. Viele touristische KMUs verfügen nicht über eine
IT-Abteilung oder Wissen in den Bereichen Informatik, Marketing oder Design. Daher
benötigen sie leicht verständliche und praktisch gestaltete Tools, die ihnen ermöglichen,
relevante Aspekte ganz einfach mit Hilfe von Checklisten selbst umzusetzen (Raaf, 2021,
S. 1). Welche weiteren Anforderungen solch ein Analysetool erfüllen soll, kann der
Tab. 7.1 entnommen werden.
Im Anschluss sollen nun gemäß den dargestellten Anforderungen die Website-Ana-
lysetools vorgestellt werden, die insbesondere die Prüfung und Optimierung des eigenen
Internetauftritts in Bezug auf die wichtigsten in Abschn. 1.2 aufgeführten Kriterien
ermöglichen.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 123

Tab. 7.2  Tools zur Analyse von Websites von kleinen und mittelständischen Unternehmen
Daten über technische und inhaltliche Faktoren: Wie performt die eigene Website
bei Suchmaschinen?
Google Search Console (alternativ: Bing search.google.com/search-console/welcome
Webmastertool, RYTE): Ranking im Such- de.ryte.com
ergebnis, Klickraten, Impressionen etc.
Google Analytics (alternativ: Piwik, Matomo, seoquake.com/index.html
SEO Quake): misst jeden einzelnen Klick auf
der Website und generiert Statistiken zu Seiten-
aufrufen, Besucherzahlen, Demografie oder wo
Nutzer herkommen
Ladegeschwindigkeit
Google Pagespeed (alternativ: Pingdom): misst developers.google.com/speed/pagespeed/
die Ladegeschwindigkeit der Website insights/
tools.pingdom.com/
Core Web Vitals: Probleme beim Laden der web.dev/vitals/
Website werden anhand einer Ampel in Echtzeit
angezeigt
JPEGmini: um die Ladegeschwindigkeit zu jpegmini.com/
erhöhen, verkleinert JPEGmini Bilddateien vor
dem Upload
Keywords
Google Ads Key Word Planer (alternativ: ads.google.com/intl/de_de/home/tools/
Hypersuggest): Googles kostenloses Tool für keyword-planner/hypersuggest.com/de/
Keywords, andere Tools sind kostenpflichtig
SeoQuake SEO Extension: Dieses Add-on seoquake.com/index.html
für die Browser Mozilla Firefox und Google
Chrome zeigt, wie hoch die Keyword-Dichte
für den Websitetext ist
Keywordtool.io: Bei kleinem Monatsbudget keywordtool.io/
für Google AdWords zu empfehlen; englisch-
sprachiges Tool für Keyword-Recherche (zeigt
Suchvolumen für Keywords und schlägt weitere
themenrelevante Keywords vor)
Responsivität
Google Mobile Friendly Tool in der Google search.google.com/test/mobile-friendly
Search Console
Snippet Optimizer von Ryte: Mit dem Snippet de.ryte.com/free-tools/snippet-optimizer/
Optimizer von Ryte können Suchergebnisse auf
den verschiedenen Endgeräten, wie beispiels-
weise dem iPhone, geprüft werden
Lesbarkeit: Texte mit einem Index-Wert unter 50 gelten als schwer verständlich, Ziel ist ein
Wert von über 60
(Fortsetzung)
124 A. Klein et al.

Tab. 7.2 (Fortsetzung)


Yoast-SEO: Flesch-Reading-Ease-Test hat fleschindex.de/
sich bei Usability-Expert:innen und Web-
Praktiker:innen etabliert, der z. B. in die
populäre Suchmaschinen-Optimierungs-Soft-
ware Yoast-SEO integriert ist
Verlinkung: wichtig für Performance und Vertrauenswürdigkeit
Yoast SEO (alternativ: SEO Quake): seoquake.com/index.html
Empfehlung pro Seite mindestens einen
internen und einen externen Link; Qualitätsein-
schätzung eines Backlinks6 (Prüfung des Sicht-
barkeitsindex in einem SEO-Tool wie Sistrix)
Google verwendet in der Search Console eigene search.google.com/search-console/welcome
Tools, um Vertrauenswürdigkeit einer Website
zu prüfen
Link Research Tools ist spezialisiert auf die linkresearchtools.com
Backlink-Analyse und -Bereinigung. Aufgrund
dieser Spezialisierung ist die Datenbasis als
sehr gut einzuschätzen
Barrierefreiheit
Sistrix (alternativ: Snippet Optimizer von app.sistrix.com/de/serp-snippet-generator
Ryte): Prüfung von Kriterien wie Vorhanden- de.ryte.com/free-tools/
sein von Title Tag und Meta Description, aus- snippet-optimizer/
sagekräftige Alt-Texte der Bilder bundesfachstelle- barrierefreiheit.de
Überprüfung der W3C-Standards https://validator.w3.org/
Sicherheit Datenschutz: Vorhandensein einer Datenschutzseite, HTTPS und weiterer Kriterien
KeyCDN: Prüfung von Kriterien wie Nutzung tools.keycdn.com/http2-test
eines SSL-Zertifikats, Anzeige von Cookie-Pop-
Up, explizite Abfrage der Datenspeicherungs-
zustimmung im Kontaktformular, Test, ob
HTTP/2 aktiv ist
Eigene Darstellung in Anlehnung an Raaf (2021), Bernsau (2021) und Sens (2020)

7.3.2 Vorstellung von Website-Analysetools für touristische KMUs

Die momentan auf dem Markt verfügbaren Tools konzentrieren sich vorwiegend auf
die technischen Kriterien wie zum Beispiel Ladegeschwindigkeit, Formatierung der
Überschriften oder Verlinkungen. Sie beziehen sich damit auf sogenannte Onpage-
Maßnahmen, die das Unternehmen beeinflussen kann, da sie auf der eigenen Website

6 Backlink (Rückverweis) ist ein Link von einer fremden, externen Seite zu der eigenen Internet-
seite. Je mehr hochwertige Backlinks vorhanden sind, desto attraktiver und vertrauenswürdiger
scheint eine Seite im Internet zu sein.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 125

stattfinden. Deren Fokus liegt zum großen Teil auf einzelnen Kriterien, sodass sie keinen
Anspruch darauf erheben, die Qualität eines Internetauftritts umfassend zu betrachten.
Hervorzuheben an dieser Stelle ist die Website zur Bewertung verschiedener SEO-
Tools (www.seo-vergleich.de/seo-tools/onpage-tools/). Die meisten dort vorgestellten
Tools sind für einen begrenzten Zeitraum und eine sehr begrenzte Anzahl von Seiten
kostenlos und anschließend gegen eine Gebühr zwischen 40 € und 100 € pro Monat zu
nutzen – abhängig von der Zahl der analysierten Domains und dem gewählten Paket
(Raaf, 2021, S. 16). Gängige Tools, die nach diesem Prinzip agieren, sind: Seobility,
Pagerangers, Ryte, XOVI, Screaming Frog und Ahrefs. In der Tab. 7.2. werden die ver-
schiedenen Tools und Werkzeuge für die Website-Analyse aufgezeigt und kurz erläutert
bzw. entsprechende Links angegeben.
Im folgenden Kapitel wird Google Lighthouse näher erläutert – ein Tool, das in
der obigen Tabelle nicht berücksichtigt wurde, das aber aufgrund seines umfassenden
Ansatzes im Fokus dieses Beitrags steht. Die theoretische Darstellung wird um eine
praktische Anwendung anhand einer Case Study touristischer Unternehmen aus den
Bereichen Hotellerie und Reiseanbieter ergänzt. Die Analyse am praktischen Beispiel
soll als Impulsgeber für KMUs in der Tourismusbranche – aber nicht nur – dienen.

7.4 Vorstellung und Bewertung von Lighthouse

7.4.1 Allgemeine Informationen

Google selbst beschreibt sein Tool wie folgt: „Lighthouse is an open-source, automated
tool for improving the quality of web pages. You can run it against any web page, public
or requiring authentication. It has audits for performance, accessibility, progressive web
apps, SEO and more.“ (Google Developers, 2021). Damit werden bereits die wichtigsten
Eigenschaften von Lighthouse genannt – eine kostenfreie Nutzung und Analyse jeder
Art von Websites unter Berücksichtigung folgender Bereiche: Leistung, Barrierefreiheit,
Sicherheit, Suchmaschinenoptimierung (SEO) und Progressive Web App.
Für die Installation des Tools gibt es drei Möglichkeiten: über die Google Platt-
form für die Entwickler (https://web.dev/measure/), über Installation eines Plug-
Ins im Browser und über einen Code-Befehl7. Die vierte Möglichkeit steht nur den
Nutzer:innen von Chrome zur Verfügung, ist allerdings die einfachste Möglichkeit: über
die Chrome-Entwicklertools8. Dafür muss lediglich nach dem rechten Mausklick auf

7 Dafür muss die Plattform Node.JS installiert werden. Diese Variante wird allerdings eher für IT-
versierte Marketingverantwortliche empfohlen und ist daher für KMUs eher zu vernachlässigen.
8 Sogenannte Entwicklertools bzw. Dev-Tools sind mittlerweile in den meisten Browsern integriert.

Sie beinhalten zahlreiche Funktionen zu Gestaltung, Analyse und Optimierung von Websites und
Web-Applikationen.
126 A. Klein et al.

Abb. 7.2 Abruf von Google Lighthouse über Chrome-Entwicklertools. (Quelle: Screenshot von
Google Lighthouse vom 23.02.2022)
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 127

Tab. 7.3  Einzelindikatoren des Bereichs Leistung


Indikator Gewichtung (%) Erklärung
First Contentful Paint 10 Zeit, die vergeht, bevor der erste Inhalt (Text oder
Bild) auf dem Bildschirm angezeigt wird
Speed Index 10 Zeit, die vergeht, bevor alle Inhalte einer Seite
sichtbar dargestellt werden
Largest Contentful Paint 25 Zeit, die vergeht, bevor der Hauptinhalt der Seite
auf dem Bildschirm angezeigt wird
Time to Interactive 10 Zeitpunkt, an dem die Seite voll interaktionsfähig
ist
Total Blocking Time 30 Zeit, die zwischen der ersten Nutzer:in-
Interaktion (z. B. Klick auf einen Button) und der
Reaktion der Seite darauf vergeht
Cumulative Layout Shift 15 Visuelle Stabilität beim Laden einer Seite
(Summe der unerwarteten Änderungen auf der
Seite beim Ladevorgang)
Eigene Darstellung in Anlehnung an Google Developers (2021) und Searchmetrics (o. J)

Tab. 7.4  Einzelindikatoren im Bereich Barrierefreiheit


Indikator Erklärung
Kontrast Wie kontrastreich ist die Gestaltung der Seite?
Navigation Sind alle Elemente der Seite (z. B. Überschriften) als
solche korrekt definiert?
Internationalization and localization Können die Inhalte der Seite in verschiedenen Sprachen
verstanden werden?
Best practices Wurden auf der Seite Best Practices für Barrierefreiheit
(z. B. Aktivierung einer Zoom-Funktion) angewandt?
Tabellen und Listen Sind die Tabellen und Listen so programmiert, dass sie
vorgelesen werden können?
Namen und Labels Sind wichtige Elemente (wie z. B. Links) beschrieben
und verfügen die Bilder über einen Alternativtext?
Eigene Darstellung in Anlehnung an Google Developers (2021) und Searchmetrics (o. J)

der zu untersuchenden Seite aus dem Auswahlmenü der letzte Befehl „Untersuchen“
gewählt werden9. Danach erscheint neben der untersuchten Seite ein separates Fenster,
in dem verschiedene Chrome-Entwicklertools in einer Zeile dargestellt werden. Google

9 Alternativ
kann das Tastaturkürzel Cmd + Option + I (Mac) bzw. der Strg + Shift + I (Windows)
verwendet werden.
128 A. Klein et al.

Lighthouse wird als letztes Tool unter „Lighthouse“ (Version 8.5; in einer früheren
Version unter „Audits“) aufgelistet. Nach der Auswahl des Tools erscheint eine Seite, auf
der man direkt zu einem Report gelangt. Voreingestellt ist die Analyse aller verfügbaren
Kategorien und die Untersuchung einer mobilen Version.10 In der Abb. 7.2 werden die
einzelnen Schritte zum Abruf von Google Lighthouse über Chrome-Entwicklertools als
Screenshots dargestellt.
Der Report beinhaltet zunächst eine übersichtliche Darstellung der Hauptergeb-
nisse, die mithilfe der Gesamt-Scores (0 bis 100) für die einzelnen Bereiche berechnet
werden. Deren Interpretation wird durch die Einordnung in eine der drei farblich gekenn-
zeichneten Klassen erleichtert: rot (schlecht: Score 0 bis 49), orange (durchschnittlich:
Score 50 bis 89) und grün (gut: Score 90 bis 100). Danach folgt eine Darstellung der
Einzelindikatoren des jeweiligen Bereichs sowie der konkreten Verbesserungsvorschläge.
Die farbliche Kennzeichnung wird ebenfalls bei der Darstellung der Analyse der Einzel-
indikatoren angewandt, was die Interpretation der Ergebnisse deutlich erleichtert.11 Die
Ergebnisse des Reports können als eine PDF-Datei (aber auch in anderen Formaten)
heruntergeladen werden. Hier bietet Lighthouse eine zusammengefasste Version (die
auch auf dem Bildschirm angezeigt wird) und eine erweiterte Version, die viele weitere
Detailinformationen und Erklärungen beinhaltet. Im Folgenden werden einzelne
Bewertungsbereiche detailliert dargestellt.12
In die Berechnung des Gesamt-Scores im Bereich Leistung fließen insgesamt sechs
unterschiedlich gewichtete Einzelindikatoren ein, die auf verschiedene Art und Weise die
Geschwindigkeit der Seite messen. Die Bedeutung und Gewichtung der Indikatoren kann
der Tab. 7.3 entnommen werden.
Der Bereich Barrierefreiheit bezieht sich auf die Zugänglichkeit der Seite, d. h.
ihre nutzerfreundliche Gestaltung. Zur Berechnung des Gesamt-Scores werden sechs
Indikatoren herangezogen, die insgesamt rund 40 zu prüfende Merkmale beinhalten.13
Die folgende Tab. 7.4 beinhaltet eine Darstellung der von Lighthouse zu überprüfenden
Indikatoren.
Der Bereich Best Practices umfasst vier Indikatoren (Trust and Safety, User
Experience, Browser Compatibility, General), in deren Rahmen insgesamt 16 Items

10 Der Nutzer kann entscheiden, ob die mobile Version oder eine Desktop-Version der Seite

getestet werden soll.


11 Auf die Erläuterung der kritischen Werte, die zur Bewertung und anschließend farblichen Kenn-

zeichnung der Indikatoren eingesetzt werden, wird an dieser Stelle verzichtet. Sie können der
aktuellen Seite der Google Developers (https://developers.google.com/web/tools/lighthouse) ent-
nommen werden.
12 Die Darstellung bezieht sich auf die Version 8.5.0 – die zum Zeitpunkt der Publikations-

erscheinung aktuellste Version von Google Lighthouse. Die früheren bzw. späteren Versionen
können davon abweichen.
13 Darüber hinaus werden zehn weitere Items genannt, die von den Nutzer:innen selbst manuell

geprüft werden können.


7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 129

Abb. 7.3 Zusammengefasste Ergebnisse der Google Lighthouse Analyse der untersuchten Start-
seiten (Unternehmen A, B und C). (Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 08.03.2022)

geprüft werden. Sie beziehen sich auf Sicherheitsaspekte wie Verwendung von HTTPS,
Einbindung von Ressourcen aus sicheren Quellen oder Vermeidung von unsicheren
Befehlen.
130 A. Klein et al.

Abb. 7.4 Detailergebnisse im Hinblick auf die Leistung der Startseite des Unternehmens A.
(Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)

Der vierte Bereich konzentriert sich auf die Suchmaschinenoptimierung (SEO).


Mithilfe von 13 Tests wird unter anderem geprüft, wie mobilfreundlich eine Seite
ist (nach dem Motto „mobile first“), ob Plug-ins vermieden werden und ob die Links
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 131

Abb. 7.5 Detailergebnisse im Hinblick auf die Barrierefreiheit der Startseite des Unternehmens
B. (Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)

auf der Seite eine Beschreibung beinhalten. Google selbst verweist auf einen ein-
geschränkten Umfang der zu prüfenden Aspekte und empfiehlt eine weitere tief-
ergehende Prüfung. Damit ist das hier angezeigte Ergebnis als erster Hinweis zu
verstehen, vor allem bei einem niedrigen Score, sich mit der Problematik detaillierter zu
befassen.
Der letzte fünfte Bereich bietet sich zur Analyse einer Progressive Web App. Unter
zwei Kategorien (Installable und PWA Optimized) werden neun Tests durchgeführt, die
die Kernfunktionalitäten einer PWA prüfen, wie zum Beispiel responsives Design oder
die Möglichkeit einer Offline-Nutzung der Seite.
132 A. Klein et al.

Abb. 7.6 Detailergebnisse im Hinblick auf die Sicherheit der Startseite des Unternehmens C.
(Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)

7.4.2 Case Study

Im Rahmen des Projektes #umdenken im Tourismus und digital umsetzen (https://


umdenken-im-tourismus.de/blog/) der IU Internationale Hochschule GmbH wurde
im Sommer und Herbst 2021 der Digitalisierungsstand der Tourismuswirtschaft in
Deutschland untersucht. Hierfür wurde unter anderem eine Analyse der Homepages
von rund 600 touristischen Unternehmen durchgeführt. Für die vorliegende Publikation
wurden daraus drei kleine bzw. mittelständische Unternehmen aus unterschiedlichen
touristischen Branchen ausgewählt. Anhand dieser Beispiele wird aufgezeigt, wie mit-
hilfe von Google Lighthouse ein eigener Internetauftritt analysiert und Verbesserungs-
potenziale erkannt werden können.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 133

Abb. 7.7 Detailergebnisse im Hinblick auf SEO der Startseite des Unternehmens C. (Quelle:
Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)

Eine übersichtliche Ausgabe der Scores der untersuchten Seiten in der Abb. 7.3
zeigt deren Stärken und Schwächen auf den ersten Blick. Die Startseite des ersten
Unternehmens (Unternehmen A) ist barrierefrei, sicher und suchmaschinenoptimiert.
Stark verbesserungswürdig ist allerdings ihre Ladegeschwindigkeit. Die zweite Startseite
(Unternehmen B) weist deutliche Schwächen hinsichtlich der Leistung und Barriere-
freiheit auf, ebenso sind die Sicherheitsaspekte nicht optimal. Dagegen wurde die Such-
maschinenoptimierung mit einem sehr guten Score bewertet. Die letzte Homepage
(Unternehmen C) weist in allen analysierten Bereichen Verbesserungspotenziale auf;
insbesondere die Themen Leistung und Sicherheit schneiden sehr schlecht ab. Keine der
untersuchten Startseiten wurde als eine PWA identifiziert.
Die nähere Betrachtung der Bewertung des Indikators „Leistung“ des Unternehmens
A in Abb. 7.4 zeigt, dass hier die Ladezeit, die notwendig ist, um erste Inhalte (Text oder
Bild) zu zeigen, noch als durchschnittlich (orange) bewertet werden kann; allerdings
sind alle anderen Indikatoren im „roten“ Bereich und damit stark verbesserungs-
würdig. Google Lighthouse liefert konkrete Vorschläge, wie dieses Problem gelöst
werden kann. Allerdings ist davon auszugehen, dass für deren Verständnis und vor allem
134 A. Klein et al.

deren Umsetzung bestimmte IT- bzw. Programmierungskenntnisse notwendig sind.


Empfehlungen wie „Aufwand für Hauptthread minimieren“, „Die Auswirkungen von
Drittanbieter-Code minimieren” und “Ausführung von JavaScript reduzieren” beziehen
sich auf Verbesserungen der Programmierung und dürften für die meisten „nicht-IT-
affinen“-KMUs nicht besonders verständlich sein.
Bei Unternehmen B ist neben der Leistung vor allem die Barrierefreiheit der Start-
seite als kritisch zu betrachten – siehe Abb. 7.5. Die durch Lighthouse in diesem Bereich
gelieferte Analyse beinhaltet keine quantitative Auswertung – wie dies beim Indikator
„Leistung“ der Fall ist, sondern qualitative Hinweise. Bemängelt wird beispielsweise ein
geringer Kontrast zwischen den Vorder- und Hintergrundfarben, die Formatierung der
Überschriften (Überspringen von bestimmten Überschriftenebenen) und das Fehlen der
Beschriftung bei Links. Die Hinweise werden durch Abbildungen der verbesserungs-
würdigen Elemente ergänzt.
Anders als bei Hinweisen zur Erhöhung der Ladegeschwindigkeit sind die
Empfehlungen zur Verbesserung der Barrierefreiheit auch für IT-Anfänger:innen weitest-
gehend verständlich. Sie können auch zur selbständigen Verbesserung der Seite durch
die Marketingverantwortlichen genutzt werden – vor allem dann, wenn die Website
selbständig mithilfe von Wordpress oder einem anderen Webdesign-Programm erstellt
wurde. An dieser Stelle ist allerdings der Hinweis von Lighthouse wichtig, dass weitere
manuelle Analysen empfohlen werden. Die im Rahmen des Projektes analysierten
Startseiten haben auch dann relativ hohe Barrierefreiheit-Scores erreicht, wenn sie
mit bloßem Auge als nicht gut lesbar (z. B. hellblaue Schrift auf blauem Hintergrund)
bewertet wurden.
Das Unternehmen C weist den größten Verbesserungsbedarf auf – hier erreicht
kein Indikator einen „grünen Score“. An dieser Stelle werden die Ergebnisse der bis
jetzt noch nicht betrachteten Indikatoren Best Practices (Sicherheit) und SEO (Such-
maschinenoptimierung) analysiert.
Der wichtigste Hinweis im Hinblick auf das Thema Sicherheit ist das fehlende
HTTPS-Protokoll – siehe Abb. 7.6. Damit besteht konkreter Handlungsbedarf für eine
Kontaktaufnahme mit dem Webhosting-Unternehmen bzw. der für die Programmierung
der Website zuständigen Person. Weitere auch für „IT-Laien“ verständliche Hinweise
beziehen sich auf die niedrige Auflösung und das inkorrekte Seitenverhältnis einiger
Bilder. Der erweiterte Report beinhaltet hierzu Detailinformationen, u. a. eine Auflistung
der angesprochenen Seiten bzw. Bilder. Andere Anmerkungen – wie zum Beispiel „Es
wurden Browserfehler in der Konsole protokolliert“ – dürften eher für IT-versierte
Unternehmen verständlich sein.
Die Analyse der Auffindbarkeit der Seite durch die Suchmaschinen – siehe
Abb. 7.7 – zeigt, dass sie nicht „mobile friendly“ ist, d. h. dass beim Abruf auf einem
Mobilgerät die Interaktion mit der Seite nicht optimal verläuft. Das liegt vor allem daran,
dass die Schrift und die interaktiven Elemente (z. B. Buttons) zu klein sind. Darüber
hinaus sind die Links so gespeichert, dass sie für die Crawler nicht zugänglich sind. Die
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 135

Suchmaschinen bekommen im Zweifelsfall nicht mit, dass die Seite des Unternehmens
bestimmte Informationen beinhaltet.

7.4.3 Bewertung von Lighthouse

Die Frage nach dem Nutzen von Lighthouse als Analysetool für Websites von kleinen
und mittelständischen Unternehmen fällt zum größten Teil positiv aus. Die Bedienung
von Lighthouse ist denkbar einfach – es ist keine Installation notwendig, die Analyse
wird nach wenigen Klicks und in kürzester Zeit durchgeführt, die Ergebnisse sind auf
den ersten Blick leicht zu verstehen. Dass Google Lighthouse kostenlos zur Verfügung
gestellt wird, ist ein weiterer großer Pluspunkt, da eine valide Website-Analyse mit ver-
gleichsweise geringem Aufwand ermöglicht wird.
Bei der Annahme, dass hier als Zielgruppe KMUs ohne tiefergehende IT-Kennt-
nisse im Fokus stehen, liefert der Report von Lighthouse viele wertvolle Hinweise auf
mögliche Schwächen der Seite und gleichzeitig auch konkrete Lösungsvorschläge. Ins-
besondere der erweiterte Report beinhaltet weiterführende Erklärungen, welche die
möglicherweise „abschreckend“ formulierten Anmerkungen der zusammengefassten
Version verständlicher machen. Auch existieren zahlreiche Erklärungen und Tutorials
zur Verwendung von Lighthouse. Bei Nutzern mit keinen bis geringen IT-Kenntnissen
können die Ergebnisse eine gute Grundlage für ein Gespräch mit den für die Erstellung
bzw. Hosting der Seite verantwortlichen Personen liefern. Die IT-affinen Unternehmen
können den Report nutzen, um selbständig bestimmte Verbesserungen vorzunehmen
(z. B. Beschriftung der Bilder für die Verbesserung der Barrierefreiheit der Seite). Auch
bei Verwendung von Content-Management-Systemen, also Software-Werkzeugen für
den Betrieb von Websites, kann die Bearbeitung von analysierten Indikatoren nach einer
durchgeführten Schulung gut intern erfolgen. Das entspricht grundsätzlich der Mentali-
tät des Mittelstandes, der vielfach argumentiert, dass eine interne Pflege kostengünstiger
sei und weniger Vorbereitung bedarf sowie schneller erfolgen kann. Hier ist allerdings
darauf zu achten, für bestimmte Aufgaben – gerade im Bereich SEO – externe Hilfe hin-
zuzuziehen. Teure Anfängerfehler lassen sich so vermeiden, die in den meisten Fällen
nur mit sehr viel Zeit und Geld wieder behoben werden können (Raaf, 2021, S. 1).
Essenziell ist aber dabei, dass – auch wenn Teilbereiche an externe Dienstleister mangels
Zeit oder Know-how ausgelagert werden – die Führung, die Zielsetzung und die Quali-
tätskontrolle bei dem touristischen Unternehmen bleibt.
Als Kritikpunkt ist vor allem die Tatsache zu nennen, dass die Ergebnisse je nach
Zeitraum bzw. Gerät zum Teil unterschiedlich ausfallen können; vor allem der Per-
formance-Score ist stark von der jeweiligen Internetverbindung beim Testen abhängig.
Darüber hinaus bezieht sich der Report auf die einzelnen Seiten einer Domain und nicht
auf die gesamte Domain bzw. den gesamten Internetauftritt, sodass ggf. mehrere Tests
notwendig sind. Es soll auch hervorgehoben werden, dass die Analysen – insbesondere
im Hinblick auf Barrierefreiheit und SEO – bei Weitem nicht alle wichtigen Aspekte
136 A. Klein et al.

beinhalten und eher als eine Basis für weitere Analysen zu verstehen sind. Diese sind
auch aus einem anderen Grund notwendig – Google Lighthouse beschränkt sich auf die
Analyse von fünf eher technischen Indikatoren, unbeachtet bleiben qualitative Aspekte
wie der Content der Seite und seine Darstellung.

7.5 Fazit

Was macht eine gute Website aus? Wie können Unternehmen auf ihre Internetpräsenz
aufmerksam machen und vor allem wie von Suchmaschinen gefunden werden? Welche
Möglichkeiten gibt es für Unternehmen, technische Kennzahlen über die Performance
ihrer Website zu bekommen? Mit diesen und weiterführenden Fragen beschäftigt sich
der vorliegende Beitrag und liefert sowohl theoretische als auch sehr praxisorientierte
Ansätze. Insgesamt liegt der Schwerpunkt auf der Perspektive kleiner und mittel-
ständischer Unternehmen (KMUs), die sich oftmals aufgrund der Ressourcenausstattung
mit der Optimierung ihrer Website schwertun. Insbesondere die Tourismusbranche ist
durch viele KMU-Anbieter gekennzeichnet, gleichzeitig herrscht großer Wettbewerb,
Informationsüberfluss im Internet und ein mittlerweile durch Onlinekonsum geprägtes
Nachfrageverhalten. Der vorliegende Beitrag untersucht daher als zentrale Fragestellung,
welche Internetanalysetools gerade KMUs zur Verfügung stehen und wie diese speziell
von touristischen Anbietern eingesetzt werden können.
Bei der Internetoptimierung spielen sowohl quantitative (technische) als auch
inhaltliche (qualitative) Aspekte eine Rolle. Der Beitrag fokussiert sich auf technisch
ausgelegte Kriterien, da diese von den Unternehmen oftmals eigenständig für die
Optimierung ihres Internetauftritts eingesetzt werden können. Faktoren wie Barriere-
freiheit, Ladegeschwindigkeit und die Suchmaschinenoptimierung spielen hierbei eine
zentrale Rolle. Diese Kriterien können mittels Software-Tools – oftmals online und in
Echtzeit – erhoben werden. Ein Überblick über Anforderungen an diese Tools zur Ana-
lyse von Websites wird um eine Auswahl momentan verfügbarer Tools ergänzt. Auf
Grundlage der theoretischen Fundierung erfolgt die Vorstellung des kostenlosen Online-
Tools Google Lighthouse anhand einer Case Study drei anonymisierter Unternehmen aus
der Tourismusbranche.
Die Erkenntnisse aus einer Google Lighthouse Analyse helfen KMUs sowohl,
einen ersten Überblick über die Leistungsfähigkeit ihrer Website zu erlangen als auch
detailliert Ansatzpunkte für Verbesserungen zu bekommen. Insbesondere die übersicht-
liche Darstellung der sekundenschnellen Auswertung zu Sichtbarkeit im Internet, ver-
besserter Auffindbarkeit durch Suchmaschinen und damit einer besseren Platzierung in
Suchergebnislisten ohne explizites finanzielles Investment konnten als zentrale Vorteile
von Google Lighthouse identifiziert werden.
Wenngleich die Analyseergebnisse durchaus technisch ausgerichtet sind, ermög-
lichen sie KMUs, einen Leistungstest der eigenen Webpräsenz vorzunehmen. Ob die
notwendigen Verbesserungen (z. B. Programmierung, SEO) selbstständig oder von
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 137

externen Spezialisten umgesetzt werden, hängt vom Kenntnisstand und den Ressourcen
der KMUs ab. Oftmals reichen die Lighthouse-Analyseergebnisse aber aus, um sich
einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der eigenen – oder sogar im Sinne einer
Benchmarkanalyse von Wettbewerbssites – zu verschaffen.

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Anna Klein ist Professorin für Tourismusmanagement an der IU Internationale Hochschule


– Duales Studium und akademische Leiterin am Standort München. Darüber hinaus ist sie Vize-
präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft e. V. (DGT) und Mitglied im
Wissenschaftsbeirat des Bayerischen Zentrums für Tourismus e. V. Schwerpunkte ihrer Arbeit
sind Digitalisierung im Tourismus, Destinationsmanagement und nachhaltiger Tourismus. Sie ver-
fügt über jahrelange praktische Erfahrungen im Tourismusbereich, die sie als Senior Consultant
bei BTE Tourismusberatung und Regionalberatung in Berlin sammeln konnte. Sie war dort für die
internationalen Projekte, insbesondere in Ost- und Südosteuropa, verantwortlich.

Ina zur Oven-Krockhaus ist Studiengangsleiterin und Professorin für Tourismusmanagement


an der IU Internationale Hochschule – Duales Studium. Sie verfügt als Diplombetriebswirtin
und promovierte Kommunikationswissenschaftlerin sowie durch eine 18-jährige Berufstätig-
keit im weltweit führenden Tourismuskonzern TUI über ein sehr umfangreiches Fachwissen im
Bereich Tourismuswirtschaft. Als Direktorin Marketing TUI Cruises sowie Direktorin Marketing
und Kommunikation TUI Business Travel und Leiterin Unternehmenskommunikation TUI AG
entwickelte sie z. B. das TUI Logo „Smile“ mit und zeichnete für die internationale Einführung
verantwortlich. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit
Digitalisierung sowie Kommunikation und Marketing von touristischen Unternehmen.

Sven Pastowski ist Professor für Wirtschaft und Management an der IU Internationale Hoch-
schule – Duales Studium. Er lehrt und forscht u. a. in den Fachbereichen Betriebswirtschafts-
lehre, Tourismusmanagement, Marketing und Strategisches Management. Nach dem Studium der
BWL an der Universität Bayreuth arbeitete und promovierte er am dortigen BWL-Lehrstuhl für
Dienstleistungsmanagement zum „Qualitätsmanagement bei Dienstleistungen“. Sein besonderes
Interesse gilt dienstleistungsspezifischen Fragestellungen, u. a. aus der Sportartikelbranche, dem
Handel, der Kultur oder dem Tourismus. Sven Pastowski verfügt über langjährige Berufs- und
Führungserfahrung bei der adidas AG in den Themengebieten Konsumgüterbranche, Marketing
und Öffentlichkeitsarbeit, Projektmanagement, Organisationsentwicklung sowie Nachhaltigkeits-
und Innovationsmanagement.
Teil III
Ziele, Strategien und Innovationen
Open Innovation
8
Vom gehypten Sammelbegriff zum dominanten Prinzip

Natascha Hebestreit  

Zusammenfassung

Bei Open Innovation geht es nicht so sehr um die Frage der absoluten Neu-
heit des Grundgedankens, sondern vielmehr um die Entwicklungen in Bezug auf
seine Umsetzungen, die sich in den letzten Jahren stark verändert haben – und von
denen Weiterentwicklungen auch zukünftig zu erwarten sind. Dabei kommt der
Digitalisierung aus zwei Gründen eine Schlüsselrolle zu: Einerseits ermöglicht sie
neue Informationsflüsse und Kooperationsformen, andererseits sind die digitalen
Technologien selbst Felder für Innovationen. Besonders im Bereich der alternativen
Anwendungsfelder für interne Technologien (inside-out) haben viele Unternehmen
noch ungenutztes Potenzial. Es sind aber nicht immer freiwillige Entscheidungen,
welche einer Öffnung des Innovationsprozesses vorausgehen, sondern oft externe
Erfordernisse wie fehlendes internes Know-how, die nicht nur Unternehmen dazu ver-
anlassen, sondern auch Staaten.

N. Hebestreit (*)
Fernfachhochschule Schweiz, Turin, Italien
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 141
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_8
142 N. Hebestreit

8.1 Worum es geht

„Das, was Sie da Open Innovation nennen, heißt bei uns einfach Forschung und Ent-
wicklung.“ Sicherlich hatte der Herr mit dieser Wortmeldung zu meinem Vortrag auch
Provokation im Sinn. Skepsis bezüglich altem Wein in neuen Schläuchen ist in der
Betriebswirtschaftslehre nicht immer fehl am Platz. Er könnte damit aber auch zum Aus-
druck gebracht haben, dass Open Innovation mittlerweile so verbreitet ist, dass es zum
Synonym für unternehmerische Innovation geworden ist. Handelt es sich tatsächlich
um eine neue Form des Innovationsprozesses? Lassen sich strukturelle oder funktionale
Unterschiede feststellen oder handelt es sich vielmehr um einen treffenden Begriff, in
dessen Schlepptau sich Veränderungen der Innovationspraxis allmählich vollziehen?
Welche Rolle spielen die Digitalisierung und neue Kommunikationstechnologien? Hat
sich die Innovationspraxis in erfolgreichen Unternehmen wie auch die Forschung der
letzten zwei Jahrzehnte so stark verändert, dass es sich lohnt, mehr darüber zu erfahren?
Und welchen Ausblick können wir wagen? Wird uns Open Innovation noch lange
begleiten, oder ist der Zenit seiner Popularität bereits überschritten?
Diesen Fragen widmet sich der folgende Artikel und gibt dabei einen kurzen Über-
blick über die Geschichte des Begriffs Open Innovation seit seiner Einführung durch
Chesbrough im Jahr 2003 und wie das Konzept die unternehmerische Praxis wie auch
die wissenschaftliche Forschung durchdrungen und verändert hat. Dabei soll eine Ver-
bindung zur Digitalisierung in besonderem Fokus der Betrachtung stehen. Die Vielzahl
der Ausprägungen und Vorgehensweisen bei einer Öffnung des Innovationsprozesses
macht es für Unternehmen zwingend notwendig, den Kontext und die erreichbaren
Ziele sowie Risiken der einzelnen Formen zu kennen, um sie erfolgreich einsetzen und
effizient nutzen zu können. Unter dem Begriff muss man sich nämlich vielmehr einen
bunten Werkzeugkasten vorstellen – und nicht jedes Problem lässt sich mit einem
Hammer lösen. Anschließend möchte dieser Artikel einen Ausblick in die Bereiche
wagen, in denen ein großes Potenzial für Open Innovation erwartet wird und die in
den letzten Jahren eine neue Richtung eingeschlagen haben – die öffentliche Hand und
Regierungen mit einer Erweiterung auf nicht-monetäre Zielgrößen.

8.2 Erfolgsgeschichte eines Begriffs

Es besteht Einigkeit darüber, dass der Begriff Open Innovation auf Chesbrough (2003)
zurückgeht – mit einer weiteren Spezifizierung wenige Jahre später (Chesbrough, 2006).
Dabei handelt es sich um einen Oberbegriff, der eine Vielzahl bereits bestehender
Praktiken zusammenfasst, verbindet und integriert (Huizingh, 2011, S. 3). Gemeinsam
ist allen eine Öffnung von Unternehmensgrenzen für Innovationen gegenüber der
Außenwelt, die entweder in einer Absorption externer Information (outside-in) oder in
einer Vermarktung interner Innovationsaktivitäten (inside-out) bestehen kann.
8 Open Innovation 143

u „Open innovation processes combine internal and external ideas together into platforms,
architectures, and systems. Open innovation processes use business models to define the
requirements for these architectures and systems. These business models access both
external and internal ideas to create value while defining internal mechanisms to claim some
portion of that value.“ (Bogers et al., 2018, S.6)

An dieser Definition fällt auf, dass die Notwendigkeit von strukturellen Elementen
hervorgehoben wird und zugrunde liegende Geschäftsmodelle einen systematischen
Prozess von zufälligen oder gelegentlichen Ereignissen unterscheiden. Deshalb muss
Open Innovation als Erweiterung, nicht als Ersatz einer traditionell vertikal ver-
ankerten Forschung und Entwicklung (wie sie bspw. von Freemann 1974, Chandler,
1990 oder Pavitt, 1991 beschrieben wird) verstanden werden, bei der externe Partner
zum Produktionsprozess hinzugezogen und gleichzeitig neue Märkte für interne Ent-
wicklungen zum Beispiel über Lizenzen gesucht werden (Chesbrough, 2006). Als
Konsequenz werden die Unternehmensgrenzen durchlässiger in Bezug auf Innovationen
und Wissen (Pénin et al., 2011, S. 16).
Open Innovation wird dabei oft als Gegenkonzept zu einem abgeschlossenen,
internen und geheimen Forschungs- und Entwicklungsprozess verstanden (closed
innovation), wobei bezweifelt werden darf, ob in der Unternehmenspraxis ein solches
Vorgehen jemals verbreitet gewesen ist (vgl. Dahlander & Gann, 2010). Vorstellbar ist
das höchstens in wenigen sensiblen Branchen wie dem Militär oder im Energiesektor,
aber sicherlich haben Unternehmen immer schon Ideen und Wissen ihrer Stakeholder zur
Weiterentwicklung genutzt (Pénin et al., 2011, S. 14). Was war also tatsächlich neu an
dem, was Chesbrough präsentiert hat? Die Erkenntnis, dass sich mehr Wissen außerhalb
eines Unternehmens befindet1, hatte schon vorher unter unterschiedlichen Begriffen
(bspw. „modular innovation“, Brusoni und Prencipe (2011), „distributed innovation“ bei
Kogut, 2008 und McKelvey, 1998 oder „dispersed innovation“ bei Becker, 2001) Ein-
gang in die Innovationsforschung gefunden.
Zunächst einmal kann der Einbezug einer Inside-out-Perspektive für Innovationen als
konträr zur bis dato vorherrschenden Lehrmeinung verstanden werden, wonach Betriebs-
interna niemals verkauft oder geteilt werden sollten (Mascarenhas et al., 1998). Open
Innovation legt Unternehmen ausdrücklich nahe, interne Innovationen zu teilen und bei-
spielsweise dafür neue Märkte, Lizenzen für andere Marktteilnehmer oder Spin-offs zu
schaffen.
Dann ist der Erfolg des Begriffs aber auch darauf zurückzuführen, dass er gerade
nicht von Grund auf neu war, sondern Anknüpfungspunkte zur bestehenden Innovations-
forschung sowie einer sich verändernden Unternehmenspraxis hatte. Chesbrough leitet

1 Inder Literatur trifft man dazu häufig Joy´s law, das dem Mitgründer von Sun Microsystems Bill
Joy (*1954) zugeschrieben wird: „No matter who you are, most of the smartest people work for
someone else.“
144 N. Hebestreit

seine Erkenntnisse von der Beobachtung ab, dass eine kleine Anzahl großer innovativer
Unternehmen von der traditionellen Innovationspraxis abgewichen sind (Chesbrough &
Rosenbloom, 2002), was seinerseits auf einer seit den 1970er Jahren gereifte Erkennt-
nis beruht, dass sich Quellen für Innovationsideen häufig außerhalb der Unternehmung
befinden (vgl. Freeman, 1974 oder Gibbons & Johnston, 1974). So spricht Allen bereits
1977 von F&E-Abteilungen als einem „open system“ (Allen, 1977) mit einer externen
Unterstützung zur Findung neuer Ideen und von Hippels Arbeiten haben diese Ansichten
verstärkt und weiter ausgebaut (von Hippel, 1976, 1978, 1982). Einen wesentlichen Bei-
trag hatten auch die Erkenntnisse von Teece (1986), der sich vertieft mit den Heraus-
forderungen von Unternehmen bei der Monetarisierung von Innovationsaktivitäten
beschäftigt hat. Hier spielen Betrachtungen des Technologiemarktes mit seiner unvoll-
ständigen Information sowie asymmetrischer Machtverteilung der Verhandlungsparteien
eine zentrale Rolle.
Das Konzept ist folglich als Beobachtung der Unternehmenspraxis geboren und hat
durch den Eingang in die Forschungsliteratur, an die es aufbauend anknüpfen konnte,
mit daraus folgenden Konferenzen, Special-Issue Themen in Journals und Seminaren zur
Verbreitung beigetragen, sodass es heute als common sense begriffen werden kann. Die
Forschungsarbeiten haben damit als Katalysator für die weitere Verbreitung dieser Art
von Innovationsaktivitäten gesorgt, einen internationalen Know-how-Transfer ermöglicht
und Rückkopplungseffekte in die Unternehmenspraxis erzeugt. Chesbroughs Beitrag
durch Schaffung des Begriffs Open Innovation als „a catch-all term for any new model
of innovation“ (West et al., 2014, S. 805) kann vor allem in einer neuen Sprache für Ver-
änderungen der Forschungs- und Entwicklungsarbeit sowie in einer neuen Ausrichtung
von innen nach außen verstanden werden. Führungskräfte sind ermutigt worden, neue
Formen der Innovationskommerzialisierung zu finden und ein neues Verständnis für die
Risiken aus einem solchen Vorgehen zu vertreten.

8.3 Digitalisierung – treibende Kraft und eigenes


Innovationsfeld

Zwei treibende Kräfte lassen sich hinter dem Siegeszug von Open Innovation identi-
fizieren, und zwar einmal die Globalisierung, die zu einer Verstärkung von Arbeits-
teilung und neuen gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Arbeitsformen geführt hat
(Huizingh, 2011 S. 4) und die Digitalisierung mit neuen Kommunikationstechnologien
zur Zusammenarbeit über geografische Distanzen hinweg (Dahlander & Gann, 2010
S. 2–3). Letztere hat neue Formen der Open Innovation wie das Crowdsourcing oder die
Nutzung digitaler Plattformen, von denen weiter unten noch die Rede sein wird, über-
haupt erst in dem heutigen Ausmaß möglich gemacht. Wenn die Kernidee hinter Open
Innovation die Fähigkeit eines Unternehmens ist, Teil eines Ökosystems zu sein, in dem
Menschen, Organisationen und Branchen gemeinsam entwickeln und Wissen teilen
(Adner & Kapoor, 2010), dann sind digitale Technologien ein unverzichtbarer Bestand-
8 Open Innovation 145

teil eines solchen Umfeldes. Dank ihnen verlaufen Entwicklungsprozesse nicht mehr
linear, sondern in Feedback-Schleifen, bei denen Nutzer zurückmelden, welche Arten
von Innovationen gebraucht werden (Bogers et al., 2010). Durch die Digitalisierung
haben sich Machtverhältnisse vom Anbieter zum Nachfrager verschoben und Unter-
nehmen können es sich heute aus Wettbewerbsgründen nicht mehr leisten, Ansprüche
und Bedürfnisse zentraler Stakeholder zu ignorieren (Jones et al., 2017).

Großes Potenzial für die Digitalisierung im Baugewerbe

„Das Bauen nach traditionellen Methoden ist nicht wirklich effizient.“ (Woerle,
Unternehmen Hilti 2021) Dabei bietet die Digitalisierung für das Baugewerbe nicht
nur Chancen im Bereich der integralen Planung (Building Information Modeling),
sondern Dank großer Datenverarbeitungskapazitäten wäre es möglich, repetitive und
gefährliche Tätigkeiten von Robotern ausführen zu lassen – bspw. die Bohrungen zur
Sprengung oder Begutachtungen von einsturzgefährdeten Gebäuden. ◄

Wir beobachten aber auch, dass die Digitalisierung Schwierigkeiten hat, in Kernsektoren
der Realwirtschaft Fuß zu fassen und dort Wachstum und Effizienzsteigerungen zu
unterstützen. Nur zögerlich erleben wir, wie digitale Technologien in streng regulierte
Branchen wie Gesundheit, Energie, Transport, Wohnen oder den Finanzsektor vor-
dringen, und wir befinden uns weiterhin in einem Anfangsstadium, bei dem Erfolg
mit viel Unsicherheit behaftet ist. Doch gerade in diesen wachstumsstarken Sektoren
entwickelter Volkswirtschaften wird Potenzial für positive Wachstumsschübe ver-
mutet (Bogers et al., 2018, S. 9) und es ist eine Welt, in der Blockchain, IoT, Machine
Learning und Big Data zu den dominanten und beschreibenden Begriffen für unsere
wirtschaftliche Realität werden (Case, 2017). Mittels Open Innovation können neue
Geschäftsmodelle, Märkte und Lösungen entwickelt werden, um in diesen Sektoren
die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Dabei könnten cross-industry Innovationen,
bei denen Prozesse und Verfahren aus einer Branche in eine andere überführt werden,
besonders erfolgversprechend sein – ähnlich der militärischen Kommunikationstechno-
logie, die wir alle heute als Handys in der Hosentasche tragen, oder dem Teflon, das
vom Korrosionsschutz bei der Urananreicherung seinen Weg bis in die heimischen Brat-
pfannen gefunden hat (Rhodes, 1986).
Im Jahr 2011 wagte Huizingh die Prophezeiung, dass Open Innovation sich in
den folgenden zehn Jahren so weit verbreitet haben wird, dass es zur dominanten
Innovationspraxis geworden und der Begriff dadurch seiner Distinktionskraft beraubt
sein wird.

u „My prediction is that we should not be surprised to learn that within a decade, the
term will fade away. Not because the concept has lost its usefulness, but, on the contrary,
because it has been fully integrated in innovation management practices.“ (Huizingh,
2011, S. 7).
146 N. Hebestreit

Forschungsbedarf im Bereich Open Innovation

Passung
Bessere Messbarkeit Anwendungserweiterung
Open Innovaon Prakk und
von Erfolg und Kosten auf Regierungen und NGOs
Anwendungskontext

Abb. 8.1 Zukunftstrends aus der Open-Innovations-Forschung

Einer der Gründe, warum sich diese Vorhersage bisher nicht erfüllt hat, könnte in der
unzureichenden Diffusion digitaler Technologien in jenen genannten Sektoren der Real-
wirtschaft liegen und in der Bedeutung, die Open Innovation für eine Erschließung
zugeschrieben wird. Dann würden Open Innovation und Digitalisierung bei der Durch-
dringung unserer Wirtschaft und ihrer Weiterentwicklung gewissermaßen Hand in Hand
gehen und Open Innovation würde in gleichem Maße wie sich die Digitalisierung ver-
breitet, zur dominanten und selbstverständlichen Innovationspraxis werden, die keiner
gesonderten Betrachtung mehr bedarf. So lange eine solche Erschließung noch aussteht,
dürfte uns der Begriff also weiterhin begleiten.

u „Open innovation will play a key role in the developed economies over the next
decade. There will be new technological trends that will fuel innovation, from
blockchain to digitalization to genomic editing.“ (Bogers et al., 2018, S. 11)

Drei Trends zeichnen sich aktuell aus der Forschung zu Open Innovation ab (Abb. 8.1):
Ein Bedarf nach einer besseren Messbarkeit von Erfolg (Spithoven et al., 2013) und
den Kosten von Open Innovation (Faems et al., 2010) einerseits und einer Lösung der
Frage nach der richtigen Passung von Open-Innovation-Praktiken unter Einbezug des
konkreten Anwendungskontextes andererseits (beides nach West et al., 2014). Eine
dritte Entwicklung deutet in Richtung von Regierungen, NGOs mit einer Erweiterung
der Zielgrößen um nicht-monetäre Zwecke und supranationalen Organisationen, die
ihrerseits nach Entwicklungsmöglichkeiten durch Open-Innovation-Praktiken suchen
(siehe Abschn. 1.6).

8.4 Kontextabhängigkeit von Open Innovation

Zwei große Irrtümer sind noch immer in der unternehmerischen Praxis anzutreffen,
wenn es um die Nutzung von Open Innovation geht. Einer ist eine unzureichende
Unterscheidung zwischen Prozess und Ergebnis (von Hippel, 2010) – ein offener Ent-
wicklungsprozess muss nicht zwangsläufig auch zu einem öffentlichen Ergebnis führen
8 Open Innovation 147

und zwischen Inhalt, Kontext und Prozess muss unterschieden werden (Pettigrew, 1990).
Gleichzeitig ist eine freie Verfügbarmachung von Innovationen – also eine Öffnung nicht
nur in Bezug auf den Prozess, sondern auch auf das Innovationsergebnis – nicht immer
so ökonomisch widersinnig wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Pisano (2006) hat
gezeigt, dass Wettbewerbsvorteile nicht zwangsläufig auch mit einem starken Schutz des
geistigen Eigentums einhergehen, und für eine Öffnung kann es im Einzelfall durchaus
rationale Überlegungen geben (von Hippel & Krogh, 2006).
Der andere ist ein kontextunabhängiger Einsatz von Open-Innovation-Praktiken, die
gerade als im Trend liegend empfunden werden, um „auch etwas in dem Bereich“ vorzu-
weisen. Doch wie nicht zu jedem Unternehmen und jeder Art von Kundenbeziehung ein
eigener YouTube-Kanal passt, lassen sich auch nur ganz bestimmte Arten von Problemen
über Crowdsouring-Plattformen lösen.
Noch wissen wir zu wenig über den Erfolg und das Scheitern von Open Innovation
Aktivitäten und bei Fehlschlägen kann nicht immer eindeutig gesagt werden, ob es sich
um eine falsche Anwendung gehandelt hat oder ob Open Innovation an sich die falsche
Herangehensweise war (Huizingh, 2011, S. 4). Die Höhe von Transaktionskosten (Keupp
& Gassmann, 2009) und die Effizienz hängen dabei auch von den externen wie internen
Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer ein Unternehmen operiert.
Zu den internen Faktoren gehören beeinflussbare Größen wie die Mitarbeiterstruktur
– Anzahl, demografische Verteilung, aber auch Eigenschaften wie das Ausbildungsniveau
(untersucht bei Harison & Koski, 2010) – die strategische Ausrichtung oder auch die
Unternehmensgröße, wobei Open Innovation längst nicht mehr nur großen Unternehmen
vorbehalten ist (van de Vrande et al., 2009).
Technisches Wissen und eine grundlegende Technologiestrategie gehören zu
den wichtigsten Ressourcen für viele Unternehmen (Diaz-Diaz et al., 2006) und
Lichtenthaler und Ernst (2009) identifizierten in ihrer Studie mit 154 Industrieunter-
nehmen, dass ein hoher Grad an Aggressivität (technology aggressiveness nach
Weisenfeld-Schenk, 1994) in Bezug auf eher radikale oder inkrementelle technologische
(Weiter-)Entwicklungen einen negativen Effekt auf die Nutzung externer Informationen
(inbound), aber einen positiven Effekt auf die externe Verwertung von internem Wissen
(outbound) hat. Je zentraler Technologien für den Wettbewerbserfolg sind, desto besser
lassen sich technische Innovationen verkaufen – wohl auch mit dem Ziel, die eigene
Technologie als Branchenstandard zu implementieren (Colarelli O´Connor, 2006).
Auch der Produktlebenszyklus beeinflusst das Suchverhalten und in frühen Ent-
wicklungsphasen werden Informationen stärker vertieft, während in späteren Ent-
wicklungsphasen eine breitere, oberflächlichere Informationssuche über verschiedene
Kanäle dominiert (Laursen & Salter, 2006).
Zwar haben Produktinnovationen eine bessere Sichtbarkeit, doch gerade
Prozessoptimierungen haben ein unterschätztes Potenzial für Open Innovation (West
& Gallagher, 2006). Dabei erliegen technische Experten oft der Fehlannahme, die
Komplexität und den spezifischen Kontext eines Problems als Ausschlusskriterium für
Open Innovation anzusehen. Tatsächlich sind die kritischen Elemente eines technischen
148 N. Hebestreit

Problems aber selten einzigartig (Ilevbare et al., 2013) – Hitzeentwicklung durch


Reibung entsteht in der Luftfahrt ebenso wie beim Schleifen von optischen Linsen, und
das Anheften von Proteinen an der Oberfläche von Plastikverpackungen kommt bei
medizinischen Eiweißen ebenso vor wie in der Lebensmittelbranche. Eine Abstraktion
vom konkreten Problemkontext eröffnet oft interessante Möglichkeiten zur Adaption
branchenfremder Technologien, die zudem noch das Entwicklungsrisiko minimieren,
weil sie sich in einem anderen Kontext bereits bewährt haben. So können Unternehmen
auch in streng regulierten und technisch anspruchsvollen Kontexten – wie bspw. der
Pharmabranche – durchaus von einer Öffnung des Innovationsprozesses profitieren,
brauchen aber externe Experten für eine Anpassung und Implementierung in den eigenen
Fertigungsprozess sowie eine Schulung der eigenen Mitarbeiter für die branchenexterne
Praxis.
Ein unternehmensexterner Faktor, dem ein Einfluss auf Open Innovation in
der Literatur zugeschrieben wird, ist eine Branchenabhängigkeit. Viele Studien
konzentrieren sich auf spezielle Branchen – Nahrungsmittel (Sarkar & Costa, 2008),
Finanzdienstleistungen (Fasnacht, 2009), Automobil (Ili et al., 2010) oder Biotechno-
logie (Fetterhoff & Voelkel, 2006) – und untersuchen beispielsweise die Sensibilität
in Bezug auf die Offenlegung von Informationen (Gassmann, 2006). Dieser Fokus auf
spezielle Branchen ist aber wohl eher der Erforschung des Untersuchungsgegenstandes
geschuldet als einem tatsächlichen dominanten Einfluss der Branche. Wir beobachten
eine weite Verbreitung von Open Innovation über zahlreiche Branchen hinweg
(Chesbrough & Crowther, 2006; Keupp & Gassmann, 2009; Lichtenthaler & Ernst,
2009; Faems et al., 2010), wenn sich auch dieser Trend nicht gleichzeitig überall durch-
setzt und wir das bereits erwähnte Potenzial für bestimmte Branchen noch nicht überall
erschöpft sehen.

8.5 Herausforderungen bei der Umsetzung in Unternehmen

Es scheint also weniger von der Branche als von der Strategie des einzelnen Unter-
nehmens abzuhängen, ob und wie Open Innovation umgesetzt wird (Keupp &
Gassmann, 2009). Dabei sind zwei Prozessschritte zu unterscheiden (Huizingh, 2011,
S. 6): Zunächst der Prozess einer Öffnung des Unternehmens und der Implementierung
von Open Innovation als Innovationsstrategie. Dies kann als organisationaler
Wandlungsprozess („organisational change“ im Sinne Lewins (1974) mit den drei
Phasen unfreezing, moving und institutionalisation) verstanden werden, und es geht
dabei in erster Linie darum, die Absorptionsfähigkeit des Unternehmens gegenüber
Informationen zu verbessern, was als Grundlage für eine erfolgreiche Open-Innovation-
Praxis verstanden werden kann (Huizingh, 2011, S. 6).
In einem zweiten Schritt geht es um Fragen der konkreten Umsetzung und einer
Auswahl der passenden Open-Innovation-Praktik unter Einbezug der vorherrschenden
Rahmenbedingungen. Eine Möglichkeit zur Auswahl der Open-Innovation-Form könnte
8 Open Innovation 149

für ein Unternehmen in einer Wahl der passenden Typologie nach Gassmann und Enkel
(2004) liegen – inbound, outbound oder gekoppelt – mit einer anschließenden Definition
verschiedener Praktiken für jede dieser Aktivitäten. Alternativ kann auch zwischen
technology exploitation und technology exploration (Vrande et al., 2009) unterschieden
werden oder der Roadmap von Lichtenthaler (2010) gefolgt werden, bei der es um die
passende Nutzung für vorhandene Technologien geht. Ein alternatives Vorgehen stellen
Fetterhoff und Voelkel (2006) vor, nach dem ein Unternehmen zunächst

1. nach Gelegenheiten suchen, dann


2. deren Marktpotenzial bestimmen und anschließend
3. potenzielle Entwicklungspartner suchen soll.
4. Dann muss sich mittels einer passenden Kommerzialisierungsform um eine Wert-
schöpfung gekümmert und schlussendlich
5. soll das Innovationsangebot ausgeweitet werden.

Auf welche Art auch immer ein Unternehmen seinen Öffnungsprozess vollzieht, sieht es
sich mit Herausforderungen konfrontiert, deren Bewältigung über den Erfolg der Open-
Innovation-Strategie mitentscheiden. Wenn es darum geht, durch Kommerzialisierung
eine Wertschöpfung zu erzielen, werden besondere Anforderungen an das Management
gestellt: Die Auswahl der passenden Partner, Bewertung von Beteiligungen, geistiges
Eigentum und dessen Verfügbarmachung bzw. Nutzung, Aufteilung von Gewinnen und
Verlusten, Gruppenentscheidungen und Konfliktbewältigung (Wallin & van Krogh,
2010) sind nur einige der Herausforderungen, die im Zuge von Open Innovation erfolg-
reich bewältigt werden müssen.
Die Art und Weise, wie und mit welchen externen Partnern zusammengearbeitet
werden soll, stellt eine zentrale Managemententscheidung dar, wobei auch die
Zielgrößen klar definiert werden sollten. Hier spielen Überlegungen zu einer mög-
licherweise auf Dauer angelegten Beziehung beispielsweise zur gemeinsamen Techno-
logieentwicklung eine Rolle: Wenn eine Kooperation bei mehreren Projekten zum
Tragen kommen soll und verschiedene Gruppen innerhalb des Unternehmens beteiligt
sein können, ist eine sorgfältige Auswahl der Kooperationspartner umso zentraler. Ver-
schiedene Rollen aus unterschiedlichen Abteilungen müssen mit Verantwortungs-
bereichen versehen, Entscheidungspfade festgelegt und Kompetenzen zugewiesen sowie
Ressourcen bereitgestellt werden (Huizingh, 2011).
Der Aufbau von partnerschaftlichen Beziehungen ist essenziell, aber auch zeit-
intensiv. Alternativ kann auf bestehende Nutzwerke und Forschungsgemeinschaften
zurückgegriffen werden, die bereits eine vertrauensvolle Zusammenarbeit etabliert haben
(Spithoven et al., 2010). Ein solcher Rückgriff auf bestehende Netzwerke kann sowohl
für KMUs wie auch für große Unternehmen Vorteile und Kosteneinsparungen bringen.
Jedoch birgt dieses Vorgehen seinerseits Herausforderungen, die ihren Ursprung in der
unterschiedlichen Herangehensweise verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen
150 N. Hebestreit

und der Arbeitsweise innerhalb bzw. außerhalb von Forschungs- und Entwicklungs-
abteilungen haben (Sieg et al., 2010).
Interessenskonflikte mit dem unterschiedlichen Partner und stark abweichende
Anreize für die Zusammenarbeit können langfristig ebenfalls zu einer Herausforderung
werden. Entscheiden sich Unternehmen beispielsweise dafür, das „Wissen der Masse“
für sich zu nutzen, müssen sie Externe zu einer Mitarbeit motivieren und managen
(Wallin & van Krogh, 2010). Diese Freiwilligen haben eigene Interessen, die dem
Unternehmen möglicherweise nicht bekannt sind und von den Unternehmenszielen ver-
schieden sein können – ein Phänomen, das im Bereich von Open-Source-Software gut
untersucht ist (West et al., 2006). Dabei unterstreichen Kogut und Metiu (2001), dass
es nicht nur um die Motivation zur Mitarbeit geht, sondern um die Gewinnung von hoch
motivierten und fähigen Teilnehmern.
Unternehmen müssen die Frage nach dem Ausmaß der Öffnung für sich beantworten:
Auch, wenn sich der genaue Punkt schwer bestimmen lässt, zeigen Laursen und Salter
(2006) in ihrer Studie ein kurvenförmiges Verhältnis zwischen Unternehmenserfolg und
Offenheit auf, was darauf hindeutet, dass es auch ein schädliches Zuviel an Offenheit
geben kann. Gerade in Bezug auf die Preisgabe von Innovationen (outbound) besteht
noch immer die Angst, dass Wettbewerber an relevante Informationen gelangen (Rivette
& Kline, 2000), weswegen ein Informationsfluss von außen nach innen (inbound) die
häufiger anzutreffende Form der Öffnung darstellt (Chesbrough & Crowther, 2006).
Wie Erfolg definiert wird – und damit, ob sich Open Innovation für ein Unternehmen
lohnt – kann unterschiedlich sein und Faktoren wie die Anzahl der Innovationen oder
ihren Neuheitsgrad, finanzielle oder nicht-monetäre Vorteile (Cheng & Huizingh,
2010) umfassen. Effektivitätsmessungen können aber auch weiche Faktoren wie eine
bessere Messung des Innovationserfolgs oder eine deutlichere Herausstellung der unter-
nehmerischen Kernkompetenzen mit einbeziehen (Rigby & Zook, 2002).

u „Open innovation measurement scales should therefore reflect this multi-dimensional


nature and allow the dimensions to be not (fully) correlated.“ (Huizingh, 2011 S. 3).

Es gibt aber auch andere Risiken, die mit einer externen Vermarktung interner
Informationen und Technologien einhergehen können und die Unternehmen für sich
abwägen müssen: Zwar erhöht der Verkauf von Lizenzen unmittelbar den Unter-
nehmensgewinn, der damit verbundene Aufwand könnte aber auch zu einer Ablenkung
von den Kundenbedürfnissen im Kernmarkt führen und damit langfristig die Gewinne
schmälern (Huizingh, 2011).
Abschließend sollten Unternehmen vor der Anwendung von Open Innovation
sicherstellen, dass das notwendige Wissen und die benötigten Fähigkeiten beim ver-
antwortlichen Management vorhanden sind. Externe Informationsflüsse und hierarchie-
übergreifendes internes Know-how verlangen ein effizientes Wissensmanagement, das
häufig Weiterentwicklungen der Organisationsstruktur und -kultur notwendig machen
(Lichtenthaler & Lichtenthaler, 2009). Schon allein aus diesem Grund sollte der Ein-
8 Open Innovation 151

führungsprozess gut durchdacht und abgewogen werden. Und natürlich müssen auch
Fragen des geistigen Eigentums geklärt werden. Hierbei liegt eine Herausforderung
darin, solche Überlegungen frühzeitig mit den beteiligten Partnern zu klären, wenn das
Innovationsergebnis und seine Vermarktungschancen noch in weiter Ferne liegen und
höchst unsicher sind (Henkel, 2006).

8.6 Unterschiedliche Arten von Open Innovation

Zwei große Irrtümer sind noch immer in der unternehmerischen Praxis anzutreffen,
wenn es um die Nutzung von Open Innovation geht. Einer ist eine unzureichende
Unterscheidung zwischen Prozess und Ergebnis (von Hippel, 2010) – ein offener Ent-
wicklungsprozess muss nicht zwangsläufig auch zu einem öffentlichen Ergebnis führen
und zwischen Inhalt, Kontext und Prozess muss unterschieden werden (Pettigrew, 1990).
Gleichzeitig ist eine freie Verfügbarmachung von Innovationen – also eine Öffnung nicht
nur in Bezug auf den Prozess, sondern auch auf das Innovationsergebnis – nicht immer
so ökonomisch widersinnig wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Pisano (2006) hat
gezeigt, dass Wettbewerbsvorteile nicht zwangsläufig auch mit einem starken Schutz des
geistigen Eigentums einhergehen, und für eine Öffnung kann es im Einzelfall durchaus
rationale Überlegungen geben (von Hippel & Krogh, 2006).
Der andere ist ein kontextunabhängiger Einsatz von Open-Innovation-Praktiken, die
gerade als im Trend liegend empfunden werden, um „auch etwas in dem Bereich“ vorzu-
weisen. Doch wie nicht zu jedem Unternehmen und jeder Art von Kundenbeziehung ein
eigener YouTube-Kanal passt, lassen sich auch nur ganz bestimmte Arten von Problemen
über Crowdsouring-Plattformen lösen.
Noch wissen wir zu wenig über den Erfolg und das Scheitern von Open-Innovation-
Aktivitäten und bei Fehlschlägen kann nicht immer eindeutig gesagt werden, ob es sich
um eine falsche Anwendung gehandelt hat oder ob Open Innovation an sich die falsche
Herangehensweise war (Huizingh, 2011, S. 4). Die Höhe von Transaktionskosten (Keupp
& Gassmann, 2009) und die Effizienz hängen dabei auch von den externen wie internen
Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer ein Unternehmen operiert.

8.6.1 Crowdsourcing

Eine berühmte Form ist das sogenannte Crowdsourcing – ein Begriff, der sich aus
Outsourcing und Crowd zusammensetzt (Howe, 2006). Dabei geht es darum, eine
große Anzahl Unternehmensexterner zur Mitarbeit an einem Problem zu gewinnen
und dadurch Ideen, Wissen oder Lösungsvorschläge zu generieren. Diese Mitarbeit
kann kostenlos oder mit Gewinnprämien verknüpft sein (bspw. auf InnoCentive.com).
Meistens werden dazu Online-Plattformen genutzt, doch auch vor der Verbreitung des
Internets haben Unternehmen auf Wettbewerbe oder Ausschreibungen gesetzt (Schenk &
152 N. Hebestreit

Guittard, 2011). Durch den einfacheren und kostenlosen Zugang zu einer großen Zahl
unterschiedlicher potenzieller Teilnehmer hat das Internet diese Form der Innovation
jedoch deutlich ausgeweitet.
Als Vorteile gelten die Externalisierung von Risiken und dass nur für solche
Lösungen bezahlt wird, welche die Erwartungen erfüllen (vgl. ebd.). Es handelt sich
wohl um die offenste Form der Zusammenarbeit, bei der Unternehmen keine Selektion
der Teilnehmer durchführen, und Beispiele wie der Fiat Mio – ein komplett durch
Crowdsourcing entstandenes futuristisches Auto – zeigt mit 17.000 Teilnehmern und
über 11.000 Ideen, wie umfangreich und breit gestreut Teilnehmer und Output sein
können (Prado Saldanha et al., 2014).

Greenpeace „Let´s Go“

Greenpeace nutzte 2021 bei seiner Kampagne „Let´s Go“ die Ideen vieler frei-
williger Teilnehmer, die sich ironische und sarkastische Werbesprüche für das
Unternehmen Shell ausdenken sollten, um damit die Exploration von Erdöl in der
Polarregion öffentlich zu polarisieren. Auf diese Weise kamen nicht nur viele kreative
Ideen zustande, sondern die Kampagne selbst erhielt zusätzliche Verbreitung durch
das kostenlose Weiterleiten des Aufrufs der Teilnehmer im eigenen sozialen Netz-
werk. Durch die Aufmerksamkeit generierende Wirkung solcher Projekte erhält
Crowdsourcing für das Marketing besondere Bedeutung (The Guardian, 2012). ◄

Doch bei aller Begeisterung für solche Projekte sind Diversität und eine hohe Teil-
nehmerzahl längst keine Garanten für akkurate und qualitativ hochwertige Ergebnisse,
und es kann passieren, dass Unternehmen viel Zeit mit der Auswertung minderwertiger
Vorschläge verbringen müssen (Mehlman et al., 2010). Auch der Neuheitsgrad und die
Kreativität der Vorschläge bleiben oft hinter den Wünschen des Unternehmens zurück
(Pénin et al., 2011). Zwar betonen Schenk und Guittard (2011), dass sich das Verfahren
auch für komplexe technische Herausforderungen eigne, doch meine Erfahrungen aus
der Beratungspraxis deuten in eine andere Richtung, sodass dieses Vorgehen weniger
für technische Herausforderungen als für das Testen – Finden von Anwendungsfehlern,
Stimmungsbild, Nutzungsverhalten – oder Designfragen empfehlenswert scheint. Ent-
sprechend verbreitet ist es bei der Softwareentwicklung (Glass, 2003).

8.6.2 Gezielte Auslagerung an externe Spezialisten

Die Lösung solcher technischen Probleme verlangt meistens Spezialkenntnisse, über die
nur wenige Experten verfügen und oft ist es schon eine Herausforderung, den Problem-
komplex laiengerecht zu formulieren. In solchen Fällen ist eine Streuung über eine breite
Masse weniger erfolgversprechend als eine gezielte Suche nach externen Technikern und
Ingenieuren.
8 Open Innovation 153

Entsprechend spezifischer sind Innovationsaktivitäten mit gezielten Gruppen wie bei-


spielsweise Kunden, denen ein Teil der Entwicklungsarbeit übertragen wird. Es können
auch Unternehmen mit diversifizierten Spezialisten sein, welche Problemlösungen als
Dienstleistung anbieten oder externe Forschungseinrichtungen. Bei der Auswahl des
geeigneten Partners sollten Unternehmen beachten, dass der Weg von einer guten Idee
zu einer marktreifen Serienfertigung weit ist und voller technischer Probleme steckt.
Was als Prototyp funktioniert, fügt sich längst nicht auch in einen automatisierten
Fertigungsprozess ein. Deshalb kann es von Vorteil sein, wenn die externen Spezialisten
nicht nur Lösungen entwickeln, sondern auch die eigenen Mitarbeiter in Bezug auf die
neuen Technologien schulen und den Umsetzungsprozess so lange begleiten, bis sich die
Innovation im Unternehmen etabliert hat.
Je nach Problemstellung und Geschäftsfeld können aber auch andere Gruppen zu
Experten für einen offenen Innovationsprozess werden. Beim Lead-User-Ansatz sind es
Kunden, deren Bedürfnisse als vorauseilend klassifiziert werden (von Hippel 1986) und
deren besondere Ansprüche andeuten, in welche Richtung sich der Gesamtmarkt ent-
wickeln wird. Ihre Bedürfnisse zu kennen und zu erfüllen kann dann zu einem zeitlichen
Entwicklungsvorsprung gegenüber Konkurrenten beitragen. Das Finden und gezielte
Ansprechen solcher Lead User ist eine Herausforderung für das Marketing. Als Erfolgs-
faktor gilt die Fähigkeit, Loyalität bei einer zunächst unabhängigen Gruppe zu erzeugen,
um daraus auch langfristig Wettbewerbsvorteile ziehen zu können (Pénin et al., 2011).
Aber es sind auch andere Formen wie die Einbindung von Abonnenten eines bestimmten
YouTube-Kanals oder Geschäftspartner als externe Experten denkbar. Zentral sind
Informationen über Kundenbedürfnisse, Produkteigenschaften, Anforderungen und Nutzer-
verhalten, über die das Unternehmen selbst nicht verfügt und von denen es lernen kann.

Verschiedene Arten von Lead Usern

Lead User müssen nicht unbedingt Endverbraucher sein und können auch in unter-
nehmensfremden Branchen gefunden werden. Zentral ist, dass die unerfüllten Bedürf-
nisse des Lead Users denen des restlichen Marktes zeitlich vorauseilen, was bei
richtiger Nutzung Wettbewerbsvorteile generieren kann:

• Hersteller von Elektroautos können zu Lead Usern für effiziente Batterien werden.
• Ein Sternerestaurant kann Lead User für in Manufakturen erzeugte Spezialitäten
sein.
• Die Internationale Raumstation ISS kann zum Lead User für unterschiedliche
Materialien in extremen Belastungssituationen werden.
• Onlineplattformen können für Softwarehersteller zur Datenerfassung und -aus-
wertung zu Lead Usern werden.
• Die Organisation Ärzte ohne Grenzen kann in Kriegsgebieten für medizinische
Geräte und deren Haltbarkeit sowie Funktionalität zu einem Lead User werden.
• Menschen mit Behinderungen können Lead User für die Bedienbarkeit von Smart-
phones sein. ◄
154 N. Hebestreit

8.6.3 Eingliederung und externe Verwertung

Spin-in, Spin-out, Ankauf oder Ausgliederung sind weitere Formen für Unternehmen,
Innovationen zu nutzen: Technologien können über den Kauf von Lizenzen oder gleich
der entwickelnden Unternehmen selbst gewonnen werden. In einigen Branchen wie der
Pharmabranche ist der Erwerb von innovativen Start-ups, die ihrerseits eine Produktion
und Vermarktung für den Massenmarkt nicht stemmen könnten, üblich (Hamdouch &
Depret, 2001). In Bezug auf die Nutzung oder Verwertung von Lizenzen sind ebenfalls
Partnerschaften denkbar, zum Beispiel mit einem Patent-Pool als Konsortium mehrerer
Unternehmen zur wechselseitigen oder gemeinsamen Lizenzierung von Technologien.
Jede der genannten Formen unterscheidet sich im Offenheitsgrad und in Bezug auf
die Teilnehmer sowie die Art der Beziehung, die das Unternehmen zu ihnen eingeht. In
vielen Fällen ist es tatsächlich schneller und profitabler, auf externes Wissen zurückzu-
greifen und die Chance für innovative Ideen der Unternehmensumwelt für den eigenen
Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Jedoch ist nicht jede Art der Öffnung automatisch für jede
Herausforderung auch erfolgversprechend.
Wie in Abschn. 1.2 beschrieben, ist für Open Innovation gerade die Externalisierung
interner Entwicklungen eine Neuerung auf strategischer Ebene. Das Potenzial einer
externen Weiterverfolgung intern entwickelter Innovationen wird von zu vielen Unter-
nehmen weiterhin unterschätzt.

u „Only a small number of companies systematically search for opportunities to apply


their technology outside their core markets. As a result, many miss out on potential
profits and avenues for growth and renewal.“ (Danneels & Frattini, 2018)

Daneels und Frattini (2018) schlagen hier einen vierstufigen Prozess vor, um externe
Anwendungen für Technologien zu finden und bestmöglich nutzen zu können:

1. Bei der Eigenschaftsanalyse besteht die Herausforderung für das Management


darin, eine Technologie außerhalb ihrer konkreten Anwendung im Unternehmen in
Bezug auf ihre Eigenschaften und Leistungen, aber auch ihre Anwendungsgrenzen
zu charakterisieren. Diese Abstraktion von der konkreten Anwendung ist wichtig, um
einen Blick von außen einnehmen zu können. Es geht darum, die Kerneigenschaften
einer Technologie – bspw. in Bezug auf Präzision, Geschwindigkeit, Leistungsstärke,
Energieverbrauch – zu erkennen.
2. Wenn die Kerneigenschaften ermittelt sind, geht es in einem zweiten Schritt darum,
potenzielle alternative Anwendungsfelder zu finden. Diese Suche sollte sehr weit
in Bezug auf mögliche Anwendungen sein, jedoch eng an den Eigenschaften der
Technologie orientiert bleiben. Zwar können solche Anwendungen am Schreibtisch
gefunden werden (Patentrecherche, Fachpublikationen, Internetsuche), doch ein Aus-
tausch bspw. auf Messen oder Konferenzen erweitert erfahrungsgemäß den eigenen
Denkhorizont. Dazu sind vor allem solche Technologien interessant, die ähnliche
8 Open Innovation 155

Eigenschaften in anderen Anwendungsbereichen haben und mit denen die eigene


Technologie konkurrieren oder die sie ersetzen kann: Können Probleme im neuen
Anwendungsbereich durch die eigene Technologie gelöst werden?
3. Nun wird die zuvor vorgenommene Öffnung wieder zurückgeführt auf eine konkrete
Auswahl der identifizierten Anwendungsfelder unter 2). Der Blick richtet sich in
die Tiefe und analysiert die realen Anforderungen der neuen Anwendung: Oft sind
Anpassungen nötig, was Zeit und Kosten verursachen kann. Hier helfen Simulationen
bei der Entscheidung. Dem Risiko unterschätzter Kosten und ungesehener technischer
Probleme kann mit raschen Prototypen und frühen Tests begegnet werden. Dies bringt
zusätzlich den Vorteil, potenzielle Kunden mit validen Daten besser vom Potenzial
der eigenen Technologie überzeugen zu können. Technische Machbarkeit, Markt-
potenzial und Innovationsgrad sind gute Entscheidungshilfen für die richtige Aus-
wahl eines neuen Anwendungsfeldes. Branchenspezifische Regulatorien und Gesetze
dürfen ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.
4. Als letzten Schritt geht es um die Wahl einer passenden Markteintrittsstrategie.
Bei der Kommerzialisierung übernimmt das strategische Management das Ruder von
den Technikern und steht vor der Herausforderung, die Technologie entsprechend zu
vermarkten. Je nach Ausgestaltung ergeben sich Kosten und Entscheidungen bezüg-
lich der Kontrolle für externe Partner, verschieben sich Zeitpunkte für monetäre
Rückflüsse, verändern sich Profitabilität und Rentabilität und ergeben sich Fragen
nach den unternehmenseigenen Ressourcen zur Markterschließung (Bianchi et al.,
2011). Viele Unternehmen scheitern hier, wobei Kooperationen oder der Verkauf von
Lizenzen bei fehlenden internen Ressourcen zu einer geeigneten Alternative werden
können.

8.7 Open Innovation als Erfolgskonzept für Volkswirtschaften


und supranationale Organisationen

Neben der Bedeutung, die Open Innovation für Unternehmen hat und von der wir
gesehen haben, dass sie dabei ist, Synonym für Forschung und Entwicklung zu werden,
sind wir Zeitzeugen einer weiteren Art von Wandlung, die Regierungen und supra-
nationale Organisationen erfasst. In zunehmendem Maße wird versucht, mittels Open
Innovation das Wachstum von Volkswirtschaften zu erhöhen und wir beobachten ein
verstärktes Interesse daran, Rahmenbedingungen in Richtung eines offenen Systems
umzugestalten (West et al., 2014). Als Beispiel sei Obamas “call for new forms of
collaboration to increase the innovativeness of public service delivery” (Mergel &
Desouza, 2013) genannt, aber auch der ehemalige EU-Kommissar für Forschung,
Wissenschaft und Entwicklung Carlos Moedas setzte drei neue Ziele für die europäische
Forschungs- und Innovationspolitik: Open Innovation, Open Science, and Open to the
World (Moedas, 2015). Diese Ziele stellen weniger eine neue politische Initiative als
vielmehr eine Unterstützung für bereits existierende Programme wie das Horizon 2020
156 N. Hebestreit

oder die Ausrichtung der europäischen Forschungsbereiche dar und die Digitalisierung
macht Forschung und Innovation insgesamt offener, kollaborativer und globaler. Konkret
bemüht sich dazu die Europäische Kommission beispielsweise um öffentlich zugäng-
liche Forschungsergebnisse, bei denen Forschende für den freien Zugang zu ihren
Forschungsartikeln Gelder seitens der EU bekommen können.
Es darf berechtigt erwartet werden, dass eine solche Verbreitung von Erkenntnissen
unter Wissenschaftlern wie Praktikern der wirtschaftlichen Entwicklung der EU zugute-
kommen wird (Bogers et al., 2018). Trotzdem bleibt die Unsicherheit über den Erfolg
solcher Maßnahmen, die in der Schwierigkeit bei der Messbarkeit von Innovations-
erfolgen im Allgemeinen liegt, eine Herausforderung für die Politik, die ihren Bei-
trag zum Wachstum vorweisen können muss. Kritisch ist dabei auch die Frage, wie
Innovationen aus gesellschaftlicher Perspektive zu bewerten und ob disruptive
Innovationen förderlich sind – und damit gefördert werden sollten – oder unerwünschte
gesellschaftliche Entwicklungen nach sich ziehen (ebd.). Die Autoren vermuten in der
über Wirtschaftssektoren ungleich verteilten Digitalisierung ein ungleich verteiltes Wirt-
schaftswachstum, was wiederum sozialer Ungleichheit Vorschub leistet – mit hohen
volkswirtschaftlichen Kosten durch verschwendete Ressourcen, ungenutzte Talente und
vergeudetes Potenzial. Zur Beseitigung von Ungleichheit und für das Wachstum in den
wenig digitalisierten Branchen wird Open Innovation eine Schlüsselrolle zugeschrieben
– und als Notwendigkeit für Forschung, Wirtschaft und Politik begründet.
Mit einer Verschiebung des Anwendungsbereichs in den öffentlichen Sektor gehen
zwangsläufig auch neue Zielgrößen und multiple Stakeholderinteressen einher. Statt
einer rein monetären Zielsetzung rücken Fragen der ökologischen und sozialen Nach-
haltigkeit ins Blickfeld, nach gesellschaftlichem Wohlstand und Möglichkeiten zur
Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Der große Innovationsbedarf zur Erreichung
dieser Ziele verlangt nach technischen Neuerungen ebenso wie nach globaler
Kollaboration – den Stärken von Open Innovation. Ganze Branchen wie die Textil-
branche oder das Transportwesen müssen verstärkt in Richtung Kreislaufwirtschaft
transformiert werden und ein Lernen voneinander (Cross-Industry) verringert Ent-
wicklungszeiträume und Risiken.
In Bezug auf ihre Open-Innovation-Bemühungen hängen die westlichen Länder den
Maßnahmen in China jedoch weit hinterher. Noch assoziieren wir mit „Made in China“
minderwertige Qualität und Plagiate – wie es einst die Briten mit der Warnung „Made
in Germany“ im Merchandise Marks Act 1887 deutlich machen wollten, als deutsche
Imitate ihre Industrie bedrohten – doch längst arbeitet China daran, sein Image zu
„Innovated in China“ zu entwickeln (Yip und McKern, 2016). Aus reiner Notwendig-
keit heraus begann Chinas Öffnung gegenüber externen Technologien bereits 1979 und
auch dank staatlicher Unterstützung ist in den letzten Jahren ein beeindruckendes Netz
aus Universitäten und Forschungseinrichtungen ebenso wie Kooperationen mit unter-
schiedlichen global agierenden Unternehmen entstanden, die auf Chinas Interessen hin
ausgerichtet werden. Dieses Ökosystem aus Wirtschaft, Regierung und Gesellschaft setzt
auf digitale Technologien und mobilen Zugang zu Informationen und Kommunikation.
8 Open Innovation 157

u „As opportunities to innovate expand widely through the growth of open platforms,
China is in a strong position to become a global leader by drawing on its large and
dynamic ecosystem.“ (Yip und McKern, 2016, S. 203).

Dabei beobachten wir ein starkes Interesse an einer weltweiten Dominanz, bei einer
gleichzeitigen Abschottung des chinesischen Marktes gegenüber Ausländern. Denn
China ist vom einstigen umfassenden Wachstum in eine Phase des intensiven Wachstums
eingetreten und zeigt der Welt, wie eine konsequent an den Unternehmens- bzw.
nationalen Zielen ausgerichtete Open-Innovation-Strategie zu wirtschaftlichem Erfolg
führen kann.

Fazit
Open Innovation ist als Prinzip heute in den meisten Unternehmen angekommen.
Dabei handelt es sich jedoch um einen Oberbegriff, unter den eine Vielzahl sehr
unterschiedlicher Umsetzungsformen fallen. Deren starke Kontextabhängig-
keit stellt viele Unternehmen vor Herausforderungen bei einer erfolgreichen
Umsetzung. Trotz der starken Verbreitung kann damit gerechnet werden, dass
das Thema auch zukünftig große Bedeutung behalten wird. Grund dafür ist vor
allem das große Effizienzsteigerungspotenzial, das zentrale Branchen entwickelter
Volkswirtschaften noch durch eine verstärkte Digitalisierung haben. Open
Innovation wird eine Schlüsselrolle zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle
und bei der Übertragung von Technologien und Ideen aus bereits digitalisierten
Sektoren zugeschrieben. Dabei sind digitale Technologien auch selbst Feld für
innovative Anwendungen. Zudem wird die eigentliche Neuerung des Open-
Innovation-Ansatzes – nämlich die Externalisierung von Technologien in neue
Anwendungsgebiete – von Unternehmen noch zu wenig genutzt. Den Risiken und
Herausforderungen einer Erschließung neuer Märkte stehen hohe ungenutzte Ent-
wicklungspotenziale gegenüber. Auch Staaten und supranationale Organisationen
entdecken die Vorteile von Open Innovation für sich. Chinas exzessives Streben
nach der Vorherrschaft in speziellen Bereichen von Wirtschaft und Forschung kann
als eine historisch verwurzelte Politik der Open Innovation auf volkswirtschaft-
licher Ebene verstanden werden.

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8 Open Innovation 161

Dr. Natascha Hebestreit leitet seit 2014 an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) den Fach-
bereich Innovation Management. Als Business Development Managerin für einen Mailänder
Dienstleistungsunternehmen für Open Innovation hat sie Einblicke in die praktische Umsetzung
für große und mittelständische Unternehmen in unterschiedlichen Branchen erhalten. Sie hat an
der Humboldt-Universität zu Berlin über die Verantwortung des Wirtschaftsakteurs promoviert und
studiert zusätzlich seit 2022 Philosophie.
Digitale Unternehmensverantwortung
(Corporate Digital Responsibility, CDR) 9
im Marketing der Zukunft

Carsten Skerra  

Zusammenfassung

Die Digitalisierung in Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft bringt neue
Herausforderungen für das 21. Jahrhundert. Der damit verbundene Wandel fordert
die Unternehmen, den Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen und die
Gesellschaft, national und international. Internationale Bewegungen wie „Fridays for
future“ fördern den gesellschaftlichen Mindset zu mehr Nachhaltigkeit und Rück-
sicht auf die Gesellschaft und die nachkommenden Generationen. Aufgefordert sind
letztendlich alle, aber im Speziellen tragen die Unternehmen und Konzerne mit ihren
Initiativen zur gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social
Responsibility, CSR) bei. Doch wie sieht nun der Schulterschluss zwischen CSR und
Digitalisierung in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft aus? Hier sind nun
im Wesentlichen drei Bereiche zu unterscheiden: (I) Die Anwendung von CSR auf die
Branchen, die im Informationstechnik- und Kommunikationssektor (ITK) eine Viel-
falt an Produkten und Dienstleistungen anbieten. (II) Die Erweiterung des Konzepts
CSR für alle Unternehmen auf „digitale Belange“ und Szenarien. Also im Rahmen
der bestehenden, bereits genannten Strukturen und ähnlich der Einordnung der
Sustainability Development Goals (SDGs) zur Nachhaltigkeit in die sozialen, öko-
logischen und ethischen Aspekte des CSR. In diesem Teil des Artikels werden auch
die „digitalen“ Aspekte im strategischen Marketing erörtert. Abschließend, als dritter
Bereich (III) wird eine Neubetrachtung von CSR im Sinne einer vollumfänglichen
digitalen Verantwortung der Unternehmen (Corporate Digital Responsibility, CDR)

C. Skerra (*)
IU Internationale Hochschule, Ludwigsburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 163
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_9
164 C. Skerra

skizziert, oftmals in diesem Kontext als die vierte Dimension bezeichnet. Die digitale
Verantwortung der Unternehmen (Corporate Digital Responsibility, CDR) wird in
dem Artikel „Corporate Digital Responsibility im Metaverse: Ein E-Commerce-
Szenario“ an einem Business-to-Customer-(B2C)-Szenario einer hypothetischen Ver-
kaufssituation im Metaversum konkretisiert.

9.1 Von der sozialen Unternehmensverantwortung zur


digitalen Unternehmensverantwortung

Die Digitalisierung in Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft bringt neue Heraus-
forderungen für das 21. Jahrhundert. Der damit verbundene Wandel fordert die Unter-
nehmen, den Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen und die Gesellschaft,
national und international. Weltweite Bewegungen wie „Fridays for future“ fördern den
gesellschaftlichen Konsens zu mehr Nachhaltigkeit und Rücksicht auf die Gesellschaft
und die nachkommenden Generationen. Aufgefordert sich daran zu beteiligen sind letzt-
endlich alle, aber im Speziellen tragen die Unternehmen und Konzerne heute mit ihren
Initiativen zur gesellschaftlichen Verantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR)
bei. Dabei ist die Idee nicht neu, der Begriff Corporate Social Responsibility (CSR)
wurde bereits 1953 von Howard R. Bowen in seinem Buch „Social Responsibilities
of the businessman“ (eng. = gesellschaftliche Verantwortung des Geschäftsmannes)
verwendet (Carroll, 2016). In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich das
Konzept der Corporate Social Responsibility (CSR) kontinuierlich weiter, zunächst
geprägt durch den Zeitgeist der Sozialbewegungen in den 1960er-Jahren, beispielsweise
durch die Bürgerrechtsbewegung, die Verbraucherbewegung, die Umweltbewegung
sowie die Frauenbewegungen (Carroll, 2016; Helmold et al., 2020). In der „EU Strategie
2011–2014“ definiert die Europäische Kommission für die Unternehmen CSR als
die vollumfängliche, soziale Verantwortung bezüglich der „sozialen, ökologischen,
ethischen, Menschenrechts- und Verbraucherbelange“ (Helmold et al., 2020). Auch wird
dort die aktive Rolle der Unternehmen eingefordert, etwaige negative Auswirkungen
aufzuzeigen, zu verhindern und abzufedern. Kenning und Weißenberger (2016) weisen
darauf hin, dass die frühe, „reine Shareholder-Orientierung und primär ökonomische
Funktion von Unternehmungen mittlerweile in weiten Teilen der Vergangenheit
angehört, heute haben die meisten Unternehmen neben ökonomischen, auch öko-
logische und soziale Aspekte in ihre Zielsysteme und Berichterstattung implementiert“.
Als Augenmerk finden sich in vielen Geschäftsberichten von Unternehmen und börsen-
notierten Unternehmen die Maßnahmen und Ergebnisse zur Erfüllung der genannten
CSR-Ziele. Der „Global 2021 RepTrak® 100“ zeigt die aktuelle Tragweite von CSR in
Bezug auf Unternehmenswert und Reputation auf, denn dort werden die Unternehmens-
bewertungen von über 2000 Unternehmen in einem Ranking von CSR-Punktwerten
zusammengefasst (Dörr, 2020; RepTrack, 2021). Das stützt die moderne Sichtweise
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 165

von Unternehmern und Managern, diese haben eine weite Auffassung in Bezug auf die
gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmens und für sie überwiegen die Vorteile
durch CSR-Aktivitäten (Helmold et al., 2020). Doch wie sieht nun der Schulterschluss
zwischen CSR und Digitalisierung in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft
aus? Ist die einfache Formel CSR + Digital = CDR Corporate Digital Responsibility
korrekt? In den folgenden Kapiteln werden drei Bereiche zur Unterscheidung der mög-
lichen Herangehensweisen ausgeführt:

I. Anwendung der Corporate Social Responsibility auf Unternehmen im ITK-Sektor.


Die Anwendung von CSR auf die Branchen, die in dem Informationstechnik- und
Kommunikations-Sektor (ITK) eine Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen
anbieten.
II. Die Erweiterung des Konzepts CSR auf „digitale Belange“ und Szenarien. Also
im Rahmen der bereits bestehenden Strukturen und analog der Einordnung der
Sustainability Development Goals (SDGs) zur Nachhaltigkeit in die sozialen, öko-
logischen und ethischen Aspekte des CSR.
III. Die Neubetrachtung von CSR im Sinne einer Corporate Digital Responsibility
(CDR)

9.2 Anwendung der Corporate Social Responsibility auf


Unternehmen im ITK-Sektor

Dieser erste Bereich (I) ist der zunächst wohl einfachste Fall, denn auch die Unter-
nehmen aus den Sektoren der Informationstechnik und Kommunikationstechnik (ITK)
unterliegen den Anforderungen der Corporate Social Responsibility (CSR). Auch diese
Unternehmen sind unternehmerisch verantwortlich beispielsweise im Hinblick auf
Treibhausgase oder Elektronikschrott zu handeln, das „bedeutet, den „ökologischen
Fußabdruck“ der eigenen direkten und indirekten ITK-Nutzung, der sich im Zuge der
Digitalisierung stetig vergrößert hat, ökologisch nachhaltig zu organisieren und die
negativen Wirkungen zu reduzieren“ (Dörr, 2020). Die Unternehmen des ITK-Sektors
können mit Maßnahmen „zum Umwelt- und Klimaschutz beitragen, indem sie auf Öko-
strom bei der Wahl ihrer Internet-Service-Provider, Webhosting und Cloud-Service-
Anbieter achten, sowie „grüne Rechenzentren“ beauftragen. IT- und ITK-Anbieter
können ihre Kunden beim Klimaschutz unterstützen, indem sie selbst CO2-neutrale
Produktion und Betrieb anbieten,“ (Dörr, 2020). Damit können diese Unternehmen aus
den Sektoren der Informationstechnik und Kommunikationstechnik (ITK), wie alle
anderen Unternehmen auch, die Chancen und Vorteile in Bezug auf die Steigerung von
Unternehmenswert und verbesserter Reputation wahrnehmen.
166 C. Skerra

9.3 Die Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale „Belange“


und Szenarien

Die (II) Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale „Belange“ und Szenarien ist so
zu verstehen, dass das Konzept CSR als Vorgehensmodell für alle Unternehmen Ver-
wendung findet, um die Kriterien des CSR-Konzepts (ökonomisch, ökologisch,
sozial) aus dem Blickwinkel der Digitalisierung anzuwenden. Somit sind die digitalen
„Belange“ und Szenarien ein Teilaspekt der Corporate Social Responsibility (CSR), also
der „Verantwortung eines Unternehmens für die Auswirkungen seiner Aktivitäten im
weiteren Sinne auf Gesellschaft, Mensch und Umwelt. Die Nutzung neuer digitaler Ver-
fahren und Techniken erlegt Unternehmen neue Verpflichtungen auf, wie beispielsweise
beim Umgang mit Daten oder beim Einsatz von künstlicher Intelligenz“ (digitale Wirt-
schaft, 2020).
Die Anschauungsweise, ob es sich hier um Verpflichtungen, oder um Chancen zur
Steigerung des Unternehmenswerts und der Reputation handelt, oder sogar um ein nicht-
akzeptiertes Übel, liegt im Verhalten und der Reife des betrachteten Unternehmens. Die
Literatur stellt hierfür eine Taxonomie im Sinne eines Reifegradmodells für CSR bereit,
die von der Stufe „Verleugnen“, oder „Ignorieren“ der nicht-finanziellen Verantwortung
durch den Einsatz von Digitaltechnologie, oder der Erhebung von Daten und die
Nutzung von digitalen Geschäftsmodellen bis hin zu der Stufe „Transformativ“ reicht.
Also Unternehmen, die sich als proaktive politische Gestalter über den unmittelbaren
Einflussbereich und Gestaltungshorizont des Unternehmens hinaussehen und ein breites
Engagement zeigen, um das Geschäftsumfeld und die Märkte zu verändern (Dörr, 2020;
Hansen, 2010; Schneider, 2012). Es ist in diesem Rahmen kurz anzumerken, dass zur
Erreichung der Stufe „Transformativ“ potenziell eine Neubetrachtung von CSR im Sinne
einer Corporate Digital Responsibility (CDR) erforderlich ist.
Zum eigentlichen Gedanken der Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale
„Belange“ und Szenarien zurückgekehrt, können die folgenden fünf Kriterien von
Lischka (2020) zur weiteren Betrachtung der Digitalisierung innerhalb des bestehenden
CSR-Konzepts herangezogen werden:

Übersicht
(1) Gesellschaftliche Interessen (Anliegen, die jenseits der primären Interessen
des Unternehmens liegen)
(2) Freiwilligkeit (Maßnahmen, die über gesetzliche Verpflichtungen hinaus-
gehen)
(3) Stakeholder-Orientierung (Ausrichtung der Aktivitäten an den Bedürfnissen
aller Stakeholder des Unternehmens)
(4) Interne und externe Aktivitäten (unternehmerisches Handeln nach innen und
außen)
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 167

In Bezug auf die gesellschaftlichen Interessen (1) und den Aspekt der Freiwilligkeit (2)
fordert die Digitalisierung in erster Linie die unternehmerische Verantwortung heraus.
Dieses geschieht analog zu den Umweltproblemen und der Globalisierung, die in der
Vergangenheit die Bedeutung der ökologischen und sozialen Verantwortung von Unter-
nehmen veränderten.
Derzeit entwickelt sich beispielsweise die Unsicherheit gegenüber Technologien als
neue gesellschaftliche Disparität. Im Hinblick auf den Digital Divide, dieser beschreibt
die internationalen, nationalen, aber auch regionalen Unterschiede im Zugang zu und
der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie (ITK) aufgrund von
technischen, aber auch sozio-ökonomischen Faktoren, können Unternehmen beispiels-
weise dabei helfen, Resignation und Misstrauen, die neue Technologien hervorrufen, zu
adressieren und abzubauen (BMJV, 2018; Joynson, 2018; Lischka, 2020).
In Bezug auf die Stakeholder-Orientierung (3) sind neben den aus Unternehmens-
sicht typischen, wie Kunden, oder Mitarbeitern, weitere Stakeholder mit einzubeziehen.
„Wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Anforderungen, beispielsweise für eine
Stakeholder- oder Wesentlichkeitsanalyse besser zu verstehen, ist das Unternehmen auf
einen Dialog mit relevanten Stakeholdergruppen angewiesen. Der Dialog kann Aus-
gangspunkt für strategische Partnerschaften oder Allianzen mit zivilgesellschaftlichen
Organisationen sein,“ (Dörr, 2020). Dörr (2020) führt in ihrem Praxisleitfaden zur
Corporate Digital Responsibility tabellarisch eine umfangreiche Aufzählung dieser aus
Unternehmenssicht weiteren Stakeholder auf.

Exemplarisch sind hier nur einige der weiteren Stakeholder genannt

• D21-Initiative (https://initiatived21.de/),
• Initiative „Sicher im Netz“ (https://www.sicher-im-netz.de/),
• Repair-Café/Maker-Space-/FabLab-/Do-it-yourself-Bewegung
• (http://www.repaircafe-meinerzhagen.de/, https://www.fablab-muenchen.de/),
• Digitalcourage e. V.(https://digitalcourage.de/),
• Stiftung Datenschutz (https://stiftungdatenschutz.org/),
• Digitale Gesellschaft e. V. (https://digitalegesellschaft.de/),
• „FragDenStaat“ (https://fragdenstaat.de/),
• Code for Germany (https://www.codefor.de/),
• Make IT Fair (https://www.germanwatch.org/de/stichwort/makeitfair) oder der
• Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V.(https://www.bvdw.org/). ◄

In Bezug auf interne und externe Aktivitäten (4) kann allgemein auf zwei Veränderungen
eingegangen werden. Zum einen, die neuen, digitalen Anforderungen an die Unter-
nehmen, das Leistungsangebot, das Erlösmodell und die Wertschöpfung zu verändern,
oder sogar neu zu definieren (Schreiner & Kenning, 2018). Die zweite Veränderung liegt
im Rahmen einer digitalen Wertschöpfungskette und den neuen Stakeholdern (3), denn
die Konsumenten wirken durch die Bereitstellung ihrer personenbezogenen Daten an
168 C. Skerra

dem Wertschöpfungsprozess mit. Damit lösen die Konsumenten sich aus der Rolle eines
nur passiven Verbrauchers, indem sie als Prosument (Produzent-Konsument) eben auch
zu Lieferanten, Dienstleistern oder Herstellern werden (Brönneke & Tonner, 2021; Hell-
mann, 2021; Peter Kenning & Lamla, 2017; Lischka, 2020; Schreiner & Kenning, 2018).
In Bezug auf interne und externe Aktivitäten (4) sind die Aufgaben des Marketings
von besonderer Bedeutung, ausgehend vom optimalen Marketing-Mix der sogenannten
„4Ps – Product, Price, Place, Promotion“, der Produktpolitik, Preispolitik, Distributions-
politik und Kommunikationspolitik, oder dem vernetzten Marketing-Mix betrachtet,
den „4Cs – Co-Creation, Currency, Communal Activation, Conversation“, der neuen
Produktentwicklungsstrategien unter Mitwirkung der Verbraucher, die neuen Konzepte
der dynamischen Preisbildung, die Einordnung der Sharing Economy sowie der Inter-
aktion über Plattformen (Kotler & Armstrong, 2004; Kotler et al., 2017; Kotler et al.,
2021). Mit der Digitalisierung und der zurückliegenden Einführung des Internets wurden
zahlreiche neue Möglichkeiten geschaffen, die von Alphabet, Amazon, Facebook (Meta)
und Apple, den „vier apokalyptischen Reitern“, frühzeitig und erfolgreich genutzt
worden sind (Galloway, 2017). Im Weiteren werden nun die Gesichtspunkte Produkt und
Digitalisierung, Kundenbedürfnisse und Digitalisierung sowie die mit der Digitalisierung
verbundenen Risiken im Ansatz dargestellt.

9.3.1 Produkt und Digitalisierung

In den letzten Jahren war zu beobachten, wie die Nachhaltigkeit von Produkten ein
wichtiges Thema wurde, indem das Interesse an nachhaltigen Lösungen kontinuierlich
gewachsen ist und sich im Wettbewerb als weiteres Differenzierungsmerkmal eignet,
wie der „wachsende Markt für ökologische und fair gehandelte Produkte zeigt“ (digitale
Wirtschaft, 2020). Ausgehend von den Erkenntnissen im Innovationsmanagement ent-
wickeln sich im Spannungsfeld von Wirtschaft und Gesellschaft, dem sogenannte Sweet
Spot, in welchem Unternehmens- und gesellschaftliche Interessen in Einklang gebracht
werden, nicht nur neue Produkt-, Prozess- und Managementinnovationen, sondern dort
werden auch neue Märkte und Kundengruppen erschlossen (Helmold et al., 2020). Heute
schon ist zu erkennen, wie stark digitale Technologien in der Lage sind, das Leben von
Menschen in der Gesellschaft und das Arbeiten in Unternehmen zu beeinflussen. Viele
dieser Einflüsse können individuell und gesamtgesellschaftlich als sehr vorteilhaft
betrachtet werden, wie z. B. neue Möglichkeiten zur Kommunikation, zur Sammlung
und Analyse von Informationen, zur Entscheidungsfindung oder zur Partizipation in
demokratischen Prozessen. Auch für die Überwindung ökologischer Herausforderungen
bietet die Digitalisierung große Potenziale durch die bessere Nutzung von Ressourcen
(digitale Wirtschaft, 2020). In Fragen der Produkt- und Dienstleistungsgestaltung spielt
damit die Digitalisierung eine erhebliche Rolle. Allgemein sollten Produkte und Dienst-
leistungen so entworfen werden, dass die positiven individuellen und gesellschaftlichen
Eigenschaften weitgehend umgesetzt werden, ebenso, dass die negativen Auswirkungen
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 169

vermieden, oder zumindest abgeschwächt werden. Dies sollte auch nachgehalten und
nach Möglichkeit messbar gemacht werden. Dabei gilt es, spezifisch jene potenziellen
Eigenschaften und Auswirkungen zu erheben, die vermieden oder gesteigert werden
sollen. Wenn beispielsweise ein Unternehmen, das virtuelle Einkaufswelten im
Metaversum entwickelt (Kunz, 2022), begründete Sorgen hat, dass die virtuellen Ein-
kaufswelten zur sozialen Isolation oder der langfristigen Realitätsflucht Einzelner führen,
dann sollte es nach Möglichkeiten suchen, ebendiese Auswirkung zu identifizieren
und zu quantifizieren, um dann bei tatsächlichem Eintreten der oftmals ungewollten,
negativen Auswirkungen gegensteuern zu können (digitale Wirtschaft, 2020). Insofern
ist bei der Produktpolitik in digitalen und virtuellen Welten darauf zu achten, dass eine
Technologieakzeptanz in der Gesellschaft entweder zunächst erreicht oder dann in der
weiteren Entwicklung beibehalten wird. Dann, und nur dann, bestehen die zahlreichen
Chancen für die Vermarktung nachhaltiger digitaler Produkte und Dienstleistungen
(digitale Wirtschaft, 2020). In diesem Zusammenhang bedeutet transformatives
Marketing, dass alle Marketingaktivitäten von Unternehmen so ausgerichtet werden,
dass sich das Unternehmen und die Mitarbeiter zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung
bekennen und auch geeignete Nachweise erbringen. Durch die Übernahme gesellschaft-
licher Verantwortung positionieren sich Unternehmen als gute Partner in der Gesellschaft
und schaffen damit gute Voraussetzungen für einen langfristigen Erfolg (Helmold et al.,
2020; Kotler et al., 2021; Kürble et al., 2016).

9.3.2 Kundenbedürfnisse und Digitalisierung

Unternehmen können sich Reputationsvorteile und Zugänge zu nachhaltigkeits-


orientierten Kundengruppen verschaffen, wenn sie sich durch ethische Prinzipien im
Marketing von anderen Unternehmen differenzieren. Der ethische Ansatz zielt darauf ab,
den Kreislauf zu durchbrechen und bewusste Verbraucher zu stärken, indem ein neuer
Standard für Marketing geschaffen wird, der auf Vertrauen und Ehrlichkeit basiert (Dörr,
2020; Ethical Move, 2019; Kotler et al., 2021). Unternehmerisch zu handeln bedeutet,
bestehende Onlinewerbe- und Marketingtaktiken im Sinne eines Umwelt- und Klima-
schutzes sowie des Datenschutzes und der Privatheit der Nutzer zu überdenken und sie
nachhaltigkeitsorientiert und ethisch auszurichten (Dörr, 2020). Zudem scheint es nahe-
liegend, dass unter Berücksichtigung ausgeprägter Privatsphärenbedenken (Custers
et al., 2019; DsiN, 2021) Themen und Maßnahmen zu Privatsphäre und Datenschutz
von besonderer Bedeutung für zahlreiche Stakeholdergruppen sind. In der Produkt- und
Softwareentwicklung können die Prinzipien des „Privacy by Design“ und Datensparsam-
keit umgesetzt werden. Auch eine in die App integrierte Möglichkeit, einzelne personen-
bezogene Daten nicht mehr „tracken“ zu lassen oder die Daten vollständig oder teilweise
zu löschen, z. B. über einen Button, gehört heute noch nicht zum Standard (Dörr, 2020).
Für die Unternehmen, die solche Themen wie Digital Privacy proaktiv berücksichtigen,
ergeben sich gleichzeitig neue Chancen. Ihre Produkte und Dienstleistungen können sich
170 C. Skerra

positiv am Markt differenzieren, können tendenziell eher mit regulatorischem Rücken-


wind rechnen, und die Unternehmen selbst stehen als verantwortlich, innovativ und
zukunftsorientiert da (digitale Wirtschaft, 2020).

9.3.3 Digitalisierung und Risiken

Von den Unternehmen, die digitale Technologien entwickeln oder nutzen, wird erwartet,
dass sie mit diesen potenziell negativen als auch positiven Auswirkungen digitaler
Technologien auf die Menschen verantwortungsvoll umgehen. Tun sie dies nicht, sind
ihre Produkte und Dienstleistungen weniger gefragt, möglicherweise werden sie in
Zukunft sogar verboten; und das Unternehmen selbst wird angreifbar (digitale Wirt-
schaft, 2020). Die Perspektive, was grundrecht- und verfassungswidrig ist, verändert
sich in der politischen und öffentlichen Debatte und mit der Entwicklung neuer Möglich-
keiten der Digitaltechnologie. Unsere Gesellschaft befindet sich im Prozess einer
individuellen und kollektiven Güterabwägung. Diese Veränderungen und ihre Wirkungen
auf Geschäftsentscheidungen zu verfolgen, ist Teil eines zukunftsgerichteten Risiko-
managements in Digitalunternehmen (Dörr, 2020). Geschäftsmodelle, die auf „regel-
konformes“ Verhalten abzielen (z. B. Versicherungen) oder Profile von Nutzern aufbauen
(z. B. Energieversorger) und ökonomisch nutzen, sind als riskant zu bewerten. Sie
stellen möglicherweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Privatheit und
Menschenrechte infrage und stellen sich somit gegen die demokratische Grundordnung
Deutschlands und Europas. Für Unternehmen stehen das Vertrauen der Öffentlichkeit
und die „License-to-operate“ auf dem Spiel (Dörr, 2020). Wesentliches Risiko ist der
Vertrauensverlust von Nutzern und damit ein Einbruch von Umsatz und Gewinn. Bei
Meta (ehemals Facebook) lässt sich dieser Effekt aktuell zeigen, von Anfang Februar
bis Mitte Februar 2022 fiel der Börsenkurs des Technologieunternehmens von 282 EUR
pro Aktie (Stichtag 02.02.2022) auf 182 EUR pro Aktie (Stichtag 18.02.2022), das
sind zirka 35 % der Marktkapitalisierung (Meta, 2022). Damit kann das Fehlverhalten
an einer beliebigen Stelle im Unternehmen die wahrgenommene Verantwortlichkeit
beschädigen. Verzerrung in der Wahrnehmung führt zudem zu einem „Negativity-Bias“
(dt. Negativitätsvorurteil), d. h. die negativen Effekte von Fehlverhalten wiegen stärker
als die positiven Effekte von CSR-Aktivitäten. Als Folge kann sich das Unternehmen
mit dem Vorwurf „Ethics Washing“ konfrontiert sehen (Dörr, 2020; Lin-Hi & Blum-
berg, 2018). Weitere, wesentliche unternehmerische Risiken sind der Vertrauensverlust
der Öffentlichkeit, weitere Regulierungen, Reputationsschäden durch verletzten Ver-
braucher- oder Kinderschutz oder Schäden an der Demokratie (Dörr, 2020).
Im Rahmen der Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale „Belange“ und Szenarien
sollen also die negativen gesellschaftlichen Effekte der Digitalisierung minimiert werden
und die Chancen der Digitalisierung genutzt werden, um gesamtgesellschaftliche Ziele
zu verwirklichen (Lischka, 2020). Bei dieser Betrachtung steht Digitalisierung als
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 171

Mittel zum Zweck im Vordergrund. Im Weiteren soll nun der Ansatz im Sinne der Neu-
betrachtung der Corporate Digital Responsibility (CDR) erläutert werden.

9.4 Neubetrachtung im Sinne einer Corporate Digital


Responsibility (CDR)

Bei der (III) Neubetrachtung im Sinne einer Corporate Digital Responsibility (CDR)
handelt es sich um die Idee, die sozialen, ökologischen, ethischen, Menschenrechts- und
Verbraucherbelange um eine vierte Verantwortungsdimension zu erweitern. Lischka
(2020) formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Wird hingegen zugrunde gelegt,
dass Digitalisierung nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern in sich ein wünschens-
wertes Ziel einer nachhaltigen Entwicklung darstellt, welchem Bestrebungen vonseiten
des Staats, der Wirtschaft und der Gesellschaft gewidmet werden (sollten), so würde
die Konzeptualisierung von Corporate Digital Responsibility (CDR) als Erweiterung
einer Corporate Social Responsibility diesem Gedanken durch die Ergänzung um eine
vierte Dimension Rechnung tragen. Es finden sich bereits vereinzelte Vorschläge und
Forderungen nach einer vierten Dimension, die sich neben der Darstellungsform ins-
besondere im Hinblick auf ihre Benennung unterscheiden” (Lischka, 2020).
Eine vierte Dimension eröffnet die Möglichkeit, digitale Themen in den bereits
etablierten Dimensionen der Ökonomie, der Soziologie und der Ökologie (s. Abb. 9.1.1)
zu erörtern, um die sich zusätzlich ergebenden Verantwortungen zu identifizieren und
auszuarbeiten (Thorun, Kettner, & Johannes Merck, 2019). Beispielsweise werden in
den klassischen CSR-Dimensionen zentrale Themen aus den Bereichen Wettbewerbs-
fähigkeit, Umwelt- und Ressourcenschutz sowie die Einhaltung von Arbeits- und
Sozialstandards betrachtet. In der Neubetrachtung im Sinne einer vierten Dimension
könnten sich Themenbereiche auf die Datenethik, den Datenschutz und die Daten-

Abb. 9.1 Digital x CSR = CDR. (Quelle: eigene Darstellung)


172 C. Skerra

sicherheit, Einsatzbereiche von KI- und Quanten-Algorithmen, Grenzen einer Digital-


ökonomie, oder die Ausweitung der sozialen Netzwerke in das Metaversum beziehen.
Weitergehend könnten im Marketing Überlegungen zu digitalen Touchpoints in der
Augmented-/Virtual-/Mixed-Reality angestrengt werden, oder allgemeiner: neue Formen
digitaler Transaktionen unter Einbeziehung der sich etablierenden Technologien, aus
den Bereichen Big Data, künstlicher Intelligenz und Blockchain (Joynson, 2018; Kunz,
2022; Lischka, 2020; Lobschat et al., 2020; Thorun et al., 2019). Auch Lobschat et al.
(2020) vermuten, dass digitale Technologien immer weiter Verbreitung finden und dass
folglich und zwangsläufig ethische Bedenken aufkommen. Sie schlägt daher vor, dass
Corporate Digital Responsibility (CDR) als gemeinsame Werte und Normen, die das
Handeln eines Unternehmens in Bezug auf vier Hauptprozesse beeinflussen, zu ver-
stehen ist. Diese vier Hauptprozesse sind die Technologieentwicklung („creation of
technology and data capture”), die Anwendung („operation and decision making“), die
Überwachung und Folgenabschätzung („inspection and impact assessment“ und die
Optimierung („refinement of technology and data“). In diesem Zusammenhang ist darauf
hinzuweisen, dass Lobschat et al. (2020) immer neben den digitalen Technologien, auch
explizit den Umgang mit Daten hervorhebt, beispielhaft bei der Datenerhebung den Ein-
satz von Daten bei der Entscheidungsfindung (Lobschat et al., 2020).
Um das Erfordernis einer vierten Dimension zu unterstreichen, sollte noch kurz auf
das Forschungsfeld der Maschinen- oder Roboterethik eingegangen werden (Crawford &
Calo, 2016; Moor, 2006; Van Wynsberghe & Robbins, 2019). Aktuelle Entwicklungen,
dass künstliche Intelligenzen lernen können, selbst Softwarecode zu schreiben, oder
zu modifizieren (Verma et al., 2018), oder die bereits bekannte Erkenntnis, dass auch
Algorithmen sozial voreingenommene Ergebnisse liefern (O’Neil, 2016), zeigen die Not-
wendigkeit ethischer Normen, die auf künstliche Akteure (sog. Agenten) anzuwenden
sind. Damit muss sich CDR auch in den Algorithmen der Software widerspiegeln und
beispielsweise bereits den Entwicklern von Software-Systemen im Unternehmen Ent-
scheidungshilfen bieten (Lobschat et al., 2020). CDR erfordert also bereits heute Leit-
linien für die Entwicklung und den Einsatz von künstlichen und technologischen
Akteuren; denn algorithmische Entscheidungsfindung, maschinelles Lernen und KI
beziehen nicht-menschliche und nicht-soziale Entitäten mit ein. Eine Schlüsselfrage ist,
ob und wie man die digitale Verantwortung an künstliche Akteure/Agenten delegieren
und die Verantwortung für die Handlungen als Unternehmen darstellen kann (Kunz,
2022).

9.5 Fazit

Abschließend ist festzuhalten, dass Bedenken nahezu aller in diesem Artikel


referenzierten Autoren vorliegen, dass der Bereich der gesellschaftlichen Ver-
antwortung der Unternehmen (CSR) nicht ausreichend für die Innovation der digitalen
Unternehmensverantwortung (CDR) vorbereitet ist. Zudem folgt die an den Anfang
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 173

gestellte Formel nach dem Schema 1 + 1 = 2 nicht den Anforderungen einer umfäng-
lichen Betrachtung des Themas CDR, sondern der Zusammenhang folgt eher dem
Schema einer Multiplikation (vgl. Abb. 9.1.1): Digital x CSR = CDR. Ein Unter-
nehmen, welches nur die Digitalisierung in den Fokus seiner Bemühungen stellt, aber
die Aktivitäten im Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung zu vermeiden ver-
sucht (CSR ist gleich Null), erhält im Resultat ebenso Null und verpasst seine Chancen
in den Märkten, genau wie ein Unternehmen, dass seine Bemühungen bezüglich der
Digitalisierung einstellt (Digital ist gleich Null). Vergleichbar ist auch die Heran-
gehensweise, wie in Teil eins der „Anwendung der Corporate Social Responsibility im
ITK-Sektor“ beschrieben, und sie kommt in der Formel Digital x CSR = CDR, einem
„Green Washing“ gleich: Das Resultat ist Null. Daher sind im strategischen Marketing
und im Rahmen des Innovationsmanagements zu neuen digitalen Produkten und Dienst-
leistungen zwingend und vorausschauend die sozialen, ökologischen, ethischen und
digitalen Menschenrechts- und Verbraucherbelange zu betrachten. Lippenbekenntnisse
zu den einzelnen Faktoren führen also nicht zum gewünschten Ergebnis der Erhaltung
von Marktpositionen noch zur Erschließung der zukünftigen digitalen Marktpotenziale,
sondern diese Unternehmen riskieren katastrophale Einbrüche in der Reputation und
damit im Unternehmenswert – von einem Tag auf den anderen.

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9 Digitale Unternehmensverantwortung … 175

Prof. Dr. Carsten Skerra ist seit 2021 Professor im Fernstudium der IU Internationale Hoch-
schule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangsleiter für Computer Science. Carsten
Skerra studierte Technische Informatik an der Berufsakademie in Stuttgart. An der Universität von
Gloucestershire, UK, promovierte Carsten Skerra. Dabei begründete er Einsichten in den Bereich
sozio-kultureller Zusammenhänge von Kreativität und Erfindung und entwickelte eine neue
Theorie zur Stimulanz von Erfindungen in der Gesellschaft. Seit 2011 lehrte Carsten Skerra an
Hochschulen für den Bereich International Business, Innovationsmanagement und für den Bereich
Informatik, Themen wie IT-Grundlagen, IT-Projektmanagement, IT-Datensicherheit und Software
Engineering. Carsten Skerra arbeitete zudem langjährig in der Forschung eines internationalen
Technologienunternehmens. Er ist Autor, Mitautor und Reviewer von Publikationen und aktives
Mitglied in der Gesellschaft für Informatik (GI), dem Project Management Institute (PMI) und
dem Design Management Institute (DMI) sowie der Scrum Alliance.
Growth Hacking – Erfolg durch
Wachstumsmarketing 10
Thomas Bolz   und Georg Bouché

Zusammenfassung

Immer häufiger hört man im Bereich des Online-Marketings den Begriff Growth
Hacking, dessen Ursprung aus dem Silicon Valley stammt und mittlerweile auch in
Europa immer mehr an Relevanz gewonnen hat. Als Growth Hacks werden Prozesse
bezeichnet, die das Ziel haben, mit kosten-effizienten Maßnahmen starkes Unter-
nehmenswachstum zu generieren. Dabei sind verschiedene Kompetenzen nötig, vor
allem aus den Bereichen des digitalen Marketings, Informationstechnologie (IT),
Produktmanagement und der Datenanalyse. Bewusst wird dabei auf kostenintensive
konventionelle Werbemedien und Kommunikationskanäle verzichtet. Die Methoden
orientieren sich dabei üblicherweise an dem bekannten Marketing-Funnel, der in
diesem Artikel mit den fünf Schritten Akquisition, Aktivierung, Kundenbindung,
Umsatz und der Weiterempfehlung abgebildet wird. Bei Growth Hacking geht es vor
allem darum, bei allen eingesetzten Maßnahmen den Return on Investment (ROI)
zu steigern. Wichtig ist zu erwähnen, dass das Growth Hacking nicht als eine ein-
fache Methode angewandt werden kann, sondern in Form von Experimenten und
kontinuierlichen Anpassungen ständig weiterentwickelt werden muss. Trends, Märkte
und das Nutzverhalten ändern sind laufend. Um wirksame und effiziente Wachstums-
strategien umzusetzen, müssen sich Growth Hacker daher an den sich ändernden

T. Bolz (*)
IU Internationale Hochschule, Regensburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
G. Bouché
IU Internationale Hochschule, Stuttgart, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 177
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_10
178 T. Bolz und G. Bouché

Rahmenbedingungen orientieren und ihre Maßnahmen schnell umsetzen. Der Fokus


liegt dabei auf der Wirtschaftlichkeit und der Kostenoptimierung. Insbesondere Start-
up-Unternehmen haben durch Growth Hacking exponentielle Wachstumsraten und
so eine weltweite Reichweite erzielen können sowie ihren Bekanntheitsgrad enorm
gesteigert. Dazu gehören z. B. der Filesharing-Dienst Dropbox, das soziale Netzwerk
Facebook und Instagram oder auch das Online-Portal AirBnB für die Vermietung
und Buchung von Unterkünften, die heute alle global bekannt sind. Die erfolgreichen
Strategien und Growth Hacks dieser und anderer Unternehmen werden in diesem
Kapitel erläutert. Auch wenn Growth Hacking vor allem für Start-ups eine große
Bedeutung hat, ist es für Unternehmen aller Größen relevant und für Unternehmungen
mit digitalen Geschäftsmodellen erfolgsrelevant.

10.1 Einleitung

Wie lassen sich die Anzahl an Kund:innen und die Umsätze steigern, ohne dabei die
Kosten exponentiell ansteigen zu lassen? Mit genau dieser Frage beschäftigt sich Growth
Hacking. Der Begriff Growth Hacking wurde von Sean Ellis im Jahr 2010 in dem Artikel
„Find a Growth Hacker for Your Startup“ zum ersten Mal öffentlich verwendet und
beschrieben. In diesem Artikel beschreibt Ellis, dass Marketer üblicherweise nicht die
erforderlichen Fähigkeiten haben, die in einem Start-up benötigt werden, um kosten-
günstiges Wachstum zu erzeugen. Dabei nennt Ellis (2010) den sogenannten „Growth
Hacker“ als optimale Lösung und beschreibt diesen als: „a person whose true north is
growth“.
Das Wachstum durch Growth Hacking basiert auf dem sogenannten Product-Market-
Fit, der Schnittmenge zwischen Produkt und Marktnachfrage, der für das Wachstum
laut der Growth-Hacking-Theorie nötig wird (Gassner, 2021, S. 5). Growth Hacking
findet man vor allem bei noch recht jungen Unternehmen, wobei auch etablierte Unter-
nehmen immer öfter Growth Hacking für sich entdecken. Gerade Start-ups suchen nach
kostengünstigen, aber effektiven Wegen, um Wachstum zu erzeugen. Aufgrund von
knappen Budgets oder fehlenden Investoren, werden oftmals neue innovative Möglich-
keiten gesucht, um die herkömmlichen Marketingmethoden zu umgehen (Lennarz, 2017,
S. 1 ff.).
Growth Hacking lässt sich als permanenter, strukturierter, rückkoppelnder Prozess
beschreiben, mit dem Maßnahmen, die direkten Einfluss auf das Wachstum haben, ent-
wickelt, getestet und optimiert werden sowie als interdisziplinäres Konzept, das die fünf
Handlungsebenen Experimente, Unternehmenskultur, Produkt, Prozess und Kunden-
beziehung umfasst (Gassner, 2021, S. 15). Das ideale Growth-Hacking-Team besteht
üblicherweise aus einer Kombination von Marketingfachleuten, Datenanalyst:innen,
Software-Entwickler:innen und Produktmanager:innen, die alle ein Ziel verfolgen: neue
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 179

und wiederkehrende Kund:innen für ein Unternehmen gewinnen. So beschreiben Herz-


berger und Jenny (2019) Growth Hacker als technisch versierte Produktmanager:innen,
kreative Marketingfachleute oder auch Entwickler:innen, die über den Tellerrand blicken.

10.2 Ursprung und Ziel

Growth Hacking ist per se nichts Neues und in der Praxis fest verankert, wurde jedoch,
wie anfangs beschrieben, erst im Jahre 2010 von Sean Ellis geprägt, und so als eigen-
ständiges Konzept etabliert. In einem Blog-Beitrag diskutierte Ellis als erster öffentlich
den Begriff als solchen.
Es folgte Chen (2012) mit seinem Blog-Beitrag "Growth Hacker is the new VP
Marketing". Als Basis für seine Veröffentlichung fungierte die Kurzzeitvermietungs-
plattform Airbnb, die dem Growth Hacking ihren Erfolg zu verdanken hat, was im Detail
im Abschn. 1.3.2 betrachtet wird. Außerdem wurden Growth Hacker als eine Mischung
aus Programmierer:innen und Vermarkter:innen vorgestellt, die moderne Marketing-
instrumente wie A/B-Tests, virales Marketing, Landing Pages und E-Mail-Zustell-
barkeit einsetzen. Ginn (2012) stellte das Growth Hacking auf dem Nachrichtenportal
TechCrunch als eine Denkweise vor, die Kreativität, Inhalt und Neugierde erfordert.
Burgard und Petzer (2014) bezeichnen Growth Hacking als „Taktiken („Hacks“) zur
Steigerung von für das Unternehmen wichtigen Kennzahlen“ (Burgard & Petzer 2014,
S. 7).
Das Hauptziel des Growth Hackings ist kostengünstiges Wachstum. Hierbei steht
vor allem die Lead-Generierung, also die Kontaktaufnahme mit qualitativ-hochwertigen
Interessenten, im Mittelpunkt, die zu Kunden konvertiert werden und langfristig an
das Unternehmen gebunden werden sollen. Um die Reichweite zu maximieren, setzen
Growth Hacker:innen vor allem auf die Kombination von verschiedenen Maßnahmen
und Marketingkanälen wie Content Marketing, E-Mail-Marketing, Suchmaschinen-
optimierung (SEO), virale Strategien, Soziale Medien, Community Management, A/B-
Testing, Datenanalyse und Produktentwicklung. Die Abb. 10.1 zeigt die einzelnen
Komponenten, die zu kostengünstigem Wachstum und der Generierung von Leads ver-
helfen können.
Die Produktentwicklung wird durch das Growth Hacking stark beeinflusst, da das
Produkt selbst einen bedeutenden intrinsischen Wert für den Wachstumsprozess besitzt.
Ein Produkt kommt auf den Markt, wenn es ‚produkt-market-fit‘ ist, also reif für den
Markt, vielleicht auch noch nicht komplett ausgereift, um in Echtzeit ein Feedback zu
erhalten.
In ihrem Buch „Growth Hacking: Silicon Valleys Best Kept Secret“ beschreiben Fong
und Ridderson (2017) das Novum als einfallsreiche und innovative Marktstrategie, die
auf ein Wachstum mit großer Hebelwirkung ausgerichtet ist.
180 T. Bolz und G. Bouché

Abb. 10.1 Kostengünstiges Wachstum im Growth Hacking. (Eigene Darstellung)

10.3 Growth Hacking in der Praxis

Durch die wachsende Zahl an Growth Hackern und deren Erfolgsgeschichten gewinnt
die Erscheinung immer mehr an Popularität. Die folgenden Beispiele erläutern, wie
Growth Hacking bei bekannten Unternehmen erfolgreich umgesetzt wurde.

10.3.1 Dropbox

Der Cloud-Speicherdienst Dropbox dient als erstes klassisches Beispiel für Growth
Hacking und wird am häufigsten zitiert, da anstelle von Werbeausgaben ein genialer
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 181

und kostengünstiger Weg gefunden wurde, um die Nutzerzahl zu erhöhen, was


oftmals als erster bekannter Growth Hack bei digitalen Unternehmen dargestellt wird.
Bereits bestehende Anwender:innen wurden dafür eingesetzt, andere Nutzer:innen zu
gewinnen. Die Dropbox-Konten wurden mit Facebook und Twitter verknüpft sowie
Nutzer:innen, die ihre Konten verbunden hatten und über diese sozialen Plattformen
weitere Nutzer:innen anzogen, bekamen dafür zusätzlichen Speicherplatz. Die Zahl der
Empfehlungen schoss in die Höhe und der Kundenstamm wuchs innerhalb kürzester
Zeit. Das Unternehmen musste wenig leisten, nur zusätzlichen Speicherplatz zur Ver-
fügung stellen. Den Rest haben die Nutzer:innen selbst erledigt. So ist eine kosten-
lose Möglichkeit entstanden, um neue Kund:innen zu gewinnen und exponentielles
Wachstum zu generieren, dank unkonventioneller Denkweisen und Kreativität. Ellis und
Brown (2010) zeigen auf, wie dieser Growth Hack zu 500 Mio. Nutzern geführt hat und
die Marke Dropbox weltweit bekannt gemacht hat. Sean Ellis war selbst für Dropbox
tätig und hatte daher einen sehr guten Einblick in die Growth Hacks des Unternehmens.

10.3.2 Airbnb

Wie konnte Airbnb in so kurzer Zeit so viel Bekanntheit gewinnen? Ausschlaggebend


war die Nutzung von Craigslist aus den USA, vergleichbar mit Ebay Kleinanzeigen in
anderen Ländern. In dem Optionsmenü von Airbnb wurde eine Funktion hinzugefügt,
die sich "auf Craigslist veröffentlichen" nannte. Dieser zeitlich begrenzte Hack, der
schließlich von Craigslist unterbunden wurde, reichte laut Ellis und Brown (2010) aus,
um Airbnb in den gesamten USA bekannt zu machen. Dank Einfallsreichtum und ein-
fachen Programmierkenntnissen nutzte das Unternehmen eine bereits etablierte Platt-
form, Cragslist.org, um mit deren etablierter Nutzerbasis nicht nur bekannt zu werden,
sondern auch deren Funktionen, die Vermietung von Zimmern, Häusern und Wohnungen
voll auszukosten.

10.3.3 Dollar Shave

Dollar Shave beweist, dass Videomarketing nicht nur eine Modeerscheinung ist, sondern
auch ein effektiver Wachstums-Hack, wenn dieser richtig eingesetzt wird. So startete
das Unternehmen eine Videokampagne, um für sich selbst zu werben. Der Dollar Shave
Club übermittelte die Botschaft, dass er jeden Monat neue Rasierklingen für nur 1 Dollar
liefert. Das Video verbreitete sich viral und hat bis heute mehr als 25 Mio. Aufrufe ver-
zeichnet, was wiederum zu einem Umsatz in dreistelliger Millionenhöhe führte. Dieser
simple, aber kreative Growth Hack hat dem Unternehmen zu einer Milliarden-Bewertung
geholfen (FAZ, 2016).
182 T. Bolz und G. Bouché

10.3.4 Facebook

Wie Facebook exponentielles Wachstum erreicht hat, ist kein Geheimnis. Growth Hacks
werden bei Facebook kontinuierlich entwickelt und eingesetzt, um die Reichweite stetig
zu erhöhen. Nutzer werden ermutigt, ihre Kontakte in die Plattform zu integrieren.
Facebook-User:innen wurden zu Beginn per E-Mail benachrichtigt, wenn sie markiert
oder erwähnt werden. Community-Management wird durch Gruppen und Seiten
gefördert. Das Interesse vieler Menschen wurde geweckt für Themen aller Art und sie
konnten sich einbringen.
Kalhammer (2019) empfiehlt Unternehmen in Bezug auf das Community-
Management abwechslungsreiche Beiträge zu posten, das heißt, zwischen einfachen
Textbeiträgen, Bildern und Videos zu wechseln. Weiterhin ist zu erwähnen, dass es
Facebook schafft, durch das Nutzerverhalten in Echtzeit Geschehnisse zu posten, sodass
das Unternehmen sogar von renommierten Nachrichtenformaten in Funk und Fernsehen
zitiert wird.

10.3.5 Foundr

Das Online-Magazin Foundr bediente sich an Kickstarter, um ihre Idee publik


zu machen, Traffic zu generieren und finanzielle Unterstützung in Form von
Abonnent:innen zu bekommen. Durch diesen Growth Hack gewannen sie auch Zugang
zu Influencer-Marketing, Content-Marketing und Präsenz in den Sozialen Medien.
Der Herausgeber des Magazins Foundr, Nathan Chen, dessen Plattform von Unter-
nehmern für Unternehmer fungiert, schaffte laut Ellis und Brown (2010) auch weitere
Anreizsysteme. So konnte man nicht nur von anderen Gründer:innen lernen, sondern
wurde auch angespornt, durch die Teilnahme an Wettbewerben hochwertige Preise zu
gewinnen. So wurden nicht nur neue Leser:innen angelockt, sondern auch Hunderte von
neuen Unterstützer:innen gewonnen und das Vierfache des angedachten Kickstarter-Ziels
erreicht.

10.3.6 Gmail

Bereits bei der Markteinführung von Gmail hatte Google mit starken Konkurrenten
auf dem Markt zu kämpfen, sodass es schwierig war, neue Kund:innen zu gewinnen,
die bereit waren, von der Konkurrenz zu wechseln und sich eine neue E-Mail-Adresse
einzurichten. Kostspielig wäre es gewesen, neue Kund:innen mit herkömmlichen
Werbemaßnahmen zu gewinnen, sodass ein System eingesetzt wurde, dass auf Ein-
ladungen basierte. Dies führte so weit, dass die Angst groß war, etwas zu verpassen. Die
Faszination dafür bewegte Menschen dazu, sich über Freunde und Familienmitglieder
anzumelden. Gmail setzte darauf, eine Dienstleistung anzubieten, die gefragt war, vor
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 183

allem aus Angst etwas zu verpassen. Das Einzige was nötig war, war es, auf diese Aktion
aufmerksam zu machen. Die "Invite-Only"-Strategie wirkte hervorragend. Die E-Mail-
Verwaltung wurde so beliebt, dass die Google-Mail-Einladungen sogar auf eBay ver-
steigert wurden.

10.3.7 Groupon

Eine der kostengünstigen Methoden ist die Empfehlung oder auch das Teilen von Bei-
trägen in den Sozialen Medien. Groupon hat diese Idee der Weiterempfehlungen
so gestaltet, dass gewisse Angebote nur erhältlich waren, wenn diese von mehreren
Personen zeitgleich erworben wurden. Die Angebote waren zeitlich begrenzt, sodass
auch hier die Angst, etwas zu verpassen, eine Rolle spielte. Zudem stiegen die Bekannt-
heit und die Zahl der Teilnehmer:innen dadurch, dass Angebote auch mündlich verbreitet
wurden, da nur ab einer bestimmten Zahl an Käufer:innen das Angebot zustande kam.

10.4 Growth-Hacking-Maßnahmen

Als Basis für die Strukturierung von Growth-Hacking-Maßnahmen kann der aus dem
Marketing bekannte Trichter (s. Abb. 1) herangezogen werden (Gassner, 2021, S. 70).
Auf Englisch spricht man von einem Funnel. Wichtige Aspekte wie Kennzahlen und
Erfolgsmessung der Kampagnen kommen hier zur Geltung. Vor allem geht es aber
um die Erweiterung des Kund:innenstamms und der Nutzer:innenbasis wie auch um
den Ausbau des bestehenden Geschäfts, sodass der Trichter zum wichtigsten Bestand-
teil der Growth-Hacking-Strategie geworden ist. Dieser kann sich in folgende Phasen
aufteilen lassen: Im ersten Schritt geht es um die Akquisition, das Gewinnen von
neuen Kund:innen und wie man diese locken kann. Im zweiten Schritt geht es darum,
potenzielle Kund:innen davon zu überzeugen, ein Produkt oder eine Dienstleistung zu
nutzen. Dieser Schritt kann als Aktivierung bezeichnet werden. Im dritten Schritt geht
es um die Bindung der Kund:innen an das Unternehmen. Das Abwanderung dieser soll
vermieden werden, damit im vierten Schritt ständig Geldströme in Form von Einkünften
erzielt werden, was als Monetarisierung bezeichnet werden kann. Schließlich geht es im
fünften Abschnitt des Trichters darum, Nutzer:innen dazu zu bringen, Empfehlungen
auszusprechen. Anhand dieser fünf Schritte, die in Abb. 2 dargestellt werden, können
Growth-Hacking-Maßnahmen strukturiert werden. Im Folgenden werden einige grund-
legende, ausgewählte Growth-Hacking-Maßnahmen beispielhaft skizziert.
Die Abb. 10.2, der Growth Hacking Trichter, erinnert an Kotler et al., (2017, S. 80)
und den sogenannten Ansatz der 5As der Customer Journey (Aware, Appeal, Ask, Act
und Advocate). Er setzt genau zwischen Act und Advocate an. Nachdem ein Konsument
“gehandelt” hat (act bzw. acquisition), durchläuft er im Growth-Hacking-Trichter die
184 T. Bolz und G. Bouché

Abb. 10.2 Growth-Hacking-Trichter. (Eigene Darstellung)

Stufen Aktivierung, Bindung und Monetarisierung, um schlussendlich das Produkt/die


Dienstleistung “weiterzuempfehlen” (advocate bzw. referral).

10.4.1 E-Mail-Marketing

E-Mail-Marketing kann eine Growth-Hacking-Maßnahme darstellen, die zu einem


hohen Return on Investment (ROI) führen kann (Kamps & Schetter, 2018, S. 73). Das
erfordert, dass entsprechende Listen mit E-Mail-Adressen erstellt und gepflegt werden
müssen. Das Erstellen einer E-Mail-Liste ist zeitaufwendig, aber auch hier gibt es einen
weiteren Hack, um die Datenmenge zu erhöhen. Zum Einsatz kann ein ‚Intent-Popup‘
kommen, der mit einem sog. Lead-Magneten verknüpft ist. Wenn Besucher:innen
eine Internetseite oder einen Webshop verlassen wollen, bietet der Lead-Magnet den
Besuchern eine Rabattierung oder andere Vergütung an, damit sie ihre Daten, vor allem
ihre Mail-Adresse, hinterlassen. Dadurch können Interessenten zu einem späteren Zeit-
punkt angesprochen und zu einer Konversion bewegt werden. Dieses Verfahren hat sich
bei vielen Growth Hacker:innen als erfolgreich erwiesen und ist mittlerweile bei vielen
digitalen Geschäftsmodellen üblich.
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 185

10.4.2 Rabatte als Gegenleistung für Social Sharing

Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss und das Potenzial, das Social-Media-Nutzer
auf andere Interessent:innen ausüben. Daher sollte Kund:innen die Möglichkeit ein-
geräumt werden, ein Angebot auf verschiedenen Plattformen zu teilen und so eine
Empfehlung auszusprechen. Dafür sollen auch Anreize in Form von Rabatten gewährt
werden. Dadurch wird der Anteil der Kund:innen, die das Social Sharing für die Weiter-
empfehlung eines Produktes oder einer Dienstleistung nutzen, deutlich erhöht.

10.4.3 Gamification beim Onboarding

Eine weitere Maßnahme für erfolgreiches Growth Hacking ist die Gamifizierung
des Onboarding-Prozesses. Unter Onboarding versteht man die Aufnahme neuer
Kund:innen. Dabei hilft das nutzerfreundliche Onboarding die Kund:innenbindung
zu erhöhen und eine mögliche Nutzer:innenabwanderung zu minimieren. Damit diese
Growth-Hacking-Strategie funktioniert, benötigt es einen kreativen Onboarding-
Workflow, der den Nutzern hilft, das Produkt oder die Dienstleistung zu verstehen, und
diese auch ermutigt, diese weiterzuempfehlen.

10.4.4 Kostenlose Produkte mit hohem Nutzen

Die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen ist bei einem kostenlosen Produkt mit hohem
Nutzen auf jeden Fall gegeben. Kostenlose Produkte auf einer Webseite in Form
eines auf die Zielgruppe zugeschnittenen Geschenkes können zum Kauf von weiteren
Produkten führen. Auch wenn es zunächst kontraproduktiv wirkt, führt dieser
Ansatz üblicherweise zu einer erhöhten Anzahl an Besucher:innen und steigert die
Kund:innenbindung. So wird auch der Bekanntheitsgrad einer Marke oder eines Unter-
nehmens gesteigert.

10.4.5 Gewinnspiele und Verlosungen

Der Vorteil von Gewinnspielen und Verlosungen liegt in der hohen Interaktivität. Wenn
interessante Artikel oder Dienstleistungen verlost werden, ist die Empfehlungsquote sehr
hoch oder ist sogar Voraussetzung für die Teilnahme. So können beispielsweise attraktive
Produkte auf Instagram oder Facebook verlost werden und mit Hashtags versehen sowie
die Markierung von anderen Personen im Post als Voraussetzung genannt werden, was
wiederum die Sichtbarkeit erhöht und zu einer viralen Verbreitung führen kann. Auch der
Markenname sollte sinnvoll platziert werden.
186 T. Bolz und G. Bouché

Fazit

Growth Hacking ermöglicht es Unternehmen in kurzer Zeit überdurchschnittliches


Wachstum zu generieren. Growth Hacking zielt dabei nicht nur auf Start-ups in der
Digitalbranche, sondern kann von Unternehmen aller Größenklassen sowie in allen
Branchen eingesetzt werden. Zu beachten ist dabei, dass Growth Hacking immer
produkt- und unternehmensspezifisch durchgeführt werden muss, und es keine all-
gemeingültigen Strategien und Maßnahmen gibt, die immer zum Erfolg führen.
Erfolgreiche Growth-Hacking-Maßnahmen werden in der heutigen Zeit üblicher-
weise schnell von anderen Marktteilnehmern erkannt und übernommen. Daher steht
beim Growth Hacking das Experimentieren mit verschiedenen Maßnahmen und das
schnelle Umsetzen von erfolgsversprechenden Hacks im Vordergrund.
Nicht zu vernachlässigen ist als solide Basis ein funktionierendes Geschäftsmodell
etabliert zu haben. Aber auch das reicht allein nicht aus, um mit Growth Hacking
starkes Wachstum zu erzeugen. Gassmann et al. (2013) betonen ebenfalls die Not-
wendigkeit der Innovationen, die vielen namhaften Unternehmen gefehlt hat, wie zum
Beispiel AEG, Grundig, Agfa und Kodak, um nur ein paar zu nennen. So darf man
sich nicht nur auf den Erfolg bei einer Neugründung verlassen. Es muss kontinuier-
lich in die Unternehmung investiert werden, um dann mithilfe des Growth Hacking
auch das Wachstum voranzutreiben.

Literatur

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Ellis, S., & Brown, M. (2010). Growth hacking: How today’s fastest-growing companies drive
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Fong, R., & Ridderson, C. (2017). Growth hacking: Silicon valley’s best kept secret. Lioncrest
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Gassmann, O., Frankenberger, K., & Csik, M. (2013). The St. Gallen Business Modell Navigator.
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Herzberger, T., & Jenny, S. (2019). Growth Hacking Mehr Wachstum, mehr Kunden, mehr Erfolg
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Kalhammer, B. (2019). Start-up Hacks: Was Unternehmen wirklich voranbringt. Redline.
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 187

Kamps, I., & Schetter, D. (2020). Performance Marketing; Der Wegweiser zu einem mess- und
steuerbaren Online-Marketing – Einführung in Instrumente, Methoden und Technik. Springer
Fachmedien.
Kotler, P., Kartajaya, H., & Setiawan, I (2017). Marketing 4.0: Moving from Traditional to Digital.
Wiley.
Lennarz, H. (2017). Growth Hacking mit Strategie: Wie erfolgreiche Startups und Unternehmen
mit Growth Hacking ihr Wachstum beschleunigen. Springer Fachmedien.

Prof. Dr. Thomas Bolz ist seit 2020 Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce und
Online-Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in
der Entwicklung und Vermarktung von digitalen Geschäftsmodellen. Durch seine nationale und
internationale Praxiserfahrung sowie seine langjährige Tätigkeit im Management Consulting lernte
er digitale Geschäftsmodelle aus verschiedenen Blickwinkeln kennen. Im Rahmen seiner beruf-
lichen Aktivitäten begleitete er diverse Unternehmensgründungen und -transaktionen im digitalen
Umfeld.

Prof. Dr. Georg Bouché arbeitet als Honorardozent und Professor an Hochschulen und Uni-
versitäten in Deutschland, Frankreich, Mexiko, Spanien und Vietnam. Als geschäftsführender
Gesellschafter einer Marketing- und Strategieberatung mit Sitz in Berlin, liegen seine Tätigkeits-
schwerpunkte in den Bereichen Marketing, Digitalisierung, Internationalisierung, strategischer
Vertrieb, Business Development und Growth Hacking. Für LinkedIn ist er als Autor und Trainer
tätig und hat zu Growth Hacking und Marketing mit kleinem Budget Filme für die Plattform ver-
öffentlicht. Vor der Gründung seiner Beratungsgesellschaft Bouché & Jakob war Georg in Spanien
für ein Private Equity Unternehmen als Management Consultant tätig und baute unter anderem
für die Gesellschaft eine Niederlassung in China auf. Davor hat er für eine Stuttgarter Werbe-
medien Agentur ein Büro in München etabliert. Georg engagiert sich mit einer eigenen Stiftung in
Gambia, Westafrika.
Teil IV
Marketinginstrumente
Nutzen von People Analytics im
Personalmarketing 11
Katharina-Maria Rehfeld   , Michaela Moser   und Maik Günther

Zusammenfassung

Megatrends wie die zunehmende Globalisierung und der demografische Wandel


führen in vielen Ländern zu einem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern. Unter-
nehmen konkurrieren deshalb verstärkt um gut ausgebildete Bewerber, denn diese
sind für den wirtschaftlichen Erfolg essenziell. Zielgerichtetes Personalmarketing,
das die Unternehmen in dem Konkurrenzkampf um die geeignetsten Mitarbeiter
sowie beim Binden der Talente unterstützt, ist zu einem kritischen Erfolgsfaktor
geworden. People Analytics, also die zielorientierte Nutzung von Smart Data im
Personalbereich, kann diese Personalmarketingmaßnahmen effektiv unterstützen und
verbessern, wird allerdings von nur wenigen Unternehmen bisher vollumfänglich
genutzt. Anhand von konkreten Beispielen aus der Praxis diskutiert der vorliegende
Beitrag die Möglichkeiten für den Einsatz von People Analytics und stellt dar, wie
Prozesse und Aktivitäten im Rahmen des internen und externen Personalmarketings
datenbasiert und zielgerichtet analysiert, bewertet und optimiert werden können. Im
digitalen Zeitalter müssen sich Personalmarketingaktivitäten wandeln, Strategien neu

K.-M. Rehfeld (*)


IU Internationale Hochschule, Genf, Schweiz
E-Mail: [email protected]
M. Moser
IU Internationale Hochschule, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
M. Günther
IU Internationale Hochschule, Denklingen, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 191
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_11
192 K.-M. Rehfeld et al.

gedacht und Maßnahmen angepasst werden. Mit Hilfe von People Analytics können
Unternehmen ihre Mitarbeiter als Ganzes begreifen, ihre Bedürfnisse zielgerichtet mit
den Unternehmenszielen in Einklang bringen und damit ihre wirtschaftliche Position
und die Position im Wettbewerb um die besten Talente stärken.

11.1 Einleitung

Megatrends wie die Globalisierung, die zunehmende Digitalisierung sowie der


demografische Wandel führen in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas
unternehmensseitig zu einem Überangebot an Vakanzen. Gleichzeitig besteht auf dem
Arbeitsmarkt ein akuter Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, sodass Unternehmen
um gut ausgebildete Bewerber konkurrieren (Weitzel et al., 2020). Dieser Fachkräfte-
mangel ist gemäß des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWI) für
viele Unternehmen bereits jetzt ein akutes Problem: Mehr als 50 % der Unternehmen in
Deutschland sehen darin sogar die größte Gefahr für ihr weiteres Wachstum. Ohne den
Einsatz von qualifizierten Mitarbeitern zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist eine hoch-
wertige Leistungserstellung nicht realistisch (Rohrlack, 2019) und der langfristige Unter-
nehmenserfolg infrage zu stellen.
Vor diesem Hintergrund kann ein zielgerichtetes Personalmarketing Unternehmen
helfen, sich im War for Talents über klare Alleinstellungsmerkmale positiv von der
Konkurrenz abzuheben. Diesem Ziel folgend, kann People Analytics (PA) bei der
Ausgestaltung und Optimierung der Personalmarketingmaßnahmen unterstützend
herangezogen werden. Mithilfe von PA können Entscheidungen im Bereich des
Personalmarketings datenbasiert getroffen sowie die Zielgerichtetheit, Effektivität und
damit Qualität des Personalmarketings erhöht werden.
„Die Wichtigkeit von PA ist allgemein anerkannt, aber trotz ehrgeiziger Ziele ist
der Unterschied zwischen dem aktuellen und dem angestrebten Vorgehen immer noch
groß“ (Deloitte, 2020, S. 7). Insbesondere in kleineren und mittelständischen Unter-
nehmen findet PA derzeit kaum Anwendung. Gemäß einer Studie von Deloitte (2014)
stellen zwar 87 % des deutschen Mittelstandes in der jüngsten Vergangenheit und nahen
Zukunft eine deutlich steigende Datenmenge fest, nutzen das Potenzial dieser Daten bis-
her aber noch nicht umfänglich für ihre Personalmarketingaktivitäten. Ein ähnliches Bild
zeigt sich in Nachbarländern wie der Schweiz.
Der folgende Beitrag zeigt deshalb die notwendige Etablierung von zielgerichteten
internen und externen Personalmarketingstrategien auf und stellt beispielhaft dar,
wie mithilfe von PA durch Nutzung von Smart Data Personalmarketingmaßnahmen
effizienter und damit erfolgreicher gestaltet werden können.
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing 193

11.2 Personalmarketing

Personalmarketing ist die Anwendung des Marketinggedankens auf den Personalbereich.


Dabei ist das Unternehmen als Arbeitgebermarke zu begreifen, der Arbeitsplatz als
Produkt, das vermarktet wird, und der Mitarbeiter oder potenzielle Bewerber als Kunde.
Das erklärte Ziel des Personalmarketings besteht demnach darin, das Unternehmen auf
dem internen und externen Arbeitsmarkt als attraktiven Arbeitgeber zu positionieren
(Konschak, 2014, S. 19 ff.). Ein effektives Personalmarketing sollte sich daher an den
Bedürfnissen von zukünftigen und gegenwärtigen Mitarbeitern orientieren (Rohrlack,
2019, S. 132). Personalmarketing umfasst folglich die Aufgaben der Bewerberansprache
(externes Personalmarketing) und der Mitarbeiterbindung (internes Personalmarketing).
Konkret lassen sich folgende drei Ziele des Personalmarketings differenzieren:

• Qualifizierte Kandidaten auf das Unternehmen und die Jobangebote aufmerksam


machen.
• Geeignete Kandidaten motivieren, sich zu bewerben.
• Aus dem Kreis der bestehenden Mitarbeiter diejenigen identifizieren, die sich als
geeignet und wichtig erweisen, um sie langfristig an das Unternehmen zu binden.

Alle Aktivitäten des Personalmarketings richten sich immer an der gewünschten Ziel-
gruppe aus, die man zur Bewerbung bewegen bzw. an das Unternehmen binden möchte.
Insoweit kommt dem Personalmarketing eine Selektionsfunktion zu.

11.3 Personalmarketing als Selektionsfunktion

Personalmarketing beabsichtigt eine gewisse Vorauswahl, weil es (vorzugsweise)


die geeignetsten Kandidaten auffordert, sich zu bewerben, und (vorzugsweise) die
geeignetsten Mitarbeiter an das Unternehmen bindet. Wenngleich der Begriff „Personal-
marketing“ die Anwerbung potenziell geeigneter Kandidaten im Rahmen der Personal-
auswahl in den Fokus stellt, gehört auch die „Abschreckung“ ungeeigneter Kandidaten
dazu. Das externe Personalmarketing sollte daher nicht auf den Eingang möglichst vieler
Bewerbungen auf eine Stellenanzeige abzielen. Vielmehr steht die Qualität eingehender
Bewerbungen im Vordergrund der Bemühungen, die den Anforderungen einer vakanten
Stelle in geeignetem Maße entsprechen (Kanning, 2017, S. 2). Diese Vorauswahl senkt
den zeitlichen Aufwand und damit die Kosten der Auswahlverfahren: „Je höher dabei
die Grundquote der Geeigneten durch gutes Personalmarketing in der Bewerbergruppe
steigt, desto eher tritt die Bedeutung der nachfolgenden Auswahlverfahren in den Hinter-
grund – im Optimalfall bewerben sich nur geeignete Personen“ (Thielsch et al., 2012,
S. 1).
194 K.-M. Rehfeld et al.

Die Selektionsfunktion des internen Personalmarketings fokussiert vor allem auf


die Zielgruppe der Leistungsträger, die affektiv an das Unternehmen gebunden werden
sollen. Alle übrigen Mitarbeiter außerhalb dieser Zielgruppe stehen nicht im Fokus des
Personalmarketings.

11.4 Employer Brand im Personalmarketing

Die zielgruppenorientierte Ansprache von geeigneten Kandidaten zur Sicherung der


Selektionsfunktion wird im Rahmen des Personalmarketings insbesondere durch den
Aufbau einer attraktiven Arbeitgebermarke (Employer Brand) erreicht. Das Employer
Branding umfasst alle strategischen Prozesse, die zur Entwicklung einer Employer Brand
beitragen (Trost, 2018, S. 98). Employer Branding ist ein ganzheitliches Management-
konzept, dessen Maßnahmen auf den Aufbau eines einheitlichen Arbeitgeberauftritts
nach innen und außen abzielen. Die Arbeitgebermarke beinhaltet damit die Summe „aller
Vorstellungen von einem Unternehmen als Arbeitgeber“ (Walter & Kremmel, 2016,
S. 5). Eine effektive Arbeitgebermarke erhöht nicht nur die Quantität, sondern auch die
Passung und in dem Sinne die Qualität der Recruitingmaßnahmen (Stotz & Wedel-Klein,
2013).
Eine zielgruppengerechte Ansprache und damit Effektivität der externen Personal-
marketingaktivitäten kann mit einer attraktiven Arbeitgebermarke erhöht werden
(Kanning, 2017, S. 154 ff.). Ein Recruitingprozess funktioniert als eine Art Trichter,
auch Recruiting Funnel genannt. In jedem Schritt des Recruiting Funnels, erfolgt eine
Selektion. In diesem Sinne stellt die Arbeitgebermarke die erste Selektion dar. Die
Arbeitgebermarke ist die Identität eines Unternehmens und bewirbt das Unternehmen als
potenziellen Arbeitgeber (Stotz & Wedel, 2013). Die Arbeitgebermarke zeigt, inwieweit
sich das Unternehmen als Arbeitgeber von anderen Unternehmen im Markt unterscheidet
und bezweckt, dass sich bestenfalls nur diejenigen Kandidaten bewerben und jene Mit-
arbeiter bleiben, die im besonderen Maße zu dem Unternehmen passen. In diesem
Zusammenhang sprechen Walter und Kremmel (2016, S. 120) von der Profilierungs-
und Differenzierungsfunktion (gegenüber konkurrierenden Unternehmen) und der
Rekrutierungsfunktion (abgestimmt auf die Zielgruppe) der Arbeitgebermarke.

11.5 Smart Data als Grundlage von People Analytics

PA-Technologien können zur Optimierung des internen und externen Personalmarketings


zur Anwendung kommen. Es handelt sich dabei um eine zielgerichtete Analyse und
Nutzung von smarten Daten, um personalrelevante Entscheidungen datenbasiert zu
treffen (Wirges et al., 2020) und damit das Bauchgefühl durch einen evidenzbasierten
Ansatz zu ersetzen. Im Gegensatz zu Big Data – also großen, unstrukturierte Daten-
mengen – sind Smart Data zur Beantwortung konkreter Fragestellungen gezielt auf-
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing 195

bereitete Daten, die intelligent miteinander verknüpft und ausgewertet werden. Mittels
intelligenter Verknüpfung unternehmensinterner und -externer Daten kann neues Wissen
als Basis für zielgerichtete Maßnahmen generiert werden (Marler & Bordreau, 2017).
Smart Data weisen demnach einen Wert für ein Unternehmen auf, weil sie sinnvoll zur
Wertschöpfung beitragen können (Hastenteufel et al., 2021). Die Motivation für die
Nutzung dieser Daten durch PA liegen in der Optimierung von Geschäftsentscheidungen
auf Basis zielgerichteter Analysen mit eindeutig formulierten Fragestellungen.
PA erweitert damit das klassische Personalmarketing, weil es Muster aus digitalen
Daten zum Verhalten von Bewerbern und Mitarbeitern durch Künstliche Intelligenz
(KI) und Algorithmen ermitteln kann, um darauf aufbauend Zukunftstrends für die
Personalmanagementaktivitäten zu erkennen und digitale Handlungsempfehlungen zu
geben (Abb. 11.1). Im Gegensatz zum klassischen Personalmarketing ist PA wesent-
lich stärker datenbasiert und kann auch eine zukunftsgerichtete Sichtweise einnehmen,
weshalb auch drei Stufen bzw. drei Reifegrade unterschieden werden (siehe Abb. 1):
Descriptive PA, Predictive People Analytics und Prescriptive People Analytics (Moser
et al., 2021). Während Descriptive People Analytics beschreibt, was und weshalb
etwas passiert ist, können mithilfe von Predictive bzw. Prescriptive People Analytics
die zukunftsbezogenen, explorativen Fragen beantwortet werden, wie: ‚Was wird
geschehen?‘ bzw. ‚Was sollte geschehen?‘ (Kajüter et al., 2019, S. 141).

Abb. 11.1 Abb. 1: Reifegrade von People Analytics


196 K.-M. Rehfeld et al.

11.6 Anwendungen von People Analytics für das externe und


interne Personalmarketing

Im Folgenden werden ausgewählte Einsatzmöglichkeiten von Smart Data im Rahmen


von externem und internem Personalmarketing skizziert. Es wird dargelegt, dass PA Ent-
scheidungen und damit Aktivitäten und Maßnahmen, die im Rahmen des externen und
internen Personalmarketings getroffen und durchgeführt werden, unterstützen und ver-
bessern kann. Ziel sollte es sein, im wachsenden Wettbewerb um die besten Talente bei
gleichzeitigem Kostendruck, planbarer, strategischer und letztlich erfolgreicher agieren
zu können.

11.6.1 People Analytics im externen Personalmarketing

Im Rahmen des externen Personalmarketings kommt den Kanälen eine wichtige


Bedeutung zu, die durch Marketingaktivitäten bespielt werden, um passende Bewerber
auf eine Vakanz aufmerksam zu machen. Dabei hat die Karrierewebseite von Unter-
nehmen eine wichtige Bedeutung. Sie muss so gestaltet sein, dass sie sich von den Web-
seiten anderer Unternehmen derart unterscheidet, dass sie die passenden Kandidaten auf
das Unternehmen aufmerksam macht, ihr Interesse an dem Unternehmen weckt und sie
zur Bewerbung bewegt.
Mit Hilfe von PA können Besuche der Karrierewebseite analysiert und wichtige
Kennzahlen generiert werden, die Aufschluss über den Erfolg der Employer-Brand-
Aktivitäten geben. Eine wichtige Kennzahl ist die sogenannte Konversationsrate als
Verhältnis von Besuchern der Karrierewebseite zu den über sie digital übermittelten
Bewerbungen. Sie gibt Aufschluss über die Attraktivität der Karrierewebseite (Khalid
& Ayat, 2010, S. 2). Aber auch die umfassenden Daten aus einer Clickstream-Analyse,
die man bereits erfolgreich im E-Commerce anwendet, sollten einbezogen werden. So
kann einerseits analysiert werden, ob sich potenzielle Bewerber auf der Karriereseite
zurechtfinden und welche Inhalte für bestimmte Bewerbergruppen besonders interessant
sind. Andererseits kann gezielt untersucht werden, mit welchen Stellenanzeigen sich
bestimmte Bewerbergruppen intensiv auseinandersetzen. Diese und ähnliche Ana-
lysen mittels KI können Hinweise für die Optimierung der Karrierewebseite und der
Stellenanzeigen geben. Ein Ergebnis kann die Einführung interaktiver Elemente sein,
um mögliche Bewerber etwa durch Chatbots proaktiv anzusprechen, wenn sie auf der
Karrierewebseite mehrfach eine schwer zu besetzende Stelle aufrufen.
Tatsächlich wurden bereits zahlreiche Systeme entwickelt, um Stellensuchenden
passende Stellenanzeigen vorzuschlagen. Insbesondere bei den Karrierewebseiten großer
Unternehmen befinden sich nicht selten hunderte oder sogar tausende offene Stellen.
Stellensuchende und Nutzer dieser Karrierewebseiten stehen dann vor der Heraus-
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing 197

forderung, aus einer Vielzahl an Angeboten die für sie passende Vakanz zu finden. Web-
seitenbasierte Filtermöglichkeiten reichen häufig nicht aus, um die Anzahl auf ein
sinnvolles Maß zu reduzieren. Simply Hired sendet seinen Nutzern daher auf Wunsch
E-Mail-Benachrichtigungen mit relevanten Stellenempfehlungen. Dabei wird u. a. das
individuelle Nutzerverhalten analysiert, wodurch die Reihenfolge der Empfehlungen ver-
bessert werden kann (Jiang et al., 2019).
Aussagen über die Effektivität einer zielgruppengerechten Ansprache im Sinne von
Qualität des Employer Brandings können auf Basis der Abbruchquote von neu ein-
gestellten Mitarbeitern während der Probezeit, sowie der Recruitingkosten pro Bewerber
gemacht werden. Um die Passung der Kandidaten zu erhöhen, sollten die meistge-
nutzten Kanäle zur Anwerbung neuer Kandidaten und Bindung bestehender Mitarbeiter
durch People Analytics identifiziert werden. In diesem Zusammenhang spricht man vom
Bewerber-Tracking, mit dem nachvollzogen werden kann, über welche Kanäle oder
Quellen Bewerber auf den Arbeitgeber aufmerksam wurden und Kontakt zum Unter-
nehmen aufnahmen. Bewerbertracking lässt eine differenzierte Erfolgskontrolle zu, mit
dessen Hilfe zukünftige Personalmarketingkampagnen zielgerichteter geplant, Streuver-
luste vermieden und das entsprechende Budget effizienter eingesetzt werden können.
Bewerber-Tracking kann durch die Anwendungen von Google-Analytics- und
sogenannten UTM-Codes (Urchin Tracking Module) erfolgen. Ein UTM-Code ist
eine Textfolge, die am Ende der URLs der Internetstellenanzeige des Unternehmens
zugefügt wird (Weber, 2015). Damit lässt sich nachverfolgen, wie gut der Job-Fit bzw.
Unternehmensfit der Kandidaten ist, die sich über unterschiedliche Kanäle wie Job-
portale, Unternehmenskarriereseiten, Social Media etc. bewerben. Ein guter Fit wird sich
letztlich auch auf die Einstellungszeit bzw. Time-to-Hire auswirken und diese senken.
Die Einstellungszeit entspricht der Zeitspanne beginnend mit dem Moment, ab dem
ein Kandidat Interesse an einer Vakanz bekundet hat (z.B. Datum der Einsendung der
Bewerbung) bis zum Zeitpunkt seiner Einstellung. Eine differenzierte Analyse der Ein-
stellungszeit aufgeschlüsselt nach Recruitingkanal auf der Basis von PA gibt ebenfalls
wertvolle Hinweise auf die Effektivität der externen Personalmarketingaktivitäten. Holl-
dorf (2020, S. 21) betont die Reaktionsgeschwindigkeit des Arbeitgebers gegenüber dem
Bewerber als einen erfolgsentscheidenden Faktor für einen erfolgreichen Rekrutierungs-
prozess. In Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels müssen Unternehmen schnell
und effizient beim Recruiting handeln, da vor allem qualifizierte Bewerber häufig
zwischen mehreren Jobangeboten auswählen können (Anger et al., 2021). Auch dieser
Aspekt kann über ein PA-Projekt einer näheren Untersuchung unterzogen werden.
Um dem Fachkräftemangel, insbesondere im MINT-Bereich, entgegenzuwirken,
kann auch ein zielgerichtetes Personalmarketing unter Schülern, also vor dem Start ins
Berufsleben, nützlich sein. So hat man bei Schülern, die später nach ihrem Studium in
einem MINT-Fach arbeiten, Muster in Clickstream-Daten der Online-Lernsoftware
ASSISTments mit Machine Learning erkannt. Anhand dieser Muster können gezielt
198 K.-M. Rehfeld et al.

neue Schüler identifiziert und motiviert werden, sich für MINT-Fächer einzuschreiben
(Makjlouf & Mine, 2020). Dieser Ansatz kann ebenso von Unternehmen genutzt
werden, um Schüler oder Studierende frühzeitig auf sich aufmerksam zu machen, deren
Interessen, Begabungen und Talente zu identifizieren und über Praktika, Werkstudenten-
tätigkeiten oder Traineeprogramme frühzeitig an sich zu binden.

11.6.2 People Analytics im internen Personalmarketing

Das interne Personalmarketing beschäftigt sich mit Fragen der Mitarbeiterbindung, Mit-
arbeitermotivation sowie Nachwuchskräfteförderung. Dabei haben insbesondere die
Zufriedenheit und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz signifikant positive Auswirkungen
auf die Bindung und die Motivation der Mitarbeiter (Colquitt et al., 2020, S. 92 ff.). Die
Gründe für eine fehlende Zufriedenheit oder mangelndes Wohlbefinden am Arbeits-
platz können durch PA analysiert werden, um interne Personalmarketingaktivitäten ziel-
gruppengerechter aufzubereiten. Die Analyse über PA kann dabei auf interne und externe
digitale Verhaltensspuren der Mitarbeiter zurückgreifen, um sie in Bezug auf vor-
handene Verhaltensmuster zu analysieren. Auf dieser Basis können Unternehmen dann
aktiv geeignete Bindungsmaßnahmen ergreifen und das affektive Commitment erhöhen.
Dazu können etwa negative Kommentare zum Arbeitgeber in Sozialen Medien durch
eine digitale Analyse herausgefiltert und entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet
werden. Starbucks etwa hat das Problem der hohen Mitarbeiterfluktuation analysiert,
indem die Kommentare vorhandener und ehemaliger Mitarbeiter auf der Arbeitgeber-
bewertungsplattform „Glassdoor.com“ über ein Textmining-Programm untersucht
wurden (Sakellariadis, 2015). Ziel muss es sein, Mitarbeiter zu Werbetreibenden bzw.
Promotoren für das Unternehmen zu gewinnen, indem sie innerhalb und außerhalb des
Unternehmens positiv über ihren Arbeitgeber sprechen (Owen, 2019).
Unternehmen wie Siemens Healthineers zum Beispiel gehen dazu über, sogenannte
Dashboards zu nutzen, die auf digitalen Pulsbefragungen basieren und die den Managern
relevante Daten in Echtzeit über derartige Sachverhalte anzeigen. Die Bezeichnung Puls-
befragungen oder Puls Checks entstammen dem medizinischen Bereich und werden
als eine Art Messgerät verstanden, mit dessen Hilfe in regelmäßigen Abständen die
Zufriedenheit und Stimmung der Mitarbeiter eines Unternehmens anhand bestimmter
Aspekte festgestellt wird. Im Gegensatz zur klassischen Mitarbeiterbefragung ist eine
Pulsbefragung sehr kurz und spezifisch und sollte sich auf die Verbesserung eines
bestimmten Bereiches oder Themas fokussieren. Bei Pulsbefragungen handelt es sich
um eine agile Befragungsmethode, bei welcher die Zielerreichung, zum Teil durch
eine Eingrenzung der Zielgruppen, möglichst ohne Streuverluste im Mittelpunkt stehen
(Trost, 2018). Die Kosten einer einzelnen Pulsbefragung sind im Vergleich zu anderen
Befragungsmethoden durch den geringeren Aufwand deutlich niedriger. Dadurch kann
sowohl der Geschäftsleitung als auch den Mitarbeitern regelmäßig ein wertvolles,
kostengünstiges und zeiteffizientes Feedback zur Verfügung gestellt werden. Moderne
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing 199

technikbasierte Befragungsmethoden ermöglichen eine Durchführung von Pulsbefragung


innerhalb weniger Minuten.
Ein möglicher Themenbereich, der anhand von Pulsbefragungen untersucht werden
kann, ist z.B. das Teammanagement. Mit Hilfe von Teammanagement-Dashboards
werden anhand von zuvor festgesetzten Messgrößen das Teamengagement und die
Teamleistung gemessen und analysiert und diese Informationen allen Teamleitern und
leitenden Managern im gesamten Unternehmen zur Verfügung gestellt. Übliche Kenn-
zahlen in dem Zusammenhang sind die Fluktuations- bzw. Kündigungsrate, Fehlzeiten-
quote, Mitarbeiterengagement-Rate, in deren Berechnung wiederum Faktoren wie
Führungsqualität, Qualität der internen Information und Kommunikation, Karriere-
möglichkeiten etc. einfließen sowie der Net Promoter Score, welcher misst, wie wahr-
scheinlich es ist, dass Mitarbeiter das Unternehmen weiterempfehlen (Nagy, 2002).
Mittels Kennzahlen werden den verantwortlichen Führungskräften sowie Personal-
managern Motivations-, Management- und/oder Leistungsprobleme etc. in den ver-
schiedenen Teams sowie im gesamten Unternehmen aktuell und regelmäßig zur
Verfügung gestellt, um schnell handeln zu können, bevor sich Probleme manifestieren.
Solche Tools fungieren als Warnsignale und Kontrollsystem, da sie die Analysen immer
stärker von Pull zu Push verlagern (Deloitte, 2017). Und sie dienen als Informations-
grundlage, um bestehende Maßnahmen im internen Personalmarketing zu verbessern
bzw. zu erweitern.

11.7 Fazit

Der demografische Wandel und die Digitalisierung bestimmen mehr denn je die Arbeits-
welt und werden auch im War for Talents weiter an Bedeutung gewinnen. Unternehmen
haben nicht nur die Option, sondern sind gezwungen, sich diesen Veränderungen anzu-
passen und die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen (Trost, 2018, S. 18). Im
Bereich des Personalmarketings offeriert der Einsatz von PA die Möglichkeit, Prozesse
und Aktivitäten datenbasiert und zielgerichtet zu analysieren, zu bewerten und zu
optimieren.
Mithilfe von PA können Unternehmen ihre Belegschaft als Ganzes begreifen, indem
sie ein besseres Verständnis und neuen Zugang zu ihren Bedürfnissen erhalten und damit
ihre Position im Wettbewerb um die besten Talente stärken (Tursunbayeva et al., 2018).
Obschon Unternehmen die Notwendigkeit und das Potenzial von PA sehen, fallen der
Einsatz und die Umsetzung allerdings noch gering aus (Hastenteufel et al., 2021).
Umfragen unter Unternehmen bestätigen, dass sie den größten Bedarf und die
intensivste Nutzung im Rahmen von Personalmarketingaktivitäten sehen (Kienbaum,
2020; Bersin, 2019). Personalmarketing sieht den Arbeitgeber als Werbenden, der sich
als attraktiver Arbeitgeber gegenüber seinen Kunden, den potenziellen Bewerbern,
präsentiert. Dabei spielt die Arbeitgebermarke sowohl für zukünftige als auch bestehende
Mitarbeiter eine große Rolle.
200 K.-M. Rehfeld et al.

Im digitalen Zeitalter müssen sich Personalmarketingaktivitäten wandeln. Durch den


Einsatz von PA auf Basis von Smart Data kann diese Wandlung initiiert und nachhaltig
durchgeführt werden. Letztlich erfährt dieses Vorgehen in Deutschland – anders als in
einigen anderen Ländern – jedoch vor allem durch datenschutzrechtliche Bestimmungen
Begrenzungen.

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Prof. Dr. Katharina-Maria Rehfeld ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als
Professorin für Personalmanagement (HRM) tätig. Ihre Schwerpunkte liegen dabei in den
Bereichen Internationales HRM, Digital HR & People Analytics sowie Personal- und Führungs-
kräfteentwicklung. Nach ihrer Promotion an der Universität Heidelberg, war sie mehr als zwölf
Jahre im Personalbereich für deutsche Unternehmen in Asien tätig. Neben Ihrer Tätigkeit an der
IU Internationale Hochschule führt Frau Rehfeld Führungskräfteseminare insbesondere im Bereich
interkulturelle Kommunikation und interkulturelle Zusammenarbeit durch.
202 K.-M. Rehfeld et al.

Prof. Dr. Michaela Moser ist Professorin für Personalmanagement im Fernstudium an der IU
Internationale Hochschule. Sie lehrt und forscht vorwiegend im Bereich Leadership und Digital
HR. Dabei untersucht sie vor allem die Optimierung von Wertschöpfungsprozessen im HR-
Bereich durch moderne digitale Tools. Die promovierte Diplom-Kauffrau verfügt über langjährige
Management-Erfahrung in verschiedenen international tätigen Konzernen, unter anderem als obere
Führungskraft eines international tätigen Baukonzerns sowie als Geschäftsführerin einer Konzern-
gesellschaft.

Prof. Dr. Maik Günther unterrichtet seit 2020 als Professor für Wirtschaftsinformatik an der
IU Internationale Hochschule. Seine Schwerpunkte liegen u. a. in den Bereichen Big Data, Data
Analytics und Künstliche Intelligenz. Nach seiner Promotion an der TU Ilmenau wechselte er
2010 in die Energiewirtschaft, wo er bis heute tätig ist. Daneben arbeitet er als Research Affiliate
am Center for Energy Markets und ist Mitglied in den Arbeitskreisen verschiedener Branchen-
verbände.
Menschen machen Fehler
12
Systematische und zufällige
Fehler – künstliche Intelligenz kann helfen

Christian Lucas

Zusammenfassung

Menschen, People, Mitarbeiter:innen, sind der Kern eines jeden Unternehmens.


Ohne tolle Gründungsideen, die richtige Schwerpunktsetzung oder auch das beherzte
Vorgehen, Anleiten, Mitreißen und Überzeugen, würde das eine oder andere Unter-
nehmenskonzept nicht aufgehen. Allerdings machen Menschen auch Fehler, auch im
Marketing: systematisch (Bias) und vermeintlich zufällig (Noise). Der vorliegende
Beitrag stellt diese Fehler vor, erläutert anhand von praktischen Beispielen, wieso
es dazu kommt, und schlägt Lösungsstrategien vor, wie man mit diesen Fehlern
umgehen kann. Vor allem stellt der Beitrag auch die Frage, ob wirklich alle mensch-
lichen Fehler vermieden werden sollten, oder ob es Fehler gibt, die sein müssen bzw.
sollten.

12.1 Entscheidungen als Grundbestandteil


betriebswirtschaftlicher Unternehmensführung

„Die Unternehmensführung hat die Aufgabe, den Prozess der betrieblichen Leistungs-
erstellung und -verwertung so zu gestalten, dass das (die) Unternehmensziel(e) auf
höchstmöglichem Niveau erreicht wird (werden)“ (vgl. Wöhe et al., 2020, S. 47).
Nach dieser Definition gehören neben der (Ziel-)Planung, Ausführung und Kontrolle,

C. Lucas (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 203
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_12
204 C. Lucas

auch die Entscheidung zu den grundlegenden und alltäglichen Aufgaben, die zur
Führung eines Unternehmens notwendig sind. Rational handelnde Unternehmen und
Unternehmer:innen sollten sich dabei formal immer für solche Handlungsalternativen
entscheiden, die (langfristig) den höchsten Zielerreichungsgrad versprechen (vgl.
ebenda, S. 47 f.).
Auch wenn sich das theoretisch recht trivial anhören mag, offenbaren sich hier gleich
mehrere Probleme, die sowohl die Planung der Handlungsalternativen als auch die Ent-
scheidung für die rational richtige Alternative sehr schwierig und komplex machen
(können):

• Unvollkommene Informationen der Vergangenheit


Die Zukunft wird durch unzählige (Umwelt-)Faktoren beeinflusst. Solange diese nicht
alle bekannt sind, können auch Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht valide berechnet
werden.
– Beispiel:
Bedingt durch die Corioliskraft werden u. a. Winde auf der Nordhalbkugel der Erde
so abgelenkt, dass sie sich im Uhrzeigersinn um ein Hochdruckgebiet und gegen
den Uhrzeigersinn um ein Tiefdruckgebiet drehen. Diese Winde werden zusätzlich
noch von Bergen, Wiesen und Wäldern (der Topografie) abgelenkt. Wie schnell
und wohin sich die Hoch- und Tiefdruckgebiete bewegen, hängt des Weiteren
noch von den sog. Jetstreams ab, Starkwindfeldern in der oberen Troposphäre. Ob
sich nun Wolken bilden, wie viel Wasser sie speichern und wo sie sich abregnen
werden, wird durch viele weitere Faktoren beeinflusst. Da diese (zumindest lokal)
nicht alle bekannt sind und sich auch ständig ändern können, können Wettervor-
hersagen nie zu 100 % genau sein.
• Unklare Reaktionen der Marktbeteiligten (vgl. Spieltheorie).
Eine Aktion löst in der Regel eine Reaktion aus (vgl. u. a. Bartholomae & Wiens,
2020, S. 3; Holler et al., 2019, S. 1). Marktteilnehmer:innen reagieren auf das Ver-
halten der anderen Teilnehmer:innen. Besonders in Märkten, in denen Informationen
frei zugänglich zur Verfügung stehen, reagieren Marktteilnehmer:innen häufig
unmittelbar.
– Beispiel:
Treibstoff für das Auto, sei es nun Benzin, Diesel oder Strom, wird gemeinhin als
homogenes Gut wahrgenommen, welches nicht stark differenziert ist bzw. werden
kann. Zusätzlich greift in Deutschland seit 2013 noch die Meldepflicht für Preis-
änderungen bei Kraftstoffen (vgl. Bundeskartellamt, 2022), sodass in diesem
speziellen Fall Informationen sehr viel einfacher auffindbar sind als sonst üblich.
Werden die Treibstoffpreise bei einem Anbieter nun erhöht, kann relativ leicht eine
direkte Reaktion der Wettbewerber in der näheren Umgebung beobachtet werden.
Ähnliches ist im E-Commerce zu beobachten, wo sich Preise so unmittelbar und
individuell ändern, dass schon von „dynamischen“ Preisen gesprochen wird.
• Menschliche Fehler bei der Entscheidungsfindung.
12 Menschen machen Fehler 205

Wenn Menschen Entscheidungen treffen, machen sie, auch wenn sehr viele
Informationen vorliegen, bisweilen Fehler. Zwei Arten von menschlichen Fehlern
können nach Kahneman et al., (2021, S. 10 f.) unterscheiden werden: systematische
Fehler (Biases bzw. Verzerrungen) und zufällige Fehler (Noise bzw. Rauschen).
– Beispiel Systematischer Fehler:
Sie arbeiten in einer Personalabteilung und haben für Montagmorgen eine:n
Bewerber:in mit guten Zeugnissen als aussichtsreiche:n Kandidat:in zu einem Vor-
stellungsgespräch in Ihr Büro eingeladen. Der Bewerbung war kein Foto beigefügt.
Wenn die Haarfarbe, Größe, oder auch das Gewicht des:der Bewerber:in nun Ihre
Entscheidung beeinflusst, spricht man ganz allgemein von einem systematischen
Fehler.
– Beispiel Zufälliger Fehler:
Sie arbeiten in der Personalabteilung eines Kölner Unternehmens. Ein:e Düssel-
dorfer Bewerber:in mit guten Zeugnissen ist als aussichtsreiche:r Kandidat:in
zu einem Vorstellungsgespräch am Montagmorgen in Ihr Büro eingeladen.
Am Wochenende fand das Fußballspiel Köln gegen Düsseldorf statt. Wenn das
Fußballergebnis nun Ihre Entscheidung beeinflusst, spricht man ganz allgemein
von einem zufälligen Fehler.

Im Folgenden wird sich der vorliegende Beitrag nun kurz mit den Gründen für diese
menschlichen Fehler befassen (vgl. Abschn. 12.2), um dann genauer auf die unterschied-
lichen Arten von systematischen und zufälligen Fehlern einzugehen (vgl. Abschn. 12.3).
Abschließend werden Lösungsstrategien diskutiert (vgl. Abschn. 12.4).

12.2 Warum machen Menschen Fehler?

Geht man davon aus, dass eine rationale Entscheidung, die den höchsten Ziel-
erreichungsgrad verspricht, eindeutig sein muss, stellt man sich unweigerlich die Frage,
warum nicht alle Menschen zwingend zur gleichen Lösung kommen. Geht man weiter
davon aus, dass dies auch auf Fälle zutrifft, in denen Informationen gleichverteilt sind,
bleibt als Ursache für die Unterschiede im Entscheidungsverhalten nur der Mensch
selber, und die Frage „wie“ er denkt, wenn nicht rational.
Kahneman und Tversky gingen dieser Frage als eine der ersten nach und konnten
1979 mit ihrer Prospect Theorie die Grundlagen für die Verhaltensökonomik
(behavioral economics) legen. In dieser wird davon ausgegangen, dass es den rein
rational denkenden Menschen, in der ökonomischen Wissenschaft gerne als „homo
oeconomicus“ bezeichnet, nicht gibt (vgl. Kahneman, 2011, S. 278 ff.; Rabin & Thaler,
2001, S. 219 ff.).
Kahneman (2011, S. 20 f.) schlägt vor, von zwei grundlegend verschiedenen Denk-
systemen innerhalb einer Person auszugehen, einem System 1 und einem System 2 (vgl.
auch Taleb, 2008, S. 110):
206 C. Lucas

• „System 1 operates automatically and quickly, with little or no effort and no sense of
voluntary control.”
• „System 2 allocates attention to the effortful mental activities that demand it,
including complex computations. The operations of System 2 are often associated
with the subjective experience of agency, choice, and concentration.”

Er geht weiter davon aus, dass das System 2 „faul“ ist und einige intuitive Gedanken und
Handlungen, die System 1 vorschlägt, von System 2 nicht unterdrückt oder korrigiert
werden. Viele Menschen sind nach dieser Vorstellung zu zuversichtlich, dass ihre
Intuitionen richtig sind, auch weil sie die kognitiven Anstrengungen, die System 2 ver-
langt, als unangenehm wahrnehmen und wenn möglich vermeiden wollen (vgl. Kahn-
eman, 2011, S. 44 f.). Kahneman verdeutlicht dies u. a. in diesem Beispiel:

Beispiel Baseball-Schläger und Ball

Ein Baseball-Schläger und ein Ball kosten zusammen $1,10.


Der Baseball-Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball.
Wie teuer ist der Ball? ◄

Wenn man nicht versucht dieses Beispiel zu lösen, sondern sich von seiner Intuition
leiten lässt, kommt einem ohne jegliche Anstrengung eine Zahl in den Sinn: die 10, also
10 Cent. Mathematisch ist das aber falsch, wie eine einfache Rechnung zeigt: wenn der
Ball 10 Cent kostet und der Baseball-Schläger 1 Dollar mehr (also $1,10), kommt man
in der Summe auf $1,20. Die richtige Antwort muss also 5 Cent als Preis für den Ball
lauten (vgl. ebenda, S. 44).
Wie kommt System 1 nun so schnell zu einem Ergebnis? Kahneman (2011, S. 97 ff.)
geht u. a. davon aus, dass die schwierige Zielfrage durch eine leichtere „heuristische“
Frage ersetzt wird und im Folgenden dann diese beantwortet wird. Durch ein Intensitäts-
Matching wird im Anschluss wieder die gleiche Dimension der Antwortkategorie her-
gestellt (vgl. auch Kahneman et al., 2021, S. 179 ff. und 196 ff.).

Beispiel Beantwortung einer „heuristischen“ Frage als Substitut einer schwierigen


Frage

Zielfrage: Wie viel würden Sie zur Rettung bedrohter Arten beitragen?
Heuristische Frage: Wie viel Gefühl empfinde ich, wenn ich an sterbende Delphine
denke?
Intensitäts-Matching: Das Gefühl bzgl. sterbender Delphine muss nun in einen
Geldbetrag umgewandelt werden. Dazu wird von System 1 die Stärke des Gefühls
als stark oder weniger stark eingeschätzt und gleichzeitig automatisch ein hoher oder
weniger hoher Geldbetrag wahrgenommen. ◄

Heuristiken sind per Definition also einfache Verfahren, die helfen, angemessene, wenn
auch oft unvollkommene, Antworten auf schwierige Fragen zu finden (ebenda, S. 184;
Kahneman, 2011, S. 98).
12 Menschen machen Fehler 207

Weitere Forschung, u. a. mittels des Cognitive Reflection Tests (CRT) (vgl. Frederick,
2005, S. 25 ff.), hat gezeigt, dass man Menschen grob in zwei Gruppen unterteilen
kann, solche bei denen das System 1 dominanter ist, die stärker auf ihre Intuition ver-
trauen und damit stärker kognitiven Verzerrungen unterliegen, und andere, rationalere
Menschen (vgl. auch Abschn. 12.4.1). Nichtsdestotrotz sind aber auch die anderen,
rationaleren und kritischeren Individuen, nicht vor kognitiven Verzerrungen (sog. Biases)
gefeit. Besonders, wenn das System 2 bereits beschäftigt ist, mit anderen kognitiv
anstrengenden Aufgaben, übernimmt System 1 und wir glauben fast alles (vgl. Kahn-
eman, 2011, S. 81). Dies ist derselbe Effekt, den auch Alkohol und Schlafdefizit auf
unsere kognitiven Leistungen hat (vgl. ebenda, S. 41).

12.3 Systematische und zufällige Fehler bei der


Entscheidungsfindung

Kognitive Verzerrungen (Biases) können entstehen, wenn in System 1 Heuristiken ein-


gesetzt werden, um einfache Antworten auf schwierige Frage zu finden. Sind die
genutzten Heuristiken nun ubiquitär, werden sie allgegenwärtig und verbreitet ein-
gesetzt, „verzerren“ diese die zu treffende Entscheidung einseitig (systematisch), weg
von der rational richtigen Entscheidung (vgl. Kahneman et al., 2021, 179 f.). Kommen
unterschiedliche Begutachter:innen hingegen, bei gleicher Informationslage, zu (stark)
unterschiedlichen Ergebnissen, spricht man von einem zufälligen Fehler (Noise), der in
beide Richtungen vom wahren Wert abweichen kann. Und auch für den Fall, das ein und
dieselbe Person, bei gleicher Informationslage, mal in die eine und mal in die andere
Richtung abweicht (bzw. abweichen würde, wenn sie die Gelegenheit hätte mehrfach zu
entscheiden), handelt es sich um einen zufälligen Fehler (vgl. ebenda, S. 318 f.).
Statistisch betrachtet handelt es sich bei kognitiven Verzerrungen (Biases) um Mittel-
wertunterschiede. Der zufällige Fehler (Noise) ist hingegen die Streuung der Ergebnisse,
in der Statistik als Standardabweichung (σ) bezeichnet. Wie man in Abb. 12.1 leicht
erkennen kann, können sich diese beiden Fehler gegenseitig stark verstärken.
Die beiden folgenden Unterkapitel beschäftigen sich genauer mit den jeweiligen Aus-
prägungen von systematischen und zufälligen Fehlern: Biases und Noise.

12.3.1 Systematische Fehler, kognitive Verzerrungen, Biases1

Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Arten von kognitiven Verzerrungen
(Biases) bietet u. a. Rolf Dobelli in seinem Buch über die Kunst des klaren Denkens, in

1 Sinddiese individuellen kognitiven Verzerrungen (Biases) unterschiedlich je Person, weichen sie


also vom wahren Wert mal nach oben und mal nach unten ab, je nachdem welche Person gerade
betrachtet wird, handelt es sich um einen dadurch verursachten zufälligen Fehler (Noise).
208 C. Lucas

Höhe des
Zielerreichungs-
grads

Raonal richge Entscheidung

Verzerrte Entscheidung (Bias)


 

(Streuung möglicher Entscheidungen)


(Noise)

Abb. 12.1 Verzerrte (Bias) und verrauschte (Noise) Entscheidungen (eigene Darstellung)

welchem er 52 Denkfehler auflistet und beschreibt (vgl. Dobelli, 2011). Einige davon
sollen hier beispielhaft vorgestellt werden. Die Auswahl orientiert sich dabei vornehm-
lich an den Vorgaben von Kahneman et al., (2021, S. 179 ff. und 241) und beinhaltet:
Belief-Bias, Confirmation-Bias, Anker-Effekt und die Selbstüberschätzung. Viele
weitere, wie bspw. der Planungsfehlschluss, die Verlustaversion, der Endowment-Effekt,
oder auch der Status-quo-Bias haben ähnliche Effekte auf den gemachten Fehler.
Belief-Bias: ist die Tendenz, die Stärke von Argumenten anhand der Plausibilität ihrer
Schlussfolgerung zu beurteilen und nicht danach, wie stark die Argumente diese Schluss-
folgerung unterstützen (vgl. Leighton & Sternberg, 2003, S. 300). Personen akzeptieren
solche Argumente eher, die eine Schlussfolgerung zulassen, welche mit den Werten und
Überzeugungen dieser Person übereinstimmen. Gegenargumente zu dieser Schluss-
folgerung werden zurückgewiesen (vgl. Evans et al., 1993, S. 243).

Beispiel Belief-Bias

Argument 1: Alle Vögel können fliegen.


Argument 2: Tauben können fliegen.
Schlussfolgerung: Tauben sind Vögel.
Man bekommt leicht das Gefühl, dass diese Aussagen (Argumente) richtig sind,
weil die Schlussfolgerung richtig ist: Tauben sind tatsächlich Vögel. Allerdings
können nicht alle Vögel fliegen (siehe Argument 1), wie der Strauß, der Kiwi und die
Pinguine beweisen (vgl. Effectiviology.com, 2022). ◄
12 Menschen machen Fehler 209

Ähnlich verhält es sich, wenn man sich fragt, wie wahrscheinlich es sich, dass (1) Angela
Merkel gerne Skateboard fährt. Ist das wahrscheinlicher als die Aussage, dass (2) Angela
Merkel gerne Skateboard fährt und eine große Sympathisantin der Bayreuther Wagner-
Festspiele ist? Gefühlt mag die zweite Aussage plausibler klingen, weil wir glauben zu
wissen, dass Angela Merkel gerne zu den Bayreuther Wagner-Festspielen geht. Objektiv
ist aber Aussage 1 wahrscheinlicher.
Eng verwandt mit dem Belief-Bias ist der Confirmation-Bias, der im Folgenden
beschrieben wird.
Confirmation-Bias: ist „die Tendenz, neue Informationen so zu interpretieren,
dass sie mit unseren bestehenden Theorien, Weltanschauungen und Überzeugungen
kompatibel sind.“ (Dobelli, 2011, S. 29).

Beispiel Confirmation-Bias

Ein:e Wirtschaftsjournalist:in könnte auf die Idee kommen zu behaupten, dass


Google so erfolgreich ist, weil die Firma eine Kultur der Kreativität lebt. Wenn
der:die Journalist:in nun nach bestätigenden Beispielen sucht, nach anderen kreativen
Firmen, die erfolgreich sind, wird er:sie ohne Probleme welche finden können. Damit
wird seine:ihre Theorie allerdings nicht wahr. Vielmehr müsste er:sie versuchen,
seine:ihre Theorie zu widerlegen: andere Fälle zu finden, in denen eine Kultur der
Kreativität nicht zu Erfolg geführt hat (vgl. ebenda, S. 34; Taleb, 2008, S. 80 f.). ◄

Anker-Effekt: Anker werden z. B. benutzt, wenn der richtige Wert, das wahre Ergebnis
nicht bekannt ist und somit geschätzt werden muss. Die schwierige Frage wird durch
eine einfache Frage ersetzt (vgl. Dobelli, 2011, S. 125). Man setzt sich quasi selber einen
Anker und versucht sich von dort aus dem wahren Ergebnis durch weitere Überlegungen
anzunähern. Diese hilfreiche Heuristik kann einen allerdings auch in Situationen beein-
flussen, in denen das nicht unbedingt gewollt ist.

Beispiel Anker-Effekt

Es sollen Preise für Produkte geschätzt werden. Auf dem Tisch steht eine Ihnen
unbekannte Flasche Wein. Sie werden gebeten die letzten beiden Ziffern Ihrer Tele-
fonnummer aufzuschreiben und anzugeben, ob Sie den Wein zu diesem Preis kaufen
würden. Anschließend werden Sie gebeten, den höchsten Preis anzugeben, den Sie für
die Flasche zahlen würden.
Die Ergebnisse dieses mehrfach durchgeführten Experiments (vgl. Ariely et al.,
2003, S. 73 ff.) zeigen, dass Proband:innen sich von dieser willkürlichen Zahl so stark
beeinflussen lassen, dass teilweise bis zu dreimal so hohe Zahlungsbereitschaften
genannt wurden (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 189). ◄
210 C. Lucas

Selbstüberschätzung, auch schon mal Overconfidence-Bias genannt, ist, wie der Name
schon sagt, die systematische Fehleinschätzung des eigenen Könnens und der eigenen
Kompetenzen (vgl. Alpert & Raiffa, 1982, S. 294 ff.). Werden bspw. Prognosen und
Schätzungen gemacht, misst der Overconfidence-Bias „den Unterschied zwischen dem,
was Menschen wirklich wissen, und dem, was sie denken zu wissen“ (vgl. Dobelli, 2011,
S. 14). Es geht also nicht darum, ob die Schätzung nun richtig ist oder nicht.

Beispiel Selbstüberschätzung

Suchen Sie sich eine beliebige Zahl aus, die ansonsten nicht sehr bekannt ist. Das
könnte die Anzahl der Liebhaber von Katharina der Großen, die Absatzzahlen
eines bestimmten Buches, oder auch der Jahresumsatz einer beliebigen Firma sein.
Bitten Sie nun viele Menschen, unabhängig voneinander eine Schätzung vorzu-
nehmen. Geschätzt werden soll ein Bereich möglicher Werte für diese Zahl, der zu
98 % richtig sein soll und nur zu 2 % falsch. Bspw. „Ich bin zu 98 % sicher, dass
der Jahresumsatz der Firma X zwischen 1 und 3 Mrd. EUR liegt.“ Theoretisch sollten
nun von allen von Ihnen getesteten Personen nur 2 % danebengelegen haben. Tatsäch-
lich wird die Zahl wahrscheinlich deutlich höher liegen. Bei Alpert und Raiffa (1982)
betrug die Fehlerrate bspw. nahezu 45 % (vgl. Taleb, 2008, S. 175 f.). ◄

Nassim Taleb (2008, S. 177) konnte dies mit mehreren Experimenten nachweisen und
stellte fest, dass wir zum Überschätzen unseres Wissens und zum Unterschätzen unserer
Unwissenheit neigen. Mit anderen Worten: Wir unterschätzen systematisch den Grad der
Veränderung, den die Zukunft bringen wird.
Spannend in diesem Zusammenhang ist, dass Taleb (2008, S. 181 ff.) ebenfalls nach-
weisen konnte, dass je mehr Informationen jemand bekommt, desto mehr Hypothesen
wird er:sie zwischendurch auch aufstellen und desto schlechter wird seine:ihre Vorher-
sage sein. Ein Zuviel an Informationen kann also kontraproduktiv sein, da das zufällige
Rauschen irrtümlicherweise für Informationen gehalten wird. Hier sind zwei Fehler am
Werk, die sich gegenseitig beeinflussen: der Bestätigungsfehler (confirmation bias) und
ein Beharren auf Überzeugungen.
Mit diesem Rauschen und zufälligem Rauschen im Allgemeinen beschäftigt sich das
folgende Kapitel.

12.3.2 Zufällige Fehler, Rauschen, Noise

Zufällige Fehler schwanken um den wahren Wert, die rational richtige Entscheidung. So
könnte man versucht sein zu vermuten, dass sich diese Fehler einfach gegenseitig auf-
heben. Leider ist dem in einer konkreten Entscheidungssituation nicht so, da sich hier
per Definition „entschieden“ werden muss, es also nur eine einzelne Entscheidung gibt.
Und wenn die getroffene Entscheidung zufällig von der rational richtigen Entscheidung
abweicht, wird nicht das Optimum erreicht. Auch wenn eine Person über mehrere Jahre
hinweg viele Entscheidungen trifft, gleichen sich diese Fehler nicht etwa aus, sondern
12 Menschen machen Fehler 211

addieren sich. Zusätzlich konnte noch nachgewiesen werden, dass diese zufälligen
Fehler auch häufig einen noch größeren Einfluss auf die Entscheidung haben, als
systematische Fehler (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 234).

Beispiel Zufällige Fehler bei der Einschätzung des fairen Wertes einer Aktie

Wenn ein:e Vermögensverwalter:in mit der Aufgabe betreut wird, den fairen
Wert einer Aktie zu bestimmen, wird er:sie alle ihm:ihr zur Verfügung stehenden
Informationen zur Rate ziehen wollen. Zur Vermeidung von kognitiven Verzerrungen
(Biases) wird er:sie sich zusätzlich an ein etabliertes Schätzverfahren halten. Gibt
man diese Aufgabe nun mehreren Vermögensverwalter:innen, der gleichen Unter-
nehmung, die alle dasselbe Schätzverfahren einsetzen, und kommen diese dennoch zu
unterschiedlichen Ergebnisse, spricht man von einem zufälligen Fehler. ◄

Man könnte nun richtigerweise argumentieren, dass man diese vielen Urteile der unter-
schiedlichen Vermögensverwalter:innen aus dem obigen Beispiel einfach „mitteln“
könnte, um Noise zu reduzieren. Was wohl richtig wäre, allerdings müssten dazu auch
diese vielen Schätzungen erst einmal vorgenommen werden, was in der Praxis eher
selten passiert. Hierzu würden knappe Ressourcen gebunden werden müssen. Wichtiger
ist festzuhalten, dass tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse produziert werden, auch
wenn alle Informationen gleichverteilt sind und dieselbe Methode angewendet wird
(vgl. u. a. Doyle, 2007, S. 1583 ff.; Grimstad & Jørgensen, 2007, S. 1770 ff.; Frakes &
Wasserman, 2017, S. 550 ff.; Kahneman et al., 2021, S. 12 ff.; Lemley & Sampat, 2012,
S. 817 ff.; Ramji-Nogales et al., 2007).
Kahneman et al., (2021, S. 233 ff.) unterscheiden drei Arten von zufälligen Fehlern
(Bestandteile von Noise), die sich additiv ergänzen und je nach Situation unterschied-
lich stark zum gesamten Zufallsfehler (System-Noise) beitragen: Level-Noise, stabiles
Pattern-Noise und Occasion-Noise2.
Level-Noise bezeichnet dabei ein „personenspezifisches Rauschen aufgrund der
individuellen Grundeinstellung“ bzw. ein „individuelles Basisniveau von Noise“
(ebenda, S. 478). Damit ist gemeint, dass sich Personen untereinander durch ihre
individuelle Vorgeschichte, ihre Lebenserfahrungen, politischen Einstellungen und
so weiter voneinander unterscheiden (vgl. ebenda, S. 84). Jeder Mensch legt, bedingt
durch diese Erfahrungen, auf einer (seiner) Intensitätsskala (vgl. Abschn. 12.2) willkür-
lich einen Ankerpunkt, den Nullpunkt fest, und macht diese Skala damit zu seiner „Ver-
hältnisskala“ (vgl. Stevens & Marks, 2017). Von nun an muss er keine absoluten Urteile

2 Dabei sind stabiles Pattern-Noise und Occasion-Noise Bestandteile von sog. Pattern-Noise,
sowie auf einer Ebene höher Pattern-Noise und Level-Noise Bestandteile von System-Noise (des
gesamten Zufallsfehlers).
212 C. Lucas

mehr fällen, sondern nur noch relative, relativ zu „seinem“ Anker, was erheblich ein-
facher ist (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 216 f.).

Beispiel Level-Noise

Ein „alter Hase“ in der Schadensregulierung einer Versicherung, der als Mitglied der
Generation Baby Boomer in den 50er und 60er Jahren groß geworden ist, bewertet
die ihm vorgelegten Sachschäden an Kraftfahrzeugen eventuell konsistent höher,
als dies ein:e junge:r Mitarbeiter:in der Gen Z tun würde, obwohl die objektiven
Informationen identisch sind. ◄

Stabiles Pattern-Noise bezeichnet „das von der individuellen Grundeinstellung im


Einzelfall „musterhaft“ abweichende Urteilsvermögen“ (ebenda, S. 478). Damit ist
gemeint, dass sich die Entscheidungen von Personen, die ansonsten relativ konsistent
sind, in konkreten Einzelfällen doch beständig von dem Erwartungswert unterscheiden
können. Normalerweise eher nachsichtige Personen, können in speziellen Fällen
(Situationen) sehr streng sein. Normalerweise eher freundliche und offene Personen,
können in speziellen Fällen eher verschlossen und abweisend sein.

Beispiel Stabiles Pattern-Noise

Der gleiche „alter Hase“ aus der Schadensregulierung einer Versicherung (siehe
Beispiel oben), der Sachschäden an Fahrzeugen generell höher bewertet, bewertet
allerdings vielleicht Sachschäden an einer bestimmter Fahrzeugmarke (z. B. Renault)
weniger hoch, weil er in seinen jungen Jahren selber einmal ein solches Fahrzeug
gefahren hat und wenig begeistert von der Qualität des Autos war. ◄

Occasion-Noise bezeichnet ein „situatives Rauschen“ bzw. die „individuelle Streuung


aufgrund flüchtiger äußerer Einflüsse“ (ebenda, S. 478). Damit ist die intraindividuelle
Variabilität gemeint, also ein Schwanken im Entscheidungsverhalten, welches durch
kurzfristig wirkende zufällige Effekte ausgelöst wird (vgl. ebenda, S. 88).

Beispiel Occasion-Noise

Der „alte Hase“ aus den vorherigen Beispielen hat heute einen guten Tag. Die Sonne
scheint, es ist Freitag und an diesem Abend werden seine Freunde auf ein Bierchen
zum Grillen vorbeischauen: Er ist gut gelaunt. Deshalb drückt er dieses Mal auch ein
Auge zu und bewertet den vorgelegten Sachschaden höher als sonst üblich. ◄

Wie man aus diesen Beispielen erkennen kann, ist es für das Versicherungsunter-
nehmen grundsätzlich unangenehm, wenn ein Schaden nicht objektiv richtig bewertet
wurde, weil ja auch bei der initialen Festlegung der Versicherungspolicen ein
objektiver Maßstab angesetzt wurde, der nur etwas mit dem Schadensrisiko des:der
12 Menschen machen Fehler 213

Versicherungsnehmer:in zu tun hat, und nicht mit den variablen Urteilen der eigenen
Mitarbeiter:innen aus der Schadensregulierung. Würden diese variablen Urteile von
Anfang an mit eingepreist werden, hätte die Versicherung eventuell einen strategischen
Wettbewerbsnachteil. An diesem Beispiel lässt sich bereits erkennen, dass Zufallsfehler
(Noise) unbedingt zu vermeiden sind.

12.4 Lösungsstrategien

Das Marketing-House-Konzept (vgl. Kap. 1: Marketing-House-Konzept) schlägt nun


drei unterschiedliche Lösungsstrategien vor, die im Folgenden näher besprochen werden
sollen:

1. Veränderungen bei den Personen


2. Veränderungen bei den Prozessen
3. Austausch von Personen durch Prozesse

12.4.1 Veränderungen bei Personen durch Auswahl und


Schulungen

Eine der sinnvollsten Methoden, um Urteile und Entscheidungen zu verbessern, ist natür-
lich solche Personen auszuwählen, die über die beste Urteilskraft verfügen (vgl. Kahn-
eman et al., 2021, S. 246). Alternativ, bzw. grundsätzlich auch zusätzlich, kann man
natürlich versuchen, die Personen, die man schon als Mitarbeiter hat, zu sensibilisieren
und zu trainieren (vgl. Abschn. 12.4.2).
Es stellt sich die Frage, wie man solche Topbeurteiler, vielleicht sogar Super-
Prognostiker oder Super-Forecaster (vgl. Tetlock & Gardner, 2015, S. 81 ff.), findet.
Was zeichnet diese Leute aus? Drei Dinge spielen dabei eine Rolle: (1) was die Personen
wissen, (2) wie gut die Personen denken können und (3) wie sie denken (vgl. Kahneman
et al., 2021, S. 249).
Eine Grundvoraussetzung, um möglichst fehlerfrei Urteile zu fällen, ist die Erfahrung.
Je mehr Zeit sich jemand mit einer bestimmten Sache beschäftigt hat, desto besser.
Zusätzlich muss noch darauf geachtet werden, ob sich diese Person auch an gemeinsame
Normen bzw. berufsständige Standards gehalten hat (vgl. ebenda, S. 251 f.). Nur wenn
jemand sorgfältig arbeitet, können Fehler minimiert werden.
Die zweite wichtige Voraussetzung ist die Intelligenz, bzw. die sog. General Mental
Ability (GMA) (vgl. ebenda, S. 253). Noch immer sagt der GMA den später erreichten
Berufsstatus und auch das Leistungsniveau besser voraus, „als jede andere Fähigkeit,
jedes andere Merkmal oder jede andere Disposition und auch besser als die Berufs-
erfahrung“ (vgl. Schmidt & Hunter, 2004, S. 162).
214 C. Lucas

Der dritte Punkt bezieht sich auf den kognitiven Stil, also die Frage, wie sehr jemand
bereit ist, sich selber aktiv zu hinterfragen. Baron (2000, S. 14 ff.) hat hierzu die
maßgebliche Skala entwickelt, welche misst, wie sehr man bspw. auch abweichende
Meinungen von anderen zulässt und wie sorgfältig man diese neuen Informationen,
welche den eigenen bestehenden Hypothesen widersprechen, gegen seine alten Über-
zeugungen abwägt (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 258).

12.4.2 Veränderungen bei Prozessen, Debiasing und


Entscheidungshygiene

Auch Prozesse und Handlungsweisen können angepasst und verbessert werden, sodass
systematische wie auch zufällige Fehler weitestgehend vermieden werden. In Bezug auf
individuelle kognitive Verzerrungen (Biases) eignet sich nachträgliches, korrigierendes
Debiasing („ex post“) sowie präventives Debiasing („ex ante“) (vgl. ebenda, S. 262 f.).

Beispiel Nachträgliches, korrigierendes Debiasing („ex post“)

Sie planen die Herausgabe eines Buches. Dazu legen Sie verschiedene Deadlines
fest, z. B. eine Deadline zur Abgabe des Abstracts, eine zur Abgabe des finalen Bei-
trags, eine weitere für letzte Korrekturen und so weiter. Der errechnete Termin für
die Abgabe aller Unterlagen an den Verlag steht fest. Da Sie wissen, dass einerseits
Sie selber und andererseits auch Ihre Kolleg:innen, die die Beiträge zu Ihrem Buch
einreichen, unter kognitiven Verzerrungen bzgl. der Zeitplanung „leiden“, planen Sie
einen großzügigen Puffer ein. ◄

Präventive Debiasing-Maßnahmen („ex-ante“) beziehen sich auf die Schulung von


Mitarbeiter:innen (auch Boosting genannt), sowie auf Maßnahmen, die unmittelbar vor
der eigentlichen Entscheidung wirken (auch Nudging genannt). Nudges sind als Anstöße
zu verstehen, die „das Verhalten der Menschen auf vorhersehbare Weise verändern, ohne
dabei [Auswahl-]Optionen zu verbieten oder ihre wirtschaftlichen Anreize [Incentives]
wesentlich zu verändern.“ (vgl. Thaler & Sunstein, 2008, S. 6).

Beispiel Präventives Debiasing („ex ante“): Nudging

Sie wollen sich gesünder ernähren und sportlich fitter werden. Ein Nudge wäre
nun einerseits ein Hinweis Ihrer Smartwatch, dass Sie sich gestern mehr bewegt
haben. Andererseits könnte auch Ihr Supermarkt die gesunden Lebensmittel besser
positioniert haben, sodass Sie sie leichter finden: bspw. in typischer Greifhöhe oder
im Kassenbereich. ◄
12 Menschen machen Fehler 215

Um Nudges sinnvoll einsetzen zu können, müssen allerdings die Richtungen der


systematischen Verzerrungen (Biases) sowie eventuelle Verbundeffekt verschiedener Ver-
zerrungen individuell bekannt sein (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 264 f.).
In Bezug auf zufällige Fehler eignen sich zu dessen Reduktion Maßnahmen wie (1)
den Informationsfluss aktiv zu steuern, (2) mehrere unabhängige Urteile zu aggregieren,
(3) Leitlinien für die Urteilsbildung vorzugeben, (4) sicherzustellen, dass alle mit der
gleichen (Bewertungs-)Skala arbeiten, und (5) das Aufschieben des ganzheitlichen
Urteils (vgl. ebenda, S. 247 ff.). Im Folgenden werden diese Punkte am Beispiel der
Bewertung einer Bachelorarbeit einmal erläutert:

Beispiel Aktive Steuerung des Informationsflusses

Eine Bachelorarbeit soll kontrolliert werden. Entscheidend für die Note sollte dabei
ausschließlich der Inhalt sein. Dementsprechend sollten alle Informationen, die mit
der Entscheidung nichts zu tun haben, zurückgehalten werden. Dies betrifft bspw. den
Namen, das Geschlecht oder auch den Wohnort des Studierenden. Zusätzlich kann es
helfen, wenn diese Beurteilung von zwei Personen vorgenommen wird. Dabei sollte
darauf geachtet werden, dass die jeweiligen Beurteiler:innen die Entscheidung der
anderen Person nicht kennen: die Entscheidung also unabhängig getroffen werden
kann. ◄

Beispiel Mehrere unabhängige Urteile aggregieren

Je mehr Expert:innen eine Bachelorarbeit unabhängig voneinander bewerten, umso


besser. Der Mittelwert aller Urteile wird den zufälligen Fehler signifikant minimieren.
Da dies selten praktikabel ist, bietet es sich an, die Delphi-Methode anzuwenden.
Hierbei übermitteln die beiden Beurteiler:innen der Bachelorarbeit aus dem vor-
herigen Beispiel ihre Bewertung an eine:n unabhängigen Dritte:n, der:die diese ver-
dichtet und mit Begründungen für die jeweiligen Entscheidung wieder anonym an die
Beurteiler:innen zurückspielt. Anschließend bewertet jede Person noch einmal neu.
Der Prozess wird so lange fortgesetzt, bis ein einheitliches Urteil gefunden wurde.
Alternativ wird er nach X Iterationen abgebrochen und ein Mittelwert beider Urteile
gebildet. ◄

Beispiel Leitlinien für die Urteilsbildung vorgeben

Zur Bewertung der Bachelorarbeit werden mehrere Dimensionen vorgegeben


und gewichtet. So könnten unterschiedliche Bewertungen und Punkte vergeben
werden für Quantität und Qualität der genutzten Literatur, für klare Angaben und
Begründungen der genutzten Methodik zur Lösung der Forschungsfrage, für eine
stichhaltige Argumentation und Interpretation, sowie für eine kritische Selbst-
einschätzung und Reflexion der Ergebnisse. Auch sprachlicher Ausdruck, Recht-
216 C. Lucas

schreibung und Sauberkeit der Darstellung könnten relevante Dimensionen sein, auch
wenn diese sicherlich weniger gewichtig in die Endnote eingehen sollten. ◄

Beispiel Sicherstellung, dass alle mit der gleichen (Bewertungs-)Skala arbeiten

Das Verständnis darüber, was in einer Bachelorarbeit der Note 1 und was der Note
3 entspricht, kann unter Beurteiler:innen stark variieren. Bzgl. der Quantität der
genutzten Literatur kann man noch recht einfach feste Zahlenwerte vorgeben, die
sich aus der Rückschau, der vielen bisher eingereichten Bachelorarbeiten, ergeben.
Bzgl. der Qualität der genutzten Literatur wird es zwar schwieriger, man sollte aber
ähnlich vorgehen: es sollten typische, allen bekannte Beispiele, als Referenzpunkte
(Anker) auf der Notenskala eingetragen werden, sodass eine relative Beurteilung vor-
genommen werden kann. Diese Referenzpunkte sind regelmäßig zu kontrollieren. ◄

Beispiel Aufschiebung des ganzheitlichen Urteils

Hat man die Bewertung der Bachelorarbeit in unterschiedliche Dimensionen auf-


geschlüsselt und von mehreren Personen unabhängig voneinander bewerten lassen,
kann man nun das aufgeschobene ganzheitliche Urteil, die Note der Bachelorarbeit,
kollegial und intuitiv in einer Art Prüfungsausschuss festlegen. Die Intuition wird also
nicht ausgeklammert, sondern nur aufgeschoben. ◄

Diese Maßnahmen der Strukturierung üben einen starken Einfluss auf die Reduzierung
der Fehlerrate bei Entscheidungen aus (vgl. ebenda, S. 343). Aufgrund ihres Aufwands
bei der Erstellung und Durchführung, sowie bei der zeitlichen Anpassung, eignen sie
sich jedoch eventuell nur für solch gewichtige und langfristige Entscheidungen, wie
dies bspw. im Falle der Notenfindung bei Bachelorarbeiten oder bei der Einstellung von
Personal der Fall ist (vgl. ebenda, S. 364 ff.).
Im nachfolgenden Unterkapitel wird kurz diskutiert, inwieweit sich die Ersetzung
bzw. Abbildung der vorgestellten Prozesse durch künstlich geschaffene Algorithmen
anbietet.

12.4.3 Austausch von Personen durch KI-basierte Prozesse

„Artificial intelligence is the study of how to make computers do things at which, at the
moment, people are better” (Rich, 1983) ist eine Definition für künstliche Intelligenz aus
dem Jahr 1983. Hier hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel getan. Selbst
einfachste Algorithmen (sog. weak AI) können mittlerweile Aufgaben erledigen, die
traditionell von Menschen durchgeführt wurden (vgl. Iansiti & Lakhani, 2020, S. 4),
und das zu viel geringeren direkten Kosten und ohne jegliche zufälligen Fehler (vgl.
Kahneman et al., 2021, S. 361 und 410). So könnte man heutzutage genauer definieren:
„Künstliche Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit einer Maschine, kognitive Aufgaben
12 Menschen machen Fehler 217

auszuführen, die wir mit dem menschlichen Verstand verbinden“ (Kreutzer & Sirrenberg,
2019, S. 3), und da der menschliche Verstand einerseits systematischen und andererseits
zufälligen Fehlern unterliegt, könnte man ergänzen: „…, ohne dabei dieselben mensch-
lichen Fehler zu begehen.“
Indirekte Kosten allerdings können durch die Nutzung von künstlicher Intelligenz
sehr wohl entstehen und sollten unbedingt in die Betrachtung mit einbezogen werden.
Dies betrifft in erster Linie unbeabsichtigte Diskriminierungen der KI (vgl. u. a. Lucas,
2022; Kahneman et al., 2021, S. 370 f.), welche eine Art systematischen Fehler dar-
stellen. Andererseits besteht aber auch die Gefahr der Bürokratisierung von Ent-
scheidungen und der Demotivation von Fachkräften (vgl. ebenda, S. 415).

Beispiel Diskriminierungen durch KI

Microsofts Chatbot „Tay“ wurde im März 2016 nach nur 16 h wieder von der Platt-
form Twitter genommen, nachdem es sein Kommunikationsverhalten so stark an
beeinflussende Versuche von Nutzer:innen angepasst hatte, dass es selbstständig
anfing Dinge zu posten wie „Ich hasse alle Feministen, sie sollen in der Hölle
schmoren“ (vgl. Graff, 2016). ◄

Künstliche Intelligenz und Algorithmen sollten dementsprechend, zumindest bei sehr


gewichtigen oder strategischen Entscheidungen, aktuell darauf begrenzt sein, diese
vorzubereiten, bspw. durch das Erkennen von Mustern und das Vorhersagen von Ein-
trittswahrscheinlichkeiten. Die finale Entscheidungsfindung sollte, bei dieser Art von
Entscheidungen, in der Hand von Mitarbeiter:innen verbleiben (vgl. Kap. 1: Marketing-
House-Konzept), bis die indirekten (negativen) Kosten kontrolliert werden können.

Beispiel Algorithmen, die bei der Bewertung von Bachelorarbeiten helfen können

Einfachste Algorithmen können bspw. die Anzahl der genutzten Quellen zählen
sowie ermitteln, wie häufig jede einzelne Quelle genutzt wurde. Es kann auch ein
Score erstellt werden, wie viele deutschsprachige und wie viele englischsprachige
Quellen genutzt wurden. Neben der Quantität kann auch die Qualität ermittelt
werden: Wie viele Lehrbuchquellen wurden genutzt, wie viele Webseiten und wie
viele Journal-Artikel. Wie häufig wurden diese Journal-Artikel bereits von anderen
Autor:innen zitiert? Auch eine Plagiatsprüfung ist heute kein Problem mehr und wird
standardmäßig durchgeführt. Das System könnte zudem eine Note für diesen Teil-
bereich vorschlagen. ◄

In diesem Sinne kann eher von einer Intelligent Amplification (IA), einer Erweiterung
der menschlichen Intelligenz, im Gegensatz zur Ersetzung dieser (AI), gesprochen
werden (vgl. Kotler et al., 2021, S. 170).
218 C. Lucas

12.5 Fazit und Ausblick

Menschen machen Fehler, auch im Marketing. Diese Fehler können sehr kostspielig sein,
weil sie eine rational richtige Entscheidung verhindern. Im vorliegenden Beitrag wurden
einige Gründe für diese menschlichen Fehler aufgezeigt (vgl. Abschn. 12.2), die Fehler
selbst wurden vorgestellt und diskutiert (vgl. Abschn. 12.3), sowie Lösungsstrategien
vorgeschlagen (vgl. Abschn. 12.4). Bisher ausgeklammerte Aspekt, wie der Mangel
an Informationen und die vermeintliche Unvorhersagbarkeit der Reaktion der übrigen
Marktteilnehmer:innen (vgl. Abschn. 12.1) machen deutlich, dass sich die Grundstruktur
der Unternehmen ändern muss: Informationen (Market Research) und die Verarbeitung
dieser Informationen, durch immer neue technische Möglichkeiten (Progress), müssen
zu den Grundpfeilern einer jeden Unternehmung gehören, wie im Marketing-House-
Konzept vorgeschlagen (vgl. Kap. 1: Marketing-House-Konzept; vgl. auch Iansiti &
Lakhani, 2020, S. 7 f.).
Innovatives Marketing bedeutet also die neuen Möglichkeiten von Big Data, künst-
licher Intelligenz und intelligenten Algorithmen mit Bedacht für sich zu nutzen. Durch
die Digitalisierung hat sich hier zwar einiges getan und vieles ist möglich geworden,
aber nicht immer ist alles auch sinnvoll.
Die Nutzung von künstlicher Intelligenz zur Entscheidungsfindung muss auch
weiterhin kritisch hinterfragt und überwacht werden. Ein selbstverstärkendes Lernen
(reinforcement learning), ohne Überwachung, wie im Fall von Chatbot „Tay“ aufgezeigt,
kann (und muss3) schnell zu Entscheidungen führen, die ein Mensch nicht treffen wollen
würde.
Durch diese Entwicklungen steigen die ethischen und moralischen Anforderungen an
die eigenen Mitarbeiter:innen, gerade und besonders im Marketing, stark an und müssen
stärker in den Fokus der Betrachtung rücken!

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3 vgl. „Kritischer Rationalismus“.


12 Menschen machen Fehler 219

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Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-Management
und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt hier als Professor für
Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u.a. in den Fächern Digital Business,
Marketing, Marktforschung und Innovation Management. Parallel bietet er als Geschäftsführender
Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen internationalen Fahrservice für Teams und
Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Künstliche Intelligenz im Marketing
Ein anwendungsorientierter Überblick
13
Jan Pieper

Zusammenfassung

In einer wachsenden Zahl von Unternehmen kommen Anwendungen, die auf künst-
licher Intelligenz (KI) basieren, für Marketingzwecke zum Einsatz. Um das enorme
Potenzial auszuschöpfen, müssen Marketingverantwortliche die verschiedenen
Anwendungsarten verstehen und wissen, wie diese sich weiterentwickeln könnten.
Dieses Kapitel bietet einen anwendungsorientierten Überblick über den aktuellen
Stand der KI in der Marketingpraxis. Ein Bezugsrahmen wird vorgestellt, der bei der
Einschätzung hilft, welche Technologien wann sinnvoll eingesetzt werden können.
Dabei werden KI-Anwendungen nach ihrem Intelligenzgrad (einfache Aufgabenauto-
matisierung oder fortgeschrittenes maschinelles Lernen) und ihrer Struktur (eigen-
ständige Anwendung oder integrierte Plattformlösungen) klassifiziert. Die wichtigsten
Herausforderungen und Risiken für Marketingverantwortliche bei der Nutzung von
KI-Anwendungen werden analysiert.

13.1 Einleitung

Von allen Funktionsbereichen eines Unternehmens kann das Marketing vielleicht am


meisten von KI-Anwendungen profitieren. Die Kernaktivitäten des Marketings bestehen
darin, Kundenbedürfnisse zu verstehen, sie mit Produkten und Dienstleistungen in Ein-
klang zu bringen und Menschen zum Kauf zu bewegen – Aktivitäten, die KI erheblich

J. Pieper (*)
IU Internationale Hochschule, Wuppertal, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 221
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_13
222 J. Pieper

verbessern kann. So dokumentiert eine 2018 von McKinsey durchgeführte Studie mit
mehr als 400 fortschrittlichen Anwendungsfällen, dass das Marketing der Bereich ist, in
dem KI den größten Wertbeitrag leisten wird (Chui et al., 2018).
Marketingverantwortliche machen sich KI-Technologie zunehmend zu eigen:
Eine Befragung der American Marketing Association (ama.org, 2019) von 341 US-
amerikanischen Chief Marketing Officern ergab, dass allein zwischen Februar 2018 und
August 2019 die Implementierung von KI-Projekten um 27 % gestiegen ist. Eine globale
Deloitte-Umfrage aus dem Jahr 2020 unter 794 „Early Adoptern“ im Bereich der KI
zeigte, dass drei der fünf wichtigsten KI-Ziele marketingorientiert waren: Verbesserung
bestehender Produkte und Dienstleistungen, Schaffung neuer Produkte und Dienst-
leistungen sowie Verbesserung der Kundenbeziehungen (Deloitte, 2021).
Während KI im Marketing bereits Einzug gehalten hat, ist zu erwarten, dass sie in den
kommenden Jahren auch in anderen Funktionsbereichen an Bedeutung gewinnen wird.
Angesichts des enormen Potenzials der Technologie ist es für Marketingverantwort-
liche von entscheidender Bedeutung zu verstehen, welche Arten von KI-Anwendungen
für das Marketing heute verfügbar sind und wie sie sich weiterentwickeln können. Das
in diesem Kapitel vorgestellte Framework kann branchenübergreifend Entscheidern im
Marketing dabei helfen, bestehende KI-Projekte zu klassifizieren und die Einführung
zukünftiger Projekte zu planen. Bevor das Framework im Detail vorgestellt wird, soll
zunächst ein Blick auf den aktuellen Stand der Dinge geworfen werden.

13.2 Heutige KI-Anwendungen im Marketing

Viele Unternehmen nutzen heute KI zur Bewältigung präzise definierbarer Auf-


gaben, wie der automatisierten Platzierung digitaler Werbung (auch bekannt als
„programmatische Werbung“ oder „programmatic advertising“)1, zur Unterstützung
breiterer Aufgaben wie der Verbesserung der Genauigkeit von Vorhersagen (z. B. Ver-
kaufsprognosen) und zur Unterstützung menschlicher Tätigkeiten bei strukturierten Auf-
gaben wie dem Kundendienst.
Die folgende Auflistung bietet einen (nicht abschließenden) Überblick bereits
etablierter KI-Anwendungen im Marketing:

1 Programmatische Werbung (Programmatic Advertising) bezeichnet den automatisierten und


individualisierten Ein- und Verkauf sowie das Aussteuern von Werbeflächen in Echtzeit. Die
Abwicklung über KI-Technologie soll Ressourcen sparen, Prozesse vereinfachen, eine flexiblere
Preisgestaltung ermöglichen und die Relevanz der ausgelieferten Werbung für den Nutzer erhöhen.
Derzeit wird das Prinzip des Programmatic Advertising in Deutschland hauptsächlich für Online-
Werbung umgesetzt. Es ist aber auch für andere Medienkategorien (Out of Home, Bewegtbild,
Radio oder TV etc.) denkbar bzw. in der Testphase (Samuel et al., 2021).
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 223

• Chatbots2 für Lead-Entwicklung, Kundensupport und Cross- oder Upselling


• Analyse und Weiterleitung eingehender Anrufe sowie Analyse, Klassifizierung und
Beantwortung von Kundenkommentaren und E-Mails
• Automatisierung von Marketingkampagnen (einschließlich E-Mails, Erstellung von
Landing Pages und Kundensegmentierung)
• Marketing-Mix-Analyse
• Online-Produktvermarktung
• Preisgestaltung
• Individualisierte Produkt- oder Serviceempfehlungen
• Programmatische Werbung
• Social-Media-Planung, -Kauf und -Ausführung
• Stimmungsanalyse für soziale Medien
• Werbeschaltung im Fernsehen (teilweise)
• Betrieb und Optimierung von Websites (einschließlich Tests)

Die Unternehmen setzen KI auch in jeder Phase der Customer Journey ein. Wenn sich
potenzielle Kunden in der „Abwägungsphase“ befinden und ein Produkt recherchieren,
kann KI sie mit gezielter Werbung ansprechen und sie bei ihrer Suche unterstützen
(Zinkann & Mahadevan, 2017).

Beispiel Wayfair

Der Online-Möbelhändler Wayfair kann mithilfe von KI das Kaufinteresse seiner


Kunden abschätzen und diesen auf Grundlage ihrer Browser-Historie gezielt Produkte
präsentieren, die das Kaufinteresse weiter erhöhen (eTail, 2020). ◄

Beispiel Vee24

KI-fähige Bots von Unternehmen wie Vee24 (Vee24, 2021) können Marketingfach-
leuten dabei helfen, die Bedürfnisse der Kunden zu verstehen, ihr Engagement bei
einer Suche zu erhöhen, sie in eine gewünschte Richtung zu lenken (z. B. zu einer
bestimmten Webseite) und sie bei Bedarf per Chat, Telefon, Video oder sogar „Co-
Browsing“ mit einem menschlichen Vertriebsmitarbeiter zu verbinden, der dem
Kunden bei der Navigation auf einem gemeinsamen Bildschirm hilft. ◄

KI kann den Verkaufsprozess verschlanken, indem sie extrem detaillierte Daten über
Personen, einschließlich geografischer Daten in Echtzeit, verwendet, um hochgradig

2 Chatbots (oder auch: Bots) als KI-Anwendungsform erlauben Unternehmen, die Kommunikation
mit ihrer Kundschaft zu verbessern, zu intensivieren und vor allem zu automatisieren.
224 J. Pieper

eher Eigenständiges Integriertes


fortgeschrien maschinelles Lernen maschinelles Lernen

eher Eigenständige Integrierte


einfach Automa sierungsanwendungen Automa sierungsanwendungen

Unabhängig von Integriert in


anderen Pla ormen andere Pla ormen

Abb. 13.1 Vier Arten von KI-Anwendungen

personalisierte Produkt- oder Serviceangebote zu erstellen. Im weiteren Verlauf des


Prozesses unterstützt KI das Upselling und Crossselling und kann die Wahrscheinlichkeit
verringern, dass Kunden ihre digitalen Warenkörbe ohne Kauf zurücklassen. Nach einem
Kauf können Chatbots beispielsweise ein motivierendes Zeugnis ausstellen, um den
Kaufabschluss zu unterstützen, wie z. B. "Toller Kauf! Paul aus Berlin hat die gleiche
Matratze gekauft". Solche Initiativen können die Konversionsrate signifikant steigern
(Schanke et al., 2021).

Beispiel Amelia

Um Kundenanfragen rund um die Uhr bearbeiten zu können, bieten Unternehmen wie


Amelia (Amelia, 2021) KI-gestützte virtuelle Assistenten. Im Gegensatz zu Service-
Mitarbeitern, stellen für derartige KI-Lösungen auch starke Schwankungen in der
Anzahl an Serviceanfragen keine große Herausforderung dar. Sie sind in der Lage,
einfache Anfragen zu bearbeiten, z. B. zur Lieferzeit oder zur Terminvereinbarung,
und können komplexere Probleme an einen menschlichen Agenten weiterleiten. In
einigen Fällen unterstützt die KI die menschlichen Mitarbeiter, indem sie den Tonfall
der Kunden analysiert und differenzierte Antworten vorschlägt, die Mitarbeiter darin
schult, wie sie die Kundenbedürfnisse am besten erfüllen können, oder das Eingreifen
eines Vorgesetzten vorschlägt. ◄
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 225

13.3 Vier Arten von KI-Anwendungen im Marketing

KI-Anwendungen im Marketing können anhand von zwei Dimensionen kate-


gorisiert werden: (1) Intelligenzgrad (d. h. einfache Aufgabenautomatisierung oder
fortgeschrittenes maschinelles Lernen) und (2) Struktur (d. h. ob die KI-Lösung
eigenständig oder Teil einer breiteren Plattform ist). Die Kombination der beiden
Dimensionen ergibt die vier Quadranten unseres Bezugsrahmens (s. Abb. 13.1):
eigenständige Anwendungen für maschinelles Lernen, integrierte Anwendungen für
maschinelles Lernen, eigenständige Anwendungen für die Aufgabenautomatisierung und
integrierte Anwendungen für die Aufgabenautomatisierung.
Das Verständnis, in welchen Quadranten Anwendungen fallen, kann Marketing-
fachleuten dabei helfen, die Einführung neuer Anwendungen zu planen und zu ordnen.
Dabei gilt zu beachten, dass die Quadranten nicht völlig trennscharf sind: Einige Techno-
logien, wie z. B. Chatbots oder Empfehlungsmaschinen, können in jede der Kategorien
fallen. Die Klassifizierung hängt davon ab, wie sie in einer bestimmten Anwendung
implementiert sind.
Einfache eigenständige KI-Anwendungen sind häufig ein sinnvoller Anfang, auch
weil sie relativ einfach einzurichten sind. Ihr Nutzen ist jedoch begrenzt. Sobald Unter-
nehmen erste KI-Erfahrungen gewonnen und Daten gesammelt haben, können sie fort-
schrittlichere Anwendungen hinzufügen, die Teil anderer Plattformen sind. Schrittweise
können sie sich bis zum integrierten maschinellen Lernen vorarbeiten, das das größte
Wertschöpfungspotenzial hat.

13.3.1 Einfache Automatisierungsanwendungen

Einfache Automatisierungsanwendungen führen sich wiederholende, strukturierte Auf-


gaben aus, die ein relativ geringes Maß an Intelligenz erfordern. Sie sind darauf aus-
gelegt, eine Reihe von Regeln zu befolgen oder eine vorher festgelegte Abfolge von
Vorgängen auf der Grundlage einer bestimmten Eingabe auszuführen, können aber keine
komplexen Probleme, wie z. B. differenzierte Kundenanfragen, bearbeiten. Ein Beispiel
wäre ein System, das automatisch eine Willkommens-E-Mail an jeden neuen Kunden
sendet. Einfachere Chatbots, wie sie über Facebook Messenger und andere Social-
Media-Anbieter verfügbar sind, fallen ebenfalls in diese Kategorie. Sie können Kunden
bei grundlegenden Interaktionen helfen, indem sie sie durch einen definierten Ent-
scheidungsbaum führen. Die Absichten der Kunden können sie jedoch nicht erkennen,
keine maßgeschneiderten Antworten anbieten und auch nicht im Laufe der Zeit aus Inter-
aktionen lernen.
226 J. Pieper

13.3.2 Fortgeschrittenes maschinelles Lernen

Maschinelles Lernen ist ein Oberbegriff für die „künstliche“ Generierung von Wissen
aus Erfahrung. Dabei löst ein Algorithmus ein Optimierungsproblem, ohne dabei auf
ein statistisches Modell festgelegt zu sein. Vielmehr optimiert der Algorithmus zwischen
verschiedenen Modellen. Der Algorithmus wird anhand großer Datenmengen „trainiert“,
um relativ komplexe Vorhersagen und Entscheidungen zu treffen (MacKay, 2003).
Mittels maschinellem Lernen können Bilder erkannt, Texte entschlüsselt, Kunden
segmentiert und vorhergesagt werden, wie Kunden auf verschiedene Initiativen, z. B.
Werbeaktionen, reagieren werden. Das maschinelle Lernen ist bereits die Grund-
lage für programmatische Werbung, für E-Commerce-Empfehlungsmaschinen und für
Modelle zur Ermittlung der Verkaufsneigung in CRM-Systemen (Customer Relation-
ship Management) (Dzyabura & Yoganarasimhan, 2018). Das maschinelle Lernen und
seine anspruchsvollere Variante, das Deep Learning3, sind die zentralen Technologien
im Bereich der künstlichen Intelligenz und entwickeln sich schnell zu leistungsstarken
Werkzeugen im Marketing. Dennoch ist es wichtig, klarzustellen, dass bestehende
Anwendungen für maschinelles Lernen nach wie vor nur begrenzte Aufgaben erfüllen
und mit großen Datenmengen trainiert werden müssen.

13.3.3 Eigenständige KI-Anwendungen

Nach der Kategorisierung von KI-Anwendung im Marketing nach


dem Intelligenzgrad (d. h einfache Aufgabenautomatisierung oder
fortgeschrittenes maschinelles Lernen) wird nun die Struktur als die zweite
Kategorisierungsdimension thematisiert. Dabei ist zwischen eigenständigen
KI-Lösungen und solchen, die Teil einer breiteren Plattform sind, zu unterscheiden.

Eigenständige Anwendungen sind als klar abgegrenzte oder isolierte KI-Programme


zu verstehen. Sie stehen in keiner Verbindung mit den primären Kanälen, über die

3 Deep Learning (deutsch: mehrschichtiges Lernen, tiefes Lernen oder tiefgehendes Lernen)
bezeichnet eine Methode des maschinellen Lernens, die künstliche neuronale Netze (KNN) mit
zahlreichen Zwischenschichten (englisch: hidden layers) zwischen Eingabeschicht und Ausgabe-
schicht einsetzt und dadurch eine umfangreiche innere Struktur herausbildet (Goodfellow et al.,
2016). Deep Learning wurde bislang u. a. in den Bereichen Computer Vision, Spracherkennung,
Verarbeitung natürlicher Sprache, maschinelle Übersetzung, Medikamentenentwicklung,
medizinische Bildanalyse eingesetzt, wo es zu Ergebnissen geführt hat, die mit der Leistung
menschlicher Experten vergleichbar sind und diese in einigen Fällen sogar übertreffen (Ciresan
et al., 2012; Hu et al., 2020).
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 227

Kunden die Angebote eines Unternehmens kennenlernen, kaufen oder Unterstützung


bei der Nutzung erhalten. Auch zu Kanälen, über die Mitarbeiter diese Angebote ver-
markten, verkaufen oder warten, besteht für eigenständige Anwendung keine Ver-
bindung. Vereinfacht ausgedrückt lässt sich sagen, dass Kunden oder Mitarbeiter einen
besonderen Weg außerhalb dieser gängigen Kanäle einschlagen müssen, um eigen-
ständige KI-Anwendungen zu nutzen.

Beispiel Behr

Der US-amerikanische Farbenherstellers Behr bietet die Farbauswahl-App, die als


eigenständige KI-Anwendung bezeichnet werden kann. Mithilfe von IBM Watsons
natürlicher Sprachverarbeitung, die auch Emotionen in Texten erkennen kann, liefert
die Behr-App verschiedene personalisierte Farbempfehlungen für Behr-Farben, die auf
der Stimmung basieren, die sich die Kunden für ihren Raum wünschen. Die Kunden
verwenden die App, um zwei oder drei Farben für den Raum, den sie streichen wollen,
in die engere Wahl zu nehmen. Der eigentliche Farbkauf kann nicht über die Behr-App
abgewickelt werden. Die App bietet lediglich einen Link zur Bestellung der Wunsch-
farbe über die Baumarktkette Home Depot (IBM, o. J.). ◄

13.3.4 Integrierte KI-Anwendungen

Integrierte KI-Anwendungen sind in bestehende Systeme eingebettet. Für die Kunden,


Marketing- und Vertriebsmitarbeiter, die sie nutzen, sind sie oft weniger sichtbar als
eigenständige KI-Anwendungen. So ist das maschinelle Lernen, das in Sekunden-
bruchteilen entscheidet, welche digitalen Anzeigen Nutzern präsentiert werden sollen,
in Plattformen integriert, die den gesamten Prozess des Kaufs und der Schaltung von
Anzeigen abwickeln.

Beispiel Netflix

Das integrierte maschinelle Lernen der Streaming-Plattform Netflix bietet den


Abonnenten seit mehr als einem Jahrzehnt Videoempfehlungen (Medium, 2019). Die
Auswahl erscheint einfach im Menü der Unterhaltungsangebote, die die Zuschauer
sehen, wenn sie die Website besuchen. Wäre die Empfehlungsmaschine eigenständig,
müssten sie eine spezielle App aufrufen und Vorschläge anfordern. ◄

Beispiel CRM-Systeme

Die Hersteller von CRM-Systemen integrieren zunehmend Funktionen für


maschinelles Lernen in ihre Produkte. Bei Salesforce verfügt die Einstein-KI als
228 J. Pieper

Teil der Sales Cloud, Service Cloud, Marketing Cloud und der Customer-Data-
Platform(CDP)-Anwendung über mehrere Funktionen, darunter ein KI-basiertes
Lead-Scoring-System, das B2B-Kundenkontakte automatisch nach ihrer Kaufwahr-
scheinlichkeit einstuft (Salesforce, o. J.). Anbieter wie Cogito, die KI-Anwendungen
für das Coaching von Call-Center-Verkäufern anbieten, integrieren ihre Anwendungen
ebenfalls in das CRM-System von Salesforce (Cogito, o. J.). ◄

13.4 Ein schrittweiser Ansatz

Marketingverantwortliche werden letztlich den größten Nutzen aus integrierten


Anwendungen für maschinelles Lernen ziehen, obwohl auch einfache regelbasierte
und aufgabenautomatisierte Systeme stark strukturierte Prozesse verbessern können
und betriebswirtschaftlich häufig sinnvoll sind. Zu beachten ist jedoch, dass Aufgaben-
automatisierung heutzutage zunehmend mit maschinellem Lernen kombiniert wird, um
Schlüsseldaten aus Nachrichten zu extrahieren, komplexere Entscheidungen zu treffen
und die Kommunikation zu personalisieren – ein Hybrid, der sich nicht trennscharf über
mehrere Quadranten erstreckt.
Eigenständige Anwendungen haben insbesondere dann ihre Berechtigung, wenn
eine Integration schwierig oder unmöglich ist, oder auch wenn ihr Mehrwert begrenzt
ist. Soweit möglich und sinnvoll, sollten Marketingexperten im Laufe der Zeit KI-
Anwendungen in ihre aktuellen Marketingsysteme integrieren, anstatt mit eigen-
ständigen Anwendungen weiterzumachen. Tatsächlich bewegen sich viele Unternehmen
in diese Richtung. In der Deloitte-Studie von 2020 bestätigten 74 % der befragen KI-
Führungskräfte die Aussage „AI will be integrated into all enterprise applications within
three years.” (Deloitte, 2021).

13.4.1 Erste Schritte

Für Unternehmen mit begrenzter KI-Erfahrung ist es ein sinnvoller Start, einfache
regelbasierte Anwendungen zu entwickeln oder einzukaufen. Zahlreiche Unternehmen
„lernen laufen“ auf diesem Ansatz. Sie beginnen mit einer eigenständigen, nicht kunden-
orientierten App zur Aufgabenautomatisierung, z. B. einer App, die Servicemitarbeiter
bei der Kundenbetreuung unterstützt. Sobald das Unternehmen über grundlegende KI-
Fähigkeiten verfügt und eine Fülle von Kunden- und Marktdaten erworben habt, kann
schrittweise der Übergang von der Aufgabenautomatisierung zum maschinellen Lernen
erfolgen.
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 229

Beispiel KI-Anwendungen Styling-Anbieter

Ein passendes Beispiel für ein solches Vorgehen sind die KI-Anwendungen
kuratierender Styling-Anbieter wie Stitch Fix, Zalon oder Outfittery (Lake, 2018).
Maschinelles Lernen hilft den dort angestellten Stylisten, Angebote für die Kunden
zusammenzustellen, die auf den von den Kunden angegebenen Stilvorlieben, den
Artikeln, die sie behalten und zurückgeben, und ihrem Feedback basiert. Diese
Ansätze wurden noch effektiver, als die Unternehmen begannen, die Kunden aufzu-
fordern, aus durchmischten Fotos mit Style-Vorschlägen, ihre Favoriten auszuwählen,
wodurch eine wertvolle Quelle neuer Daten geschaffen wurde. ◄

Neue Datenquellen – etwa aus internen Transaktionen, von externen Lieferanten und
auch durch potenzielle Akquisitionen – sind etwas, wonach Marketingverantwortliche
ständig Ausschau halten sollten, da die meisten KI-Anwendungen, insbesondere das
maschinelle Lernen, große Mengen an hochwertigen Daten benötigen.

Beispiel XO

Das Charterjet-Unternehmen XO konnte den EBITDA mit seinem auf maschinellem


Lernen basierenden Preismodell um fünf Prozent steigern (Stawski, 2021). Der
Schlüssel dazu war die Nutzung externer Datenquellen über das Angebot an Privat-
jets und über Faktoren, die die Nachfrage beeinflussen, wie Großveranstaltungen, die
Makroökonomie, saisonale Aktivitäten und das Wetter. Die Daten, die XO verwendet,
sind öffentlich zugänglich. Da diese Daten auch allen Wettbewerbern zur Verfügung
stehen, ist es ratsam, ergänzend auch proprietäre Daten zu verwenden. ◄

Bei bestimmten Entscheidungen sind einige Unternehmen bei der Nutzung von
Marketing-KI inzwischen so raffiniert, dass menschliches Zutun gar nicht mehr nötig
ist. Insbesondere bei sich wiederholenden, schnellen Entscheidungen, wie sie für
programmatische Werbung erforderlich sind, ist dieser Ansatz unerlässlich. In anderen
Bereichen kann die KI einer Person, die vor einer Entscheidung steht, zumindest
Empfehlungen geben, z. B. einen Film für einen Verbraucher oder eine Strategie für
einen Marketingleiter. Soweit möglich und sinnvoll sollten Unternehmen zu auto-
matisierten Marketing-Entscheidungen übergehen, auch wenn menschliche Ent-
scheidungsfindung in der Regel den folgenreichsten Entscheidungen vorbehalten bleibt,
z. B. ob eine Kampagne fortgesetzt oder ein teurer TV-Spot genehmigt werden soll.

13.4.2 Herausforderungen und Risiken

Die Implementierung selbst der einfachsten KI-Anwendungen kann mit Schwierigkeiten


verbunden sein. Eigenständige KI-Anwendungen zur Aufgabenautomatisierung können
trotz ihrer relativ geringen technischen Komplexität schwer für spezifische Arbeitsabläufe
230 J. Pieper

zu konfigurieren sein und von den Unternehmen den Erwerb eigener KI-Kenntnisse
erfordern. Der Einsatz von KI in einem Arbeitsablauf erfordert eine sorgfältige Integration
menschlicher und maschineller Aufgaben, damit die KI die Fähigkeiten der Mitarbeiter
ergänzt und nicht in einer Weise eingesetzt wird, die Probleme verursacht. Viele Unter-
nehmen setzen beispielsweise regelbasierte Chatbots ein, um den Kundenservice zu
automatisieren. Allerdings können weniger fähige Chatbots Kunden auch verärgern. Im
Einzelfall kann es vorteilhaft sein, wenn solche Chatbots menschliche Servicekräfte unter-
stützen, anstatt direkt mit den Kunden zu interagieren (Chen et al., 2021).
Wenn Unternehmen immer ausgefeiltere, integrierte KI-Anwendungen einsetzen,
ergeben sich weitere Überlegungen. Insbesondere die Integration von KI in Plattformen
von Drittanbietern kann sich als schwierig erweisen.

Beispiel Olay Skin Advisor

Der Olay Skin Advisor von Procter & Gamble analysiert mithilfe von Deep Learning
Selfies von Kunden, bewertet ihr biologisches Alter und ihren Hauttyp und empfiehlt
entsprechende Produkte. Die KI-Anwendung ist in die E-Commerce- und Kunden-
bindungsplattform Olay.com integriert und hat in einigen Regionen die Konversions-
raten, Absprungraten und durchschnittlichen Warenkorbgrößen verbessert (Uzzi, 2019).
Die Integration in Einzelhandelsgeschäfte und Amazon, die einen hohen Prozentsatz des
Umsatzes von Olay ausmachen, war jedoch schwieriger. Der Skin Advisor ist auf der
umfangreichen Website von Olay auf Amazon nicht verfügbar, was die Fähigkeit der
Marke behindert, dort ein nahtloses, KI-gestütztes Kundenerlebnis zu bieten. ◄

Letztlich müssen Unternehmen die Interessen ihrer Kunden im Auge behalten. Je


intelligenter und integrierter KI-Anwendungen sind, desto mehr Sorgen machen sich die
Kunden über Datenschutz, Sicherheit und Dateneigentum. Kunden sind möglicherweise
kritisch gegenüber Apps, die ohne ihr Wissen Standortdaten erfassen und weitergeben,
oder gegenüber intelligenten Lautsprechern, die sie möglicherweise abhören. Im All-
gemeinen zeigt der Großteil der Kunden die Bereitschaft (oder sogar den Eifer), einige
persönliche Daten im Austausch für den Wert, den innovative Apps bieten können, zu
tauschen (Ameen et al., 2021).
Bedenken gegenüber KI-Anwendungen, wie z. B. Amazons Smart Speaker Alexa,
scheinen bislang durch die wahrgenommenen Vorteile in den Schatten gestellt zu
werden. Der Schlüssel für Marketingverantwortliche, die die Intelligenz und Reichweite
ihrer KI ausbauen, besteht insbesondere darin, Datenschutz- und Sicherheitskontrollen
zu gewährleisten und Kunden gewisse Mitspracherechte bei der Erfassung und Ver-
wendung ihrer Daten zu geben. Um das Vertrauen der Kunden zu erhalten, müssen
Marketingverantwortliche nicht nur regulatorische Vorgaben, wie die Datenschutz-
Grundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union berücksichtigen. Darüber hinaus
kann es ratsam sein, KI-Projekte von Datenschutz- und Ethikexperten vorab prüfen zu
lassen. Das gilt insbesondere für solche Projekte, bei denen die Datengrundlagen oder
die Algorithmen anfällig für Verzerrungen sind (z. B. Kreditwürdigkeitsprüfungen).
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 231

13.5 Fazit

Auch wenn KI-Anwendungen im Marketing bereits heute enorme Wertschöpfungs-


potenziale bieten, sollten Verantwortliche stets versuchen, ihre derzeitigen KI-Fähig-
keiten realistisch einzuschätzen. Der aktuelle KI-Hype sollte kritisch betrachtet werden,
schließlich können KI-Anwendungen bislang nur klar definierte Aufgaben erfüllen. Die
Steuerung komplexer Marketingfunktionen oder -prozesse mittels KI-Anwendungen
bleibt Zukunftsmusik. Nichtsdestotrotz hat KI das Marketing bereits verändert. Für einige
Marketingaktivitäten sind KI-Anwendungen heute unverzichtbar. In den nächsten Jahren
werden die Möglichkeiten mit Sicherheit weiter wachsen. Die Marketingfunktion und
die sie unterstützenden Funktionen, insbesondere die IT-Abteilung, sollten dem Aufbau
von KI-Kompetenz und der Bewältigung potenzieller Risiken frühzeitig Aufmerksamkeit
widmen. Zudem sollten Marketingverantwortliche unbedingt schon heute eine Strategie
entwickeln, um die Vorteile aktueller und zukünftiger KI-Anwendungen zu nutzen.

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Prof. Dr. Jan Pieper ist seit 2016 an der IU Internationale Hochschule Professor für Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre. Nach seinem Doktorat am Lehrstuhl für Unternehmensführung und
-politik der Universität Zürich war er für ein Schweizer Start-up sowie an verschiedenen Hoch-
schulen in der Schweiz und Italien tätig. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im
Bereich Unternehmensstrategie und Innovationsmanagement.
Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox
für zielgruppenorientierte Werbung im Internet
14
Claudia Heß und Ralf Kneuper

Zusammenfassung

Google entwickelt im Rahmen der sogenannten Privacy Sandbox Alternativen für die
hinsichtlich des Datenschutzes umstrittenen, für Werbetreibende aber sehr relevanten
Drittanbieter-Cookies (Third-Party-Cookies). Einer dieser Ansätze war das Federated
Learning of Cohorts (FLoC). Bei FLoC werden Personen, die aufgrund ihres Surf-
Verhaltens ähnliche Interessen aufweisen, in sogenannte Kohorten gruppiert. Ein neuerer
Ansatz ist das Topic API, welcher die Interessen der Nutzer:innen auf Topics, also ver-
schiedene Themen abbildet. Der vorliegende Beitrag führt in diese technischen Konzepte
ein und beleuchtet ihre Konsequenzen aus mehreren Perspektiven. Diese neuen Ansätze
werden einerseits aus Sicht der Internetnutzer:innen bewertet. Hierbei steht die Frage des
Datenschutzes im Vordergrund. Zum anderen wird die Perspektive der Werbetreibenden,
der Ad Exchanges sowie anderer Browser-Anbieter eingenommen und erwartete Ände-
rungen hinsichtlich des Digitalen Marketings werden aufgezeigt. Letztlich diskutiert der
Beitrag, inwieweit Googles neue Ansätze dazu dienen, die Monopolstellung von Google
weiter auszubauen und welche weiteren Entwicklungen von anderen Playern am Markt,
wie z. B. Apple vorangetrieben werden.

C. Heß (B)
IU Internationale Hochschule, Bad Reichenhall, Deutschland
E-mail: [email protected]
R. Kneuper
IU Internationale Hochschule, Bad Reichenhall, Deutschland
E-mail: [email protected]

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien 233
Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_14
234 C. Heß und R. Kneuper

14.1 Einführung und Motivation

Weltweit wurden im Jahr 2020 mehr als 378 Mrd. US$ für digitale Anzeigen ausgegeben und
es wird erwartet, dass die Ausgaben weiter steigen, mit einer Prognose von über 645 Mrd. in
2024 (eMarketer, 2021). Dabei kommen unterschiedliche Formen der Werbung zum Einsatz,
z. B. Anzeigen in der Ergebnisliste zu Suchanfragen oder Anzeigen, die auf Webseiten
eingeblendet werden. Aus Sicht der Werbetreibenden ist es zentral, dass die Werbeanzeigen
wirksam sind, selbst wenn die Werbetreibenden für wirkungslose Anzeigen nicht unbedingt
bezahlen müssen. Das bedeutet, dass Anzeigen möglichst nur solchen Personen eingeblendet
werden, die an dem Thema bzw. dem Produkt ein entsprechendes Interesse haben (Geradin
et al., 2021, S. 3).
Bei Suchanfragen legen die Nutzenden ihr konkretes Interesse anhand der Suchbegriffe
dar. Dementsprechend kann eine inhaltlich passende Anzeige geschaltet werden. Um auf
anderen Webseiten zielgerichtete Online-Werbung anzuzeigen, müssen die Interessen der
Internetnutzer:innen erst auf andere Art und Weise ermittelt werden. Hier kommen verschie-
dene Tracking-Mechanismen zur Nachverfolgung der Nutzeraktionen ins Spiel, insbeson-
dere die sogenannten Drittanbieter-Cookies (Third-Party-Cookies). Drittanbieter-Cookies
ermöglichen es, Internetnutzer:innen über verschiedene Webpräsenzen hinweg zu identifi-
zieren und ihr Surf-Verhalten zu tracken. Sie sind heutzutage der wichtigste Mechanismus,
um die Interessen der Nutzer:innen zu ermitteln und um letztlich auch den Erfolg von
Marketing-Kampagnen zu messen (Geradin et al., 2021, S. 3).
Allerdings ist gerade diese Möglichkeit, das Verhalten der Internetnutzer zu tracken, der
Grund, warum Drittanbieter-Cookies erheblich in der Kritik stehen. Ebenso wie Apple und
Mozilla hat Google daher angekündigt, Drittanbieter-Cookies in seinem Browser Chrome
zukünftig zu blockieren (Schuh, 2019). Da Chrome weltweit der meistgenutzte Browser
ist1 , hat diese Ankündigung große Beachtung gefunden. Es wird sogar davon gesprochen,
dass dies der bisher größte Umbruch für die Online-Werbung sei. Dass diese Ankündigun-
gen einzelner Unternehmen so große Wellen schlagen, zeigt die Macht von Konzernen wie
Google und Apple über die Online-Werbung (Geradin et al., 2021, S. 4). Der Bundesver-
band Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V. spricht sogar davon, dass Browser-Hersteller durch
ihre Marktmacht zu De-facto-Regulatoren wurden, ja sogar, dass dies als Missbrauch ihrer
Marktmacht angesehen werden kann (Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V.,
2019).
Ursprünglich plante Google die Abschaffung der Drittanbieter-Cookies in Chrome für
das Jahr 2022, hat es mittlerweile aber auf 2023 verschoben (Goel, 2021). In dieser Zeit
soll ein Ersatz entwickelt werden, der zukünftig zielgerichtete Werbung ohne Drittanbieter-
Cookies ermöglicht. Google hat dafür verschiedene Ansätze im Rahmen seiner Initiative

1 Chrome hat weltweit betrachtet in den letzten fünf Jahren einen Marktanteil an den Page Views von
über 60 % (StatCounter, 2021)
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 235

Privacy Sandbox entwickelt, insbesondere das Federated Learning of Cohorts (FLoC) sowie
das Topics API. Diese Ansätze und ihre Konsequenzen werden in diesem Beitrag aufgezeigt.

14.2 Werbetracking im Internet

Wie beschrieben dient das Werbetracking dazu, Nutzeraktivitäten nachzuverfolgen mit dem
Ziel, den Nutzer:innen spezifische, individuell auf ihre Interessen zugeschnittene Werbung
anzuzeigen. Damit soll erreicht werden, dass diese Werbung eine höhere Aufmerksamkeit
findet und damit auch häufiger ihr Ziel, meist den Kauf eines bestimmten Produktes oder
einer bestimmten Dienstleistung, erreicht.
Wenn nun eine einzelne Webpräsenz Informationen darüber sammelt, was ihre Besuchen-
den beim Besuch der Webpräsenz tun, welche Seiten sie in welcher Reihenfolge besuchen
etc., dann können diese Informationen hilfreich sein, um die Gestaltung der Webpräsenz zu
verbessern. Sie helfen aber meist nur wenig, um die Interessen der Besuchenden zu erken-
nen und darauf zu reagieren. Um diese Beschränkung zu überwinden, wurden u. a. die im
Folgenden beschriebenen Techniken eingeführt.

14.2.1 Cookies

Cookies sind kleine Text-Dateien, die im Browser auf Anforderung eines besuchten Webser-
vers gespeichert sind und diesem Webserver bzw. seiner Internet-Domäne zugeordnet sind.
Wenn der Browser Daten von dieser Domäne abruft, dann sendet er jeweils die zugehörigen
Cookies mit und stellt damit die Verbindung zwischen verschiedenen Anfragen des Brow-
sers her. Dadurch wird beispielsweise erkannt, dass ein Nutzer oder eine Nutzerin bereits
angemeldet ist, einen Warenkorb gefüllt hat, oder die zu verwendende Sprache ausgewählt
hat.
Eine spezielle Variante der Cookies sind die Drittanbieter-Cookies, bei denen neben Besu-
chenden und den Betreibern der Webpräsenzen eine dritte Partei involviert ist, an die diese
Cookies gesendet werden und die damit typischerweise Informationen über das Verhalten
der Besucher und Besucherinnen über verschiedene Webpräsenzen hinweg sammeln. Durch
die Kombination dieser Informationen kann ein solcher Drittanbieter sehr viel umfangrei-
chere und konkretere Aussagen über die Besuchenden machen (Mayer & Mitchell, 2012;
Perlitz & Kneuper, 2019).
Aus Sicht der Werbetreibenden haben Cookies als Werkzeug zum Tracking aber auch
gravierende Einschränkungen: Nutzer:innen können Cookies im Browser jederzeit löschen
und damit den gewünschten Bezug zu früheren Besuchen der gleichen Webpräsenz aufheben.
Auch aus Sicht des Datenschutzrechtes sind Cookies problematisch, und zumindest für
Drittanbieter-Cookies ist meist eine Einwilligung der Nutzer:innen erforderlich.
236 C. Heß und R. Kneuper

14.2.2 Alternative Technologien für das Werbetracking

Um die genannten Einschränkungen zu überwinden, gibt es weitere Technologien, die für


das Tracking der Nutzer:innen im Web verwendet werden:

• (Device) Fingerprinting nutzt die von einem Browser übermittelten technischen Informa-
tionen wie benutzte Browser, Zeitzone, Bildschirmauflösung dazu, Browser und damit
auch Personen bei einem neuen Besuch der gleichen Seite wiederzuerkennen. Das ist
technisch relativ einfach möglich, kann auch von einem Browser nicht erkannt und nur
sehr eingeschränkt verhindert werden. Fingerprinting ist aber im Geltungsbereich der
DSGVO ohne Einwilligung der Nutzer:innen nicht erlaubt.
• Tracking Pixels sind kleine Grafiken (1 × 1 Pixel), die mit individualisierten Dateinamen
in E-Mails oder Webseiten eingebettet werden, dort aber meist nicht sichtbar sind. Wenn
diese Grafik vom Server des Werbetreibenden abgerufen wird, kann dieser erkennen,
dass die entsprechende E-Mail oder Webseite gelesen wurde. Damit kann der Erfolg
der entsprechenden Werbeaktivität bewertet sowie Informationen über die Nutzer:innen
abgeleitet werden.
• Kontext-basierte Anzeigen verwenden kein Tracking der Nutzer:innen. Stattdessen wer-
den Anzeigen abhängig vom Inhalt der besuchten Webseite ausgewählt. Dies ist aus Sicht
des Datenschutzes meist unproblematisch, aber aus Sicht der Werbetreibenden weniger
erfolgreich als Tracking-basierte Verfahren.
• Device IDs, wie sie von vielen Systemen bereitgestellt werden, beispielsweise GAID für
Android-Geräte oder IDFA für iOS-Geräte, sind fest mit dem jeweiligen Gerät verbunden
und werden unter bestimmten Bedingungen von Apps an Werbetreibende übermittelt.
• Universal IDs beziehen sich nicht auf Geräte, sondern auf Personen, und haben das
Ziel, Informationen zu Personen aus verschiedenen Quellen unter einem Identifizierer
zusammenzutragen.

14.2.3 Am Werbetracking Beteiligte

Abb. 14.1 und die folgende Erläuterung geben einen kurzen Überblick über die am Werbe-
tracking beteiligten Rollen.2

• Nutzer:innen besuchen Webseiten und bekommen dort Werbung angezeigt. Sie können
bestimmte Cookies erlauben oder verbieten.
• Betreiber von Webpräsenzen stellen Platz für Werbung bereit und finanzieren damit
ggf. Inhalte. Dies wird oft als Grund genannt, warum zielgerichtete Werbung weiterhin
möglich sein muss.

2 Eine etwas ausführlichere Darstellung findet sich beispielsweise in (Perlitz & Kneuper, 2019).
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 237

Abb. 14.1 Stark vereinfachter Überblick über die am Werbetracking Beteiligten

• Werbetreibende buchen Platz auf Webseiten, um ihre Werbung dort anzuzeigen. Eine
direkte Buchung bei den Betreibern von Webpräsenzen ist grundsätzlich möglich, wird
aber heute nur selten genutzt. Stattdessen sind meist Ad Exchanges beteiligt.
• Ad Exchanges agieren als Vermittler zwischen den Betreibern von Webpräsenzen und
den Werbetreibenden. Dies geschieht häufig in Form von automatisierten Auktionen in
Echtzeit („Real Time Bidding“). Ob ein Gebot abgegeben wird, hängt davon ab, inwieweit
der jeweilige Nutzer oder Nutzerin der Zielgruppe entspricht. Um dies zu beurteilen,
braucht es bestimmte Informationen über den Nutzer bzw. die Nutzerin. Daher wird
bei der Aufforderung, ein Gebot abzugeben, typischerweise die Cookie-ID des Nutzers
übermittelt (Geradin et al., 2021, S. 18).

14.3 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox

14.3.1 Googles Privacy Sandbox

Google kündigte die sogenannte Privacy Sandbox im August 2019 an (Schuh, 2019). Als
Motivation wurde angeführt, dass die heute im Online-Marketing gängigen Technologien,
insbesondere der Einsatz von Drittanbieter-Cookies, nicht mehr den Erwartungen der Inter-
netnutzer:innen hinsichtlich dem Schutz ihrer Privatsphäre entsprechen. Formuliertes Ziel
der Bestrebungen im Rahmen der Privacy Sandbox ist es, eine Alternative zu entwickeln,
die gleichzeitig die Privatsphäre der Internetnutzer:innen wahrt und zielgerichtete Werbung
ermöglicht. Eine Alternative zu den bisherigen Ansätzen ist nötig, da ein generelles Verbot
von Drittanbieter-Cookies negative Auswirkungen erwarten lässt, wie z. B. einen verstärkten
Einsatz des Fingerprintings oder eine Abnahme von kostenlosen, bislang werbefinanzier-
ten Inhalten (Schuh, 2019; Geradin et al., 2021). Die Privacy Sandbox wird von Google im
Rahmen der Open-Source Initiative „Chromium“ vorangetrieben, also dem Projekt, das hin-
238 C. Heß und R. Kneuper

ter Googles Browser Chrome steht3 . Ziel dieser Initiative ist laut Google die Entwicklung
von Standards und Programmierschnittstellen (z. B. Schuh, 2019). Google hat zur Mitar-
beit aufgerufen, damit die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt werden (z. B. Schuh,
2019).
Unter einer Sandbox (deutsch: Sandkasten) verstehen Informatiker einen isolierten, abge-
schotteten Bereich, in welchem z. B. Anwendungen nur auf die Ressourcen zugreifen kön-
nen, die sie tatsächlich für die auszuführende Aufgabe benötigten (z. B. Rohr, 2018, S. 20).
Die Idee der Privacy Sandbox ist es, die Daten der Internetnutzer:innen durch den Browser
zu schützen. Es soll verhindert werden, dass persönliche Informationen so geteilt und wei-
tergegeben werden, dass Personen über verschiedenen Webpräsenzen hinweg identifiziert
werden können (Dutton, 2020).

14.3.2 Federated Learning of Cohorts

Als Ersatz für Drittanbieter-Cookies wurde im Rahmen der Privacy Sandbox maßgeblich
von Google der Ansatz Federated Learning of Cohorts (FLoC) entwickelt. Die hinter FLoC
stehenden zentralen technischen Konzepte werden im Folgenden beschrieben, allerdings
ohne auf die Details der Algorithmen und der technischen Umsetzung einzugehen.

Bildung von Kohorten Unter einer Kohorte versteht Google eine Gruppe von Nutzer:innen
mit ähnlichen Interessen (Google Research & Ads, o. J.). Die Idee hinter der Bildung von
Kohorten ist, dass es für zielgerichtete Werbung nicht nötig ist, die genaue Identität einer
Person zu kennen. Die gezeigte Werbung orientiert sich in Konsequenz an den Interessen
der Kohorte und kann damit zielgruppenorientiert ausgewählt werden.
Nutzer:innen wird, basierend auf ihrem persönlichen Surfverhalten, eine sogenannte
Kohorten-ID zugewiesen (Google Research & Ads, o. J.). Da immer mindestens k Nut-
zer:innen einer Kohorte zugeordnet werden, spricht man von k-Anonymität. Je höher k ist,
also je mehr Nutzer:innen in einer Kohorte sind, umso besser ist die Privatsphäre jeder ein-
zelnen Person geschützt, da es schwieriger wird, von der Kohorten-ID auf das Individuum
zu schließen. Bildlich gesprochen kann sich der oder die Einzelne in der Gruppe verstecken.
Umgekehrt weichen in großen Kohorten die Interessen der Nutzer:innen weiter voneinan-
der ab, was dazu führt, dass Werbung weniger zielgerichtet ausgespielt werden kann. Es ist
daher wichtig, die Balance zu finden.

Berechnung der Kohorten-IDs in FLoC Die Kohorten-IDs werden im Browser mit Hilfe
von Algorithmen des Maschinellen Lernens berechnet (Xiao & Karlin, 2021). Diese Algo-
rithmen nutzen verschiedene Informationen über das Surfverhalten, wie z. B. die URLs der
besuchten Webseiten oder deren Inhalte. Hier kommt die Idee des „Federated Learnings“
zum Tragen: Die Berechnung der Kohorten-ID erfolgt in einer verteilten („federated“) Art

3 https://www.chromium.org/Home/chromium-privacy/privacy-sandbox.
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 239

und Weise. Die verschiedenen Inputdaten für die Berechnung werden dabei nicht an eine
zentrale Stelle geschickt, sondern lokal im Browser verarbeitet. Die Hoheit über die Daten
verbleibt damit beim Nutzer oder der Nutzerin selbst.
Google formuliert daher als Prinzip, dass die Berechnung der Kohorten-IDs so einfach
sein muss, dass die Systemanforderungen gering sind und die Berechnung tatsächlich lokal
durchgeführt werden kann (Google Research & Ads, o. J.). Außerdem muss einfach nach-
vollziehbar sein, wie verschiedene Parameter bei der Berechnung der Kohorten-ID festgelegt
werden.

14.3.3 Erfahrungen mit FLoC aus Pilotversuchen

Um FLoC hinsichtlich Nutzerfreundlichkeit, Praxistauglichkeit und Wirksamkeit zu prü-


fen, führte Google zwischen März und Juli 2021 einen sogenannten „Origin Trial“ durch.
Unternehmen der Werbeindustrie waren aufgerufen zu prüfen, inwieweit der aktuelle Stand
nutzbringend eingesetzt werden kann. FLoC wurde dabei auf zehn Märkten weltweit getes-
tet, allerdings aufgrund der fehlenden Konformität mit der DSGVO nicht innerhalb des
Geltungsbereichs der DSGVO. Dies schränkt die Aussagekraft des Pilotversuchs stark ein.
Zum anderen war nur eine geringe Anzahl an Chrome-Nutzer:innen beteiligt, da der Trial
nur auf bestimmten Beta- bzw. Entwicklerversionen des Chrome-Browsers durchgeführt
wurde.

14.4 Bewertung von FLoC

Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die Vor- und Nachteile der Nutzung von
FLoC aus der Sicht der verschiedenen Beteiligten. Dabei sind im Wesentlichen zwei unter-
schiedliche Fragestellungen zu betrachten, nämlich einerseits der Datenschutz und damit
die Sicht der Internetnutzer:innen, und andererseits das Wettbewerbsrecht und damit die
Sicht der Werbetreibenden, anderer Ad Exchanges, der Betreiber von Webpräsenzen sowie
anderer Browser-Anbieter.

14.4.1 FLoC aus Sicht der Internetnutzer:innen

Ein zentrales Argument von Google für die Einführung von FLoC ist der verbesserte Daten-
schutz, da mit FLoC nicht mehr Daten über einzelne Personen gesammelt werden, son-
dern das Tracking sich auf die Zuordnung zu einer Gruppe von Nutzer:innen, der Kohorte,
beschränkt. Da allerdings die Zuordnung zu einer Kohorte auf Basis der Browser-Historie
einer Person geschieht, liefert schon die Zugehörigkeit zu einer Kohorte viel Information
über individuelle Nutzer:innen – das ist ja gerade der Sinn der Einteilung in Kohorten.
240 C. Heß und R. Kneuper

Im Gegenteil besteht mit FLoC nicht einmal mehr die Möglichkeit, dass eine Webpräsenz
auf das Tracking ihrer Nutzer:innen verzichtet, da auch Besuche dieser Webpräsenz in der
Browser-Historie protokolliert sind und damit in die Berechnung der Kohorten-ID eingehen.
Formuliertes Ziel des FLoC-Ansatzes ist eine Anonymisierung der personenbezogenen
Daten. Da die Nutzer:innen innerhalb einer Kohorte nicht unterscheidbar sind, spricht man
hier von k-Anonymität der Daten, wobei die Zahl k der Mitgliederzahl der kleinsten Kohorte
entspricht (Kneuper, 2021, Kap. 6.5.3). Dieser Ansatz der k-Anonymität hat allerdings eine
Reihe bekannter Schwächen. Insbesondere kann man in manchen Fällen immer noch einige
(möglicherweise sensible) Attribute einer Person ableiten, auch ohne die einzelne Person
identifizieren zu können, und genau das ist auch bei FLoC der Fall. Das gilt ggf. auch für
Daten, die im Sinne von Art. 9 DSGVO als besonders schützenswert gelten, beispielsweise
weil die Person regelmäßig Seiten von Selbsthilfegruppen zu einer bestimmten Krankheit
besucht. Es gibt daher eine Reihe von Erweiterungen des Konzeptes der k-Anonymität,
die die genannten Probleme adressieren (z. B. l-Diversität, t-Closeness), und (Medina et
al., o. J.) beschreibt, wie t-Closeness für als sensitiv bewertete Daten in FLoC genutzt werden
soll.
Bei der Beurteilung des erforderlichen Grades der Anonymität ist zu beachten, dass die
Kohorten-ID nicht nur beeinflussen kann, welche Werbung angezeigt wird, sondern mög-
licherweise weit darüber hinaus geht. Was passiert beispielsweise, wenn die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Kohorte den regelmäßigen Besuch von Seiten einer Selbsthilfegruppe
zu einer schweren Krankheit signalisiert, und der Nutzer oder die Nutzerin dann eine Ver-
sicherung abschließen will?
Ein wesentlicher Vorteil von FLoC gegenüber der aktuellen Situation ist, dass die oft
als nervig bewertete Frage nach einer Einwilligung in die Nutzung von Cookies entfällt.
Bei genauerem Hinsehen ist dies allerdings zweischneidig: Das Tracking der Nutzer:innen
findet in etwas anderer Form weiterhin statt, aber es ist nicht mehr so sichtbar wie es derzeit
aufgrund der expliziten Einwilligung der Fall ist.
Eine wichtige Eigenschaft von FLoC ist, dass mit der Kohorten-ID eine zusätzliche
Information an die Werbetreibenden geliefert wird, die das Fingerprinting voraussichtlich
deutlich erleichtern wird. Mit Hilfe der Kohorten-ID ist die Wiedererkennung nur noch
innerhalb einer Kohorte erforderlich und nicht mehr innerhalb der Gesamtmenge aller Inter-
netnutzer:innen.
Eine ausführlichere Beschreibung dieser Datenschutz-Herausforderungen von FLoC ist
beispielsweise in (Cyphers, 2021) zu finden.

14.4.2 FLoC aus Sicht der Werbetreibenden

Werbetreibende stehen Googles Bestrebungen im Kontext der Privacy Sandbox kritisch


gegenüber, wie z. B. ein Stimmungsbild der Mitglieder der Organisation Werbungtreibende
im Markenverband (OWM) aus dem April 2021 zeigt (OWM, 2021). Sie befürchten, dass
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 241

Google damit zum Gatekeeper der Nutzerdaten werde. Dadurch kann letztlich im Chrome-
Browser verhindert werden, Werbung unabhängig von Google zu schalten. Aufgrund der
Marktmacht von Google ist außerdem zu befürchten, dass Werbeanzeigen für Werbetrei-
bende teurer werden.
Die Ergebnisse aus den Pilotversuchen lassen zudem zweifeln, ob und inwieweit FLoC es
ermöglichen wird, Werbung in der Qualität zu schalten, wie es auf Basis von Drittanbieter-
Cookies heute möglich ist (Rouzaud, 2021a, 2021b). Laut Google erreicht Werbung mit
FLoC 95 % der Effizienz von Werbeanzeigen basierend auf Drittanbieter-Cookies (Bindra,
2021). Allerdings hat Google die zugrundeliegende Studie nicht veröffentlicht.
Verschiedene Studien beschäftigen sich damit, wie sich die Marketing-Branche generell
auf den Wegfall der Drittanbieter-Cookies vorbereitet. Laut der Studie „Online-Werbung
in der Post-Cookie-Ära“ 4 ist zu erwarten, dass zukünftig mehrere Technologien kombi-
niert werden, wobei Kontext-basierte Anzeigen (s. Abschn. 14.2.2) neben den Ansätzen
der Privacy Sandbox eine wichtige Rolle spielen werden (Vonwerschpartner, Organisation
Werbungtreibende im Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirtschaft
(BVDW), 2020, S. 2). Auch die Studie „Digital Dialog Insights 2021“, die United Internet
Media zusammen mit der Hochschule der Medien in Stuttgart durchgeführt hat, prognos-
tiziert eine Comeback der Kontext-basierten Anzeigen und betont, dass diese heute durch
den Einsatz des Maschinellen Lernens deutlich leistungsfähiger seien als früher (Eichsteller
& Seitz, 2021, S. 35). Auch alternative IDs wie Universal IDs (s. Abschn. 14.2.2) werden
zukünftig eine wichtige Rolle spielen (Eichsteller & Seitz, 2021; Dutton, 2020).

14.4.3 FLoC aus Sicht anderer Ad Exchanges

Ähnlich wie Werbetreibende werden auch Ad Exchanges, die zwischen den Werbetreibenden
und den Betreibern von Webpräsenzen vermitteln, stark von Googles Plänen zum Wegfall
von Drittanbieter-Cookies betroffen sein. (Vonwerschpartner, Organisation Werbungtrei-
bende im Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirtschaft (BVDW),
2020, S. 2) sieht Konzerne wie Google, Amazon oder Facebook als Gewinner. Durch die
von ihnen betriebenen Plattformen und Dienste haben sie weiterhin direkten Zugang zu
den Daten der bei ihnen angemeldeten Nutzer:innen und können auf dieser Basis geeignete
Werbung auswählen. Damit können sie sich von anderen Ad Exchanges, die keinen leichten
Zugang zu diesen Daten haben, abheben und somit ihre Monopolstellung weiter ausbauen.
Um im Konkurrenzkampf mit Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook und Apple
nicht überflüssig zu werden, sehen Ad Exchanges, aber auch Werbetreibende, es als notwen-
dig an, dass branchenweit akzeptierte Marktstandards entwickelt werden, insbesondere für
den Datenaustausch, die Durchführung von Bewertungen, sowie für das Matching zwischen
den Betreibern von Webpräsenzen und den Werbetreibenden (Vonwerschpartner, Organisa-

4 Die Studie wurde 2020 von der Organisation Werbungtreibende im Markenverband (OWM) und
dem Bundesverband der Digitalen Wirtschaft (BVDW) in Auftrag gegeben und vom Beratungsun-
ternehmen vonwerschpartner Digital Strategies durchgeführt.
242 C. Heß und R. Kneuper

tion Werbungtreibende im Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirt-


schaft (BVDW), 2020, S. 14). Hierbei sollten Verbände und Branchenorganisationen eine
aktive Rolle spielen.

14.4.4 FLoC aus Sicht der Betreiber von Webpräsenzen

Insbesondere sogenannte Publisher, wie z. B. Nachrichtenseiten, finanzieren den Betrieb


der Webpräsenz und die Erstellung der Inhalte häufig durch Werbung. Einerseits kann argu-
mentiert werden, dass der Umstieg auf FLoC die Betreiber von Webpräsenzen nicht betrifft,
da sie meist lediglich den Platz für Werbung bereitstellen, aber nicht in die Auswahl der
anzuzeigenden Werbung eingebunden sind (welche mit Hilfe der Ad Exchanges stattfindet).
Da keine Cookies von Drittanbietern mehr genutzt werden, entfällt auch die Notwendigkeit,
Einwilligungen für die Nutzung solcher Cookies einzuholen, die dann ggf. auch verweigert
werden.
Andererseits hängt die Bezahlung oft davon ab, dass die angezeigte Werbung auch erfolg-
reich ist (z. B. Pay-per-Click). Dafür ist es auch aus Sicht der Betreiber der Webpräsenzen
wichtig, dass die Werbung tatsächlich für die Zielgruppe relevant ist. Wie bereits aus Sicht
der Werbetreibenden geschildert, ist aktuell noch fraglich, in welcher Qualität FLoC dies
leisten kann, insbesondere im Vergleich zu den etablierten Drittanbieter-Cookies. (Von-
werschpartner, Organisation Werbungtreibende im Markenverband (OWM) & Bundesver-
band der Digitalen Wirtschaft (BVDW), 2020, S. 8) sieht daher die Gefahr, dass Betreiber
von Webpräsenzen deutlich mehr Werbung ausspielen müssen, um ihre Einnahmen aufrecht
zu erhalten. Häufigere und weniger relevante Werbung können das Nutzererlebnis zukünftig
verschlechtern.

14.4.5 FLoC aus Sicht anderer Browser-Anbieter

FLoC wie derzeit konzipiert funktioniert nur dann, wenn der Browser diese Funktion unter-
stützt. Schwierig abzuschätzen ist daher aktuell, welche Auswirkungen FLoC auf andere
Browser-Anbieter haben wird. Google hält mit den verschiedenen Chrome-Versionen der-
zeit mehr als die Hälfte des Browser-Marktes (StatCounter, 2021) und es erscheint kaum
vorstellbar, dass Google ohne Not auf zielgerichtete Werbung bei den Nutzer:innen anderer
Browser, also fast der Hälfte seines Werbemarktes, verzichtet. Derzeit erscheinen folgende
Szenarien vorstellbar:

• Google versucht, die anderen Browser-Anbieter weitgehend vom Markt zu verdrängen.


Das ist aus Sicht von Google wahrscheinlich die bevorzugte Lösung, aber schwierig
umzusetzen und könnte auch die schon bestehenden kartellrechtlichen Probleme weiter
verschärfen.
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 243

• Google versucht, die anderen Browser in sein FLoC-Netzwerk zu integrieren. Aller-


dings ist derzeit kein Grund erkennbar, warum diese das tun sollten. Google könnte aber
versuchen, entsprechenden Druck aufzubauen, indem bestimmte Inhalte ohne FLoC-
Unterstützung in einem Browser nicht mehr sichtbar sind.
• Google fährt zweigleisig und nutzt FLoC bei den Browsern, die dies unterstützen, und
Cookie-basiertes Tracking wie bisher bei anderen Browsern. Allerdings ist wie beschrie-
ben bereits absehbar, dass der bisherige Ansatz auf Basis von Drittanbieter-Cookies nicht
mehr funktionieren wird, weil diese bereits jetzt in vielen Fällen blockiert werden.

Hier bleibt also abzuwarten, wie Google mit dieser Herausforderung umgehen wird, bevor
die Auswirkungen von FLoC auf die anderen Browser-Anbieter abgeschätzt werden können.

14.5 Topics API

Im Januar 2022 kündigte Google an, auf Basis der Erfahrungen und des Feedbacks zu FLoC,
diesen Ansatz für zielgruppenorientierte Werbung durch einen neuen Ansatz zu ersetzen,
nämlich Topics (Goel, 2022).

14.5.1 Funktionsweise

Grundlage für diesen neuen Ansatz sind sogenannte Topics, wie zum Beispiel „Fitness“
oder „Reisen“ (Goel, 2022). Für diese Topics soll es eine kuratierte, öffentlich einsehbare
Liste geben. Indem diese Taxonomie von Menschen gepflegt wird, soll sichergestellt wer-
den, dass sie keine sensiblen Kategorien enthält, wie z. B. in Bezug auf Geschlecht oder
Herkunft. Diese Topics werden genutzt, um Webpräsenzen mit einem Label zu versehen.
Beispielsweise kann eine Webpräsenz über Yoga mit „Fitness“gelabelt werden. (Dutton,
2022) erwartet, dass diese Liste zukünftig zwischen wenigen hundert bis wenigen tausend
Topics enthalten wird.
Basierend auf den von einem Nutzer oder einer Nutzerin besuchten Webpräsenzen und
ihren Topics können die für diese Person relevantesten Topics bestimmt werden. Dies erfolgt
direkt im Browser. Daten über das Surfverhalten müssen dabei nicht mit Google geteilt wer-
den. Die Liste der für einen Nutzer bzw. eine Nutzerin wichtigsten Topics wird regelmäßig
aktualisiert und alte Topics werden nach wenigen Wochen gelöscht, damit diese tatsächlich
die aktuellen Interessen dieser Person widerspiegeln.
Besucht eine Person nun eine Webpräsenz, die an diesem Ansatz teilnimmt, so werden
drei der aktuellen Topics der Person mit dieser Webpräsenz und den Werbepartnern geteilt.
Auf Basis dieser geteilten Topics kann dann zielgruppenorientierte Werbung geschaltet wer-
den, ohne dass Informationen über bisher besuchte Webpräsenzen weitergegeben werden.
244 C. Heß und R. Kneuper

14.5.2 Topics API im Vergleich zu FLoC

Das Topics API adressiert eine Reihe der an FLoC geäußerten Kritikpunkte (Dutton, 2022),
zumindest der Kritikpunkte, die sich auf den Datenschutz und die Sicht der Internetnut-
zer:innen bezogen. Die wettbewerbsrechtlichen Kritikpunkte aus Sicht der Werbetreibenden
sowie der Wettbewerber von Google dagegen treffen im Wesentlichen unverändert weiter
zu.
Soweit das derzeit, kurz nach Veröffentlichung des neuen Konzeptes der Topics, erkenn-
bar ist, werden mit Topics kaum Daten über die Internetnutzer:innen außerhalb des Browsers
gesammelt. Selbst wenn ein Werbetreibender oder eine Ad Exchange zusätzlich zum Einsatz
von Topics noch andere Werkzeuge zum Tracking verwendet, beispielsweise Fingerprinting,
liefert Topics wenig Zusatzinformationen.
Anders sieht es aus wettbewerbsrechtlicher Sicht aus. Auch Topics wird, wenn es erfolg-
reich ist, das Monopol von Google auf dem Markt der Online-Werbung weiter ausbauen,
evtl. auch auf dem Markt der Internet-Browser.
Abzuwarten bleibt, inwieweit sich mit Topics die Wirksamkeit von Online-Werbung ver-
ändern wird. Da weniger Informationen über die Internetnutzer:innen vorliegen, kann die
Werbung nicht mehr ganz so zielgenau platziert werden. Die Tendenz im Online-Marketing
ging bislang dahin, die Internetnutzer:innen in immer kleinere Gruppen einzuteilen, mit
einem „Segment of One“ als Idealvorstellung. Bereits mit FLoC ging Google dahin, wieder
etwas größere Gruppen zu bilden, um die Kritik an dieser Tendenz aus Sicht des Datenschut-
zes und der Internetnutzer:innen aufzugreifen. Mit Topics geht Google noch einen Schritt
weiter und ordnet Internetnutzer:innen nicht mehr einer stabilen Gruppen zu, sondern stellt
den Werbetreibenden nur noch eine wechselnde Auswahl der wichtigsten Interessen der
Internetnutzer:innen bereit. Andererseits sind für das Online-Marketing gerade die Interes-
sen der Internetnutzer:innen von Bedeutung, so dass die Wirksamkeit der Online-Werbung
möglicherweise nicht unter diesem neuen Ansatz leidet.

14.6 Apples Alternative: Das App Tracking Transparency Framework


(ATF)

Apple hat mit dem iOS. 14.5 im April 2021 das App Tracking Transparency Framework
(ATF) veröffentlicht. Neu ist damit, dass der sog. „identifier for advertisers (IDFA)“ nicht
mehr standardmäßig aktiviert ist. Stattdessen müssen Nutzer:innen jeder App explizit erlau-
ben, ihre Aktivität über verschiedene Apps und Webseiten hinweg zu verfolgen (Runge &
Seufert, 2021). Es ist zu erwarten, dass wenige Personen diesen Zugriff auf ihre Daten ertei-
len. Apple präsentiert sich damit als Vorbild hinsichtlich Datenschutz. Allerdings ermöglicht
es Apple auch, seine eigenen Ansätze für zielgerichtete Werbung voranzutreiben (Runge &
Seufert, 2021).
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 245

14.7 Zusammenfassung und Ausblick

Google FLoC scheint auf den ersten Blick eine Lösung für die wesentlichen mit nutzer-
zentrierter Werbung über Drittanbieter-Cookies verbundenen Probleme. Auf den zweiten
Blick gibt es mit FLoC aber weiterhin Probleme in Bezug auf den Datenschutz sowie neue
Herausforderungen aus Sicht des Wettbewerbs auf dem Markt der Online-Werbung. Goo-
gle selbst hat die kritischen Rückmeldungen aus den ersten Pilotversuchen zu FLoC ernst
genommen und arbeitet mit dem Topics API bereits an einem neuen Ansatz.
Auch wenn seitens Google noch nicht klar ist, ob das Topics-API letztendlich die
Drittanbieter-Cookies ersetzen wird, so haben Googles Ansätze im Rahmen der Privacy
Sandbox das Potenzial, die Art und Weise, wie online Werbeanzeigen geschaltet werden,
grundsätzlich zu verändern. Dies kann zu weitreichenden Änderungen für alle beteiligten
Akteure – von den Werbetreibenden über die Betreiber von Webseiten und Ad Exchan-
ges – führen. Die Marketing-Branche schaut Google dabei aber nicht tatenlos zu, sondern
arbeitet an verschiedenen Alternativen. Dabei stellt sich auch die Frage, ob es der Branche
gelingen wird, wie in der Studie von (Vonwerschpartner, Organisation Werbungtreibende im
Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirtschaft (BVDW), 2020, S. 22)
gefordert, sich auf eine transparente Marktlösung zu einigen – im Gegensatz zu einer von
Google diktierten Lösung.

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Prof. Dr. Claudia Heß ist Professorin für Digitale Transformation an der IU Internationale Hoch-
schule. Neben Lehre und Forschung ist sie auch in der Industrie tätig. Als Beraterin und Projekt-
leiterin unterstützt sie Unternehmen in Digitalisierungsprojekten und begleitet Teams bei der agilen
Entwicklung neuer, digitaler Produkte und Services.
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 247

Prof. Dr. Ralf Kneuper ist Professor für Datenschutz und IT-Sicherheit an der IU Internationale
Hochschule im Bereich Fernstudium sowie Fachgebietsleiter IT und Technik. Daneben berät er
Unternehmen zu Softwarequalitätsmanagement, Prozessverbesserung und Datenschutz und ist TÜV-
zertifizierter externer Datenschutzbeauftragter.
Blockchain im Marketing
15
Dietmar Janetzko

Zusammenfassung

Wie lässt sich die Blockchain für Anwendungen im Marketing einsetzen? Welche
Potenziale können darüber für das Marketing erschlossen werden? Zur Beantwortung
dieser Fragen werden mit Kontrolle und Vertrauen zwei intendierte Effekte der Mehr-
zahl von Blockchainanwendungen im Marketing herausgearbeitet. Um erfolgreich
zu sein, ist Marketing im besonderen Maße auf Vertrauen angewiesen. Internationale
Datenskandale und die zeitlos gültige Frage nach der Qualität und auch der Her-
kunft von Produkten strapazieren jedoch das Vertrauen der Konsumenten. Hier setzen
Blockchaintechnologien an. Mit ihrem Einsatz verbindet sich oft das Ziel, das Ver-
trauen der Konsumenten in Produkte und Dienstleistungen zu steigern. Um dies
zu erreichen, sollen Blockchaintechnologien den Konsumenten Transparenz und
Kontrolle über die eigenen Daten ermöglichen. Für eine systematische Betrachtung
der Blockchain im Marketing ist es sinnvoll, neben Vertrauen und Kontrolle auch
zwischen back office und front office Anwendungen zu unterscheiden. Dabei ver-
weist back office auf Blockchaintechnologien, die als Teil der IT-Infrastruktur eines
Unternehmens im Hintergrund laufen. Dagegen steht front office für eine explizite
Positionierung der Blockchain in der Kundenansprache. Auf der Grundlage eines
solchen 2 × 2 Schemas lässt sich ein großer Teil der rasch zunehmenden Nutzungs-
konzepte der Blockchain im Marketing einordnen und untersuchen.

D. Janetzko (*)
Cologne Business School, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 249
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_15
250 D. Janetzko

15.1 Einleitung

Neue Tendenzen im Marketing machen nicht selten mit einer Flut neuer Wörter auf
sich aufmerksam. Mit Begriffen wie virtuelle Mode, Grundstücke etc., virtuellem
Merchandising, NFT-Economy, data sharing, Metaverse, token gating, Web3 und
selbstverständlich Blockchain deutet sich gegenwärtig eine solche Neuerung an. Ihr
inhaltliches Zentrum ist eine Technologie, die eine Aura von digitalem Fortschritt und
radikalen Umwälzungen umweht – die Blockchain. Konzipiert im Zusammenhang mit
der ersten Kryptowährung Bitcoin (Nakamoto, 2008), stellt eine Blockchain eine ver-
teilte und fälschungssichere Datenbank dar, die Kontrolle bzw. Verifikationen über eine
Abstimmung von Gleichrangigen in einen Computernetz (peer to peer) ermöglicht und
damit Vertrauen schafft. Dabei handelt es sich um eine disintermediatisierte Kontrolle.
Sie kommt ohne klassische Intermediäre wie z. B. Banken aus und setzt stattdessen bei
der Kontrolle von Manipulationen auf eine Community. Zwei zentrale Merkmale bzw.
intendierte Effekte beim Einsatz von Blockchaintechnologien in digitalen Settings
wie dem Internet sind damit benannt: Kontrolle und Vertrauen. Fragen der Kontrolle
und des Vertrauens stellen sich nahezu überall und vor allem in anonymen digitalen
Settings. Sie sind es, die die Blockchaintechnologien zu weit mehr als nur einen Ansatz
der Informationsverarbeitung für Kryptowährungen machen. Zugleich drängt sich eine
ergänzende Unterscheidung auf – die von back office und front office: Back office ver-
weist auf Blockchainanwendungen, die vor allem die IT-Infrastruktur prägen. Front
office steht für eine zentrale und explizite Positionierung der Blockchain in der Kunden-
ansprache. Back office und front office ist keine Frage von Entweder-Oder, sondern steht
für Schwerpunkte, die Blockchain für das Marketing zu nutzen (Tab. 15.1).

15.2 Stand der Forschung

Kaum jemand zweifelt, dass die Blockchain auch für Marketing eine vielversprechende
Technologie darstellt. Aber welche Konzepte und Geschäftsmodelle hier leitend
sein können, beginnt sich erst in den letzten Jahren abzuzeichnen. Während sich im
WWW dazu zahlreiche euphorische Beiträge mit zumeist visionärem Charakter finden
(z. B. Lieberman, 2020), sind es nur wenige wissenschaftliche Beiträge, die sich der

Tab. 15.1  Klassifikation von Blockchainanwendungen im Marketing


Vertrauen Kontrolle
Back Office Datenaustausch Supply Chain
Methoden gegen Anzeigen-
betrug
Front Office Loyalitätsprogramme Loyalitätsprogramme
NFT-Produkte
15 Blockchain im Marketing 251

Blockchain im Marketing widmen. Doch leider sind auch diese in der Substanz oft ent-
täuschend. Nicht selten beschränken sie sich darauf, wortreich den Mangel an Studien
zu beklagen oder allgemeine Hintergründe zu Blockchaintechnologien zu wiederholen
(Gleim & Stevens, 2021, Harvey et al., 2018). Andere Studien artikulieren im wesent-
lichen Wunschvorstellungen, z. B. dass der Einsatz der Blockchain die Vorherrschaft
von Facebook und Google beim digitalen Marketing brechen werde, ohne dass dazu
Fakten angeboten werden, die dies plausibel erscheinen ließen (Harvey et al., 2018).
Ein anderer Ansatz ist in den Arbeiten von John Daley (Daley, 2019, 2021) zu erkennen.
Seine Arbeiten diskutieren konkrete Blockchainanwendungen im Marketing wie z. B. die
Bekämpfung des Anzeigenbetrugs und die Nutzung von Blockchains bei Kundentreue-
programmen. Einen solchen, an Beispielen ausgerichteten Bottom-Up-Ansatz verfolgt
auch der vorliegende Beitrag.

15.3 Kontrolle und Vertrauen im Marketing

Der Übertragung von Daten in offenen Netzwerken ist in aller Regel mit Chancen (z. B.
Transparenz, Kommunikation, Vertrauen, Kontrollmöglichkeiten), aber auch Risiken
(z. B. Missbrauch, Fälschung) verbunden. Es ist kein Zufall, dass eine solche Mischung
an die Blockchain denken lässt, denn ähnliche Chancen und Risiken gaben den Anstoß,
die Blockchaintechnologie zu entwickeln. Angepasst an die Spezifika unterschiedlicher
Einsatzgebiete, kann die Blockchain bedeutsame Beiträge leisten, um die Risiken von
Datentransfers zu senken und deren Chancen zu verbessern. Im Marketing stellt sich die
Situation z.Z. so dar, dass Blockchaintechnologien keineswegs in der Breite ausgerollt
werden. Vielmehr kommen sie bevorzugt bei einzelnen Anwendungen zum Einsatz, die
sich zumeist auf Aspekte der Kontrolle und des Vertrauens im Marketing richten.

15.4 Kleines Blockchain-Glossar

Blockchaintechnologien und die damit im Zusammenhang stehenden Vermarktungs-


modelle entwickeln sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Um den Einstieg
in dieses Thema zu erleichtern, wird nachfolgend eine Auswahl der dabei relevanten
Begriffe vorgestellt.

15.4.1 Airdrop

Ein Airdrop ist eine Promotionsmaßnahme in der Welt der Kryptowährungen bzw. NFTs.
Dabei werden den Wallets von möglichen Interessenten ungefragt kostenlos neue Tokens
überwiesen, um diese zu bewerben. Es gibt Krypto- und NFT-Airdrops. Oft bestehen
Krypto-Airdrops darin, den Governance-Token des Projekts zu verschenken. Ein solches
252 D. Janetzko

Abb. 15.1 Schematischer Aufbau einer Blockchain

Token gibt den Inhabern das Recht, über zukünftige Entwicklungen des Projekts abzu-
stimmen. Bei NFT-Airdrops werden ebenfalls Governance-Tokens oder aber NFTs ver-
schenkt. Der Wert von Airdrops variiert, liegt aber zumeist im einstelligen Euro-Bereich
(Vasile & Kons, 2022).

15.4.2 Blockchain

Eine Blockchain ist eine verteilte, und von einer Community von Nutzern (z. B. von
Bitcoin) gemeinsam verwaltete und in Blöcke gegliederten Datenbank, die in zahlreichen
identischen und schwer manipulierbaren Kopien auf Servern eben dieser Community
vorhanden ist. Jeder einzelne Block speichert Daten, zu denen im Wesentlichen geprüfte
Transaktionen der Vergangenheit zählen. Sämtliche Informationen eines Blocks werden
über eine eindeutige Folge von Zahlen und Buchstaben (Block-Hash) ausgedrückt. Mit
Ausnahme des ersten Blocks einer Blockchain schließen solche Informationen auch den
Block-Hash des jeweils vorausgegangen Blocks ein (Abb. 15.1).
Der erste Block einer Blockchain heißt Genesis Block. Bevor ein neuer Block einer
existierenden Blockchain hinzugefügt wird, werden die Transaktionen geprüft. Die
meisten Blockchains (z. B. Bitcoin) verlangen zudem, dass ein sehr rechenintensives
Problem gelöst wird. Wer dieses Problem löst, muss dazu außerordentlich viel Elektrizi-
tät aufwenden, wird jedoch im Gegenzug mit einer großzügigen Ausschüttung der
jeweiligen Kryptowährung belohnt. Die aus solchen Blöcken bestehende Blockchain
wird auf allen Rechnern gespeichert, die an der jeweiligen Blockchain teilnehmen. Die
vielfache Speicherung der Blockchain in Kombination mit den per Hash ausgedrückten
Informationen sorgt für eine weitgehende Absicherung gegenüber Manipulationen der
gespeicherten Informationen. Potenzielle Fälscher müssten Fälschungen so anlegen, dass
diese ab dem Zeitpunkt der Fälschung bis in die Gegenwart fortgeschrieben werden.
Zudem müssten auch die Kopien der Blockchain auf anderen Rechnern entsprechend
15 Blockchain im Marketing 253

manipuliert werden. Das alles wäre mit enormem Rechenaufwand verbunden, den
gegenwärtige Computer kaum zu leisten vermögen. Bei neuartigen Computern (z. B.
Quantencomputern) wird eine Manipulation von Blockchains allerdings nicht aus-
geschlossen.

15.4.3 Hash

Kryptographisches Hashing ist die Bezeichnung für eine Reihe von Methoden der Ver-
schlüsselung, die bei der Konstruktion von Blockchains, aber auch in vielen anderen
Bereichen eine wichtige Rolle spielen. Mit einer Hash-Funktion lässt sich jede beliebige
Zeichenmenge in eine eindeutige Folge von Zahlen und Buchstaben definierter Länge
umwandeln. Während also die Eingabe beliebig umfangreich sein kann und auch die
leere Menge einschließen kann, ist die Ausgabe – der Hash bzw. Hash-Wert – immer
gleich lang. Es gibt verschiedene Hash-Algorithmen. Bitcoin etwa verwendet SHA-256.1
Bitcoin → b4056df6691f8dc72e56302ddad345d65fead3ead9299609a826e2344eb6
3aa4
Ein willkommener Nebeneffekt beim Hashing ist, dass der Hash-Wert in der Regel
weit weniger speicherintensiv ist als der Eingabewert. Hash-Funktionen sind Einweg-
funktion, d. h., es ist nahezu unmöglich, aus dem Hash-Wert den ursprünglichen Ein-
gabewert zu rekonstruieren. Typischerweise kommen Hash-Funktionen zum Einsatz,
wenn ermittelt werden soll, ob eine Menge von Zeichen (z. B. eine Datei oder auch
Blöcke in einer Blockchain) infolge von Übertragungsfehlern oder auch durch eine
Manipulation verändert wurde. Der Hash-Wert dient dann als Prüfsumme. Im Kontext
von Kryptowährungen ist Hashing eines von mehreren sich ergänzenden Verfahren,
mögliche Manipulationen der Blockchain zu ermitteln bzw. zu vereiteln. Dazu werden
Hashes einzelner Transaktionen, aber auch ganzer Transaktionsblöcke erzeugt. Selbst bei
einer geringfügigen Änderung entspricht der Hash einer Transaktion oder eines Blocks
von Transaktionen nicht mehr dem original Hash, wie er auf zahlreichen Servern hinter-
legt ist. Bei der Hash-Bildung pro Block (Block-Hash) wird jeweils auch der Block-Hash
des vorausgegangenen Blocks einbezogen. Das hat den durchaus erwünschten Effekt,
dass eine Manipulation eines beliebigen Blocks in der Vergangenheit auch die Hashes
aller zeitlich nachfolgenden Blöcke verändern würde. Im Kern besteht eine Blockchain
zu einem großen Teil aus Hash-Werten. Diese liegt in vielfacher Kopie auf jedem Server
(node), der aktiv an der Blockchain teilnimmt. Eine Manipulation auf einem oder auch
mehreren Servern würde wegen der Differenz zu den Hash-Werten bei der Mehrzahl der

1 SHA seht für secure hashing algorithm. Die Zahl 256 drückt aus, dass der resultierende Hash-
Wert eine Länge von 256 Bit hat, der letztlich über 64 Zeichen dargestellt wird. Bei Bitcoin
werden Transaktionen mittels SHA-256 verschlüsselt. Der resultierende Hash-Wert wird dann
erneut mit SHA-256 verschlüsselt.
254 D. Janetzko

anderen Server sofort auffallen. Nur wenn es einem Angreifer gelingt, mindestens 51 %
der Server unter seine Kontrolle zu bringen, wäre eine Manipulation der Blockchain
möglich.

15.4.4 Hash

Kryptographisches Hashing ist die Bezeichnung für eine Reihe von Methoden der Ver-
schlüsselung, die bei der Konstruktion von Blockchains, aber auch in vielen anderen
Bereichen eine wichtige Rolle spielen. Mit einer Hash-Funktion lässt sich jede beliebige
Zeichenmenge in eine eindeutige Folge von Zahlen und Buchstaben definierter Länge
umwandeln. Während also die Eingabe beliebig umfangreich sein kann und auch die
leere Menge einschließen kann, ist die Ausgabe – der Hash bzw. Hash-Wert – immer
gleich lang. Es gibt verschiedene Hash-Algorithmen. Bitcoin etwa verwendet SHA-2561.
Bitcoin → b4056df6691f8dc72e56302ddad345d65fead3ead9299609a826e2344eb6
3aa4
Ein willkommener Nebeneffekt beim Hashing ist, dass der Hash-Wert in der Regel
weit weniger speicherintensiv ist als der Eingabewert. Hash-Funktionen sind Einweg-
funktion, d. h., es ist nahezu unmöglich, aus dem Hash-Wert den ursprünglichen Ein-
gabewert zu rekonstruieren. Typischerweise kommen Hash-Funktionen zum Einsatz,
wenn ermittelt werden soll, ob eine Menge von Zeichen (z. B. eine Datei oder auch
Blöcke in einer Blockchain) infolge von Übertragungsfehlern oder auch durch eine
Manipulation verändert wurde. Der Hash-Wert dient dann als Prüfsumme. Im Kontext
von Kryptowährungen ist Hashing eines von mehren sich ergänzenden Verfahren, mög-
liche Manipulationen der Blockchain zu identifizieren. Dazu werden Hashes einzelner
Transaktionen, aber auch ganzer Transaktionsblöcke erzeugt. Selbst bei einer gering-
fügigen Änderung entspricht der Hash einer Transaktion oder eines Blocks von Trans-
aktionen nicht mehr dem original Hash, wie er auf zahlreichen Servern hinterlegt ist.
Bei der Hash-Bildung pro Block (Block-Hash) wird jeweils auch der Block-Hash des
vorausgegangenen Blocks einbezogen. Das hat den durchaus erwünschten Effekt, dass
eine Manipulation eines beliebigen Blocks in der Vergangenheit auch die Hashes aller
zeitlich nachfolgenden Blöcke verändern würde. Im Kern besteht eine Blockchain zu
einem großen Teil aus Hash-Werten. Diese liegt in vielfacher Kopie auf jedem Server
(node), der aktiv an der Blockchain teilnimmt. Eine Manipulation auf einem oder auch
mehreren Servern würde wegen der Differenz zu den Hash-Werten bei der Mehrzahl der
anderen Server sofort auffallen. Nur wenn es einem Angreifer gelingt, mindestens 51 %
der Server unter seine Kontrolle zu bringen, wäre eine Manipulation der Blockchain
möglich.
15 Blockchain im Marketing 255

15.4.5 Kryptographie

Kryptographie ist die Bezeichnung für eine Reihe von Methoden, die der Ver-
schlüsselung bzw. Entschlüsselung von Informationen dienen. Dazu werden üblicher-
weise Verfahren der public-key-Verschlüsselung herangezogen, die auch bei der
Mehrzahl von Blockchains zum Einsatz kommen. Zu den Vorzügen dieser Ver-
schlüsselungsverfahren zählt, dass sie sichere Transaktionen unter Fremden ermög-
lichen. Eine public-key-Verschlüsselung beruht auf zwei Schlüsseln: privater sowie
öffentlicher Schlüssel. Allerdings muss man im Zusammenhang von Kryptowährungen
noch weitere konzeptuelle Bausteine betrachten, die für den Kauf-, Verkauf sowie die
Verwaltung von Kryptowährungen relevant sind: Zur Verwaltung von Kryptowährungen
in Wallets wird der private Schlüssel typischerweise über eine sogenannte mnemonische
Phrase bzw. seed oder recovery phrase erzeugt. Damit ist eine zusammenhangslose
Liste von zumeist 12 oder 24 Wörtern gemeint, die als Rekonstruktionshilfe für den
privaten Schlüssel dient. Der private Schlüssel ist erforderlich, um auf ein Guthaben an
Kryptowährungen zugreifen zu können. Z. B., um eigene Bitcoin auszugeben. Er muss
daher sicher verwahrt werden, beispielsweise in einer Wallet. Der private Schlüssel dient
ferner dazu, über Hashing einen korrespondierenden öffentlichen Schlüssel zu erzeugen.
Die Hash-Version des öffentlichen Schlüssels ist die kryptographische Adresse.
Sie ist im Zusammenhang von Bitcoin als Bitcoin-Adresse bekannt und wird oft einer
Kontonummer oder IBAN verglichen. Da sie öffentlich ist, kann jede Person Krypto-
währungen an diese Adresse schicken.2 Der geschilderte Zusammenhang konzeptueller
Bausteine lässt sich über folgende Sequenz vereinfacht zusammenfassen: mnemonische
Phrase → privater Schlüssel → öffentlicher Schlüssel → kryptographische Adresse. Dabei
steht jeder → für Hashing und oft noch weitere Verarbeitungsschritte.

15.4.6 Metaverse

“Metaverse” ist ein Begriff, der 1992 vom amerikanischen Schriftsteller Neal
Stephenson in seinem Roman Snow Crash geprägt wurde. Im Kern geht es um eine
Erweiterung des Internet um die physikalische Welt und anderer virtueller Welten v. a.
Gaming und Virtuelle Realität. Die Vorstellungen von Neal Stephenson wurden rasch
von führenden Vertretern der Internet-Wirtschaft aufgegriffen. Dazu zählt unter anderem
Tim Sweeney von Epic Games, der im Metaverse eine evolutionäre Weiterentwicklung
des Internet sieht, in der kommuniziert werden kann, aber in der auch mit Marken und
Produkten Erfahrungen gesammelt werden können (Park, 2021). Klassische Formen
der Internet-Werbung über Banner sieht Sweeney dagegen als Auslaufmodell an. Dass

2 ImFrühjahr 2022 hat beispielsweise die Ukraine solche Adressen veröffentlicht, um darüber
Spenden von Kryptowährungen zu erlangen.
256 D. Janetzko

Abb. 15.2 NFT Marktübersicht (Stand: Februar 2022, Datenquelle: NonFungible.com)

Facebook im Oktober 2021 in “Meta” umbenannt wurde, dürfte von den Vorstellungen
von Neal Stephenson inspiriert worden sein. Etwa zu gleichen Zeit macht Microsoft mit
Billionen schweren Übernahmen von Gaming-Firmen auf sich aufmerksam, was Markt-
beobachter ebenfalls als klares Zeichen für ein Engagement in Richtung Metaverse
werten (Bary, 2022). Seit 2019 nimmt das Metaverse konkrete Formen in der Produkt-
entwicklung und im Marketing global agierender Unternehmen an. In der ersten Welle
eines zumeist kapitalintensiven Firmenengagements sind es vor allem Luxus-Marken,
die ihre jeweilige Version des Metaverse sowohl als Absatzkanal wie auch als Laufsteg
für digitale Veblen-Güter (Veblen, 2019) identifiziert haben. Zu solchen Marken zählen
u. a. Balenciaga, Burberry, Dolce & Gabbana, Gucci, Louis Vuitton, Ralph Lauren und
Rolex. Aber auch Zara, Adidas oder Nike engagieren sich mit ihrer jeweiligen Version
des Metaverse, die sie gezielt für ihr Branding einsetzen. Auffällig ist die Verbindung
von Metaversen und NFTs für Grundstücke, Häuser, Autos, Mode, Schmuck, Schuhe,
Autos sowie andere Veblen-Güter. Diese sind so konzipiert, dass sie in einem Meta-
verse zum Einsatz kommen, z. B. indem NFT-Schmuck von Avataren getragen wird. Die
Betonung liegt hier auf dem unbestimmten Artikel, einem Metaverse. Denn bislang gibt
es lediglich eine Reihe unverbundener Metaversen, deren Zugang oft über token gating
kontrolliert wird.
15 Blockchain im Marketing 257

15.4.7 Non Fungible Tokens (NFTs)

Bevor non-fungible tokens (NFT) vorgestellt werden, ist zunächst der Begriff Token zu
erläutern. Tokens sind Wertmarken, über die sich Eigentums-, Zugangs-, oder Nutzungs-
rechte von Produkten, Dienstleistungen und Wertpapieren digital abbilden lassen
(Bruehl, 2021). Die Verknüpfung von Vermögenswerten (z. B. Immobilien, Kunstwerke,
Wertpapiere) einschließlich Pflichte und Rechte mit einem Token wird als Tokenisierung
bezeichnet. Eine in letzter Zeit außerordentlich populäre Form von Tokenisierung erfolgt
im Zusammenhang mit non-fungible tokens (NFT, Abb. 15.2.).
NFTs sind 2018 aus einer Weiterentwicklung des Ethereum Standards (ERC-20)3
hervorgegangen und wurden in ihren technischen Details im Standard ERC-721 nieder-
gelegt (ERC721, 2018). Während in sogenannten fungiblen Währungen wie US-Dollar,
Euro, Yen, aber auch Bitcoin, jede Wertmarke eigenschaftsgleich und somit austausch-
bar ist, gilt dies für non fungible Wertmarken (Tokens) nicht. Hier ist jede Wertmarke
individuell, womit auch die Wertgleichheit von Tokens in der Regel entfällt. NFTs
lassen sich indirekt mit Dateien wie z. B. Text- Grafik- oder Sounddateien assoziieren.
Solche Dateien werden jedoch in der Regel nicht direkt auf der Blockchain (on-chain)
gespeichert. Stattdessen wird hier ein Link der fraglichen Datei, ihr Hash oder auch Hash
der Metadaten dieser Datei on-chain interlegt.
Bei der Vermarktung von NFTs wird gegenwärtig eine Reihe neuer Konzepte erprobt.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang zum einen Ansätze, Mehrwerte für
NFTs zu generieren: Als Profilfoto (Avatar) genutzt, verhelfen NFTs ihren Besitzern
dazu, sich von anderen abzuheben. Solche Distinktionsgewinne lassen sich am ehesten
mit NFTs aus populären NFT-Serien wie Bored Apes Yacht Club oder CryptoPunks
erzielen. Für NFTs aus solchen Serien werden auf Auktionen bis zu achtstellige Dollar-
summen gezahlt. Hinzu kommt, dass mit dem Erwerb solcher NFTs oft der Zugang
zu exklusiven Chat-Communities verbunden ist (token gating). NFTs werden mit-
hin über mehrere, sich teils überlappende bzw. ergänzende Mechanismen in die Welt
moderner Luxusgüter eingebracht: Dazu zählen der Fokus auf digitale Veblen-Güter,
die Generierung von Distinktionsgewinnen sowie token gating. Neben der Mehrwert-
generierung besteht ein alternatives Vermarktungskonzept darin, eine Abbildung (z. B.
eines Kunstwerks) über eine große Zahl von NFTs zu repräsentieren (Mattei, 2021) Das
US Unternehmen Particle hat Banskys Bild Love is in the Air für 12.9 Million US-Dollar
ersteigert, dann über 10.000 NFTs abgebildet und diese wiederum einzeln versteigert.
Solche fraktionalen NFTs sind eher erschwinglich und können dennoch an den meisten
der üblichen online Marktplätze für NFTs (z. B. OpenSea) gehandelt werden. Über die
moderne Kunst hinausgehend wird die Vermarktung von Bildmaterialien über fraktionale
NFTs gegenwärtig auch bei Filmen und TV-Shows erprobt.

3 Das Kürzel ERC steht Ethereum Request for Comments. ERC spezifizieren technische Standards,
die für Programmierer von Anwendungen der Kryptowährung Ethereum verbindlich sind.
258 D. Janetzko

15.4.8 Smart Contract

Als Smart Contract wird ein selbstausführendes Programm auf einer Blockchain
bezeichnet, das einer Wenn-Dann-Logik folgt: Wenn eine digital spezifizierbare
Bedingung (z. B. Wertsteigerung oder Wertverlust einer Immobilie) erfüllt ist, erfolgt
eine vorab vereinbarte Aktion (z. B. Anheben oder Senken der Miete). Der Smart
Contract sorgt dafür, dass eine zuvor zwischen den Vertragspartnern getroffene Ver-
einbarung direkt mit der vorgesehenen Aktion umgesetzt wird. Der Einsatz von
Smart Contracts kann Transaktionskosten senken – allerdings kostet die Aktivierung
(Deployment) selbst eines einfachen Smart Contracts z.Z. mindestens 500 $. Nach
dem Deployment eines Smart Contracts kann dieser nicht mehr geändert werden. Heute
gibt es eine Reihe von Blockchains, die Smart Contracts unterstützen, indem sie solche
intelligenten Verträge repräsentieren und ausführen. Smart Contracts erlauben Ver-
kettungen und werden für zahlreiche anspruchsvolle Blockchainanwendungen benötigt.
Beispielsweise kommen Smart Contracts beim Kauf und Weiterverkauf von NFTs zum
Einsatz. Wer als Besitzer eines NFTs gilt, wird ebenfalls über eine Wenn-Dann Logik
ausgedrückt, die von einem smart contract umgesetzt wird: Wenn ein Benutzer sich mit
einer Wallet einer bestimmten Kennung ausweisen kann, dann ist dieser Besitzer dieser
Wallet auch Besitzer eines bestimmten NFT.

15.4.9 Token Gating

Wenn Tokens, insbesondere NFTs, den Zugang zu exklusiven Inhalten ermöglichen,


wird dies als token gating bezeichnet. Ein Beispiel für token gating ist die Prägung
von NFTs, die den Zugriff auf E-Books sowie ggf. auch Chats mit Autoren erlauben.
token gating kann somit dazu beitragen, einen Mehrwert zu generieren, den digitale
Güter ansonsten nicht haben. Ein solcher Mehrwert kann etwa in einer Breitstellung von
Inhalten für die Besitzer von NFTs bestehen. Interessanter ist allerdings der Mehrwert
hinsichtlich sozialen Kapitels, der aus einem NFT-basiertem Zugang zu einer exklusiven
Chat Community resultiert. Ein für token gating populäres Forum ist der Instant
Messaging Dienst Discord.

15.5 Blockchainanwendungen im Marketing

Obwohl mehr als eine Dekade vergangen ist, seitdem Satoshi Nakamoto in 2008 die
Blockchaintechnologie eingeführt hatte, gibt es im Marketing bislang nur wenige
konkrete Anwendungsbeispiele. Unübersehbar ist allerdings, dass deren Zahl wächst.
Bevor eine Auswahl davon vorgestellt wird, sollen zunächst allgemeine Aspekte zum
gegenwärtigen Stand von Anwendungen der Blockchain im Marketing vorausgeschickt
werden. Gegenwärtige Blockchainanwendungen im Marketing.
15 Blockchain im Marketing 259

• adressieren spezifische Fragen des Marketings,


• die zumeist einen inhaltlichen Bezug zu Fragen der Kontrolle bzw. des Vertrauens im
Marketing aufweisen,
• rangieren von sehr populären Anwendungen (z. B. NFTs) bis hin zu Pilot-
anwendungen (z. B. Data-Sharing).

15.5.1 Non-Fungible Tokens

Nicht ohne Grund beginnt die vorliegende Diskussion der Blockchainanwendungen im


Marketing mit NFTs. Relevante Indikatoren wie Innovationsdynamik wie auch Markt-
volumen sprechen dafür, dass NFTs die derzeit wohl wichtigste Blockchainanwendung
im Marketing darstellen. Bei NFTs handelt es sich um eine front office Anwendung, da
sie letztlich Produkte sind, die ausdrücklich mit Verweis auf ihre Verankerung in der Welt
der Kryptowährungen beworben werden. Als individualisierte Werteinheiten ermög-
lichen NFTs eine Fülle neuer Anwendungen, die sich mit fungiblen Kryptowährungen
wie z. B. Bitcoin nicht oder nur auf umständliche Weise verwirklichen lassen. Dazu
zählen die blockchainbasierte Ausgabe bzw. Verwaltung von Tickets für Sport-, Musik
oder andere Veranstaltungen, Kunstwerke, Autokennzeichen, oder auch Ausbildungs-,
Schul- oder Universitätszeugnisse.
Die technisch garantierte Individualität von NFT kommt dem Interesse vieler Konsu-
menten nach einzigartigen, individuellen Gütern entgegen, was eine Reihe neuer
Anwendungsperspektiven eröffnet (Abb. 15.2): NFTs können die Grundlage neuer
Produkte (z. B. digital fashion) und Dienstleistungen sein (z. B. Beglaubigung von
Besitzansprüchen bei virtuellen Immobilien). Im Falle existierender Produkte (z. B.
Kunstwerke) und Dienstleistungen (z. B. Tickets für Sportveranstaltungen) bieten sie
aber auch die Möglichkeit einer digitalen Zweitverwertung bzw. einer digitalen Zugangs-
möglichkeit.
Der Weiterverkauf von NFTs ist nicht nur möglich, sondern offenbar auch sehr
beliebt. In diesem Fall repräsentieren NFTs die Erwerbskette aller vorherigen Besitzer
seit der Prägung des jeweiligen NFT. Geregelt über einen smart contract ist es mög-
lich, dass der Erstbesitzer eines NFTs nicht nur von einem Weiterverkauf dieses NFTs,
sondern auch von allen folgenden Weiterverkäufen profitiert (Book, 2022). Allerdings
ist der rechtliche Status von NFTs ungeklärt. NFTs gelten als Besitzzertifikat in einer
Blockchain für materielle oder immaterielle Güter. Ein Echtheitszertifikat stellt ein
NFT allerdings nicht dar, da es auf der Basis einer widerrechtlich erstellten Kopie einer
Datei erstellt werden kann. In der Tat mehren sich die Berichte, dass genau das häufig
geschieht (Becket, 2022; Binder, 2022)4

4 Auseinandersetzungen rund um Fragen des Eigentums setzen den mit der Blockchain ver-
bundenen Hoffnungen auf Disintermediation Grenzen: Im Streitfall werden zur Klärung von
Eigentumsrechten eben doch zentrale Instanzen (v. a. Gerichte) erforderlich.
260 D. Janetzko

15.5.2 Digitaler Ad-Betrug

Digitale Werbung hat sich in den letzten Jahren zu einem überaus komplexen System
mit zahlreichen Akteuren entwickelt, das insgesamt oft als advertising supply chain
bezeichnet wird. Werbetreibende (advertiser, z. B. Unternehmen) einerseits und
Plattformbetreiber oder Werbeflächenanbieter (publisher, z. B. populäre Websites)
anderseits nehmen hier eine herausragende Stellung ein. Das primäre Interesse der
Werbetreibenden besteht darin, ihre Anzeigen so platzieren, dass sie von zahlreichen
Personen der Zielgruppe des beworbenen Produktes gesehen werden. An dieser Stelle
kommen publisher ins Spiel. Sie stellen für Anzeigen der Werbetreibenden Werbeflächen
auf Medien (z. B. Websites, soziale Medien, Apps, Smart TV) bereit. Zugleich vermitteln
die Publisher den Werbetreibenden Informationen über die Anzahl und die Besucher
solcher Werbeflächen. Werden Werbetreibende und Publisher sich einig, kommt es
direkt oder über Zwischenhändler5 zu Zahlungen von ersteren an letztere. Die Höhe der
Zahlungen ergibt sich in der Regel aus dem Produkt eines Betrages für den Werbe-
platz und der Anzahl der Sichtkontakte bzw. Aufrufe.
Die Prozesse, die digitale Werbung ermöglichen, laufen in Bruchteilen von
Sekunden automatisiert ab und sind in ihrer Komplexität schwer durchschau-
bar. Solche Bedingungen begünstigen betrügerische Aktivitäten wie den Anzeigen-
betrug (ad fraud). Der Bundesverband digitale Wirtschaft e. V. definiert ad fraud als
“Sammelbegriff für verschiedene Arten unlauterer oder illegaler Manipulationen von
Online- Werbemaßnahmen mit dem Ziel, einen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen”
(Bundesverband digitale Wirtschaft, 2022). Unter den verschiedenen Varianten von
Anzeigenbetrug gilt Clickbetrug (click fraud) als die am häufigsten vorkommenden
Masche, sich Werbeeinnahmen zu erschleichen. Jeder Klick auf eine kommerzielle
Werbefläche löst eine geringe Zahlung der Werbetreibenden an den Plattformbetreiber
für eine unter Umständen nur vorgetäuschte Werbeleistung aus. Eine großen Zahl
betrügerischer Clicks kann z. B. mit Computerprogrammen (“Hitbots”) oder auch durch
Menschen in sogenannten cxlick-farms erfolgen. Beide Methoden führen in der Summe
zu beträchtlichen Zahlungen an die Betrüger.
Transparenz bei den Transaktionen von Werbeflächenangeboten und Zahlungen
(v. a. pay-per-click, pay-per-impression) ist eine zwingende Voraussetzung,
dem digitalen Anzeigenbetrug etwas entgegenzusetzen. Im Prinzip ließen sich mit
Blockchaintechnologien die komplexen Abfolgen digitaler Werbetransaktionen trans-
parent dokumentieren. Wie ist die Umsetzbarkeit eines solchen Vorhabens ein-
zuschätzen? Digitale Werbung operiert im Millisekunden Bereich, während die
Transaktionen der schnellsten Blockchaintechnologien6 mittlerweile weniger als 1

5 Zu solchen Intermediären zählen elektronischen Handelsplätze (ad exchange) für Echtzeit-


Auktionen von Werbeinventar.
6 Gegenwärtig ermöglicht Nano unter allen Kryptowährungen die schnellsten Transaktionen.
15 Blockchain im Marketing 261

Sekunde in Anspruch nehmen. Somit sind Blockchaintechnologien bei der Trans-


aktionsgeschwindigkeit nicht mehr allzu weit von den Anforderungen der digitalen
Werbung entfernt. Jedoch sind auch Anforderungen beim Datenvolumen zu erfüllen.
In dieser Hinsicht sind gegenwärtige Blockchaintechnologien noch nicht performant
genug (Harris & Frangiskatos, 2021). Daher dürften sie derzeit noch nicht als taug-
liche Mittel infrage kommen, in Echtzeit den digitalen Anzeigenbetrug aufzuklären und
zu bekämpfen (Harris & Frangiskatos, 2021). Nach Auffassung einiger Fachleute sind
heutige Blockchaintechnologien allenfalls für eine post hoc Analyse digitaler Werbe-
transaktionen verwendbar (Benes, 2017; Pearlstein & Bott, 2019). Trotz der erwähnten
Begrenzungen gilt jedoch, dass die getroffenen Aussagen den derzeitigen Stand der
Blockchaintechnologien wiedergeben. Bei der erstaunlichen Entwicklungsdynamik im
Bereich der Blockchaintechnologien ist nicht auszuschließen, dass sich in absehbarer
Zeit die Schere zwischen den Echtzeitanforderungen der digitalen Werbung und der
Echtzeitperformanz von Blockchaintechnologien schließen wird.

15.5.3 Supply Chain

Nachdem die Blockchain ursprünglich für Finanztransaktionen entwickelt worden war,


wurde ihr Potenzial rasch auch für andere Anwendungsfelder erkannt und erschlossen.
Hier sind insbesondere Liefer- bzw. Wertschöpfungsketten (Supply Chain) zu nennen
(Fuchs & Goudz, 2020). Durch geeignete blockchainbasierte Systeme lässt sich die
Rückverfolgbarkeit sowie Produkt-Authentifizierung bzw. Schutz vor Produktpiraterie in
der Supply Chain verbessern Am 01.01.2023 tritt das neue Lieferkettengesetz (Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit & Entwicklung, 2021) in Kraft, das
v. a. Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette ins Auge fassen soll. Im Zuge der
erforderlichen Systemanpassungen in der Supply Chain Industrie dürften vor allem
Blockchaintechnologien verstärkt zur Anwendung kommen.
Für das Marketing haben die genannten blockchainbasierten Entwicklungen bei der
Supply Chain haben zwei wesentliche Folgen. Zunächst ist von einer Verbesserung
der Lieferkette zu erwarten, dass sie das Kundenvertrauen stärkt und zu einer engeren
Kundenbindung beiträgt. Ferner hat die Anwendung der Blockchain in der Supply
Chain durchaus die Funktion eines Vorbilds in anderen Bereichen, wo es im Kern auch
um Fragen der Nachverfolgbarkeit geht. Die gilt etwa für digitale Werbung wie für
Loyalitätsprogramme.

15.5.4 Non-Fungible Tokens

Bereits in Nakomotos white paper (Nakamoto, 2008) war der Verzicht auf Inter-
mediäre bei Transaktionen eine wesentliche Motivation für die Entwicklung der
Blockchaintechnologie. Im Finanzwesen sind solche Intermediäre die Banken. Bei der
262 D. Janetzko

digitalen Werbung gehören dazu typischerweise Werbenetzwerke sowie Marktplätze für


digitale Werbung.
Technisch sind bei der digitalen Werbung verschiedene Modelle vorstellbar, wie mit-
hilfe der Blockchain Intermediäre ausgeschlossen bzw. ihr Einfluss verringert werden
kann. Nachfolgend wird ein solches Disintermediationsmodell vorgestellt. Es beruht auf
dem open source Browser Brave in Kombination mit dem auf der Ethereum-Blockchain
beruhendem Basic Attention Token (BAT). Ziel des dahinterstehenden Konzepts
digitaler Werbung ist es, das Verhältnis zwischen Werbetreibenden, Werbeflächen-
anbietern und Nutzern neu zu definieren. Zwischeninstanzen wie v. a. Werbenetzwerke
und Marktplätze für Online-Werbung werden disintermediiert – stattdessen allerdings
bringt sich Brave als neuer Intermediär ein. Ob und ggf. wie viele Anzeigen die Nutzer
des des Brave Browsers im WWW zu sehen bekommen, legen sie selbst fest. Mög-
lich ist es auch, dass sich Nutzer gegen jegliche Anzeigeneinblendung entscheiden. In
diesem Fall wirkt Brave als ad-blocker. Entscheiden sie sich dafür, Anzeigen zu sehen,
werden ihnen (geringe) Beiträge der Kryptowährung BAT zugeschrieben, die über eine
Wallet des Brave Browsers verwaltet werden. Die Aufmerksamkeit der Nutzer wird
somit monetarisiert. Von dem Ansatz profitieren sowohl Nutzer als auch Werbetreibende:
Die zahlenden Werbetreiben können daraufsetzen, dass ihre Anzeigen nur von solchen
Nutzern gesehen werden, die sich dafür entschieden haben. Nutzer sehen Anzeigen
nur, wenn sie dazu einwilligen. Laut Brave werden den Nutzer Anzeigen gezeigt, die
zu ihrem Browsing Verhalten passen.7 Brave versichert, dass dabei keine Informationen
über die Nutzer weitergegeben werden.

15.5.5 Loyalitätsprogramme

Die Kundenbindung zu stärken gilt als ein wesentliches Ziel des Marketings. Traditionell
werden kartenbasierte Bonusprogramme eingesetzt, um dies zu erreichen. In Deutsch-
land zählen dazu Payback oder Deutschlandcard. Aber natürlich dienen solche und
andere Loyalitätsprogramme auch dazu, Daten über Kunden zu sammeln. Allerdings
stoßen herkömmliche Loyalitätsprogramme an Grenzen. Das trifft auf Firmen wie
auch auf Kunden zu. Unter anderem wegen der unverzichtbaren Sicherstellung des
Datenschutzes ist der organisatorische Aufwand hoch, solche Loyalitätsprogramme
zu betreiben. Für Kunden ist es oft schwierig, eine Übersicht über Transaktionen zu
bewahren.
Vor diesem Hintergrund versprechen blockchainbasierten Loyalitätsprogramme mehr
Funktionen bei gleichzeitig geringerem Aufwand für die Verwaltung und Nutzung. Das
trifft auf Loyalitätsprogramme einzelner Unternehmen wie auch auf die Integration

7 Meineeigene Erfahrung mit Brave sieht anders aus. Als Nutzer von Brave bekommt man über
Push-Benachrichtigungen nahezu ausschließlich Anzeigen aus der Kryptobranche zu sehen.
15 Blockchain im Marketing 263

mehrerer Loyalitätsprogramme zu. Im Vergleich zur Einführung eines konventionellen


Loyalitätsprogramms gilt die Einführung einer blockchainbasierten Alternative als ein-
fach. Unterstützung geben hier Unternehmen wie z. B. die hello again GmbH oder
qiibee AG im deutschsprachigen Raum bzw. Loyyal, Vexanium und Loyela auf inter-
nationaler Ebene. Wie üblich bei Loyalitätsprogrammen, definiert das Unternehmen
auch bei blockchainbasierten Loyalitätsprogrammen, welche Handlung einer Kundin
bzw. eines Kunden (z. B. Registrierung, Review schreiben, Kauf) wie belohnt wird. Den
Kunden werden dabei Bonuspunkte als firmenspezifische loyalty token (brand token)
gutgeschrieben Diese können gesammelt oder gegen Prämien bzw. Bargeld getauscht
werden. Über eine App organisiert, erhält der Kunde eine transparente Übersicht aller
Transaktionen und der damit verbundenen Bonifizierungen.

15.5.6 Datenaustausch

Daten mit anderen (z. B. Kooperationspartnern, Firmen, Öffentlichkeit) auf möglichst


benutzerfreundliche Weise zu teilen, ohne dabei Anforderungen wie Datensouveräni-
tät und Datenschutz zu verletzen oder Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, ist ein
zentrales Ziel des Datenaustauschs (data sharing).8 Wegen der Bedeutung von Daten
für Industrie und Forschung, aber auch für ganze Gesellschaften ist Datenaustausch ein
weit verbreitetes Anliegen. Im Folgenden liegt jedoch der Fokus auf dem Datenaustausch
im Marketing. Hier gibt es eine Reihe innovativer Unternehmen, die dem Duopol von
Google und Facebook mit transparenten und auf Teilhabe ausgerichteten Modellen der
Datenökonomie entgegentreten. Dabei wird auf Blockchaintechnologien, aber auch auf
andere Methoden zurückgegriffen.
Ein blockchainbasierter Ansatz zum Datenaustausch wird beispielsweise von der
BitsaboutMe AG aus der Schweiz verfolgt. Über die App von BitsaboutMe können
Informationen über das eigene Konsumverhalten monetarisiert werden. BitsaboutMe
wirbt damit, mit ihrer App jedem und jeder Transparenz und Kontrolle über die eigenen
Daten zu geben. Dazu geben Benutzer ihr Einverständnis, dass ihre Daten von der
BitsaboutMe-Plattform aus Internet- und Social Media-Konten ausgelesen werden.
BitsaboutMe kann somit auf die dort gespeicherten Daten zugreifen und diese in einer
verschlüsselten Datenbank ablegen. Hinzu kommen Daten aus anderen Quellen, z. B.
Quittungen, die sich mit der App scannen lassen. Die aggregierten Daten können dann
über die App eingesehen werden. Auch das Modell von BitsaboutMe beruht auf Dis-
intermediation–Re-Intermediation: Werbedienstleister oder auch Handelsplätze für
Anzeigen werden ausgeschlossen, an ihre Stelle tritt die Firma BitsaboutMe. Sie tritt
zwischen werbetreibenden Firmen und den Benutzerinnen und Benutzern. Einen Teil

8 Alternative Bezeichnungen sind data governance oder data stewardship.


264 D. Janetzko

der Zahlungen, die erstere leisten, leitet BitsaboutMe an letztere weiter, behält als Inter-
mediär jedoch einen Teil ein.
Zu den Firmen, die ebenfalls mit einem auf opt-in beruhenden Datenaustausch
mit Kunden arbeiten, zählen die Tributech GmbH aus Österreich und Piprate aus
Irland. Dabei konzentriert sich Tributech unter Wahrung von Datensouveränität und
Datenschutz auf die Entwicklung von allgemein einsetzbaren Technologien zum
Datenaustausch. Piprate entwickelt Anwendungen mit ähnlichem Zuschnitt in der
Versicherungsbranche. Einen branchenunabhängigen, auf Blockchain-Technologien
beruhenden Ansatz zum Datenaustausch unter Berücksichtigung von Datensouveränität
und -schutz sowie Bonifizierung stellen (Shrestha et al., 2020) vor.

15.6 Diskussion

Dass NFTs im Marketing der Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen werden, kann
als sicher gelten. Dafür spricht, dass es bereits vielversprechende Konzepte gibt (z. B.
NFTs mit Mehrwerten auszustatten, fraktionale NFTs, token gaiting, Airdrops), die sich
leicht auf Anwendungen im Marketing übertragen lassen. Aber es sind nicht nur NFTs,
die dem Marketing neue Impulse geben. Auch andere Blockchainanwendungen haben
bereits eine Reihe innovativer Pilotanwendungen im Marketing inspiriert, die Vertrauens-
bildung und Kontrolle im Marketing unterstützen. Es ist abzusehen, dass eine Reihe
solcher Anwendungen sich nicht am Markt durchsetzen werden, während die erfolg-
reichen kopiert werden. Ob das Modell von Disintermediation–Re-Intermediation zu
den Gewinnern dieser Entwicklung zählen wird, bleibt abzuwarten. Dass dieses Modell
in der Regel sehr aktiver Nutzer voraussetzt, die z. B. ihre Einkaufsbelege regelmäßig
scannen und die überdies noch bereit sein sollten, ihre Daten zu teilen, weckt Zweifel ob
dies im Falle des Konsumverhaltens im großen Maßstab gelingen wird. Dennoch wäre
es voreilig, hier pessimistisch zu sein. Bei anderen Produkten oder Dienstleistungen
kann vermutlich eher mit aktiven Nutzern gerechnet werden, was über klassische Markt-
forschung zu ermitteln wäre.

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Prof. Dr. Dr. Dietmar Janetzko ist head of research bei der Stockpulse GmbH in Bonn. Zugleich
ist er der Cologne Business School in Köln assoziiert, wo er bis Mai 2022 Wirtschaftsinformatik,
Statistik und Datenwissenschaft unterrichtet hat.
Digitale Anwendungen in der
touristischen Besucherlenkung – Erhalt 16
und Steigerung der Attraktivität und
Akzeptanz

Felix Wölfle und Simon Ens

Zusammenfassung

Schon lange können Phänomene des Overtourismus nicht nur in klassischen


Destinationen, wie Venedig mit 28 Millionen Besuchern im Jahr, beobachtet werden.
Auch viele andere Regionen sehen sich mit diesem Phänomen konfrontiert. Daher
ist die Besucherlenkung in touristischen Destinationen ein viel diskutiertes Thema
und Konzepte zur Umsetzung sprießen allerorts aus dem Boden. Seit der COVID-
19-Pandemie sind Abstandsregelungen, Hygienekonzepte und Einschränkungen
zum Alltag und die Notwendigkeit einer Besucherlenkung oftmals noch wichtiger
geworden. Um eine Übernutzung sowohl urbaner als auch ruraler Räume zu ver-
meiden und Besucherströme zu leiten, existieren unterschiedliche Möglichkeiten für
die Besucherlenkung. Hierzu müssen analoge und digitale Anwendungsmöglich-
keiten miteinander kombiniert werden. Der immense Bedeutungszuwachs digitaler
Anwendungen verleiht diesem Bereich eine große Wichtigkeit. Durch das Verwenden
von Apps, Progressiven Web Apps und ähnlichen Anwendungen lassen sich Gäste
bereits vor ihrem Aufenthalt in der Destination über Aktivitäten und Attraktionen und
deren prognostizierte Auslastung informieren. Während des Aufenthalts kann dies
fortlaufend in Echtzeit weiter gewährleistet werden. Hierdurch lassen sich negative
Auswirkungen durch großen Besucherdruck, wie Störung von Fauna und Flora und

F. Wölfle (*) · S. Ens


IU Internationale Hochschule, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]
S. Ens
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 267
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_16
268 F. Wölfle und S. Ens

Belästigung von Einheimischen, minimieren und positive Auswirkungen, wie Aus-


lastungssteuerung und Attraktivierung von Randzeiten, verstärken.

16.1 Hintergrund

Zu viele Touristen, teilweise überlaufene Städte und Regionen, mehr Touristen als Ein-
heimische, Staus und Belastungen durch hohes Verkehrsaufkommen, negative Aus-
wirkungen auf Natur und Umwelt. All dies sind Phänomene, welche in den letzten
Jahren immer häufiger im Kontext des Tourismus wahrnehmbar waren (Bauer, et al.,
2020, S. 89). Auch wenn die Corona-Pandemie diese Phänomene, oder zumindest deren
öffentliche Wahrnehmung, zu Teilen für unterschiedliche Akteure des Systems Touris-
mus wie unter einem Brennglas zugespitzt hat, existierten sie bereits auch vor der
Pandemie.
Auswirkungen einer hohen Tourismusintensität – Anzahl an touristischen Über-
nachtungen je 100.000 Einwohner – können dabei in positiver als auch in negativer Aus-
richtung die touristische Destination und ihre Einwohner betreffen. Aus ökonomischer
Betrachtungsweise heraus gehen mit einer gesteigerten Tourismusintensität ein
höherer tourismusinduzierter Umsatz und damit eine gesteigerte Wertschöpfung einher
(Schmücker, & Reif, 2021, S. 20). Dies ist sicherlich für viele Akteure in der Destination
mit positiven Aspekten verbunden, da es zu gesteigerten Einkommen, einer größeren
Zahl an Arbeitsplätzen und somit zu erhöhtem Lebensstandard führen kann.
Neben den positiven, vornehmlich ökonomischen Effekten führt touristische Aktivität
jedoch auch zu einigen negativen Effekten. Diese betreffen vornehmlich die Einwohner
und die Tier- und Pflanzenwelt der bereisten Regionen. So kann die Touristifizierung
von Städten und Gemeinden das Absenken der dortigen Lebensqualität für Einheimische
zur Folge haben, wie beispielsweise die Verdrängung alltagsrelevanter Infrastruktur, z.
B. des Einzelhandels des täglichen Bedarfs, durch Souvenir- und Andenkenshops und
Crowding-Effekte zu saisonalen Hochzeiten (Kagermeier, 2021, S. 38). Fauna und Flora
werden häufig stark beeinträchtig oder verdrängt. Die Versiegelung großer Flächen für
Freizeitinfrastruktur und das Aufhalten von Touristen in sensiblen Bereichen zur Aus-
übung von Freizeitaktivitäten wie Wandern und Mountainbiken können Auslöser für
die besagten Beeinträchtigungen sein (ebd. S. 137). Auch kann dabei eine gesteigerte
Nutzung durch Massentourismusphänomene die negativen Auswirkungen immens
steigern. Insgesamt steigt somit der Druck auf die Destination mit steigender Besucher-
zahl. Unter diesen Entwicklungen kann die Tourismusakzeptanz der Wohnbevölkerung
leiden. Diese kritische Einstellung kann dazu führen, dass die Umsetzung neuer
touristischer Projekte abgelehnt wird und sich sogar negativ auf die Einstellung gegen-
über neuen Gästen auswirkt (Deutscher Tourismusverband e. V., o. J.).
All diese Rahmenbedingungen verlangen nach Lösungsansätzen zur Minimierung der
negativen und zur Verstärkung der positiven Auswirkungen. Besucherlenkung ist dabei
das Schlagwort. Mit ihr beschäftigen sich Ökologen bereits seit geraumer Zeit, um die
16 Digitale Anwendungen … 269

negativen ökologischen Auswirkungen durch menschliche Freizeitaktivitäten in Natur


und Landschaft möglichst gering zu halten. Im Tourismus hingegen wird sich erst in
den letzten Jahren intensiver damit auseinandergesetzt (Tourismus 2020+, S. 43). Hier-
bei fließen neben den ökologischen Gesichtspunkten auch ökonomische und vor allem
soziale Aspekte in die Betrachtung mit ein und die Besucherlenkung ist so inzwischen
zu einem immer häufiger diskutierten Begriff geworden, sowohl in der Tourismuswissen-
schaft als auch in der Tourismusbranche. Sie „zielt auf eine möglichst harmonische Ver-
teilung von Menschen – regionale Bevölkerung und Gäste – innerhalb einer Destination
[ab]. Sie nutzt dazu räumlich und zeitlich wirksame Entflechtungs- und Lenkungs-
strategien, um die Besucherströme innerhalb der Aufnahmekapazitäten von touristischen
Regionen, Sehenswürdigkeiten und Attraktionen zu regulieren“ (Deutscher Tourismus-
verband e. V., 2021, S. 2). Ritchie und Crouch (2003, S. 214) attestieren der Besucher-
lenkung dazu die Attribute „fair, efficient and cost-effective, while at the same time
allowing a satisfactory visitor experience...”. Somit kommt zu den Regulierungsaufgaben
ein weiterer, wichtiger Aspekt hinzu: das zufriedenstellende Besuchererlebnis. Denn die
Destinationen stehen im direkten Wettbewerb und müssen neben der Regulierung der
Auswirkungen durch touristische Aktivität den steigenden Ansprüchen der Gäste durch
Verbesserung, Erneuerung und Erweiterung des Angebots Rechnung tragen. (Rüter,
2000, S.6).

16.1.1 Aufgaben der Besucherlenkung

Aus den einleitend beschriebenen Rahmenbedingungen ergeben sich somit als


Hauptaufgaben der Besucherlenkung die zeitlich-räumliche Verteilung der Gäste
(und der regionalen Bevölkerung) und die Harmonisierung von Nachfrage und
Angebot (Abb. 16.1).
Ob die Gästeakquise bereits Teil der Besucherlenkung ist, darüber herrscht in
der Tourismuswissenschaft bislang keine Einigkeit. Da sie für die Autoren jedoch
einen elementaren Bestandteil der Harmonisierung von Nachfrage und Angebot dar-
stellt, wird sie als eine Aufgabe der Besucherlenkung definiert. Der Grund hierfür liegt
darin, dass für ein zufriedenstellendes, oder gar begeistertes, Besuchererlebnis „der
richtige Gast zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ sein sollte (ecoplus. Niederöster-
reichs Wirtschaftsagentur GmbH, 2017, S. 3). Hierfür ist es eben Bestandteil, dass
der richtige Gast den Weg in die Destination findet, demnach die richtige touristische
Zielgruppe. Somit kommen der Zielgruppenansprache und -gewinnung eine große
Bedeutung zu und sie sollten unbedingt als Teil der Besucherlenkung angesehen
werden, damit die Maßnahmen vor Ort während des Aufenthalts in der Destination
zielgruppengerecht gestaltetet und somit effektiv aufgesetzt werden können. Damit
existieren Anknüpfungspunkte und Aufgabenfelder für die Besucherlenkung ent-
lang der gesamten Customer Journey, von der Vor-Reise-Phase über den Aufent-
270 F. Wölfle und S. Ens

Abb. 16.1 Eigene Darstellung

halt vor Ort bis hin zur N


­ ach-Reise-Phase, denn auch in letztgenannter kann mittels
Kundenbindungsmaßnahmen die anvisierte Zielgruppe für den nächsten Aufenthalt
gewonnen werden (Deutscher Tourismusverband e. V., 2021, S. 12ff).

16.1.2 Digital vs. analog?

Die Einsatzgebiete und Anwendungsmöglichkeiten von Besucherlenkungsmaßnahmen


können bzw. müssen analoger und digitaler Natur sein. Für die Zielgruppenansprache
und -gewinnung in der Vor-Reise-Phase stehen in analoger Form beispielsweise Flyer,
Prospekte, Messeauftritte und das Word-of-Mouth-Marketing zur Inspiration und
Information potenzieller Gäste zu Verfügung. Daneben nimmt die digitale Welt bei
den Kundenkontaktpunkten in der Vor-Reise-Phase eine immer wichtige Rolle ein
(Deutscher Tourismusverband e. V., 2021, S. 13). Die gestiegene Wichtigkeit des Inter-
nets (RDN RedaktionsNetzwerk Deutschland GmbH, 2020) spiegelt sich hier natür-
lich wider und so lassen sich Touristen immer häufiger via Social Media, Foren und
eigenen Internetpräsenzen von Destinationen und anderen touristischen Leistungsträger
inspirieren und informieren (Deutscher Tourismusverband e. V., 2021, S. 13).
In der Vor-Ort-Phase kommt dem analogen Kundenkontakt zur Besucherlenkung eine
große Bedeutung zu. Als ein Beispiel kann die persönliche Interaktion, in der Tourist
Info oder in Beherbergungsbetrieben, genannt werden. Gäste können auf diese Weise
persönlich informiert und via Empfehlungen zu Attraktionen und Aktivitäten im Sinne
der Besucherstromlenkung beeinflusst werden. Eine durchdachte Beschilderung hilft
daraufhin den Gästen, sich in der Fläche zu orientieren und lenkt somit die Besucher bei
ihren Aktivitäten. Ebenso wie in der Vor-Reise-Phase existieren für die Besucherlenkung
vor Ort mittlerweile auch viele digitale Anwendungen, um die Gäste an die Hand zu
nehmen und damit im Sinne der Besucherlenkung zu leiten. Beispielhaft kann dies eine
Destinations-App darstellen, welche dem Gast vor Ort in Echtzeit Informationen zu
16 Digitale Anwendungen … 271

seinem Aufenthalt und möglichen Aktivitäten liefert. Ebenso kann dies eine Progressive
Web App leisten, um dem Gästebedürfnis nachzukommen, unterwegs online zu sein und
möglichst in Echtzeit Informationen rund um den Aufenthalt vor Ort einholen zu können.
Der Nachreisephase wird im Rahmen der Besucherlenkung bislang am wenigsten
Beachtung geschenkt. Unter dem Aspekt der Akquisition der richtigen Zielgruppen
sollte sie jedoch nicht vernachlässigt werden. Denn ähnlich wie in der Vor-Reise-Phase
kann auch nach dem Aufenthalt direkter Kontakt zum Gast gehalten werden. In analoger
Hinsicht bietet sich beispielsweise die Möglichkeit, dem (ehemaligen) Gast Flyer und
Broschüren zukommen zu lassen, um ihm weitere und aktuelle Informationen über die
Destinationen zukommen zu lassen, während Newsletter, Social Media und Internet-
präsenzen der Destinationen dies auf digitale Weise darstellen können. So existiert die
Möglichkeit, den Kreis der Customer Journey zu schließen und die anvisierte Zielgruppe
für einen erneuten Aufenthalt zu gewinnen.
Zur Erfüllung der drei Hauptaufgaben der Besucherlenkung existieren unterschied-
liche Ansätze. Dieser Artikel legt den Fokus auf digitale Anwendungen, daher wird auf
die analogen Möglichkeiten nicht weiter eingegangen. Nachfolgend werden vier Bei-
spiele dargestellt, welche in unterschiedlichen Phasen der Customer Journey zu verorten
sind und daher auch an verschiedenen Kundenkontaktpunkten ansetzen.

16.2 Anwendungsbeispiele digitaler


Besucherlenkungsmaßnahmen

16.2.1 WunderlineGo-App

Die WunderlineGo-App ist ein Gadget für die grenzüberschreitende Bahnstrecke


zwischen Groningen und Bremen. Ihr Hauptaugenmerk liegt in der Vor-Reise-
Phase. Die App möchte potenzielle Gäste in der Inspirationsphase abholen und mit
Informationen versorgen. Der Fokus liegt somit auf der Besucherakquise. Das Ziel ist
es, den Reisenden, welche die Region durchfahren und mehrheitlich keinen Bezug zu
den durchreisten Gebieten aufbauen, eben diese Regionen bewusst zu machen. So soll
der Bekanntheitsgrad verschiedener Destinationen entlang der Bahnstrecke gesteigert
und Menschen für einen Besuch dieser Destinationen begeistert werden. Die App wurde
auf Initiative der Städte und Gemeinden, welche entlang der Strecke liegen, entwickelt.
Auch wenn die Bahnstrecke derzeit noch im Bau befindlich ist und voraussichtlich
2024 fertig gestellt wird, ist die App jedoch bereits seit Juni 2021 erhältlich (Ostfries-
land Tourismus GmbH, 2022). In der App werden die Reisenden auf der Bahnstrecke
virtuell durch die 15 Regionen mithilfe von charakteristischen Themen, historischen
Ereignissen, berühmten Personen und geografischen Besonderheiten geführt. Wenn der
erste Schritt, die Besucherakquise, gelungen ist und die Gäste die Regionen besuchen,
bietet die WunderlineGo-App in der Vor-Ort-Phase ebenso Einsatzmöglichkeit, indem sie
272 F. Wölfle und S. Ens

für eine Schnitzeljagd in den jeweiligen Regionen genutzt werden kann. Hierzu navigiert
ein Kompass den Gast durch die Regionen und übermittelt via Bildern, Videos, Audios
und Texten über umliegende Besonderheiten. Diese Besonderheiten, die sogenannten
„Wunder“, verleihen der App ihren Namen, können abgespeichert und von überall aus
erneut abgespielt werden. (Netzwerk Anschlussmobilität Wunderline, o. J.)

16.2.2 Digitaler Urlaubsplaner Oberstdorf

Tourismus Oberstdorf hat die Webpräsenz neugestaltet. Darin enthalten sind


Anwendungen, welche im Sinne einer Besucherlenkung auch in mehreren Phasen Ein-
satz finden können. Eine gesteigerte Nutzerfreundlichkeit, vor allem für mobile End-
geräte und eine schnellere Ladezeit, stellt dabei die Grundlage dafür, dass sie die
Ansprüche der Gäste im Jahr 2022 erfüllt. Sie präsentiert sich in moderner und frischer
Aufmachung, mit großen Bildern, die Lust auf Urlaub in der südlichsten Gemeinde
Deutschlands machen sollen. Das Herzstück stellt der neue digitale Urlaubsplaner dar,
der Besuchern die individuelle Gestaltung des Urlaubs auf intuitive Weise erleichtern
soll. Je nach Reisezeitraum und Interessen kann eine Auswahl an Aktivitäten, Gast-
gebern, Veranstaltungen und Tipps im Urlaubsplaner gespeichert und mit Notizen
versehen werden. Der Urlaubsplaner kann mit Mitreisenden geteilt und gemeinsam
bearbeitet werden. Ein interessantes Tool ist der Zufallsgenerator. Nach Aufenthalts-
zeitraum und Interessen kann sich der Gast seinen Urlaubsplaner mit passenden Vor-
schlägen vorausfüllen lassen. Eine PDF-Funktion erlaubt das Downloaden und somit
das Offline-Verwenden des Urlaubplaners. Mithilfe des Urlaubsplaners kann der Gast
seinen Aufenthalt in der Region Oberstdort nach seinen Vorlieben planen. So wird er
zum einen selbst Akteur der Besucherlenkung. Vor allem kann jedoch die DMO mit-
hilfe des Zufallsgenerators durch Vorschläge an Aktivitäten und Ausflugstipps Anreize
geben, die Gäste räumlich zu verteilen und somit eine Auslastungssteuerung generieren,
indem die Vorschläge und Tipps abseits der Hauptattraktionen ins Blickfeld der Gäste
rücken. Ebenso lassen sich Randzeiten interessant darstellen. Diese Funktionen
können als Reiseplanungstool in der Vor-Reise-Phase und in der Vor-Ort-Phase als
Besucherlenkungsmaßnahme Einsatz finden.
Der Urlaubsplaner beinhaltet noch eine weitere Anwendung, welche Gästen eine
stressfreie Urlaubsplanung ermöglicht. Die „Packliste“ informiert Gäste darüber, was
sie für ihre geplanten Aktivitäten – ob bestimmte Freizeitaktivitäten wie Skilanglaufen,
Urlaub mit Hund oder Familienurlaub, auf zwei Rädern oder zu Fuß – im Urlaubs-
gepäck mitbringen sollten und somit nichts Wichtiges vergessen. Durch das Vermerken
der Utensilien auf der Packliste kann die Vollständigkeit des Urlaubsgepäcks organisiert
werden. Durch das Hinzufügen und Teilen von Notizen können Besucher ihren Urlaubs-
planer weiter personalisieren (Markt Oberstdorf, o. J.).
16 Digitale Anwendungen … 273

16.2.3 Freizeitampel Baden-Württemberg

Overtourism-Phänomene wie Crowding-Effekte haben in der Corona-Pandemie durch


den angewachsenen Deutschlandurlaub einige Regionen vor große Herausforderungen
bei der Besucher- und Auslastungsteuerung gestellt. So wurden und werden vor allem
viele ländliche Regionen mit einer großen Zahl an Besuchern konfrontiert, in welchen
dies so vor der Pandemie nicht der Fall war. (Dignös, 2020). Ein Beispiel zur Annahme
dieser Herausforderungen ist die Freizeitampel der Tourismus Marketing GmbH Baden-
Württemberg. Sie setzt vor allem in der Planungsphase der Gäste an und versucht über
eine transparente Darstellung der Besucherströme als ein landesweites Instrument zur
digitalen Besucherlenkung Gäste und Tagesreisende zur aktuellen und prognostizierten
Auslastung an ihrem Ausflugsziel in Baden-Württemberg zu informieren. Dazu bedient
sie sich der bekannten Ampelfarbensystematik grün-gelb-rot zur Darstellung der
aktuellen und prognostizierten Auslastung. Grün stellt dabei eine geringe, gelb eine
mittlere und rot eine hohe Auslastung dar. Neben dem Besucheraufkommen informiert
die Freizeitampel über Corona relevante Zugangsvoraussetzungen (3G-Regel, Kontakt-
nachverfolgung und Onlinetickets), die 7-Tages-Inzidenz und die damit verbundenen
gültigen Verordnungen. Zudem werden Parkmöglichkeiten und die Mobilität mit dem
ÖPNV zum und am Reiseziel dargestellt. Auch zu den Parkplätzen und den Anreise-
möglichkeiten (Straße wie Schiene) werden Auslastungen angezeigt. So werden neben
den Corona relevanten Informationen auch direkt Informationen zur Besucherstrom-
steuerung transportiert. Gerade diese Informationen können die Planung der Tages-
und Ausflugsgäste erleichtern und Komplikationen bei der Anreise der Gäste aber auch
Unmut der Anwohner abschwächen. Das Besondere an der Freizeitampel ist, dass sie
Prognosen zur Besucherauslastung ermöglicht. Dazu vereint sie Expertenwissen zur
Auslastung und damit bereits vorhandene Erfahrungswerte mit Livedaten aus externen
Datenquellen. Technische Grundlage des Systems ist eine Datenbank, die gemeinsam
von Tourismusschaffenden in ganz Baden- Württemberg zur zentralen Erfassung von
touristischen Daten genutzt wird (Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg,
2021). Durch die Kombination aus Informationen zu Auslastungen und Informationen
zur möglichst komplikationsfreien Anreise und Aufenthalt verbindet die Freizeitampel
dabei klassische Besucherlenkung via Informationsweitergabe mit der Steigerung der
Erlebnisqualität für Gäste.

16.2.4 Open Source Projekt NRW

Vor allem im Bereich der Informationssuche ist das Internet nicht mehr weg zu denken.
Allerdings wird es immer schwieriger, die Informationen auf eigenen Kanälen an die
relevanten Zielgruppen auszuspielen. Der Grund hierfür ist, dass die Präsenz großer
Online-Dienste auch im Reisebereich immer größer wird. Daher wird es zunehmend
274 F. Wölfle und S. Ens

irrelevant, auf welchen Kanälen die Informationen zu den Kunden gelangen. Vielmehr
rückt die Qualität der bereitgestellten Daten über alle Kanäle hinweg in den Vordergrund.
Hier setzt das Projekt Data Hub NRW des Tourismus NRW e. V. an. Ziel ist es, relevante
touristische Daten in hoher Qualität im Data Hub zentral zu organisieren und zur freien
Nutzung zu öffnen. Damit dient DATA HUB NRW als Datendrehscheibe, welche
touristische Datenströme steuert. Die Daten werden von Unternehmen, touristischen
Regionen und weiteren Akteuren maschinenlesbar über Schnittstellen in den Hub
integriert. Auf diese Daten können dann unterschiedliche Dienste wie Webseiten, Google
und Sprachassistenten zugreifen. Gäste erhalten so unkompliziert und jederzeit relevante
Informationen auf jedem Informationskanal (Tourismus NRW e. V., o. J.).
Die zentrale Steuerung und einheitliche Qualitätskriterien erhöhen NRW-weit die
Datenqualität. Dies hat zum einen die Stärkung der digitalen Präsenz zur Folge. Da alle
Partner auf dasselbe, qualitative Datenmaterial zugreifen können, haben sie die Möglich-
keit, ihre eigene Webpräsenz zu professionalisieren. Hinzu kommt, dass alle Akteure
im Land in allen (neuen) Apps und relevanten Kanälen direkt hinterlegt sind. Neben
dem Anheben der Datenqualität werden auch die Kooperation und die Vernetzung aller
Partner gefördert und ein einheitliches Erscheinungsbild nach außen transportiert.
Insgesamt dient der DATA HUB NRW dem Generieren von qualitativ hochwertigem,
touristischem Datenmaterial, welches allen Partnern zum Bespielen der unterschied-
lichsten Ausgabemedien zur Verfügung steht.

16.3 Fazit

Die Digitalisierung bietet einige neue Möglichkeiten für die Aufgabenbereiche der
Besucherlenkung. Die aufgeführten vier Beispiele zeigen hierzu aktuelle Anwendungs-
gebiete. Für die Aufgabenerfüllung einer effektiven Besucherlenkung zur Minimierung
der negativen und Stärkung der positiven Effekte bedarf es insgesamt einer integrativen
Form der Besucherlenkung. Da Gästeerlebnisse nach wie vor vornehmlich analog statt-
finden, müssen neben den digitalen Anwendungen, die vorwiegend in der Vor-Reise-Phase
und zum Teil während des Aufenthalts vor Ort zum Einsatz kommen, analoge Formen
der Besucherlenkung umgesetzt und alle Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden.
Beispielsweise kann eine App, welche dem Wanderer Routenvorschläge anbietet und
die Routen dann im Sinne einer Navigation vor Ort auf dem Smartphone anzeigt, in der
Planung und Durchführung der Wanderung sehr hilfreich sein. Zusätzlich sollte jedoch
auch eine Wanderwegbeschilderung den Wanderern auf ihren Etappen Orientierung
bieten. Zum einen wird den Gästen so Sicherheit vermittelt, da Handyempfang in länd-
lichen Regionen nicht flächendeckend gegeben ist, dass sie sich auf der richtigen Etappe
befinden und wie lange diese noch andauert. Zum anderen kann die Beschilderung eine
motivierende Funktion einnehmen, und diese über Anreize wie Belohnungssysteme, unter
anderem in Form von Schnitzeljagden, wiederum mit der App gekoppelt (bspw. via QR-
Codes) dann die analoge und digitale Welt gewinnbringend miteinander verbinden.
16 Digitale Anwendungen … 275

Literatur

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Deutscher Tourismusverband e. V. (Hrsg.) (2021). Besucherlenkung in Destinationen. Eigenverlag.
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allem Spontanität. https://www.rnd.de/panorama/internet-wichtiger-als-fernsehen-liebstes-medium-­
der-deutschen-O4RCVYNCGBYMLGU7QMJVFDQX2A.html. Zugegriffen: 10. März 2022.
Rüter, U. (2000). Statement zum Thema „Wettbewerb der Destinationen“. In M. L. Fontanari & K.
Schwerhag (Hrsg.), Wettbewerb der Destinationen. Erfahrungen- Konzepte – Visionen (S. 3–8).
Springer.
Ritchie, J. R. B., & Crouch, G. I. (2003). The Competitive Destination. A Sustainible Tourism
Perspective. Oxford: CABI Publishing.

Prof. Dr. Felix Wölfle ist seit April 2017 an der IU Internationale Hochschule Professor für
Tourismuswirtschaft. Nach seinem Studium der Sportwissenschaften promovierte er im sport-
tourismusbezogenen Destinationsmanagement und arbeitete mehrere Jahre in der Destinations-
beratung und im Management eines Bergsportausrüsters. Seine vielfältigen Erfahrungen bringt
er in seine praxisorientierte Lehre mit ein und führt vielfältige (Forschungs-)Projekte mit Praxis-
partnern mit aktivtouristischer Ausrichtung durch.

Simon Ens ist seit 2019 an der IU Internationale Hochschule Campus Düsseldorf Student im
Fachbereich „Tourismuswirtschaft“. Gemeinsam mit Professoren der IU verschiedener Standorte
konnte er bereits einige Projekte in der Tourismusbranche realisieren und seine Interessen an und
Kompetenzen in der Tourismusbranche ausbauen.
Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung
17
Über den Produkt-Anteil im Customer Oriented Offering

Christian Lucas

Zusammenfassung

Das Marketing hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark weiterentwickelt.
Das Verständnis von Marketing wurde allerdings in diesen Jahren häufig nur
erweitert. Dies führte u. a. dazu, dass aus „dem produzierten Produkt“ der 1950er
Jahre (substanzieller Produktbegriff) über die Jahre eine „Produkt-Dienstleistungs-
Kombination“ wurde (erweiterter Produktbegriff) und heutzutage häufig von einem
„generischen Produkt“ gesprochen wird. Damit verliert sich aber die Differenzier-
barkeit zum Marketing-Mix selber, da nun alles als „Produkt“ angesehen werden
kann, weil auch alles einen Nutzen stiften kann. Der vorliegende Beitrag erläutert
nun aus Sicht des Marketing-House-Konzepts, was genau der Product „P“-Anteil
im Customer Oriented Offering ist und grenzt diesen von den restlichen Bestand-
teilen im Marketing-Mix ab. Dazu wird in einem ersten Schritt der:die Konsument:in
konsequent in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt und alles an seinen:ihren
Bedürfnissen, der Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet. Der Beitrag prüft ebenso die
Passung des Konzepts zu neueren Erscheinungen, wie digitalen Daten, Influencern,
Erlebnissen, digitalen Währungen oder auch Non-Fungible Tokens (NFTs).

C. Lucas (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 277
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_17
278 C. Lucas

17.1 Dinge, für die es Märkte gibt

Das Customer Oriented Offering, als zentrale Größe im Marketing-House-Konzept, soll


möglichst zum Verständnis für alle Dinge beitragen, die aktuell vermarktet werden bzw.
im Rahmen der Digitalisierung nun erstmals vermarktet werden können. Dazu werden
im Folgenden einige dieser Dinge beispielhaft aufgezählt (vgl. auch Kotler et al., 2017b,
S. 6 ff.), und im Verlauf dieses Beitrags die Passung des vorgestellten Konzepts dahin-
gehend überprüft:

• klassische Produkte bzw. Waren, wie z. B. ein Apfel, ein Glas Marmelade, ein Kühl-
schrank oder ein Auto.
• klassische Dienstleistungen, wie z. B. ein Haarschnitt, eine Hotelübernachtung,
Restaurantbesuch oder eine Flugreise.
• Ideen und Informationen, wie z. B. Nachrichten, (Bildungs-)Wissen, Patente,
(digitale) Daten, oder auch Geschichten (in Büchern oder Filmen).
• Orte, Organisationen und Personen, wie z. B. Unternehmen, Museen, Länder,
(National-)Parks bzw. auch Filmstars, Influencer oder man selber.
• Events und Erlebnisse, wie z. B. Sportveranstaltungen, Messen, Konzerte oder auch
Safaris, Touren und Urlaube.
• Wertanlagen, wie z. B. Aktien, (digitale) Währungen, Immobilien oder Non-
Fungible Tokens (NFTs).
• ….

Wie bereits an Dingen wie digitalen Daten und Non-Fungible Tokens (NFTs) erkennbar
wird, erweitert sich diese Liste kontinuierlich. Das vorgestellte Marketing-Konzept muss
auch für diese, zum Teil digitale, und für mögliche zukünftige Dinge, robust genug sein,
um ihre Vermarktung verständlich erklären zu können.

17.2 Unternehmerische Fokussierung auf Bedürfnisse

Setzt man den:die Konsument:in in den Mittelpunkt der Betrachtung, muss man auch
von dessen:deren Bedürfnissen ausgehen. Tut man das nicht, entwickelt man Angebote
(Offerings), die am Markt vorbeigehen, bzw. von diesem nicht beachtet werden. Ziel des
Marketing-House-Konzeptes ist es aber konsumentenorientierte Angebote (Customer
Oriented Offerings) zu schaffen.
Bedürfnisse lassen sich nach Maslow (1943, S. 370 ff.) in fünf1 Ebenen unter-
scheiden. Nach dieser Vorstellung gibt es:

1 bzw.acht (vgl. Maslow, 1971). Eine Diskussion alternativer Ansätze findet sich bspw. bei
Kroeber-Riel und Gröppel-Klein (2019, S. 156 ff.).
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 279

1. grundlegende, existenzielle Bedürfnisse, wie Luft, Wasser, Nahrung, Schlaf oder


auch Fortpflanzung,
2. Sicherheitsbedürfnisse, wie körperliche und seelische Sicherheit, Arbeit, Wohnung
oder auch Gesundheit,
3. soziale Bedürfnisse, wie Familie, Gruppenzugehörigkeit, sozialer Austausch,
Zuneigung und Liebe,

Sollten diese drei Bedürfnisebenen jeweils zu großen Teilen befriedigt sein, streben
Personen eine vierte und fünfte Ebene an:

4. individuelle Bedürfnisse, wie der Wunsch nach mentaler/körperlicher Stärke, Erfolg,


Unabhängigkeit und Freiheit, sowie der Wunsch nach Ansehen, Wertschätzung und
Prestige.
5. Selbstverwirklichung.

Aus Anbietersicht macht es nun allerdings wenig Sinn, sich auf diese eher allgemeinen
und undifferenzierten Bedürfnisse direkt zu konzentrieren.

Beispiel: Bedürfnis nach Schlaf

Unternehmen, die sich darauf spezialisieren wollen würden, das Bedürfnis nach
Schlaf zu befriedigen, könnten natürlich einerseits als Hotelbetreiber die Nutzung
eines Hotelzimmers anbieten, sie könnten sich aber auch andererseits darauf
konzentrieren Betten herstellen, Schlaftabletten anzubieten, oder auch beruhigende
Musik zu produzieren. Hier gibt es sicherlich noch unendlich viel mehr Möglich-
keiten, wie man das Bedürfnis nach Schlaf befriedigen kann. ◄

Um zu einem abgegrenzten und bearbeitbaren Markt zu gelangen, müssen sich


Anbieter:innen auf spezifischere, konkrete Bedürfnisse von Konsument:innen
konzentrieren. Abb. 17.1 stellt den Markt aus Sicht eines:einer individuellen
Konsument:in dar.

Beispiel: Bedürfnis nach einem Hotelzimmer in Berlin am Tag X

Konsument:innen haben normalerweise recht konkrete Bedürfnisse, wie zum Bei-


spiel nach einem Hotelzimmer in Berlin am Tag X. Eventuell wissen sie auch schon
in welchem Stadtteil, welche Mindeststandards vorhanden sein sollten, und wie teuer
es ungefähr sein darf. ◄

Dieses konkrete Bedürfnis bildet den Markt, einerseits für den:die Konsument:in, sowie
auch andererseits für den:die Anbieter:in. Je nachdem wie konkret das Bedürfnis ist, ist
der Markt entweder größer oder kleiner. An diesem Punkt setzen auch die Marketing-
anstrengungen der Anbieter:innen an: das Angebot muss dem:der Konsument:in bekannt
280 C. Lucas

Angebote
der Webewerber

Anzahl der Webewerber


konkretes allgemeines
Angebot (COO) konkretes Bedürfnis
des Unternehmens Bedürfnis eines Konsumenten

Act Ask Appeal Aware

Abb. 17.1 Der Markt aus Sicht des Kunden (eigene Darstellung)

(aware) sein, es muss ansprechend (appeal) sein, er:sie will sich eventuell auch genauer
darüber informieren/austauschen (ask), um es dann zu erwerben (act) (vgl. auch Kotler
et al., 2017a, S. 80).
Wie man bereits an diesem Beispiel erkennen kann, geht das Customer Oriented
Offering (COO) weit über den Produktkern hinaus. Ein einfaches Bett in einem Hotel-
zimmer reicht nicht aus. Was aber nun der konkrete Produktkern ist, bzw. was genau das
„Product“ innerhalb der klassischen vier P des Marketing-Mixes ist, soll im Folgenden
geklärt werden.

17.3 Das Product „P“ im Rahmen der Bedürfnisbefriedigung

Im Marketing-House-Konzept bilden die klassischen vier „P“ des Marketing-Mixes,


ergänzt und durchzogen durch die an der Erstellung und Anbietung des Angebots
beteiligten Personen (People) und Prozesse (Process), das auf den Konsumenten aus-
gerichtete Customer Oriented Offering (COO) (vgl. Kap. 1: Marketing-House-Konzept).

Beispiel: Customer Oriented Offering (COO) im Hotelgewerbe

Übernachtung in einem gereinigten Doppelzimmer mit Fenster zum Hof, Queen-sized


Bett, kostenlosem Internet, in einem Boutique Hotel in der Nähe der Innenstadt, mit
mindestens 4 Sternen, gut mit Bus und Bahn gut erreichbar, Check-In und Buchung
per Smartphone über eine Preisvergleichsseite, im preislichen Mittelfeld, bekannt und
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 281

beliebt bei Freunden und Bekannten der potenziellen Kund:innen, mit mindestens
100 Bewertungen auf bekannten, aber nicht näher bestimmten Bewertungsseiten im
Internet und einem Instagram-Account, dessen Fotos bereits von Freunden und/oder
Bekannten geliked bzw. reposted oder durch eigene Fotos ergänzt wurden. ◄

Die unterschiedlichen Leistungen der People, Processes, Promotions, Places und


Prices sind nun leicht zu identifizieren. So wird jemand (People) das Zimmer gereinigt,
die 4-Sterne Zertifizierung durchgeführt und die Buchungsmöglichkeiten per Smart-
phone ermöglicht haben. Es haben verschiedene Prozesse (Process) dazu geführt, dass
dieses Zimmer auch pünktlich vermietbar war, die Preise angepasst wurden oder auch
die Buchung bestätigt werden konnte. Preise und Zahlungsmöglichkeiten (Price) waren
offensichtlich und im Rahmen, das Zimmer über eine Preisvergleichsseite buchbar
(Place) und die Bewertungen und Fotos (Promotion) ansprechend.
Es stellt sich aber die Frage, was nun genau das Product „P“ in diesem Customer
Oriented Offering ist.
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, schauen wir uns noch einmal die ver-
schiedenen Dinge aus Abschn. 17.1 an, die vermarktet werden können.

17.3.1 Der Nutzen als Kern des Angebots

Konsument:innen konsumieren Dinge nur, wenn Sie daraus einen Nutzen für sich ziehen
können, wenn das Angebot also einen Wert für sie hat. Bruhn und Hadwich (2006, S. 12)
sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „nutzenstiftenden Einheit“.

Beispiel: Nutzen bzw. Wert einer Information

Informationen werden täglich mannigfaltig produziert, zum Beispiel in Form von


Nachrichten, die von Konsument:innen allerdings nur dann konsumiert werden,
wenn ein grundlegendes Interesse an deren Inhalten besteht. Teilweise sind
Konsument:innen dann sogar bereit, für diese Information auch mit Geld zu bezahlen,
teilweise „zahlen“ sie allerdings auch nur durch die Zurverfügungstellung ihrer
Nutzerdaten bzw. dem einer Werbung Dritter ausgesetzt sein. ◄

Dieser (Kern-)Nutzen kann nun weiter in einen Grundnutzen sowie einen Zusatznutzen
unterteilt werden (vgl. u. a. Vershofen, 1940, S. 71; Meffert et al., 2019, S. 396; Kot-
ler et al., 2017b, S. 11 ff.). Der Grundnutzen bezieht sich dabei auf die erste Ebene der
Maslow’schen Bedürfnisebenen, die grundlegenden und existenziellen Bedürfnisse. Ein
eventuell vorhandener Zusatznutzen bezieht sich auf alle weiteren Bedürfnisebenen und
schließt damit auch die von Bänsch (2002, S. 246 ff.) und Meffert et al., (2019, S. 396)
vorgeschlagenen „Erbauungsnutzen“ (vgl. soziale Bedürfnisse) und „Geltungsnutzen“
(vgl. individuelle Bedürfnisse, speziell nach Wertschätzung und Prestige) mit ein (vgl.
auch Solomon, 2016, S. 25).
282 C. Lucas

Beispiel: Grund- und Zusatznutzen eines Autos

Ein eigenes Auto hilft eventuell dabei ruhiger/länger zu schlafen, Nahrung


organisieren zu können, oder ähnliches. Diese Nutzenbestandteile treten heutzu-
tage allerdings häufig weit in den Hintergrund, weil man solche (grundlegenden und
existenzielle) Bedürfnisse mit anderen Angeboten, wie zum Beispiel dem öffentlichen
Nahverkehr, kostengünstiger und nachhaltiger befriedigen könnte. Im Falle eines
eigenen Autos treten also weitere, zusätzliche Nutzenbestandteile stärker in den
Vordergrund. So lässt sich die Arbeitsstätte eventuell ohne eigenes Auto nicht sinn-
voll erreichen, oder die Gesundheit würde leiden, wenn man täglich 20 km zur Arbeit
gehen müsste (vgl. Sicherheitsbedürfnisse). Vielleicht ist auch der soziale Austausch
innerhalb der Familie ohne Auto nicht wirklich möglich (vgl. soziale Bedürfnisse),
oder man möchte Anerkennung erlangen, dass man sich nach einem langen Studium
endlich ein eigenes Auto leisten kann (vgl. individuelle Bedürfnisse). ◄

Wie man an diesem Beispiel sehen kann, ist die Wertigkeit der jeweiligen Nutzen-
bestandteile entscheidend. Kann man einen ähnlichen Nutzengewinn günstiger erwerben,
wird man sich wahrscheinlich für die Alternative entscheiden.
Dieser werthaltige Nutzen setzt sich aus materiellen und immateriellen Bestandteilen
zusammen (vgl. Brockhoff, 1999, S. 13), und wird durch die Ausgestaltung der übrigen
„P“ des Angebots (People, Process, Price, Place, Promotion) ergänzt. Im Folgenden
beschäftigt sich der Beitrag als erstes mit den immateriellen Bestandteilen des Angebots,
im Anschluss mit den materiellen Bestandteilen.

17.3.2 Rechte, als Teil des immateriellen Bestandteils des Angebots

Was passiert nun, wenn ein:e Konsument:in ein Angebot annimmt bzw. erwirbt, was
erwirbt er:sie damit? Die Antwort ist, dass der:die Konsument:in damit in erste Linie ein
Recht erwirbt, entweder als Nutzungsrecht oder als Besitzrecht2.

Beispiel: Erwerb eines Films

Ein Film kann unterhalten, bilden oder dient bspw. als Mittel einem:einer Partner:in
im Kino emotional oder physisch näher zu kommen. Welche materiellen Bestand-
teile des Films werden aber nun erworben? Die Kinokarte selber? – Ja, an dieser wird

2 Diejuristische Literatur unterscheidet hier genauer in ein absolutes und ein relatives Besitzrecht,
bzw. auch in ein einfaches und ausschließliches Nutzungsrecht. Zusätzlich wird noch zwischen
schuldrechtlichen Nutzungsrechten an Sachen und an Rechten unterschieden (vgl. u. a. Müssig,
2021, S. 57 ff., 156 ff., 220 ff., 511 ff.). Dem muss sich an anderer Stelle genauer gewidmet
werden.
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 283

das Besitzrecht erworben. Der Kinosessel? – Nein, hieran wird nur das Nutzungs-
recht erworben. Die erzählte Geschichte des Films? – Nein, auch hieran wird nur das
Nutzungsrecht erworben. Wie sieht es mit der Ausstattung des Films aus, den im Film
genutzten Requisiten, die ja auch einen großen Anteil am Wert des Films und dem
daraus gezogenen Nutzen haben? – Auch hieran wird kein Besitzrecht erworben. ◄

Ein:e Konsument:in kann also nur für den Mehrwert eines Angebots, den ein:e
Anbieter:in von Nutzungsrechten schafft, ein Besitzrecht erwerben. Wird der Film also
beispielsweise auf einem Blu-ray-Datenträger verkauft, erwirbt ein Konsument damit
nur Besitzrecht am Datenträger selber, am Film erwirbt er ein Nutzungsrecht.
(Erworbene) Besitzrechte können allerdings auch weiterverkauft werden. So hat
Disney bspw. die (Besitz-)Rechte an der Star-Wars-Saga erworben und damit auch das
Recht, diese Geschichte entsprechend auszudifferenzieren und weitere Geschichten im
Star-Wars-Universum zu erfinden. Außerdem hat Disney damit das Recht, entsprechende
Nutzungsrechte (z. B. Lizenzen) an TV-Stationen zu verkaufen, die diese Filme somit,
eventuell nur zu ganz bestimmten Zeiten, ausstrahlen dürfen. Direkt nach dem Kauf der
Besitzrechte, besaß Disney also nichts anderes als das Recht selber: Mehrwerte mussten
erst geschaffen werden.

Beispiel: Weiterverkauf von (Film-)Rechten

Hätte Disney, einen Tag nach Kauf der Star-Wars-Rechte, diese weiterverkaufen
wollen, hätten diese Rechte eventuell schon einen höheren Wert gehabt. Dieser
höhere Wert (Mehrwert) hätte sich u. a. eventuell aus der Marke Disney, aus den
Informationen, die Disney über den Erwerb der Rechte gestreut hatte, sowie aus den
Beziehungen zu potenziellen, neuen Käufergruppen zusammengesetzt. ◄

Rechte sind also ein integraler Teil der immateriellen Bestandteile (Leistungen) eines
Angebots und beziehen sich u. a. auf in der Vergangenheit durchgeführte Dienst-
leistungen und dabei eingesetzte materielle Bestandteile. Diese materiellen Bestandteile
werden im übernächsten Abschnitt betrachtet. Im hier folgenden Abschnitt beschäftigt
sich der vorliegende Beitrag mit den weiteren immateriellen Bestandteilen: den Dienst-
leistungen selber.

17.3.3 Dienstleistungen, und in der Vergangenheit durchgeführte


Dienstleistungen

Dienstleistungen werden häufig als zentraler Bestandteil von generischen Produkten, im


Sinne des Marketing-House-Konzepts: von Angeboten (Customer Oriented Offerings),
genannt (vgl. Kotler et al., 2017b, S. 498 f.). Kotler et al., (2017b, S. 498 f.) unter-
scheiden fünf Stufen von Dienstleistungskombinationen:
284 C. Lucas

1. rein materielle Güter, wie Seife, Zahnpasta oder Salz,


2. materielle Güter mit begleitenden Dienstleistungen, wie Autos, Computer oder
Handys,
3. Hybridangebote, wie ein Essen im Restaurant,
4. Umfassendere Dienstleistungen, zu denen kleinere Güter oder Dienstleistungen
zählen, wie eine Flugreise mit Snack- und Getränkeservice, sowie
5. Reine Dienstleistungen, wie Babysitten, Psychotherapie oder Massagen.

Charakteristika dieser Dienstleistungen sind u. a. nach Kotler et al., (2017b, S. 500 ff.):

• Immaterialität: Dienstleistungen können vor dem Kauf nicht mittels der mensch-
lichen fünf Sinne erfasst werden, sie sind nicht greifbar.
• Untrennbarkeit: Erschaffung und Konsum von Dienstleistung findet zur gleichen
Zeit statt.
• Variabilität: Die Qualität der Dienstleistungen hängt vom Durchführenden ab und ist
damit inter und intra Personen variabel.
• Fehlender Lagerfähigkeit: Dienstleistungen finden immer nur aktuell, zum jetzigen
Zeitpunkt statt.

Folgt man dieser Vorstellung, was der vorliegende Beitrag gerne tun möchte, stellt sich
die Frage, was ein „gereinigtes“ Hotelzimmer (aus dem Beispiel aus Abschn. 17.3) ist.
Oder auch die Frage, was ein Film ist, was eine schöne Frisur ist, oder was ein gutes
Essen ist… Dies sind alles Dinge, die in der Vergangenheit, u. a. durch eine Dienst-
leistung, geschaffen wurden. Es handelt sich also um die Ergebnisse von Dienst-
leistungen. Dienstleistungen selber können nach dieser Eingrenzung als Handlungen
oder Tätigkeiten verstanden werden3.

Beispiel: Durchgeführte, vergangene Dienstleistungen zur Erschaffung von Filmen

Um einen guten Film zeigen bzw. verkaufen zu können, wird ein:e Autor:in eine
Geschichte geschrieben haben müssen. Diese Geschichte wird angepasst worden sein
müssen an die Anforderungen des:der Regisseur:in und das Medium Film. Passende
Schauspieler:innen werden ausgewählt, Texte eingeprobt und vorgesprochen sein
müssen. Der Film selber muss gedreht, geschnitten und nachvertont sein müssen,
bevor er dann an TV-Stationen oder Kinos verkauft werden konnte. ◄

Nur durch die kontinuierliche Schaffung von mehr Wert (→ Mehrwert), durch eine
Kombination von eingesetzten materiellen Bestandteilen – wie zum Beispiel Filmrolle,

3 Meffert et al., (2018, S. 13) sprechen differenzierender von einer Potenzial-, Prozess- und Ergeb-
nisorientierung, als konstitutive Merkmale, von Dienstleistungen.
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 285

Wert
Promoon-Leistungen

Place-Leistungen

Price-Leistungen

materielle
BESTANDTEILE
des Angebots

immaterielle
BESTANDTEILE
des Angebots

Besitz-/Nutzungs-
RECHTE
Kern-
NUTZEN

0 Zeit

Abb. 17.2 Das Product „P“ des Customer Oriented Offerings (eigene Darstellung)

Kamera-Equipment und Tonstudio – sowie durchgeführten Dienstleistungen, können


neue Angebote (in diesem Beispiel Filme) geschaffen werden.
Dienstleistungen sind also häufig Bestandteil eines am Markt angebotenen Angebots,
noch mehr allerdings die in der Vergangenheit durchgeführten Dienstleistungen, also die
Ergebnisse vergangener Dienstleistungen. Abb. 17.2 verdeutlicht diesen Zusammenhang.
Auch zukünftige Dienstleistungen können Teil des Angebots sein. So erwirbt ein:e
Konsument:in im Moment des Kaufs selber die Nutzungsrechte für die Ausstrahlung
eines (Kino-)Films, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Zeitlich
weiter auseinander liegt der Fall, wenn bspw. ein Auto erworben wurde und das ent-
sprechende Angebot mit einer Garantie angereichert wurde. Im Falle eines durch die
Garantie abgedeckten Falls, bekommt der:die Kund:in die zuvor gekaufte Dienstleistung
(Reparatur) durchgeführt.

17.3.4 Materielle Bestandteile

Wie in Abb. 17.2 gut zu erkennen ist, runden die materiellen Bestandteile das Product
„P“ des konsumentenorientierten Angebots (COO) ab. Auch hier beziehen sich die
materiellen Bestandteile nicht nur auf das Jetzt, den durch den Anbieter geschaffenen
Mehrwert, sondern auch auf die Vergangenheit.
286 C. Lucas

Beispiel: Einfluss der in der Vergangenheit genutzten Materialien auf den Wert eines
Angebots

Ein Apfel wird gemeinhin als materielles Gut wahrgenommen. Nach dem Verständ-
nis des Marketing-House-Konzepts handelt es sich hierbei um ein Angebot, welches
alle materiellen und immateriellen Bestandteile der Vergangenheit beinhaltet. Dazu
gehören demnach u. a. auch die eingesetzten Pflanzenschutzmittel, als materielle
Bestandteile. Ob diese Information aus der Vergangenheit nun extra betont wird, ist
Teil der Promotion-Leistungen des Angebots. ◄

Materielle Bestandteile können also im aktuellen Angebot einerseits nur noch indirekt
erhalten sein, oder sind andererseits direkte, greifbare Bestandteile. Wenden wir uns
wieder dem Beispiel des Kinobesuchs aus Abschn. 17.3.2 zu: den materiellen Mehrwert,
den ein:e Kinobetreiber:in gegenüber der Vergangenheit anbietet, sind u. a. die Eintritts-
karte (in analoger Form), der Kinosessel, sowie die Bild- und Tontechnik. Mit diesen
Bestandteilen kann er:sie sich gegenüber seinen:ihren Wettbewerber:innen abgrenzen.
Indirekt im Angebot enthalten sind weiterhin, die im Zweifel professionelle Ausstattung
des Filmsets, welche während des Filmdrehs genutzt wurde.
Um die eingesetzten materiellen Bestandteile des Angebots weiter zu untergliedern
bzw. genauer zu differenzieren und zu beschreiben, wird im Folgenden den Arbeiten von
Koppelmann (2001, S. 340 ff.) gefolgt. Koppelmann (2001, S. 340 ff.) nennt als grund-
legende Mittel der Produktgestaltung:

• elementare Gestaltungsmittel sowie


• komplexe Gestaltungsmittel.

Elementare Gestaltungsmittel lassen sich weiter in originäre und derivate Gestaltungs-


mittel unterteilen. So hat jeder materielle Bestandteil eines Angebots eine stoffliche,
eine formale und eine farbliche Seite und besteht zwingend aus einer spezifischen
Kombination dieser drei (originären) Gestaltungsmittel (vgl. Koppelmann, 2001, S. 341).
Die derivaten Gestaltungsmittel beziehen sich auf verwendete Zeichen und Oberflächen.
Zeichen werden insbesondere als Markierungen eingesetzt und treten bisweilen in einer
Kombination mit z. B. der Form auf (vgl. die Coca-Cola-Flasche). Die Oberfläche
bezieht sich auf die Musterung bzw. Texturierung der Stoffe, Formen und Farben (vgl.
Koppelmann, 2001, S. 341 f.).
Als komplexe Gestaltungsmittel zählt Koppelmann prinzipielle und konkrete Mittel-
kombinationen auf. Diese beziehen sich auf Funktionsprinzipien, Konstruktions-
prinzipien, historische Löschungsprinzipien (im Rahmen der prinzipiellen
Mittelkombinationen), sowie auf Produktteile (im Rahmen der konkreten Mittel-
kombinationen), wie bspw. der Elektromotor eines Autos oder die Verpackung eines
Handys (vgl. Koppelmann, 2001, S. 342 f.).
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 287

Neben der Betrachtung der Gestaltungsmittel (siehe oben), sind in diesem


Zusammenhang auch die Gestaltungsprinzipien zu beachten bzw. gezielt einzusetzen.
Um den Rahmen dieses Beitrags allerdings nicht zu sprengen, kann zur Vereinfachung
hier vom Design, der Ausgestaltung des materiellen Angebotsanteils gesprochen
werden4. Genaueres findet sich bei Koppelmann (2001, S. 345 ff.).

Beispiel: Gestaltung eines modernen Smartphones

Das Gehäuse des neuen Smartphones eines US-amerikanischen Herstellers besteht


aus einer Titanlegierung, die im Vergleich zu Vorgängermodellen (bestehend aus
Aluminium und Stahl) stabiler, leichter und weniger korrosionsanfällig ist. Es hat eine
rechteckige Form mit mehr oder weniger abgerundeten Ecken und eine bestimmte
Dicke. Farblich wird es in nur wenigen Ausprägungen angeboten. Das Unternehmens-
logo auf der Rückseite des Geräts ist in das Gehäuse eingelassen und somit vor
Kratzern geschützt. Die Oberfläche des Geräts ist durch eine oleophobe Beschichtung
öl- bzw. fettabweisend. Das Telefon setzt sich aus unterschiedlichen materiellen
Komponenten (Produktteilen) wie dem Akku, der Kamera, dem Speicherbaustein und
eben dem Gehäuse zusammen. ◄

17.3.5 Dimensionen

Drei zentrale Dimensionen, die in einer multiplikativen Beziehung zueinanderstehen,


bestimmen den Nutzen bzw. Wert eines Angebots für den Konsumenten:

1. die (wahrgenommene) Menge,


2. die (wahrgenommene) Qualität, sowie
3. die (wahrgenommene) Individualität (d. h. Passung zu den Bedürfnissen).

Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass je mehr Bestandteile ein spezielles
Angebot (COO) ausmachen, desto höher auch der Wert bzw. Nutzen ist, den ein Konsu-
ment aus diesem Angebot für sich ziehen kann. Hier ist allerdings von einem (stark)
abnehmenden Grenznutzen auszugehen. Irgendwann wird der Zusatznutzen (Mehrwert)
infinitesimal klein.
Die zweite Dimension betrifft die wahrgenommene Qualität der Bestandteile (vgl.
auch Juran, 1980, S. 629). Auch hier ist nicht per se von einem „höher, schneller, weiter“
auszugehen, sondern erst einmal von einem abstrakten Verständnis von Qualität. Gold

4 Koppelmann (2001, S. 449) spricht hier vom technisch-konstruktiven sowie ästhetisch-ergo-


nomischen Gestalten.
288 C. Lucas

wird, im Vergleich zu Silber, häufig als qualitativ hochwertiger wahrgenommen, weil die
allgemeine Nachfrage nach Gold höher ist und die Verfügbarkeit geringer.
Nur im multiplikativen Zusammenspiel mit der dritten Dimension, der wahr-
genommenen Individualität des Angebots, bzw. Passung zu den individuellen Bedürf-
nissen eines:einer Konsument:in, lässt sich die Wertigkeit und damit der Nutzen (bzw.
die Bedürfnisbefriedigung) für diese:n Konsument:in ableiten und berechnen5.

Beispiel: Die individuelle Wertigkeit eines Diamanten

Laut dem Deutschen Diamant Club e. V. wird der Wert eines Diamanten, und damit
auch sein Preis, durch vier Kriterien bestimmt, den 4C: Cut (der Schliff), Colour
(die Farbe), Clarity (die Reinheit) und Carat (sein Carat-Gewicht) (vgl. DDC, 2022).
Die ersten drei Kriterien beziehen sich dabei auf die Qualität (im Allgemeinen), das
Carat-Gewicht des Diamanten auf die Menge. Diese Kriterien haben allerdings nur
dann einen Wert für den:die Konsument:in, wenn sich diese:r über die Unterschiede,
zum Beispiel in der Reinheit (Clarity), im Klaren ist. Die individuelle Zahlungs-
bereitschaft hängt schlussendlich noch von der Bedürfnispassung ab. Ist der:die
Konsument:in auf der Suche nach Modeschmuck, ist die individuelle Wertigkeit, und
damit Zahlungsbereitschaft, gering. ◄

17.4 Überprüfung der Passung des Konzepts

Im Folgenden soll überprüft werden, ob die hier vorgestellte Darstellung des Produkt-
anteils im Customer Oriented Offering (COO) auch auf die übrigen Dinge passt, die in
Abschn. 17.1 aufgelistet, aber im Verlauf des Beitrags noch nicht explizit mittels der
eingefügten Beispiele erläutert wurden. Beispielhaft soll dies an (1) digitalen Daten, (2)
Personen wie Influencer:innen, (3) Sportveranstaltungen und (4) Non-Fungible Tokens
(NFTs) gezeigt werden.

17.4.1 Passung bei digitalen Daten

Digitale Daten haben als Vermarktungsgegenstand heutzutage einen großen Stellenwert


erlangt. Grundsätzlich handelt es sich bei Daten immer um digitalisierte Informationen.
Diese Informationen können gewonnen (bzw. aufgezeichnet) werden, bspw. mittels
Befragungen, Beobachtungen oder einem Mix aus beidem (vgl. Berekoven et al., 2009,

5 Diese
Individualität steigt mit einem höheren Grad an Konnektivität (vgl. Kap. 1.3.4: Marketing-
House-Konzept).
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 289

S. 43 ff.), oder, als Ergebnis, selber Dinge repräsentieren, wie bspw. das aufgezeichnete
Verhalten (von Personen)6 oder die Verhaltensvorhersage (vgl. Zuboff, 2018, S. 22 ff.).
Ein Recht auf „Eigentum an Daten“ (per se) sieht die deutsche Rechtsordnung zwar
aktuell nicht vor (vgl. Froese & Straub, 2022, S. 138), allerdings gibt es einige Vor-
schriften in Bezug auf den Umgang mit Daten (vgl. u. a. Kap. 31: Die DS-GVO im
Lichte des digitalen Marketings). Informationen allerdings, die aus den Daten abgeleitet
bzw. gewonnen wurden, mittels einer aktiven Tätigkeit oder Handlung, haben einen
Eigentumscharakter. John Locke schreibt 1689 dazu bspw.:

„Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, können wir sagen, sind im eigent-
lichen Sinn sein Eigentum.“ (Locke, 1906, S. 133)

Im Sinne des hier vorgestellten Marketing-House-Konzepts, handelt es sich bei den


„digitalen Daten“ also um Ergebnisse (Informationen), die aus einer Handlung (vgl.
Abschn. 17.3.3) entstanden sind. Der Nutzen, den diese digitalen Daten als immaterielles
Gut bieten, in Zusammenspiel mit Besitz- oder Nutzungsrechten, machen das Angebot
(COO) aus. Materielle Bestandteile gibt es in diesem Fall nicht zwingend, können sich
aber bspw. auf einen Datenträger beziehen, oder auch auf die schriftliche Fixierung der
Rechteübertragung.

17.4.2 Passung bei Personen (z. B. Influencern)

Sicherlich wird man in Deutschland keine Besitzrechte an Personen erwerben können,


allerdings ein Nutzungsrecht, an immateriellen wie auch materiellen Bestandteilen des
Angebots „Person“. Eine Person (z. B. ein:e Influencer:in) kann bspw. seine Zeit, seine
positive Bewertung für etwas, oder auch sein Aussehen vermarkten. An allen diesen
Dingen verfügen Personen über ein Besitz- oder Nutzungsrecht. Der materielle Bestand-
teil an diesem Angebot ist der oder die Influencer:in selber. Sollte diese:r sich bspw. ein
Bein brechen, sind verschiedene immaterielle Bestandteile eines Angebots eventuell
nicht mehr möglich: z. B. die Teilnahme an einer Sportveranstaltung.

17.4.3 Passung bei Sportveranstaltungen

Bei Sportveranstaltungen kann es sich um viele unterschiedliche Angebote handeln.


So kann bspw. im Motorsport ein:e Rennstreckenbetreiber:in die Nutzungsrechte
für seine:ihre Rennstrecke (z. B. Circuit of the Americas, in Austin, TX) an den:die
Rechtehalter:in Formel 1 verkaufen, der:die Rechthalter:in Formel 1 kann allerdings

6 Dieses „aufgezeichnete Verhalten“ schließt u. a. auch die digitale Kopie von Musik oder Filmen
mit ein.
290 C. Lucas

auch die Aufnahme eines Rennens in den Rennkalender an einen Staat (z. B. Bahrain)
verkaufen. Dabei können im Detail unterschiedliche weitere Rechte Bestandteil des Ver-
trags sein: bspw. die Nutzung der Tribünen, der Parkplätz oder VIP-Räume, genauso wie
die Nutzung von Logos oder Namen. Die Bestandteile des Angebots können also wieder
materieller Natur, wie auch immaterieller Natur sein und Nutzungs- oder Besitzrecht
beinhalten.

17.4.4 Passung bei Non Fungible Tokens

Ein Non Fungible Token (NFT) ist ein „kryptografisch eindeutiger, unteilbarer, unersetz-
barer und überprüfbarer Token, der einen bestimmten Gegenstand, sei er digital oder
physisch, in einer Blockchain repräsentiert“ (Valeonti et al., 2021, S. 9931)7. Die Auf-
gabe des Tokens ist es dabei, materielle wie auch immaterielle Dinge eindeutig identi-
fizierbar zu machen. Wie auch in Kap. 15 (Blockchain im Marketing) beschrieben,
sind viele Dinge, bspw. auch ein materieller Geldschein, trotz Seriennummer, nicht
fälschungssicher und damit nicht (zwingend) eindeutig. Erst der Non Fungible Token,
wie der Name schon sagt, macht den Gegenstand „nicht austauschbar“. Besonders
relevant sind diese Tokens u. a. bei digitalen Dateien (z. B. Text-, Bild- oder Musik-
dateien), da eine besondere Charaktereigenschaft dieser Dateien ist, dass sie verlustfrei
vervielfältigt werden können und damit nicht mehr einzigartig sind (vgl. u. a. McAfee
& Brynjolfsson, 2017, S. 135 ff.; Quah, 2003). Um nun digitale Dateien besitzen zu
können, im Gegensatz zu einem Recht zur Nutzung, muss diese Datei aber eindeutig
sein. Die Tokens (NTFs), um dies zu tun, können dafür gehandelt werden.
Spannend wird die Technologie bspw. auch, wenn es darum geht, vorher nicht handel-
bare Teile an Dinge, wie Anteile an realen Kunstwerken, fälschungssicher zu handeln.
Oder auch, wenn digitale Dokumente wie bspw. die erste SMS (vgl. FAZ, 2021), welche
geschichtliche Ereignisse (vergangene Handlungen) belegen, verkauft werden. Der
Markt ist hier erst in der Entstehung.

17.5 Zusammenfassung und Fazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Product „P“ in den klassischen
vier „P“ des Marketing-Mixes weniger ein generisches Produkt darstellt, als vielmehr
die Materialität des Customer Oriented Offerings beschreibt. Somit ist eher von einer Art

7 Auch an diesen Daten (NFT) gibt es kein Recht auf Eigentum per se – man kann nicht einfach
bestimmen, dass alle in Zukunft jemals geschaffenen Token einem selber gehören werden – allein
durch die Schaffung der Token, erwirbt man das Recht auf Eigentum an diesen.
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 291

„Productness“ oder „Physicality“ zu sprechen, auf Deutsch von einer „Materialität“ oder
„Körperlichkeit“ des Angebots bzw. der Bedürfnisbefriedigung.
Dabei sind die materiellen und teilweise auch immateriellen Bestandteile optionale,
hinreichende Bedingungen, während ein Nutzen sowie ein Besitz- oder Nutzungsrecht
unabdingbare, notwendige Bedingungen sind. Zusätzlich gehen hiernach immer auch
alle vergangenen Dinge und Handlungen mit in das Angebot ein, ob sie nun bekannt
sind, oder auch nicht. Genauso verhält es sich mit zukünftigen Dingen und Handlungen,
auch die können Bestandteil des Angebots sein.
Ergänzend schaffen noch die beteiligten Personen (People) und Prozesse (Process),
die konkreten Preise und Zahlungsmöglichkeiten (Price), der Vertriebskanal und
die Verfügbarkeit (Place), sowie die übermittelten Informationen und genutzten
Kommunikationskanäle (Promotion), einen zusätzlichen Nutzen.
Die Ausführungen in Abschn. 17.4 zeigen, dass dieses Denkkonzept auch für die
aktuell neuen (digitalen) Märkte, sowie zukünftige Märkte, robust ist.

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Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus.

Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-Management
und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt hier als Professor für
Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u. a. in den Fächern Digital Business,
Marketing, Marktforschung und Innovation Management. Parallel bietet er als Geschäftsführender
Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen internationalen Fahrservice für Teams und
Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Digital Pricing für digitale Produkte –
Herausforderungen und Chancen für die 18
Preispolitik und –kommunikation

Jochen Panzer   und Daniel Schmid

Zusammenfassung

Dass Pricing durch seine direkte Wirkung auf die Bottom Line eine besondere
Bedeutung hat, ist in der Marketingliteratur unbestritten. Aufgrund der zunehmenden
Digitalisierung wird das Pricing im Marketingmix immer bedeutender. Den richtigen
Preis zu finden, wird für Unternehmen immer schwieriger. Sie sind zunehmend
gefordert, Preise zu differenzieren, Preise in Echtzeit anzupassen und die Vor-
teile der Künstlichen Intelligenz zu nutzen. Insbesondere Preisstrategien für digitale
Produkte erfordern besondere Aufmerksamkeit. Viele bekannte Modelle der Preiser-
mittlung können nicht übernommen werden, da beispielsweise die geringe Bedeutung
der variablen Kosten keine ausreichende Berücksichtigung findet. Diese Arbeit hat
das Ziel aufzuzeigen, wie das Pricing für digitale Produkte in der Zukunft erfolgen
sollte/könnte. Zunächst werden die Besonderheiten der Preissetzung für digitale
Produkte beleuchtet. Ferner werden innovative Preisstrategien für sowohl digitale als
auch analoge Produkte untersucht. Es werden darauf aufbauend Anforderungen an
eine künftige Digital-Pricing-Strategie formuliert. Insbesondere werden auch Über-
legungen zur Preiskommunikation und zum „Behavioral Pricing“ angestellt.

J. Panzer
IU Internationale Hochschule, Frankfurt am Main, Deutschland
E-Mail: [email protected]
D. Schmid (*)
IU Internationale Hochschule, Frankfurt, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 293
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_18
294 J. Panzer und D. Schmid

18.1 Bedeutung des digitalen Pricings

Unter den globalen Megatrends spielt die Digitalisierung eine besondere Rolle.
In Zukunft müssen Unternehmen die Potenziale dieser digitalen Veränderung zu
ihren Gunsten nutzen, um zu wachsen. So wird die Bedeutung des digitalen Price-
Managements klar erkennbar. Denn noch stärker als bisher, als Pricing-Entscheidungen
quasi „nur“ einen direkten Einfluss auf die Bottom Line hatten (und bereits auf diesem
Niveau von Akademikern und Praktikern für die wichtigste Marketingentscheidung
gehalten wurden (Han et al., 2001, Nagele & Hogan, 2006, Husemann-Kopetzky, 2020)),
steuern diese nun Entscheidungen über die Verteilung der Erträge aus der digitalen
Transformation (Frohmann, 2018)
Bei der Betrachtung des digitalen Pricings sollte man sich bewusst sein, dass der
Begriff in der Praxis in unterschiedlicher Weise verwendet wird. Zum einen wird
darunter der Prozess der Preisgestaltung unter Verwendung von digitalen, meist
dynamischen und datengetriebenen Instrumenten verstanden (vgl. Kap. 19, zur Oven-
Krockhaus, Albers). Zum anderen wird die Bezeichnung des digitalen Pricings für
digitale Leistungen verwendet. Zwischen beiden Ansätzen können Unterschiede
bestehen. Dies liegt an der besonderen Natur der digitalen Dienstleistungen und ihrer
Skalierbarkeit.
Die grundsätzliche Idee, dass sowohl eine Konsumentenrente als auch eine
Produzentenrente zu verteilen sind, deren Höhe von der Wertewahrnehmung bzw. dem
Nutzen der Kunden abhängt (Tacke, 2018; Simon & Fassnacht, 2016), bleibt erhalten.
Somit resultiert die Stärke von Unternehmen langfristig weiterhin aus dem von Kunden
wahrgenommenen Nutzen relativ zum zu zahlenden Preis (Simon & Fassnacht, 2016).
Preismodelle, die eine Reaktion auf veränderte Nutzenwerte erlauben, sind von zentraler
Bedeutung. Der für die Kunden geschaffene Nutzen („value generation“) sowie die
Realisierung des Gegenwerts für das Unternehmen über den Preis („value extraction“)
müssen optimiert werden. Im Zentrum steht die Nutzung neuer Informationstechno-
logien sowie digitalisierter Prozesse zur Werteabschöpfung.
Neben den Besonderheiten digitaler Produkte, die Penetration Pricing bzw. die
schnelle Durchdringung des Marktes durch einen niedrigen Preis (mit seiner Extrem-
form „Follow the Free“) besonders attraktiv machen, wird dieser Artikel sowohl auf
die nicht-dynamischen als auch auf die dynamischen Optionen des Pricings für digitale
Produkte eingehen. Als Konsequenz werden die Anforderungen an künftige Preis-
strategien formuliert und Bezug auf den Einfluss auf Preiskommunikation im Kontext
des Behavioral Finance genommen. Die Wahrnehmung des Preises kann wichtiger sein
als das tatsächliche Preis-Leistungs-Verhältnis. Dies gilt insbesondere dann, wenn der
Preis dynamisch auf den wahrgenommenen Nutzen der Kunden reagieren soll.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 295

18.2 Ausgewählte Grundlagen der Preispolitik

Im Rahmen des Pricings werden unterschiedliche Ansätze verfolgt. Zu den klassischen


Vorgehensweisen zählen cost based pricing, competition based pricing und value based
pricing. Ein verfeinerter Ansatz, der auch als 7Cs des Pricing bekannt ist, empfiehlt,
dass bei der Preisgestaltung die fixen und variablen Kosten, die Unternehmensziele,
die vorgeschlagenen Strategien inkl. Positionierung, der Wettbewerb sowie die Ziel-
gruppen und ihre Zahlungsbereitschaft berücksichtigt werden sollten (Frohmann, 2018).
Daneben sind marktbezogene Faktoren wie die Produktionsauslastung der Branche und
deren Lebenszyklusphase inkl. rechtlicher Rahmenbedingungen von großer Bedeutung.
Wenn ein angemessener Preis gewählt wird, sollte er die Organisation bei der Erreichung
ihrer finanziellen Ziele unterstützen, ein realistischer Preis für den Zielmarkt sein und
mit anderen Marketing-Mix-Komponenten sowie der Produktpositionierung in Einklang
stehen. Diese hier genannten Elemente wirken auf das Preispotenzial ein (s. Abb. 18.1).
Für Unternehmen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, Preisziele festzulegen.
Einige der gängigen Ziele sind: Gewinnmaximierung, Umsatzmaximierung (teilweise
ohne Berücksichtigung der Gewinnspannen), Mengenmaximierung (um langfristig von
Skalen und Verbundeffekten zu profitieren), Maximierung der Gewinnspanne (z. B.
bei geringer Verkaufsmenge die Gewinnspanne pro Einheit erhöhen), Differenzierung
(Qualitätsführerschaft), Überleben (um eine Krise im Markt zu bestehen) oder teilweise
Kostendeckung (sofern andere Einnahmequellen bestehen).
Die Formulierung der Preisstrategie erlaubt die Festlegung der langfristigen Zielpara-
meter, der angestrebten Verhaltensweisen, der Positionierung sowie die Bereitstellung
eines übergeordneten strukturgebenden Regelwerks für nachfolgende Prozessschritte
(Weber, 2020). Zu den klassischen Preisstrategien zählen Preisabschöpfung (hoher
Anfangspreis bei Markteintritt), Durchdringungspreisgestaltung (niedriger Anfangspreis
bei Markteintritt, um Marktanteile zu gewinnen), Niedrigpreisgestaltung (“No-Frills”-
Ansatz mit niedrigen Kosten) sowie Premium-Preisgestaltung (Qualitätsvorteil, der einen

Abb. 18.1 Die sieben Determinanten des Pricings in Anlehnung an Frohmann (2018)
296 J. Panzer und D. Schmid

hohen Premiumpreis rechtfertigt). Moderne, teilweise bereits KI-unterstütze Strategie-


ansätze beruhen auf der Idee, die Preisstrategie der Zahlungsbereitschaft des einzelnen
Kunden ex ante anzupassen.
Sobald die Preise auf strategischer Ebene festgelegt sind, können im Marketing
eine oder mehrere der folgenden Preisbildungsmethoden angewendet werden: Cost-
Plus-Pricing (üblicherweise wird den Kosten noch eine entsprechende Gewinnspanne
hinzugefügt), Renditezielpreis (Preis erlaubt eine bestimmte Rendite), wertorientierte
Preisgestaltung (Preis an der Zahlungsbereitschaft orientiert – die Untersuchungen von
Caminal und Vives (1996) haben gezeigt, dass ein höherer aktueller Marktanteil von
künftigen Verbrauchern als Signal für eine höhere relative Qualität interpretiert werden
kann und die künftige Nachfrage tendenziell erhöhen wird) oder psychologische Preis-
gestaltung (Berücksichtigung psychologischer Faktoren bei der Festlegung des Preises).
Der Listenpreis ist normalerweise der Preis, der dem Zielmarkt angeboten wird.
Allerdings können im Rahmen der Konditionenpolitik Rabatte für Händler und eine aus-
gewählte Gruppe des Zielmarktes gewährt werden. Beispiele für Rabatte sind: Mengen-
rabatte, kumulative Mengenrabatte (Rabatte bei der die Absatzmenge aufsummiert wird),
saisonale/zeitliche Preisnachlässe (Rabatte in Abhängigkeit der Jahres- oder Tageszeit),
Barzahlungsrabatte, Handelsrabatte, Werberabatte (zur Absatzförderung), Zielgruppen-
rabatte (beispielsweise für Senioren) etc.
Bergmann (2017) empfiehlt beim Controlling der Preise über die Frage nach den
Produktkosten hinauszugehen und der Frage nachzugehen, was ein Produkt in einem
dynamischen Markt künftig kosten darf. Wie weit die Kosten den Markt- und Wett-
bewerbsbedingungen anzupassen sind, sollte über ein Zielkostenmanagement festgelegt
werden.

18.3 Pricing digitaler Produkte

Auch das Pricing digitaler Produkte leitet sich aus dem Geschäftsmodell ab. Daran
anschließend wird im Erlösmodell die Frage beantwortet, wer (Kunde, Unternehmen,
Werbetreibende) wofür (Produkt, Service, Content, Nutzerdaten, Software) bezahlt. Dies
wird in Abb. 18.2 über die Abhängigkeit des Preisprozesses von den Geschäfts- und
Erlösmodellen der Unternehmen illustriert.
Der dargestellte Preisprozess folgt im Wesentlichen dem in Abschn. 18.2 dargelegten
Preisprozess. Um aber den digitalen Produkten in vollem Umfang gerecht zu werden,
müssen deren Besonderheiten in Abschn. 18.3.1 betrachtet werden. Die Abschn. 18.3.2
und 18.3.3. erfassen anschließend die Möglichkeiten des Pricings digitaler Produkte mit
nicht-dynamischen und dynamischen Modellen.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 297

Abb. 18.2 Abhängigkeit des Preisprozesses von den Geschäfts- und Erlösmodellen der Unter-
nehmen (Frohmann, 2018)

18.3.1 Besonderheiten digitaler Produkte

Klassische Konzepte der Preisbildung lassen sich meist nur eingeschränkt auf digitale
Angebote übertragen (Bontis & Chung, 2000; Buxmann et al., 2008, Frohmann, 2018).
Dies liegt daran, dass Informationsangebote (Software, Online-Inhalte, digitale Dienst-
leistungen usw.) wirtschaftlichen Regeln unterliegen, die sie grundlegend von Leistungs-
bündeln anderer Sektoren (Produkte und persönliche Dienstleistungen) unterscheiden. In
Anlehnung an Frohmann 2018 werden zwei wesentliche Kategorien unterschieden:

• digitale Produkte (wie elektronische Bücher und Zeitungen, Software, Online-Soft-


ware, Online-Musik, Videospiele etc.).
• digitalisierte Dienstleistungen als Erweiterung traditioneller Angebote und Services
(z. B. digitale Beratungsleistungen, Finanz- oder Transportdienstleistungen und
Online-Wartung von Maschinen).

Sechs zentrale Besonderheiten (s. Abb. 18.3) wirken auf das Preispotenzial ein. Die
Reproduzier-, Veränder- und Unzerstörbarkeit führen dazu, dass eine Vervielfältigung
einfach ist und Nutzung keine Verschlechterung des Leistungsbündels zur Folge hat.
Damit ist eine hohe Verbreitung in Kombination mit häufig erfolgenden Netzeffekten
besonders attraktiv für Unternehmen. Die Wechselwirkungen mit Dienstleistungen ver-
stärken die Attraktivität weiterer Produktverbreitung. Die Lock-in-Effekte, die durch
die hohen Kosten bei der Anschaffung entstehen, unterstützen langfristige Geschäfts-
beziehungen und Ertragsmodelle, die die Kapitalisierung von Bestandskunden zum Ziel
haben. Die relativ hohen Fixkosten sind im Kontext der leichten Reproduzierbarkeit und
der Lock-in-Effekte zu sehen.
298 J. Panzer und D. Schmid

Abb. 18.3 Merkmale digitaler Güter in Anlehnung an Frohmann (2018)

Die unsichere Qualitätsbeurteilung in Kombination mit den Lock-in-Effekten machen


die Erstkaufentscheidung schwierig und erhöhen die Bedeutung von Vertrauen und
Marke. Natürlich ergeben sich hieraus auch Implikationen für das Pricing, wie in den
Folgekapiteln zu sehen ist.
Nachdem die Besonderheiten der digitalen Produkte dargestellt wurden, erfolgt in
Tab. 18.1 ein Blick auf die strategischen Besonderheiten des Internets (Simon & Fass-
nacht, 2016; Buxmann & Lehmann, 2009) als zentrales Transport- und Interaktions-
medium für digitale Produkte.
Besondere Beachtung verdient die tendenziell eher geringe Zahlungsbereitschaft für
digitale Angebote. Der Kunde, der sich daran gewöhnt hat, im Internet schnellen Zugang
zu Preisinformationen zu finden und im Supermarkt Produktpreise von Discountern mit
den aktuellen Preisen vergleichen kann, dessen/deren Preiselastizität wird durch diese
Markttransparenz beeinflusst. Hierdurch sind viele Kunden, die diese Transparenz haben,
oft preissensibler.
Hingegen wirkt sich die verbesserte Analyse von kundenindividuellen Transaktionen
positiv für die Unternehmen aus. Die Analyse von Transaktionen und realisierten Preisen
je Käufer erlauben eine gezieltere Abschöpfung der Konsumentenrente. Spotify ist ein
gutes Beispiel für die detaillierte Analyse des Nutzerverhaltens. Täglich werden mehrere
Milliarden Daten von den Nutzern ausgewertet. Mithilfe einer spezialisierten Software
werden Präferenzen und Abneigungen erkannt und nach Mustern durchforscht, die
gezieltere Angebote erlauben (Dunkel & Steinmann, 2018).
Das Internet ist ebenfalls Ausgangspunkt für flexiblere und innovative Preis-
gestaltung. So sind zeitliche Preisanpassungen bis hin zum Echtzeit-Pricing möglich.
Durch die größere Flexibilisierung bei der Darstellung von Preisen (digitale Preisschilder
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 299

Tab. 18.1  Strategische Besonderheiten des Internets


1. Medium zur Verteilung 7. Tendenziell eher geringe 13. Flexiblere und effizientere
(Online-Distribution) von Zahlungsbereitschaft für Preisgestaltung
digitalen Inhalten digitale Angebote aus dem
Internet
2. Singulärer Vertriebskanal für 8. Leichte Imitierbarkeit von 14. Ausgangsbasis für Pricing-
Informationsgüter Inhalten im Internet Innovation
3. Zusätzlicher Distributions- 9. Oligopolistische Strukturen 15. Zunehmende
kanal für physische Güter Professionalisierung der
Entscheidungsprozesse von
Kund:innen und Anbietenden
4. Sehr niedrige Transaktions- 10. Verbesserte Analyse 16. Geschäftsmodellinnovation
kosten bei der Distribution von kund:innenindividueller Trans-
digitalen Inhalten aktionen
5. Vernetzung von zahlreichen 11. Stärkere Individualisierung 17. Gegenläufige Effekte auf
Marktteilnehmern (Interaktivi- von Angeboten den Gewinn
tät)
6. Erhöhte Transparenz über 12. Stärkere Individualisierung
Angebote und Preise von Preisen

oder online Ausweis im Internet) sind die Kosten für Preisänderungen gesunken, sodass
heute Variationen des Preises attraktiv sind, die früher durch Transaktionskosten ver-
nichtet worden wären. Dynamisches Pricing hat damit die Chance, sich immer breiter
und über Branchen hinweg durchzusetzen (Spann & Skiera, 2020). Aber auch Geschäfts-
modelle wie Online-Auktionen (eBay.com) oder Co-Shopping (Letsbuyit.com, Power-
shopping.de) sowie neue Preismodelle wie Customer Driven Pricing (CDP) sind durch
das Internet entstanden. Wir dürfen jedoch nicht außer Acht lassen, dass eine höhere
Transparenz die Preisobergrenzen reduziert hat.

18.3.2 Nicht-dynamische Pricing-Modelle für digitale Produkte

Bevor konkrete Preisstrategien für digitale Produkte dargestellt werden, soll auf die
Merkmale dynamischer und nicht-dynamischer Ansätze eingegangen und der Fokus auf
nicht-dynamische Lösungen gelegt werden. (Ausgewählte Preisstrategien wurden bereits
in Abschn. 18.2 angesprochen.)
Dynamische Preisgestaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Preise für ein
prinzipiell gleiches Produkt über Kaufzeitpunkte oder Konsumenten variieren (Skiera &
Spann, 2000). Dies ist grundsätzlich auch bei nicht-dynamischen Ansätzen möglich. Ein
wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist jedoch, dass der Käufer bei der dynamischen
300 J. Panzer und D. Schmid

Preisstrategie zum Zeitpunkt des Kaufs nicht darüber informiert ist, dass das gleiche
Produkt vom Verkaufenden zu unterschiedlichen Preisen angeboten wird (Abb. 18.4).
Für die nicht-dynamische Preisdifferenzierung können zwei Gruppen unterschieden
werden. Im ersten Fall (Preisdifferenzierung ohne Selbstselektion) bietet das Unter-
nehmen ausgewählten Kundengruppen das Produkt zu unterschiedlichen Preisen an, bei-
spielsweise Microsoft mit Schüler- und Studentenermäßigungen (Spann & Skiera, 2020).
Im zweiten Fall (Preisdifferenzierung mit Selbstselektion) wählen Kunden die für sie
passende Preiskategorie aus. So können Kunden bei Vodafone zwischen Red XS, S, M,
L und XL wählen oder bei den Social-Media-Plattformen XING und Linkedin zwischen
der kostenfreien Grundversion oder kostenpflichtigen Premiumversion.
Studien zeigen, dass Preisdifferenzierung mit Selbstselektion von Käufern stärker
akzeptiert werden, als Preisdifferenzierungen ohne Selbstselektion, da sie allen Käufern
gegenüber offen ist (Dickson & Kalapurakal, 1994). Dies lässt sich teilweise durch den
Eindruck einer stärkeren Kontrolle durch den Käufer erklären.

18.3.3 Dynamische Pricing-Modelle für digitale Produkte

Wie in Abschn. 18.3.2. dargelegt, ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal


dynamischer Preisgestaltung zu anderen Formen der Preisdifferenzierung, dass die Preis-
variation im Vorhinein nicht angekündigt wird. So kann der Preis für eine Fahrkarte
im Flixbus zwischen Stuttgart und Frankfurt je nach Uhrzeit zwischen 5 und 25 EUR
variieren. Die Kosten der Fahrt kann der Reisende nur ermitteln, wenn er eine konkrete
Verbindungsabfrage erstellt. Eine Preisliste gibt es nicht.

Abb. 18.4 Formen der Preisdifferenzierungen in Anlehnung an Spann und Skiera (2020)
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 301

In der Praxis ist es üblich, dass nicht-dynamische Preisstrategien mit dynamischen


Preisstrategien kombiniert werden. So hat der Reisende die Wahl, einen Flug in der
Business- oder Economy-Class zu buchen (nicht-dynamische Preisdifferenzierung). Ent-
scheidet er sich für die Business-Class, so kann es möglich sein, dass er das Doppelte für
den Flug bezahlt als der Sitznachbar. Das heißt, es gibt eine Preisdifferenzierung inner-
halb der gewählten Kategorie Business-Class, die von der Fluggesellschaft bzw. vom
Reiseveranstalter durchgeführt wurde (Spann & Skiera, 2020).
In der Wissenschaft wird zwischen zwei grundsätzlichen Formen der dynamischen
Preisgestaltung unterschieden (Spann & Skiera, 2020). Es wird differenziert, ob die
Preise ohne oder mit Einbezug des Kaufenden verändert werden. Bei den nicht inter-
aktiven dynamischen Preisen hat der Kaufende auf den Preis keinen Einfluss. Bei-
spielsweise ist dies beim Kauf von Benzin der Fall. Dagegen hat der Kaufende beim
Ersteigern eines Produktes bei einer Online-Auktion Einfluss auf die Höhe des Preises
(interaktive dynamische Preisstrategie) (Skiera & Spann, 2000). (Vgl. Abb. 18.5).

Formen dynamischer Preisstrategie


Bei der nicht interaktiven dynamischen Preisstrategie legt das verkaufende Unternehmen
den Preis fest. Der Käufer hat deshalb keinen Einfluss auf den Preis. Er entscheidet
lediglich, ob das Angebot angenommen wird oder nicht. Aufgabe des Verkaufenden ist
es, den Preis so zu setzen, dass die Preisziele (z. B. Gewinnmaximierung) möglichst
vollständig erreicht werden.

Abb. 18.5 Systematik der Preisdifferenzierung. (Eigene Darstellung)


302 J. Panzer und D. Schmid

Durch die Digitalisierung ist es möglich, Preise an die Marktbedingungen anzu-


passen. Insbesondere im Onlinehandel sind Anpassungen einfach möglich. Dies hat zur
Folge, dass die Preise im Internet stündlich variieren können.
Das anbietende Unternehmen macht sein Angebot in der Regel abhängig von
folgenden Punkten:

• Nachfrage seitens der Käufer


• Angebot der Wettbewerber
• Erstellungs- oder Beschaffungskosten
• Geschäftspolitische Überlegungen

Die Tourismus- und Luftverkehrsbranche setzt bereits seit mehreren Jahrzehnten


dynamische Preisgestaltung ein. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Frage, ob
ein kapazitätsbeschränktes, häufig als verderblich bezeichnetes Produkt (z. B. Sitz-
platz auf einem bestimmten Flug oder Hotelzimmer an einem bestimmten Tag) in einer
günstigen Preisklasse oder nur noch in einer höheren Preisklasse angeboten werden
sollte (Belobaba, 1989). Aufgrund von Nachfrageprognosen und aktuellem Buchungs-
verhalten werden je nach Zeitpunkt der Buchung unterschiedliche Buchungsklassen
angeboten. Die Folge ist, dass sich die Preise dynamisch im Zeitverlauf ändern.
Eine Sonderform der dynamischen Preisstrategie ist „Spot-Pricing“, auch Real-
Time-Pricing genannt (Schlereth et al., 2018). Hierbei erfolgt die dynamische Preisfest-
setzung in der Regel nicht durch den Verkaufenden, sondern durch einen Intermediär, z.
B. eine Plattform oder einen Marktplatz. Dieser legt den Preis eigenständig fest, in dem
Angebot und Nachfrage in Einklang gebracht werden (Hall et al., 2015). In der Regel hat
der Intermediär vom Verkaufenden vorgegebene Leitplanken, innerhalb derer die Preise
variieren können.

Einfluss der Künstlichen Intelligenz auf das Dynamic Pricing


Durch die zunehmende Komplexität, die aus den vielen Einflussfaktoren auf die Preis-
strategie resultiert, z. B. Angebot des Wettbewerbs, Nachfrage, Kosten, Breite des
Angebots, ist es schier unmöglich, Produkte manuell sinnvoll zu bepreisen. In Ver-
bindung mit der Zunahme der Digitalisierung und des E-Commerce sind Software-
lösungen entstanden, die die Preise weitgehend automatisiert festsetzen. Professionelle
Pricing-Software hilft, komplexe Preisentscheidungen unter Einbeziehung von teil-
weise hunderten von Parametern zu treffen. Durch solche Systeme können beispiels-
weise Mengeneffekte einer Preisänderung schnell ermittelt werden. Die Mengeneffekte
lassen Rückschlüsse auf die Preiselastizitäten zu. Diese Information wiederum kann für
die Optimierung der Preisstrategie verwendet werden. Die Softwarelösungen können
mit Forecasting-Tools verknüpft werden, die die Preisänderungseffekte in Sekunden-
schnelle über das gesamte Portfolio simulieren. Die gewonnenen Erkenntnisse liefern
wichtige Grundlagen für Funktionen, wie z. B. für den Einkauf oder die Logistik (Singer
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 303

& Baumgarten, 2020). Softwarelösungen der neuesten Generation sind in der Lage, die
gewonnenen Erkenntnisse ins Online-Marketing zu übertragen, sodass das Produkt folg-
lich mit dem angepassten Preis in einem Banner oder in einer Anzeige beworben wird.

Durch den Einsatz moderner Analyseverfahren, einschließlich Künstlicher


Intelligenz und maschineller Lernverfahren, haben Unternehmen sogar die Möglichkeit,
personalisierte Echtzeitangebote zu entwickeln, die den unmittelbaren Bedürfnissen der
Verbraucher mit optimal angepassten Nachrichten, Angeboten und Preisen entsprechen
(Weber, 2020).
Für Weber hat die dynamische Preissetzung folgende Vorteile (2020):

• Unmittelbarkeit: Dadurch, dass Daten in Echtzeit gewonnen werden, sind Unter-


nehmen in der Lage, Umsatz- und Gewinnprognosen unmittelbar vorzunehmen und
Preisanpassungen durchzuführen.
• Wettbewerbsfähigkeit: Auf Preisveränderungen des Wettbewerbs oder Veränderungen
der Präferenz der Nachfrager kann schnell reagiert werden.
• Verbesserte Cross-Selling und Konversionsraten: Durch den besseren Einblick in das
Kundenverhalten kann das Unternehmen individuell auf die Wünsche und Bedürf-
nisse des Einzelnen reagieren und passgenaue Angebote unterbreiten.
• Flexibilität bei der Preisgestaltung: Eine dynamische Preisgestaltung ermöglicht
jedem Einzelnen, einen entsprechenden individuellen Preis anzubieten.
• Verbessertes Verständnis von Trends: Möglichkeit für Unternehmen, direkt auf Markt-
trends, wie Rabattaktionen, zu reagieren.

Die Ergebnisse der Forschung im Rahmen der Künstlichen Intelligenz finden Nieder-
schlag in den modernen Softwarelösungen. In Bezug auf die Preispolitik spielt das
Maschinelle Lernen oder Machine Learning (ML) eine bedeutende Rolle. Machine
Learning versucht zu besseren Ergebnissen zu kommen, indem es sich mit den
gewonnenen Daten beschäftigt. Ziel dabei ist es, dass die Fragen aufgrund von großen
Datenmengen immer besser beantwortet werden können und im verbesserten Algorith-
mus ihren Niederschlag finden. Die Algorithmen verändern sich durch das Machine
Learning folglich permanent weiter (Weber, 2020).
Die Komplexität der Entscheidung hängt von der Preisstrategie ab. So gibt es im
Handel die EDLP-Strategie (Every Day Low Prices). Unternehmen wollen häufig der
Anbieter mit dem niedrigsten Preis sein. Bei einer solchen Strategie muss das System
lediglich die Preise des Wettbewerbs im Blick haben und gegebenenfalls unterbieten.
Verfolgt das Unternehmen dagegen die HiLo-Strategie (High-Low-Prices), so wird die
zu lösende Aufgabe deutlich komplexer (Weber, 2020).
Da immer mehr Unternehmen KI einsetzen, kommt es vermehrt dazu, dass
intelligente Softwarelösungen aufeinandertreffen und gegenseitig die Preise nach oben
oder unten treiben (s. Abb. 18.6).
304 J. Panzer und D. Schmid

Abb. 18.6 Prozess und Einflussfaktoren der Preisbildung. (Eigene Darstellung)

Anbieter passen ihre Produktpreise zum Beispiel unter Berücksichtigung von


aktueller Nachfrage oder Wettbewerbspreisen regelmäßig im Zeitverlauf an (Meffert
et al., 2019). Abb. 18.6 zeigt, welche zentrale Rolle Big Data und Künstliche Intelligenz
bei der Preisfestlegung einnehmen. Sie versorgen das Unternehmen mit wichtigen
Informationen, legen Preise fest und veranlassen Preisänderungen.

18.4 Anforderungen an die Preisstrategien der Zukunft für


digitale Produkte

18.4.1 Preisdifferenzierung

Die Preisstrategie von digitalen Produkten unterscheidet sich wie oben bereits vor-
gestellt, deutlich von der von klassischen materiellen Produkten. Um den Umsatz zu
optimieren, wäre – der ökonomischen Theorie folgend– allen potenziellen Käufern das
Produkt zu dem Preis anzubieten, der der individuellen Zahlungsbereitschaft entspricht.
Dieses Vorgehen lässt sich in Gänze nicht in die Praxis umsetzen. Nichtsdestotrotz
sollten die Unternehmen Preisdifferenzierungen einsetzen, um möglichst viele Kunden
zu erreichen und dadurch mehr Umsatz und Ertrag zu erzielen.
Im Zuge der Digitalisierung des Pricing-Prozesses haben sich die technologischen
und organisatorischen Voraussetzungen zur Abschöpfung von Pricing-Potenzialen deut-
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 305

Abb. 18.7 Preisdifferenzierungen ersten, zweiten und dritten Grades (Weber, 2020)

lich verbessert. Drei Formen der Preisdifferenzierung (vgl. Abb. 18.7) lassen sich unter-
scheiden Simon & Fassnacht, 2016

• Bei der Differenzierung ersten Grades verlangt der Verkäufer von Kunden den
individuellen Maximalpreis. Die gesamte Konsumentenrente wird monetarisiert.
• Bei der Preisdifferenzierung zweiten Grades haben Kunden verschiedene Wahl-
möglichkeiten. Das Unternehmen segmentiert Kunden nach der Bereitschaft, einen
bestimmten Maximalpreis zu bezahlen. Die Preishöhe wird auf die Zielgruppen
ausgerichtet. Es gibt verschiedene Produkt-Preis-Kombinationen und Käufer ent-
scheiden, welche Kombination präferiert wird.
• Die Preisdifferenzierung dritten Grades knüpft den Zugang zu verschiedenen Preisen
an definierte Parameter. Kunden können nicht frei wählen (Skiera & Spann, 2000).
Ein Beispiel ist ein Rabatt bei Streamingdiensten, der nur Studierenden gewährt wird.

18.4.2 Innovative Preismodelle

Die Digitalisierung hat das Preismanagement verändert. Seit der Jahrtausendwende


haben viele Unternehmen wie beispielsweise Ebay, Idealo oder günstiger.de den
Markt betreten. Ebenso ist der Trend der Individualisierung zu erkennen. Immer mehr
Kunden erwarten auf sie zugeschnittene Lösungen. Der Trend der Digitalisierung und
Individualisierung verlangt auch die Berücksichtigung in der Preispolitik. Um den
Anforderungen der Konsumenten gerecht zu werden, sind innovative Modelle der Preis-
strategie entstanden. Im Folgenden werden sechs Modelle dargestellt:
306 J. Panzer und D. Schmid

• Bundling
• Abonnement
• Freemium
• Flatrate
• Penetration Pricing
• Auktionen

Bundling
Bundling ist ein Instrument der Preisgestaltung, das sowohl bei materiellen als auch bei
digitalen Produkten häufig Anwendung findet. Dabei werden mehrere Produkte oder
Dienstleistungen des Unternehmens zu einem Paket geschnürt, das für einen Preis,
Paketpreis oder Gesamtpreis angeboten wird (Olderog & Skiera, 2000). Typische Bei-
spiele sind Menüs in Fastfood-Restaurants, Hotelzimmer mit Verpflegung oder Soft-
warepakete wie Microsoft Office. Ziel solcher Produkt- und Preisbündel ist einerseits,
die unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften von Kunden auszunutzen. Andererseits soll
die Kaufentscheidung beeinflusst werden. Insbesondere die Preiswahrnehmung durch die
Kunden soll durch Bundling verändert werden. Leistungsbündelungen haben beispiels-
weise das Ziel, dass

• Kunden ein Mehr an Leistung zu einem kaum höheren Preis wahrnehmen


• Einzelpreise, die von Kunden als zu teuer empfunden werden, verschleiert werden
• Preiserhöhungen nicht sichtbar werden

Schließlich helfen Bundles auch, Elemente des Produktportfolios zu verkaufen, deren


eigenständige Nachfrage eher gering ist.

Abonnement
Als Abonnement wird eine Vereinbarung zwischen Verbraucher und Unternehmen über
wiederkehrende Käufe eines Produkts oder einer Dienstleistung bezeichnet (Glazer &
Hassin, 1982). Es entsteht also eine Art Dauerschuldverhältnis, das im Rahmen eines
Customer-Relationship-Management-Ansatzes optimiert werden kann. Ziel des Unter-
nehmens ist es daher, langfristige Kundenbeziehungen sowie wiederkehrende Umsätze
zu generieren. Der Online-Abonnementmarkt eignet sich sowohl für materielle Produkte
als auch für digitale Produkte. So gibt es neben dem klassischen Zeitungsabonnement
heute auch das passende Abonnement der digitalen Zeitung. Aus Kundensicht lohnt sich
das Abonnement, da die Produkte im Abonnementbezug mit einem Preisnachlass ver-
bunden sind. So ist in der Regel die Summe der Einzelausgaben der Zeitung teurer, als
der Preis für das Monats- oder Jahresabonnement der Zeitung. Rudolph et al. (2017)
unterscheiden in vordefinierte, kuratierte und überraschende Abonnements.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 307

Freemium
Der Begriff Freemium besteht aus den englischen Wörtern für kostenlos (free) und
Premium (premium). Freemium, das bevorzugt für digitale Produkte verwendet
wird, bietet dem Nutzer eine kostenfreie Test- oder Demoversion. Diese Versionen
sind üblicherweise zeitlich oder im Umfang bzw. in der Funktionalität begrenzt. Der
Kunde muss lediglich für die über die Basisversion hinausgehenden Leistungen in der
Premium-Variante bezahlen. Meist ist es das Ziel der Freemium-Modelle, die Kunden
an das Produkt zu gewöhnen und anschließend die kostenpflichtige Premium-Variante zu
verkaufen (Simon, 2016). Freemium ist in der Gamer-Branche als Free-to-Play bekannt.
Darüber hinaus wird es bei Spiele-Apps und Browser Games verwendet. Auch bei Soft-
ware as a Service (SaaS), also Online-Lösungen, wird das Freemium-Modell genutzt.
Hierzu zählen Xing, Skype, Spotify oder Dropbox. Die genannten Produkte sind bisher
in der Basis-Variante für den Nutzer zeitlich unbeschränkt kostenfrei.

Flatrate
Bei dem Flatrate-Modell zahlt der Konsument einen im Vorfeld festgelegten Preis pro
Anlass oder Zeitraum und kann dann das Produkt oder die Dienstleistung in beliebigem
Umfang nutzen. Klassische Formen von Flatrates sind Monatskarten, Abonnements in
Fitnessstudios oder Online-Nachrichtendienste. Auch in der Telekommunikation und bei
Internet-Zugängen sind Flatrates stark verbreitet.
Studien zeigen, dass viele Verbraucher eine Flatrate kaufen, obwohl diese für sie nicht
die günstigste Tarifvariante darstellt. Lambrecht und Skiera bezeichnen dieses Phänomen
als „Flatrate-Bias“ (2005). Aus Verbrauchersicht haben Flatrates mehrere Vorteile.
Der Vorzug der Flatrate kann aus folgenden Gründen geschehen (Simon & Fassnacht,
2016):

• Versicherungseffekt: Die Kunden haben den Wunsch, Schwankungen in den monat-


lichen Rechnungsbeträgen zu vermeiden.
• Taximetereffekt: Durch den Festpreis kann die Nutzung mehr genossen werden als
bei einem nutzungsabhängigen Tarif. Das „Taximeter“ läuft nicht.
• Bequemlichkeitseffekt: Um Zeit zu sparen und Suchkosten zu vermeiden, entscheiden
sich Kunden für eine Flatrate.
• Überschätzungseffekt: Konsumenten entscheiden sich für eine Flatrate, da sie ihre
Nutzung des Dienstes überschätzen.

Penetration Pricing
Bei der Strategie des Penetration Pricing wird mit einem niedrigen Preis in einen Markt
eingetreten, mit dem Ziel, viele Kaufende zu gewinnen (Stahl, 2005). Grundidee ist, dass
sich im Zeitverlauf für fast alle Produkte die Bezugs- und Herstellungskosten ändern.
Wenn bei technisch anspruchsvollen Produkten die Kosten mit der Ausbringungsmenge
erheblich sinken, haben die Unternehmen durch frühzeitige und hohe Absatzmengen
Wettbewerbsvorteile auf der Kostenseite. Daher kann es strategisch sinnvoll sein,
308 J. Panzer und D. Schmid

Produkte bei Markteinführung bewusst aggressiv zu positionieren und starke Kauf- und
Volumenanreize durch das Pricing zu setzen. Ziel ist es, dass sich die hohen Anfangs-
investitionen über die Zeit rechnen und möglichst erhebliche Markteintrittsbarrieren für
andere Markteinsteiger geschaffen werden. Wettbewerber, die erst später in den Markt
eintreten, sehen sich mit erheblichen Nachteilen bei den Herstellungskosten konfrontiert.
Auch bei digitalen Produkten spielt das Penetration Pricing eine große Rolle. Auf-
grund eines niedrigen Preises wird die Kaufbereitschaft zu Beginn erhöht. Gleichzeitig
werden Netzwerkeffekt, „Switching Costs“ und „Lock-in“ Effekte erzeugt. Auf dieser
Basis ist es möglich, dass Preise erhöht werden können, ohne die gesamte negative
Wirkung auf die Nachfrage zu entfalten (Stahl, 2005). Zahlreiche Internetanbieter nutzen
Penetration Pricing. Hier besteht eine Nähe zum oben beschriebenen Freemium.

Auktionen
Auktionen haben im Handel eine lange Tradition. In der digitalen Welt kommt die
Methode zunehmend zum Einsatz. Bekanntestes Beispiel ist Ebay. Auf der Plattform
legen Anbieter einen Startpreis fest und Kaufinteressenten geben Preisgebote ab. Nach
dem Ende der Auktion erhält der Höchstbietende den Artikel. In den letzten Jahren sind
verschiedene Verfahren entstanden, die sich in den Bietregeln unterscheiden, z. B. ob
Preisangebote offen oder verdeckt erfolgen. Eine häufig eingesetzte Form ist die sog.
Vickrey-Auktion, bei der Bieter gleichzeitig Gebote in verdeckter Form abgeben. Der
Bieter mit dem höchsten Gebot erhält den Zuschlag. Diese Vorgehensweise hat für den
Bieter den Vorteil, dass er Gebote genau in Höhe seiner Zahlungsbereitschaft abgibt
(Skiera & Revenstorff, 1999). Die Kenntnis über die maximale Zahlungsbereitschaft
eines Nachfragers hilft dem Anbieter, einen gewinnmaximalen Preis zu bestimmen.
Da bei digitalen Produkten die Kenntnis der „Nachfrage nach einem Produkt“ weit-
aus wichtiger ist als es die „Herstellungskosten“ für die Preisermittlung sind, kommen
Auktionen häufig zum Einsatz. Google verkauft seine Anzeigen „Google Ads“ über
solche Auktionen. Unternehmen geben Gebote für Suchbegriffe ab, mit denen sie in der
Suchmaschine gefunden werden möchten. Der Höchstbietende erhält den Zuschlag und
bezahlt den zuvor angebotenen Preis. Auch im B2B-Geschäft kommen Auktionen zum
Einsatz. Beispielsweise werden Lizenzen im Bereich des Mobilfunkes über Auktionen
vergeben (Simon & Fassnacht, 2016).

18.4.3 Preiskommunikation

Die Digitalisierung hat die Preisgestaltung stark beeinflusst. Preise können schneller
und flexibler festgelegt werden. Neue Technologien machen es möglich, dass eine
dynamische Preisgestaltung wirtschaftlich realisierbar und Preise in Echtzeit veränder-
bar sind. Dynamisches Pricing ist eine Konsequenz daraus. Beim dynamischen Pricing
wird der Verkaufspreis an den aktuellen Markt angepasst. Diese Dynamisierung der
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 309

Preise ergibt auch eine neue Dynamik in der Kommunikation von Preisfestsetzungen
und -veränderungen. Für die Preiskommunikation ergeben sich dadurch zwei große
Herausforderungen (s. Abb. 18.8). Erstens müssen die technischen Voraussetzungen
geschaffen werden, dass Echtzeitpreise bzw. häufige Preisänderungen kommuniziert
werden können. Zweitens müssen Strategien und Argumentationsketten definiert werden,
wie dynamische Preisdifferenzierungen den Konsumenten kommuniziert werden, sodass
sie nicht zu einem Vertrauensverlust oder zu einem Imageschaden führen. Gerade der
letzte Punkt bekommt in der Praxis eine immer größere Bedeutung. Preise müssen so
gesetzt werden, dass sie von Kunden als gut bzw. attraktiv bewertet werden. Das heißt,
die subjektive Bewertung des Preises durch den Konsumenten ist das zentrale Maß.
„Behavioral Pricing“ erfordert eine darauf abgestimmte Kommunikationsstrategie
(Krämer, 2020a).

u Beim Behavioral Pricing ist die subjektive Bewertung des Preises durch den
Konsumenten das zentrale Maß.

Im Folgenden sollen die Anforderungen der Preiskommunikation, die sich aus der
dynamischen Preisveränderung ergeben, näher erläutert:

• Echtzeitpreiskommunikation
• Schlüssige Argumentation der Preisdifferenzen
• „Behavioral Pricing“-orientierte Kommunikation
• Nutzung neuer Kommunikationskanäle

Abb. 18.8 Prozess und Anforderungen der Preiskommunikation (eigene Darstellung)


310 J. Panzer und D. Schmid

u Echtzeitpreiskommunikation Die Preiskommunikation muss mit der Preis-


änderung Schritt halten.

Die Preiskommunikation muss mit der Preisänderung Schritt halten, nur dann erfüllen
Preisänderungen ihren Zweck. Deshalb bedarf es der Anwendung und dem Einsatz
moderner Technik. Spezialisierte Softwarelösungen sorgen dafür, dass veränderte Preise
automatisiert in verbundene Online-Shops übertragen werden und dass auch Werbe-
banner etc. um den veränderten Preis angepasst werden. Für den stationären Handel
bedeutet dies, dass Preisauszeichnungssysteme erforderlich werden, die Preisänderungen
einfach und flexibel umsetzen lassen.

u Schlüssige Argumentation der Preisdifferenzen Preisdifferenzen müssen


offen kommuniziert und begründet werden.

Preise werden sich in der Zukunft deutlich häufiger ändern als in der Vergangenheit, denn
Preisdifferenzierung ist ein wichtiger Erfolgsfaktor der Zukunft. Die Entwicklung kann
dazu führen, dass ein identisches Produkt am gleichen Tag zu unterschiedlichen Preisen
verkauft wird. Dadurch entsteht die Gefahr, dass die Preisänderung bei den Konsumenten
negativ ankommt und sie sich vom Unternehmen abwenden. Unternehmen sind gefordert
sich Gedanken zu machen, wie sie mit solchen Situationen umgehen bzw. wie sie Preis-
differenzierungen argumentieren und kommunizieren (Kalka, 2020; Krämer, 2020b).
Hierbei ist es wichtig, nah an Kunden zu sein, um zu verstehen, wie sie auf die einzel-
nen preispolitischen Maßnahmen reagieren. Experten sind der Meinung, dass Kunden sich
daran gewöhnen, dass Preise mehrmals am Tag verändert werden. Studien belegen, dass
Konsumenten Preisdifferenzierungen bei Flug- oder Mietwagenpreisen mittlerweile ver-
stehen und akzeptieren (sowie z. B. Spritpreise an der Tankstelle). Unterschiedliche Preise
im Supermarkt, abhängig von der Uhrzeit des Einkaufs, sind dagegen für die Mehrheit der
Bevölkerung noch nicht akzeptabel (Haws & Bearden, 2006; Priester et al., 2020).

u Behavioral-Pricing-orientierte Kommunikation Der Preis muss den


Erwartungen des Kunden entsprechen.

Damit die Kunden sich für ein Produkt entscheiden, muss der Preis „passen“, d. h. er
muss den Erwartungen entsprechen oder die Erwartungen übertreffen. Nur die subjektive
Einschätzung bzw. Bewertung der Kunden zählt. Anders ausgedrückt: es geht um den
wahrgenommenen Wert („Perceived Value“). Wenn der Wert, den Kunden durch den
Kauf eines Produktes erhalten, größer ist als der gezahlte Preis, wird der Preis positiv
beurteilt (Krämer, 2020a). Die Kommunikationsmaßnahmen müssen darauf ausgerichtet
sein, dass Kunden das Gefühl haben, dass der Preis im Vergleich zum erzielten Nutzen
günstig war. Auf Preiswahrnehmung ausgerichtete Kommunikationsmaßnahmen sind
zum Teil gleich mit denen der Vermarktung über den stationären Handel. Es gibt aber
auch Positionen, die jeweils nur einem Kanal zugeordnet werden können.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 311

Kommunikationsinstrumente, die sich sowohl für materielle als auch für digitale
Produkte eignen, sind Rabatte oder durchgestrichene Preise. Ferner sind die zeitliche
Befristung einer Preisaktion, die Verknappung eines Gutes oder der Vergleich des Preises
mit dem Preis des Mitbewerbers Instrumente, die grundsätzlich auf analogen sowie
digitalen Kanälen funktionieren.
In der digitalen Kommunikation und Vermarktung gibt es jedoch Instrumente, die nur
für Produkte und Dienstleistungen funktionieren, die hauptsächlich über die digitalen
Vertriebskanäle vermarktet werden. Im Folgenden werden einige Besonderheiten und
Instrumente dieser Preiskommunikation dargestellt:

• Preisvergleichsportale: Die großen Preisvergleichsportale, wie zum Beispiel idealo


oder günstiger.de, vergleichen Preise von im Internet gehandelten Produkten. Um
als günstig bewertet zu werden, ist es wichtig, dass die Produkte mit ihrem Preis
in den Vergleichsportalen gut abschneiden, d. h. möglichst ein Ranking unter den
günstigsten Anbietern haben. Durch Strategien, wie Preisreduzierungen einzelner
Produkte (z. B. der Preis einer Jacke in Größe S ist um 50 % reduziert), erreicht das
Produkt insgesamt ein besseres Ranking.
• Preisentwicklung im zeitlichen Verlauf: Die meisten Preisvergleichsportale stellen die
Preisentwicklung eines Produktes im zeitlichen Verlauf dar. Große Preisunterschiede
im zeitlichen Verlauf können den Konsumenten beim Kauf verunsichern. Deshalb
sollten sich die Anbieter bewusstmachen, dass zu große Schwankungen in der Preis-
festsetzung dauerhafte Schäden hervorrufen kann (Gwiozda, 2012).
• Nennung der Anzahl anderer Käufer: Viele Portale zeigen auf, wie viele Nutzer
das Angebot in einer bestimmten Zeit in Anspruch genommen haben. Durch die
Erwähnung von vielen Kunden, die bereits gekauft haben, wird der Eindruck vermittelt,
dass die Preise gut sind. Deshalb sollten Anbieter das „Sichtbarmachen der Nachfrage“
in ihrer Strategie der Preiskommunikation berücksichtigen (Gwiozda, 2012).
• Bewertung des Preises auf Bewertungsportalen: Auf Bewertungsportalen geben
Konsumenten ihre Einschätzung ab, wie zufrieden sie mit den einzelnen Dimensionen
eines Produktes oder des Kaufprozesses sind. Häufig werden auch die Preise
bewertet. Gute Bewertungen sind für das Unternehmen sehr wichtig. Deshalb sollte
sich jedes Unternehmen Gedanken machen, wie es an gute Bewertungen kommt. In
der Praxis gibt es immer mehr Unternehmen, die nach dem Kauf eines Produktes oder
nach der Heimkehr von einer Reise die Kunden mittels einer E-Mail-Nachricht auf-
fordern, das Unternehmen zu bewerten (Huber et al. 2011).

Nutzung neuer Kommunikationskanäle

Die von den Konsumenten am häufigsten genutzten Kommunikationskanäle, wie


zum Beispiel Social-Media-Plattformen, sollten in die Preiskommunikation mit ein-
bezogen werden.
312 J. Panzer und D. Schmid

Die Mediennutzung und das Kommunikationsverhalten haben sich durch die


Digitalisierung massiv verändert. Anstatt Briefe werden in der heutigen Zeit E-Mails
geschrieben, anstelle von Telefonaten werden Sprachnachrichten versendet. Um auch
künftig mit ihren Kunden auf Augenhöhe kommunizieren zu können, sollten Unter-
nehmen soweit wie rechtlich und technisch möglich, die neuen Kommunikationskanäle
nutzen. Preisbotschaften können beispielsweise über Social-Media-Plattformen, wie
Facebook oder Instagram, an potenzielle Käufer adressiert werden. Die auf den Kanälen
sonst üblichen Funktionen, wie Postings, Storys oder Reels können für die Preis-
kommunikation genutzt werden. Ebenso sind Rabattcodes, insbesondere bei jungen
Menschen der Generation Z, sehr beliebt. Unternehmen geben deshalb immer häufiger
Influencern Rabattcodes, die diese wiederum an ihre Follower weitergeben. Viele dieser
Rabattcodes sind anschließend auf Webseiten von Unternehmen zu finden, die sich zur
Aufgabe gemacht haben, ihren Besuchern Rabattcodes zur Verfügung zu stellen.

18.5 Resümee und Ausblick

Der Megatrend der Digitalisierung hat große Auswirkungen auf das Marketing. Ins-
besondere stellt sie die Preispolitik vor neue Herausforderungen und erhöht ihre
Bedeutung im Marketing-Mix. Ziel dieses Beitrags war es aufzuzeigen, welche Heraus-
forderungen und Chancen sich durch die zunehmende Digitalisierung für die Preispolitik
eröffnen. Das besondere Interesse lag dabei auf der Frage, welche Auswirkungen sich für
die Preispolitik von digitalen Produkten ergeben.
Dieser Artikel beschäftigte sich mit den Besonderheiten der Preisfestsetzung von
digitalen Produkten. Die Unterschiede zu materiellen Produkten wurden heraus-
gearbeitet. Ein wesentlicher Teil befasste sich mit der Thematik der Preisdifferenzierung
von digitalen Produkten. Denn gerade auch die neuen technischen Möglichkeiten sowie
Zukunftsthemen – wie Big Data, KI, Marketingautomation – eröffnen den Unternehmen
sehr viele Möglichkeiten Preise zu differenzieren, um möglichst viel von der Konsu-
mentenrente abzuschöpfen. Darauf aufbauend wurden Preisstrategien dargestellt, die
speziell für die Vermarktung von digitalen Produkten entwickelt wurden und zunehmend
in der Praxis Anwendung finden. Der letzte Teil der Ausarbeitung befasste sich mit dem
Thema Preiskommunikation. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des
„Behavioral Pricing“ wurden Anforderungen an die Preiskommunikation definiert.
Dieser Artikel kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:

• Die Preispolitik bekommt durch die Digitalisierung mehr Gewicht im Marketing-Mix


• Preise werden sich in der Zukunft immer häufiger ändern
• Herkömmliche Preisstrategien lassen sich nur teilweise auf digitale Produkte über-
tragen, deshalb bedarf es spezifischer Strategien, wie zum Beispiel Freemium
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 313

• Preisdifferenzierungen werden immer bedeutender, insbesondere dynamische Preis-


veränderungen werden zunehmen
• Der Einsatz von moderner Software und KI werden unentbehrlich, um den optimalen
Preis festzulegen
• Die Preisauszeichnung erfordert eine hohe Flexibilität
• Gründe für Preisveränderungen und -differenzen müssen nachvollziehbar sein
• Preiskommunikation wird wichtiger, Kunden wünschen sich Fairness und Trans-
parenz
• Die Preiskommunikation sollte neue Kommunikationswege (z. B. Social Media)
nutzen

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Jochen Panzer ist seit 2015 an der IU Internationale Hochschule als Professor für Marketing
Management tätig. Nach Studium und Promotion war er für verschiedene nationale und inter-
nationale Unternehmensberatungen mit Fokus auf Finanzdienstleistungen, Marketing und Vertrieb
tätig. Im Anschluss leitete er als Commercial Director Europe für einen der großen europäischen
Versicherungskonzerne den Direktvertrieb. Aktuell verbindet er im Rahmen des Evidence Based
Management praktische Branchenerfahrung und theoretische Expertise in Kooperationen mit
ausgewählten Unternehmensberatungen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Sales Force
Effectiveness, Direct Marketing sowie Ökosystemen und Innovationen.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 315

Daniel Schmid ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als Professor für Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre insbesondere Marketing tätig. Nach Studium und Promotion arbeitete er
zunächst in einer internationalen Unternehmensberatung. Danach war er über 20 Jahre in einem
internationalen Dienstleistungsunternehmen tätig. Als Vorstand verantwortete er u. a. die Bereiche
Marketing und Strategie. Zuletzt war er Bereichsdirektor eines der größten internationalen Kinder-
hilfswerke der Welt. Aktuelle Themen seiner Forschung sind Digitales Marketing, E-Commerce,
Handel und Nachhaltigkeitsmanagement.
Dynamisches Pricing bei
Fluggesellschaften und Wahrnehmung 19
der Preisfairness bei Flugreisenden

Ina zur Oven-Krockhaus   und Christoph Albers

Zusammenfassung

Das Pricing von Fluggesellschaften entwickelt sich seit den 80er Jahren sehr
dynamisch aufgrund von Deregulierung und Liberalisierung des Luftverkehrs inner-
halb der EU sowie intensiven Wettbewerbs. Dabei verfolgen Fluggesellschaften
heute ein professionelles technologiegesteuertes Preismanagement zur optimalen
Preis- und Kapazitätssteuerung. Treibende Technologien sind dabei Automatisierung
durch Algorithmen und leistungsstarke Kernelemente der Digitalisierung wie Künst-
liche Intelligenz und Big Data. Auf Konsumentenseite hat der Preis für einen Flug
in vielen Märkten eine herausragende Bedeutung bei der Kaufentscheidung. Die
daraus folgende Preissensibilität von Flugpassagieren gilt als hoch. Das dynamische
Preismanagement der Fluggesellschaft kann allerdings dazu führen, dass Reisende
im Verlauf des Kaufprozesses die Preissetzung als unfair wahrnehmen und negative
Kundenreaktionen daraus resultieren. Der Beitrag betrachtet daher die Entwicklung
und Bestandteile des dynamischen Pricings bei Fluggesellschaften unter besonderer
Berücksichtigung der technologischen Treiber und geht auf die Kundenwahrnehmung
des dynamischen Pricings in Bezug auf Preisfairness sowie Folgen für die Fluggesell-
schaften ein.

I. zur Oven-Krockhaus (*)


IU Internationale Hochschule, Hannover, Deutschland
E-Mail: [email protected]
C. Albers
TUI Group, Hannover, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 317
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_19
318 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

19.1 Einleitung

Fluggesellschaften verfolgen heute ein professionelles technologiegesteuertes Preis-


management zur optimalen Preis- und Kapazitätssteuerung (Herde, 2018, S. 15–17).
Treiber dieser dynamischen Entwicklungen finden sich in der weltweiten Deregulierung
und Liberalisierung des Luftverkehrs seit den 80er Jahren sowie in einem sehr intensiven
Wettbewerb. Auf Konsumentenseite hat der Preis für einen Flug in vielen Märkten eine
herausragende Bedeutung bei der Kaufentscheidung. Die daraus folgende Preissensibili-
tät von Flugpassagieren gilt als hoch (Conrady et al., 2019, S. 250). Fluggesellschaften
sind heute in der Lage aufgrund von zahlreichen historischen Daten aus Buchungen
sowie dem aktuellen Such-, Klick- und Userverhalten von Passagieren ein passgenaues
Angebot nach Nutzerstruktur für die jeweilige Reisesuche auszuspielen. Die verwendete
Technologie optimiert dabei, häufig auf Basis von Machine Learning, die Lösungs-
findung.
Was auf Unternehmensseite sinnvoll und legitim scheint, ist in der Nachfragerwahr-
nehmung und bei staatlichen Instanzen nicht immer nachvollziehbar. Konsumenten sind
konfrontiert mit sich ständig ändernden Ticketpreisen sowie einer Vielzahl von Werbe-
preisen (Friesen, 2020, S. 403). Das dynamische Pricing der Fluggesellschaften kann
daher dazu führen, dass Flugwillige im Verlauf des Kaufprozesses die Preissetzung als
unfair wahrnehmen und negative Kundenreaktionen daraus resultieren (ebd. S. 404).
Auch regulierende Instanzen betrachten diese Entwicklungen zunehmend kritisch, so
schritt das Bundeskartellamt zum Beispiel im Falle möglicherweise überhöhter Ticket-
preise der Lufthansa nach der Insolvenz von Air Berlin 2017 ein (Busse, 2017). Der
Beitrag betrachtet daher die technologischen Treiber der Entwicklung des dynamischen
Pricings vor allem in Bereichen der Automatisierung durch Algorithmen und leistungs-
starke Kerntechnologien der Digitalisierung wie Künstliche Intelligenz und Big Data.
Wie Flugpassagiere das hoch entwickelte dynamische Pricing der Fluggesellschaften
wahrnehmen und welche Folgen die Preisfairnesswahrnehmung haben kann, wird
darüber hinaus betrachtet.

19.2 Pricing-Prozess bei Fluggesellschaften

Eine wesentliche Aufgabe des Produktmanagements von Fluggesellschaften besteht


darin, Endpreise zu kalkulieren, die sich aus dem Einkaufs- bzw. Herstellungspreis und
einem Margenaufschlag zusammensetzen. Dabei wird die Bandbreite der Preise zuvor
im Rahmen der Preispolitik festgelegt. Grundlagen der Preisbildung (Pricing) sind zum
Beispiel die kostenorientierte Preisbildung (Cost-based Pricing), die nachfrageorientierte
Preisbildung (Value-based Pricing) oder die wettbewerbsorientierte Preisebildung
(Competition-based Pricing). Mischformen sind hierbei durchaus üblich (Conrady et al.,
2019, S. 350; Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 170). Ziel des Pricings ist die optimale
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 319

Produktpreisfindung, um Kapazitäten bestmöglich auszulasten und den Umsatz zu


steigern. Die konkrete Preisfestsetzung wird dabei durch eingegangene Reservierungen,
verfügbare Sitze und andere Kriterien bestimmt (Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 170–
172).
Bei der Preisbildung wendet die Flugbranche seit den 80er Jahren das sogenannte
„Dynamic Pricing“ an. Preise werden somit nicht nur einmal festgelegt, sondern in
Abhängigkeit von automatisch erfassten Daten variiert. Ändern sich diese Daten, ver-
ändert sich in „real time“ auch der gesetzte Preis (Conrady et al., 2019, S. 255). Die
Preise werden somit dem aktuellen Marktbedarf angepasst. Das strategische Ziel dieses
Prinzips ist es, eine Vielzahl von Kundensegmenten gemäß ihrer individuellen Zahlungs-
bereitschaft anzusprechen. Dabei spielt die Preiselastizität der Nachfrage eine zentrale
Rolle, um einen angemessenen und akzeptierten Preis zu finden (Pompl, 1996, S. 228).
Bei der Preisfindung werden verschiedene Variablen, zum Beispiel die Abflugzeit, die
Flugstrecke und die Aufenthaltsdauer, einbezogen und auf dieser Basis der Flugpreis
berechnet. Außerdem können so Wettbewerbspreise permanent automatisch überwacht
und nach Änderungen der verschiedenen Determinanten die eigenen Preise angepasst
werden (Conrady et al., 2019, S. 255). Um sich dem Prozess der Preisfindung unter
Berücksichtigung der Kundenwahrnehmung zu nähern, wird zunächst die Preiselastizität
der Nachfrage beim Flug-Pricing näher betrachtet.

19.2.1 Preiselastizität der Nachfrage beim Pricing-Prozess von


Fluggesellschaften

Der Einfluss des Preises auf die Absatzmenge lässt sich durch die Preiselastizität messen.
Eine Elastizität gibt im Allgemeinen das Verhältnis der prozentualen Änderung einer
Variablen zu der sie verursachenden prozentualen Änderung einer anderen Variablen
an (Simon & Fassnacht, 2016, S. 108). Die Elastizität ist dabei dimensionslos. Bei der
Preisbestimmung ist die Preiselastizität der Nachfrage eine wichtige Determinante, die
definiert wird als relative Mengenänderung im Verhältnis zur relativen Preisänderung.
Der preispolitische Handlungsspielraum von Fluggesellschaften orientiert sich
somit auch an der Höhe der Preiselastizität der Nachfrage. Ist eine hohe Preiselastizi-
tät gegeben, kann eine Preissenkung zu einem überproportionalen Anstieg der Nach-
frage und entsprechender Umsatzsteigerung führen. Zu einem Umsatzrückgang
kommt es, wenn eine geringe Preiselastizität der Nachfrage vorherrscht und eine Preis-
senkung demnach zu einer unterproportionalen Erhöhung der Nachfrage führt (Simon
& Fassnacht, 2016, S. 121–124). Da Fluggesellschaften in der Regel mit einem Mehr-
Klassensystem agieren, können die Preiselastizitäten der unterschiedlichen Zielgruppen-
segmente (insbesondere Geschäftsreisende und Privatreisende) dazu führen, dass in der
Economy-Class Preise weiter reduziert, hingegen in der Business- und First-Class Preis-
steigerungen realisiert werden.
320 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

Auf die Preiselastizität der Nachfrage bei Flugprodukten wirken verschiedene Ein-
flussfaktoren, die wiederum abhängig von den Zielgruppensegmenten sind (Conrady
et al., 2019, S. 256):

• Reisemotiv: Liegt der Reise eine geschäftliche und damit fremdbestimmte


Motivation inne, ist die Preiselastizität in der Regel niedrig. Privat veranlasste
Reisen weisen demgegenüber eine höhere Preiselastizität auf. Allerdings hat die
Preissensibilität bei Geschäftsreisen deutlich zugenommen, zumal durch die voran-
geschrittene Digitalisierung deutlich mehr Geschäftsanlässe auf virtuelle Umsetzbar-
keit sowie aus Kosten- und Effizienzgesichtspunkten durch das Travelmanagement
der Unternehmen überprüft werden.
• Substitutionsprodukte: Eine hohe Preiselastizität der Nachfrage liegt vor, wenn
Nachfragern eine höhere Zahl von Substitutionsprodukten angeboten wird, z. B.
durch eine hohe Wettbewerbsintensität oder aufgrund von Umweltaspekten z. B.
in Form von Digitalisierungsalternativen zu Geschäftsreisen während der Corona-
Pandemie.
• Entscheidungsfreiheit der Reisenden: Günstigere Angebote werden von Reisenden
gesucht, wenn ein zeitlicher Entscheidungsspielraum vorliegt. Wenn der Reise-
zeitraum unflexibel ist, müssen und werden höhere Preise in Kauf genommen und
akzeptiert.
• Räumliche Entfernung des Reiseziels: Die Preiselastizität ist bei Kurzstrecken-
zielen höher als bei Langstreckenzielen, was auf eine größere Wettbewerbsintensität
innerhalb Europas zurückzuführen ist. Langstreckenflüge weisen eher eine geringere
Preiselastizität der Nachfrage auf, was mit dem besonderen Charakter und geringerer
Häufigkeit sowie mit weiteren Faktoren wie Bequemlichkeit, Sicherheit und Anlass
zu begründen ist (Conrady et al., 2019, S. 257).

Die unterschiedlichen Preisbereitschaften verschiedener Kundengruppen führen beim


Pricing-Prozess von Fluggesellschaften zu einer intensiven Preisdifferenzierung, die im
nächsten Kapitel genauer betrachtet wird.

19.2.2 Preisdifferenzierung im Luftverkehr

Preisdifferenzierung liegt vor, wenn eine Fluggesellschaft das gleiche Produkt zu unter-
schiedlichen Preisen anbietet mit dem Ziel, verschiedene Käufergruppen zu erreichen
und die Konsumentenrente abzuschöpfen. Unter Konsumentenrente wird die Differenz
zwischen Zahlungsbereitschaft des Nachfragers und dem Marktpreis verstanden. Eine
differenzierte Marktbearbeitung auf Basis von Marktsegmentierungen wird damit sicher-
gestellt (Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 171). Theoretisch kann so jedem Konsumenten
ein individuell auf ihn abgestimmter Preis angeboten werden. Im Luftverkehr ist eine
sehr ausgeprägte Preisdifferenzierung im Vergleich zu vielen anderen Branchen mög-
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 321

lich, da Tickets personalisiert und nicht übertragbar sind (Conrady et al., 2019, S. 258).
Bei der Preisfestsetzung wird unterschieden, ob es sich um eine langfristig orientierte,
strategische Entscheidung handelt (strategische Preispolitik) oder um eine kurzfristige,
nachfrageorientierte Preisanpassung (operative Preispolitik). Bei Letzterem erfolgt
die Anpassung der langfristigen Kalkulationsbasis an sich kurzfristig ergebende Para-
meter (geringe Nachfrage, Preissteigerungen, Wettbewerbsanpassung u. ä.) (Kolbeck &
Rauscher, 2020, S. 171).
Im Luftverkehr finden folgende Formen der Preisdifferenzierung Anwendung
(Conrady et al., 2019, S. 260; Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 172):

• Räumliche Preisdifferenzierung: Das gleiche Produkt wird an verschiedenen Ver-


kaufsorten zu unterschiedlichen Preisen angeboten. Der gleiche Sitzplatz auf einem
Flug kostet demnach unterschiedlich viel. So ist beispielsweise ein Flug München-
Mailand in Dublin preiswerter als in Peking. Diese Form der Preisdifferenzierung ist
allerdings innerhalb der EU nicht mehr zulässig. Eine weitere Form der räumlichen
Preisdifferenzierung liegt vor, wenn ein Flug je nach Abflughafen unterschiedlich viel
kostet, z. B. ein Flug nach New York ist von Hamburg aus teurer als von Frankfurt.
• Zeitliche Preisdifferenzierung: Die Produktpreise sind unterschiedlich ausgeprägt
nach Angebotszeiten (Haupt/-Nebensaison, Wochenmitte/Wochenendpreise). Hier-
bei werden zu nachfragestarken Zeiten (Zeitpunkt des Fluges) höhere Preise ver-
langt. Gerade im Geschäftsreiseverkehr sind die Preise in den Tagesrandzeiten höher,
da wie unter Preiselastizität beschrieben, diese Zielgruppe relativ preisunsensible
und mit hoher Kaufkraft ausgestattet ist. Die zeitliche Preisdifferenzierung gleicht
somit saisonale und tageszeitliche Schwankungen der Nachfrage aus. Eine weitere
Form der Preisdifferenzierung erfolgt nach dem Buchungszeitpunkt. Hierbei
erhalten Frühbucher einen vergünstigten Preis. Aber auch ein Ansteigen der Flug-
preise mit zunehmender zeitlicher Nähe zum Abflugzeitpunkt gehört zu diesen
Differenzierungsformen.
• Personelle Preisdifferenzierung: Unterschiedliche Kundengruppen zahlen aufgrund
von soziodemografischen Merkmalen verschiedene Preise (Kinderermäßigungen,
Jugend-, Schüler- und Studententarife, Tarife für behinderte Menschen, Militäran-
gehörige u. ä.). Welche Ermäßigungen und in welchem Umfang sie gewährt werden,
entscheiden die Fluggesellschaften autonom. Mit der personellen Preisdifferenzierung
verfolgen Fluggesellschaften vor allem das Ziel der Kundenbindung, indem z. B.
Studenten frühzeitig an das Produkt herangeführt und dadurch Präferenzen entwickelt
werden sollen.
• Mengenbezogene Preisdifferenzierung: Die Abnahmemenge vergünstigt den Preis
pro Einheit und es werden Mengenrabatte gewährt (Reisegruppen, Kontingentpreise).
Fluggesellschaften vereinbaren z. B. mit Unternehmen und Travel-Management-
Organisationen Rückvergütungen (Kickback-Abkommen oder Overriding
Commissions), die mit steigendendem Abnahme- oder Verkaufsvolumen festgelegte
oder progressive Rückvergütungen bzw. Provisionen avisieren. Zudem erhalten
322 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

Gruppen bei bestimmten Kontingentabnahmen Rabatte, so genannte Companion


Fares oder Gruppentarife.
• Preisbündelung: Bei der Preisbündelung werden verschiedene Leistungen, z. B.
Hotel und Flug zu einem Gesamtpreis angeboten, der in der Regel günstiger als die
Einzelbestandteile ist. Dieses preispolitische Instrument kommt vorrangig im Charter-
flugbereich zur Anwendung, um auch weniger leicht verkäufliche Einzelbausteine im
Paket preislich attraktiv zu gestalten.
• Absatzkanalspezifische Preisdifferenzierung: Je nach Vertriebskanal können Flug-
preise differenzieren, z. B. günstigere Tickets über das Internet (sogenannte „Web
Fares“). Wenn auf das Serviceentgelt im Falle von Internetbuchungen verzichtet wird,
handelt es sich ebenfalls um eine Preisdifferenzierung nach Absatzkanälen.

Obwohl Preisdifferenzierung eine differenzierte Marktbearbeitung ermöglicht, ergeben


sich natürlich auch Herausforderungen. Vor allem die Verlagerung von hochpreisiger
Nachfrage in Niedrigpreissegmente gilt es zu vermeiden. Dazu werden Barrieren
(Fences) in Form von Preisgrenzen durch die Fluggesellschaften geschaffen (z. B.
Stornogebühren für niedrige Tarife, Sondertarife für Vielflieger). Aufgrund der Viel-
zahl und nahezu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten von Flugprodukten durch
diese unterschiedlichen Parameter, ist die Preissetzung des Produktmanagements sehr
komplex geworden und bedarf einer gezielten Steuerung. Ein Pricing, das pro Strecke
und Flug von einem Menschen erfolgt, ist nur bedingt und üblicherweise auch nicht in
der gewünschten Detaillierung möglich. Wesentliche Analysen und Entscheidungen
sind hochautomatisiert und durch mathematisch-statistische Algorithmen unterstützt.
Um dieser Komplexität gerecht zu werden, sind der Pricing-Prozess und das Revenue-
Management eng miteinander verzahnt.

19.2.3 Revenue-Management bei Fluggesellschaften

Das Revenue-Management bei Fluggesellschaften (häufig auch als Yield-Management


oder Ertragsmanagement bezeichnet) hat die Aufgabe eine zeitlich und räumlich
unsicher verteilt eintreffende Nachfrage unterschiedlicher Wertigkeit so auf eine
fixe Beförderungskapazität zu verteilen, dass der Gesamtertrag des Unternehmens
maximiert wird (Conrady et al., 2019, S. 263–265). Aufgrund der genannten Komplexi-
tät bedient sich das Revenue-Management dazu einer Reihe von quantitativen
Methoden einer dynamischen Preis- und Mengensteuerung. Sowohl bei einer hohen
Nachfrage als auch bei einer niedrigen Nachfrage nach Flugkapazitäten ist die Frage
zu beantworten, zu welchem Zeitpunkt ein niedrigerer Preis angeboten wird, wenn die
Wahrscheinlichkeit besteht, dass zu einem anderen Zeitpunkt der Sitzplatz wahrschein-
lich zu einem höheren Preis verkauft werden kann (Pompl, 1996, S. 264). Das bedeutet,
dass sich die Preise je nach freien Kapazitäten und Buchungszeitpunkt verändern
(Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 171).
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 323

Revenue-Management hat sich in den frühen 1960er Jahren zunächst aus einer Über-
buchungsstrategie entwickelt. Dabei wurden mehr Sitzplätze am Markt angeboten als
eigentlich vorhanden waren. 1978 fand eine weitreichende Deregulierung des Luftver-
kehrs in den USA statt. Neu entstandene Low-Cost-Airlines boten wesentlich günstigere
Preise an, die die etablierten Airlines mit höheren Kostenstrukturen nicht anbieten
konnten. Erste Revenue-Management-Systeme entwickelten sich am Markt, um Preise
und Kapazitäten ertragsreicher steuern zu können. Federführend zeichnete sich hier-
bei American Airlines aus, die 1980 das erste System mit kapazitätskontrollierten
Discounted Fares einführten. In den 1990er Jahren etablierten sich dann Systeme, die
E-Commerce, Distribution Control, Lifetime Customer Value Issues sowie Pricing und
Revenue-Optimierung integrierten wie beispielsweise Talus oder ProfitLogic (Conrady
et al., 2019, S. 267–368). Heute kann keine Airline mehr ohne Revenue-Management
agieren und es haben sich hochkomplexe Systeme entwickelt.
Neben der unter Punkt 5.2 dargestellten Preisdifferenzierung beinhalten Revenue-
Management-Systeme Elemente zur Nachfragelenkung im Zeitverlauf, Management
von Überbuchungen, Bildung und Steuerung von Buchungsklassen. Auch das
sogenannte Nesting (Buchungsklassenschachtelung) ist ein Teilbereich des Revenue-
Managements. Hierbei haben höhere Buchungsklassen Zugriff auf vorhandene Kapazi-
täten der niedrigeren Buchungsklasse, allerdings nicht umgekehrt (Conrady et al., 2019,
S. 368–379). Die Buchungsklassen werden darüber hinaus verkehrsstrombezogen
(Reisende einer Buchungsklasse können unterschiedliche Ertragswerte je nach Reise-
weg-, Abflugs- und Ankunftsflughafen aufweisen) und verkaufsursprungsbezogen (nach
Ertragswertigkeit des Verkaufsortes kann die Verfügbarkeit in einer Klasse variieren)
gesteuert. Prognosemodelle zum Management des Nachfrage- und No-Show-Ver-
haltens sowie der Abschätzung des Marktpotenzials sind weitere Standardelemente eines
Revenue-Management-Systems. Die hohe Komplexität der Prozesse kann nur mithilfe
von IT-Systemen gemanagt werden, und somit sind auch die Treiber in diesem Bereich
essenziell bei der dynamischen Pricing-Entwicklung (ebd. S. 267–280).

19.3 Technologische Treiber der dynamischen Pricing-


Entwicklungen bei Fluggesellschaften

Wie dargestellt wurde, hat das Pricing von Flugleistungen einen tiefgreifenden Wandel
durchlaufen. Dabei ist diese dynamische Entwicklung nicht nur durch die Fluggesell-
schaften oder Kundenbedürfnisse getrieben, sondern wurde im Wesentlichen auch durch
den technologischen Fortschritt in den Bereichen Algorithmen sowie Automatisierung
ermöglicht.
Zur Darstellung dieses Zusammenhangs werden nachfolgend einerseits die techno-
logischen Treiber aus dem Bereich der Algorithmen bei der Preisbildung vorgestellt und
basierend auf diesen Erkenntnissen die Automatisierung als weitere Dimension in der
Preisgestaltung erörtert.
324 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

19.3.1 Klassische Algorithmen zur Preisbildung von Flugprodukten

Betrachtet man die Entwicklung der technologischen Unterstützung zur Preisbildung


bei Flugprodukten, so liegt der Startpunkt dieses Zeitstrahls bei einer manuellen, nicht
computer-unterstützten Berechnung von Produktpreisen. Vereinfacht gesagt wurden die
Preise manuell unter Zuhilfenahme von mathematischen Modellen und Formeln fest-
gelegt. In der Unternehmenspraxis würde dies beispielsweise bedeuten, dass Produkt-
bzw. Revenue-Manager Verkaufspreise berechnen und diese an den Vertrieb bzw. die
Absatzplanung übergeben. Der limitierende Faktor in diesem Szenario ist primär der
Mensch mit begrenzter Arbeitsleistung.
Durch den zunehmenden Einsatz von Computern entstand die Möglichkeit, Preise
per deterministischer und probabilistischer Algorithmen zu berechnen. Als Algorith-
mus wird die „Spezifikation einer […] Prozedur“ verstanden, welche auf einem
abstrakten Niveau dargestellt wird (Güting & Dieker, 2018, S. 2). Zwei Kernmerkmale
von Algorithmen sind deren Determiniertheit und Determinismus. Die Determiniert-
heit meint eine unmittelbare und direkte Abhängigkeit von Eingabe- zu Ausgabewerten.
Unter dem Begriff Determinismus wiederum ist die Eindeutigkeit des Ablaufs innerhalb
eines Algorithmus zu verstehen (Sander & Stucky, 1993, S. 64). Auf die Preisbildung bei
Flugprodukten übertragen beschreibt ein Pricing-Algorithmus einen festen Berechnungs-
ablauf, an welchen eine Vielzahl an Eingabewerte wie Anzahl der Passagiere, Abflug-
hafen und -datum, Zielflughafen uvm. übergeben werden. Basierend auf diesen Werten
werden dann in einem fest definierten Ablauf, d. h. einem Algorithmus, welcher sich
durch Determiniertheit und Determinismus auszeichnet, die Verkaufspreise oder die
Margen kalkuliert. Bei deterministischen Algorithmen führen gleiche Eingabeparameter
zu stets identischen Ausgaben.
Probabilistische Algorithmen, welche auch als randomisierter oder stochastischer
Algorithmus betitelt werden, brechen dieses direkte Verhältnis von Eingabeparametern
und Ausgabewert auf. Dazu werden die Algorithmen um zufällige Werte erweitert,
sodass ein wiederholtes Durchlaufen des Algorithmus mit gleichen Eingabeparametern
zu unterschiedlichen Ausgabewerten führt (Knebl, 2019, S. 56). Bezogen auf das oben
aufgeführte Beispiel zur Berechnung eines Verkaufspreises bzw. einer Marge für eine
Flugleistung werden auch den probabilistischen Algorithmen eine Menge an flug-spezi-
fischen Parametern übergeben. Durch zufällige Werte werden diese Eingabeparameter
jedoch bei jeder Ausführung anders gewichtet bzw. Zufallswerte hinzugefügt bzw.
abgezogen, was zu einer unterschiedlichen Ausgabe auch bei gleichen Eingabepara-
metern führt. Insbesondere bei Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI), auf welche
nachfolgend näher eingegangen wird, sind derartige Algorithmen von Bedeutung.
Algorithmen ermöglichen es, die zuvor beschriebene Limitierung der mensch-
lichen Arbeitskraft aufzubrechen und identische, wiederkehrende Tätigkeiten wie die
Berechnung von Flugleistungen schneller auch bei höherer Komplexität und höherem
Volumen zu realisieren. Neue Technologien wie Künstliche Intelligenz und Big Data
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 325

eröffnen zudem das Ausnutzen weiterer Potenziale im Zusammenhang mit der Preis-
bildung bei Flugprodukten, wie nachfolgend detaillierter dargestellt wird.

19.3.2 Einfluss von Künstlicher Intelligenz und Big Data bei der
Preisbildung von Flugprodukten

Künstliche Intelligenz und Big Data sind zwei leistungsstarke Kerntechnologien der
Digitalisierung. KI umfasst dabei Verfahren, welche kognitive Aufgaben- und Problem-
stellungen bearbeiten, die in einem Zusammenhang mit dem menschlichen Verstand
stehen. Hierunter fallen beispielsweise die Bereiche selbstständiges Lernen, eigen-
ständige Kompetenz zur Problemlösungsentwicklung sowie das Themenfeld der Wahr-
nehmung (Kreutzer & Sirrenberg, 2019, S. 3).
In Bezug auf die Preiskalkulation existieren beispielsweise so genannte Price
Intelligence Tools, welche die Produktpreise unter Zuhilfenahme von Machine-Learning-
Verfahren, welche technologisch der KI zuzuordnen sind, kalkulieren. Durch die Ver-
wendung von internen (bspw. Kundendaten) wie auch externen Daten (bspw. Wetter- und
Verkehrsdaten) berechnen diese Tools vollautomatisch Produktpreise (Rainsberger, 2021,
S. 53). Im konkreten Bezug auf die Preisbildung bei Flugprodukten sind vornehmlich
zwei Anwendungsgebiete von zentraler Bedeutung:

1. Dynamische Preisbildung: Durch die Verwendung von Parametern z. B. Kundenver-


halten (ausgedrückt durch Suchanfragen), sind Machine-Learning-Algorithmen in der
Lage, Produktpreise in Echtzeit zu kalkulieren. Dieser errechnete Preis steht dabei in
einer Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage, dem Ziel der Gewinnmaximierung
oder der Auslastungsoptimierung von Flugzeugen, sowie dem aktuellen Zeitpunkt der
Preiskalkulation. Dynamische Preise sind daher üblicherweise auch nur kurzzeitig
gültig, da sich die Rahmenbedingungen rasch ändern können.
2. Preisbildung aus Wettbewerbsdaten: KI-Algorithmen erfassen und überwachen
beispielsweise die Preise und das Angebot der Wettbewerber und stellen diese
Informationen den eigenen Verfahren der Preiskalkulation zur Verfügung. Diese
Systeme analysieren die Flugkapazitäten sowie Preise des Wettbewerbs und erkennen
bzw. berücksichtigen Abverkaufs- und Rabattaktionen (Rainsberger, 2021, S. 53–54).

Aufbauen auf diesen externen Daten wird der eigene Preisalgorithmus aktiv und kann
die eigenen Produktpreise auf Grundlage von Zielvorgaben anpassen.
Solche auf KI basierende Algorithmen zur Produktpreisberechnung sind in vielen
Unternehmen unterschiedlicher Branchen bereits seit Jahren etablierte Praxis: Die Auto-
vermietung Sixt bezieht bei jeder Anfrage kundenindividuelle Parameter wie die der-
zeitige Nachfrage aber auch den Standort des Gastes sowie das aktuelle Wetter mit ein
(Manager Magazin, 2019) und der Handelskonzern OTTO nutzt eine KI, um dynamische
326 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

Preise in unterschiedlichen Kundensegmenten zu realisieren (Institut für Handels-


forschung Köln, 2019).
Wie gezeigt wurde, steht die Ergebnisqualität von Algorithmen oder KI-Verfahren in
einem Verhältnis zu der Qualität der Eingabeparameter. Fehlen notwendige Daten oder
mangelt es an der Qualität dieser, so kann dies auch zu mangelhaften Ergebnissen des
Algorithmus führen. Besonders von Bedeutung für die Qualität der Daten ist die Voll-
ständigkeit, Korrektheit sowie der Zusammenhang zwischen den Daten. Dafür bedarf es
einer ausreichenden Menge an beispielsweise Buchungsdaten, Kundendaten oder dem
Kundenverhalten auf der Buchungsplattform. Big Data hat das Potenzial, diese Kluft zu
überwinden. Unter dem Begriff Big Data ist eine Ansammlung von Daten zu verstehen,
welche sich durch Merkmale wie einem hohen Volumen, heterogenen Strukturen und
einer hohen Änderungsgeschwindigkeit auszeichnen. Unter Anwendung von Methoden
wie KI-Algorithmen können aus diesen Daten Unternehmenswerte, z. B. Prognosen zu
Preisen und Auslastung, generiert werden (De Mauro et al., 2016).
Das gemeinsame Wirken von KI und Big Data im Zusammenhang mit der Preis-
kalkulation von Flugprodukten ist insbesondere deshalb bedeutsam, da die zuvor
beschriebenen Algorithmen nur mit einer großen Menge interner und externer Daten zu
sinnhaften Ergebnissen gelangen können. Big Data übernimmt insbesondere die Auf-
gaben der Erfassung, Erweiterung und Verwaltung der Datenmenge, während KI ent-
sprechende Algorithmen zur Preisberechnung ermöglicht.
Damit (KI-)Verfahren nicht nur in der Lage sind, komplexe Aufgaben zu bearbeiten,
sondern die Ergebnisse, d. h. die Produktpreise, hochgradig automatisch in die Vertriebs-
kanäle übergeben werden, bedarf es neben dem Verfahren selbst, ebenso einer Auto-
matisierung dieser. Welchen Mehrwert die Automatisierung hier birgt, wird nachfolgend
dargestellt.

19.3.3 Automatisierung von Prozessen der Preiskalkulation

Einerseits sind es die Potenziale der unterschiedlichen Algorithmen an sich, welche die
hohe Dynamik und Qualität der Preiskalkulation für Flugprodukte begünstigen. Anderer-
seits ist es aber auch die Automatisierung von Kalkulationsprozessen, welche ein hoch-
gradig dynamisches, markt- und unternehmensgerechtes Pricing unterstützt.
Die Prozessautomatisierung meint die Durchführung von definierten Abläufen
üblicherweise ohne menschlichen Eingriff (DIN IEC 60050-351:2014-09, o. J.). Dabei
wird in Abhängigkeit vom Umfang der (Teil-)Durchführung von Arbeitsschritten
zwischen einer manuellen Tätigkeit, Teil- und Vollautomatisierung unterschieden.
Findet keinerlei Automatisierung statt, so wird von einem Automatisierungsgrad von
0 % gesprochen, d. h. einem ausschließlich manuellen Prozess. Bei einer vollständigen
Abarbeitung aller Prozessschritte durch einen Algorithmus ohne jeglichen mensch-
lichen Eingriff, beträgt der Automatisierungsgrad 100 % und es wird von einer Voll-
automatisierung gesprochen. Dabei bedeutet ein Automatisierungsgrad von 100 % nicht
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 327

zwangsläufig, dass kein menschlicher Eingriff möglich ist. Insbesondere in Ausnahme-


situation wie bei Störungen oder unbekannten Sondersituationen kann es notwendig sein,
dass manuell in den Prozess eingegriffen wird (Lauber & Göhner, 1989, S. 14–19). Teil-
automatisierte Prozesse bzw. die dazugehörigen Systeme nehmen häufig die Rolle eines
digitalen Assistenten ein, welcher Vorschläge kalkuliert, die wiederum durch eine reale
Person geprüft, freigegeben oder auch korrigiert werden (Koch & Fedtke, 2020, S. 114).
Auf das Pricing von Flugprodukten angewendet, kann ein Automatisierungs-
grad von 0 als eine rein manuelle Kalkulation der Produktpreise durch beispielsweise
einen Produkt- oder Revenue-Manager verstanden werden. Das kann insbesondere bei
besonderen Aktionen wie Lockangeboten oder Preistests auf neuen Strecken der Fall
sein, wenn ein sonst automatischer Algorithmus manuell überschrieben wird. Bei einer
Vollautomatisierung wiederum, d. h. einem Automatisierungsgrad von 100 % wird ein
Pricing-Prozess beschrieben, welcher im Normalbetrieb ohne jegliches menschliche
Zutun abläuft. Die Preise werden vollständig kalkuliert und an die Vertriebsoberfläche
bzw. die Inventorysysteme, d. h. Systeme zum Bestandsmanagement von in diesem Fall
Flugkapazitäten, übergeben. Eine Teilautomatisierung in diesem Kontext meint, dass
sowohl manuelle wie auch vollautomatisierte Verfahren parallel verwendet werden.
Dieses kann in der Unternehmenspraxis vornehmlich zwei Ausprägungen annehmen.
Zum einen kann ein Algorithmus Preise kalkulieren und diese dann als Empfehlung
präsentieren, welche durch z. B. einen Produktmanager bestätigt oder korrigiert werden
können. Zum anderen sind Szenarien denkbar, wo ein Algorithmus bestimmte Preise
z. B. für Standardprodukte vollautomatisiert kalkuliert, andere Produkte hingegen teil-
automatisiert oder manuell berechnet werden. Auch aus zeitlicher Perspektive betrachtet
kann es sinnvoll sein, zunächst ein manuelles Pricing einer Vollautomatisierung vorzu-
ziehen, beispielsweise beim Vertrieb über neue Kanäle, um hier zunächst Erfahrungen zu
sammeln.
Es sollte jedoch nicht unterstellt werden, dass eine Vollautomatisierung unein-
geschränkt als Zielbild herhalten kann. Vollautomatisierte Algorithmen haben das
Potenzial, beispielsweise Personalkosten zu reduzieren und eine schnellere Kalkulation
zu ermöglich. Es entstehen auf der anderen Seite jedoch auch Risiken durch u. a. Fehl-
berechnungen oder auch Akzeptanzprobleme durch die Nachfrager. Auf diesen letzten
Punkt wird im nachfolgenden Kapitel näher eingegangen, um aufzuzeigen, wie Kunden
die Preisfairness von Fluggesellschaften wahrnehmen und welche Folgen sich daraus für
Fluggesellschaften ergeben können.

19.4 Kundenwahrnehmung der Preisfairness von


Fluggesellschaften

Wie in den vorherigen Kapiteln dargestellt, variieren die Preise der Fluggesellschaften
systematisch durch zunehmend automatisierte und dynamische Prozesse des Revenue-
Managements zwischen verschiedenen Konsumzeiten oder Leistungsniveaus und ins-
328 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

besondere nach dem Zeitpunkt der Buchung, die bei Flugprodukten oft weit vor dem
Konsum stattfindet (Pompl, 2002). Eine klare und eindeutige Preisbotschaft („der Flug
kostet … EUR“) ist bei einem Dynamic Pricing und ausgefeiltem Erlösmanagement
nicht mehr möglich. So können die Preise für einen innereuropäischen Flug mit einer
Low-Cost-Airline zwischen unter 10 EUR und mehreren hundert EUR je nach Aus-
lastung und Nachfrage variieren (Kalka & Krämer, 2020, S. 481). Wie die Preisfairness –
das heißt die subjektive Beurteilung des Preises eines Angebots als richtig, gerecht oder
legitim (Leinsle, 2017, S. 9) – dabei von Nachfragenden wahrgenommen wird, ist im
Dienstleistungssektor im Gegensatz zur Konsumgüterindustrie wenig untersucht (Hom-
burg und Koschate, ).
Die vom Reisenden wahrgenommene Preisfairness beinhaltet eine Abwägung
der wahrgenommenen Kosten und des wahrgenommenen Nutzens bzw. des wahr-
genommenen Verlustes/Opfers. Obwohl das Preis-Leistungs-Verhältnis und die Preis-
fairness beide Preisbeurteilungen darstellen und eine Kosten-Nutzen-Abwägung
implizieren, bezieht sich der zentrale Unterschied zwischen beiden Konstrukten auf die
Einbeziehung sozialer Normen und Standards in das Preisfairnessurteil (Leinsle, 2017,
S. 11). Sie beinhaltet daher einen Vergleich eines Preises oder Prozesses mit einem
relevanten Standard, einer Referenz oder einer Norm. In Austauschbeziehungen ent-
stehen Fairnesswahrnehmungen, wenn eine Person ein Produkt und das damit wahr-
genommene Kosten-Nutzen-Verhältnis mit einem anderen vergleicht. Demnach wird
der Preis eines Produktes als fair bewertet, wenn das wahrgenommene Kosten-Nutzen-
Verhältnis eines Produkts mindestens dem einer vergleichbaren Referenztransaktion
entspricht (Ziehe und Schüren-Hineklmann, 2020, S. 295). Neben dieser kognitiven
Perspektive des ökonomischen Abwägens des Nutzens und der Kosten werden beim
Preisfairnessurteil der Reisenden auch weitere Informationen berücksichtigt (Leinsle,
2017, S. 12):

1. die Einhaltung allgemein akzeptierter Fairnessnormen


2. die Verfahren und Prozesse, die zur Preissetzung führen sowie
3. das Vertrauen in Austauschbeziehungen mit dem Unternehmen

So kann ein ökonomisch akzeptabler Preis (ein angemessenes Preis-Leistungs-Verhält-


nis) sozial inakzeptabel sein und somit als unfair wahrgenommen werden. Es besteht
daher für Fluggesellschaften das Risiko, dass die Preisgestaltung vom Reisenden als
unfair empfunden wird (ebd. S. 12).

19.4.1 Negative Reaktionen durch unfair wahrgenommene


Preisgestaltung

Nachgewiesener Maßen ist der Preis eines Fluges einer der wichtigsten Entscheidungs-
kriterien für Reisende im Kaufzyklus (Bieger et al., 2002; Pompl, 2002; Friesen, 2008).
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 329

Auf Grundlage bisheriger Erkenntnisse kann eine als unfair wahrgenommene Preis-
gestaltung zu folgenden negativen Verbraucherreaktionen führen:

• Forderung nach finanziellem Ausgleich, z. B. in Form von Rückzahlungen (Xia et al.,


2004),
• Suche nach Produktalternativen, z. B. durch Wahl eines anderen Datums, Flugzeit
oder Flugziel (Okun, 1981; Kaufmann et al., 1991),
• Wechsel zu einem anderen Anbieter mit gleichem oder ähnlichem Produktspektrum,
• Verbreitung negativer Mundpropaganda in Form von negativen Bewertungen oder
Posts in Social Media (Kahneman et al., 1986a; Campbell, 1999).

Folglich ist die wahrgenommene Preisfairness ein äußerst relevantes Marketingthema


für Fluggesellschaften und beeinflusst nachweislich die Bereitschaft zum Kauf. Darüber
hinaus hat sie Einfluss auf die Kundenzufriedenheit sowie Loyalität und damit die lang-
fristige Rentabilität (Friesen, 2020 S. 403–404). Bezogen auf die Preisgestaltung von
Fluggesellschaften konnte Friesen (2020) in seiner Studie zur Kundenwahrnehmung der
Preisfairness durch ein szenariobasiertes Experiment mit 459 Airline-Passagieren ent-
lang des Kaufprozesses nachweisen, dass sich die Wahrnehmung der Preisfairness signi-
fikant verändern kann, wenn Reisende unterschiedlichen, sich verändernden externen
Referenzpreisen im Kaufprozess ausgesetzt sind. Externe Referenzpreise waren hierbei
der aktuelle Verkaufspreis, von Freunden und Verwandten gezahlte Preis, Werbepreise
und von Mitkonsumenten gezahlte Preise. Während die Einführung eines oder mehrerer
höherer Angebotspreise im Verlauf des Kaufzyklus die Wahrnehmung der Preisfair-
ness erhöht, führen Preissenkungen zu einer geringeren Preisfairness-Wahrnehmung
(Friesen, 2020, S. 414). Konsumenten beurteilen demnach einen nach dem eigenen Kauf
eingeführten niedrigeren Preis als unfairer als den Gewinn bei einem späteren Kauf in
den möglichen Genuss eines günstigeren Tickets zu kommen (vgl. „Prospect Theory“
von Kahnemann und Tversky in Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019, S. 28). Daher
scheint die Preisgestaltung mehrerer Billigfluggesellschaften, die die Preise im Zeitver-
lauf schrittweise anheben für die Verbraucher fairer zu sein als die Einführung gelegent-
licher Preispromotions. Das Frühbucherprinzip mit schrittweiser Anhebung der Preise
zum Abflugsdatum gibt jedem Reisenden die gleiche Chance, zu einem niedrigen Preis
zu kaufen (Calder, 2002; Talluri & Van Ryzin, 2004).
Dynamische Preisgestaltungspraktiken des Revenue-Managements sind unerlässlich
für die Optimierung von Einnahmen und zur Kapazitätssteuerung (Talluri & Van Ryzin,
2004). Allerdings zeigt die Friesen-Studie, dass externe Preisanreize entlang des Kauf-
zyklus eine ebenso wichtige Rolle für Dienstleistungsanbieter wie Fluggesellschaften
spielen. Vor diesem Hintergrund sollten Fluggesellschaften die maximale automatische
und dynamische Variation von Preisen und Werbeaktionen in der eigenen Preispolitik
auch immer als Risiko betrachten, als unfair wahrgenommen zu werden, mit negativen
Folgen in Bezug auf Kundenloyalität, -zufriedenheit und wahrgenommene Preisfairness
(Friesen, 2020, S. 403).
330 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

19.4.2 Preisfairness als Gestaltungselement des Pricing-Prozesses


bei Fluggesellschaften

Um das Ertragspotenzial besser nutzen zu können, sollten Fluggesellschaften Über-


legungen zur Preisfairness in die Gestaltung ihrer variablen Preissysteme einbeziehen.
Ergebnisse der Friesen-Studie (2020, S. 415) legen nahe, dass die Preisgestaltung für
Marktsegmente und unterschiedliche Zielgruppen auch auf der Preiselastizität dieser
Gruppen basieren sollte, anstatt nur den Reservierungspreis oder die Zahlungsbereit-
schaft. Folgende Preisfairnesselemente können zudem zu einer transparenten Preis-
kommunikation und fairen Preissetzung bei Fluggesellschaften beitragen:

• Preissetzung für bestimmte Kundensegmente: Werbepreise und Rabatte können


für bestimmte Kundensegmente oder Zeiträume das Ertragspotenzial heben (z. B.
Wochenend-Specials nur für Studenten oder individualisierte Rabatte) (Friesen,
2008).
• Preisgrenzen: Weitere Ansätze zur Verringerung subjektiv wahrgenommener
Unfairness bei der variablen Preisgestaltung könnten Preisgrenzen (Fences – siehe
Abschn. 5.2), die Preisgestaltung und die Preiskommunikation sein. Die Festlegung
wirksamer Preisgrenzen (z. B. Stornogebühren für niedrige Tarife, Sondertarife für
Vielflieger) helfen Preisunterschiede zwischen Reisenden zu rechtfertigen und Hilfe-
stellung für Reisende bei der Selbstselektion entsprechend der jeweiligen Zahlungs-
bereitschaft zu geben (Kimes & Wirtz, 2002).
• Framing von Preisanreizen: Darüber hinaus kann das Framing von Preisanreizen
(bewusst gesteuerter Prozess der Einbettung in Deutungsraster, anhand konstruierter
Narrative bzw. Erzählmuster) dazu beitragen, das Gefühl der Unfairness bei den Ver-
brauchern zu vermeiden (Friesen, 2020, S. 416).
• Transparente Kommunikation zur Preisfindung: Im Fall von Preiserhöhungen
schlägt die Literatur vor, die Ursachen transparent zu kommunizieren, z. B. externe
Faktoren wie ein unerwarteter Energiekostenanstieg (Vaidyanathan & Aggarwal,
2003). Es ist im Rahmen der transparenten Kundenkommunikation ebenso wichtig,
den Verbrauchern die Gründe für ein Preisverfahren oder Preisunterschiede zu
erläutern und Preiserhöhungen entsprechend zu kommunizieren (Friesen, 2020,
S. 414–416).

Abb. 19.1 stellt noch einmal die Treiber des dynamisches Pricings sowohl auf Anbieter-
als auch auf Nachfragerseite sowie Preisfairnesselemente zur Gestaltung des Pricing-
prozesses dar.
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 331

Abb. 19.1 Treiber des dynamischen Pricings. (Quelle: eigene Darstellung)

19.5 Fazit

In diesem Artikel wurde die Entwicklung der dynamischen Preisgestaltung bei Flug-
gesellschaft aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen wurden die technologischen
Treiber dieses Prozesses, insbesondere die Automatisierung, Künstliche Intelligenz
sowie Big Data, hinsichtlich des Potenzials für die Preisgestaltung dargestellt. Zum
anderen wurde untersucht, inwieweit die durch Technologie ermöglichte Dynamik der
Preise in der Kundenwahrnehmung als fair bzw. transparent aufgefasst werden.
Als Ergebnis dieser Untersuchung kann konstatiert werden, dass Schlüsseltechno-
logien der Digitalisierung wie KI und Big Data im Zusammenspiel mit der Auto-
332 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

matisierung dieser Verfahren immenses Potenzial bieten, die Dynamisierung der


Preisgestaltung zu realisieren. Gleichzeitig sollte die Preisfairness als ein äußert
relevantes Marketingthema verstanden werden. Denn auch ein korrekt kalkulierter
und ökonomisch akzeptabler Preis kann sozial inakzeptabel sein und als unfair
wahrgenommen werden. Für eine als fair wahrgenommene Preissetzung bei Flug-
gesellschaften tragen unter anderem kundensegment-bezogene Preise, festgelegte
Preisgrenzen, Framing von Preisanreizen sowie eine transparente Kommunikation der
Preisfindung bei.
Technologie und Kundenwahrnehmung bei der Preisberechnung von Fluggesell-
schaften sollten nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern in den ganz-
heitlichen Rahmen der Preiskalkulation eingeordnet werden, in welchem sowohl
technologische wie auch wahrnehmungsbezogene Kriterien Berücksichtigung finden.

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334 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers

Ina zur Oven-Krockhaus ist Studiengangsleiterin und Professorin für Tourismusmanagement


an der IU Internationale Hochschule – Duales Studium. Sie verfügt als Diplombetriebswirtin und
promovierte Kommunikationswissenschaftlerin sowie durch eine 18-jährige Berufstätigkeit im
weltweit führenden Tourismuskonzern TUI über ein sehr umfangreiches Fachwissen im Bereich
der Tourismuswirtschaft. Als Direktorin Marketing TUI Cruises sowie Direktorin Marketing und
Kommunikation TUI Business Travel und Leiterin Unternehmenskommunikation TUI AG ent-
wickelte sie z.B. das TUI Logo „Smile“ mit und zeichnete für die internationale Einführung ver-
antwortlich. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit
Digitalisierung sowie Kommunikation und Marketing von touristischen Unternehmen.

Christoph Albers ist für die TUI AG als Head of Delivery Central Region tätig und verantwortet
u.a. in dieser Position das IT-Projektportfolio von TUI Deutschland, Österreich, Polen und der
Schweiz. Er studierte Wirtschaftsinformatik und Business Administration und ist seit 2013 in der
Tourismusbranche für namenhafte Online-Travel-Agencies sowie seit 2015 in unterschiedlichen
leitenden Funktionen bei der TUI AG beschäftigt. Darüber hinaus ist er Autor von Fachartikeln
zu den Themen IT-Management, agile und digitale Transformation sowie IT-Projektmanagement.
Zusätzlich engagiert er sich als Dozent zu den Themen Digitalisierung und Tourismus.
Paid-Content-Strategien im
Verlagswesen – eine vergleichende 20
Analyse führender Zeitungen aus den
USA und Deutschland

Matthias Zeisberg und Nele Hansen

Zusammenfassung

Die digitale Revolution hat längst die Medienbranche und mit ihr die Zeitungsverlage
erfasst. Während die Branche zunächst– in der Hoffnung auf gute Werbeeinnahmen
durch eine hohe Reichweite– die Inhalte der eigenen Website kostenlos angeboten
hat, stellt sich heutzutage die Frage, welches Bezahlmodell die jeweils geeignete
Variante ist. Mit der harten Bezahlschranke (Hard Paywall), dem Freemium- und
Metered-Modell, Dynamischen Paywalls, sowie mit Hybrid- und Spendenmodellen
stehen Alternativen zur Verfügung, die sich teilweise sehr deutlich voneinander
unterscheiden. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, inwieweit sich die Paid-
Content-Modelle der führenden Zeitungen aus den USA und Deutschland von-
einander unterscheiden bzw. welches Modell sich aktuell durchzusetzen scheint. Ziel
des Artikels ist es, anhand der Analyse Medienschaffenden und Unternehmen einen
Überblick bestehender Geschäftsmodelle zu bieten, die aktuell die Medienlandschaft
dominieren.

M. Zeisberg (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
N. Hansen
IU Internationale Hochschule, Münster, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 335
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_20
336 M. Zeisberg und N. Hansen

20.1 Einleitung

The New York Times, The Wall Street Journal, die Bild oder die Ostsee-Zeitung − so
unterschiedlich in ihrem Anspruch, so vereint doch in der Notwendigkeit, eine Antwort
auf den gravierenden Wandel der Digitalisierung zu finden (vgl. Czerny, 2017). Dies
betrifft in besonderer Weise das traditionelle Erlösmodell als bewährtes Mischmodell
aus Verkaufserlösen (Einzel- und Aboverkäufe) und Werbeeinnahmen (Anzeigen und
Beilagen). Dieses erlebt einen anhaltend dramatisch-revolutionären Wandel. Dieser
wird nicht zuletzt von dem weitgehenden Verlust des wichtigen Rubrikengeschäfts
(u. a. Stellen-, Auto-, Immobilien- und Bekanntschaftsanzeigen) und nachhaltigen Ver-
änderungen im Leseverhalten getrieben: Bis zur Jahrtausendwende wurden als Faust-
regel noch zwei Drittel der Einnahmen durch Werbung erzielt. Aber bereits 2009
übertrafen die Einnahmen aus dem Vertrieb der Zeitungen in Deutschland die Anzeigen-
erlöse (Pasquay, 2010). Erwartungsgemäß haben die Verlage versucht, diese Einnahme-
verluste mittels einer erheblichen Erhöhung der Verkaufspreise auszugleichen (Röper,
2012). Vor dem Hintergrund sinkender Auflagen war eine Kompensation der Ein-
nahmen jedoch nur teilweise möglich. So gewann die Frage strategische Bedeutung,
wie die Lücke weitergehend geschlossen werden kann. So unterschiedlich die Verlags-
welt, so differenziert fallen auch die Strategien aus. Diese reichen von einer Fusion
mit einer größeren Zeitung bis hin zur Diversifikation in neue Geschäftsfelder. In der
Breite fokussierten sich die Erwägungen jedoch schnell auf die Suche nach der richtigen
Strategie für Bezahllösungen für digitale Inhalte. Dahinter stand die sich immer
mehr durchsetzende Erkenntnis, dass die bis ungefähr 2010 vertretenen Ansätze sich
gleichermaßen nicht langfristig als wirksam erweisen können: die Bereitstellung kosten-
loser Onlineangebote (im Vertrauen auf Werbefinanzierung durch Reichweite) bzw. des
Schutzes vor einer Kannibalisierung der Druckauflage durch den konsequenten Verzicht
auf ein digitales Engagement (Grasemann, 2019).
Diese Entwicklung reflektiert sich auch in den Zahlen des Bundesverbands
Digitalpublisher und Zeitungsverleger für das Jahr 2020: Demnach steuerten die Anzeigen-
und Werbeerlöse nur noch 26 % zu den Einnahmen bei (2016: 35 %). Gleichzeitig erzielten
die Zeitungsverlage rund 10 % ihrer Umsätze durch digitale Angebote, wobei es bei den
überregionalen Zeitungen bereits mehr als ein Viertel war (Keller & Eggert, 2021).
Gleichzeitig gab es zu keinem Zeitpunkt nur den einen naheliegenden Ansatz zur
konkreten Ausgestaltung der Bezahllösung für digitale Inhalte. Bis heute sind Zeitungs-
verlage gefordert, dasjenige Geschäftsmodell herauszuarbeiten, welches zu den spezi-
fischen Merkmalen des Unternehmens und der Leserschaft am besten passt.
Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag zum einen der Frage nach-
gegangen, welche Modelle führende Zeitungen in den USA für Bezahllösungen
anwenden. Damit verbindet sich die Frage, ob die USA als Wegbereiter bei den
elektronischen Medien bei allen bestehenden Unterschieden im Mediensystem auch
in dieser Frage eine Vorreiterrolle einnehmen könnten bzw. durch ihre Vorgehens-
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 337

weise einen Denkanstoß für deutsche Verlage liefern (Kleinsteuber & Kutz, 2008). Zum
anderen wird in diesem Beitrag skizziert, wie sich die Situation im Vergleich zur Vor-
gehensweise deutscher Tageszeitungen darstellt.

20.2 Definitionen

Im Folgenden werden zunächst die zentralen Begrifflichkeiten „Paid Content“ und


„Paywall“ definiert, für die keine einheitlichen Begriffsbestimmungen vorliegen:

u Paid Content: „Bezahlinhalt, Bezeichnung für Inhalte aller Art, die über digitale Ver-
breitungswege wie das Internet oder über mobile Dienste gegen Bezahlung verfügbar
gemacht werden.“ (Sjurts, 2010).

u Paywall: „Unter einer Paywall versteht man eine Bezahlschranke auf einer Internet-
seite. Das heißt, bestimmte oder alle Inhalte auf einer Website werden für den User erst
sichtbar, wenn er eine Gebühr bezahlt bzw. ein Abonnement abschließt […]“. (BDZV,
o. J.).

20.3 Die sechs wichtigsten Paywall-Modelle im Überblick

Die Ausbreitung der Paywalls bringt wie so viele andere Errungenschaften und Möglich-
keiten des Internets sehr spezifische Vor- und Nachteile mit sich. So weist beispielsweise
Kansky (2015, S. 85 f.) mittels einer Analyse verschiedener Studien zu diesem Thema
darauf hin, dass Paywalls die Verlage bei der Realisierung unterschiedlichster Ziele
unterstützen: Allein schon durch die Registrierung auf der Website werden die nutzenden
Personen identifizierbar und können so gezielt für Vermarktungszwecke angesprochen
werden, während gleichzeitig auch eine Förderung der journalistischen Qualität denkbar
ist: Der Ehrgeiz, durch eine besondere Exklusivität der Beiträge hinter die Paywall zu
gelangen und damit zum Teil des „wertigen“ Journalismus beizutragen, kann sich durch-
aus qualitätsfördernd auswirken. Eine Zusammenfassung verschiedener Betrachtungs-
weisen liefert auch Benson (2019, S. 146 f.), indem er feststellt, dass „the upside of
the subscription model is that readers are only going to pay money for something they
really want or need. This provides a strong incentive for news organizations to produce
the highest quality journalism. … The downside, though, is that subscriber-funded
news caters to relatively high-income, high-education elites. Even if subscriptions
contribute to higher quality news, if that news fails to reach a broad audience, it’s not
really a solution to the civic crisis of an uninformed, often misinformed, and distrustful
citizenry“.
Nach Angaben des Reuters Institute Digital News Report 2021 gingen im Jahr 2020
zunehmend mehr Verleger dazu über, ihre Inhalte hinter einer Paywall zu verbergen, um
338 M. Zeisberg und N. Hansen

somit ihre Abhängigkeit von Werbeanzeigen, die vornehmlich an Google und Facebook
gehen, zu reduzieren (Newman et al., 2021).
Unterscheiden lassen sich in der Praxis unterschiedliche Ausgestaltungen von
Paywalls: die harte Bezahlschranke (Hard Paywall), das Freemium- und Metered-
Modell, Dynamische Paywalls, Hybride Modelle und das Spendenmodell. Diese
Modelle sollen im Folgenden vorgestellt werden.

20.3.1 Harte Bezahlschranke

Das Online-Angebot der Zeitung kann nur dann genutzt werden, wenn man entweder ein
Abonnement bezieht oder einen Tagespass erwirbt, ansonsten bleibt man „ausgesperrt“
(Feil, 2019). Diese Form der Paywall findet man aber vergleichsweise eher selten vor,
besteht doch die Gefahr, massiv Kundschaft und Traffic zu verlieren (Manhart, 2019a).
So verlor 2010 als mahnendes Beispiel die Website der renommierten Londoner Tages-
zeitung The Times nach Einführung der harten Paywall gut zwei Drittel ihrer Leserschaft
und dies, obwohl sich nicht wenige Lesende sicherlich das Online-Abo hätten leisten
können (Manhart, 2021b). In Nischenbereichen und bei Fachmedien bestehen aber
durchaus Aussichten auf Erfolg, sofern vergleichbare Informationen nicht bequem und
eben kostenlos an einem anderen Ort bereitstehen (ebenda).
Eine klare harte Bezahlschranken-Strategie verfolgt die norddeutsche Regional-
zeitung Zevener Zeitung (www.zevener-zeitung.de), die ihren Sitz nordöstlich von
Bremen hat. Beim Aufrufen der Website wird der Interessierte zum ePaper-Login auf-
gefordert, lediglich das „Sonntagsjournal“ und das „Vereinsblatt“ sind als pdf frei abruf-
bar. Möglicherweise setzt man als traditionsreiche und betont regionale Tageszeitung
(Gründungsjahr 1889) für die vier Samtgemeinden Zeven, Sittensen, Tarmstedt und
Selsingen auf eine entsprechende Exklusivität des lokalen Nachrichtenteils, in Ver-
bindung mit einem moderaten monatlichen Bezugspreis (Zevener Zeitung, o. J.).

20.3.2 Freemium-Modell

Mit dem Kunstwort „Freemium“ als Kombination von „Free“ und „Premium“, wird
das Vorgehen beschrieben, einen Teil der Beiträge der gesamten Leserschaft kostenlos
(„free“) zur Verfügung zu stellen, während andere, exklusive („premium“) Inhalte der
zahlenden Kundschaft vorbehalten bleiben (Heinz, 2019). Diese Vorgehensweise, die
gelegentlich auch als „Soft Paywall“ bezeichnet wird, fokussiert sich bei den Bezahl-
angeboten in der Regel auf Datenjournalismus, Reportagen, Hintergrundberichte oder
Leitartikel (Feil, 2019) bzw. ganz allgemein auf Inhalte, die aus der Sicht des Zeitungs-
hauses sehr hochwertig bzw. exklusiv sind (Pasquay, 2010). Die Entscheidung darüber,
welche Beiträge kostenpflichtig sind, obliegt beispielsweise bei der FAZ der Redaktion
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 339

mittels eines Verfahrens, das intern als „quantitativ gestützte Bauchentscheidung“


bezeichnet wird (Ollrog & Neumann, 2020, S. 205).

Das Beispiel USA Today

Ein Freemium-Modell nutzt beispielsweise die US-amerikanische Tageszeitung USA


Today. Im Juli 2021 kündigte die auflagenstärkste US-amerikanische Tageszeitung,
das Flaggschiff des amerikanischen Medienkonzerns Gannett, an, eine Paywall für
ihre digitalen Angebote einzuführen. Der Rest der Gannett-Gruppe, zu der rund 250
Tageszeitungen gehören, hatte diesen Schritt bereits vollzogen. USA Today erreicht
mit ihren digitalen Angeboten rund 90 Mio. Einzelpersonen pro Monat und liegt
damit etwa gleichauf mit der New York Times, der Washington Post oder dem Wall
Street Journal.
Hinter der Paywall verschwinden allerdings nicht alle Artikel. Sogenannte
Breaking News werden umsonst bleiben. Mithilfe der Einnahmen sollen vor allem
investigativer und visueller Journalismus unterstützt werden (Tracy, 2021).
Im Bereich der Bezahlangebote möchte die Gannett-Gruppe künftig auch von ihrer
Stärke im Lokalzeitungsmarkt profitieren. Gannett publiziert Zeitungen in 46 Bundes-
staaten, darunter The Arizona Republic und The Detroit Free Press. So kündigte
Mayur Gupta, Chief Marketing und Strategy Officer bei Gannett, in einem Interview
mit der New York Times an, dass es zukünftig sinnvoll wäre, Abos der USA Today
zusammen mit einer lokalen Zeitung gebündelt anzubieten (Tracy, 2021).
Die Abopreise sollen sich zwischen zunächst zwischen $4,99 pro Monat und später
$9,99 pro Monat für ein digitales Abo mit Werbeanzeigen bewegen. Ein digitales Abo
ohne Werbung soll zunächst bei $7,99 und später $12,99 liegen. Eine Kombination
aus gedruckter Zeitung und Digitalabo ist zunächst für $9,99 und nach drei Monaten
für $29,99 erhältlich (Tracy, 2021). ◄

Das Beispiel Hamburger Abendblatt

Das Hamburger Abendblatt des Axel Spinger Verlags (www.abendblatt.de) setzt eben-
falls auf das Freemium-Modell und kennzeichnet seine Bezahlartikel („Plus-Artikel“)
mit einem A+. Während bei den Lokalnachrichten („Hamburg“) alle Inhalte kosten-
pflichtig sind, betrifft es im regionalen Teil („Nord“) eine deutliche Mehrheit der
Beiträge, während beispielsweise in der Rubrik „Politik“ gänzlich auf eine Bezahl-
schranke verzichtet wird. ◄

20.3.3 Metered-Modell

Bei dem Metered-Modell, hergeleitet vom englischen Wort für „dosiert“ (metering),
stellt die Zeitung eine bestimmte Anzahl von Beiträgen kostenlos zur Verfügung (Gansel
340 M. Zeisberg und N. Hansen

et al., 2019). Wird dieses vom Verlag gesetzte Limit erreicht, erfolgt die Aufforderung,
ein Abo abzuschließen oder einen Tagespass zu erwerben. Dahinter steht die Idee, dass
die kostenlosen Artikel es den Interessierten erlauben, sich eine Meinung über die Quali-
tät der Inhalte zu bilden (Pasquay, 2010).
Allerdings stehen Unternehmen vor der Herausforderung, die Anzahl der Frei-
artikel so auszutarieren, dass sie zum einen keine bestehenden Abonnierenden verlieren
(Kannibalisierung), gleichzeitig aber durch lesende Personen ohne Zahlungsbereitschaft
Werbeeinnahmen generieren. Bestehende Abonnierende der Printausgabe könnten bei-
spielsweise ihr bestehendes Abo nicht weiter verlängern, wenn sie feststellen, dass sie
online ausreichend Artikel umsonst lesen können. Lesenden Personen mit einer geringen
Zahlungsbereitschaft hingegen sollte eine ausreichende Anzahl an Freiartikeln zur Ver-
fügung gestellt werden, damit für diese Werbeeinnahmen abgegriffen werden können.
Das optimale Verhältnis gilt es hier zu ermitteln.

Das Beispiel New York Times

Bekanntestes Beispiel für ein Metered-Modell ist die New York Times. 2011 führte
sie erstmals dieses Modell ein, bei dem zunächst 20 Artikel pro Monat umsonst
gelesen werden konnten (Pattabhiramaiah et al., 2018). Diese recht hohe Schwelle
zur Bezahlschranke sollte zusätzliche Werbeeinnahmen generieren. Rund ein Jahr
später, im April 2012 reduzierte die NYT die Anzahl der Freiartikel auf 10, um mehr
Personen zum Abschluss eines Abos zu motivieren. ◄

20.3.4 Dynamische Paywalls

Viele Medienunternehmen sind inzwischen dazu übergegangen, stärker auf die Bedürf-
nisse der User bzw. der Leserschaft zu „hören“. Moderne Paywalls sind datengetrieben,
sodass nur solche Inhalte, die Teile der Leserschaft effizient in Abonnenten verwandeln,
hinter der Paywall verschwinden. Wie diese Inhalte ausgewählt werden, variiert von
Zeitung zu Zeitung.
Bei einer dynamischen oder „smarten“ Paywall handelt es sich um eine Techno-
logie, die an einem bestimmten Punkt im Akquirierungsprozess datengetriebene
Personalisierung einsetzt, um die Effizienz zu verbessern. Während reguläre Paywalls
sich auf etablierte Regeln verlassen, werden dynamische Paywalls für jede nutzende
Person einzeln angepasst (Leitner, 2018).
Das dynamische Paywall-Modell entscheidet somit dynamisch, ob der angefragte
Artikel angezeigt wird oder ob man aufgefordert wird, ein Abo abzuschließen.
Während das Metered- und Freemium-Modell die gleichen Regeln für alle fest-
setzen, versucht die dynamische Paywall das individuelle Verhalten zu berücksichtigen,
zum Beispiel, indem das Limit des Metered-Modells angepasst wird oder personalisierte
Marketingaktivitäten geschaltet werden (Leitner, 2018).
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 341

Zwei Medien, die bereits eine dynamische Paywall einsetzen, sind die Neue Zürcher
Zeitung (NZZ) und das Wall Street Journal (WSJ).

Die Beispiele Neue Zürcher Zeitung und Wall Street Journal

Beide analysieren das Leseverhalten der Leserschaft. Auf dieser Basis erstellen
sie entweder ein persönliches Profil, bei dem über 100 Kriterien wie Lesehistorie oder
benutztes Endgerät erfasst werden, um daraus die Wahrscheinlichkeit eines Abonne-
ment-Abschlusses zu errechnen (NZZ). Oder sie führen eine Segmentierung anhand
von 60 Kriterien in die drei Abschlusskategorien „cold“, „warm“ und „hot“ durch
(WSJ). Je wahrscheinlicher es ist, dass ein Abo abgeschlossen wird, desto weniger
Artikel werden der nutzenden Person kostenlos angezeigt. Zudem steigern die Ver-
lage durch die „offene“ Paywall für zahlungsunwillige Personen ihre Attraktivität für
Werbekunden (Gansel et al., 2019).
Demografische Kriterien, zum Beispiel in Bezug auf Ausbildung und Ein-
kommen, haben eine starke Korrelation zur Wahrscheinlichkeit des Abo-Abschlusses.
Allerdings ist es bedingt durch technische oder datenschutzrechtliche Ein-
schränkungen oft nicht möglich, diese Daten zu erheben (Leitner, 2018). Das Wall
Street Journal umgeht diese Einschränkungen, indem es näherungsweise Schätzungen
auf Basis anderer Kriterien wie Ort des Zugriffs erstellt und auf diese Weise über
hundert verschiedene Entscheidungsbäume kreiert.
Durch diese Automatisierung kann die Redaktion allerdings nicht mehr selbst ent-
scheiden, welche Artikel umsonst zugänglich oder hinter der Paywall verborgen sind.
Auch wenn das bei einigen betroffenen Personen nicht auf Zustimmung stößt, gibt
der Erfolg der dynamischen Paywall dem Verlag recht: Die Anzahl der Artikel, die
kostenlos zugänglich sind, hat sich nicht verändert, allerdings hat sich die Conversion
Rate (Konversionsrate) verdoppelt (Leitner, 2018). ◄

20.3.5 Hybrid-Modell

Dieses Bezahlmodell kombiniert verschiedene Paywall-Modelle miteinander, wobei es


sich im Regelfall um eine Verbindung von einzelnen Mechaniken des Freemium- und
Metered-Modells handelt (Manhart, 2019b; BDVZ, 2021). Beispielsweise kann auf eine
Reihe von Beiträgen ein kostenloser Zugriff gewährt werden, gleichzeitig existieren
aber auch zahlreiche Premium-Inhalte, z. B. „Plus-Artikel“, die sich hinter der Bezahl-
schranke verbergen und allenfalls angelesen werden können. Im Gegensatz zum
Freemium-Modell wird hier aber eine bestimmte Anzahl dieser Premiuminhalte als Lese-
probe freigegeben.
342 M. Zeisberg und N. Hansen

2019 Umsonst- Freemium- Metered- Harte N


Modell (%) Modell (%) Modell (%) Bezahlschranke -er monatlicher
Preis
Deutschland 42,9 47,6 9,5 0 14,5 21

USA 32,0 0 65,5 3,4 11,9 29

Abb. 20.1 Bezahlmodelle der reichweitenstärksten Zeitungen in Deutschland und den USA im
Jahr 2019 im Vergleich. (Eigene Darstellung nach Simon und Graves (2019))

2017 Umsonst- Freemium- Metered- Harte N


Modell (%) Modell (%) Modell (%) Bezahlschranke -er monatlicher
Preis
Deutschland 47,6 38,1 14,3 0 17,6 21

USA 44,8 0 48,3 3,4 10,6 29

Abb. 20.2 Bezahlmodelle der reichweitenstärksten Zeitungen in Deutschland und den USA im
Jahr 2017 im Vergleich. (Eigene Darstellung nach Simon und Graves (2019))

20.3.6 Spenden-Modell/Freiwillige Bezahlung

Bei diesem Modell entscheidet jeder für sich selbst, ob und in welcher Höhe er einen
finanziellen Beitrag leisten möchte (BDZV, 2021). Mit einem Anteil von rund einem Pro-
zent aller Bezahlmodelle in Deutschland ist dieser Ansatz eine Rarität, der vor allem in
Deutschland mit der taz (www.taz.de) verbunden ist. Dazu heißt es seitens der Zeitung,
dass „mit ‚taz.zahl ich‘ die Leser:innen der taz daran erinnert werden, dass hinter jedem
Klick journalistischer und technischer Aufwand steckt, und jeder Beitrag seitens der
Leser:innen dabei helfen kann, den Online-Journalismus der taz zu erhalten. … Damit
geht nicht zuletzt ein solidarischer Gedanke einher: taz.de soll in seiner aufklärerischen
Funktion auch für Menschen, die sich weder einen Beitragnoch ein Abonnement leisten
können, frei zugänglich sein.“ (Matusko, o. J.).

20.4 Paid-Content-Strategien in den USA und Deutschland im


Vergleich

Insgesamt zeigt sich, dass sowohl in den USA als auch in Deutschland der Trend zu
Bezahlmodellen zugenommen hat. Waren 2017 in den USA noch knapp 45 % der News-
Angebote kostenlos zugängig, waren es 2019 nur noch 32 % (Abb. 20.1). In Deutschland
bezahlte das Lesepublikum 2017 für mehr als 47 % der Angebote nichts (Abb. 20.2),
2019 nur noch für 43 % (Simon & Graves, 2019).
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 343

Das mit Abstand am weitesten verbreitete Paid-Content-Modell in den USA ist


das Metered-Modell (65,5 % im Jahr 2019), während in Deutschland mit 47,6 % das
Freemium-Modell dominiert. Während in Deutschland im Vergleich zu 2017 ein leichter
Rückgang bei der Wahl des Metered-Modells zu verzeichnen ist, nahm die Verwendung
des Metered-Modells zwischen 2017 und 2019 in den USA zu.
Insgesamt zeigt sich zudem, dass die Preise in den USA im Schnitt unter denen in
Deutschland liegen (Abb. 20.3) und sich deutlich stärker am Abo-Preis von Netflix als
(unbewusstem) Vergleichsmaßstab orientieren.
Eine Übersicht der größten US-Zeitungen und ihres jeweiligen Bezahlmodells findet
sich in Abb. 20.4.

20.5 Weitere Trends

Obwohl die Zahlungsbereitschaft für Nachrichten nach wie vor gering ist (Newman
et al., 2021), zeigt sich in den USA ein neuer Trend: Die Mehrheit der Menschen, die
sich ein Abonnement leisten, abonnierte zwei Publikationen, zunehmend eine nationale
Publikation in Kombination mit einem regionalen Angebot (Newman et al., 2021).

20

18 17,46

16
14,51
Monatlicher Durchschnispreis in €

14

11,93
12
10,6
10

0
2017 2019
Deutschland USA

Abb. 20.3 Durchschnittlicher monatlicher Abopreis pro Monat. (Eigene Darstellung nach (Simon
und Graves 2019))
344 M. Zeisberg und N. Hansen

USA Typ Bezahlmodell Bezahlmodell Monatlicher Monatlicher


2017 2019 Durchschni- Durchschnis-
spreis 2017 (€) preis 2019 (€)
Los Angeles Times Überregionales Metered-Modell Metered-Modell 6,66 7,08
Qualitätsmedium
New York Times Überregionales Metered-Modell Metered-Modell 12,56 13,35
Qualitätsmedium
Washington Post Überregionales Metered-Modell Metered-Modell 8,36 8,90
Qualitätsmedium
New York Post Tabloid Umsonst Umsonst n/a n/a

Wall Street Wirtschaszeitung Harte Harte 27,61 34,70


Journal Bezahlschranke Bezahlschranke
Arizona Republic Regionale Zeitung Metered-Modell Metered-Modell 4,18 8,00

Boston Globe Regionale Zeitung Metered-Modell Metered-Modell 13,36 24,67

The Charloe Regionale Zeitung Metered-Modell Metered-Modell 10,78 11,56


Observer
Chicago Tribune Regionale Zeitung Metered-Modell Metered-Modell 6,66 7,08

Dallas Morning Regionale Zeitung Metered-Modell Metered-Modell 10,01 10,64


News

Abb. 20.4 Bezahlmodelle für Online-Nachrichten in den USA. (Eigene Darstellung nach (Simon
und Graves 2019))

Ein neues Modell hat sich zudem in den USA etabliert: Das in San Francisco
ansässige Start-up Substack macht von sich reden, da es renommierte Journalisten von
etablierten Zeitungen weglockt und eine Plattform bietet, auf der sich Abonnements
digitaler Newsletter von einzelnen Medienschaffenden monetarisieren lassen (Newman
et al., 2021). So erscheinen auf Substack z. B. Rolling-Stone-Redakteur Matt Taibbi oder
Buzzfeed-Technologie-Reporter Alex Kantrowix. Substack zeichnet sich somit durch ein
neuartiges Geschäftsmodell insgesamt aus, das ein Bezahlmodell mit einem neuartigen
journalistischen Produkt kombiniert.

20.6 Ausblick

Der Trend zu Bezahlmodellen nimmt zu. Zeitungsverlage stehen vor der Heraus-
forderung, die Zahlungsbereitschaft ihrer Leserschaft zu erkennen und geeignete
Angebote zu offerieren, ohne an Reichweite und somit Werbeeinnahmen einzubüßen.
In den USA hat sich ein eindeutiger Trend zur Einführung von Metered-Modellen
gezeigt. Allerdings gehen Verlage zunehmend dazu über, nicht mehr die klassische
Form anzuwenden, bei der vorab eine bestimmte Anzahl an Freiartikeln festgelegt wird,
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 345

sondern die Paywall an das Leseverhalten anzupassen. Dieses datengetriebene Verfahren


hat sich beim Wall Street Journal als äußerst profitabel herausgestellt (Leitner, 2018).
Ein vielversprechender Trend zeichnet sich zudem für die Verlagsbranche ab: Indem
ein Teil der Leserschaft bereit ist, nicht nur ein Bezahlangebot, sondern oft ein nationales
und zusätzlich ein regionales Angebot zu wählen, eröffnen sich vielfältige neue Möglich-
keiten der Preis- und Produktgestaltung.
Doch nicht nur der Trend zu Bezahlmodellen insgesamt wird zunehmen. Im Zuge
der Digitalisierung bieten sich für Medienschaffende neue Geschäftsmodelle an, die
eine etablierte Verlagsstruktur nicht mehr zwingend voraussetzen. In Deutschland hat
es der ehemalige Handelsblatt-Chefredakteur und Herausgeber Gabor Steingart mit
seinem 2018 gegründeten Medien-Start-up Media Pioneer zu großer Bekanntheit in der
Medienbranche gebracht. Auf einem Redaktionsschiff, das auf der Berliner Spree fährt,
produziert das Start-up Newsletter, Podcasts und organisiert Events (Linß, 2020). Aber
auch kleinere lokale Medienunternehmen, wie etwa das Münsteraner Start-up RUMS,
das ausführliche Newsletter zum lokalen Stadtgeschehen anbietet, gewinnen zunehmend
an Einfluss gegenüber etablierten Zeitungen.

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20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 347

Prof. Dr. Matthias Zeisberg ist Professor für Marketingmanagement im Dualen Studium der IU
Internationale Hochschule am Campus Hamburg. Er verfügt über eine langjährige Berufs- und
Führungserfahrung in Management und Beratung mit den Schwerpunkten Consumer Marketing,
Marktforschung und Vertriebsunterstützung. Seine Interessensgebiete liegen in der empirischen
Forschung und im strategischen Marketing.

Prof. Dr. Nele Hansen ist Professorin für Medienmanagement an der IU Internationale Hoch-
schule. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Marketing &
Medien der Universität Münster und als Redakteurin der WirtschaftsWoche. Ihr Forschungs-
schwerpunkt liegt auf dem Gebiet Social und News Media.
E-Commerce-Strategien – Digitaler
Vertrieb und aktuelle Praxisbeispiele 21
Benjamin Schulte  

Zusammenfassung

Erfolgreiche B2C-Unternehmen der DACH-Region haben ihr Geschäfts- und Vertriebs-


modell komplett digitalisiert. Steigender Wettbewerb und veränderte Erreichbarkeit von
Kund:inn:en im Vertrieb von Waren und Dienstleistungen lassen es kaum noch zu, dass
Unternehmen sich nicht mit dem Thema digitale Transformation in der Distribution
auseinandersetzen. Der Online-Handel – auch: E-Commerce (Electronic Commerce)
– beschreibt das Internet als zusätzlichen oder einzigen Verkaufs- und Distributions-
kanal (Albers & Krafft, 2013, S. 349). Dieser ist bereits heute für viele Branchen zum
wichtigsten Kanal geworden. Ein Wandel im Verhalten der Kund:inn:en ist hier ein
Anstoß – die Corona-Pandemie hat ab 2020 diesen Trend stark beschleunigt. In diesem
Beitrag wird der digitale Vertrieb inhaltlich erläutert und strategisch differenziert. Zum
Einstieg erfolgt ein Überblick über den digitalen Kaufprozess und die für Unternehmen
verfügbaren Kanäle und Optionen in den E-Commerce einzusteigen – hierbei sind Ver-
trieb über einen eigenen Online-Store und Vertrieb mit Intermediär möglich. Die jeweils
spezifischen Vor- und Nachteile werden diskutiert. Es wird ferner erläutert, an welchen
Stellen des digitalen Kaufprozesses digitale Dienstleister ansetzen, um die Nutzung
digitaler Kanäle so einfach wie möglich zu gestalten. Dazu gehören Online-Shop-
Systemanbieter, Zahlungsdienstleister wie auch Händler und Marktplatzanbieter und
neuerdings Social-Media-Netzwerke. Im darauffolgenden Abschnitt wird erläutert, wie

B. Schulte (*)
IU Internationale Hochschule, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 349
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_21
350 B. Schulte

diese Kanäle entweder exklusiv genutzt oder kombiniert werden können, und welche
strategischen Erwägungen diesen Optionen zu Grunde liegen. Es werden die typischen
Strategien und Modi des digitalen Vertriebs zusammenfassend dargestellt und auch
die Mehrkanal-Aspekte erörtert. Aktuelle Praxisbeispiele belegen die beschriebenen
Strategieansätze im deutschen Markt. Abschließend wird ein Ausblick auf die Ent-
wicklungen der kommenden Jahre gegeben. Die Zukunft des Online-Vertriebs zeigt
neue Perspektiven auf innovative Vertriebsmodelle, verstärkten Einsatz von mobilen
Lösungen und Social-Media- sowie Omni-Channel-Ansätze. Diese ermöglichen es
B2C-Unternehmen, auch in Zukunft relevant zu bleiben, Kund:inn:en zu begeistern und
die Reichweite zu erhöhen.

21.1 Einleitung – der digitale Kaufprozess

Die digitale Transformation im Handel mit Waren und Dienstleistungen ist die wichtigste
Entwicklung für Handelsunternehmen in Deutschland (Deutsche Telekom, 2021). Dies
betrifft alle Geschäftsbereiche, jedoch insbesondere das Marketing und den Vertrieb ent-
lang des Kaufprozesses. Der Weg des Verkaufs an Endverbraucher:innen – die Customer
Journey – ist heute mehr denn je von digitalen Touchpoints dominiert.
Bereits zu Beginn des digitalen Kaufprozesses (Abb. 21.1) werden die Kund:inn:en
mit Kommunikationsmaßnahmen online erreicht und gestalten ihre Suche hauptsäch-
lich mittels digitaler Werkzeuge. Die Preisgestaltung ist seit langer Zeit dynamisiert und
muss vermehrt den digitalen Wettbewerb berücksichtigen. Weiterhin zeigt sich, dass der
Vertrieb einen großen Anteil am Gelingen einer digitalen Strategie hat, da viele Schritte
des Kaufprozesses in diesen Schwerpunkt fallen.
In der Vorkaufphase ist vor allem das Marketing im Lead, Kommunikationsmaßnahmen
zu gestalten, um in der Bedarfserkennung und Informationssuche digital Informationen zu

Abb. 21.1 Schematischer Digitaler Kaufprozess. (Quelle: Erstellung des Autors)


21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 351

liefern und den:die Kund:inn:en in den Vertriebskanal des Unternehmens zu führen. Wie
eine aktuelle Befragung belegt, ist hier neben einer eigenen Webseite auch eine Social-
Media-Präsenz wichtig (Bitkom Research, 2021).
In der Kauf- und Nachkaufphase beginnt der Schwerpunkt des Vertriebs – die
Abwicklung der Bestellung und Bezahlung bis hin zur Leistungserbringung und
zum After-Sales-Services. Auch die Anbahnung von Wiederkäufen bspw. durch ver-
triebsgesteuerte Kommunikation oder Loyalitätsprogramme sowie das Servicing von
Abo-Modellen sind Vertriebsaufgaben. Bereits 85 % der Einzelhändler in Deutsch-
land verkaufen komplett oder parallel zum stationären Geschäft per Internet (Bitkom
Research, 2021).
Allgemein lassen sich verschiedene digitale Vertriebswege abgrenzen, die für Unter-
nehmen bestimmte Besonderheiten bieten.

21.2 Digitale Vertriebswege

Der Einstieg in den digitalen Vertrieb ist heute einfacher denn je. Grundsätzlich steht
jedem Unternehmen eine Vielzahl an digitalen Vertriebswegen zur Verfügung, die sich
verschiedenen Kategorien zuordnen lassen: Direkte Vertriebskanäle wie ein eigener
Online-Store sowie indirekte Vertriebskanäle wie Online-Händler oder Online-Markt-
plätze.
Jedoch gibt es keinen „typischen“ Einstieg in den Onlinevertrieb. Vielmehr stehen
die Vertriebswege eigenständig nebeneinander, bieten eigene Vor- und Nachteile, die
abgewogen und mit der Vertriebsstrategie des Unternehmens in Einklang gebracht
werden müssen und in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
Beim Online-Kauf findet die Bestellung und Bezahlung über einen digitalen Ver-
triebsweg statt. Das Fulfillment (Auftragserfüllung/Distribution) – also die Leistungser-
bringung – wird dann je nach Produkttyp digital oder auf klassischen Distributionswegen
durchgeführt, die bereits aus dem Versandhandel bekannt sind. Diese umfassen die
großen Paketdienstleister wie DHL und Hermes und viele weitere Logistik- und Dis-
tributionsdienstleister. Alternative Vertriebswege stehen zur Verfügung – so können
Anbieter mit einem stationären Vertriebskanal integrierte Services wie Click-and-Collect
anbieten, bei denen Online-Bestellungen in einer Filiale abgeholt werden können.

Beispiel Adidas

Der deutsche Online-Store von Adidas bietet eine Click-and-Collect Versandoption


und gibt zusätzlich auch die Möglichkeit, die Zahlung in der Filiale durchzuführen
(www.adidas.de/order-clickcollect.html). ◄

After-Sales-Services wie Rücksendungen, Garantiefälle und weitere Anfragen wiederum


erfolgen bei digitalem Kauf oft ebenfalls über digitale Kanäle und müssen als Teil der
352 B. Schulte

Vertriebsstrategie berücksichtigt werden. Hierfür muss der Servicebereich entsprechend


aufgestellt und geschult werden, um auch Bedürfnisse von Kund:inn:en aus dem
digitalen Vertrieb befriedigen zu können.

21.2.1 Vertrieb mit eigenem Online-Store

Direkter digitaler Vertrieb bedeutet, dass das Unternehmen in weiten Teilen direkt die
Bestellung von Kund:inn:en aufnimmt, abwickelt und die Leistungserbringung über-
nimmt. Dieser strategische Ansatz eignet sich wie aktuelle Beispiele zeigen sowohl
für digitale wie auch für physische Produkte und Dienstleistungen und erfreut sich
steigender Beliebtheit.

Beispiel H&M

Der Modehändler H&M vertreibt neben dem stationären Geschäft seine Produkte
erfolgreich über einen Online-Store und über eine eigene App – hierbei hat das
Unternehmen ein hohes Maß an vertikaler Integration. Der digitale Vertrieb ist laut
Geschäftsbericht ab 2020 gewachsen, während der stationäre Vertrieb stark gesunken
ist (H&M Group, 2020). Dies reflektiert einen industrieweiten Trend: Der Anteil des
Online- und Versandhandels am Textil- und Bekleidungsumsatz in Deutschland ist in
2020 auf über 27 % gestiegen (BTE, 2021). ◄

Heute setzen viele Firmen im B2C-Geschäft auf einen eigenen Online-Store oder eine
Shopping-App für mobile Geräte ergänzend zu ihrer Unternehmensseite. Der Einstieg
in den direkten Vertrieb ist im digitalen Bereich weniger komplex als im stationären
Geschäft. Denn die digitale Infrastruktur zum Kontakt zu Kund:inn:en und der
Bestellungsabwicklung steht heute weitgehend standardisiert zur Verfügung – Shop-
system-Dienstleister wie Magento senken die Einstiegsbarrieren hierbei maßgeblich
(Süss, 2016, S. 9). Der Markt dieser Anbieter hat den Einstieg in den direkten Online-
Vertrieb auch für KMU stark vereinfacht.
Zusätzlich ist im Rahmen der Digitalisierung der Unternehmensprozesse oft ohnehin
notwendig, dass Unternehmen ihre digitalen Systeme umstellen und viele Shopsysteme
sind mit den verbreiteten CRM- und ERP-Systemen kompatibel, so wie beispielsweise
Salesforce Commerce Cloud und SAP Commerce.
Strategisch kann der Einstieg in den digitalen Vertrieb mittels direktem Vertriebs-
kanal für Unternehmen mit bereits vorhandenem stationärem Geschäft vorteilhaft sein.
Dafür spricht beispielsweise, dass die psychologische Distanz bei bereits bekannten
Händlern geringer ausgeprägt ist, als bei unbekannten Händlern und dies dazu führt, dass
Kund:inn:en in der Vorkaufphase eher Händler wählen, bei denen diese Distanz gering
ist, die sie also bereits kennen (Darke et al., 2016).
21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 353

21.2.2 Vertrieb mit Intermediär

Digitaler Vertrieb per Intermediär umfasst alle Kanäle, bei denen ein Intermediär
zwischen Unternehmen und Kund:inn:en steht, der die digitale Bestellung entgegen-
nimmt. Dies kann ein Händler oder ein Absatzhelfer sein. Die übrigen Schritte im Kauf-
prozess können sowohl beim Intermediär als auch beim Unternehmen selbst liegen.
Bei Vertrieb über Händler spricht man auch von indirektem Vertrieb (Homburg, 2020,
S. 950). Hierbei kauft ein Unternehmen ein Produkt vom Hersteller mit der Absicht,
es zu verkaufen (Homburg, 2020, S. 1096). Bei dieser Vertriebsform verliert das ver-
kaufende Unternehmen in weiten Teilen die strategische Kontrolle über den digitalen
Kanal, daher wird diese Form von indirektem Vertrieb in diesem Beitrag nicht weiter
berücksichtigt.
Solange das Eigentum an der Ware bei dem Drittunternehmen verbleibt, tritt der Inter-
mediär als Absatzhelfer auf, hierbei spricht man über direkten Vertrieb mit Intermediär.
Dieser kann auch weitere oder alle Schritte im digitalen Kaufprozess übernehmen – also
die Zahlungsabwicklung, Distribution bzw. Leistungserstellung und die Abwicklung von
Service und Retouren.

Beispiel Intermediäre

Wichtigste Intermediäre bei digitalem Vertrieb von Unternehmen in Deutschland sind


Marktplatzanbieter, allen voran Amazon Marketplace. Zusammen mit dem Eigen-
handel erreicht Amazon Marketplace einen Anteil von 53 % am Onlinehandelsumsatz
(HDE Handelsverband Deutschland, 2021).
Über sell.amazon.de ist es mit geringem Aufwand möglich die Marketplace Platt-
form zum Vertrieb zu nutzen und von der Reichweite von Amazon.de in Deutschland
und anderen europäischen Märkten profitieren. Amazon bietet unter der Bezeichnung
Fulfillment by Amazon auch die Möglichkeit, die Produkte einzulagern und den Ver-
sand zu realisieren. Gleichzeitig steht ein:e Verkäufer:in hier in direktem Wettbewerb
mit vielen anderen Anbietern und auch Amazons eigenem Geschäft. Zusätzlich liegen
die Daten der Kund:inn:en bei Amazon. ◄

Digitale Marktplatzanbieter bieten eine funktionierende Plattform und Zugang zu einem


großen oder auch spezifischen Stamm an potenziellen Kund:inn:en als Dienstleistung an
und verlangen für Listung und Verkäufe von Produkten eine Provision. Dafür können sie
bei der Vermarktung unterstützen und stellen die IT-Infrastruktur bereit.
Viele der im vorherigen Abschnitt genannten Shopsystem-Dienstleister bieten die
Möglichkeit, Marktplätze wie eBay direkt einzubinden und so direkten und vermittelten
Vertrieb über die gleiche Plattform abzuwickeln. Dabei profitieren die Plattformen wie
auch die bereits gelisteten Händler davon, wenn neue Händler einer Plattform beitreten
(Vakeel et al., 2021). Manche digitale Marktplatz-Unternehmen (bspw. Amazon.de)
treten sowohl als Intermediär als auch als Händler im digitalen Vertrieb auf.
354 B. Schulte

Social Commerce
Auch Social Commerce, bei dem Bestellmöglichkeiten direkt in die Social-Media-Profile der
Unternehmen eingebunden sind, wird immer populärer. Hier tritt der Anbieter des Social-Media-
Netzwerks als Intermediär auf. So bietet bspw. Instagram mit Instagram Shopping die Möglichkeit
an, den eigenen Online-Store einzubinden (https://business.instagram.com/shopping).

Der größte Vorteil an der Nutzung von Intermediären beim digitalen Vertrieb sind die
geringen Barrieren zum Einstieg und der geringere Aufwand, der im Vergleich zum Auf-
bau einer eigenen digitalen Vertriebsplattform betrieben werden muss. In der höchsten
Ausprägung kann das Unternehmen hier sämtliche Elemente des digitalen Vertriebs aus-
lagern und lediglich die Ware an einen Intermediär liefern, der alle weiteren Schritte
übernimmt – das sogenannte Fulfillment.

21.3 Digitale Vertriebsstrategien

Die meisten Unternehmen sind bereits digital tätig; nur wenige haben keiner-
lei Kommunikation oder Produktverfügbarkeit über digitale Kanäle – hierbei aber
oft noch lediglich indirekt über Händler oder auch direkt, aber bspw. lediglich als
Kommunikation über Unternehmenswebseiten oder per E-Mail.
Der Einstieg in den digitalen Vertrieb, bei dem weitere oder alle Schritte im Kauf-
prozess digital erfolgen, ist abhängig von der übergeordneten Vertriebsstrategie (s.
Abb. 21.2) – hier sollten die strategischen Optionen erörtert und verglichen werden.
Diese strategische Entscheidung ist heute oft geprägt von steigender Wettbewerbsintensi-
tät in unterschiedlichen Vertriebskanälen und steigenden Erwartungen von Kund:inn:en.
Der Einstieg in den digitalen Vertrieb erfolgt meist durch eine Exklusivstrategie,
die dann bei Erfolg in eine hybride Mehrkanalstrategie erweitert wird. Einige Autoren
beobachten, dass Entwicklungen in Richtung Omni-Channel-Strategie erkennbar werden
(Verhoef et al., 2015). Dies wird im Fazit aufgegriffen.
Im weiteren Verlauf werden die wichtigsten strategischen Optionen erörtert.

21.3.1 Digitaler Direktvertrieb

Bei direktem Exklusivvertrieb erfolgt der Kontakt zu Kund:inn:en ohne Intermediär


durch unternehmenseigene Systeme – also in der Regel einen Online-Store oder eine
eigene App. Durch den exklusiven Zugang kann ein großer Anteil des Vertriebskanal
integriert gestaltet werden und so ein hohes Maß an Kontrolle über die Eigenschaften
des Bestellablaufs und die Produktpräsentation ausgeübt werden – die Abhängig-
keit von Intermediären sinkt (Esch & Alt, 2021). Auch ergibt sich hierdurch ein guter
Datenzugang, der mittels eines CRM-Systems eine bessere Bearbeitung der Kund:inn:en
21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 355

Abb. 21.2 Übersicht der


digitalen Vertriebsstrategien.
(Quelle: Erstellung des Autors)

ermöglicht. Gleichzeitig muss hierfür ein digitales Vertriebs- sowie Serviceteam auf-
gebaut werden, das oft spezifisch geschult werden muss.
Durch das hohe Maß an Individualisierung müssen Unternehmen, die dieser Strategie
folgen, höhere Investitionen für Betrieb und Kommunikation des Online-Stores in Kauf
nehmen als Unternehmen, die auf Intermediäre setzen. So eignet sich diese Strategie
besonders für Unternehmen mit stark differenzierten Produkten. Hier ist die enge Ver-
bindung mit den Kund:inn:en wichtig und auch von Kund:inn:enseite gewünscht –
die Exklusivität der Produkte spiegelt sich in der Wahl des Vertriebskanals wider. So
können Produktdarstellung und Kommunikation stärker gesteuert sowie Beziehungen zu
Kund:inn:en gepflegt sowie Wiederkäufe über eigene Kanäle generiert werden. Zum Ein-
stieg kann ein Online-Store hierbei auch ein limitiertes Sortiment umfassen.

Beispiel Direktvertrieb

Ein Beispiel für diese Strategie ist die Firma Vorwerk, die ihre Produkte stationär wie
digital exklusiv vertreibt und beim digitalen Vertrieb auf einen eigenen Online-Shop
in Kombination mit direktem Kontakt zu Kund:inn:en setzt (www.vorwerk.de). ◄

Ein wachsender Sektor im digitalen Direktvertrieb ist die „Abo-Economy“, bei der
zusätzlich mit wiederkehrenden Lieferungen und Zahlungen eine langfristige Beziehung
aufgebaut wird. Das deutsche Start-up Hellofresh hat es geschafft, viele Kund:inn:en
regelmäßig mit Lebensmitteln und passenden Rezepten zu versorgen. So schafft es eine
enge Bindung und regelmäßige Umsätze (www.hellofresh.de). Häufig arbeiten Unter-
nehmen neben direktem digitalem Vertrieb auch mit Händlern zusammen. So vertreibt
Springer Science and Business Media seine Medienprodukte über den digitalen Buch-
und Medienhandel und verfügt auch über direkte Kanäle wie springer.com.
356 B. Schulte

Besonders relevant ist hier die Bewertung, wie eng die Kund:inn:enbeziehung tatsäch-
lich ist und sein soll – diese Modelle eignen sich eher für Produkte und Dienstleistungen
mit hoher Relevanz für Kund:inn:en und ggf. einem regelmäßig wiederkehrenden
Bedarf. Um mit einem eigenen Online-Store Reichweite zu erzielen, muss jedoch mehr
in Kommunikationsmaßnahmen investiert werden, als es beim digitalen Vertrieb mit
Intermediär notwendig ist.
Während direkter Vertrieb also mehr Einflussmöglichkeiten ermöglicht, profitiert man
bei einem Einstieg mit Intermediär von einem:r starken, erfahrenen Partner:in.

21.3.2 Digitaler Vertrieb durch Intermediär

Der digitale Exklusivvertrieb kann auch durch enge Zusammenarbeit mit einem oder
wenigen Intermediären realisiert werden. Hierbei stützt sich das Unternehmen auf die
Reichweite und Expertise eines Partners, der als Absatzhelfer auftritt.
Der wichtigste Anbieter, der als digitaler Intermediär herangezogen wird, ist im
deutschen Markt derzeit Amazon Marketplace (HDE Handelsverband Deutschland,
2021). Weltweit nutzen diesen mehr als 1,9 Mio. KMU und machen fast 60 % des
Einzelhandelsumsatzes von Amazon aus (Bezos, 2020). Doch auch immer mehr andere
Online-Händler bieten ihre Dienste als Marktplätze an. Beispiele im deutschen Markt
sind Kaufland.de, Otto.de und Zalando.de. Insbesondere für Märkte in denen der Wett-
bewerb moderat ist, bietet sich ein solches Hybrid-Modell an (Tian et al., 2018).
Nutzer:innen von Marktplätzen profitieren von der Reichweite und den Fähigkeiten
des Intermediärs, Produkte zu bewerben, bei potenziellen Käufer:inne:n zu platzieren
und auch weitere Vertriebsschritte im Verkaufsprozess zu übernehmen. Viele Inter-
mediäre haben sich darauf spezialisiert, ihren Kund:inn:enstamm zu begeistern und dazu
zu animieren, regelmäßig ihre Online-Angebote zur Informationssuche aufzusuchen.
Kleinere Unternehmen unterstützen erfahrene Intermediäre mit Hinweisen zur korrekten
Darstellung der angebotenen Produkte und Vermarktungsoptionen. Manche Marktplatz-
anbieter bieten auch Nischenanbietern die Möglichkeit, von größerer Reichweite zu
profitieren – im deutschen Markt gehören dazu bspw. etsy (www.etsy.de) für handwerk-
liche Produkte, oder Avocadostore (www.avocadostore.de) für nachhaltig produzierte
Waren.
Nutzung von Intermediären hat jedoch auch Nachteile für Unternehmen in Bezug
auf Ertragsumfang und Kontrolle, die strategisch abgewogen werden sollten. Da diese
Kanäle meist auf Provisionsbasis funktionieren, hat der Intermediär potenziell eine große
Preismacht, insbesondere, wenn dieser als Absatzkanal stark wächst und somit besonders
wichtig wird.
21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 357

Beispiel Marketplace-Anbieter

Die KW-Commerce GmbH, Verkäufer:in von Smartphone-Zubehör und -Artikeln


in den Kategorien Haushalt und Elektronik, ist mit den Marken Kwmobile, Kalibri
und Navaris heute einer der erfolgreichsten reinen Amazon Marketplace Anbieter in
Deutschland. Hierbei bedient sich das Unternehmen aus Berlin der Dienstleistung
Fulfillment by Amazon, bei der die Produkte in Amazon-Warenhäusern eingelagert
und versendet werden, und Amazon auch die Retouren übernimmt. Auch auf otto.de
sind die Produkte von Kwmobile erhältlich. Nach der Übernahme durch Seller X ist
ein Strategieschwenk zu einem Hybridmodell denkbar (Holzki & Kolf, 2021). ◄

Weiterhin hat das Unternehmen weniger Einfluss auf die Darbietung der eigenen
Produkte im Kontext des Intermediärs und weniger Datenzugriff auf Kund:inn:en und
Transaktionsdaten. Der Intermediär hingegen hat vollen Zugriff auf Transaktions-
informationen und Verhaltensdaten von Kund:inn:en. Mit steigender Marktmacht
einzelner Marktplätze wird klar, dass dieser Datenzugang einen Wettbewerbsvorteil
für den Intermediär bedeuten kann. Diese Praktik hat bereits die EU Kommission auf
den Plan gerufen, welche für das Vorgehen von Amazon in diesem Gebiet rechtliche
Konsequenzen prüft (Europäische Kommission, 2019).
Oft haben Unternehmen, welche diese Strategie verfolgen, bereits eine große
Abhängigkeit vom Intermediär oder einem bestimmten Marketplace-Anbieter ent-
wickelt. So wurde der Kofferhersteller Tumi von Amazon unter Druck gesetzt, Produkte
nicht über den Amazon Marketplace zu verkaufen, sondern ausschließlich Amazon als
Händler einzubinden (Weise, 2019).

21.3.3 Hybridstrategien

Nach dem erfolgreichen Einstieg über eine der beschriebenen Exklusivstrategien


erweitern Unternehmen oft ihre digitalen Kanäle – der überwiegende Teil der Unter-
nehmen, die ihre Produkte digital verkaufen, setzt heute auf eine hybride Mehrkanal-
Strategie. Bei diesem strategischen Vorgehen werden in unterschiedlichen Ausprägungen
direkte Kanäle zu Kund:inn:en mit Kanälen kombiniert, bei denen mit Intermediären
kooperiert wird. Dies bietet die Vorteile einer breiteren Streuung des eigenen Angebotes
bei gleichzeitiger Vergleichsmöglichkeit der einzelnen Kanäle. Dies ermöglicht es, hier
nachzusteuern, sich aus ineffektiven oder ineffizienten Kanälen zurückzuziehen und eine
breite Verfügbarkeit im umkämpften digitalen Vertrieb zu erreichen.

Beispiel D2C

Direct-to-consumer(D2C)-Anbieter haben eine große Expertise für den digitalen Ver-


trieb. So hält die Berlin Brand Group einige erfolgreiche B2C-Marken. Diese wurden
358 B. Schulte

initial oftmals rein über digitale Marktplätze vertrieben und haben sich so am Markt
etabliert. Dazu gehören bspw. die Marken Klarstein und Auna, welche durch BBG
weiterhin über indirekte digitale Kanäle vertrieben werden. Aktuell liegt der Fokus
auf einer hybriden Strategie, wobei der direkte Vertrieb gefördert wird und möglichst
viele Elemente der Produktion, des Fulfillments und des Kontakts zu Kund:inn:en
direkt erfolgen sollen (www.berlinbrandgroup.com). ◄

Die Kanalbreite der hybriden Vertriebsstrategie kann nach selektivem und intensivem
Vertrieb differenziert werden (Homburg, 2020, S. 955).
Bei selektivem Mehrkanal-Vertrieb werden neben dem eigenen Online-Store nur
einzelne Intermediäre herangezogen, die zum Anbieter passen, bestimmte Nischen
abdecken oder attraktive Konditionen bieten. Hierbei wird möglicherweise ein
begrenztes oder fokussiertes Sortiment angeboten und gleichzeitig die vorhandene
Fulfillment-Infrastruktur des Online-Stores verwendet.
Bei einem intensiven Mehrkanal-Vertrieb wird versucht, auf so vielen Kanälen wie
möglich für Kund:inn:en erreichbar und verfügbar zu sein. Zentrales Ziel ist hierbei
eine hohe Sichtbarkeit in Märkten mit hoher Wettbewerbsintensität zu erreichen. Hier-
bei macht sich das Unternehmen taktisch die hohe Reichweite der Marktplätze zu Nutze,
um eine möglichst breite Gruppe an Kund:inn:en zu erreichen. Hierbei muss abgewogen
werden, wie die Provisionsstruktur der gewählten Intermediäre – bspw. Marktplätze und
Preissuchmaschinen – gestaltet sind. So ist es möglich, diese Kosten einzupreisen und
einen Anreiz zu setzen, auf dem eigenen Online-Store die Bestellung zu tätigen, der
meist geringere Vertriebskosten nach sich zieht.

Beispiel Media-Saturn-Holding

Ein Beispiel ist die Media-Saturn-Holding, Betreiberin der erfolgreichen Online-


Stores Mediamarkt.de und Saturn.de. Das Unternehmen hat sich für eine digitale
Hybridstrategie entschieden, bei der seit 2015 ebenfalls über den Marktplatz eBay
verkauft wird (eBay Press-room, 2015). Hierbei wird teilweise Ausstellungsware
aus den stationären Läden rabattiert verkauft. Selbst die Distributionsoption Click-
and-Collect – welche bisher dem direkten Online-Vertrieb vorbehalten war – wurde
bereits bei eBay angeboten (eBay Press-room, 2017). ◄

Die beschriebenen Hybridstrategien können sich in unterschiedlichen Ausprägungen


entwickeln. Für die konkrete Umsetzung und strategische Anpassungen sind oft die Per-
formance einzelner Kanäle, die Marktmacht sowie die Wettbewerbsintensität ausschlag-
gebend.
21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 359

21.4 Fazit und Ausblick – Die Zukunft der digitalen


Vertriebswege

Für Kund:inn:en avanciert der Online-Handel zum wichtigsten Vertriebskanal – ein


wachsender Teil der deutschen Bevölkerung möchte Waren und Dienstleistungen online
erwerben. Die Anzahl der E-Commerce-Nutzer:innen in Deutschland ist von rund
56 Mio. in 2017 auf über 64 Mio. in 2021 gestiegen und wird bis 2025 auf über 68 Mio.
prognostiziert (Statista, 2021).
Viele Unternehmen sehen digitale Kanäle oft noch als ein Element in der Gesamt-
strategie, dabei sind Kund:inn:en meist nicht hart nach stationär und online zu trennen
und wählen mit hoher Wechselbereitschaft den für sie geeigneten Kanal. Eine Omni-
Channel-Marketingstrategie muss daher On- und Offline-Vertriebskanäle berück-
sichtigen und eine geeignete Balance zwischen Marktabdeckung und Klarheit erreichen
(Kotler et al., 2017, S. 147).
Insbesondere in kompetitiven Märkten mit austauschbaren Produkten oder Dienst-
leistungen kann die gewählte Vertriebsstrategie den entscheidenden Differenzierungs-
faktor ausmachen und Loyalität begünstigen. Hierbei sollte die Digitalisierung im
Vertrieb alle Ebenen der Organisation betreffen und als Führungsaufgabe anerkannt
werden (Binckebanck, 2020).

Beispiel Integration

Eine Möglichkeit, den digitalen und stationären Handel zu integrieren, bietet das
Kölner Start-up Blaenk, das unter Anderem den digital-first Anbietern die Möglich-
keit gibt, ihr Angebot in der Offline-Welt verfügbar zu werden. Hierfür pflegt das
Unternehmen einen thematisch kuratierten Online-Marktplatz zusammen mit einem
Ladengeschäft. In diesem „Erlebnis Store“ werden die Produkte erlebbar werden –
hierbei integriert das Unternehmen die Kanäle nach einem Omni-Channel-Konzept,
per App, Webseite und Kasse in der stationären Filiale. Hierfür erhielten die Gründer
den Innovationspreis für Handel 2020 (www.blaenk.com). ◄

Wie der stationäre Einzelhandel strategisch reagieren kann, zeigt die Parfümeriekette
Douglas. Ende 2020 wurde hier ein Strategieschwenk zu „Digital first“ vollzogen, der
zu einer Fokussierung auf Online-Angebote und einem Omni-Channel-Ansatz führte,
bei dem das stationäre Geschäft nur noch ein Kontaktpunkt neben den anderen auf der
Customer Journey wird (Douglas, 2020). Dies kann als Vorbild für andere Unternehmen
gesehen werden, die bisher die digitale Seite ihrer Vertriebsstrategie vernachlässigt
haben.
Je nach branchenindividuellen Begebenheiten kann auch der Einstieg über digitale
Intermediäre eine günstige Alternative sein. Anbieter wie stocksquare bieten eine ein-
fache Implementierung von „Ship-from-store"-Lösungen auch für kleine und mittlere
Unternehmen – das Unternehmen beschreibt sich selbst als Omni-Channel-Connector
360 B. Schulte

(www.stock-square.de). Die Entwicklung zu hybriden Vertriebsstrategien steht


perspektivisch Unternehmen offen, die bereits über Erfahrung mit digitalen Vertriebs-
wegen verfügen.
Die beschriebenen Änderungen in Vertrieb und Kaufverhalten sind nicht auf
bestimmte Branchen beschränkt, sondern stehen praktisch allen Unternehmen in
Deutschland bevor. Genaue Kenntnisse der strategischen Möglichkeiten und eine digitale
Vertriebskompetenz ist hierfür Voraussetzung. Wer sich hier nicht bewegt, entwickelt
einen digitalen „Blinden Fleck“ und verliert Käufer an den Wettbewerb.

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21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 361

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Prof. Dr. Benjamin Schulte nahm im Jahr 2020 eine Position als Professor für Marketing-
management an der IU Internationalen Hochschule in Berlin an. Nach seinem Studium und der
Promotion an der Freien Universität in Berlin arbeitete Schulte als Projektmanager in einer Unter-
nehmensberatung, bevor es ihn zurück an die Hochschule zog. Zu seinen Schwerpunkten gehören
die Themen Vertriebsstrategie und -management, Digitales Marketing sowie Konsumentenver-
halten und quantitative Methoden der Marketingforschung.
Digitalisierung im B2B-Vertrieb –
Zielsetzungen, Bestandsaufnahme und 22
Gestaltungsempfehlungen

Jan Thido Karlshaus

Zusammenfassung

Die Interaktion mit Kunden im B2B-Vertrieb hat sich im Verlauf der letzten Jahre
signifikant verändert. Neben traditionellen Vertriebsansätzen haben sich digitale Ver-
triebsformen mehr und mehr etabliert. Spätestens seit Beginn der Covid-19-Pandemie
ist die Relevanz der Digitalisierung im B2B-Vertrieb überdeutlich geworden. Durch
die Umstellung auf digitale Kauf- bzw. Verkaufsprozesse ergeben sich zahlreiche
Chancen, jedoch auch deutliche Herausforderungen. Aus Sicht des B2B-Vertriebs
müssen digitale und nicht-digitale Verkaufskanäle systematisch kombiniert werden.
Die Customer Journey ist so zu gestalten, dass Kundenbedürfnisse optimal befriedigt
werden können. Dabei müssen wichtige Voraussetzungen aus organisatorischer
Sicht sichergestellt werden, der Vertrieb muss im Hinblick auf die notwendigen
Qualifikationen befähigt werden und es müssen geeignete (digitale) Instrumente und
Technologien implementiert werden. Für eine erfolgreiche Digitalisierung ist eine
systematische Vorgehensweise erforderlich, die mit einer Bestandsaufnahme beginnt
und schrittweise priorisierte Handlungsfelder der Digitalisierung angeht.

J. T. Karlshaus (*)
IU Internationale Hochschule, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 363
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_22
364 J. T. Karlshaus

22.1 Einleitung

Die Digitalisierung erfasst Schritt für Schritt immer mehr Aspekte unserer Gesellschaft
und damit auch der Wirtschaft. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen
aller Branchen den eigenen digitalen Wandel beschleunigen. Aus Unternehmens-
sicht wird unter Digitalisierung allgemein der Wandel von traditionellen und analogen
Prozessen und Informationen zu neuen und digitalen Prozessen und Informationen ver-
standen (für eine tiefergehende Diskussion des Begriffs der Digitalisierung vgl. Wolf
& Strohschen, 1998). Unter dem Begriff der digitalen Transformation wird der Ein-
satz von digitalen Technologien zur Schaffung von neuen – oder der Modifizierung
von existierenden – Unternehmensprozessen, -kulturen oder Kundenerfahrungen ver-
standen (vgl. Salesforce, o. J.a.) und damit die Sicht des Kunden in den Vordergrund
gerückt. Aus diesen Definitionen wird bereits deutlich, dass sämtliche Industrien und
Unternehmensbereiche und alle Teilprozesse im Unternehmen von der Digitalisierung
betroffen sein können. Von besonderer Relevanz ist die Frage, wie im Rahmen der
digitalen Transformation die Interaktion mit dem Kunden und die Kundenerfahrung
beeinflusst wird. Der Kunde steht damit im Mittelpunkt der digitalen Transformation:
„digital transformation begins and ends with how you think about, and engage with,
customers“ (vgl. Salesforce, o. J.a.).
Neue, bessere und häufig kostengünstigere digitale Technologien sind seit einigen
Jahren im Vertrieb verfügbar. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass die überwiegende
Mehrzahl der (B2B-)Kunden heute bereits auf nicht traditionelle Methoden der Inter-
aktion bzw. auf digitale Vertriebskanäle und den sog. ‚Digital Self-Serve‘ zurückgreift
(vgl. Arora et al., 2022, S. 3 oder LinkedIn, 2021). Spätestens seit Beginn der Covid-19-
Pandemie ist die Relevanz der Digitalisierung im B2B-Vertrieb überdeutlich geworden.
Verkäufer haben sich in kürzester Zeit auf digitale Verkaufsprozesse umstellen müssen
– Käufer mussten sich ihrerseits umstellen und den Kaufprozess in vielen Bereichen
digitalisieren. Die Pandemie und der Wechsel zum ‚Remote-Working‘ hat, wie in vielen
anderen Bereichen der Wirtschaft, auch im Vertrieb die Digitalisierung beschleunigt. Die
Digitalisierung im B2B-Vertrieb ist damit zu einer neuen und bereits existierenden Reali-
tät geworden. Durch diese dynamische Entwicklung ist der Handlungsdruck für solche
Unternehmen enorm angestiegen, die weiterhin schwerpunktmäßig auf traditionelle Ver-
triebsmethoden setzen.
In diesem Beitrag wird die Rolle der Digitalisierung an der direkten Schnittstelle
zum Kunden, im Vertrieb, untersucht. Der Fokus liegt hierbei auf der Betrachtung der
Digitalisierung im B2B-Kontext. Gerade hier besteht signifikanter Handlungsbedarf,
der aus den geänderten Kundenpräferenzen und dem Verhalten der Kunden in der Inter-
aktion mit Anbietern resultiert. Vor diesem Hintergrund werden drei ausgewählte, praxis-
relevante Fragestellungen betrachtet: zunächst wird die Zielsetzung einer Digitalisierung
im B2B-Vertrieb untersucht. Danach werden aktuelle Erkenntnisse zum Status der
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 365

Digitalisierung betrachtet. Abschließend werden Empfehlungen zur Gestaltung der


Digitalisierung des B2B-Vertriebs erörtert.

22.2 Zielsetzungen der Digitalisierung im B2B-Vertrieb

Die zunehmende Digitalisierung im B2B-Vertrieb bringt eine Reihe von Vorteilen


mit sich. Aus Unternehmenssicht sind eine bessere Entscheidungsfindung und Ver-
besserungen im Hinblick auf Effizienz und Effektivität der Vertriebsaktivitäten zu
erwarten. Aus Kundensicht kann der Interaktionsprozess verbessert werden und darüber
eine bessere Kundenerfahrung und ein Mehrwert für den Kunden erzielt werden. Nach-
folgend werden zunächst die Vorteile aus Unternehmenssicht geschildert – anschließend
werden die Vorteile aus Sicht der Kunden näher betrachtet. In Abb. 22.1. werden die
hieraus resultierenden Zielsetzungen der Digitalisierung im (B2B-)Vertrieb zusammen-
gefasst.
Aus Unternehmenssicht ist durch den Einsatz neuer, digitaler Technologien zunächst
eine verbesserte und beschleunigte Entscheidungsfindung zu erwarten (vgl. Hoffman
et al., 2022, S. 3 f.). Aufgrund neuer Technologien ist in vielen Bereichen ein besserer
Zugriff auf mehr und umfassendere Markt- und Kundendaten möglich, die zum Teil

Erhöhte Erhöhte
Effizienz Effizienz interner Effizienz der
Prozesse Kundeninteraktion

Hauptziel:
Ziele der digitalen
Mehrwert aus
Transformation
Kundensicht

Erhöhte Erhöhte
Effektivität Effektivität interner Effektivität der
Prozesse Kundeninteraktion

Eigenes Kunde / Schnittstelle


Unternehmen zum Kunden

Bezugsobjekt der digitalen


Transformation

Abb. 22.1 Ziele und Bezugsobjekt der digitalen Transformation im B2B-Vertrieb. (Eigene Dar-
stellung)
366 J. T. Karlshaus

vorher gar nicht oder nicht in gleicher Güte verfügbar waren (z. B. über automatisierte
Datenerfassung in Bezug auf Bilder, Sprache oder Texte). Diese erweiterte Datenbasis
kann durch den Einsatz von neuen, leistungsstarken Analysemethoden ausgewertet
werden (z. B. unterstützt über Künstliche Intelligenz oder Machine Learning). Auf
dieser Basis können relevante Erkenntnisse abgeleitet und schließlich bessere Vertriebs-
entscheidungen getroffen und zeitnah umgesetzt werden – zum Teil deutlich schneller
als dies bisher möglich war (z. B. durch Einsatz von Chatbots zur Kommunikation mit
Kunden in Echtzeit).
Grundsätzlich ist denkbar, dass in allen Bereichen des Vertriebs Entscheidungen ziel-
gerichtet durch neue, digitale Technologien unterstützt werden. Hierbei lassen sich einer-
seits Aktivitäten unterscheiden, die auf die Digitalisierung interner Vertriebsprozesse
abzielen und andererseits solche Aktivitäten, die unmittelbar die Kundeninteraktion
betreffen. Zu den internen Prozessen zählen Vertriebstätigkeiten, wie beispielsweise die
Vertriebsplanung, die Vorbereitung von Kundenterminen oder das Sales Performance
Management. In beiden Bereichen – bei internen und bei der direkten Kundeninter-
aktion steht die Frage im Vordergrund, wie Effizienz und Effektivität gesteigert werden
kann (vgl. Guenzi & Habel, 2020, S. 62 ff.). Hierbei ist aus Unternehmenssicht eine
digitale Transformation im Vertrieb dann erfolgreich, wenn positive Effekte auf Gewinn
und Profitabilität erzielt werden können, wenn Kundenloyalität gesteigert und letztlich
Marktanteile hinzugewonnen werden können (vgl. Zoltners et al., 2021, S. 88).
Wie bereits erwähnt, ist im Rahmen der digitalen Transformation jedoch vor
allen Dingen die Kundensicht entscheidend und die Frage, wie Wert für den Kunden
geschaffen werden kann. Aus Sicht des Kunden wird ein verbessertes Kauferlebnis bzw.
eine verbesserte Interaktion im Rahmen des Kaufes erwartet. Ein verbessertes oder neues
Leistungsangebot wird ebenso geschätzt, wie eine erhöhte Agilität. Diese kann sich
durch eine schnelle Reaktion auf Kundenanliegen bzw. die direkte und unkomplizierte
Bereitstellung von Informationen über digitale Kanäle auszeichnen. Gerade im B2B
Kontext ist außerdem die Kostensicht entscheidend und die Frage, wie die TCO (Total
Cost of Ownership) ausfallen. Der Gesamtwert für den Kunden ergibt sich aus diesen
Aspekten und steht im Mittelpunkt einer digitalen Transformation im Vertrieb.
In Abb. 22.1 werden die bisher beschriebenen Betrachtungsperspektiven zur Ziel-
setzung einer digitalen Transformation im (B2B-)Vertrieb zusammengefasst. Die
Schaffung von Mehrwert für den Kunden – über Verbesserung interner Vertriebsprozesse
oder der Kundeninteraktionsprozesse – wird als zentrale Zielsetzung der digitalen Trans-
formation betrachtet. Die Steigerung der Effizienz oder Effektivität werden als weitere
Ziele identifiziert – und beantworten die Frage nach dem ‚Warum?‘ einer digitalen
Transformation. Interne Prozesse oder Kundeninteraktionsprozesse sind Bezugsobjekt
der digitalen Transformation und klären damit die Frage nach dem ‚Was?‘ (vgl. Guenzi
& Habel, 2020, S. 63).
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 367

22.3 Bestandsaufnahme und aktuelle Entwicklungen

Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Zielsetzungen einer digitalen Trans-


formation im B2B-Vertrieb erläutert wurden, folgt nun eine Bestandsaufnahme in Bezug
auf den aktuellen Umsetzungsstand und eine Darstellung relevanter Entwicklungen bei
der Digitalisierung im B2B-Vertrieb. Hierbei wird auf ausgewählte jüngere empirische
Untersuchungen zurückgegriffen, die sich mit dieser Thematik – insbesondere aus einer
praxisnahen und managementorientierten Perspektive – beschäftigen.
Aus diesen Untersuchungen wird zunächst deutlich, wie schnell sich die Rolle des
Vertriebs insgesamt in den letzten Jahren – in bisher nicht bekannter Geschwindigkeit
und in erheblichem Umfang – verändert hat. So stellten in einer weltweiten Befragung
von Salesforce unter fast 6000 Vertrieblern 79 % der Befragten fest, dass aufgrund
der Pandemie insgesamt eine schnelle Anpassung des Vertriebs an neue Kunden-
anforderungen und Marktgegebenheiten erforderlich war. Fast 60 % aller Befragten
betrachten die hiermit verbundenen Änderungen als dauerhaft (vgl. Salesforce, 2021,
S. 7). Eine vergleichbare Befragung von LinkedIn unter 3800 Käufern und 3800 Ver-
käufern kommt zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. LinkedIn, 2021, S. 6 ff.).
Ein zentrales Thema, das in diesem Zusammenhang wiederholt untersucht wurde,
betrifft die Frage, inwieweit unterschiedliche Vertriebskanäle im B2B-Kontext genutzt
werden und in welchem Ausmaß traditionelle Vertriebswege durch neue, digitale Ver-
triebskanäle ersetzt oder ergänzt werden. Im Rahmen des traditionellen Vertriebs steht
vor allem der Außendienst (oder ‚Outside Sales‘) und damit die persönliche Interaktion
mit dem Kunden im Mittelpunkt (z. B. in persönlichen Treffen oder auf Industrievents
oder -messen). Demgegenüber setzen digitale Vertriebskanäle auf Interaktion mit dem
Kunden, die bspw. über Videokonferenzen, das Telefon, ‚Live Chat Software‘ oder
direkten Kundenaustausch über Social Media stattfindet (‚Remote Interaktion‘ oder
auch häufig als ‚Inside Sales‘ bezeichnet) oder über Online-Kanäle, die es dem Kunden
erlauben, sich selbständig mit Informationen oder Lösungen zu versorgen (bspw. über
die Unternehmenswebsite, über digitale Kundenportale oder E-Commerce-Kanäle).
B2B-Kunden nutzen diese drei grundlegenden Interaktionsmöglichkeiten etwa in
gleichem Maße: Etwa ein Drittel der Interaktion erfolgt im Rahmen der persönlichen
Interaktion, ein Drittel über die ‚Remote Interaktion‘ und ein weiteres Drittel über
Online-Kanäle (vgl. Arora et al., 2022, S. 3). Während noch vor wenigen Jahren im
B2B-Kontext die persönliche Interaktion mit dem Kunden im Mittelpunkt stand, findet
demnach heute bereits der weitaus größte Teil der Interaktion mit den Kunden über
neue, digitale Kanäle statt. Traditionelle und neue, digitale Kundeninteraktion werden in
Kombination und über verschiedene Kanäle eingesetzt – die Interaktion mit Kunden ist
‚hybrid‘ geworden (für einen Überblick vgl. auch Thaichon et al., 2018, S. 278 ff.).
Im B2B-Kontext erfolgt die Kundeninteraktion hierbei nicht nur über multiple
Kanäle, sondern richtet sich auch gleichzeitig an mehrere Entscheidungsträger im sog.
Buying-Center auf der Kundenseite (vgl. Webster & Wind, 1972), die ihrerseits über
368 J. T. Karlshaus

unterschiedliche Kanäle mit den jeweiligen Lieferanten interagieren. Kaufentscheidungs-


prozesse im B2B-Bereich waren schon bisher aufgrund komplexer Entscheidungs-
prozesse und der zahlreichen Beteiligten im Buying-Center anspruchsvoll – durch
die wachsende Zahl der Interaktionskanäle wird der Kundendialog in Zukunft noch
anspruchsvoller. Hinzu kommt, dass nicht nur die Zahl der Interaktionen zwischen Ver-
käufer und Käufer ansteigt, sondern auch die Zahl derjenigen, die im Buying-Center auf
Kundenseite am Kaufprozess beteiligt sind (vgl. Caplow, 2021). Schließlich spielt sich
die gesamte Interaktion zwischen Käufer und Verkäufer in einem immer dynamischeren
Umfeld ab, sodass fortwährend Änderungen in Bezug auf Prioritäten, Beteiligte und die
Interaktion selber zu erwarten sind. Dies führt letztlich dazu, dass der gesamte B2B-Ver-
kaufsprozess dynamischer wird. Einzelne Schritte werden zum Teil mehrfach durch-
laufen – sofern sich wesentliche Prioritäten oder zentrale Entscheidungsträger ändern,
kann ein Kaufprozess unterbrochen und wieder neu durchlaufen werden. Der Kauf-
prozess erfolgt daher nicht unbedingt sequentiell, sondern häufig in parallelen und sich
wiederholenden Schritten (vgl. Cespedes, 2021a, S. 6). Abb. 22.2 fasst die wesentlichen
Änderungen, die sich im Hinblick auf die Customer Journey im B2B-Kontext im Verlauf
der letzten Jahre ergeben haben, zusammen.
Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, dass es sich hierbei um eine
vorübergehende Entwicklung handelt, die nur zeitweise aufgrund der Auswirkungen der
Pandemie eingetreten ist. Ein Blick auf die Präferenzen der B2B-Kunden im Hinblick
auf die unterschiedlichen Arten der Interaktion macht jedoch deutlich, dass von einer
dauerhaften Verschiebung der Kundenpräferenzen auszugehen ist. Zahlreiche empirische
Untersuchungen zeigen, dass B2B-Kunden eine Präferenz für digitale Interaktions-
modelle entwickelt haben (vgl. LinkedIn, 2021, S. 5 ff. und Khandelwal, 2021, S. 1 ff.)
und die Effektivität der neuen, hybriden Vertriebsmodelle als überlegen oder mindestens

Traditionelle Sicht Heutige Sicht

Kaufbeteiligte: Rollen relativ klar definiert, wenig Änderung Rollen weniger klar definiert, häufigere
Kunde / Buying Änderungen und mehr Beteiligte
Center
Kaufbeteiligte: Schrittweiser Einbindung und Übergabe von Integrierter Verkaufsprozess sowie enge und
Verkäufer Marketing (Lead Generation) zu Sales kontinuierliche Abstimmung zwischen Marketing,
(Kundengewinnung) bzw. zum Service Sales und Service
(Kundensupport)
Kaufprozess Sequentiell; wenige, jedoch klar definierte Iterativ, parallel; höhere Anzahl und z.T. nicht klar
Touchpoints mit Kunden definierte Touchpoints mit Kunden
Verkaufskanäle Hauptkanal: Persönlicher Kontakt Hybride Interaktion über multiple Kanäle,
wachsende Relevanz neuer, digitaler Kanäle
Tools Zahlreiche manuelle Tätigkeiten; Rückgriff Weitgehende Digitalisierung, Einsatz großer Zahl
auf ausgewählte Tools (z.B. CRM) von digitalen Tools und Data Analytics
Rahmenbe- Statisch – relativ wenige interne und externe Dynamisch – viele interne und externe
dingungen Änderungen Änderungen

Abb. 22.2 Aktuelle Entwicklungen in Bezug auf die Customer Journey im B2B-Vertrieb. (Eigene
Darstellung)
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 369

gleichwertig gegenüber traditionellen Vertriebsmodellen einschätzen (vgl. Arora et al.,


2022, S. 4). Die Präferenz für digitale bzw. hybride Interaktion ist dabei in allen Stufen
der Customer Journey, sowohl bei der Interaktion mit neuen und mit existierenden
Kunden und länderübergreifend erkennbar (vgl. Harrison et al., 2021, S. 2–4). Bei Kauf-
entscheidungen, die erstmalig getroffen werden, die eine hohe Komplexität oder einen
hohen finanziellen Wert aufweisen, hat der persönliche Verkauf weiterhin den höchsten
Stellenwert. Allerdings werden auch in solchen Kaufsituationen neue, digitale Inter-
aktionsformen bereits von einer großen Zahl von Kunden präferiert (vgl. Arora et al.,
2022, S. 10). Es ist davon auszugehen, dass der wachsende Anteil der sog. ‚Digital
Natives‘ unter den Entscheidungsträgern dazu führt, dass die hier beschriebenen Ent-
wicklungen weiter verstärkt werden (vgl. Zoltners et al., 2020, S. 3 und Adamson &
Toman, 2020, S. 4–5). Die Präferenz für neue Interaktionsformen im Vertrieb aus Sicht
der Käufer wird auch in anderen Untersuchungen bestätigt und insbesondere auf die Ver-
einfachung zurückgeführt, die sich aus Käufersicht durch neue und digitale Formen der
Interaktion ergibt (vgl. LinkedIn, 2021, S. 5 ff.).
Bemerkenswert ist, dass aus Verkäufersicht teilweise weiterhin eine deutlich höhere
Präferenz für traditionelle Formen der Interaktion mit dem Kunden erkennbar ist. So
wird etwa dem direkten, persönlichen Austausch über den Vertrieb oder dem Kunden-
kontakt auf Messen oder Konferenzen aus Sicht der Verkäufer eine deutlich höhere
Rolle eingeräumt als durch die Käufer bzw. durch die Kunden (vgl. Khandelwal et al.,
2021, S. 6). Es existiert demnach eine Diskrepanz zwischen der Sicht der Verkäufer
und der Käufer im Hinblick auf die präferierte Form der gemeinsamen Interaktion.
Vor diesem Hintergrund verwenden Käufer in Unternehmen immer weniger Zeit auf
persönliche Treffen mit Anbietern. Untersuchungen deuten darauf hin, dass für ent-
sprechende Treffen nur 17 % der gesamten Zeit im Verlauf des Einkaufsprozesses
verwendet werden. Noch geringer fällt der Zeitanteil aus, der auf einen einzelnen
Lieferanten entfällt, wenn man davon ausgeht, dass z. B. 3–5 Anbieter in die jeweiligen
Auswahlprozesse einbezogen werden. Aus den geschilderten Erkenntnissen ergibt sich
eine zentrale Herausforderung im B2B-Kontext: Je eigenständiger sich Käufer selber
informieren und je weniger Zeit auf den direkten Kontakt mit einzelnen Lieferanten
verwendet wird, desto schwieriger wird es aus Sicht des Verkäufers, Kunden direkt zu
erreichen und letztlich zu beeinflussen (vgl. auch Adamson & Toman, 2020, S. 3 f.).
Während die Kunden weniger Interesse an einer direkten Interaktion mit den Ver-
käufern haben, wird deutlich mehr Zeit mit der Suche und Validierung von kauf-
relevanten Informationen verbracht. Ein Rückgriff auf relevante Informationen ist in
allen Phasen des Kaufprozesses schneller und einfacher möglich als in der Vergangen-
heit. Aus der ständigen Verfügbarkeit von immer mehr Informationen kann sich jedoch
eine Überforderung oder Unsicherheit in Bezug auf anstehende Kaufentscheidungen
beim Kunden ergeben. Wenn aus Kundensicht zu viele Informationen verfügbar sind
oder falls widersprüchliche Informationen vorliegen, hat dies unmittelbar Auswirkungen
auf die Frage, ob und in welchem Ausmaß ein Kauf getätigt wird und wie dieser Kauf
anschließend bewertet wird (vgl. Adamson, 2022, S. 5).
370 J. T. Karlshaus

Neben den bisher geschilderten Herausforderungen können sich weitere


Komplikationen im Zuge einer Digitalisierung des Vertriebs auch aus Sicht der Verkäufer
ergeben. Hierbei handelt es sich einerseits um Probleme, die aufgrund der schnellen
Einführung digitaler Tools entstehen, also um Anlaufprobleme, die in der Regel schritt-
weise behoben werden können. Zum Teil wird die Geschwindigkeit der Umsetzung
kritisiert, die häufig auf unklare, sich verändernde oder zu ehrgeizige Zielsetzungen
der Digitalisierung zurückzuführen ist. Im Hinblick auf die tatsächliche Umsetzung
der Digitalisierung im Vertrieb werden fehlendes Vertrauen der Nutzer im Vertrieb,
Überlastung mit zu vielen digitalen Instrumenten oder Lösungen sowie Bedenken hin-
sichtlich des Aufwandes oder des Mehrwertes der Digitalisierung angeführt. Weitere
Probleme tauchen aufgrund unzureichender Kenntnisse und Akzeptanz im Vertrieb und
durch Digitalisierung von Prozessen auf, die auch bereits vor einer Digitalisierung mit
Problemen behaftet waren (vgl. Zoltners et al., 2021, S. 91–93 oder Mullins & Agnihotri,
2021). Trotz signifikanter Investitionen scheitern vor diesem Hintergrund zahlreiche
Bemühungen, den Vertrieb zu digitalisieren oder führen nicht zu den erwünschten Ergeb-
nissen (vgl. Mullins & Agnihotri, 2022 oder Denning, 2021).

22.4 Gestaltungsempfehlungen

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die Digitalisierung im B2B-Ver-
trieb weit fortgeschritten ist und grundsätzlich positiv aus Sicht der meisten Kunden
wahrgenommen wird. Allerdings existieren unterschiedliche Wahrnehmungen aus Sicht
der Käufer und Verkäufer im Hinblick auf die Relevanz der Digitalisierung im Ver-
trieb sowie zahlreiche Herausforderungen bei der Umsetzung der Digitalisierung, die
sich negativ auf den Erfolg der Digitalisierungsbemühungen auswirken können. Vor
diesem Hintergrund sollen in diesem Abschnitt ausgewählte Handlungsempfehlungen
zur erfolgreichen Digitalisierung im Vertrieb dargestellt werden. Hierbei werden ins-
besondere vier Handlungsfelder vorgestellt: (1) die Optimierung der Kundeninteraktion
entlang der Customer Journey, (2) die Schaffung organisatorischer Voraussetzungen für
die Digitalisierung im Vertrieb, (3) die Unterstützung durch ausgewählte digitale Techno-
logien und (4) die Befähigung der Mitarbeiter im Vertrieb (für eine detaillierte Dar-
stellung weiterer Erfolgsvoraussetzungen vgl. z. B. Zoltners et al., 2021 oder Mullins &
Agnihotri, 2022).
Im Hinblick auf die Interaktion mit dem Kunden gilt es, sämtliche Kontaktpunkte
mit dem Kunden – sowohl entlang sämtlicher Stufen der Customer Journey sowie
in Bezug auf alle Verkaufskanäle so zu gestalten, dass die oben beschriebenen Ziele
einer Digitalisierung im Vertrieb erreicht werden können. Von zentraler Bedeutung
ist die Frage, wie ein Mehrwert für den Kunden erzielt – und wie darüber letztlich ein
Vertriebserfolg ermöglicht werden kann. Ausgangspunkt hierfür ist die Analyse der
aktuellen Interaktion mit dem Kunden und eine Bestandsaufnahme derzeitiger und
zukünftig erwarteter Kundenpräferenzen sowie der wahrgenommenen Schwachstellen in
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 371

der Kundeninteraktion mit dem Kunden. Je nach Unternehmen – und auch in Bezug auf
Unternehmen unterschiedlicher Branche oder Größe – werden hierzu unterschiedliche
Erkenntnisse und Ansatzpunkte für Verbesserungen zutage kommen. Auf Basis dieser
Analyse gilt es, das geeignete Zielmodell für die Interaktion mit den Kunden festzu-
legen. Als Resultat dieser Analyse können für einzelne Kunden oder Kundengruppen die
jeweils relevanten Verkaufskanäle in jeder Stufe des Verkaufsprozesses definiert werden.
Für einen großen Kunden und bei neuartigen, komplexen oder werthaltigen Kaufgegen-
ständen könnte beispielsweise eine intensive Interaktion entlang mehrerer Verkaufs-
kanäle sinnvoll sein, während für einen kleinen Kunden bei einem Wiederkauf eines
wenig erklärungsbedürftigen und nicht-werthaltigen Produktes unter Umständen nur ein
einziger Verkaufskanal und eine fokussierte Interaktion erforderlich sein könnte.
Im so entstehenden Interaktionsmodell findet der Austausch mit den Kunden kontinuier-
lich statt – digitale oder traditionelle Verkaufskanäle werden kombiniert oder einzeln entlang
der Customer Journey eingesetzt und entfalten ihre Wirkung über den gesamten Prozess
oder in Bezug auf einzelne Prozessabschnitte (vgl. Abb. 22.3). Die Interaktion mit den
Kunden wird in diesem Zusammenhang über die gesamte Customer Journey ‚orchestriert‘
(vgl. Zoltners et al., 2020 oder Arora et al., 2022, S. 10). Wie gut diese Orchestrierung
gelingt, ist entscheidend für den Erfolg im Vertrieb: „An effective sales model designates
which in-person or online activities are approapriate for the various stages of the customer
buying process“ (Cespedes, 2021b, S. 57). In diesem Zusammenhang erfolgt ein ständiger
und teilweise iterativer Austausch von Informationen und deren Validierung. Aus Sicht des
Verkäufers werden Daten über den Kunden und die Kundenanforderungen gesammelt und
validiert – für den Käufer stehen Informationen im Hinblick auf die jeweiligen Anbieter
und mögliche Lösungen im Vordergrund. Entlang der gesamten Customer Journey findet

1 2 3 4 5
Käufer:
Bedarfs- Ausschrei-
Customer Recherche Kauf Wiederkauf
erkennung bung
Journey

• Welches Problem • Existieren weitere • Welcher Anbieter • Zu welchen • Wird erneut


muss gelöst Anforderungen, erfüllt die Konditionen wird gekauft, zu
werden, welche welche Optionen / relevanten gekauft, wie wird welchen
Verkäufer: Anforderungen Lösungen Anforderungen die Lösung Konditionen?
Verkaufskanäle existieren? existieren? am besten? umgesetzt?

Kontinuierliche Interaktion
Außendienst

Sammlung & Validierung von Informationen (intern und zwischen Käufer / Verkäufer)

Inside Sales

Abstimmung & Konsensbildung (intern und zwischen Käufer / Verkäufer)


Online

Abb. 22.3 B2B-Kundeninteraktion entlang der Customer Journey. (Eigene Darstellung)


372 J. T. Karlshaus

zeitgleich eine intensive Abstimmung und Konsensbildung mit allen relevanten


Stakeholdern statt. Hierbei steht einerseits die interne Koordination im Mittelpunkt: Auf der
Käuferseite findet diese Abstimmung insbesondere im Buying-Center statt – aus Sicht des
Verkäufers erfolgt häufig eine ähnlich intensive interne Koordination mit allen am Verkauf
beteiligten Personen.
Um sicherzustellen, dass die Kundeninteraktion optimal über die gesamte Customer
Journey und alle digitalen und nicht-digitalen Verkaufskanäle gestaltet werden kann,
müssen organisatorische Voraussetzungen geschaffen werden, die sich je nach Ausgangs-
situation und Prioritäten unterscheiden. Von zentraler Bedeutung ist hier zunächst die
Frage, wie das Organisationsdesign innerhalb des Vertriebs selbst gestaltet wird. Hier gilt
es, unterschiedliche Verkaufskanäle miteinander zu kombinieren bzw. eine ‚hybride‘ Ver-
kaufsstruktur zu schaffen (vgl. Thaichon et al., 2018). Wie in Abb. 22.3 dargestellt, sind
in den meisten Fällen drei Kanäle im B2B-Kontext relevant: (1) der traditionelle Verkauf
über den Außendienst (mit persönlicher, direkter Kundeninteraktion z. B. in Treffen mit
Kunden oder auf Messen), (2) der Verkauf über den Inside Sales (Verkauf und Kunden-
betreuung auf ‚Distanz‘ z. B. über Telefon, Mail oder Videokonferenzen) und (3) Online
Kanäle (eigenständiger Zugriff auf Informationen, Produkte bzw. Lösungen durch die
Kunden z. B. über Unternehmenswebsite, digitale Kundenportale oder E-Commerce-
Kanäle). Je nach Kunde erlangen diese Verkaufskanäle eine unterschiedliche Bedeutung
und können einzeln oder in Kombination eingesetzt werden. Unterstützung erfolgt in
der Regel durch den Vertriebsinnendienst, der üblicherweise keine direkte Umsatzver-
antwortung hat. Die spezifischen Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Ressourcen für
alle Bereiche müssen präzise definiert und kontinuierlich überprüft sowie angepasst
werden. Dabei müssen die Schnittstellen zwischen den genannten Bereichen klar
definiert sein, um Reibungsverluste zu vermeiden und größtmögliche Kollaboration und
Synergien sicherzustellen. Schließlich werden die unterschiedlichen Vertriebskanäle und
Ressourcen auch so eingesetzt, dass aus Kostensicht eine Optimierung erfolgen kann:
kostengünstige Kanäle werden für weniger komplexe und leicht erlernbare Tätigkeiten
eingesetzt (z. B. für Qualifikation eines Leads über Mail oder Telefon) – anspruchsvolle
und komplexe Tätigkeiten (z. B. für Verhandlung mit Kunden) werden durch Mitarbeiter
oder Kanäle übernommen, die höhere Investitionen erforderlich machen.
Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die zunehmende Verbreitung von Remote
Work einen negativen Einfluss auf die Kollaboration zwischen Bereichen haben kann
und dass die Interaktion zwischen Unternehmensbereichen statischer und stärker
auf den eigenen Bereich fokussiert wird (vgl. Yang et al., 2022). Die Schaffung der
organisatorischen Voraussetzungen geht vor diesem Hintergrund über den Vertriebs-
bereich hinaus. Von hoher Bedeutung ist hier insbesondere die Schnittstelle zum
Marketing (vgl. z. B. Homburg & Jensen, 2007 oder Mullins & Agnihotri, 2022).
Auch hier gilt es, eine enge Kollaboration sicherzustellen und über einen regelmäßigen
Informationsaustausch eine ganzheitliche Sicht auf den Kunden zu entwickeln. Je nach
Unternehmen werden weitere interne organisatorische Schnittstellen relevant (für einen
Überblick vgl. Karlshaus, 2000, S. 13–14). In Bezug auf die oben erwähnten Online-Ver-
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 373

kaufskanäle ist beispielsweise auch die Schnittstelle zur Logistik zentral, damit Online-
Bestellungen schnell und reibungslos ausgeliefert werden können und damit umgehend
auf etwaige Probleme reagiert werden kann. Von zunehmender Bedeutung ist auch die
Schnittstelle zum IT-Bereich und eine enge Abstimmung in Bezug auf vertriebsrelevante
Daten sowie auf einzusetzende Technologien. Wiederholt wird auf die Notwendigkeit
hingewiesen, dass Kundendaten in allen Bereichen der Customer Journey und über alle
Verkaufskanäle systematisch erfasst und analysiert werden müssen (vgl. Zoltners et al.,
2021, S. 89 oder Lemon & Verhoef, 2016). Entscheidend ist hierbei der Rückgriff auf
Kundendaten aus allen relevanten Quellen – aus Marketing und Vertrieb, jedoch auch
aus anderen internen oder externen Quellen – und die Integration dieser Daten (vgl.
Andersen et al., 2018, S. 4 oder Cespedes, 2021a, S. 140 ff.). Über diese ganzheit-
liche Sicht auf den Kunden können Kundenanforderungen insgesamt und spezifische
Anforderungen des Buying-Centers besser analysiert werden und die Kundeninteraktion
so gestaltet werden, dass eine konsistente und positiv wahrgenommene Kundenerfahrung
entsteht.
Der Rückgriff auf Daten spielt demzufolge im Vertrieb eine immer größere Rolle im
Vertrieb: „In almost every domain of sales, data-driven decisions are replacing instinct
and gut-feel decisions“ (Zoltners et al., 2020, S. 4; vgl. auch Guenzi & Habel, 2020,
S. 69). Größere Datenmengen können mit neuen Auswertungsmethoden und mit deutlich
höherer Rechengeschwindigkeit als bisher ausgewertet werden, sowohl vergangenheits-
bezogene als auch zukunftsbezogene Analysen können im Vertrieb über Data Analytics
unterstützt werden (vgl. Schulze, 2022). Hiermit verbunden ist der zunehmende Einsatz
von Künstlicher Intelligenz (KI) bzw. Artificial Intelligence (AI) im Vertrieb (vgl. Singh
et al., 2019 für einen Überblick). Data Analytics und AI können einen wichtigen Beitrag
zum besseren Verständnis von Kundenbedürfnissen leisten (vgl. Salesforce, 2021, S. 18).
Über AI kann die Frage unterstützt werden, welche Kunden oder welche Geschäfts-
möglichkeiten überhaupt priorisiert werden sollten (‚Lead Scoring‘). Darüber hinaus
können Vorhersagen in Bezug auf die Vertriebserfolge bzw. Zielerreichung abgeleitet
werden – sowohl auf Unternehmensebene als auch in Bezug auf einzelne Vertriebs-
mitarbeiter (vgl. Davis et al., 2021, S. 4). Außerdem können Cross- oder Up-Selling
Potenziale identifiziert werden – durch einen schnellen Datenzugriff können außerdem
automatisierte und personifizierte Angebote oder Lösungen für Kunden erstellt werden
(vgl. Rapp & Beeler, 2021, S. 41 f. und Hoffman et al., 2022, S. 4). Auch im Hinblick
auf die Preisfestlegung, zur Unterstützung von Verhandlungen mit Kunden und in Bezug
auf die Vorhersage der Abwanderungswahrscheinlichkeit von Kunden wird AI bereits im
B2B-Vertrieb eingesetzt (vgl. Singh et al., 2019, S. 7 oder Davis et al., 2021, S. 4).
Aufgrund der enormen Datenmenge, die entlang aller relevanten Kundeninteraktionen
betrachtet werden muss, wird die Messbarkeit der Interaktionen zu einer immer größer
werdenden Herausforderung. Die schrittweise Einführung und Erweiterung geeigneter
Systeme zur Zusammenführung aller Kundendaten und die gezielte Befähigung des Ver-
triebs in der Nutzung dieser Systeme schafft hier Abhilfe. Von zentraler Bedeutung sind
Customer-Relations-Management-Systeme (CRM), über die eine ganzheitliche Sicht auf
374 J. T. Karlshaus

den Kunden ermöglicht wird. Sämtliche Daten – aus allen Interaktionen mit dem Kunden
und in Bezug auf alle Geschäftsmöglichkeiten – werden hier erfasst und in Echtzeit Ent-
scheidungsträgern im Vertrieb bereitgestellt, sodass eine gezielte Steuerung und Unter-
stützung des Vertriebs ermöglicht wird.
Der Einsatz von neuen Technologien beschränkt sich nicht nur auf kundenbezogene
Aktivitäten, sondern unterstützt auch interne Prozesse im Vertrieb. So können ins-
besondere nicht produktive Tätigkeiten und Aktivitäten, die einen hohen manuellen
Arbeitsanteil und sich ständig wiederholende Tätigkeiten betreffen, zunehmend auto-
matisiert werden (vgl. Ahearne et al., 2005 für einen Überblick zur sog. Salesforce
Automation). Hierüber kann die Vertriebseffizienz gesteigert und freie Zeit für den
direkten Kontakt mit Kunden geschaffen werden. Zahlreiche Vertriebstätigkeiten können
auf diese Weise optimiert werden – bspw. die Erstellung von Vertriebsberichten oder
Kundenpräsentationen, die Priorisierung und Zuordnung von Aufgaben oder Leads,
die Identifikation von Kundenaktivitäten und die Vereinbarung von Terminen (vgl.
Thaichon et al., 2018, S. 292 und Salesforce, 2021, S. 10). Im Zusammenhang mit
der Optimierung von Geschäftsprozessen ist zu erwarten, dass auch das sog. ‚Process
Mining‘ in Zukunft breitere Anwendung im Vertriebsumfeld finden wird. Über diese
Form der Prozessoptimierung können Prozessabläufe im Kundenservice und auch Ver-
triebsprozesse optimiert werden. Im Vertrieb können einzelne Prozessschritte, von der
Leadgenerierung bis zum Vertragsabschluss, schnell visualisiert und unter Einsatz von
AI im Hinblick auf Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten untersucht werden.
Die Digitalisierung und der Einsatz neuer Technologien haben unmittelbar Aus-
wirkungen auf die Mitarbeiter im Vertrieb. Sowohl positive als auch negative Aus-
wirkungen sind hierbei zu verzeichnen (vgl. Guenzi & Nijssen, 2021, S. 130). Einerseits
ergeben sich positive Effekte – etwa durch vereinfachten Zugriff auf Informationen, Ver-
einfachung von Prozessen und durch Tools, welche die Interaktion mit Kunden unter-
stützen und die Erreichung von Vertriebszielen fördern können. Auf der anderen Seite
sind Vertriebsmitarbeiter jedoch auch mit zunehmenden Anforderungen konfrontiert. So
müssen bspw. neue technische Fähigkeiten oder Arbeitsmethoden erworben werden –
häufig werden auch die Zielvorgaben im Zuge Digitalisierung des Vertriebs erhöht.
Vor diesem Hintergrund sind die Akzeptanz und eine nachhaltige Umsetzung einer
Digitalisierung im Vertrieb nicht automatisch gegeben. Vielmehr gilt es, gezielt die Ver-
triebsmitarbeiter in die Planung und Umsetzung von Digitalisierungsinitiativen ein-
zubeziehen, um Unsicherheit zu reduzieren und den (persönlichen) Nutzen durch
Digitalisierung transparent zu machen. Gezielte Kommunikationsmaßnahmen und
insbesondere Trainings können helfen, die Vertriebsmitarbeiter zu überzeugen und
zu befähigen. Handlungsbedarf in Bezug auf ein Re-Skilling der Mitarbeiter wird von
den meisten Unternehmen im B2B-Umfeld erkannt – eine Vielzahl von Unternehmen
geht davon aus, dass aktuell nicht die erforderlichen Kenntnisse im Vertrieb vorhanden
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 375

sind, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein (vgl. Harney et al., 2022, S. 5 sowie Rapp
& Beeler, 2021, S. 42). Neben der Qualifikation vorhandener Mitarbeiter kann es auch
sinnvoll sein, Mitarbeiter einzustellen, die bereits Kenntnisse im Hinblick auf digitale
Tools aufweisen (vgl. Zoltners et al., 2021, S. 90 ff. und Guenzi & Nijssen, 2021,
S. 143). Von entscheidender Bedeutung ist zudem die fortwährende Unterstützung
durch die Vertriebsleitung sowie die Sales Leader – und in der gesamten Unternehmens-
führung. Das Management dient durch die aktive und sichtbare Nutzung digitaler Tools
als Vorbild und spielt eine zentrale Rolle auch im Hinblick auf das Coaching der Ver-
triebsmitarbeiter (vgl. Mattila et al., 2021, S. 116 oder Mullins & Agnihotri, 2022).

22.5 Fazit

Für die allermeisten Unternehmen, die im B2B-Umfeld aktiv sind, besteht Handlungs-
bedarf im Hinblick auf eine Digitalisierung des Vertriebs. Dieser Bedarf resultiert
einerseits aus dem Potenzial, das sich durch gesteigerte Effizienz und Effektivität von
Vertriebsprozessen ergeben kann und insbesondere aus der Erwartung der Kunden,
dass digitale Interaktion und digitale Tools professionell und kundengerecht eingesetzt
werden.
Für Unternehmen, welche die Digitalisierung im Vertrieb weiter vorantreiben wollen,
ist zunächst eine Bestandsaufnahme der Kundenanforderungen und der internen Aus-
gangslage bzw. der derzeitigen Leistungsfähigkeit im Vertrieb entscheidend. Wenn
auf Basis dieser Analyse grundlegende Probleme in Bezug auf Vertriebsstrategie,
Organisation, Beteiligte, Prozesse oder existierende IT bzw. Vertriebstools offensichtlich
werden, besteht die Notwendigkeit, die Voraussetzungen für eine weitere Digitalisierung
zu schaffen. Offensichtliche Probleme müssen beseitigt werden, ein solides Funda-
ment für eine zukunftsfähige Digitalisierung im Vertrieb muss geschaffen werden. Auf
dieser Grundlage kann ein systematischer und kontextabhängiger Entwicklungs- und
Implementierungsplan für eine Digitalisierung im Vertrieb entwickelt werden. Eine
Priorisierung im Hinblick auf besonders wichtige Handlungsfelder und Pilotprojekte
macht in den allermeisten Fällen Sinn, um schnelle erste Fortschritte zu erzielen und um
hiermit verbundene Erfolge nutzen zu können.
Damit hat die Digitalisierung das Potenzial, die Rolle des Vertriebs – an der
zentralen Schnittstelle zum Kunden – weiter zu stärken. Der B2B-Vertrieb wird durch
die zunehmende Digitalisierung nicht ersetzt, sondern weiter befähigt und wird damit
wichtiger als je zuvor. Die Digitalisierung im Vertrieb bleibt hierbei keine einmalige
Aktivität, sondern muss – aufgrund fortschreitender Entwicklungen in Bezug auf
Kundenanforderungen, Technologien und Marktentwicklungen – als dauerhafte Aufgabe
im Vertrieb etabliert werden.
376 J. T. Karlshaus

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378 J. T. Karlshaus

Prof. Dr. Jan Thido Karlshaus ist als Professor für Marketingmanagement an der IU Inter-
nationale Hochschule tätig. Nach dem Studium (Dipl.-Kfm., Universität zu Köln, Pennsylvania
State University in State College und FGV in São Paulo) und der Promotion (Dr. rer. pol., WHU
Koblenz) war er zunächst als Unternehmensberater für McKinsey & Co. tätig, wo er vor allem
Automobil-, Logistik- und High-Tech-Unternehmen begleitete. Anschließend wechselte er als
Vice President und Leiter der Konzernstrategie in den Konzern Deutsche Post DHL. Nach Tätig-
keit in verschiedenen Führungspositionen im Vertrieb wurde er dort zum Chief Customer Officer
(CCO) innerhalb von DHL Supply Chain befördert und übernahm im Anschluss als Senior Vice
President und Geschäftsbereichsleiter die Verantwortung für das weltweite Geschäft mit Kunden
in der High-Tech-Industrie. Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung und Beratungstätigkeit liegen
im Bereich Sales, Strategie, Digitalisierung, Supply Chain und E-Fulfillment.
Corporate Digital Responsibility im
Metaversum: Ein E-Commerce-Szenario 23
Sibylle Kunz  

Zusammenfassung

Mit Facebooks Umbenennung des Konzerns in „Meta“ und der im November


2021 angekündigten Absicht, die Errichtung des „Metaversums“ maßgeblich
voranzutreiben, stellt sich zunehmend auch die Frage nach den aufkommenden
Problemfeldern, wenn Interessierte und Kunden in naher Zukunft nicht nur mit
Online-Werbung konfrontiert werden und anschließend auf E-Commerce-Platt-
formen oder in Online-Shops einkaufen, sondern sich diese Inter- und Transaktionen
zunehmend auch im Bereich augmentierter (AR) oder virtueller Realität (VR)
abspielen. Der Beitrag zeigt auf, welche Szenarien entstehen können, wenn Meta und
andere Konzerne wie Alphabet, Apple oder Microsoft immersive und untereinander
verbundene virtuelle Welten erschaffen, in denen sich Nutzer:innen mithilfe von
Avataren bewegen, interagieren und kollaborieren. Die langfristigen Folgen von ver-
mehrten und zeitlich ausgedehnteren Aufenthalten in AR/VR/XR-Umgebungen sind
noch nicht vollständig erforscht. Probleme und ethische Dilemmata können auf vielen
Gebieten wie Psychologie, Datenschutz und Recht entstehen. Ziel des Beitrags ist
es, anhand eines hypothetischen Szenarios und konkreter Fallbeispiele das Spektrum
der ethischen, medizinischen, psychologischen, gesellschaftlichen, rechtlichen und
ökonomischen Problembereiche aufzuzeigen und die Fragestellungen, die sich im
Rahmen der Corporate Digital Responsibility in Bezug auf neue Marketingstrategien
ergeben können, darin zu verorten.

S. Kunz (*)
IU Internationale Hochschule, Essenheim, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 379
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_23
380 S. Kunz

23.1 Vom Web 2.0 zum Metaverse

Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen Abriss über die Etablierung des Onlinehandels
als Vertriebskanal. Daran anschließend werden die Grundlagen von Augmented und
Virtual Reality skizziert und der Begriff des Metaversums erläutert, der durch Facebooks
Umbenennung in „Meta“ zu neuer Aktualität gelangt.

23.1.1 Der klassische Onlinehandel im Web 1.0 bis Web 3.0

Mit der zunehmenden Nutzung des World Wide Web in den 1990er-Jahren entstanden ab
1994 die ersten Online-Shops (Lewis, 1994). Amazon ging 1994 als reine Online-Buch-
handlung an den Start und ist heute der erfolgreichste digitale Shoppinganbieter der Welt
mit einem Gesamtumsatz von 386 Mrd. US-Dollar in 2020 (Amazon, 2021). Der erfolg-
reichste chinesische Anbieter jd.com, der im Jahr 2003 ursprünglich als Elektronik-
händler gestartet war, kam im Jahr 2020 auf 114 Mrd. US-Dollar Umsatz (JD.Com,
2021).
Für Deutschland wird das jährliche Volumen im Onlinehandel für 2020 auf
ca. 83,3 Mrd. € geschätzt. Knapp 73 Mrd. € davon fließen in den B2C-Bereich. Den
größten Anteil an Produkten nimmt dabei Bekleidung ein, gefolgt von Elektronik-
artikeln und Gütern für Freizeit und Hobby. Der erfolgreichste Online-Händler ist auch
in Deutschland Amazon mit knapp 14 Mrd. € Umsatz, weit abgeschlagen folgen Otto.de
mit 4,5 Mrd. € und Zalando mit knapp 2 Mrd. €. Zu den zehn größten Onlinehändlern in
Deutschland zählen ferner (in dieser Reihenfolge) MediaMarkt und Saturn, Lidl, Apple
und IKEA. (Statista Research, 2021; HDE, 2021; EHI Retail Institute/Statista, 2021).
Die Nutzenden haben sich an durchsuchbare Produktdatenbanken, die Metapher
des Einkaufswagens, in den die Artikel „gelegt“ werden können und zumeist ähnlich
strukturierte Checkout-Vorgänge mit Adresseingabe und Bezahlschnittstellen gewöhnt.
Passwortgeschützte Kundenaccounts erlauben das leichte Einloggen und Bestellen.
Einige Online-Shops setzen Chatbots ein, um Fragen von Kunden zu beantworten und
diesen eine Kommunikation in natürlicher Sprache zu ermöglichen. Alternativ werden
Kontaktformulare, Service-Mailadressen oder Telefonhotlines angeboten, wie in
Abb. 23.1 dargestellt. Die Funktionsweise solcher Online-Shops hat sich in den letzten
25 Jahren nicht wesentlich verändert. Zahlreiche „klassische“ Online-Shops sind aber
aufgrund des immensen Innovationsdrucks und ausbleibenden Wachstums in ihrer
Existenz bedroht (Heinemann, 2016).
Charakteristisch für dieses traditionelle Online-Shopping-Szenario ist, dass sich
Kunden auf jeder Plattform erneut einloggen müssen und die einzelnen Online-
Shopping-Plattformen organisatorisch und technisch voneinander getrennt sind.
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 381

Abb. 23.1 Klassischer


Online-Shop, 1:1-Beziehung
zwischen Kunde, Shop-Instanz
und Service. (Quelle: eigene
Darstellung)

Nichtsdestotrotz kann das Informations- und Einkaufsverhalten der Kunden über Log-
file-Analysen und ausgedehnte Cookie-Netzwerke intensiv beobachtet und dokumentiert
werden (Hassler, 2019). Die so gewonnenen Daten werden zur gezielten Aussendung
von Werbung verwendet. Es existieren aber inzwischen weitreichende verbraucher- und
datenschutzrechtliche Regelungen für den Einsatz von Cookies und Nutzer-Tracking.
Im Zuge des Web 2.0 und der Erschaffung sozialer Netzwerke wie Facebook,
Instagram, Twitter oder TikTok wurden Konsument:innen immer stärker zu
Prosument:innen, die ihre eigenen Inhalte in Form von Texten, Bildern, Audio- und
Videobeiträgen erstellten und teilten. Die asynchrone Kommunikation über diese
sozialen Netzwerke wurde durch zahlreiche Chat- und Video-Kommunikations-
anwendungen wie WhatsApp, Telegram, Clubhouse, Skype, Teams oder Zoom etc.
ergänzt, die eine synchrone Kommunikation ermöglichen.
Im Web 3.0 sorgen inzwischen Blockchain-basierte Anwendungen für fälschungs-
sichere Transaktionen mit digitalen Währungen und Smart Contracts. Vor allem auf der
Basis der Plattform Ethereum entstanden die Non-Fungible Tokens (NFTs), digitale
Besitz- und Originalitätsnachweise für reale oder virtuelle Güter (Moorstedt, 2021).
Online-Shopping ist inzwischen auch auf mobilen Endgeräten wie Smartphone und
Tablets problemlos möglich. Die Anforderungen an die Hardware, insbesondere an die
Grafikleistung, sind gering. Die Nutzer:innen sind nur für die Dauer der Informations-
und Transaktionsvorgänge auf den Plattformen aktiv. Immersion im Sinne eines mög-
lichst realistischen „räumlichen“ Erlebnisses spielt keine Rolle. Dreidimensionale
Produktdarstellungen existieren fallweise, sind aber nicht die Regel. Mit dem Auf-
kommen leistungsfähigerer Hard- und Software zur Generierung augmentierter und
virtueller Realitäten wird sich das in den nächsten Jahren sichtbar ändern.
382 S. Kunz

23.1.2 Die Entwicklung von Augmented und Virtual Reality

Augmented Reality (AR) bezeichnet das Erweitern der Realität um künstliche grafische
Objekte, die in Echtzeit berechnet und über ein See-Through-Display (z. B. eine Brille)
eingeblendet werden und mit denen die Nutzer:innen ebenfalls in Echtzeit interagieren
können, indem sie sie selektieren und manipulieren, sie also beispielsweise „ergreifen“
und von allen Seiten betrachten oder in der Größe verändern. (Azuma, 1997). Zur
Anzeige von AR-Elementen können die Displays von Smartphones oder Tablets ver-
wendet werden, es gibt aber auch spezielle AR-Brillen, durch die die Realität, ergänzt
um die virtuellen Objekte wahrgenommen werden kann. Zu größerer Bekanntheit
gelangte beispielsweise die bereits 2012 vorgestellte „Google Glass“, die einfache
Datendarstellungen über ein Display in der Brille anzeigen konnte oder das aktuelle
Modell HoloLens2 von Microsoft (Microsoft, o. J.), das vor allem in Design, Forschung
und Weiterbildung eingesetzt wird.
Virtual Reality (VR) bezeichnet im Gegensatz dazu die Darstellung drei-
dimensionaler, komplett künstlicher Welten. Zu ihrer Darstellung werden VR-Brillen
benötigt, die im einfachsten Fall aus einem Smartphone in einer Papphalterung
(„Cardboard“) bestehen. Die Software berechnet zwei leicht versetzte stereoskopische
Bilder, die nebeneinander für je ein Auge auf dem Display angezeigt werden (Dörner
et al., 2019). Hochwertige VR-Brillen wie die Oculus Rift2 verfügen über zwei getrennte
Displays, zuweilen wird in die Brillenhalterung auch noch ein Kopfhörer integriert.
Da die Anwender:innen während der Nutzung die Außenwelt nicht wahrnehmen, ist
der Bewegungsradius zumeist beschränkt. Für die Interaktion werden Controller ein-
gesetzt, die Positionen der Nutzer:innen werden über externe Sensoren oder in die Brille
integrierte Kameras getrackt. Je nach Hersteller:in werden drei oder sechs Freiheits-
grade der Bewegung (3DoF, 6DoF) ermöglicht (Dörner et al., 2019). Es existieren zahl-
reiche Anwendungsmöglichkeiten, am weitesten verbreitet sind Gaming, Simulationen,
Lernsoftware (z. B. für Piloten oder in der Medizin oder zum Erlernen virtueller
Instrumente) und virtuelle Reisen, daneben wird VR auch zur Therapie von Angst-
störungen (z. B. Höhenangst) oder für Meditationen eingesetzt. Auch virtuelle Events
zur Freizeitgestaltung sind möglich, etwa in VR-Arcades mit hochwertigen Simulatoren,
Multiplayerräumen oder beispielsweise beim VR-Bodyflying im Windtunnel, während-
dessen die Kunden einen virtuellen Basejump erleben (Jochen Schweizer, 2021). Ferner
existieren Anwendungen zur Kollaboration von Mitarbeitenden oder Implementierung
digitaler Klassenräume, wobei die Teilnehmenden dann über teil- oder ganzkörperlich
dargestellte Avatare repräsentiert werden.
Wichtig ist bei VR-Anwendungen das möglichst große Ausmaß an Immersion, d. h.
die Nutzenden fühlen sich vollständig in die künstliche Welt versetzt und erleben eine
möglichst authentische Präsenz durch Ansprache möglichst vieler Sinne (Multimodali-
tät) (Dörner et al., 2019). Neben den optischen können dabei akustische oder – bei Ver-
wendung von Datenhandschuhen oder Datenanzügen – auch haptische Reize eingesetzt
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 383

werden. Erste Experimente gibt es auch schon mit der Ausbringung von künstlichen
Düften über eine zusätzliche Apparatur.
VR-Anwendungen stellen hohe Anforderungen an die Hardware, da große Mengen
von Bildern und Objekten in Szenen in Echtzeit berechnet und bei Bewegungen von
Augen oder Kopf angepasst werden müssen. Die dazu notwendige Rechenleistung
kommt bei autarken Systemen direkt aus der Brille, alternativ aus einem verbundenen
PC. Zukünftig werden Anwendungen vermehrt über das Internet gestreamt werden
können, sodass die erforderliche Rechenleistung in Cloudsystemen erbracht werden
kann.

23.1.3 Facebook wird zu Meta

Insbesondere Facebook geriet im Laufe der 2010er Jahre zunehmend für seinen Umgang
mit Nutzerdaten in die Kritik. Höhepunkte waren der Cambridge Analytica-Skandal mit
dem Verdacht der gezielten Wahlbeeinflussung durch Nutzen von Wähler:innenprofilen
im Jahr 2016 und die Offenlegungen durch die Whisteblowerinnen Sophie Zang in
2020 und Frances Haugen in 2021. Sie brachten an die Öffentlichkeit, dass nicht alle
Nutzer:innen auf Facebook gleichen Regeln unterliegen, dass der Konsum von Inhalten
auf Instagram zu Depressionen und Suizidgefährdung bei Jugendlichen führen kann
und dieses dem Unternehmen bekannt ist und dass die Gestaltung des Newsfeeds der
Nutzer:innen aufsehenerregende und negativ gestimmte Beiträge bevorzugt. Zudem ist
durch die Übernahme von WhatsApp und Instagram eine nahezu marktbeherrschende
Stellung entstanden und das Unternehmen steht international im Fokus der Aufsichts-
behörden (Bager, 2021).
Am 28. Oktober 2021 gab Facebook auf der Entwicklerpräsentation „Facebook
Connect“ seine Transformation in ein „Social Technology“-Unternehmen und seine
Umbenennung in Meta bekannt und stellte auch das neue Logo vor (Facebook/Meta,
2021a). Neues Ziel soll der Aufbau des Metaverse (deutsch: Metaversum) sein, eine
Weiterentwicklung des World Wide Web zu einer dreidimensionalen offenen Spiele-,
Einkaufs- und Kollaborationsplattform. In den Jahren zuvor hatte Facebook schon mit
Akquisitionen wie Oculus (ein Hersteller von VR-Brillen wie beispielsweise den erfolg-
reichen Modellen Oculus Rift, Oculus Quest sowie Oculus Quest 2) oder Beat Games,
dem Hersteller des weitverbreiteten VR-Spiels Beat Saber seine Aktivitäten im Bereich
Virtual Reality deutlich verstärkt (Meta, 2021).
Der Begriff Metaverse stammt aus dem 1992 veröffentlichten Roman „Snowcrash“
von Neal Stephenson und bezeichnete dort eine virtuelle Welt, in die sich Menschen
zum Arbeiten und in der Freizeit begeben. Eine erste Implementierung war das 2003
ins Leben gerufene SecondLife (https://secondlife.com), das grafisch noch wenig
anspruchsvoll gestaltet war, aber bereits viele Unternehmen zu einer virtuellen Präsenz
verleitete. Das von Epic Games 2017 veröffentlichte kostenlose Kooperations- und
Survivalspiel Fortnite (https://www.epicgames.com/fortnite/de/home) wurde seit 2019
384 S. Kunz

auch zur Veranstaltungsplattform virtueller Konzerte von DJs und Popsänger:innen, zu


denen sich eine große Zahl von Zuschauenden zeitgleich zusammenfand. Im Jahr 2019
gab Tim Sweeney, CEO der Spieleplattform Epic Games an, ebenfalls den Aufbau
eines Metaversums anzustreben (SIGGRAPH Conference, 2019), das aus verbundenen
Spieleplattformen bestehen könne. Weitere, bislang dezentrale virtuelle Welten im Sinne
eines Metaversums bilden Roblox (https://www.roblox.com), Decentraland (https://
decentraland.org) oder Sandbox (https://www.sandbox.game).
2020 beschrieb Matthew Ball (2020) in einem Essay grundlegende Anforderungen
an das Metaversum. Zu diesen gehören seine fortgesetzte Existenz (Persistenz), es
wird also niemals unterbrochen oder abgeschaltet, ferner seine Echtzeitdarstellung,
es soll also Live-Erfahrungen der Nutzer:innen ermöglichen und dabei die physische,
reale Welt und die virtuelle miteinander verbinden. Es gibt keine Beschränkung der
Nutzer:innenzahlen. Es existiert eine voll funktionsfähige Metaverse-Wirtschaft, in
der digitale Güter produziert und gehandelt werden können und die angebotenen
Inhalte und „Experiences“ (vergleichbar mit Dienstleistungen) werden von Individuen,
Organisationen und Unternehmen bereitgestellt. Im Metaverse erworbene digitale Güter
wie z. B. Ausstattungsgegenstände, Bekleidung oder Fähigkeiten eines Avatars sollen
anwendungsübergreifend zur Verfügung stehen und genutzt werden können. Schon heute
erlauben Anwendungen wie MetaHumans (https://www.unrealengine.com/en-US/digital-
humans) oder Unity Ziva (https://zivadynamics.com) die fotorealistische Darstellung
und Animation der Mimik und Bewegung von Avataren in menschlicher Form, und auch
in Filmen werden diese bereits eingesetzt (Unreal Engine, 2021). Einen Überblick über
weitere Definitionen und eine Forschungsagenda für Werbung im Metaversum liefert
Kim (2021).
Dezentralisierung und Interoperabilität der im Metaversum verwobenen Plattformen
setzen offene Standards und Protokolle voraus, weswegen für große Technologieanbieter
wie Meta, Alphabet (Google), Apple, Microsoft, Epic und andere erhebliche Anreize
bestehen, bei der Entwicklung dieser Standards mitzuarbeiten und sie maßgeblich zu
beeinflussen. Gleichzeitig wird das Metaversum immense Auswirkungen auf Werbung
und Unternehmenskommunikation haben, Kundenvertrauen spielt eine immer größere
Rolle (Hall & Takahashi, 2017). Die Komplexität der Verflechtung von IT-Techno-
logien (z. B. Artificial Intelligence, Blockchain, Computer Vision, Edge Computing) und
bestehenden Ökosystemen (Avatare, Security & Privacy, Trust & Accountability) zeigen
ausführlich Lee et al. (2021).
Im Folgenden wird beispielhaft ein Szenario für eine Online-Shopping-Plattform
im Metaversum entworfen und es wird analysiert, welche Gestaltungsdimensionen und
welche Probleme dabei eine Rolle spielen.
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 385

23.2 Immersive Shopping in 3D – Das Metaversum als


immersive Einkaufswelt

In diesem Abschnitt werden die Besonderheiten einer nun ins Metaversum verlagerten
Verkaufsstätte aufgezeigt, und es werden verschiedene Konstellationen von Kunden und
Verkaufspersonal sowie Besonderheiten der im Virtuellen gehandelten Güter erörtert.

23.2.1 Räumliche und soziale Dimension von Verkaufsstätten im


Metaversum

Um die Chancen und Risiken für Kundenbeziehungsmanagement und Marketing


in virtuellen Realitäten beurteilen zu können, ist es sinnvoll, die Ausgestaltungs-
dimensionen einer solchen Einkaufssituation zu betrachten. Der Einfachheit halber
beschränken sich diese Überlegungen auf ein B2C-Szenario, bei dem Endkunden ein
Produkt von Hersteller:innen oder Händler:innen erwerben. B2B-Szenarien weisen einen
anderen Fokus auf: Bei der betrieblichen Beschaffung liegt der Fokus eher auf dem Fest-
legen von Produkteigenschaften (es wird allerdings VR im Designprozess eingesetzt
und es werden „Digital Twins“ geschaffen) oder dem Aushandeln von Konditionen.
Hier bringt eine immersive dreidimensionale grafische Simulation nur wenig Mehrwert
gegenüber heute schon gebräuchlichen Kommunikationsformen.
Denkbar ist nun ein Kontinuum, das sich von einer einfachen dreidimensionalen
Version eines herkömmlichen Onlineshops bis hin zu einer aufwendig gestalteten Erleb-
nisplattform für soziales Beisammensein und gemeinsame „Einkaufsbummel“ erstreckt.
Interessenten oder Kunden betreten in einem solchen Szenario nicht mehr physisch
ein Geschäft oder einen Verkaufsraum, sondern loggen sich mit ihrem Account in eine
Metaversum-Anwendung ein. Zur Wahrnehmung der Inhalte benutzen sie entsprechende
Hardware, z. B. eine VR-Brille. Zur Manipulation von Gegenständen, beispielsweise den
Produkten, für die sie sich interessieren, verwenden sie passende Controller oder eine
Gestenerkennung und -steuerung. In der grafischen Repräsentation werden sie durch
ihre Avatare dargestellt. Dieser kann ihrem tatsächlichen Erscheinungsbild ähneln, aber
auch vollkommen anders gestaltet sein, wobei der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.
Die Nutzer:innen identifizieren sich mit diesem Avatar, dessen Features (Aussehen,
Kleidung, Bewegung) über verschiedene Anwendungsbereiche des Metaversums hinweg
konstant bleiben oder fallweise variiert werden können. Verkaufspersonal kann sich
also – je nach Limitationen der Software, in der die Verkaufsrepräsentanz realisiert ist,
Kunden in verschiedener optischer Gestalt gegenübersehen.
In einer virtuellen Verkaufsumgebung treffen die Nutzer:innen – im Gegensatz zu
klassischen Online-Shopping-Szenarien – auf andere Nutzer:innen und gegebenen-
falls auch auf Verkaufspersonal. Auch hier sind verschiedene Szenarien denkbar: Es
könnte sich dabei um Mitarbeitende in Vertrieb oder Verkauf handeln, die ebenfalls über
einen Avatar repräsentiert werden – auch hier stellt sich die Frage nach der äußerlichen
386 S. Kunz

Ausgestaltung und ob hier beispielsweise eine Integration in die Corporate-Identity-


Strategy und die Corporate Communication nötig ist. Genauso gut könnten aber auch
AI-gesteuerte Bots verwendet werden, wie sie heute schon als Chatbots – teilweise
auch mit grafischer 2D-Animation – im Einsatz sind. Sollten Kunden Fragen haben, die
vom Bot nicht mehr beantwortet werden können, können menschliche Berater:innen in
Avatarform hinzugezogen werden. Ändert sich die äußere Erscheinung der Berater:innen
dabei nicht, könnten die Kunden nicht oder nur schwer unterscheiden, ob sie es mit
einem Algorithmus oder menschlicher Kommunikation zu tun haben (vgl. Abb. 23.2).
Um ein möglichst „authentisches“ Verkaufserlebnis zu schaffen, können sich weitere
Kunden in den Räumlichkeiten befinden. Damit sind auch gemeinsame Shoppingerleb-
nisse denkbar: Freunde und Freundinnen besuchen gemeinsam in einer Gruppe von
Avataren entsprechende Plattformen. Ob solchen Gruppen dann wiederum nur ein:e
Berater:in gegenübertritt oder mehrere oder mehrere Instanzen derselben, ist eine weitere
Gestaltungsdimension. Strukturieren lässt sich diese Situation im Sinne einer m:n-
Relation von Kunden und Anbieter:innen (vgl. Abb. 23.3).

23.2.2 Eigenschaften gehandelter Güter im Metaversum

Mit entsprechendem Aufwand lassen sich die bisherigen zweidimensionalen Produkt-


visualisierungen klassischer Onlineshops auch dreidimensional realisieren, Abbildungen
von Konsumgütern ließen sich dann drehen, vergrößern oder verkleinern oder sogar
digital auseinandernehmen. Herausfordernd ist dabei die haptische Darstellung von
Produkteigenschaften wie Gewicht, Oberfläche, Geruch etc.

Abb. 23.2 Dreidimensionaler


Onlineshop, Kunden und
Mitarbeitende oder Bot
als Avatar, 1:1-Beziehung.
(Quelle: eigene Darstellung)
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 387

Abb. 23.3 Dreidimensionaler Onlineshop, Kunden und Mitarbeitende oder Bots als Avatare, m:n-
Beziehung. (Quelle: eigene Darstellung)

Anders verhält es sich mit nativ digitalen Gütern wie z. B. E-Books, Filmen, Musik-
dateien oder Computerspielen. Diese ließen sich auch direkt in virtuellen Umgebungen
konsumieren – auch in Anwesenheit von Freund:innen (gemeinsames Filmeschauen,
Musikhören, Tanzen in einer virtuellen Diskothek). Zunehmend finden auch Erlebnisse
oder kulturelle Veranstaltungen in virtuellen Umgebungen statt. So sind virtuelle Reisen
zu internationalen Sehenswürdigkeiten denkbar, es gibt zahlreiche virtuelle Museen und
Kunstgalerien und einige Theater bieten bereits ein Erlebnispaket aus VR-Brille und
virtuellem interaktivem Theaterstück an, so etwa das Staatstheater Augsburg mit dem
Konzept VR-theater@home (Staatstheater Augsburg, 2021).

23.3 Risiken und Gefahren im Metaversum

Im Folgenden sollen die spezifischen Risiken und Gefahren aufgezeigt werden, die die
Nutzung des Metaversums für E-Commerce-Szenarien mit sich bringen kann. Unter-
schieden wird dabei zwischen Risiken, die aus der individuellen VR-Nutzung für die
Einzelnen erwachsen sowie Risiken, die sich aus der Gruppendynamik beim Zusammen-
treffen mehrerer Kunden und Verkaufsmitarbeitenden ergeben können. Als drittes
werden noch die Risiken für die anzubahnende oder bereits bestehende Geschäfts-
beziehung zwischen Kunden und Hersteller:in oder Händler:in aufgezeigt.
388 S. Kunz

23.3.1 Physische, psychologische und soziale Risiken des Einzelnen

Virtuelle, möglichst real wirkende und die Kunden multimodal und mit dem Ziel höchst-
möglicher Immersion ansprechende Verkaufsräume und Produkte bringen auch eine
Vielzahl neuer Problematiken mit sich, die im Folgenden beleuchtet werden sollen.
Zunächst muss auf der Ebene einzelner Nutzer:innen oder Kunden erforscht werden,
welche Auswirkungen ein längerer Aufenthalt in virtuellen Welten mit sich bringt. Auf der
physischen Ebene können das Tragen einer VR-Brille und das Erleben dreidimensionaler
künstlicher Umgebungen das Phänomen der Motion- oder Cyber-Sickness hervorrufen,
das mit der Seekrankheit vergleichbar ist. Symptome sind Schwindel und Übelkeit bis
hin zum Erbrechen, länger anhaltende Kopfschmerzen und Dehydrierung. Als Ursache
wird zum einen die Abweichung der von den Augen gemeldeten Reize und Positionen
im Raum von den vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr und somit dem vestibulären
System gemeldeten Daten vermutet, wozu auch die technisch bedingte Verzögerung der
Anpassung der visuellen Darstellung nach Kopf- oder Augenbewegungen (Latenz) bei-
trägt, zum anderen scheinen z. B. Frauen anfälliger für Cyber-Sickness zu sein als Männer
und es gibt offenbar weitere genetisch bedingte Faktoren. (Dörner et al., 2019).
Auf psychologischer Ebene ist vor allem das Erleben des „Selbst“, das Selbst-
bewusstsein ein noch zu wenig geklärtes und kaum physisch im Körper verortbares
Phänomen. Unter dem Begriff „Unit of identification“ wird dies im Zusammenhang
mit VR und außerkörperlichen Erfahrungen untersucht (Metzinger, 2013). Die Identi-
fikation mit einem Avatar kann sehr starke Ausmaße annehmen. Eindrucksvoll belegt
dies die „rubber hand illusion“ (illusion of embodiment) (Ehrsson et al., 2005). Von einer
steigenden Immersion in fotorealistischen Welten, die gleichzeitig erlauben, bislang
„unmögliche“ Ereignisse zu erleben (da z. B. physikalische Grundlagen nicht gelten),
geht eine große Faszination und eine erhöhte Suchtgefahr aus (Kind et al., 2019).
Die schon aus den herkömmlichen sozialen Netzwerken verbreitete „Fear of missing
out“ (FOMO), also die Angst, etwas zu verpassen, das viele Familienmitglieder, Freunde
und Bekannte erleben, könnte flankierend einen sozialen Druck ausüben, ebenfalls teil-
zunehmen und sich vielleicht länger im Metaversum aufzuhalten, als ursprünglich
beabsichtigt. Dadurch steigen ebenfalls die Suchtgefahr sowie die Vernachlässigung
des eigenen Körpers und der Lebensumgebung oder auch der Rückgang realweltlicher
sozialer Kontakte. Die Folge können Depersonalisations- und Derealisationsstörungen
sein (Madary & Metzinger, 2016).

23.3.2 Psychologische und soziale Risiken innerhalb von


Nutzergruppen

Bei der Interaktion von Nutzer:innen in virtuellen Räumen können Konflikte und
problematische Verhaltensweisen auftreten, wie sie sich heute schon auf Gaming-Platt-
formen beobachten lassen. Dazu zählt eine erhöhte Gewaltbereitschaft durch herab-
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 389

gesetzte Hemmschwellen oder das Bewusstsein, dem anderen ja nicht physisch zu


schaden. Auch Beleidigungen, Bedrohungen und sexuelle Belästigungen anderer
Nutzer:innen finden auf Spieleplattformen vermehrt statt (Wilczek, 2021). Denkbar ist
auch das unbemerkte Aufzeichnen oder „Mitschneiden“ von Videosequenzen, die das
Verhalten anderer in der virtuellen Welt dokumentieren. Das Material kann anschließend
unbefugt weitergegeben oder zur Erpressung eingesetzt werden. Auch Datendiebstahl ist
auf diesem Wege möglich.

23.3.3 Risiken für die Kundenbeziehung

In einer virtuellen Einkaufsumgebung kann es aber auch zu Risiken im Verhältnis


zwischen Kunde und Anbieter:in kommen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der
Interaktion eines einzelnen Mitarbeitenden oder Shop-Avatars und dem Verhalten des
Unternehmens gegenüber den Kunden im Allgemeinen.
Das Unternehmen könnte die angebotenen Produkte mit falschen Angaben darstellen –
handelt es sich doch nur um digitale „Zwillinge“ der echten Produkte. Denkbar wären also
falsche Angaben zu Herkunft, Inhaltsstoffen, Verbrauchsdaten oder Mindesthaltbarkeits-
daten.
Während der Interaktion eines Kunden-Avatars mit dem eines Mitarbeitenden oder
einem KI-basierten Verkaufsagenten könnte es ähnlich wie bei Interaktionen zwischen
Kunden zu Beleidigungen oder sexueller Belästigung kommen. Ein künstlicher Ver-
kaufsagent könnte bei Fehlern in der steuernden Software falsche Reaktionen den
Kunden gegenüber zeigen.
Auch könnte das Kaufverhalten gezielt manipuliert werden, z. B. indem bereits vor-
handene Informationen über Präferenzen oder persönliche Eigenschaften der Kunden
missbräuchlich ausgenutzt werden. Gegenüber einem reinen Onlineshop-Szenario im
World Wide Web kommen die vom Kundenavatar gelieferten Bewegungsdaten noch
hinzu, somit wird ein „Tracken“ des Avatars durch den Verkaufsraum möglich, ebenso
lässt sich durch Auswerten von Blickverlaufsdaten feststellen, welche Artikel wie lange
betrachtet werden. Da alle Aktivitäten digital abgebildet werden, ist das technisch mög-
lich.

23.4 Konsequenzen für die „Metaversum“-gerechte Gestaltung


der Corporate Digital Responsibility

Schon anhand dieser groben Beschreibung eines zukünftigen Einkaufsszenarios


lassen sich viele konkrete Aufgabenfelder für Corporate Digital Responsibility (CDR)
erkennen. Die folgenden Handlungsempfehlungen und noch offenen Fragen zeigen
exemplarisch, welche Fragen für E-Commerce-Szenarien im Metaversum geklärt werden
müssen:
390 S. Kunz

Einwilligung zur Datenerhebung


Vor Betreten eines virtuellen Geschäftes sollte von den potenziellen Kunden eine
Art „informed consent“ eingeholt werden, welche Daten über sie erfasst werden und
welchen Zwecken das dient.

Datenschutz
Für die über die Kunden vor, während und nach ihrem Aufenthalt im virtuellen Geschäft
gesammelten Einstellungs- und Verhaltensdaten müssen mindestens die bereits durch
Richtlinien wie die DSGVO vorgegebenen Regeln gelten. Eventuell bedarf es sogar
eines Verbots, Dinge wie Bewegungs- und Blickverlaufsdaten überhaupt zu erfassen oder
zu speichern und auszuwerten.

Hausordnung und Hausverbot


Ferner müssen die Kunde Kenntnis erlangen, welche Verhaltensregeln („Haus-
ordnung“) und allgemeinen Geschäftsbedingungen in der Verkaufsrepräsentanz gelten.
(Letzteres gilt zumindest so lange, bis die Kenntnis solcher Regeln bei großen Teilen der
Nutzer:innen vorausgesetzt werden kann – ganz ähnlich wie in Geschäften in der echten
Realität.). Diese Hausordnungen und Geschäftsbedingungen müssen auch während des
Aufenthaltes jederzeit zugänglich sein. In ihnen sollte geregelt sein, wie ungebührliches
Verhalten wie Belästigungen und Beleidigungen zwischen Nutzer:innen sanktioniert
werden, z. B. mit einem „Hausverbot“. Gestaltungsmöglichkeiten für entsprechende
Sanktionen sind zu definieren. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Kann man Kunden
bzw. ihre Avatare „aussperren“ oder in ihrer grafischen Repräsentierung kenntlich
machen, dass sie Regelverstöße begangen haben (z. B. durch Einblenden von Hinweisen
am Avatar)? Entsteht also eine Art virtuelles Anprangern? Für wie lange? Oder kann man
solchen Kundenaccounts Funktionalitäten sperren, sodass sie z. B. Waren nur betrachten,
nicht aber kaufen können?

Jugendschutz
Für die angebotenen Waren und Dienstleistungen müssen die Vorschriften des Jugend-
schutzes eingehalten werden.

Menschlicher oder KI-gesteuerter Verkäufer?


Übernimmt ein KI-gesteuerter digitaler Verkaufsagent die Kommunikation und Inter-
aktion mit dem Avatar der Kunden, so ist zu klären, ob dieser Umstand offengelegt
werden soll. Alternativ sollte den Kunden jederzeit der Wechsel zu einer Kommunikation
mit menschlichen Angestellten ermöglicht werden. Läuft die Interaktion in irgendeiner
Weise nicht wie erwartet, sollte es ebenfalls für die Kunden eine Möglichkeit geben,
solche Irritationen zu melden.
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 391

Lebensspanne eines Avatars


Es muss festgelegt werden, was mit dem Avatar und den Daten von Nutzer:innen
passiert, wenn diese versterben oder anderweitig das Metaversum nicht mehr nutzen
können oder wollen („Digitaler Friedhof“).
Auch Details der grafischen Darstellung sind wegen der höheren Immersion zu
klären, wie beispielsweise:

• Wie dicht dürfen Avatare von Kunden und Mitarbeitenden aufeinander zugehen oder
beieinanderstehen?
• Dürfen Kundenavatare beobachten, was andere Kundenavatare anschauen oder
kaufen?
• Können fremde Avatare den Inhalt des eigenen Einkaufswagens sehen?
• Gibt es Verhaltensweisen im Kaufprozess, die bewusst unsichtbar geschaltet werden
sollen?

Kurz gesagt, bedarf es einer Überprüfung und ggf. Übertragung geltender Gesetze,
Verordnungen, Regeln oder Empfehlungen aus dem realweltlichen Kontext in den
Kontext des Metaversums. Statt dies für jedes Unternehmen oder jede Einrichtung im
Metaversum individuell zu tun, wäre es sinnvoll, sich auf allgemeine „Spielregeln“ zu
einigen, die bereits beim Login in das Metaversum von allen Nutzer:innen akzeptiert
werden müssen und die bei Nichtbeachtung entsprechende Sanktionen nach sich ziehen.
Die in der Entwicklung befindlichen Regelwerke Digital Markets Act (DMA) und
Digital Services Act (DSA) bieten hierfür erste Anknüpfungsmöglichkeiten (Europäische
Kommission).
Gemäß der Kategorisierung in Skerra (2022) lassen sich hier folgende Akteur:innen
benennen:

I. Die ITK-Unternehmen, die die Shop-Software für die Repräsentanzen im


Metaversum erstellen, müssen verpflichtet werden, alle Anforderungen an die
Anwendungen (z. B. bzgl. der Verkaufspersonal-Avatare oder der Zutritts-
beschränkungen) umzusetzen.
II. Alle Unternehmen müssen dazu verpflichtet werden, die Daten der Kunden ent-
sprechend zu schützen und die Einhaltung der „Hausordnung“ zu jedem Zeit-
punkt sicherzustellen (was bedingen kann, dass immer ein Ansprechpartner für die
virtuelle Repräsentanz erreichbar ist).
III. Jeder einzelne Teilnehmende am Metaversum, ob als Kunde oder als Mitarbeitende
eines dort ansässigen Unternehmens, sind auf die Einhaltung der passenden sozialen
Normen zu verpflichten. Diese werden sich, so bleibt zu hoffen, im Laufe der Zeit
größtenteils von selbst herausbilden, wenn immer größere Nutzergemeinschaften
entstehen.
392 S. Kunz

23.5 Fazit

Die Nutzer:innen haben sich seit mehr als zwanzig Jahren an im Wesentlichen gleich
gestaltete E-Commerce-Plattformen gewöhnt. Doch das Metaversum ist mehr als nur
eine Fortführung solcher Plattformen in der Dreidimensionalität. Durch die höhere
Immersion und die dauerhafte Verbindung von Nutzer:innen mit Avataren sowie durch
neue Formen des Zusammentreffens eines oder mehrerer Akteur:innen in Informations-
und Einkaufsszenarien ergeben sich zahlreiche, schon heute absehbare Risiken. Die
daraus resultierenden Fragen sollten daher mithilfe einer umfassenden Corporate-
Digital-Responsibility-Strategie angegangen werden, um Kundenbeziehungen weiterhin
erfolgreich anbahnen und nutzen zu können.

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394 S. Kunz

Prof. Dr. Sibylle Kunz ist seit 2020 Professorin im Fernstudium der IU Internationale Hoch-
schule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangleiterin für Medieninformatik. Nach dem
Diplom in Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Darmstadt machte sie sich mit
einem IT-Beratungs- und Schulungsunternehmen selbständig und arbeitete über zwei Jahrzehnte
in IT-Projekten u.a. in Versorgungsunternehmen, Banken, Verbänden, Verlagen und Kammern.
2011 kehrte sie parallel dazu zurück in die akademische Welt als Lehrkraft für Wirtschafts-
informatik an der Hochschule Mainz sowie als Lehrbeauftragte an der European Management
School und der Hochschule Darmstadt, wo sie 2020 mit dem Sonderpreis für Digitalisierung in
der Lehre ausgezeichnet wurde. Ebenfalls 2020 promovierte sie als erste Doktorandin im Fach
Digital Humanities an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Digitalisierung in der
Unternehmenskommunikation 24
Alexandra Kühte und Angela Rohde  

Zusammenfassung

Der Beitrag ordnet zunächst die strategische Unternehmenskommunikation als


Schlüsselfunktion im Kommunikations- und Marketing-Mix von Unternehmen ein.
Anhand ausgewählter Handlungsfelder wird gezeigt, welchen aktuellen Heraus-
forderungen sich Kommunikationsprofis in national wie international tätigen Unter-
nehmen vor dem Hintergrund der Digitalisierung stellen müssen. Die Anzahl digitaler
Medien- und Kommunikationskanäle hat stark zugenommen. Zudem haben sich die
Nutzungs- und Rezeptionsgewohnheiten stark verändert. Es werden drei Trends dieser
digitalen Transformation näher vorgestellt – ergänzt um ausgewählte Beispiele aus
dem Anwendungsbereich digitalisierter Kommunikation. Im Gespräch mit den Ver-
fasserinnen dieses Beitrags hat sich Hilmar Schepp, Pressesprecher beim Techno-
logiekonzern SAP, zu aktuellen Themen und Herausforderungen in der täglichen
Kommunikationsarbeit geäußert. Abschließend erfolgen Empfehlungen für eine
erfolgreiche Unternehmenskommunikation in einer von digitaler und technologischer
Transformation getriebenen Zeit.

A. Kühte
IU Internationale Hochschule, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]
A. Rohde (*)
IU Internationale Hochschule, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]

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Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_24
396 A. Kühte und A. Rohde

24.1 Einleitung: Zum Strukturwandel in der Kommunikation

Die zunehmende Digitalisierung prägt und verändert Wirtschaft und Gesellschaft


bereits seit vielen Jahren. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den Potenzialen
und Risiken der Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation. Internationale
Märkte, unterschiedliche Kulturräume und Zielgruppen sowie regionale Besonderheiten
der Länder führen zu erhöhter Komplexität, der sich Unternehmen heutzutage stellen
müssen. Die Digitalisierung der Medien und die Verbreitung des Internets haben zu
einem strukturellen Wandel der Medien geführt, der bis heute anhält.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch die „Kommunikationsarbeit in Teilen formal,
instrumentell, inhaltlich und prozessual bereits verändert“ (Kirf et al., 2020, S. X, Vor-
wort). Die Unternehmenskommunikation und die Kommunikationsbranche insgesamt
werden von verschiedenen digital geprägten Entwicklungen beeinflusst. Medien sind
zu einem festen Bestandteil im Alltag der Menschen geworden. Dabei ist eine stetige
Zunahme an Medien- und Kommunikationskanälen festzustellen. Die vielen neuen
Online-Formate stellen etablierte Medienanbieter wie z. B. Printverlage vor große
Herausforderungen. Der Vielfalt der Kanäle und Inhalte steht mehr denn je eine stark
limitierte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gegenüber. Echtzeitkommunikation –
insbesondere via Social-Media-Plattformen – ist von wachsender Bedeutung auch
für die Unternehmenskommunikation. Gleichzeitig spielen einige ehemals zentrale
Medien(gattungen) und Kommunikationswege eine zunehmend geringere Rolle. Viele
Tageszeitungen und Publikumszeitschriften haben mit teilweise deutlich sinkenden Auf-
lagenzahlen zu kämpfen. Medienberichterstattung findet heutzutage in großen Teilen
online statt. Die hohe Bedeutung der digitalen Verbreitung von Inhalten und des damit
verbundenen veränderten Mediennutzungsverhaltens zeigt sich auch an den in der Ver-
lags- und Marketingwelt praktizierten Ansätzen „Digital first“ und „Mobile first“.

24.2 Kurzer Überblick zu Forschungsstand und Berufsbild


in der Unternehmenskommunikation

24.2.1 Marketing oder Kommunikation? Zum Stand der Forschung

Was sind die Aufgaben der Unternehmenskommunikation und wie lässt sie sich
abgrenzen von Marketing? In der Fachliteratur sind die Ansätze zur Systematisierung
sowie Aufsplittung in Teilbereiche unternehmerischer Kommunikation zahlreich.
Anstöße zur Professionalisierung der Kommunikation und zum Dialog der Wissen-
schaftsdisziplinen kommen zudem aus den Wirtschaftswissenschaften (mit dem
Schwerpunkt im Marketing) sowie den Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie,
Politikwissenschaften).
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 397

Mast bringt folgende kurze Definition: „Unternehmenskommunikation (‚Corporate


Communications‘) bezieht sich auf die Aufgabe von Organisationen, mit Stakeholdern
leistungsfähige Kommunikationsbeziehungen zu unterhalten und zu pflegen“ (Mast,
2020, S. 8). Corporate Communications verweist in Abgrenzung etwa zur Produkt-
kommunikation auf öffentliche Anliegen des Unternehmens als Ganzes. Die ver-
schiedenen Kommunikationsfunktionen differenzieren sich in Public Relations (PR),
Interne Kommunikation, Markt- und HR-Kommunikation. Im vorliegenden Beitrag steht
die Kommunikationsfunktion der Public Relations im Mittelpunkt der Betrachtung.
Dabei gilt es, Markt- bzw. Marketing-Kommunikation auf der einen Seite und
Public Relations auf der anderen Seite kurz genauer zu präzisieren sowie voneinander
abzugrenzen. Marketing-Kommunikation fokussiert insbesondere die Zielgruppe
der Kundinnen und Kunden, wohingegen sich Public Relations auf die Pflege und
Optimierung der Kommunikationsbeziehungen zu den verschiedenen Bezugs- bzw.
Anspruchsgruppen (Stakeholder) konzentriert (vgl. Mast, 2020, S. 9). Tropp ordnet aus
kommunikationswissenschaftlicher Perspektive – ähnlich wie Mast – die Marketing-
Kommunikation als eine Form der Unternehmenskommunikation ein. Denn neben
umsatzzentrierten Zielen werden dort auch markenorientierte Ziele verfolgt, u. a. mit
Fokus auf Stärkung von Markenbekanntheit und -loyalität (vgl. Kotler et al., 2017,
S. 153–154). So gelingt es, diese „aus dem Korsett des Marketing-Mix-Denkens zu
befreien und die Aufmerksamkeit stärker auf Prozesse markt- und kundenorientierter
Kommunikation zu lenken” (Tropp, 2019, S. V).
Für den Begriff Public Relations (PR) existiert dabei keine einheitliche Definition.
Dementsprechend zahlreich sind Versuche zur Systematisierung des PR-Begriffs sowie
der Einordnung der PR in organisationale Kontexte (Zerfaß, 2004; Bentele & Will,
2006; Fröhlich, 2015; Dühring, 2017, S. 81–97; vertiefend Hoffjann, 2020, S. 97–148).
Die PR- und Organisationskommunikationsforschung hat sich in den letzten 40 Jahren
als eigenständiges Forschungsfeld innerhalb der Kommunikationswissenschaft etabliert
(vgl. Hoffjann & Huck-Sandhu, 2021, S. 1). PR wird hier verstanden als strategisch
geplantes Kommunikations- und Beziehungsmanagement (vgl. Vetsch, 2017, S. 24).
Ein weiteres Konzept ist das der Corporate Identity (CI), welches die Unternehmens-
persönlichkeit, das Unternehmen als Einheit, in den Fokus rückt. Dazu gehören die Teil-
bereiche Corporate Communications (CC), Corporate Design (CD), Corporate Behavior
(CB).1 Unterschieden werden zudem Corporate Reputation und Corporate Image eines
Unternehmens im Hinblick auf die veränderliche bzw. beständigere, kollektive Wahr-
nehmung und Bewertung eines Unternehmens (vgl. Mast, 2020, S. 40–42; Hoffjann,
2020, S. 192–196). Ein ebenso vielfach gebrauchter Begriff, das Kommunikations-
management, erfasst die Steuerungsfunktion der Unternehmenskommunikation von
der Analyse über die Planung und Umsetzung bis hin zur Kontrolle von Kommunika-

1 Jenach Ansatz werden diese Teilbereiche noch ergänzt um die Begriffe Corporate Philosophy
und Corporate Soul.
398 A. Kühte und A. Rohde

tionsprozessen. Die Ziele der einzelnen Bereiche können sich teilweise entgegenstehen,
weshalb Ansätze zur integrierten Unternehmenskommunikation entstanden sind in dem
Bemühen, Widersprüche identifizierbar zu machen (vgl. Hoffjann, 2020, S. 132). Dabei
gerät beispielsweise die Integration von interner und externer Kommunikation stärker
in den Fokus (vgl. Bruhn, 2014, S. 289–299). Integrierte Kommunikation bedeutet, ein
„inhaltlich, formal und zeitlich einheitliches Erscheinungsbild“ (Mast, 2020, S. 39) des
Unternehmens zu erzeugen. Gemeinsam ist diesen Forschungsansätzen das Bemühen
darum, die Komplexität der Kommunikationsaktivitäten in den Unternehmen zu erfassen
und gegenseitige Bezüge sichtbarer zu machen.
Mast macht in den vergangenen Jahren verschiedene Entwicklungsphasen der
Unternehmenskommunikation aus. Vor dem Hintergrund des digitalen Wandels in
Medien und Kommunikation sieht sie um das Jahr 2015 herum contentzentrierte
Ansätze als wichtigen Schwerpunkt. „Content first“ laute die Devise und Strategie. Der
Inhalt stehe im Mittelpunkt der Kommunikationsarbeit – unabhängig von einzelnen
Medien(gattungen), Kommunikationsformen oder Zielgruppen (vgl. Mast, 2020, S. 19).
Aktuell sieht Mast die Erreichung gesellschaftspolitischer Akzeptanz als zentrale Ziel-
stellung in der Kommunikation von Unternehmen (vgl. 2020, S. 19).

24.2.2 Die Rolle der Unternehmenskommunikation als Teil der


Unternehmensstrategie

Die Bedeutung einer professionellen Unternehmenskommunikation wird heutzutage als


sehr hoch eingeschätzt. Dazu haben insbesondere der „rasante Verlust von öffentlichem
Vertrauen durch Skandale und Misswirtschaft in einigen Branchen, der Kontrollverlust
in der digital vernetzten Welt oder Fehltritte einzelner Führungskräfte” (Zerfaß & Volk,
2019, S. 1) beigetragen. Wirtschaftliche, politische und kommunikative Interessen sind
immer stärker miteinander verwoben. Insbesondere in den größeren, international tätigen
Unternehmen und Organisationen ist das Management von Kommunikationsprozessen
komplex und dynamisch geworden.
„Durch die Anwendung digitaler Kommunikationstechnologien verändert sich
potenziell […] das gesamte soziale und wirtschaftliche Leben“ (Mast & Spachmann,
2020, S. 7). Die Nutzung von Daten spielt in Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale
Rolle. Dies gilt auch für die strategische Kommunikation von Unternehmen. Sie steckt
inmitten eines strukturellen Wandels und steht durch Digitalisierungserfordernisse unter
einem hohen Weiterentwicklungsdruck. Die Bedeutung der klassischen Medien sinkt,
wohingegen die der Sozialen Medien (Social Media) stark zunimmt. In der öffentlichen
Kommunikation haben sich sowohl die Nutzungs- und Rezeptionsgewohnheiten als
auch die Partizipationsmöglichkeiten stark verändert. Das Social Web ist „zum Leit-
medium der öffentlichen Meinungsbildung transformiert. Diskurse finden vermehrt
online im digital-vormedialen Terrain statt. In diesem Wirkungskreis besetzen Mikro-
Öffentlichkeiten Standpunkte, Thesen und Themen“ (Kirf et al., 2020, S. 5). Während
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 399

die Bedeutung des klassischen Journalismus sinkt, etablieren sich neue Gatekeeper.2 Vor
allem in den Sozialen Medien wandelt sich „die öffentliche Kommunikation von einer
sozial selektiven, einseitigen, linearen und zentralen zu einer partizipativen, interaktiven,
netzartigen und dezentralen Kommunikation“ (Neuberger, 2017, S. 102).
Die Unternehmenskommunikation ist aufgrund dieser tiefgreifenden Veränderungen
damit konfrontiert, zunehmend die Kontroll- und Deutungshoheit darüber zu verlieren,
was über das Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen und die handelnden
Personen verbreitet wird. Es wird immer schwieriger, die Verbreitung von Botschaften
medial zu kontrollieren (Kirf et al., 2020, S. 6). Professionelle Kommunikation ist „auf
spezielle Weise geplant, folgt etablierten und professionalisierten Handlungsmustern und
ist systematisch mit Führung und Management eines Unternehmens verknüpft“ (Mast &
Spachmann, 2020, S. 1). So wird strategische Kommunikation zur Managementaufgabe.
Die wachsende Bedeutung dieses Feldes findet in größeren Unternehmen ihren Ausdruck
in der Installation der Position des Chief Communication Officer (CCO). Unternehmen
brauchen daher „ein Kommunikationssystem, das mit Blick auf Tempo, Reaktionsfähig-
keit, Beweglichkeit und Lernvermögen spitze ist“ (Mast, 2020, S. XIIII).

24.2.3 Eine Branche im Aufbruch: Wandel des Berufsbildes


in Kommunikation und PR

Die digitale Transformation verändert auch die Berufsbilder in der Kommunikation.


Einen empirisch fundierten Einblick in die professionalisierte Kommunikations-
branche bieten Zerfaß und Dühring, die erklären, dass es „bis heute keine einheit-
liche Sozialisation für Kommunikationsmanager“ (2020, S. 2) gebe. Fechner und
Seidenglanz vermuten in ihrer Berufsfeldstudie: „‚Kommunikationsmanagement‘,
‚Öffentlichkeitsarbeit‘ oder ‚Public Relations‘ sind […] diejenigen Oberbegriffe,
welche die vielfältigen Aufgabenfelder der Disziplin am weitesten fassen können“
(2021, S. 22). Hoewner befasst sich mit dem digital geprägten Wandel in seinem Auf-
satz „Wie sich Skills und Rollen von PR-Arbeitern verändern“ (2017). Er verweist auf
die hohe Bedeutung kultureller Veränderungen in Unternehmen, damit ein digitaler
Transformationsprozess in der Unternehmenskommunikation gelingen kann – „Keine
Digital Culture ohne Digital Mindset“ (ebd.). Für die Zukunft der PR-Arbeit sieht er
eine starke Ausdifferenzierung der Aufgaben und Anforderungen sowie neue Berufs-
bilder mit Spezialistenstatus. „Der PR-Arbeiter der Zukunft wird weiter erstklassige
Kommunikationskenntnisse benötigen. Sein Job wird sich trotzdem immer weiter zer-

2 DerBegriff Gatekeeper (engl. Pförtner, Torwächter, Schleusenwärter) geht ursprünglich zurück


auf Kurt Lewin und David Manning White und referiert auf die Selektionsfunktion im Journalis-
mus bei der Entscheidung, welche Nachrichten aus der Vielzahl verfügbarer Nachrichten aus-
gewählt und publiziert werden (vgl. Beck 2013, S. 100).
400 A. Kühte und A. Rohde

gliedern: Analytics, Data Storytelling und künstliche Intelligenz in Design sowie


Augmented Reality, Virtual Reality und Traffic Management in der Textproduktion,
erfordern neue Kompetenzen“ (ebd.). Schepp verdeutlicht aus seiner Praxis als SAP-
Pressesprecher für Technologie und Strategische Projekte im Gespräch mit den Ver-
fasserinnen:

„Die PR-Abteilungen müssen heute sehr agil sein. Die Anforderungen ergeben sich
schon allein durch neue Social-Media-Plattformen wie Twitter, LinkedIn, Facebook oder
Instagram, aber auch durch eigene News- und Videoplattformen. Immer häufiger halten
Newsrooms, wie wir sie aus Redaktionen kennen, Einzug in Kommunikationsabteilungen,
um die vielfältigen Kanäle mit Nachrichten und ganzen Kampagnen versorgen zu können.
Damit einher geht auch das Anwerben von Journalistinnen und Journalisten, um diesem
Anspruch, vor allem auch dem des Storytellings, gerecht zu werden.”3

Den aktuellen Stand der Kommunikation in den Unternehmen erfasst jährlich der
European Communication Monitor (ECM). 2020 standen die Themen „Ethical
Challenges, Gender Issues, Cyber Security and Competence Gap in Strategic
Communication” im Fokus des Berichts. Fake News wurden 2018 als zentrale Heraus-
forderung identifiziert. 2019 dominierte das Thema Vertrauen in die PR. Für 2021 und
als anhaltende Herausforderung wurde u. a. der Bereich Commtech („Communication”
und „Technology“) ausgemacht. Der Bericht fragt zudem nach den zukünftigen Rollen
der Kommunikationsexpertinnen und -experten. Der Zukunftstrend ist eindeutig.
Zerfaß, leitender Forscher des ECM, stellt fest: „Without any doubt, the change of the
profession will be accelerated. There will be neither a return to the old familiar nor a
new normal that reflects today’s practices. Instead, communications will be transformed
by digitalisation on all levels […]“ (2021, S. 7). Gefordert wird das Bemühen, Soft-
ware umfassend in die Workflows zu integrieren und digitale Tools sowohl für die
interne Kommunikation als auch im Dialog mit den Stakeholdern zu nutzen (vgl. Larsen,
2021, S. 6). Die Branche ist sich der Herausforderung bewusst. Die breite Mehrheit
(knapp 88 %) der im Frühjahr 2021 rund 2600 Befragten innerhalb Europas betonte
die Bedeutung der digitalisierten Stakeholder-Kommunikation verbunden mit dem not-
wendigen Auf- und Ausbau einer passenden Digital-Infrastruktur (knapp 84 %). Rund
40 % der Befragten aus Kommunikationsabteilungen und Agenturen schätzen den
Digitalisierungsgrad in ihrer Kommunikation mit Stakeholdern sowie die digitalen Infra-
strukturen als noch nicht ausgereift („not mature“) ein (vgl. Zerfaß, 2021, S. 21).
Kommunikationsprofis stehen an den wesentlichen Schnittstellen zu den Ziel-
gruppen eines Unternehmens, den internen und externen Teilöffentlichkeiten. Mit-
arbeiter, Kunden, Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und ggf. Aktionäre
(Shareholder) gehören zu den wichtigsten Bezugsgruppen (Stakeholdern) der Unter-
nehmen. Dabei stehen ihnen eine Vielfalt an Kanälen, Instrumenten und Publikations-

3 Das Gespräch mit Hilmar Schepp, SAP, fand im Februar 2022 statt.
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 401

formen zur Verfügung – von der Corporate Website über den Corporate Newsroom bis
hin zu Communities, Podcasts oder Web-TV (vgl. Zerfaß & Pleil, 2015, S. 68–69). Dies
erfordert völlig neue Kompetenzen der Kommunikatorinnen und Kommunikatoren und
führt in den letzten Jahren zu neuen Bewegungsmustern in der Branche: Journalistinnen
und Journalisten sowie andere Medienschaffende wechseln aus den Medienhäusern
in die Kommunikation und PR der Unternehmen. Der sogenannte Seitenwechsel4 in
die Unternehmenskommunikation ist auch eine Folge des strukturellen Wandels in der
Medienbranche aufgrund der ökonomischen Medienkrise.

24.3 Chancen und Herausforderungen in der


Unternehmenskommunikation: Drei Trends

Die aktuellen Herausforderungen in der Unternehmenskommunikation sind also groß.


Auf die folgenden drei Entwicklungen soll im Folgenden kurz näher eingegangen
werden:

1. Die neue, große Vielfalt der Kommunikationskanäle und Kommunikation in Echtzeit


2. Die Unkalkulierbarkeit der Kommunikation in Social Media
3. Die Professionalisierung der Kommunikation mittels datengetriebener, automatisierter
Prozesse

24.3.1 Trend 1: Die neue, große Vielfalt der Kommunikationskanäle


und Kommunikation in Echtzeit

„First we spoke. Then we wrote. Then we printed. Then we listened to the radio and
watched TV. And now we surf the Internet.“ (Poe, 2013, S. X). Was hier, vorgetragen
durch den amerikanischen Historiker Marshall T. Poe, fast spielerisch und leicht aus
der Perspektive der heutigen Mediennutzerinnen und Mediennutzer klingt, ist für die
Kommunikationsverantwortlichen in den Unternehmen eine große Herausforderung.
Die Digitalisierung beschleunigt die Kommunikationsprozesse. Die Kommunikation
mit den verschiedenen Stakeholdergruppen kann zudem über direkte Kommunikations-
wege erfolgen (Mast, 2020, S. 174), denn es kann heute ein vielfältiges Spektrum an
Medienkanälen genutzt werden. Mast differenziert die Schnelligkeit der verschiedenen
Informationswege in „langsam“, „eher langsam“, „minimal zeitversetzt“ und „Echt-
zeit“ (2020, S. 175). Die Stakeholder können selbst zu Kommunikatorinnen und

4 Weitere
Wechsel lassen sich von Kommunikationsprofis und Journalistinnen und Journalisten aus
den Unternehmen hin zu strategischen Kommunikationsberatungen beobachten (vgl. Thoms, 2021,
S. 18).
402 A. Kühte und A. Rohde

Kommunikatoren werden und damit eine zweiseitige und dialogische Unternehmens-


kommunikation initiieren (vgl. Mast, 2020, S. 185).
Innerhalb der Unternehmenskommunikation bzw. der PR nimmt das Handlungs-
feld der Media Relations eine bedeutende Rolle ein – also der Aufbau und die Pflege
von Medienbeziehungen. Lange Zeit waren die Journalistinnen und Journalisten der
klassischen Medien die Gatekeeper, die darüber entschieden, welche Themen auf-
gegriffen und publiziert wurden. Kommunikationsabteilungen versuchten, über die
Ansprache klassischer Medien in der Öffentlichkeit mit Themen des eigenen Unter-
nehmens präsent und sichtbar zu sein. Der direkte Zugang zur massenmedialen
Öffentlichkeit war für Unternehmen kaum möglich (vgl. Mast, 2020, S. 370).
Im digitalen Zeitalter mit der großen Bandbreite an Kanälen und Angeboten haben
sich jedoch die Rollen und Funktionen der kommunizierenden Akteurinnen und Akteure
verändert. Journalistinnen und Journalisten sind nicht mehr in der einflussreichen
Gatekeeper-Position, sondern vielmehr in der Funktion als „Beobachter, Selektoren und
Kuratoren“ und werden zu „Gatewatchern“ (Mast, 2020, S. 370–371). Aufgrund des
digitalen Medienwandels können mittlerweile nicht nur professionelle Journalistinnen
und Journalisten an öffentlicher Kommunikation teilnehmen. Bürgerinnen und Bürger,
Unternehmen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure können
„sich an öffentlichen Diskussionen – am Journalismus vorbei – beteiligen“ (Mast, 2020,
S. 370). Social Media, Websites, Blogs und andere digitale Angebote stellen somit eine
Herausforderung und Konkurrenz für den klassischen, professionellen Journalismus dar
(ebd.).
In den letzten Jahren wurden in Marketing und Kommunikation zudem verschiedene
Content-Distribution-Modelle vorgestellt – im Jahr 2009 das sogenannte PESO-Modell,
bei dem vier verschiedene digitale Medientypen im Fokus stehen: Das Akronym steht für
Paid (bezahlte Werbung), Earned (unternehmensfremde Medien), Shared (Soziale Netz-
werke) und Owned (unternehmenseigene Medien). Unternehmen setzen alle vier Kanäle
ein, um die eigenen Inhalte zu verbreiten und bekannt zu machen (vgl. Auler & Huberty,
2019, S. 29–30 und 115–116; Mast, 2020, S. 376). „Viele sind bereits dabei, die gesamte
Stakeholder-Journey zu digitalisieren” (Brockhaus, 2021, S. 26), d. h. über alle Stationen
des Kundenerlebens hinweg.

24.3.2 Trend 2: Die Unkalkulierbarkeit der Kommunikation durch


Social Media

Ihre massenhafte Verbreitung über nahezu alle Zielgruppen hinweg macht die Sozialen
Medien zu einem wesentlichen Bestandteil der Unternehmenskommunikation. In ihren
von Euphorie geprägten Anfangszeiten hieß es zunächst vorrangig: Hauptsache dabei!
Das war Erfolg genug. Heute dienen die verschiedenen Social-Media-Angebote der
Unternehmen zur Kommunikation mit der digitalen Öffentlichkeit, um Kommunikations-
und Marketingziele zu erreichen. Durch die vielfältig verfügbaren Online-Angebote
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 403

haben dort inzwischen auch die digital vernetzte Kommunikation sowie die Partizipation
der Nutzerinnen und Nutzer an der Erstellung und Verbreitung von Inhalten Einzug
gehalten (vgl. Taddicken & Schmidt, 2017, S. 8). Die verschiedenen Social-Media-
Plattformen wie Twitter, Facebook, Instagram oder auch YouTube unterscheiden sich
in ihren Kernfunktionen, Medientechnologien und Nutzergruppen. Sie werden als Ver-
breitungskanäle für Unternehmensbotschaften sowie als dialogorientierte, interaktive
Kommunikationskanäle genutzt. Zudem werden sie für die Recherche eingesetzt zu
verschiedenen Fragestellungen: Mit welcher Tonalität wird über das Unternehmen
gesprochen? Welche Themen sind im Fokus? etc.
Wichtig sind die Präsenz in den Kanälen, in denen sich die Zielgruppe aufhält, sowie
der gezielte, unmittelbare Beziehungsaufbau (vgl. Pleil & Bastian, 2017, S. 130). Das
geht nicht ohne eine konkrete, auf die eigene Branche, eigene Produkte sowie Ziel-
gruppe(n) angepasste Kommunikationsstrategie. Wurde in der Forschung anfangs noch
das vermeintlich unerschöpfliche Potenzial der Sozialen Medien für das Beziehungs-
management mit den Zielgruppen betont, sind inzwischen auch die damit verbundenen
Risiken wie sogenannte „Shitstorms” und Desinformationskampagnen Teil der Social-
Media-Welt und für die Unternehmenskommunikation eine reelle, ernst zu nehmende
Gefahr, auch wenn nicht jeder Shitstorm gleich in einer Krise münden muss (vgl.
Niggemann, 2019, S. 36).
Formalisierte Kommunikation ist im heutigen digitalen Zeitalter zumeist nur noch
eingeschränkt möglich, so Mast. Die Verantwortlichen der Unternehmenskommunikation
können zwar den ersten Kommunikationsimpuls in Richtung der Stakeholder planen und
kontrollieren – beispielsweise das Verbreiten einer Pressemitteilung oder das Absetzen
eines Postings. Die Reaktionen darauf und die einsetzende Anschlusskommunikation
unter den Stakeholdern, innerhalb der Social-Media-Community, seien jedoch kaum
planbar (vgl. Mast, 2020, S. 187–188). Zudem ist die Unternehmenskommunikation
möglicherweise mit der sehr schnellen Weiterverbreitung innerhalb der Social-Media-
Community konfrontiert, also mit viralen Effekten – positiven wie negativen.
Kirf et al. konstatieren, dass das „einstige Absender-Monopol der Unternehmens-
kommunikation in Zeiten von Social Media/Social Web […] schon längst aufgehoben
ist zugunsten eines reichweiten-vergrößerten Many-to-Many-Prinzips“ (2020, S. 7). Die
Unternehmenskommunikation hat die exklusive Rolle des alleinigen Senders eingebüßt.
Im Social-Media-Zeitalter hat sich „der klassische Dualismus von Sender und Nutzer
von Kommunikationsofferten in eine Zirkularität verwandelt“ (Kirf et al., 2020, S. 9).
Unternehmen sollten verschiedene Anforderungen beachten, um erfolgreich Social-
Media-Kommunikation zu betreiben. Kirf et al. empfehlen Unternehmen u. a. eine aktive
Partizipation an für das Unternehmen relevanten Social-Media-Diskursen. Das Auf-
treten sollte authentisch und offen sein. Im Diskurs sind Zuhörbereitschaft, ein schnelles
Feedback und eine direkte, interpersonale Kommunikationsbereitschaft wichtig (vgl.
Kirf et al., 2020, S. 19).
Echtzeitkommunikation, Dialogbereitschaft, Direktkommunikation und inter-
personale Anschlusskommunikation sind typische Merkmale und Verhaltensweisen in
404 A. Kühte und A. Rohde

der Social-Media-Kommunikation – sowie ein medialer Diskurs durch Eigenregie der


an der Kommunikation Teilnehmenden (vgl. Kirf et al., 2020, S. 19, 33). Mast geht
genauer auf die Dialogthematik ein. Ein „echter“ Dialog habe einen offenen Austausch
und Ausgang, auf Augenhöhe gebe es eine wechselseitige Kommunikation der mit-
einander Kommunizierenden. In den Sozialen Medien gehe es jedoch selten um offene
Diskussionsausgänge (vgl. Mast, 2020, S. 186–187).
Im Social-Media-Zeitalter stehen Unternehmen verstärkt im Fokus – sowohl durch
die etablierten professionellen Medien als auch durch Multiplikatorinnen und Multi-
plikatoren aus (zunächst) nichtmedialen Diskursen. „Je exponierter Unternehmen und
ihre Vertreter im Beobachtungsfokus von (digital-)medialisierten Öffentlichkeiten
erscheinen, desto größer ist für sie das Risiko, selbst ins Rampenlicht resonanzstarker
kritischer Interpretationen […] sowie krisen-verursachender Themenkarrieren zu
geraten“ (Kirf et al., 2020, S. 17). In diesem Zusammenhang seien als Verursachende
nicht nur die „Web-Skandaleure“ (ebd.) zu nennen. Auch die professionellen Medien
seien „in ihrer Rolle als Meinungsmacher für publikumsattraktive Themen selbst
Profiteure dieser Entwicklung“ (ebd). Eisenegger spricht von den Sozialen Medien als
neue Kommunikationsmöglichkeiten „für das Skandalpublikum“ (Eisenegger, 2016,
S. 48).
Mit dem zunehmend professionalisierten Social-Media-Einsatz durch Unternehmen
hat sich die Kommunikationsrolle als Corporate Influencer herausgebildet. Diese
Corporate Influencer gehen weiterhin vorrangig ihrer regulären Tätigkeit nach und
betreiben ergänzend dazu tätigkeitsbezogene Social-Media-Kommunikation. Wichtige
Eigenschaften dieser Unternehmensbotschafterinnen und -botschafter sind Glaubwürdig-
keit, Authentizität, Vertrauenswürdigkeit und Fachkompetenz, um in den für das Unter-
nehmen relevanten digitalen Diskursen der verschiedenen Stakeholdergruppen auf
Akzeptanz zu stoßen. Bergk und Slomian konstatieren für diese unternehmensinternen
Multiplikatorinnen und Multiplikatoren „sowohl für die interne als auch für die externe
Kommunikation extreme Strahlkraft“ (2018, S. 225). Der Einsatz von Influencern spielt
in den letzten Jahren in Marketing und Kommunikation eine zunehmend große Rolle
(vgl. Deges, 2018, S. 2). Ihre Glaubwürdigkeit ist durch das Prinzip, „unabhängige Dritte
über sich sprechen zu lassen“ (Hoffjann, 2019, S. 3) besonders hoch. Auch Corporate
Influencer werden als authentischer wahrgenommen als die Botschaften der Werbe-
kommunikation.
Die über Social Media beschleunigte Verbreitung von Diskursen mit negativer Tonali-
tät kann möglicherweise sehr schnell zu einem Problem für die Reputation eines Unter-
nehmens werden. Kramp und Weichert haben Online-Nutzerdiskurse zu journalistischen
Veröffentlichungen im Jahr 2017 auf der Social-Media-Plattform Facebook nach Tonali-
tät und Konflikt- und Eskalationspotenzial charakterisiert. Die insgesamt fünf Gesamt-
charakterisierungen reichen von „Diskurse mit lebensweltlichem Alltagsbezug und
hohem, weitgehend neutralem Kommentaraufkommen“ über „Diskurse mit nutzer-
seitigem Selbstregulierungseffekt“ bis zu „Hass- bzw. konfliktgeladene Diskurse zu
Beiträgen über gesellschaftspolitische Reizthemen, die stark geprägt sind von vielen
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 405

destruktiven Kommentaren“ (Kramp & Weichert, 2020, S. 540). Unternehmen sollten


sich also in Zeiten beschleunigter, digitalisierter Kommunikation präventiv auf digital-
mediale Krisensituationen, auch auf sogenannte „Shitstorms“, vorbereiten.

24.3.3 Trend 3: Professionalisierung der Kommunikation durch


datengetriebene und automatisierte Prozesse

Die Unternehmenskommunikation bedarf im Hinblick auf ihre Legitimierung inner-


halb eines Unternehmens an der Schnittstelle zwischen Unternehmensführung und
Kommunikationspraktikerinnen und -praktikern der Übersetzung in die „Sprache
des Managements“ (vgl. Zerfaß & Volk, 2019, S. 1). In datengetriebenen Umfeldern
erfolgt dies insbesondere über Zahlen. Im Finanzwesen überzeugen passgenaue
Umsatz-Forecasts per Künstlicher Intelligenz (KI), im Vertrieb die Analysen im
Customer Relationship Management sowie im Marketing automatisierte Prozesse
wie die Customer Journey oder das Funnel-Marketing (vgl. Mickeleit, 2021). Die
Kommunikation muss ebenso wie andere Fachbereiche ihren Wertschöpfungsbeitrag zu
strategischen Unternehmenszielen belegen können.
Die zentrale Frage lautet: Welchen Beitrag liefert die Unternehmenskommunikation
zu den Unternehmenszielen, dem Unternehmensumsatz, sowie zu immateriellen Unter-
nehmenswerten wie dem Markenwert oder der Unternehmenskultur? Es geht um die
Systematisierung von datenunterstützter Unternehmenskommunikation. „Data-driven
Communications ist das neue Credo“ (IMWF, 2021). Mickeleit betont dabei den not-
wendigen „Schritt vom retrospektiven Reporting“ durch nachträglich erhobene Medien-
analysen „zur vorausschauenden Steuerung von Kommunikation“ (2021). Die Evaluation
muss „als integraler Bestandteil des Managements von Online-Kommunikation von
Anfang an mitbedacht werden”, verdeutlichen Zerfaß und Pleil (2015, S. 74). Diese
Aufgabe übernimmt das Kommunikationscontrolling. Unternehmen sind für die Ein-
schätzung des Beitrags sämtlicher Kommunikations- und Marketingaktivitäten auf
ein Controlling angewiesen, das ihnen Datenanalysen auf funktionsübergreifender
Ebene liefert und im Kommunikationsmanagement neben der Evaluation auch eine
Unterstützungs- und Steuerungsfunktion innehat. Erst mit einer disziplinübergreifenden
Sicht werden zuverlässige, effiziente Managemententscheidungen möglich (vgl. Tropp,
2019, S. 655). Die Unternehmenskommunikation kann hier eine Schlüsselfunktion im
Unternehmen einnehmen, zumal aufgrund der „zunehmenden Hybridisierung der unter-
schiedlichen unternehmenskommunikativen Disziplinen […] eine funktionsorientierte
Betrachtung“ (Tropp, 2019, S. 656) schwieriger geworden ist. Die Unternehmens-
kommunikation steht einerseits vor der Herausforderung, die Balance zu halten zwischen
Standardisierung von Kommunikationsprozessen und automatisierter Erhebung von
Daten, sowie andererseits flexibel und agil auf Veränderungen im Markt reagieren zu
können. Das Kommunikationscontrolling spielt damit eine zentrale Rolle im Hinblick
auf die Frage, wie die Unternehmenskommunikation zur Bildung immaterieller Unter-
406 A. Kühte und A. Rohde

nehmenswerte beiträgt und damit zur „License to operate“, d. h. zur Legitimation des
Unternehmens. Schepp untermauert im Gespräch mit den Verfasserinnen die Bedeutung
datenunterstützter PR-Arbeit und erklärt:

„In den PR-Abteilungen möchten alle Beteiligten wegkommen von sogenannten Bauchent-
scheidungen, von Entscheidungen, die einzig und allein auf Erfahrungswerten der letzten
Jahre beruhen. Ich möchte das mal die ‚Alte-Hasen-Weisheit‘ nennen. Heutzutage helfen
alleine schon Werkzeuge zur Auswertung von Inhalten auf Social-Media-Plattformen wie
Twitter, LinkedIn, Facebook etc., die einen Trend zu gewissen Themen erkennen lassen. So
können PR-Kolleginnen und -Kollegen entsprechend Kommunikationskampagnen planen.
In einem zweiten Schritt kommen dann Analysewerkzeuge hinzu, die die durchgeführten
Kampagnen auf ihren Erfolg hin abklopfen.“

Über Analyse-Tools steht den Unternehmen eine potenziell große Datenmenge zur Ver-
fügung, um das Image des Unternehmens, branchenrelevante Themen, Erwähnungen
des CEO oder anderer Führungskräfte sowie Kampagnenerfolge über ausgewählte
Kennzahlen (KPIs = Key Performance Indicators) zu messen. Effizienznachweise für
in den Medien realisierte Erfolge erfolgen also im Kommunikationscontrolling, als
Unterstützungs- und Steuerungsfunktion, die von der Strategie über den Prozess bis zum
Ergebnis „Transparenz für den arbeitsteiligen Prozess des Kommunikationsmanagements
schafft sowie geeignete Methoden, Strukturen und Kennzahlen für die Planung,
Umsetzung und Kontrolle der Unternehmenskommunikation bzw. Public Relations
bereitstellt“ (Zerfaß & Buchele, 2008, S. 24). Hier liefert der in 2009 von der Deutschen
Public Relations Gesellschaft (DPRG) und dem Internationalen Controller Verein (ICV)
als Branchenstandard verabschiedete DPRG-ICV-Bezugsrahmen ein anschauliches
Modell der auf unterschiedlichen Wirkungsstufen erfassbaren Daten bzw. Informationen
(vgl. DPRG, 2016).
Die zentrale Bedeutung von Digitalisierung und Technologisierung in der
Kommunikation findet ihren Ausdruck im bereits angeführten Begriff CommTech,
der auf die Arthur Page Society zurückgeht. Ende 2021 gründete das IMWF (Institut
für Management- und Wirtschaftsforschung GmbH) die AG CommTech, in der sich
PR-Praktikerinnen und -Praktiker in Arbeitsgruppen versammeln, um die Kern-
felder digitalisierter Kommunikation zu identifizieren und Professionalisierungs-
strategien zu erarbeiten (vgl. IMWF, 2021). Dennoch hat auch der datengetriebene
Fokus seine Grenzen in der Auswertbarkeit und hinsichtlich der zielsicheren Erhebung
durch Menschen mit ihren individuellen Kommunikations- und Informationsbedürf-
nissen sowie der angestrebten Unternehmenswerte. Verantwortliche müssen auch
mit unerwarteten, widersprüchlichen oder gar unerwünschten Ergebnissen rechnen
und mit ihnen angemessen umgehen können. Die Vielfalt der Erhebungsmöglich-
keiten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kausalzusammenhänge zwischen Input
(Ressourceneinsatz) und Output (Wirkung, Wertschöpfung) in komplexen, dynamischen
Umgebungen problematisch sind. Mit ihrem Rat, unternehmerische Prozesse komplett
zu digitalisieren, könnten Digitalisierungsexperten auch falsch liegen. „Wer ‚durch-
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 407

digitalisiert‘, zerstört sein eigenes Ökosystem an Unternehmenswerten“, prognostiziert


Spiekermann (2019, S. 83). In der Zuspitzung könne dies als eine „Big-Data-Illusion“
von sogenannten „Dataisten” eingeordnet werden (vgl. ebd., S. 84–89).

24.4 Ausgewählte Anwendungsfelder für datenbasierte


Analysen des Kommunikationsprozesses

Aus der Vielzahl der Anwendungsmöglichkeiten werden im Folgenden für die PR-Arbeit
wesentliche Bereiche kurz vorgestellt.

Digitale Medienbeobachtung
Die öffentliche Wahrnehmung des Unternehmens wird mittels einer Medienresonanzana-
lyse in der medialen Berichterstattung systematisch analysiert. Software-Tools externer
Dienstleister bieten die Möglichkeit, den Pressespiegel (Clippings) per Knopfdruck zu
erstellen (z. B. PMG Presse-Monitor5), indem regelmäßig auf Basis einer umfassenden,
digitalen Pressedatenbank tagesaktuell relevante Medien mit festgelegten Keywords
sowie gezielt bzw. ad hoc zu bestimmten Anlässen und Themen gescannt werden.

Beispiel

Im Herbst 2021 musste sich die Fondsgesellschaft DWS Investments, Tochter der
Deutschen Bank, Vorwürfen des Greenwashings stellen, die von einer ehemaligen
Managerin ausgesprochen wurden. Mögliche Keywords, um Berichterstattung rund
um diesen Vorfall zu analysieren, könnten sein: DWS (Unternehmensname), Finanz-
dienstleistungen (Branche), Greenwashing/ESG Investing/Nachhaltigkeit (Thema/
Issue) etc.6 ◄

Digitale Kampagnenplanung und Controlling


Software-Dienstleister bieten zur Unterstützung von Presse- und Kommunikationsab-
teilungen ihre Services entlang der Phasen von Kommunikationskampagnen an – von
der Zielsetzung von Mediaaktivitäten über den Redaktions- und Produktionsplan bis
hin zum Monitoring. Es werden Wirkungszusammenhänge untersucht, Empfehlungen
für die Mediaplanung gegeben und Datenanalysen vorgenommen. Ein Trend ist u. a. die
themenzentrierte Kommunikationsplanung.

5 Inder nach eigenen Angaben „größten tagesaktuellen Pressedatenbank im deutschsprachigen


Raum” können Artikel aus über 2.500 Print- und Onlinequellen ausgewertet werden (PMG Presse-
Monitor 2022).
6 Zum Hintergrund vgl. beispielhaft: Slodczyk (2021), S. 32–41.
408 A. Kühte und A. Rohde

Digitale Themenauswahl und Issues Management


Das Herzstück der strategischen Kommunikation: Hier steht die Identifikation,
kommunikative Bearbeitung und Evaluation von für das Unternehmen relevanten
Themen im Mittelpunkt u. a. mit dem Ziel, Irritationen im Markt früh zu erkennen – ins-
besondere im Hinblick auf kritische oder riskante Themen (vgl. Kirchenbauer, 2020).
Diese internetbasierte Content-Analyse wird auch als Social Listening oder Corporate
Listening bezeichnet (vgl. Ingenhoff et al., 2020).

Digitales Social Media Monitoring


In Ergänzung zu Media- und Stakeholderanalysen erfolgt das softwareunterstützte
Management sämtlicher Social-Media-Aktivitäten über eine Plattform mit Unterstützung
von Künstlicher Intelligenz (KI) als Schlüsselfunktion des Kommunikationscontrollings.

Digitale Pressearbeit
Viele PR-Abteilungen wurden in den letzten Jahren personell massiv aufgestockt, neue
Technologien halten Einzug, illustriert anhand des folgenden Praxisfalls:

Beispiel

In der PR-Abteilung von Amazon wurde von Jeff Bezos im Jahr 2016 ein sogenanntes
Rapid Response Team installiert, mit dem Ziel, sich aufgrund der wahrgenommenen
„explosion of negative press coverage“ (Martineau, 2021) quasi in Echtzeit unter
Anwendung einer Software von Salesforce einen Überblick über 90 % dieser
negativen Inhalte zu verschaffen und wiederum 90 % davon i. d. R. innerhalb von
zwei Stunden durch das PR-Team öffentlich richtigstellen zu lassen. Hierzu wurde
die Anzahl der Beschäftigten in der Kommunikation seit 2015 auf ca. 800 ver-
doppelt. Chef der Abteilung wurde Jay Carney, ein ehemaliger Pressesprecher des
Weißen Hauses in den USA. Weitere prominente Top-Medienschaffende folgten
ihm. Dies vermittelt einen Eindruck, wie mit Analysewerkzeugen heutzutage bereits
PR praktiziert wird, und verweist auf eine Entwicklung in Unternehmen, die sich in
Zukunft noch verstärken wird. ◄

Die genannten Anwendungsfelder geben bereits einen Eindruck davon, wie vielfältig
digitalisierte und technologiebasierte Kommunikation ist. Tab. 24.1 verweist neben den
Potenzialen auch auf ausgewählte Risiken weiterer Anwendungsbeispiele mit Fokus auf
die Unternehmenskommunikation.
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 409

Tab. 24.1  Potenziale, Herausforderungen und Risiken der Digitalisierung in der Unternehmens-


kommunikation
Potenziale Herausforderungen und Risiken
Digitale Medienvielfalt Fragmentierung der Medienkanäle. Unüber-
Vielfältige Kanäle/Plattformen mit dynamischer sichtlichkeit, Mix aus professionellen und
Entwicklung. Zu unternehmensfremden Laieninhalten. Wechselnde Communities
„Earned Media“ kommen unternehmenseigene,
vom Unternehmen steuerbare „Owned Media“
hinzu
Mobile Kommunikation (Medienkon- Kommunikation ist schnell, spontan und
vergenz) Mediennutzerinnen und -nutzer sind schwer steuerbar, insbesondere bei kritischen
durch mobile Medien (Smartphone, Tablet, Inhalten. Inhalte können schnell „viral“ gehen
Wearables) quasi immer und überall erreichbar
(„Always on“)
Mit Stakeholdern im Dialog Unerwartete negative Kommentare, Posts,
Positive Kommentare: Lob aufnehmen, positiv Beschimpfungen, bis hin zu Shitstorms
verstärken; Negative Kommentare: Kritik über das eigene Unternehmen machen
aufnehmen, ernst nehmen, moderieren, ggf. Kommunikations- bzw. Krisenmanagement
korrigieren (Ehrlichkeit, Transparenz etc.) notwendig
Social-Media-Kommunikation Notwendigkeit/Anforderung, Inhalte für Social
Direkte Kommunikation mit der Zielgruppe Media journalistisch zu erstellen: Quellen
ohne Medien als „Gatekeeper“ möglich → prüfen, deuten, Bilder und Videos prüfen, daher
hohe Sensibilität in der Kommunikation, im Lizenzen und Einsatz klären
Umgang mit den Stakeholdern gefragt!
CEO-Kommunikation Wenn Anspruch an die Inhalte nicht erfüllt
Die Unternehmensleitung im Fokus: Einsatz von wird, entstehen Kommunikationsfehler. Social-
CEO-Profilen in Social Media (z. B. Twitter) als Media-Profile haben entsprechend hohen
strategisches und taktisches Instrument. Wichtig: Betreuungs- und Pflegeaufwand und sind
Authentizität, Aktualität und Glaubwürdigkeit krisenanfällig
(vgl. Pietzcker et al., 2019)
Digitale Kommunikation über Corporate Nur bedingt mögliche Steuerung, da i. d. R.
Influencer in den Sozialen Medien auf freiwilliger Basis kommuniziert wird;
Mitarbeiter als Markenbotschafter und gut ver- kann durch speziell aufgesetzte Programme
netzte Kommunikatoren stärken Vertrauen im und Kommunikationsrichtlinien (Social Media
Markt (z. B. bei potenziellen Kunden) Policy o. ä.) vermieden werden
Einsatz technischer Plattformen Systeme und Tools sind kostenintensiv, ins-
Monitoring-Tools, Redaktionssysteme besondere für kleine und mittelständische
etc. automatisieren und beschleunigen die Unternehmen
Kommunikationsaufgaben in Unternehmen.
Ermöglichen effiziente(re) Prozesse
Automatisiertes Monitoring Posts benötigen oft das Urteilsvermögen von
Medienbeobachtung, Kampagnen-Monitoring Profis, daher Mix aus automatisiertem und
etc. automatisiert mit Unterstützung manuellem Monitoring erforderlich, um z. B.
professioneller Software erleichtert die Analyse Konsequenzen einschätzen zu können
[Quelle: eigene Darstellung]
(Fortsetzung)
410 A. Kühte und A. Rohde

24.5 Fazit und Ausblick

In diesem Beitrag wurde herausgearbeitet, dass Digitalisierung und technologischer


Wandel Wirtschaft und Gesellschaft seit Jahren transformieren und damit auch die
Kommunikationsbranche in besonderem Maße fordern. Im Zuge des digitalen Medien-
wandels haben sich sowohl die Nutzungs- und Rezeptionsgewohnheiten als auch die
Partizipationsmöglichkeiten des Medienpublikums stark verändert. Die Bedeutung
der klassischen Medien nimmt weiter ab, wohingegen die der Sozialen Medien stark
zunimmt. Die öffentliche Meinungsbildung wird inzwischen von digitalen Diskursen via
Social Media geprägt – auch durch Mikro-Öffentlichkeiten.
Es wurden unterschiedliche Begrifflichkeiten rund um Unternehmenskommunikation
und PR vorgestellt sowie eine Einordnung der Unternehmenskommunikation im
interdisziplinären Kontext vorgenommen, wobei die Vielfalt bestehender Perspektiven
und Ansätze deutlich wurde.
Die Unternehmenskommunikation verliert aufgrund dieser tiefgreifenden Ver-
änderungen zunehmend die Kontroll- und Deutungshoheit darüber, was über das
Unternehmen verbreitet wird. Drei aktuelle Trends wurden als für die Unter-
nehmenskommunikation derzeit besonders bedeutsam ausgemacht: die Vielfalt der
Kommunikationskanäle und die Echtzeitkommunikation, die Herausforderungen
durch Soziale Medien sowie die Bedeutung datengetriebener Kommunikation. Darüber
hinaus wurde eine Übersicht zentraler Chancen und Risiken der Digitalisierung von
Kommunikation vorgestellt und anhand von Anwendungsbeispielen erläutert.
Im Social-Media-Zeitalter stehen Unternehmen verstärkt im Fokus und zugleich
unter Druck – sowohl durch die etablierten professionellen Medien als auch durch
Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus (zunächst) nichtmedialen Diskursen. Die
über Social Media beschleunigte Verbreitung von Diskursen mit negativer Tonalität
kann schnell zu einem Problem für die Reputation eines Unternehmens werden. Echt-
zeitkommunikation und schnelle Reaktions-/Feedbackzeiten – vor allem via Social-
Media-Plattformen – wurden dabei für die Unternehmenskommunikation als besonders
bedeutsam ausgemacht. Nicht immer können Soziale Medien als sozial bezeichnet
werden.
Unternehmen müssen sich mit den Chancen und Risiken der Kommunikation über
die zahlreichen, vielfältigen Social-Media-Kanäle aktiv auseinandersetzen. Im Zentrum
muss eine unternehmensindividuelle strategische Unternehmenskommunikation stehen,
die im Einklang mit den übergreifenden Kommunikationszielen des Unternehmens steht.
Wird die Unternehmenskommunikation zukünftig von Algorithmen, Bots und
Künstlicher Intelligenz dominiert? Die technologische Durchdringung der Unter-
nehmenskommunikation jedenfalls ist unumkehrbar. Im Beitrag wurde skizziert, wie
datengestützte bzw. datengetriebene Prozesse die Kommunikation in den Unternehmen
bereits heute prägen. Mit Blick auf die Notwendigkeit von Kommunikationsverantwort-
lichen, den Beitrag des finanziellen Aufwands für die Unternehmenskommunikation
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 411

zur Wertschöpfung zu beziffern, ist eher von einer Steigerung dieser Entwicklung aus-
zugehen. Kommunikation lebt vom menschlichen Dialog. „Die proklamierte Mensch-
Maschine-Fusion stößt an eine kommunikative Schallmauer, weil Menschen als soziale
Akteure immer noch und weiterhin in persönlichen Begegnungen als Sender, Empfänger
oder Mittler miteinander kommunizieren. Digitalisierung kann den authentischen und
direkten, in die Aura der Sinneswahrnehmungen eingebetteten kommunikativen Aus-
tausch nicht ersetzen“ (Kirf et al., 2020, S. 121). Die zweifellos großen Errungen-
schaften der Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation in Bezug auf
Kommunikationskanäle und Analyse- und Recherche-Tools haben den Arbeitsalltag von
Kommunikationsverantwortlichen stark erleichtert. Dennoch stehen Daten nicht für sich
selbst, sondern müssen von den Verantwortlichen professionell erhoben und gedeutet
werden, damit sie ihr volles Potenzial in der strategischen Kommunikation im Sinne der
Unternehmensziele entfalten können.

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414 A. Kühte und A. Rohde

Prof. Dr. Alexandra Kühte ist seit 2020 Professorin für Marketing, Kommunikation & PR an
der IU Internationale Hochschule in Berlin. Sie verfügt über langjährige Berufserfahrung in der
digitalen Transformation von Medienmarken, Vermarktungs- und Geschäftsmodellen. Ihre Lehr-
und Forschungsschwerpunkte sind Unternehmens- und Markenkommunikation sowie Medien-
wandel und Medienmanagement.

Prof. Dr. Angela Rohde ist seit 2019 Professorin für Medien & PR an der IU Internationale Hoch-
schule im Fernstudium und Lehrende im IU Duales Studium in Hamburg. Sie war über viele Jahre
in leitenden Funktionen in Marketing und Unternehmenskommunikation internationaler Unter-
nehmen (Finanzdienstleistung und Verlage) tätig. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind
Medienwandel, Strategische Kommunikation, Mediennutzungs- und Medienwirkungsforschung,
Konfliktmanagement sowie Mindful Leadership.
Ein Firestorm – was tun?
Krisenkommunikation bei digitalen 25
Markenkrisen

Nele Hansen und Josef Arweck

Zusammenfassung

Firestorms (im Deutschen oft auch als Shitstorms bezeichnet) als Form digitaler
Markenkrisen stellen für viele Unternehmen heutzutage ein existenzbedrohendes
Ereignis dar, während sie für andere ein willkommener PR-Gag sind. Doch vor
welchen Firestorms sollten sich Unternehmen potenziell fürchten, wie können
sie sich vorbereiten und wie reagieren? Nach einer konzeptionellen Einordnung
von Firestorms als Markenkrise im digitalen Zeitalter zeigen zwei Praxisbei-
spiele mögliche Auslöser, Verläufe und Konsequenzen auf. Der Beitrag schließt mit
Empfehlungen für geeignete Krisenkommunikationsstrategien.

25.1 Einleitung

Ein pinker Handschuh sollte für die zwei Gründer Eugen Raimkulow und Andre
Ritterswürden der Durchbruch sein. Als sie ihr Produkt, pinkfarbene Einmalhand-
schuhe zur Entsorgung von Tampons, in der VOX-Sendung „Die Höhle der Löwen“
präsentierten, stieg Investor Ralf Dümmels mit 30.000 € ein. Doch schon während
der Sendung entbrannte ein Firestorm in sozialen Netzwerken: „frauenverachtend“,

N. Hansen (*)
IU Internationale Hochschule, Münster, Deutschland
E-Mail: [email protected]
J. Arweck
IU Internationale Hochschule, Passau, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 415
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_25
416 N. Hansen und J. Arweck

„klischeehaft“, „ökologisch verwerflich“ lauteten einige Vorwürfe, die unter dem


Hashtag „PinkyGate“ im Netz kursierten (Stern, 2021). Kurze Zeit später nahmen die
beiden Gründer das Produkt vom Markt.
Das Start-up ist nicht das einzige Unternehmen, das von einem solchen Shitstorm
(engl. Social Media Firestorm) getroffen wurde. Fast täglich werden Unternehmen Opfer
dieser dynamischen, sich schnell verbreitenden Attacken in sozialen Netzwerken, die
sich als neue Form digitaler Markenkrisen etabliert haben.
Soziale Netzwerke ermöglichen es individuellen Konsument:innen, eine große Anzahl
anderer Konsument:innen in sehr kurzer Zeit zu informieren, indem sie selbst Inhalte
mit Markenbezug erstellen oder durch ihre digitalen Netzwerke verbreiten (Labrecque
et al., 2013). Diese Umgebung der sozialen Netzwerke ermöglicht neue digitale Formen
der sogenannten Mund-zu-Mund-Kommunikation (Word-of-Mouth), indem beispiels-
weise in Echtzeit eine große Anzahl von Freund:innen und Follower:innen erreicht wird
(Hennig-Thurau et al., 2015).
Doch längst nicht alle Unternehmen fürchten Firestorms. Start-ups wie der Saft-
hersteller True Fruits etwa provozieren gezielt Firestorms, um die Bekanntheit zu
steigern (Fanpage karma, 2019). Welche Firestorms sind somit potenziell gefährlich und
wie können Unternehmen reagieren?
Nach einer konzeptionellen Einordnung des Phänomens Firestorm als Markenkrise im
digitalen Zeitalter werden im Folgenden Einflussfaktoren aufgezeigt, die zu einer lang-
fristigen Schädigung des Markenimages führen können. Diese können sowohl im Aus-
löser des Firestorms, der Dauer und Länge, aber auch in der Ausgestaltung der Posts
liegen.
Anhand des Praxisbeispiels „Pinky Gloves“ werden zudem mögliche Fallstricke für
Unternehmen analysiert. Konkrete Handlungsempfehlungen für Praktiker:innen zeigen
schließlich auf, wie Unternehmen sowohl präventiv, im Moment des Firestorms als auch
im Nachhinein kommunizieren und sich vorbereiten können.

25.2 Firestorms: Markenkrisen im digitalen Zeitalter

Nach Hansen et al. (2018) lassen sich Social Media Firestorms zunächst als neue,
digitale Form des breiteren Phänomens von Markenkrisen charakterisieren. Marken-
krisen an sich sind kein neues Phänomen. Ob bei Shells Brent-Spar-Skandal (das
Unternehmen plante, eine Ölplattform in der Nordsee zu versenken) oder beim
Contergan-Skandal (das Medikament verursachte Fehlbildungen tausender Neu-
geborener in den 1960er Jahren) – Manager:innen sahen sich auch im analogen Zeitalter
mit Markenkrisen konfrontiert, die meistens von Massenmedien wie Zeitungen, Radio
und Fernsehen verbreitet wurden.
Zurückführen lassen sich Krisen auf verschiedene Auslöser wie beispielsweise
ein Produktversagen, ein soziales Versagen oder ein Kommunikationsversagen. Die
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation … 417

Rolle der traditionellen Medien bei der Verbreitung spielte zudem eine Rolle. Auch die
Reaktionsstrategien der Unternehmen beeinflussten die Schwere der Krise.
Verschiedene Typen von Auslösern lassen sich gleichermaßen auf digitale Marken-
krisen übertragen. Auch die traditionellen Medien spielen weiterhin eine Rolle bei der
Verbreitung. Neu ist allerdings das sogenannte digitale Word-of-Mouth als zu Grunde
liegendes Phänomen.
Das Aufkommen von Social Media hat zu einer neuen Umgebung geführt, in der
Konsumenten Markenaktionen untereinander diskutieren, oft einhergehend mit einer
Berichterstattung in traditionellen Massenmedien. Wissenschaftler:innen sind sich
einig, dass digitale soziale Medien die Macht von traditionellen Medienquellen hin
zu subjektiven Konsumentenäußerungen verschoben haben, sodass aktive vernetzte
Konsument:innen eine dominierende Rolle in Markenkrisen übernehmen (Labrecque
et al., 2013).
Wurden traditionelle Markenkrisen vor allem durch Journalist:innen verbreitet,
sind es bei Firestorms vor allem die Beiträge des digitalen Word-of-Mouth (Hansen
et al., 2018). Der Hauptunterschied zum traditionellen Word-of-Mouth besteht in der
Geschwindigkeit, in der sich Nachrichten verbreiten können. Digitales Word-of-Mouth
erreicht eine unbegrenzte Anzahl an Konsument:innen und Medien, wohingegen
in traditionellen Offline-Umgebungen die Reichweite auf eine kleine Anzahl an
Konsument:innen begrenzt war.
Digitale Nachrichten können insbesondere auf Social-Media-Plattformen geteilt
und aufgegriffen werden. Das Aufgreifen dieser Nachrichten bzw. Widerhallen von
traditionellen Massenmedien, die wiederum von Social-Media-Beiträgen aufgegriffen
werden (Echoverse), verstärkt den Verbreitungseffekt (Hewett et al., 2016).
Zusammenfassend definieren Hansen et al. (2018) Social Media Firestorms als

u Markenkrisen im digitalen Zeitalter, die aus vielen öffentlich beobachtbaren Konsu-


mentenartikulationen über eine Marke in sozialen Netzwerken bestehen, starke negative
Emotionen ausdrücken und sich sehr dynamisch in und zwischen verschiedenen Medien
verbreiten.

25.3 Einflussfaktoren auf die Markenwahrnehmung

Doch sind Firestorms tatsächlich schädlich für die Marke oder steigern sie vielleicht
sogar die Markenbekanntheit und damit den Kund:innenstamm?
Hansen et al. (2018) zeigen in ihrer Studie, dass nicht alle Firestorms gleichermaßen
negative Folgen auf die kurz- und langfristige Markenwahrnehmung haben. So ver-
ursachen beispielsweise Firestorms, die durch ein Produkt- oder Dienstleistungsver-
sagen hervorgerufen wurden (z. B. fehlerhafte Bremsen bei einem Autohersteller),
größere persönliche Betroffenheit und damit eine stärkere Informationsverarbeitung
durch Konsument:innen als etwa ein Kommunikationsversagen. Dies führt sowohl zu
418 N. Hansen und J. Arweck

einer kurz- als auch zu einer langfristigen Verschlechterung der Markenwahrnehmung.


Firestorms mit einer hohen Anzahl an Tweets sorgen dafür, dass Konsument:innen mehr
Gelegenheit haben, sich mit dem Firestorm auseinanderzusetzen. In der Folge erinnern
sich Konsument:innen auch langfristig – mit negativen Folgen für die Markenwahr-
nehmung. Auch ein Video oder Bild als Auslöser des Firestorms verstärkt die negative
Markenwahrnehmung – allerdings nur kurzfristig.
In der Praxis zeigt sich, dass B2C-Unternehmen meist mehr betroffen sind als B2B-
Unternehmen. Entscheidend für die Entwicklung ist in hohem Maße auch die Reaktion
des Unternehmens.
Unbestritten ist aber, dass von einem Firestorm ein latentes Risiko ausgeht – vor
allem, wenn die Welle aus Social Media in die klassischen Medien überschwappt. Das
proaktive Initiieren eines Firestorms, um Bekanntheit zu generieren und Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen, bleibt ein Spiel mit dem Feuer.

Das Beispiel True Fruits

Es gibt es wohl kaum ein Unternehmen in Deutschland, das Firestorms so aktiv


provoziert wie True Fruits. Besonders in ihrer Werbung und auf Verpackungen, aber
auch in der Kommunikation auf Social-Media-Kanälen und auf ihrer Website machen
sie Gebrauch von provokanten Aussagen oder Bildern. Was zurückkommt, ist viel
Aufmerksamkeit – meist in Form von Entrüstung über rassistische, sexistische oder
anders diskriminierende Motive des Smoothie-Herstellers aus Bonn.
True Fruits geht sehr aktiv mit kontroversen Stellungnahmen auf aktuelle soziale
Debatten ein. So zum Beispiel im August 2021: Im Zuge der Bundestagswahl
bedruckte True Fruits seine Flaschen – die typischerweise immer einen Textdruck
haben – mit Ausschnitten der Wahlprogramme der Parteien. Für viele ein Dorn im
Auge: die Flasche mit dem Wahlprogramm-Ausschnitt der AfD. So auch für Edeka;
das Unternehmen verurteilte öffentlich True Fruits und sandte besagte AfD-Flaschen
zum Hersteller zurück (Tagesschau, 2021).
Neun Kernaussagen der sechs Parteien Die Linken, Die Grünen, SPD, FDP, CDU
und AfD wurden auf die Flaschen gedruckt, wobei True Fruits zwei falsche Aus-
sagen unterbrachte, die als eine Art Spiel von den Kunden erkannt werden sollten.
Die Falschaussagen der AfD bezogen sich auf eine Einbürgerungsgrenze von 1500
Migrant:innen und den Erhalt von Ehen durch die Erhöhung der Trennungsjahre bei
Scheidungen. Die echten Punkte aus dem Wahlprogramm behandelten den Austritt
aus der EU, die Einführung der Wehrpflicht, das Erwachsenenstrafrecht ab 18 Jahren
und die Strafmündigkeit ab 12 Jahren, die Senkung der Umsatzsteuer auf Medika-
mente, das Abschaffen der Genderideologie, den Ausbau von Kernenergie sowie den
Einsatz von Gesichtserkennungssoftware zur Verbrechensbekämpfung.
Schwerwiegende Schäden hat True Fruits bisher nicht verbuchen müssen. Sicher-
lich gibt es eine relevante Menge an verlorenen Kund:innen, die das Unternehmen
öffentlich und aktiv boykottieren. Auf der anderen Seite gibt es Kund:innen, die sich
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation … 419

mit der Unternehmenspositionierung identifizieren, die erst durch die erhöhte Reich-
weite im Zuge der Firestorms das Unternehmen oder Produkt kennenlernten und
deren Treue durch die Firestorms gestärkt wurden.
Dass True Fruits sich aktiv provokant positionieren will, zeigt sich nicht nur in
den Werbe- und Kommunikationsmaßnahmen, sondern auch in seinen Statements.
Eine ausführliche Stellungnahme im Februar 2019 zu diversen Firestorms seit 2017
endet mit der Aussage: „Aber in einem Punkt, das müssen wir uns eingestehen, sind
wir anscheinend diskriminierend! Wir sind diskriminierend gegenüber dummen
Menschen, denn dumme Menschen schließt unsere Art der Kommunikation eindeutig
aus. Sie ist schlichtweg nicht für Dumme gemacht und wird sie auch nie sein, das tut
uns leid.“ (True fruits Smoothies, 2019). Eines ist klar: True Fruits polarisiert. Das
zieht eine enorme Aufmerksamkeit mit sich. Auf diesen Post beispielsweise folgten
27.000 Reaktionen, 3300 Kommentare und 4000 Shares (Fanpage karma, 2019). Und
daraus ergibt sich eine wachsende Follower:innengemeinde, da der Algorithmus eine
hohe Anzahl von Interaktionen – egal ob positive oder negative – begünstigt; das
fördert die Reichweite und das wiederum führt dazu, dass Personen, die die Marke
bislang nicht kannten auf sie, ihre Botschaft und den Firestorm erst aufmerksam
werden – und dann möglicherweise sympathisieren. Folge allein dieser Kampagne
war für True Fruits ein Plus von 1200 neuen Fans auf Twitter, 8700 auf Instagram und
5900 auf Facebook (Fanpage karma, 2019).
True Fruits polarisierende Außenseiter-Strategie lässt das Unternehmen regelmäßig
in den Medien erscheinen und profitiert von seinen kalkulierten Firestorms. ◄

Das Beispiel Pinky Gloves

Das junge Start-up nahm 2021 an der deutschen TV-Sendung „Die Höhle der
Löwen“ teil. In der Aufzeichnung der Sendung präsentierten die zwei Gründer von
Pinky Gloves ihre pinken Einweghandschuhe, die laut ihrer Aussage das diskrete,
geruchs- und auslauffreie Entsorgen von Tampons ermöglichen. Anzeichen eines
sich anbahnenden Firestorms gab es zu diesem Zeitpunkt nicht – im Gegenteil:
Pinky Gloves konnte sich einen Deal mit Ralf Dümmel, einem der Investoren aus der
Sendung, sichern und erhielt durchweg Lob von der fünfköpfigen Jury.
Dass die Emotionen der Zuschauer:innen sich drastisch von denen der Jury
unterschieden, offenbarte sich erst bei Ausstrahlung der Folge am 12.04.2021. Auf
Social Media äußerten einzelne Zuschauer ihre Verärgerung und Überraschung, ver-
mehrt auch unter den Hashtags #Pinkygloves, #Pinkygate #periodshaming und
#diehöhlederlöwen. In den darauffolgenden Tagen verbreiteten sich immer mehr
Videos des Pitches, Zitate der Gründer aus der Sendung sowie Meinungsbeiträge
von Zuschauer:innen, Fotos und Karikaturen. Pinky Gloves gehörte in diesen Tagen
zu den Top Trends auf Social Media – und landete am 14.04.2021 sogar Platz 1 der
Twitter Trends (Erxleben, 2021). Gleichzeitig wurden neben sachlichen Äußerungen
420 N. Hansen und J. Arweck

vermehrt emotionale Beiträge veröffentlicht. Die Autorin Franka Frei schrieb in


einem ausführlichen Instagram-Beitrag beispielsweise: „Ich bin irgendwo zwischen
Lachen, Weinen und Kotzen.“ (Frei, 2021). Viele weitere einflussreiche Accounts und
Personen des öffentlichen Lebens schlossen sich an.
Kern der Entrüstung war vor allem die empfundene Tabuisierung des Themas
Periode durch das Produkt und auch die Wortwahl der Gründer. Weitere Kritikpunkte
waren die fehlende Nachhaltigkeit der Plastikhandschuhe, das stigmatisierende pinke
Branding sowie fehlendes Zielgruppenverständnis der beiden männlichen Gründer
sowie des Investors.
Social Responsibility und Aufmerksamkeit werden zu immer wichtigeren
Attributen von Unternehmen und werden von (potenziellen) Kunden:innen voraus-
gesetzt (Brunner, 2014). Praktische Beispiele zeigen, wie besonders CSR-bezogene
(CSR: Corporate Social Responsibility) Probleme ein Unternehmen angreifbar
machen und Auslöser für Social Media Firestorms sein können (Schmeltz & Agerdal-
Hjermind, 2015). Pinky Gloves haben diese Faktoren nicht nur mit der Produktidee,
sondern auch in ihrer gesamten Kommunikation vernachlässigt. Bei einem medien-
wirksamen Auftritt wie dem bei der TV-Sendung „Die Höhle der Löwen“, welche
auf Einschaltquoten von mehr als zwei Millionen kommt, ist eine besondere Acht-
samkeit und Vorbereitung in der Kommunikation, aber auch der Krisenbetrachtung in
verschiedensten Unternehmensbereichen, wie beispielsweise der Produktentwicklung,
erforderlich (Weidenbach, 2021 und Schmeltz & Agerdal-Hjermind, 2015).
Besonders durch die einflussreiche Rolle von Social Media heutzutage sind auch
kleinere, beinahe unscheinbare Fälle von Firestorms erwiesenermaßen zu hoher Auf-
merksamkeit gelangt. Allgemein gilt jedoch, dass die Reichweite eine entscheidende
Rolle für die Konsequenzen des Firestorms spielt. Während die Größe eines Unter-
nehmens für das Entstehen eines Firestorms zunächst nicht entscheidend ist, können
die Folgen für kleine Unternehmen wesentlich schädlicher sein. Existentielle Krisen
in Folge von Firestorms kommen in der Regel nur bei kleinen und/oder jungen
Unternehmen vor. „Die Onlineöffentlichkeit erwartet innerhalb kürzester Zeit eine
Stellungnahme des Unternehmens, sobald ein Krisenfall eintritt. Die Onlinegemein-
schaft erwartet von dieser Stellungnahme Offenheit, Ehrlichkeit und Kompetenz.“
(Besson, 2013). Um angebracht zu reagieren, erfordert es eine ständige Beobachtung
und Bewertung von Krisenpotenzial und -resonanz. Besonders für junge und/oder
kleine Unternehmen ist das systematische Krisenmonitoring eine große Heraus-
forderung. Es fehlen zum Beispiel meist etablierte Prozesse, Strukturen, Kapazitäten
und die nötige Expertise für die Krisenvorbereitung sowie -bewältigung.
Noch in derselben Woche der Ausstrahlung berichteten im Fall von Pinky Gloves
die etablierten Printmedien, darunter namhafte und reichweitenstarke Medien wie
Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, tageszeitung, Spiegel, Stern,
BILD und weitere, sogar internationale Medien wie The Guardian und Times of India
über das Ausmaß der Online-Kritik und beleuchteten vor allem die stark negativen
Meinungen der Nutzer. Nur zwei Tage nach der Sendung äußerten sich die zwei
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation … 421

Gründer: Entschieden haben sie sich für eine zweiminütige Stellungnahme per Video
auf Instagram. In diesem bedanken sie sich für konstruktive Kritik und distanzieren
sich von der der Tabuisierung der Menstruation: „Auf keinen Fall wollten wir zum
Ausdruck bringen, dass die Menstruation etwas Ekelhaftes sei und die Entsorgung
der Hygiene-Artikel im heimischen Mülleimer beschönigt werden müsse.“ (Erxleben,
2021). Ebenfalls erklären sie, dass sie sich mit Pinky Gloves genau für das einsetzen,
für das sie nun kritisiert werden: „Aus unserer Sicht sollte die Menstruation schon
lange kein Tabu-Thema mehr sein. Wer uns schon länger auf Instagram folgt, weiß,
dass wir uns dafür einsetzen, eine positive Aufmerksamkeit zu schaffen, die einer
Stigmatisierung der Menstruation entgegenwirkt.“ (Erxleben, 2021).
Seinen zweiten Höhepunkt erreicht der Firestorm um Pinky Gloves dann mit dem
zweiten Statement, in dem die Gründer nicht nur offenlegen, dass sie einer heftigen
Welle an Hass, Mobbing und Gewalt- sowie Morddrohungen in Folge ihres Auftrittes
ausgesetzt sind, sondern auch, dass sie zusammen mit dem Investor Ralf Dümmel
entschieden haben, Pinky Gloves vom Markt zu nehmen (Pinky Gloves, 2021). Zu
diesem Zeitpunkt haben sie bereits alle Einkaufs- und Vertriebsaktivitäten eingestellt.
Spätestens hier wird manifest, dass Pinky Gloves als junges Start-up diesem Ausmaß
eines Firestorms nicht standhalten konnte.
Das Beispiel zeigt fast schon musterhaft den klassischen Worst-Case-Verlauf eines
Firestorms – von einzelnen Beiträgen (Erscheinen) über Social-Media-Gruppen und
viralen Nachrichten (Beschleunigen) bis hin zur breiten Medienberichterstattung
(Verbreitung) und emotionalen, engagierten Meldungen und Stellungnahmen (Peak)
sowie dem Abflachen der Bedeutung des Firestorms und sinkender Relevanz des
Unternehmens (Bedeutungsverlust) (vgl. Abb. 25.1) (Bintz & Mutschler, 2020).
Es dokumentiert, wie extrem die Auswirkungen eines Firestorms sein können: Im
Falle Pinky Gloves das Auflösen des Unternehmens – gepaart mit extremer mentaler
Belastung der Betroffenen durch Hassnachrichten.
Besonders junge Unternehmen dürfen Firestorms nicht unterschätzen. Mit wenig
Kommunikationserfahrung, einem kleinen Kundenstamm, geringer bestehender
Reputation und einem kleinen Portfolio, auf das sich das Unternehmen wirtschaft-
lich stützt, sind die Gefahrenpotenziale durch Firestorms sehr groß – mit der richtigen
Vorbereitung aber auch vermeidbar. ◄

25.4 Krisenkommunikation für Praktiker:innen

Hinsichtlich geeigneter Reaktionsstrategien zeigt sich die Forschung uneins. Während


Hsu und Lawrence (2016) keinen mildernden Einfluss durch eine Unternehmensreaktion
auf negative Social-Media-Beiträge während eines Produktrückrufs finden, zeigen etwa
Hewett et al. (2016) unterschiedliche Effekte, die aus verschiedenen Reaktionsstrategien
resultieren. Hauser et al., 2017 belegen, dass ein kooperativer Kommunikationsstil dazu
beiträgt, die Krise erfolgreich zu meistern.
422 N. Hansen und J. Arweck

Entwicklung des Firestorms Pinky Gloves


350

Peak
300

250
Anzahl der Beiträge

erneuter
Peak
200

erneute
150 Beschleunigung
Abflachen

100 Beschleunigung Abflachen

50
Verbreitung

Start
0
12.04. 13.04. 14.04. 15.04. 16.04. 17.04. 18.04. 19.04. 20.04. 21.04. 22.04. 23.04. 24.04. 24.04. 25.05. 26.05.
Datum

Twi er Onlinemedien Unternehmensstatement

Abb. 25.1 Entwicklung des Firestorms Pinky Gloves. (Eigene Darstellung)

Jede Krise ist allerdings anders und daher gibt es keine allgemeingültigen Patent-
rezepte für die Praxis (vgl. Abb. 25.2). Jeder Firestorm jedoch ist eine potenzielle Krise
und ein paar Grundregeln in der Praxis gelten immer – in der digitalen wie der analogen
Welt, wobei die eine nicht mehr ohne die andere denkbar ist.
Die Prävention beginnt mit der regelmäßigen Sensibilisierung für mög-
liche kritische Sachverhalte. Jede Entscheidung des Managements sollte nicht nur
wirtschaftliche Auswirkungen, sondern auch etwaige öffentliche Konsequenzen
berücksichtigen. Das Denken in Szenarien erleichtert das Simulieren von möglichen
Entwicklungen. Unerlässlich bleibt ein kontinuierliches Screening von aktuellen und
latenten Entwicklungen sowie die operative Vorbereitung – Sprachregelungen, vor-
formulierte Statements und Posts, Textbausteine, Darksites, Manuals mit vorab
definierten Abläufen und Verantwortlichkeiten sowie Handynummern von relevanten
internen wie externen Ansprechpartnern (IT, Anwält:innen usw.).
Noch einen Schritt vorher setzt die wirkungsvollste Abwehrmaßnahme an: der Auf-
bau einer Community. Fürsprecher:innen, Multiplikator:innen und Fans der Marke, die
über Social Media organisiert sind, können schon im Vorfeld kritische Fragen abfedern,
ein Frühwarnindikator sein und einen verteidigenden Schutzschirm aufspannen. Eine
lebendige Community hat neben einer Krisenpräventionsfunktion weitere für ein Unter-
nehmen positive Auswirkungen, weswegen der systematische Aufbau und die kontinuier-
liche Pflege eines solchen Netzwerks unbedingt thematisiert werden sollten.
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation … 423

Grundregeln der Krisenkommunikaon in der Praxis

01
Schnelle und proakve Kommunikaon
Rechtzeiges Agieren gibt die Chance durch
Richgstellung, Entschuldigung oder auch mit Witz einen
Prävenon Firestorm zu entschärfen, aufzuhalten oder zu erscken.

02
Wahrhaige Kommunikaon
Der Einsatz von Notlügen verschlimmert die Situaon nur
– sie werden immer aufgedeckt und dann ist jede
Sympathie verspielt.

03
Au au einer Community
Fürsprecher, Mulplikatoren und Verständliche und zielgruppenorienerte Ansprache
Fans der Marke können im Vorfeld Um Stakeholder tatsächlich zu erreichen, ist das Akvieren von
krische Fragen abfedern und ein Verbündeten hilfreich – idealerweise eine vorhandene
Frühwarnindikator sein. Community, aber auch externe Experten.

04
Sensibilisierung Konsistente Kommunikaon
Konsistenz in der Kommunikaon aller Protagonisten, Formate
Entscheidungen des Managements und Kanäle ist erforderlich. Dabei ist darauf zu achten, dass
sollten nicht nur wirtschaliche, der Firestorm nicht ohne Not größer gemacht wird.
sondern auch öffentliche

05
Konsequenzen berücksichgen. Einsatz jurisscher Mi€el
Jurissche Miel können den Firestorm in den wenigsten Fällen
Konnuierliches eindämmen. Dennoch sollten im Falle von Falschmeldungen etc.
Screening & operave Beweise in Form von Screenshots gesichert werden.
Vorbereitung

06
Krisensituaon nachbereiten
Sprachregelungen, Darksites, Ein klarer Neustart mit adäquaten und sichtbaren
definierte Abläufe und Maßnahmen ist wichg. Wer aus einer Krise nichts lernt,
Verantwortlichkeiten etc. läu Gefahr, Fehler erneut zu machen.

Abb. 25.2 Grundregeln der Krisenkommunikation in der Praxis. (Eigene Darstellung)

Ist dennoch ein Krisenfall eingetreten, gilt es, erstens schnell und proaktiv zu
kommunizieren. Wer rechtzeitig agiert, hat die Chance, durch eine Richtigstellung,
Entschuldigung oder auch mit Witz einen Firestorm zu entschärfen, aufzuhalten bzw.
ihn im Keim zu ersticken. Zweitens ist eine wahrhaftige Kommunikation unerlässlich;
nichts ist schlimmer, als vermeintliche Notlügen einzusetzen, um sich Luft zu ver-
schaffen; sie werden immer aufgedeckt und dann ist jede Sympathie verspielt. Um
die Stakeholder auch tatsächlich zu erreichen, ist drittens eine verständliche und ziel-
gruppenorientierte Ansprache nötig; hilfreich ist hier das Aktivieren von Verbündeten –
dies kann eine idealerweise vorhandene Community sein, aber es können auch externe
Experten sein. Schließlich ist viertens Konsistenz in der Kommunikation aller eigenen
Protagonist:innen, Formate und Kanäle erforderlich; wobei hier wiederum darauf zu
achten ist, einen Social Media Firestorm nicht ohne Not selbst größer zu machen, als er
es verdient, und erst einmal dort zu reagieren, wo er begonnen hat.
Der Einsatz juristischer Mittel kann Firestorms in den wenigsten Fällen eindämmen;
allein ihre Ankündigung heizt sie tendenziell noch an. Nichtsdestotrotz sollten im Falle
von Falschmeldungen, Verleumdungen und Beleidigungen Beweise, etwa in Form von
Screenshots, gesichert werden.
Nach überstandener Krise ist zum einen ein klarer Neustart wichtig, der mit
adäquaten und vor allem auch sichtbaren Maßnahmen einhergeht. Zum anderen ist die
Krisensituation nachzubereiten – was ist gut und was ist schlecht gelaufen und warum?
Wer aus einer Krise nichts lernt, läuft Gefahr, Fehler erneut zu machen.
424 N. Hansen und J. Arweck

Abgesehen von der bewussten Provokation eines Firestorms kann sich ein unbe-
absichtigter Firestorm auch als Chance erweisen. Das Hauptaugenmerk sollte aber
mangels der Beherrschbarkeit von Firestorms auf ihrer Vermeidung liegen. Unerlässlich
ist dafür eine gründliche Vorbereitung. Negativ konnotierte Aufmerksamkeit in Form
eines Firestorms durch eine kluge Kommunikation ins Positive zu wenden und am Ende
nicht nur eine gesteigerte Bekanntheit, sondern auch eine verbesserte Reputation zu
erreichen, ist die Königsdisziplin.

Literatur

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(Hrsg.) Handbuch Krisenmanagement. Springer VS.
Bintz, E., & Mutschler, B. (2020). Zur Anatomie von Firestorms (2/2). Ereignishorizont
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www.instagram.com/p/CNmxDjkH4TC/. Zugegriffen: 2. Sept. 2021.
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short- and long-term effects of social media firestorms on consumers and brands. International
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management strategies in online communities. Journal of Strategic Information Systems, 26(4),
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Hennig-Thurau, T., Wiertz, C., & Feldhaus, F. (2015). Does twitter matter? The impact of
microblogging word of mouth on consumers’ adoption of new movies. Journal of the Academy
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www.stern.de/lifestyle/leute/die-hoehle-der-loewen--ralf-duemmel-entschuldigt-sich-fuer--
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Tageschau. (2021). Nach Aktion von True FruitsEdeka schickt AfD-Flaschen zurück. https://www.
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no.tricks/posts/10156203725490914. Zugegriffen: 2. Sept. 2021.
Weidenbach, B. (2021). Einschaltquoten der VOX-Sendung Die Höhle der Löwen 2021. https://
de.statista.com/statistik/daten/studie/596504/umfrage/einschaltquoten-der-vox-sendung-die-
hoehle-der-loewen/. Zugegriffen: 2. Sept. 2021.

Prof. Dr. Nele Hansen ist Professorin für Medienmanagement an der IU International Uni-
versity of Applied Sciences. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl
für Marketing & Medien der Universität Münster und als Redakteurin der WirtschaftsWoche. Ihr
Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Gebiet Social und News Media.

Prof. Dr. Josef Arweck ist Professor für Medienmanagement an der IU International University
of Applied Sciences. Seine Schwerpunkte sind Krisen-PR und Reputationsmanagement. Der
gelernte Journalist arbeitete vorher für McKinsey sowie den Porsche-Konzern, wo er seit 2015
Leiter der weltweiten Konzernkommunikation war. Seit 2020 ist er als Investor im Start-up-
Bereich und Kommunikationsberater tätig.
Potenziale von Podcasts für die digitale
Marketingkommunikation 26
Lisa-Charlotte Wolter   und Elisa Dorothee Adam

Zusammenfassung

Digitales Marketing erfordert ein Umdenken von „Push“ zu „Pull“, von „Reichweite“
zu Relevanz und Aufmerksamkeit und von Promotion zu Conversation. Podcasts
werden immer beliebter – bei Mediennutzern und Werbetreibenden. Denn Podcasts
können vieles: informieren, anregen, unterhalten, begeistern – kurzum: Relevanz
erzeugen. Der vorliegende Beitrag liefert einen Überblick zu den Potentialen von
Podcasts im digitalen Marketing-Mix sowie literaturbasierte und empirisch gestützte
Erkenntnisse zu Podcast-Wirkungsweisen in der Marketingkommunikation. Ein
besonderer Fokus liegt auf den emotionalen Qualitäten von Podcasts, welche für die
Erzeugung von Relevanz und Aufmerksamkeit nützlich sein können.

26.1 Podcasts im Digitalen Marketing

Die Digitalisierung verändert den klassischen Marketing-Mix (Product, Place, Price,


Promotion) grundlegend (Kotler et al., 2017b). Besonders deutlich zeigt sich der Wandel
in der Marketingkommunikation (Promotion), die digitaler, direkter und dynamischer
geworden ist (Schreyer, 2019). Neue Konsumentenbedürfnisse nach Mobilität, Flexibili-

L.-C. Wolter
IU Internationale Hochschule, Hamburg – Schönberg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
E. D. Adam (*)
IU Internationale Hochschule, Bad Oeynhausen, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 427
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_26
428 L.-C. Wolter und E. D. Adam

tät und Individualität in der Kommunikation (Schreyer, 2019) können mit digitalen
Marketinginstrumenten erfüllt werden: einerseits durch mobile, unabhängige Nutzungs-
möglichkeiten; andererseits durch eine gezielte und individuelle Zielgruppenansprache,
was die persönliche Relevanz von Inhalten steigert und Streuverluste minimiert (von
Rüden et al., 2020).
Die digitale Marketingkommunikation ist durch hohe Medienvielfalt bei gleich-
bleibender Aufnahme- und Verarbeitungskapazität von Konsumenten geprägt (Bruce
& Jeromin, 2016; Redler, 2019). Der Einsatz neuer Kommunikationsinstrumente
erfolgt im Kontext einer permanenten und ortsunabhängigen Interaktion mit Inhalten
bei gleichzeitig geringerer Kontrollierbarkeit von Kommunikationsmustern, was es
für Werbetreibende erschwert, Relevanz zu erzeugen (Redler, 2019). Unidirektionales
„Push“-Marketing, bei der die Initiative vom Sender ausgeht, erweist sich angesichts von
Vermeidungstendenzen gegenüber Werbung von Konsumenten als weniger effektiv (von
Rüden et al., 2020). Komplementär zur „Push“-Kommunikation werden heute verstärkt
„Pull“-Strategien eingesetzt. Hierbei kann der Konsument Content danach selektieren,
ob, wann, mit wem und wie er in Kontakt treten möchte (Redler, 2019). Insofern eignen
sich „Pull“-Strategien, um Nutzerbedürfnisse anzusprechen und Relevanz zu erzeugen
(von Rüden et al., 2020).
Ein einseitiges Bewerben von Marken und Produkten/Services (Promotion) wird im
digitalen Marketing-Mix abgelöst durch Conversation mittels Content-Marketing – „das
Erstellen, Kuratieren, Verteilen und Verstärken interessanter, relevanter Inhalte, um bei
der Zielgruppe Gespräche über die Inhalte zu initiieren“ (Kotler et al., 2017a, S. 147).
Conversation ermöglicht es, durch ein Narrativ Relevanz zu generieren. Audio-Content,
der Nutzern einen Mehrwert bietet, erzeugt Relevanz, positive Reaktionen und Aufmerk-
samkeit (Schreyer, 2019) und initiiert das Weitertragen von Geschichten (Kotler et al.,
2017a).
Zwar weckt die Allgegenwärtigkeit digitaler Kommunikation ein neues Bedürfnis
nach Geborgenheit und Intimität (Pietzcker, 2014), doch erweisen sich digitale Kanäle
als weniger geeignet, um echte Nähe und eine emotionale Bindung zu Rezipienten auf-
zubauen. Anders das Medium Podcast, welches verspricht, speziell im Herstellen von
Nähe zum Nutzer besonders geeignet zu sein. Doch halten Podcasts ihr Versprechen?
Und wie sind sie im Marketing-Mix einzuordnen? Darauf soll im Beitrag näher ein-
gegangen werden.

26.2 Podcasts: Hintergrund und Trends

26.2.1 Hintergrund

Die Historie von Podcasts erstreckt sich von den frühen 2000er-Jahren, über die durch die
Verbreitung des Smartphones und des mobilen Internets beförderte „zweite Podcast-Welle“
zwischen 2008 und 2011 bis hin zur „dritten Welle“ ab dem Jahr 2016 (Schreyer, 2019).
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 429

Begünstigend für den Einzug von Podcasts in die Marketingkommunikation sind


die steigende Qualität bei der Content-Produktion (technisch und redaktionell), die
Publishing-Strategien sowie die Nutzeransprache durch den Publisher (BVDW, 2020),
verbunden mit einer Professionalisierung im Markt (Yezbek, 2020). 5G, Smart-Speaker
sowie Optimierungen durch Künstliche Intelligenz katalysieren den Erfolg des Mediums
Podcast weiter (Schreyer, 2019).

u Definition „Podcast” bezeichnet digitale Audio- oder Video-Dateien, die durch


Download auf den PC oder einen portablen Mediaplayer für die unmittelbare oder
künftige Nutzung zur Verfügung stehen (Haygood, 2007, S. 520). Technisch handelt es
sich um Streaming bzw. um eine per (RSS-)Feed abonnierbare Serie von Medieninhalten
(Lammenett, 2021; Bottomley, 2015).
Der begriffliche Ursprung des „Podcast“ liegt im englischen „Broadcast“ und der
Wortsilbe „Pod“. Diese steht für „Play on demand“ (Schreyer, 2019), und lässt sich
zugleich zurückführen auf Apples tragbaren „iPod“.

u „Podcaster“ sind Akteure, die Podcasts produzieren und ins Netz stellen. Ihre Auf-
gaben umfassen Aufnahme, Konzept, Organisation, Moderation, Interviews, Produktion
und Verbreitung von Podcasts (podcast.de, 2010). Podcaster lassen sich nach Grad der
Professionalität unterteilen in Hobbypodcaster, die private Podcasts zu diversen Themen
erstellen und dabei die gesamte Produktion (Vorbereitung, Aufnahme, Postproduktion)
übernehmen, und professionelle Podcaster, welche Podcasts im Auftrag von Unternehmen,
Sendern, Agenturen, oder sonstigen Institutionen produzieren (podcast.de, 2010).

26.2.2 Podcast-Nutzung

Podcast ist das Audio-Medium, welches das stärkste Wachstum verzeichnet (The
Guardian, 2022). Laut „Convergence Monitor 2021“ (AGF/Kantar) hat der Podcast-
Konsum im Vergleich zum Vorjahr stark zugelegt (+43 %). Hörte im Jahr 2020 noch
jeder vierte Deutsche (24 %) Podcast zumindest selten, ist es 2021 bereits jeder dritte
(30 %) (OAM, 2021). Immerhin ein Fünftel (17 %) der Deutschen nutzen Podcasts
mindestens einmal pro Monat (Herrmann, 2021), 8 % sogar täglich (Bitkom, 2020).
Eine Steigerung zeigt sich auch bei der Nutzungsintensität: Die durchschnittliche
Nutzungsdauer hat sich innerhalb eines Jahres von 18 auf 20 bis 30 min im Jahr 2020
erhöht (Bitkom, 2020; Ad Alliance, 2021). Zwar ist der Zuwachs in der Nutzungsdauer
am stärksten bei den Über-50-Jährigen (+34 % zu 2020) (OAM, 2021), doch sind Pod-
casts nach wie vor am beliebtesten bei jüngeren hochgebildeten Menschen, von denen
knapp die Hälfte Podcasts zumindest gelegentlich nutzt (14–29-Jährige: 52 %) (OAM,
2021). Da diese eine relevante, aber herausfordernd zu erreichende Marketingzielgruppe
430 L.-C. Wolter und E. D. Adam

darstellen (OMR, 2020), ist zu beachten, dass für sie bei der Podcastnutzung soziale
Motive ausschlaggebend sind (Magna & Spotify, 2021).
Die Podcast-Nutzungssituationen sind vielfältig: ob als Berieselung bei Alltagstätig-
keiten, als Zeitvertreib, als Medium für konzentriertes Zuhören spezieller Inhalte und/
oder zur Entspannung (OAM, 2021). Dabei hat sich die Rolle digitaler Audio-Medien
während der Pandemie verändert: Audio und speziell Podcasts werden intensiver
genutzt, da sie helfen, Stress zu reduzieren, und eine Auszeit von der visuellen Über-
reizung durch andere Medien bieten (Magna & Spotify, 2021). Der Hörerzuwachs
zeigt sich themenübergreifend (OAM, 2021): von Nachrichten- über Gesprächs- und
Themen-Podcasts (z. B. Gesundheit, Reisen) bis hin zu fiktionalen Podcasts. Tab. 26.1
illustriert die vielfältigen Podcast-Formate, die sich durch unterschiedlichen Fokus (z. B.
journalistisch, Themen-Fokus, fiktionaler Content, alltägliche Geschichten, Marken-
Fokus) und Qualitätsanspruch aus Nutzersicht voneinander abgrenzen. Mittlerweile sind
Podcasts besonders zu einem relevanten Informationsmedium geworden (IQ Media,
2020; OAM, 2021), nicht zuletzt bedingt durch die Corona-Pandemie (Bitkom, 2020).
Informationsformate werden gegenüber Unterhaltungspodcasts von älteren Nutzern
favorisiert; Jüngere bevorzugen eher Unterhaltung (Ad Alliance, 2021; OAM, 2021).

26.2.3 Podcasts als Werbeplattform

Das Wachstum im Podcast-Markt ist ungebrochen (Absatzwirtschaft, 2022). Als Treiber


der Entwicklung wird der Corona-Lockdown gesehen, hat dieser zu einer verstärkten
Nutzung von Audiomedien und speziell Podcasts geführt (IQ Media, 2020). Mit dem
Hörerzuwachs kommt Podcasts auch als Werbeplattform eine wachsende Bedeutung zu
(Absatzwirtschaft, 2022), was sich in steigenden Werbespendings widerspiegelt. Die
Werbeumsätze im deutschen Online-Audio-Markt liegen im Jahr 2020 bei etwa 70 Mio.
Euro (+11 % zum Vorjahr), wovon 16 Mio. Euro auf Podcast entfallen (BVDW, 2021).
Global sollen die Podcast-Werbespendings 2022 bei 1,6 Mrd. US-Dollar liegen (BVDW,
2020).
Der boomende Podcast-Markt wird von immer mehr (Medien-)Marken mit
exklusiven Podcast-Angeboten durchdrungen (Lammenett, 2021), darunter große Player
wie Apple und Google oder Plattformen wie Spotify oder Audible (Schreyer, 2019).
Medienunternehmen experimentieren jedoch eher noch mit Podcasts und die Konkurrenz
ist noch überschaubar, was werbenden Marken mit Podcast-Werbung einen First Mover
Advantage verspricht (Yezbek, 2020). Podcasts bieten Werbetreibenden eine Vielzahl
an Nutzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, wobei längst nicht alle Themenfelder und
Formate voll genutzt werden (BVDW, 2020).
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 431

Tab. 26.1  Podcast-Formate (basierend auf Schreyer, 2019)


Format Beschreibung Beispiele Qualitäts-
anspruch
Medien-/Nachrichten-Pod- Meinungsbildendes, Auf den Punkt (Süd- Hoch
cast Informierendes und deutsche), Lage der
Kommentierendes zur Nation, Steingarts
Nachrichtenlage Morning Briefing, Was
jetzt? (ZEIT)
Themen-Podcast Monothematische Pod- ZEIT Wissen, ZEIT Mittel
casts mit Alltagsbezug Geschichte, Corona-
(z. B. Sport, Reisen, virus Update (Christian
Geschichte, Gesundheit) Drosten)
Talk-Podcast Klassisches Brand Eins – das Mittel/hoch
journalistisches Talk- Gespräch mit Jörg
Format Thadeusz, ZEIT Bühne
Gesprächs-/Unterhaltungs- Meist gescriptetes Fest & Flauschig, Läster- Gering
Podcast Gespräch über diverse schwestern, Gemischtes
alltäglich (oft belanglose) Hack
Themen
People-/Biografie- Podcast Persönliche Geschichten Buchingers Tagebuch Gering
rund um die Person des
Hosts
Storytelling-Podcast Wahre Geschichten Mordlust (ARD/ZDF), Mittel
(auch: True-Crime- in dokumentarischer/ Mord verjährt nicht (rbb
Podcast) fiktionaler Form. kultur), ZEIT Verbrechen,
Kombination aus Hör- Serial
spiel und investigativer
Reportage
Fiction-Podcast Fiktionaler Content über Susi (Spotify Studios), Mittel
mehrere Staffeln wie im Der Abgrund (Melanie
klassischen Hörspiel Rabe)
Corporate Podcast (auch: Unternehmensbezogener Die Zukunft ist elektrisch Gering
Mitarbeiter-Podcast) Podcast, der auf das (Audi), HeadLights – Der
Corporate Image einzahlen Daimler Podcast, 5 Tassen
soll; im Mitarbeiter-Pod- täglich (Tchibo)
cast berichten Mitarbeiter
über ihren Arbeitsalltag

26.3 Podcasts als Marketinginstrument

26.3.1 Podcasts als Kommunikationskanal

Als Bestandteil der „Pull“-Kommunikation lassen sich Podcasts gemäß Kellers (2010)
Klassifikation von Kommunikationskanälen (direkt vs. indirekt; persönliche vs. Massen-
ansprache) als Massenmedium aufgreifen (Abb. 26.1).
432 L.-C. Wolter und E. D. Adam

Ebenso vielfältig wie die Formen von Podcasts für die Nutzer im Sinne des Pull-
Marketings sind auch die Einsatzmöglichkeiten in der Marketingkommunikation
hinsichtlich Werbeausspielung (statisch vs. dynamisch, Position als Pre-/Mid- oder
Post-Roll), Kampagnentypen (z. B. Branded Podcast, Sponsoring) und Werbeformaten
(Native vs. Audio-Spots), wie im folgenden Abschnitt erläutert und in Tab. 26.2
zusammengefasst.
Je nach Formen bzw. Schnittstelle lassen sich Podcasts gemäß Luttrells (2014) PESO-
Modell untergliedern in Paid, Earned, Shared oder Owned Media (Abb. 26.2).

Paid Media
Paid Media beschreibt klassische kommerzielle Kommunikationskanäle, „die von der
Marke für die Verbreitung von Inhalten honoriert werden“ (Kotler et al., 2017a, S. 160).
Über Paid Media kommunizierte Werbung kann auch im Rahmen von Podcasts unter-
schiedlich genutzt werden.

Abb. 26.1 Marketing-Integration (adaptiert von Keller, 2010)


26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 433

Tab. 26.2  Formate der Marketingkommunikation für Podcasts


Format Beschreibung Ad Ad Delivery
Position
Kampagnen- Branded Der im Branded Podcast von einer
typ Podcast Marke präsentierte Inhalt handelt
weniger von den Produkten/
Services, sondern ist nur thematisch
eingegliedert (BVDW, 2020)
Corporate Der Unternehmenspodcast
Podcast behandelt ein spezifisches Produkt
oder Thema der eigenen Marke.
Unterform: Mitarbeiter-Podcast
(IAB, 2021)
Sponsoring Podcast-Folgen/-Staffeln, präsentiert Pre-/ Post- Edited-
von einer Marke oder einem Produkt Roll In /Dynamic
(BVDW, 2020). Media Content
produziert in ähnlicher Form wie
der Editorial Content und gegen
einen Ausgleich durch den Sponsor
in den Media Content eingebettet
(Tutaj & van Reijmersdal, 2012; Van
Reijmersdal et al., 2009)
Product Bezahlte Erwähnung der Marke als Mid-Roll Edited-In
Placement Einbettung in den Podcast Contents
(IAB, 2021)
Werbe- Native In den Podcast-Content eingebundene Pre-/ Mid-/ Edited-In /
format Advertising und in ähnlicher Form designte Post-Roll Dynamic
(Host- Werbeinhalte (Howe & Teufel,
Reads/ 2014). Das etwa zweiminütige
Presenter Endorsement umfasst eine persön-
Reads) liche Erzählung des Hosts/Presenters
rund um Produkt oder Marke, gefolgt
von einem Call-to-Action (Landing-
page-Nennung oder Gutschein-
Code). Werbekennzeichnung durch
Anmoderation und/oder Sound oder
Jingle (BVDW, 2020)
Audio-Spot Vorproduzierte durch Marke oder Pre-/ Post- Edited-In /
Agentur per Adserver bereitgestellte Roll Dynamic
Werbung (BVDW, 2020)
Other Vorproduzierte Werbung, bereit- Pre-/ Post- Edited-In /
Publisher gestellt durch den Podcast-Publisher Roll Dynamic
Produced oder einen anderen Podcast-
Ad Producer (IAB, 2021)
434 L.-C. Wolter und E. D. Adam

Abb. 26.2 Verortung von Podcasts im PESO-Modell (basierend auf Luttrell, 2014)

u In Native Ads ist die Werbung stärker inhaltlich in den Podcast-Content eingebunden.
Dies geschieht in sogenannten Host- oder Announcer-/Presenter-Reads, d. h. vom
Host oder von weiteren Stimmen eingesprochene Produktempfehlungen. Hierbei wird
durch optimale Integration in den Kontext des Umfeldes ein Audio-Audience-Flow
erzeugt. Eine Kennzeichnung als Werbung erfolgt durch Anmoderation und/oder einen
Sound. Das etwa zweiminütige Endorsement beinhaltet eine persönliche Erzählung
rund um Produkt oder Marke, wobei der persönliche Bezug Glaubwürdigkeit erzeugt.
Abschließend erfolgt oft ein Call-to-Action (BVDW, 2020). Native Ads haben oft eine
Mid-Roll-Position inne, können aber auch als Pre-Roll bzw. Post-Roll Ads erscheinen.

u Audio-Spots bezeichnen vorproduzierte Werbung, bereitgestellt durch eine Marke


oder Agentur, zumeist in Pre-Roll Position über einen Adserver (BVDW, 2020). Gegen-
über statischen Edited-In-Formaten kann vorproduzierte Podcast-Werbung zielgruppen-
spezifisch ausgespielt werden. Bei dynamisch in die Audiodatei eingebundener Werbung
wird diese bei Abruf per Download oder Stream präsentiert (IAB, 2021).

Owned Media
Darüber hinaus können Unternehmen bzw. Marken unternehmenseigene Kanäle mit
eigenem Media Content bespielen.

u Der sogenannte Branded Podcast wird von einer Marke präsentiert; der Inhalt handelt
weniger von bestimmten Produkten oder Services, sondern ist thematisch eingegliedert
(BVDW, 2020). Vorteilhaft daran ist die Kontrollierbarkeit des Contents. Im Vergleich
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 435

zu anderen Corporate-Media-Formaten sind Podcasts auch deshalb von Vorteil, da sie


„Audio-Content“ und „Storytelling“ optimal verbinden. Nicht Faktenblätter, sondern
Geschichten sind es, die Menschen begeistern (Schreyer, 2019).

u Dagegen dreht sich ein Corporate Podcast um ein spezifisches Produkt oder Thema
der eigenen Marke. Eine Unterform stellt der Mitarbeiter-Podcast dar. Dieser dient der
Weiterbildung oder der Bindung der eigenen Mitarbeiter an das Unternehmen und wird
zudem im Rahmen des Employer Brandings eingesetzt (Schreyer, 2019).

Im Rahmen des Content-Marketing zielen diese beiden Podcast-Formen primär auf eine
emotionale Bindung der Nutzer an die Marke ab und dienen nicht als klassischer Werbe-
kanal (BVDW, 2020).
Earned und Shared Media Earned und Shared Media sind Medienformate, bei denen die
Inhalte außerhalb der Kontrolle des Unternehmens liegen.

u Earned Media beschreibt „verdiente“ Medien, bei denen die Berichterstattung über
die Marke durch z. B. Mundpropaganda, Empfehlungen oder Public Relations erfolgt
(Kotler et al., 2017a). Auch Podcasts können hierbei eine Rolle spielen, wenn sie z. B.
von Podcastern für die Promotion der eigenen Produkte genutzt werden.

u Shared Media stellen eine Ergänzung zu Podcasts dar, insofern sie Nutzern eine Platt-
form bieten, Inhalte zum Podcast beizutragen oder zu kommentieren (Macnamara et al.,
2016). Hierbei können die Nutzer mit anderen Hörern in der Community sowie mit dem
Host interagieren.

26.3.2 Podcasts im Digitalen Marketing-Umfeld

Für das Podcast-Marketing sind medium-zentrierte, nutzer-zentrierte und pod-


caster-zentrierte Faktoren maßgeblich (García-Marín, 2020; Abb. 26.3). Grund-
legend sind medium-zentrierte Technologien der Distribution und Vernetzung, welche
die zuvor skizzierten nutzer-zentrierten Faktoren (Interaktion, Multimedialität und
Individualisierung, Mobilität und Pull-Kommunikation) sowie podcaster-zentrierte
Faktoren (Partizipation, Multimedialität) unterstützen. Als Einflussfaktoren auf das Pod-
cast-Engagement umfassen medium-zentrierte Faktoren Technologie, Asynchronie (d. h.
zeitversetzte Nutzung), Genre/Format oder Inhalte; nutzer-zentrierte Faktoren umfassen
u. a. die Nutzungssituation und Anzahl der abonnierten Podcasts oder die Präferenz für
Partizipation; podcaster-zentrierte Faktoren beziehen sich auf die Creator-Performance
bei der Produktion, z. B. beeinflusst durch geringe Einstiegshürden und die Relevanz des
Podcasters.
Pull-Kommunikation aus Sicht der Nutzer impliziert, dass diese nur das konsumieren,
was für sie Relevanz besitzt. Um entsprechende Inhalte zu kreieren, sind Informationen
436 L.-C. Wolter und E. D. Adam

Abb. 26.3 Faktoren des Podcast Engagement im Kontext digitaler Marketingkommunikation


(basierend auf García-Marín, 2020; Redler, 2019)

über Bedürfnisse der Nutzer grundlegend. Höhere Aufmerksamkeit kann dadurch erzielt
werden, indem entweder der Nutzergeschmack der breiten Masse oder aber ein Nischen-
publikum mit spezifischen Formaten und Themen angesprochen wird.

26.4 Potenziale und Wirkungsweisen von Podcasts

26.4.1 Podcast-Wirkung

Podcast-Werbung zahlt auf eine Vielzahl von Werbewirkungsindikatoren entlang


der Consumer Journey ein (AS&S Radio/Facit Research, 2018; Statista, 2021; The
Guardian, 2022). Begünstigend hierfür sind ein hoher Grad an Aufmerksamkeit und
Engagement verglichen mit anderen Medienformaten wie TV, Online-Videos oder Social
Media (Magna & Spotify, 2021; Westwood One, 2020a). Verglichen mit dem Audio-
Medium Radio ist das Engagement-Level bei der Rezeption von Werbung in Podcasts
über die gesamte Nutzungszeit hinweg höher und auch durch einen geringeren Abfall
der Aufmerksamkeit gekennzeichnet (The Guardian, 2022). Zudem zeigt sich, dass Pod-
cast-Werbung auf knapp die Hälfte der Nutzer stimulierend wirkt zum Nachdenken,
zur Informationssuche und zum Kauf (vs. jeweils knapp 40 % bei Radiowerbung)
(The Guardian, 2022). Als immersives und intimes Format sind Podcasts geeignet, um
etwas über eine Marke zu „erzählen“ und dadurch Einstellungen sowie letztlich Kauf-
intention und WOM positiv zu beeinflussen (The Guardian, 2022). Während die spezi-
fischen Wirkungspotenziale von Podcasts also vornehmlich in den höheren Stufen der
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 437

Consumer Journey liegen, funktionieren Podcasts ausgezeichnet in Kombination mit


anderen Formaten (Digital Brand Content, Digital Display, Radio), welche aufgrund
ihrer Qualitäten in den niedrigeren Stufen der Consumer Journey effektiv sind (Affinität,
Relevanz, Consideration), um die Wirkungen entlang der Consumer Journey insgesamt
zu maximieren (The Guardian, 2022).
Ein weiterer Faktor ist die Storytelling-Kompetenz von Podcasts: Einerseits bieten
Podcasts eine lockere Atmosphäre und Spontaneität, andererseits schaffen sie durch
Geschichte und Struktur ein komfortables unbeschwertes Hörerlebnis (Rheingold,
2020). Weiterhin zahlt Storytelling auf eine Vielzahl an positiven Podcast-Qualitäten ein:
Innovation, Passung, Glaubwürdigkeit, Mehrwert, Sympathie und Kaufanregung (Ad
Alliance, 2021). Weiterhin kann das Medium Podcast eine höhere Loyalität bei Nutzern
erzielen (63 %) als es etwa bei TV Shows der Fall ist (51 %) (Magna & Spotify, 2021).
Im Medienvergleich zeigen Nutzer eine hohe Offenheit gegenüber Podcast-Werbung
(Magna & Spotify, 2021), sofern sie eine kostenlose Nutzung des Mediums ermöglicht
und bestimmte Merkmale aufweist (Ad Alliance, 2021): kurz und kompakt, klar gekenn-
zeichnet, passend, professionell produziert und mit Mehrwert.
Innerhalb der verschiedenen Werbeformen (Audiospot, Sponsoring, Native Adver-
tising) ist Sponsoring aufgrund ihrer Kürze die bekannteste unter Nutzern (68 %) (Ad
Alliance, 2021); am beliebtesten sind jedoch Native Host-Reads Ads (Westwood One,
2020b), die von 42 % auch komplett gehört werden (Ad Alliance, 2021). Bei der Ver-
mittlung des Narrativs fördern Host-Read Ads die Glaubwürdigkeit, indem sie eine
Beziehung zum Host herstellen (Moe, 2021), welche bei inhaltlicher Stimmigkeit und
Authentizität positive Werbewirkungseffekte begünstigt (Rheingold, 2019). Über-
greifend erweisen sich Sponsorings und Native Advertising wirksamer als Audio-
Spots. Besonders ausgeprägt ist ihr Effekt auf das spontane Consideration Set (Statista,
2021). In einer Studie von AS&S Radio und Facit Research (2018) zeigt sich die
höchste Werbewirkung bei Information (vs. Personal) Native Ads, Sponsoring und
Top-Spots bei angemessener Gestaltung und Platzierung. Hinsichtlich Medienstrategie
zeigt sich: Sponsoring bietet geringeres Risiko, jedoch weniger Raum für Kreativität,
Audiospots eignen sich für kurze und einfache Inhalte, Native Ads bieten am meisten
Raum für Kreativität und eigenen sich besonders für erklärungsbedürftige Produkte. Die
höchste Werbewirkung wird erzielt durch Informative (vs. Personal) Native Ads und
Sponsorings.
Branded Podcasts werden im Vergleich zu Unbranded Podcasts als interessanter,
ansprechender und einprägsamer wahrgenommen (The Guardian, 2022). Dank dieser
Qualitäten eignen sich Branded Podcasts optimal zur Markenstärkung (Rheingold,
2019).
438 L.-C. Wolter und E. D. Adam

26.4.2 Emotionale Podcast-Qualitäten

Während positive Werbewirkungseffekte von Podcasts bislang durch hohes Engagement


erklärt werden, bleiben die genauen emotionalen Faktoren bei der Podcast-Rezeption
unbetrachtet. Hieran knüpft eine Kooperationsstudie von Mediaplus, september Strategie
& Forschung und der University of Florida an, durchgeführt von Oktober 2020 bis März
2021. Ziel des „Emotional Checks“ war es, anhand von Emotionsdaten und Marketing-
und Media-KPIs zu ergründen, welche Emotionen Podcasts wecken können und wie
diese für die Markenkommunikation genutzt werden können. Die multimethodische
Studie umfasste die Erfassung impliziter physiologischer Daten bei der Podcastnutzung
(z. B. Herzfrequenz, Hautleitwert, Pulsvolumen) mit 100 Probanden, tiefenpsycho-
logische Interviews sowie eine deutschlandweite Repräsentativbefragung mit 900
Befragten zur Marken- und Werbewahrnehmung von Podcasts sowie ihrer Rolle in der
Consumer Journey.
Die Studie zeigt, dass Podcasts viele Nutzerbedürfnisse erfüllen können: Je nach
Tageszeit und gewünschter Stimmung sind sie Pausenfüller, Einschlafhilfe oder Rück-
zug von der visuellen Überreizung. Dass Podcasts nur einen Sinn ansprechen, erlaubt
eine stärkere Konzentration auf den Inhalt und Raum für Fantasie. Schließlich können
Podcasts Problemlösungen oder moralische Orientierung bieten. In ihren vielfältigen
Funktionen sind Podcasts daher Begleiter und Freund: Nutzer fühlen sich dem Podcast
und dem Host nah und schätzen die Teilhabe an Gemeinschaft. Anders als ein (Hör-)
Buch sind Podcasts dabei unverbindlich, denn es ist jederzeit möglich, auszusteigen.
Zentral ist die Erkenntnis, dass Podcasts nicht nur Nähe erzeugen können. Je nach Genre
kann der Inhalt auch weitere Emotionen transportieren. Während Unterhaltungspodcasts
oft Attraktion, Sympathie und Nähe hervorrufen, können Wissenspodcasts Reflexion
stimulieren. Weiterhin können Podcasts einerseits Vertrauen, andererseits Stress
erwirken.
Für Werbetreibende gilt es, einen Podcast als Werbemedium auszuwählen, welcher
in Format und Thematik zur eigenen Marke passt. Wichtig ist außerdem zu ergründen,
welche Emotionen die Nutzer in einem Podcast „suchen“ – sei es passend zur
momentanen oder zur erhofften Stimmungslage. Wichtig für Podcaster ist dabei eine
treue Linie, um die Erwartungshaltung der Nutzer zu bedienen und diese so an Podcast/
Marke zu binden.

26.4.3 Podcast-Potenziale

Kurzum: Podcasts erfreuen sich steigender Beliebtheit bei Mediennutzern und folglich
bei Werbetreibenden (BVDW, 2021). Was das Medium als Kommunikationstool für das
digitale Marketing auszeichnet, sei abschließend anhand von sieben Podcast-Potenzialen
aus Nutzer- und Podcastersicht umrissen (Abb. 26.4).
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 439

Abb. 26.4 Sieben


Podcast-Potenziale (Eigene
Klassifizierung)

Für Nutzer
Zum „Pull“-Medium der Markenkommunikation werden Podcasts dank einer Reihe von
Vorteilen für die Nutzer:

• Podcasts sind partizipativ: Bei Podcasts – speziell bei Fiction – zeigt sich ein Trend
vom Massenmedium hin zu einer transmedialen, partizipativen und fan-orientierten
Form des Storytellings (Yeates, 2020). Nutzer schätzen die freie Zugänglichkeit und
kostenlose Nutzung (Absatzwirtschaft, 2022).
• Podcasts sind praktisch: Podcast sind mobil, zeitversetzt und kontrollierbar (Perks &
Turner, 2019). Dank geringer Dateigröße sind sie unproblematisch auf Smartphones
abrufbar und flexibel einsetzbar (Lammenett, 2021). Damit dienen Podcasts als All-
tagsbegleiter – unterwegs, in Wartesituationen oder bei der Hausarbeit (BVDW, 2020;
OAM, 2021).
• Podcasts sind präsent: Ein Großteil der Nutzer hört Podcasts gezielt für bestimmte
Programme und schenkt ihnen im Nutzungsmodus mit Kopfhörern die volle Auf-
merksamkeit im Hier und Jetzt (BVDW, 2020; Ad Alliance, 2021) – nicht zuletzt, da
Podcasts informativ sein können (IQ Media, 2020).

Für Podcaster
Für Podcaster stehen ökonomische, technische und handwerkliche Faktoren im Vorder-
grund:

• Podcasts sind plastisch: Im Gegensatz zum konventionellen Radio ermöglicht das


digitale Format des Podcasts das Erfassen von Nutzerdaten, was für die gezielte Aus-
steuerung von Werbeangeboten unabdingbar ist (Lammenett, 2021).
• Podcasts sind zunehmend professionell: Grundsätzlich zeichnen sich Podcasts
durch geringe Einstiegshürden aus. Es braucht kaum Equipment, um Content zu
produzieren und zu vertreiben (Wrather, 2016). Doch entwickeln sich Podcasts
zunehmend von einem Amateur- zu einem professionalisierten Medium (Sullivan,
2019). Zugleich entdecken immer mehr Celebrities und Influencer die Podcast-Bühne
für sich (Chan-Olmsted & Wang, 2020).
440 L.-C. Wolter und E. D. Adam

• Podcasts sind profitabel: Trotz Tendenz zur Professionalisierung, bleiben die


Produktionshürden hinsichtlich Produktionsaufwand und -kosten niedrig (Yezbek,
2020). Podcast sind besonders profitabel, wenn auf bestehenden Content zurück-
gegriffen werden kann (BVDW, 2020).

Für Nutzer und Podcaster


Mit dem Host als vermittelnde Instanz verbunden sind für User und Podcaster folgende
Vorteile:

• Podcasts sind persönlich: Obgleich Podcast-Inhalte über ein Massenmedium aus-


gespielt werden (Abb. 26.1), können Podcasts anders als andere Medien eine persön-
liche Verbindung zum Nutzer schaffen. Auf der Suche nach Content, der zur eigenen
Stimmung oder zum eigenen Interesse passt (Berry, 2020), können Podcast-Nutzer
ihr präferiertes Programm jederzeit zeit- und ortsunabhängig bestimmen (Haygood,
2007). Dadurch sind sie besonders engagiert und aufmerksam (Nyre, 2015). Persön-
lich ist auch die Host-Audience-Beziehung (McHugh, 2016; Moe, 2021; Perks
& Turner, 2019): Durch die Stimme des Sprechers können Nähe und Verbunden-
heit hervorgerufen werden (Schreyer, 2019; Rae et al., 2019), was zur emotionalen
Ansprache und Bindung an den Podcast beiträgt (Rheingold, 2020).
• Engagement und Aufmerksamkeit einerseits, Nähe und Verbundenheit andererseits
versprechen positive Effekte auf Image und Sales (Schreyer, 2019) sowie eine mit bis
zu 80 % hohe Werbeakzeptanz, was Podcasts zu einem gern genutzten Werbemedium
macht (BVDW, 2020; OMR, 2020).

26.5 Fazit

Podcasts eignen sich für die Kommunikation mit sämtlichen internen und externen
Stakeholdern (Oltarzhevskyi, 2019). Als Werbekanal können sie Konsumenten, als
Unternehmenspodcasts (potenzielle) Mitarbeiter ansprechen. Entscheidend ist, die
Wünsche und Bedürfnisse der Stakeholder zu kennen und darauf einzuzahlen. Im
crossmedialen Vergleich bauen Podcasts eine Brücke zwischen einer digitalisierten
Marketingkommunikation und einer Rückbesinnung auf traditionelle Konzepte wie
Geschichtenerzählen durch „Digital Brand Storytelling“ (Heun, 2020; Dowling & Miller,
2019). Insofern sind Podcasts ein optimaler Kanal für „Conversational Marketing“.
Ein hohes Level an Aufmerksamkeit und Engagement bei Podcasts wirkt als Treiber
von Loyalität zu Podcast/Marke und Kaufintention. Um die Podcast-Potenziale auszu-
schöpfen, kann das Medium effektiv mit anderen Werbeformaten kombiniert werden
(The Guardian, 2022).
Zu beachten ist, dass Podcast-Werbung eine thematische Ankoppelung bzw.
Integration an den Editorial Content liefern muss, um Reaktanz zu vermeiden (BVDW,
2020). Wesentlich ist hierbei die Balance zwischen Integrität des Inhalts (hinsichtlich
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 441

Nutzererwartungen) und den (werblichen) Interessen der Marketers (Redler, 2019).


Damit können auch Gruppen angesprochen werden, die über lineares Fernsehen nicht
mehr zu erreichen sind – insofern versprechen Podcasts zusätzliche Reichweite (Absatz-
wirtschaft, 2022).
Wie die vorliegende Studie zeigt, sollten Werbetreibende bei der Kreation von Pod-
cast-Werbung nicht nur Nähe für sich beanspruchen, sondern auch anderen emotionalen
Faktoren Beachtung schenken, die einerseits von den Nutzern erwartet werden, und die
andererseits zur Marke passen. Mit Inhalten, die „conversational“ sind, können Podcasts
Zielgruppen ansprechen und emotionale Beziehungen zwischen Nutzern und Marken
fördern.

Literatur

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Prof. Dr. Lisa-Charlotte Wolter ist Professorin und Studiengangsleiterin für Online Marketing
und Customer Centricity an der IU (Internationale Hochschule) und forscht am College of
Journalism & Communications der University of Florida (UF) u. a. zu Media Sustainability,
Media & Consumer Engagement sowie Vertrauen in Marken und Medien. Im Laufe ihrer Karriere
implementierte sie an verschiedenen Instituten neurowissenschaftliche Forschungsmethoden
zur Erweiterung bestehender Methoden der Medien- und Kommunikationsforschung. Mit
interdisziplinären Forschergruppen initiiert sie zudem Grundlagenstudien, aktuell unter anderem
zum Thema „Development and Validation of the Media Brand Trust Scale“.
444 L.-C. Wolter und E. D. Adam

Elisa Dorothee Adam ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der IU Internationale Hochschule


und forscht dort sowie an der University of Portsmouth (UK) im Rahmen eines Promotions-
projektes zum Thema Consumer Sustainability. Sie ist Absolventin im Studiengang Intercultural
Business Psychology M.Sc. an der Hochschule Hamm-Lippstadt mit Schwerpunkt Market
& Consumer Psychology. Zuvor studierte sie Kulturwissenschaften (Kulturorganisation/-
kommunikation) und BWL an der Leuphana Universität Lüneburg, Business Psychology an der
Teesside University (UK) sowie Wirtschaftspsychologie B.Sc. mit Vertiefung Marketing an der
FH Bielefeld. Studienbegleitend sammelte sie Praxiserfahrung in verschiedenen Bereichen des
Marketings, darunter Marketingforschung, institutionelle und betriebliche Marktforschung sowie
Marketingkommunikation im Profit- und Non-Profit-Umfeld. Derzeit forscht sie als Wissen-
schaftliche Mitarbeiterin an der IU Internationale Hochschule und forscht dort dortsowie an
der University of Portsmouth (UK) im Rahmen eines Promotionsprojektes zum Thema Media
Consumer Sustainability.
Teil V
Implementierung
Künstliche Intelligenz in der PR
27
Josef Arweck

Zusammenfassung

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) ist längst kein Thema mehr, das nur
im Maschinenbau, in der Robotik oder im Finanzwesen diskutiert und angewendet
wird. Zunehmend nutzen Medienunternehmen und PR-Agenturen KI, um Trends zu
erkennen, Artikel zu verfassen oder große Datenmengen zu analysieren. KI kann Ent-
scheidungshilfe bieten, die Produktionseffizienz erhöhen und somit Kosten sparen.
Dieser Aufsatz will zunächst den Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ aus
der Perspektive der PR definieren und technologische Möglichkeiten aufzeigen.
Schließlich wird der konkrete Einsatz von KI im Medienbereich und insbesondere in
der PR thematisiert. Dabei geht es sowohl um positive Aspekte als auch um Risiken
und ethische Fragen. Anhand mehrerer Praxis Cases wird dargestellt, wie KI bereits
aktuell in der Kommunikationsbranche eingesetzt wird und welche Potenziale sich in
diesem Feld für die Zukunft auftun.

27.1 Wertschöpfung durch KI in der Medien- und


Öffentlichkeitsarbeit

Künstliche Intelligenz ist eine neue und spannende Chance für die Öffentlichkeitsarbeit.
Die PR-Branche hat in den letzten zehn Jahren ein massives Wachstum erlebt. Laut
dem jüngsten Statistikbericht der Public Relations Society of America (PRSA) betrug

J. Arweck (*)
IU Internationale Hochschule, München, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 447
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_27
448 J. Arweck

das durchschnittliche jährliche Wachstum zwischen 2009 und 2013 5,6 %. Bei einer so
großen Anzahl von Unternehmen, die PR-Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ist es
wahrscheinlich, dass dieser Trend in den kommenden Jahren anhalten wird.
Künstliche Intelligenz wird allgemein als die Fähigkeit einer Maschine oder Soft-
ware definiert, intelligentes menschliches Verhalten zu imitieren. Es gibt sie schon seit
Jahrzehnten und sie hat sich auf viele Branchen ausgewirkt, von der Fertigung bis zum
Gesundheitswesen.
Ich glaube, dass die Öffentlichkeitsarbeit die am stärksten von der künstlichen
Intelligenz betroffene Branche sein wird. Wie ich bereits in meinem einleitenden Absatz
erwähnt habe, hat es in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg gegeben. Der Einsatz
von künstlicher Intelligenz in der Öffentlichkeitsarbeit wird immer lukrativer und not-
wendiger. In der Tat ist es wahrscheinlich, dass künstliche Intelligenz in einigen Jahren
eher die Norm als die Ausnahme sein wird.
Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, in der Öffentlichkeitsarbeit sehr nützlich
zu sein. Sie kann Aufgaben ausführen, für die Menschen Stunden oder Tage brauchen,
und das in nur wenigen Minuten. So kann sie beispielsweise die sozialen Medien über-
wachen und dann relevante Berichte erstellen, in denen die öffentliche Meinung über den
Kunden oder seine Konkurrenten detailliert dargestellt wird.
Fällt Ihnen etwas auf? Nein? Die vier Absätze, die Sie eben gelesen haben, stammen
nicht wirklich vom Autor dieses Aufsatzes – und doch werden Sie diese Zeilen
nirgendwo anders finden und es wurde auch kein Urheberrecht verletzt.
Dieser Textabschnitt wurde mithilfe von Künstlicher Intelligenz erzeugt. Und zwar
in zweifacher Hinsicht: Als erstes wurde die frei zugängliche Text-KI „Philosopher AI“
mit dem Titel dieses Aufsatzes „use of artificial intelligence in public relations“ gefüttert;
auf Knopfdruck hat die Technologie für 30 US-Cent innerhalb von wenigen Sekunden
den Text generiert. Im zweiten Schritt wurde mit einer kostenlosen Version der Über-
setzungssoftware „DeepL“ der englische Originaltext ins Deutsche übersetzt. Die vor-
liegende Textfassung wurde bewusst nicht redigiert und enthält vor dem Hintergrund
auch keine Quellenangaben.
Die Text-KI nutzt wiederum die Software GPT-3, ein neuronales Netzwerk, das von
OpenAI trainiert und gehostet wird. GPT-3 ist ein Sprachmodell, das auf Basis eines
Textinputs Vorhersagen darüber generiert, welche Inhalte als nächstes kommen könnten.
In erstaunlichem Maße gelingt es der Software, den Rahmen für den intendierten Inhalt
zu antizipieren. Mindestens genauso bemerkenswert ist es, dass die Software bei jeder
Wiederholung ein anderes Ergebnis generiert. Dabei hat die KI keine vorgefertigte
Meinung und kein Wissen.
Auch wenn der vorliegende, automatisch erstellte Text an der einen oder anderen
Stelle noch inhaltlich und sprachlich überarbeitungsbedürftig ist, so zeigt er doch sehr
gut, was KI schon heute kann. Vor allem aber weist er die Möglichkeiten, die noch vor
uns liegen.
Der Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) / „Artificial Intelligence“ (AI) ist in
aller Munde – in der medial-öffentlichen Diskussion sowie im wissenschaftlichen Dis-
27 Künstliche Intelligenz in der PR 449

kurs; und doch ist er nicht leicht zu erfassen. Arief und Gustomo (2020) beschreiben KI
als fortschrittliche und hochkomplexe „application of technology by which a machine
demonstrates cognitive function, such as learning analysis and problem solving“
(S. 1067). KI hat die Fähigkeit, als Maschine Algorithmen zu nutzen, die von ein-
gespeisten Daten lernen und den Lernerfolg in zukünftigen Entscheidungsprozessen
anwenden (ebd.). Von Rammer et al. (2020) wird sie als eine der „Schlüsseltechno-
logien“ (S. 2) der Zukunft bezeichnet, Zerfaß et al. (2020) gehen davon aus, dass sich die
künstliche Intelligenz als Teil unseres Alltags etablieren wird (S. 377).
Allgemein definiert, ist die Anwendung von KI der Praxis-Einsatz von Software-
Robotern, also Computerprogrammen, zur Ausführung von Tätigkeiten, die normaler-
weise Menschen erfordern. So kommt KI bereits im Fahrzeug- und Maschinenbau, dem
IKT-Sektor (Informations- und Kommunikationstechnik), für Finanzdienstleistungen
und auch im Medienbereich zum Einsatz (ebd. S. 10 ff.). Dies ermögliche umfassendere
Angebote für Nutzer:innen, hochwertigere Medienprodukte auf der einen sowie eine
Kostenersparnis auf der anderen Seite (Spanner-Ulmer & Bruder, 2019, S. 26).
In einer Welt, in der dank Internet und Social Media immer häufiger, immer schneller
und immer mehr kommuniziert wird, ist damit auch die Motivation für den Einsatz von
KI im Medienbereich und respektive der PR klar: schnellere Ergebnisse in besserer
Qualität mit weniger Aufwand zu produzieren.

27.2 Einsatzgebiete von KI im Medienbereich

Eine Befragung unter Journalist:innen aus dem Jahr 2021 ergab den wenig über-
raschenden Befund, dass mehr als zwei Drittel (69 %) der Umfrageteilnehmer der
Ansicht sind, dass KI-Technologien in den nächsten fünf Jahren den größten Einfluss auf
den Journalismus haben werden, noch vor 5G (18 %) und neuen Geräten und Schnitt-
stellen (9 %) (Newman, 2021).
Das ist nicht verwunderlich, denn Medien analysieren schon jetzt mit Software
kommunale Bilanzen, um potenzielle Korruption zu erkennen. Chatbots beantworten
Fragen zum Coronavirus. Tools generieren Grafiken aus Big Data und erkennen
gefälschte Nachrichten. Und im Journalismus können heute Spielberichte aus dem
Sport, Wetterberichte oder Börsen-Notizen mit KI-Unterstützung erstellt werden. Die
Anwendungsfälle von KI im Journalismus reichen von der personalisierten Verbreitung
von Inhalten über die effizientere, automatisierte Produktion von Inhalten bis hin zu
einer verbesserten Bild- und Videosuche (Montal und Zvi 2017).
Die britische Rundfunkanstalt BBC erprobt ebenfalls die Chancen der Technologie:
KI-gestützt werden Texte in Social-Media-freundliche Grafiken umgewandelt, und mit
einem Text-to-speech-Tool wird ein menschlicher Sprecher simuliert (XPLR Media,
2021).
Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, auf den sich dieser Aufsatz konzentriert, über-
nimmt KI ebenfalls schon jetzt unterstützende Aufgaben und hilft Kommunikatoren
450 J. Arweck

bei der Verarbeitung immer größer werdender Datenmengen. Erste Studien analysieren
den potenziellen Einsatz von AI und Wissen unter Medienschaffenden (z. B. Stray, 2021;
Zerfaß et al., 2020; Kehl, 2020). Kehl (2020) sieht drei zentrale Aspekte, in denen KI
in der PR eingesetzt werden kann und sollte: automatisierte Analyseprozesse, Unter-
stützung bei der Konzeption und Umsetzung von Maßnahmen (Abb. 27.1).
Geplant ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der PR vor allem in den
Feldern Monitoring und Analyse. Das zeigt eine Befragung von Fach- und Führungs-
kräften in deutschen Pressestellen und PR-Agenturen. In der klassischen Pressearbeit, im
Reputationsmanagement sowie in der Krisenkommunikation wird dagegen kein größeres
Potenzial für KI gesehen (PR Report, 2020).
Durch automatisierte Prozesse der Datenanalyse kann KI frühzeitig erkennen,
„welche Trends sich in der PR abzeichnen, um darauf basierend aktuellsten Content zu
erarbeiten“ (Kehl, 2020), und bei dringenden Themen zeitnah reagieren. So wird heute
KI im PR-Umfeld vor allem schon in der Suchmaschinenoptimierung (Search Engine
Optimization/SEO), -Analyse und -Vorhersage sowie in der Trend- und Marktrecherche
eingesetzt. Auch bei Assistenzsystemen wie Chatbots, Contenterstellung (Text, Bild,
Video) sowie Rankings und Listenerstellung findet KI heute Anwendung.
Schließlich kann KI bei der operativen Umsetzung von Kommunikationsmaßnahmen
unterstützen – der automatisierte Datenjournalismus bereitet beispielsweise Rohdaten zu
Schaubildern oder Grafiken auf, die in Pressemitteilungen kommuniziert werden können
(Kehl, 2020), beim Content Marketing empfiehlt die KI „zielgruppengerechte Themen-
bereiche“ (ebd.). Und auch Social-Media-Posts, inklusive Text, Bild und Hashtags,
lassen sich bereits via KI-Software automatisieren bzw. optimieren – wie das Praxisbei-
spiel Fyrfeed zeigt.

Abb. 27.1 Geplanter Einsatz von KI in der PR (PR Report, 2020)


27 Künstliche Intelligenz in der PR 451

Beispiel

Die Fyrfeed GmbH – gegründet 2020 in Berlin – will mit seinem innovativen Service
nichts weniger als die etablierten Marketingagenturen disruptieren.
Der Unternehmensidee liegt eine simple Erkenntnis zugrunde: Die aktuellen
Möglichkeiten für Unternehmen, ihre verschiedenen digitalen Kanäle (soziale Netz-
werke, Webseiten, Blogs, Werbung) mit Inhalten zu füllen, führen zumeist über kost-
spielige Agenturen. Diese erstellen in mühevoller Kleinarbeit Texte und Grafiken
und kümmern sich um das Management von Paid-Marketing-Kampagnen. Weil die
Kommunikation über einzelne Ansprechpartner;innen läuft, die per E-Mail und Tele-
fon miteinander in Verbindung stehen, brauchen Abstimmungsprozesse oftmals viel
Zeit. Die daraus resultierenden Kosten und langwierigen Prozesse gehen zulasten der
Kunden.
Fyrfeed denkt diesen Prozess neu: Über eine Online-Plattform beziehen Kunden
mit wenigen Klicks alle für sie relevanten Inhalte. Im Hintergrund arbeitet eine
von Fyrfeed entwickelte KI, die auf das Erstellen hochwertiger Texte und Bilder
optimiert ist, Menschen zu. Diese Kombination von Mensch und Maschine führt zu
schnelleren und besseren Ergebnissen, die zudem nur 20 % der Kosten verursachen,
die Agenturen aufrufen.
Der Clou dabei: Alle über Fyrfeed erstellten Inhalte fließen in die KI zurück und
trainieren das System fortlaufend. Das digitale Gehirn hinter Fyrfeed wird somit
jeden Tag ein bisschen schlauer. Dadurch ermöglicht Fyrfeed den einfachen und
kostengünstigen Zugriff auf hochwertige Inhalte. Kunden setzen ihre Content-Kanäle
effektiv auf Autopilot.
Künftig will Fyrfeed weitere Felder des Contentmarketings vereinfachen. Neben
der Erstellung der Inhalte werden auch das direkte Versenden von Newslettern, das
Veröffentlichen von Unternehmensblogs und das Schalten von Werbeanzeigen über
Fyrfeed möglich gemacht. ◄

Spürbare Vorteile ergeben sich als erstes bei Unternehmen, die sehr international
aufgestellt sind. Für sie wird KI auch früher wichtiger, weil hier die Vorteile von KI-
gestützten Prozessen in der Analyse der Medienarbeit, aber auch in der Umsetzung sehr
viel schneller signifikant werden. Ein Beispiel dafür ist die Mehrsprachigkeit bei Texten,
aber auch Bewegtbild, die schon heute von zahlreichen Tools unterstützt wird.
Aber nicht die Analyse und Produktion von Inhalten wird durch KI in ganz
anderen Dimensionen möglich, auch individuelle Kommunikationstrainings sind ein
Anwendungsgebiet, wie das Start-up vCoach zeigt.
452 J. Arweck

Beispiel

vCOACH wurde Anfang 2020 in München gegründet und bietet einen KI-basierten,
digitalen Trainer für Soft Skills. Aufgrund deutlich geringerer Kosten sind die
Trainings mehr Menschen zugänglich, gleichzeitig wird das Training effektiver.
Nutzer trainieren zeitunabhängig und selbstbestimmt mit Smartphone oder Laptop
und erhalten trotzdem individuelles Feedback. Im Rahmen des Trainings filmen sich
die Teilnehmer;innen bspw. beim Präsentieren. Die KI analysiert anschließend die
Präsentation auf Basis objektiv messbarer KPIs und erstellt automatisiert einen
individuellen Feedback-Report inklusive spezifischer Tipps und Übungen zur Ver-
besserung. Durch wiederholte Feedback-Runden lässt sich so die Präsentationsfähig-
keit schnell und nachhaltig verbessern.
Die Methode ist so einfach skalierbar wie E-Learning, aber gleichzeitig so effektiv
wie Präsenztraining – jedoch ganz ohne Trainer. Kunden sind vor allem Unter-
nehmen, die ihre Mitarbeiter:innen im Bereich Kommunikation trainieren möchten,
wie z. B. souveränes Auftreten bei Präsentationen oder in Interviews. ◄

Ein Pilotprojekt des Autors gemeinsam mit Wissenschaftler:innen der Universität


Potsdam dokumentiert, dass sich mit KI schon jetzt Kommunikationsberatung nicht
nur beschleunigen und verbessern, sondern in Teilen automatisieren lässt und durch
die Kombination und Integration von Einzellösungen ein ganzheitliches Instrument
geschaffen werden kann.
In diesem Projekt wurden im ersten Schritt Ansätze für ein umfassendes,
standardisiertes Analysetool zur Bewertung der (Online-)Reputation von Unternehmen
entwickelt. Mithilfe von APIs, Crawlern und einfachen Algorithmen werden Onlineauf-
tritte entlang von sieben Dimensionen – Website, Corporate Identity/Design, Medien-
präsenz, Google, Karriereportale, Social-Media-Präsenz, Auftritt der Repräsentanten
– anhand fundierter Kriterien und mit mehreren hundert Indikatoren bewertet und in
Relation zum Wettbewerb gesetzt. So können schnell aufwendige (Benchmark-)Ana-
lysen durchgeführt und menschliche (Erfassungs-)Fehler vermieden werden, was die
Arbeit effektiver und ressourcenschonender macht.
Auf Grundlage dieser Analyse ergibt sich ein Indexwert für die Gesamt-Online-Per-
formance, der in einem zweiten Schritt als Startpunkt für eine Konzeptionsunterstützung
dient. Der Anwender hat die Möglichkeit, entweder einen angestrebten Zielwert oder
sein zur Verfügung stehendes Budget einzugeben. Je nach Eingabe ermittelt die Software
– eine hybride KI – einen Katalog von geeigneten Kommunikationsmaßnahmen, der im
Hinblick auf das vorgegebene Ziel abgestimmt und priorisiert ist bzw. die Maßnahmen
in Bezug zum Budget optimal allokiert. In Echtzeit kann der Anwender nun auf dieser
Basis nach Umsetzungsdauer, Kosten und prognostizierter Wirkung – oder auch
subjektiver oder individueller Kriterien – auswählen und sich sein maßgeschneidertes
27 Künstliche Intelligenz in der PR 453

Programm zusammenstellen. Das ist dann bereits die Vorstufe zur KI-gestützten oder
perspektivisch sogar KI-gesteuerten Kommunikationsberatung.
Im dritten Schritt könnte hinter den ausgewählten Maßnahmen dann eine Ver-
knüpfung zu Software-Tools, die die operative Umsetzung übernehmen, liegen. Auch
hier gibt es erste Praxisansätze, wie über aggregierende Plattformen die relevanten
Services zentral verfügbar gemacht werden und für den Anwender ein durchgängiges
Nutzererlebnis geschaffen wird.

27.3 Ethische Aspekte und Risiken

Vielfach wird KI missverstanden und überschätzt – etwa als Maschine, die Ent-
scheidungen über unseren Kopf hinweg trifft und uns die schwierigsten Entscheidungen
mit objektiver Intelligenz abnehmen könnte. Unter dem Etikett der KI verbergen sich
allzu oft einfache Algorithmen. Stand jetzt ist KI vor allem dazu geeignet, uns bei Ent-
scheidungsprozessen zu unterstützen sowie komplexe Auswertungen schnell und präzise
auszuführen.
KI ist nur ein Werkzeug und an sich auch nicht wirklich intelligent – aber präzise und
konsequent. Sie hat auch keinen eigenen Willen und kann nur das tun, was der Mensch
ihr aufträgt. Damit liegen die Risiken der KI nicht in der Technologie selbst, sondern
hängen eher mit dem menschlichen Verhalten zusammen.
Und doch stellen sich ethisch-moralische Fragen: Wer trägt die Verantwortung für das
Handeln der Maschine? Nach welchen Maximen handelt die Maschine? Wie kann Dis-
kriminierung verhindert werden, wenn die KI auf Basis einer Bias-Verzerrung trainiert
wird? Schließlich: Inwiefern wird der Mensch von der Maschine überflüssig gemacht
bzw. wie sehr kann sich der Mensch auf die Maschine verlassen?
Auch Themen wie aktiver Datenmissbrauch, kriminelle Deepfakes, Manipulation und
eine bewusste Verletzung der Privatsphäre sind nicht wegzudiskutieren – sondern aktiv
anzugehen. Immerhin sind 80 % der Führungskräfte besorgt über die ethischen Risiken,
die sich aus KI ergeben, wie eine Untersuchung ergab (CCS Insight, 2020).
Eine erschöpfende Diskussion der ethisch-moralischen Fragen sprengt den Rahmen
an dieser Stelle. Exemplarisch sei auf die Arbeiten von D’Onofrio/Portmann (2022),
Funk (2022) und Lauer (2021) verwiesen.
Die europäische Expert:innengruppe „AI4people“ hat fünf ethische Prinzipien für den
KI-Einsatz formuliert, die bei der Bewertung helfen: Schadlosigkeit, Nützlichkeit, Auto-
nomie, Gerechtigkeit und Erklärbarkeit (AI4People, 2019). Wer seine KI-Lösung nach
diesen Kriterien prüft, hat zumindest gute Voraussetzungen, eine verantwortungsvolle
Software einzusetzen.
454 J. Arweck

27.4 Fazit

Es gibt viele Möglichkeiten, wie Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe von KI verbessert


werden kann – von der Unterstützung bei strategischen Entscheidungen bis zur
effizienten Durchführung. Sehr naheliegend ist, dass wir KI immer dort einsetzen, wo
sie uns von alltäglichen Aufgaben befreien kann und uns damit ermöglicht, uns auf
andere Dinge zu konzentrieren. Auf der Suche nach automatisierbaren Aufgaben in der
Kommunikation sollte man sich diese Fragen stellen:

• Schritt 1: Welche Aufgaben sind wiederkehrend? Wo ist hohe Präzision gefragt?


Wo ist objektives Handeln wichtig? An welchen Stellen ist eine Beschleunigung
besonders hilfreich?
• Schritt 2: Sind diese Aufgaben operationalisierbar? Können klare Regeln für
die Bearbeitung aufgestellt werden? Gibt es definierten Input bzw. zugängliche
Informationsquellen?
• Schritt 3: Gibt es bereits Softwaretools, die man einsetzen bzw. adaptieren könnte?
Ist eine Teilautomatisierung möglich und bereits sinnvoll? Wie realistisch ist die
Umsetzung bzw. der Erfolg einer eigenen KI-Entwicklung?

Wer sich diese Fragen ehrlich beantwortet, kann eine erste KI-Roadmap für sein Unter-
nehmen oder seine Organisation entwickeln. Basis für diese Überlegungen können diese
sechs Thesen des Autors zur Zukunft von KI in der PR sein:

Sechs Thesen zur Zukunft von KI in der PR


1. Kommunikationsarbeit ist ein hochkomplexes Aufgabenfeld. Sie ist vielfach
Beziehungsgeschäft, hat viel mit Erfahrung und Kreativität zu tun. Maschinen
werden daher auch in Zukunft den Menschen in diesem Bereich nicht
ersetzen – aber es wird zu Verschiebungen kommen, neue Kompetenzen und
Qualifikationen werden erforderlich.
2. Maschinen können dem Menschen im Bereich der Kommunikation viele
Routinearbeiten abnehmen. Großes Potenzial liegt in der Analyse von Daten
– nicht nur retrospektiv, sondern auch zur Ableitung zukunftsorientierten
Handelns.
3. KI hilft auch bei komplexen Kommunikationsthematiken, die viele, sich
gegenseitig beeinflussende Abhängigkeitsvariablen beinhalten. Der Bereich
Konzeption, Beratung, Themenidentifikation und Strategieentwicklung wird
aktuell kaum mit KI bearbeitet – hier bieten sich gigantische, noch ungenutzte
Chancen.
4. KI hat das Potenzial, die Produktivität im Kommunikationssektor so stark zu
erhöhen, dass der Fachkräftemangel komplett kompensiert werden kann. Bei
27 Künstliche Intelligenz in der PR 455

automatisierten Routineaufgaben wird vor allem Zeit gespart, bei komplexen


Konzeptionsthemen Geld. Zudem kann die Qualität der Ergebnisse gesteigert
werden.
5. Der Praxiseinsatz von KI in der Kommunikation scheitert häufig an zu
großen Erwartungen. Das Ziel von KI muss und sollte nicht immer die Voll-
automatisierung sein; teilautomatisierte Prozesse können oft sehr schnell und
günstig umgesetzt werden und bereits eine hohe Effizienzsteigerung liefern.
6. Die intelligente Verzahnung von KI-gestützten Tools zur Analyse, Konzeption
und Umsetzung von Maßnahmen ist der Schlüssel, um das ganze Potenzial zu
heben. Insellösungen haben vielfach ihren Sinn und ihre Berechtigung, aber
erst das Ineinander-Greifen von automatisierten Instrumenten, die auf einer
gemeinsamen Datenbasis agieren, hebt die Kommunikationsarbeit auf die
nächste Ebene. Kommunikationsagenturen könnten die großen Verlierer:innen
der Entwicklung werden, da dank neuer Software-Unternehmen die Leistungen
direkt ohne Umweg abgerufen werden können. Oder die Agenturen trans-
formieren sich, werden zu Treiber:innen der Entwicklung und zu Anbieter:innen
solcher Lösungen.

Literatur

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Prof. Dr. Josef Arweck Arweck ist Professor für Medienmanagement an der IU International
University of Applied Sciences. Seine Schwerpunkte sind Krisen-PR und Reputationsmanagement.
Der gelernte Journalist arbeitete vorher für McKinsey sowie den Porsche-Konzern, wo er seit
2015 Leiter der weltweiten Konzernkommunikation war. Seit 2020 ist er als Investor im Start-up-
Bereich und Kommunikationsberater tätig.
Den Marketing-Mix auf die Straße
bringen: Implementierung im digitalen 28
Marketing

Rico Manß  

Zusammenfassung

In der unternehmerischen Praxis lässt sich eine enorme Diskrepanz zwischen


einerseits der Erarbeitung von Strategien und andererseits der Umsetzung jener
Strategien in Implementierungsprozessen beobachten. Die Umsetzung von digitalen
Initiativen scheint von dieser Umsetzungslücke in besonderem Maße betroffen zu
sein und viele Bemühungen enden mit der Konzeption des Marketing-Mix. Ein über-
greifender Ansatz für die Implementierung wird häufig nicht berücksichtigt, obwohl
gerade aufgrund der Interdependenzen der digitalen und analogen Maßnahmen
aus den Marketing-Ps ein hoher Bedarf an Koordination erwächst. Daher wird im
folgenden Abschnitt ein etablierter Grundansatz der Strategieimplementierung, das
Vorgehensmodell von Kolks, auf die Besonderheiten des digital angereicherten
Marketing angepasst. Das adaptierte Modell soll Unternehmen dabei unterstützen, die
einzelnen anfallenden Maßnahmen sachbezogen umzusetzen und akzeptanzbezogen
durchzusetzen. Dazu wird ein detaillierter Prozess bereitgestellt und mit greifbaren
Hinweisen für Unternehmen untermauert.

R. Manß (*)
IU Internationale Hochschule, Leipzig, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 457
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_28
458 R. Manß

28.1 Einleitung

In der unternehmerischen Praxis zeigt sich eine enorme Diskrepanz zwischen einer-
seits der Erarbeitung bzw. Formulierung von Zielbildern und Strategien im Rahmen
von strukturierten (Marketing-)Strategieprozessen und andererseits der Umsetzung
eben jener Strategien in Implementierungsprozessen. Die Misserfolgsrate von solchen
Strategieprojekten liegt je nach Studienkontext zwischen 44 % und 90 % (Cândido &
Santos, 2015). Dieser Misserfolg ist gekennzeichnet durch eine fehlende pünktliche
Umsetzung der geplanten Aktivitäten, dem fehlenden Erreichen der Zielvorgaben oder
der fehlenden Akzeptanz der Ergebnisse durch die Organisation (Miller, 1997).
Einen wesentlichen Grund dieses Phänomens sehen Meffert et al. (2019, S. 882)
darin, dass Unternehmen der Umsetzung von Strategien zu wenig Aufmerksamkeit
widmen. Insbesondere bei Projekten im strategischen Marketing wird die Notwendig-
keit nach Konzepten und strukturierten Prozessen für die Implementierung häufig nicht
erkannt (Vgl. Hungenberg, 2014, S. 553). Folglich wird auch der etwaige Misserfolg
von Strategieprozessen im Marketing nicht auf mögliche Fehler in der Implementierung
projiziert, sondern auf Fehler in der Konzepterarbeitung und der Ausgestaltung des
Marketing-Mix.
Eine Besonderheit von Implementierungsprozessen liegt im Marketing darin,
dass aufgrund der inhaltlichen Vielfalt der Dimensionen des Marketing-Mix zahl-
reiche Stakeholder aus unterschiedlichen Funktionen eines Unternehmens von
Veränderungsmaßnahmen betroffen sein können. Diese Komplexität ist durch die
digitale Anreicherung des Marketing-Mix noch ausgeprägter, da zahlreiche Wirkungs-
beziehungen zwischen digitalen und klassischen Elementen des Marketing-Mix
bestehen. Solche Wirkungsbeziehungen implizieren, dass nur durch eine umfassende
Umsetzung von geplanten Maßnahmen entlang aller digitalen und klassischen
Marketing-Dimensionen der erwartete Gesamterfolg eintreten kann. Hierdurch ent-
steht eine hohe Relevanz für Konzepte für die funktionsübergreifende Koordination und
Detaillierung der Maßnahmen im (digitalen) Marketing.
Trotz dieser Relevanz hat die bisherige Literatur die Implementierung von
Projekten im digitalen Marketing noch nicht ausreichend aufgegriffen. Generell wird
die Implementierung in der Literatur eher als ein strategisches ex-post-Anhängsel
gesehen. Daher soll im Folgenden dediziert auf die Spezifika der Implementierung
im digitalen Marketing eingegangen werden. Hierzu wird ein etabliertes Modell, das
Vorgehensmodell von Kolks, auf das digital angereicherte Marketing angewendet.
Dazu werden die Besonderheiten des digitalen Marketings herausgearbeitet, den
Vorgehensschritten zugeordnet und ein adaptiertes Modell abgeleitet.
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 459

28.2 Begriffe und bestehende Ansätze zur Implementierung

Im folgenden Abschnitt werden einerseits die für diesen Abschnitt wesentlichen Begriffe
„Digitales Marketing“ sowie „Implementierung“ erläutert. Andererseits wird entlang der
vorhandenen Literatur ein Implementierungskonzept als Grundlage eingeführt.

28.2.1 Begriffliche Abgrenzungen

Mit dem Aufstieg von digitalen Technologien in den vergangenen Jahrzehnten und deren
Anwendung als Medien zur Kundeninteraktion wurden insbesondere in der Marketing-
praxis eine ganze Reihe an Termini entwickelt, um die neuen, digitalen Phänomene
zu beschreiben. Unabhängig von diesen diversen Termini stehen im Kern dieser Ent-
wicklung die um digitale Technologien angereicherten Möglichkeiten der Interaktion
mit Zielgruppen sowie das Zusammenspiel, bzw. die Integration, solcher Technologien
mit der klassischen Landschaft an Interaktionskanälen (Manß, 2020). Mit dem Begriff
digitales Marketing soll im Folgenden die gesamte Vielfalt solcher digitalen Interaktions-
kanäle (bspw. Display, Search, Mobile, E-Mail) abgedeckt werden. Zentral für den
Begriff digitales Marketing in diesem Kontext ist dabei, dass unabhängig vom Medium
bzw. der Technologie, die definierten Marketingziele durch den Einsatz digitaler Inter-
aktionskanäle erreicht werden (Vgl. Chaffey & Ellis-Chadwick, 2019, S. 10).
Hierbei stellt die Implementierung, vom Lateinischen „implementum“ gleich-
bedeutend mit „Erfüllung“ (Hilker, 1993, S. 2), einen integralen Bestandteil zur Ziel-
erreichung dar. Dies folgt dem entscheidungsorientierten Managementprozess (Vgl.
Wöhe et al., 2020 für betriebswirtschaftlichen Managementprozess) sowie dem
Marketing-Managementprozess (Vgl. Meffert et al., 2019 für Marketing-Management-
prozess). Als Phase nach der strategischen Planung, bzw. als Phase nach der Erarbeitung
von Strategien und Maßnahmen entlang des Marketing-Mix geht es um die Einführung,
Durchsetzung bzw. Anwendung von vorher konzeptionell und planerisch erstellten
Sachverhalten (Marr & Kötting, 1992, S. 827; Meffert et al., 2019). Hierbei werden
in der Managementliteratur zwei Merkmale eines solchen Prozesses unterschieden:
Pläne bzw. erarbeitete Maßnahmen werden einerseits in aktionsfähige Aufgaben trans-
formiert und es wird andererseits gewährleistet, dass diese Aufgaben auch umgesetzt
werden (Cespedes & Piercy, 1996, S. 4608). Darauf aufbauend unterscheiden Kolks
(1990, 78–80) und Raps (2017, S. 30) zwei Teilbereiche der Implementierung: Einer-
seits wird die sachliche Konkretisierung der Strategie verfolgt, also die Definition
und Koordination von umsetzungsfähigen Aufgaben inklusive der Anpassung von
Strukturen und Systemen, bezeichnet als Umsetzung. Andererseits die Schaffung von
organisatorischer Akzeptanz der Strategie bei den Anspruchsgruppen insbesondere inner-
halb eines Unternehmens, bezeichnet als Durchsetzung.
460 R. Manß

28.2.2 Vorgehensmodell zur Implementierung

Die Implementierung mit ihren beiden Komponenten (sachbezogene Umsetzung und


akzeptanzbezogene Durchsetzung) wird in der Literatur in einem kontinuierlichen
Prozess der Veränderung konzeptioniert. Solches Denken in Prozessmodellen hilft, die
vielschichtigen Tätigkeiten der Implementierung und ihre Wirkungsbeziehungen sach-
lich zu aggregieren und zeitlich in eine logische Reihenfolge zu bringen. In der Praxis
schafft dies verhaltensbezogen eine erhöhte Transparenz für die Veränderungsbetroffenen
und ermöglicht sachbezogen eine bessere Fortschrittskontrolle (Welge et al., 2017). Ein
umfassendes Konzept der Strategieimplementierung, welches diese Vorteile aufgreift, ist
das seit 1990 bestehende Phasenmodell von Kolks.
In dem dargestellten Modell in (Abb. 28.1) unterteilt Kolks die Implementierung in
die drei zyklischen Phasen Planung, Realisation und Kontrolle der Implementierung.
Die Implementierungsplanung enthält drei Bestandteile: Erstens wird die Strategie
bzw. die erstellte Planung sowie das Umfeld der Implementierung analysiert. Hierbei
sollen die Operationalität und die Widerspruchsfreiheit sowie die Intensität der Ver-
änderung untersucht werden. Zweitens werden hierauf aufbauend Implementierungsziele
formuliert, einerseits bezogen auf das Vorgehen (Kosten, Termine, aufbau-/ablauf-
organisatorische Regelungen), andererseits bezogen auf die Erfolgsfaktoren, die durch
die Implementierung erreicht werden sollen. Drittens wird die eigentliche Planung von
Maßnahmen vorgenommen, dies umfasst die Formulierung sowie die Zuordnung von
Verantwortlichkeiten.
Die Phase der Implementierungsrealisation umfasst die Kommunikationsphase,
die Umsetzungsphase sowie die Einsatzphase. In der Kommunikationsphase werden
die anstehenden Maßnahmen vermittelt und ggf. geschult. Anschließend werden in der
Umsetzungsphase operative Aktionsprogramme ins Leben gerufen und auf dedizierte

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Abb. 28.1 Vereinfachte Darstellung des Vorgehensmodells der Strategieimplementierung


basierend auf Kolks (1990, S. 257)
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 461

Projektteams verteilt. Diese Aktionsprogramme werden in der Einsatzphase vollzogen


und ggf. durch Schulungsmaßnahmen begleitet.
In der Phase der Implementierungskontrolle werden für die Ergebnisse der
Umsetzung Zielerreichungsgrade erhoben und etwaige Abweichungen analysiert.
Hierauf basierend können im Rahmen einer Rückkopplung die Implementierungs-
ziele angepasst werden sowie weitere Implementierungsmaßnahmen definiert werden.
Sofern die Implementierungsziele erreicht werden, ist die Implementierung erfolgreich
abgeschlossen.

28.3 Implementierung im digitalen Marketing

Im folgenden Abschnitt werden die erläuterten Grundlagen zur Implementierung auf


das Phänomen des digitalen Marketings bezogen. Hierbei werden anfangs die Relevanz
und die Besonderheiten für das digitale Marketing herausgestellt, darauf basierend
wird anschließend ein adaptiertes Vorgehensmodell zur Implementierung im digitalen
Marketing abgeleitet.

28.3.1 Herausforderungen im digitalen Marketing

Den Erläuterungen zum Konzept der Implementierung folgend, ist die Implementierung
bezogen auf das Marketing als ein Prozess zu verstehen, bei dem die Marketingziele,
die Marketingstrategien und die Maßnahmen des Marketing-Mix in umsetzungs-
fähige Aufgaben übersetzt werden und deren Durchsetzung sichergestellt wird
(Vgl. auch Kotler et al., 2007, S. 1167). Für die Begleitung der Implementierung von
digital-angereicherten strategischen Marketingprojekten ist das Konzept jedoch auf
die Besonderheiten des digitalen Marketings anzupassen. Im Folgenden werden diese
Besonderheiten, u. a. basierend auf den Erkenntnissen zum digitalen Marketing von
Chaffey und Ellis-Chadwick (2019), zu den drei erläuterten Implementierungsphasen
nach Kolks (1990) zugeordnet.
Für die Implementierungsplanung ist von besonderer Relevanz, dass es im Gegen-
satz zum strategischen Management im digitalen Marketing häufig an klaren Ziel-
vorgaben mangelt. Ziele werden häufig nicht ausreichend spezifisch formuliert oder
operationalisiert. Dies mündet in unklaren Erfolgsaussichten, weshalb den betroffenen
Maßnahmen oder Projekten dann nicht ausreichend Ressourcen zugeordnet werden.
Hieraus folgt, dass Budgets sehr knapp bemessen werden und Tools sowie Arbeits-
kraft für die Umsetzung fehlen. Ein solcher Ressourcenmangel lässt sich insbesondere
in kleinen und mittelgroßen Unternehmen beobachten, bei denen digitales Marketing
eher als bloßer weiterer Kanal betrachtet wird und digitale Angebote noch immer
eine geringe Akzeptanz erfahren. In solchen Konstellationen sind zudem häufig ver-
schwendete Budgets festzustellen, weil, getrieben durch die fehlende zentrale Akzeptanz,
462 R. Manß

in mehreren Unternehmensbereichen mit digitalem Marketing experimentiert wird,


ohne dass eine zentrale Abstimmung erfolgt oder dass Zuständigkeiten eindeutig
geklärt werden. Sofern unterschiedliche Unternehmensbereiche mit unterschiedlichen
Anwendungen arbeiten oder Daten dezentral lagern, kann es zu Informationsverlusten
kommen, wodurch Teile der Maßnahmen nicht oder nur mit erhöhten Kosten umgesetzt
werden können. In der Phase der Implementierungsplanung ist im digitalen Marketing
daher ein besonderer Fokus auf Zielformulierung, Budgetierung und Zuständigkeits-
zuweisungen/Transparenz und Akzeptanz zu legen.
Auch bezogen auf die Phase der Implementierungsrealisation ist im digitalen
Marketing auffällig, dass digitale Tools in der Einführung teilweise eine sehr geringe
interne Akzeptanz erfahren. Daneben ist häufig ein fehlendes Verständnis im Umgang
mit digitalen Angeboten zu beobachten. Entsprechend benötigen Projektteams oder
Einzelverantwortlichkeiten, die für die Umsetzung installiert werden, neben akzeptanz-
erhöhenden Maßnahmen vor allem klare und umfangreiche Briefings und Zugang zu
notwendigen Bildungsmaßnahmen und Daten. Den Projektteams sollte ausreichend
zeitliche Kapazität und auch finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um sich
Wissen und aktuelle Themen zu einzelnen Kanälen anzueignen oder um an externen
Schulungen teilnehmen zu können.
Bei der Implementierungskontrolle sollte beachtet werden, dass die Erreichung
von Zielen nur dann kontrolliert werden kann, wenn Ziele ausreichend operationalisiert
wurden. Hier bieten Projekte im digitalen Marketing viele neue Möglichkeiten hin-
sichtlich Datenverfügbarkeit entlang der digitalen Interaktionspunkte (bspw. Seiten-
aufrufe, Verweildauer, Absprungraten, Conversion Raten, Zufriedenheitsbefragungen,
Umsatzdaten, App-Nutzungsdaten) sowie hinsichtlich der Datenanalyse und Daten-
visualisierung. Diese neuen Möglichkeiten von Online-Daten werden in der Praxis
häufig unter „Digital Analytics“ zusammengefasst und sollten in den Implementierungs-
prozess integriert werden.
Übergreifend ist für den gesamten Prozess der Implementierung zu beachten,
dass ein fundierter Ansatz für die Umsetzung und Durchsetzung der digitalen
Marketingmaßnahmen gewählt wird, anstatt das in der Praxis häufig zu beobachtende
experimentelle Vorgehen bei der Integration von digitalen Interaktionskanälen. Daher
ist es für das digitale Marketing zentral, einen strukturierten Implementierungsprozess
anzuwenden. Im folgenden Abschnitt wird ein Vorgehensmodell entwickelt, welches die
beschriebenen Besonderheiten aufgreift.

28.3.2 Implementierungskonzept für das digitale Marketing

Der Ansatz von Kolks dient als Ausgangspunkt für die Erarbeitung eines
Implementierungskonzeptes im digitalen Marketing. Der generelle Aufbau des
Konzeptes, visualisiert in Abb. 28.2, besteht jedoch aus zwei Abschnitten. Im ersten
Abschnitt erfolgt die vorbereitende Implementierungsplanung. Diese wird, im Gegensatz
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 463

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Abb. 28.2 Implementierungskonzept für das digitale Marketing

zum Vorgehensmodell von Kolks, unterteilt in sachbezogene und akzeptanzbezogene


Planungsschritte. Grund für das Herauslösen der akzeptanzbezogenen Planung ist die
Besonderheit der geringen Akzeptanz und fehlenden übergreifenden Transparenz zu
Initiativen im digitalen Marketing. Gefolgt wird die Implementierungsplanung von der
Implementierungsrealisation sowie der parallellaufenden Implementierungskontrolle.
Gründe für die Parallelisierung der Kontrolle mit der Realisation sind die vielen neuen
Möglichkeiten der Datenverfügbarkeit für digitale Interaktionspunkte sowie die neuen
Möglichkeiten der ständigen Datentransparenz und Analyse in Echtzeit im Rahmen der
Digital Analytics. Dies ermöglicht eine fortlaufende Kontrolle anstelle einer sukzessiven
Kontrolle nach Abschluss der Realisation. Ebenso wird dadurch die sofortige Reaktion
auf Abweichungen ermöglicht durch beispielsweise Anpassungen in den Umsetzungs-
schritten.
In der sachbezogenen Implementierungsplanung steht die gedankliche Vorweg-
nahme der inhaltlichen Ausgestaltung im Vordergrund. Im ersten Schritt sollten dafür
die Ziele der Implementierung herausgearbeitet werden. Zentral ist hierbei eine adäquate
Formulierung entlang der SMART-Kriterien. So sollten Ziele spezifisch, messbar, aus-
führbar, realistisch und zeitlich terminiert sein. Entscheidend ist hierbei die klare
Operationalisierung von Zielen entlang des digitalen Marketingprojektes. Anschließend
werden notwendige Implementierungsmaßnahmen, also Beschreibungen für die einzel-
nen Handlungspakete, entwickelt. Solche Beschreibungen sollten im Kern alle inhalt-
lichen Schritte der Maßnahme enthalten, aber auch Abhängigkeiten mit anderen
Maßnahmen erläutern sowie klare Terminierungen und Fristen beinhalten. Empfohlen
wird zudem, dass Zuständigkeiten für Handlungen klar mit Personen benannt werden,
464 R. Manß

dies umfasst neben dem Initiator oder der Initiatorin der Maßnahme beispielsweise auch
die Erstellenden des Contents sowie etwaige Zuliefernde von Technologien oder Medien
und Formaten. Basierend auf den Abhängigkeiten und Fristen können die Maßnahmen
dann in einer Zeitleiste sortiert werden.
Um eine ausreichende Transparenz und Priorisierung sowie eine adäquate Ver-
teilung von Budgets zu ermöglichen, sollten die Maßnahmen zudem bewertet und
darauf basierend priorisiert werden. Für jede Maßnahme sollte der Effekt, also die
Erfolgsaussichten, der Aufwand, also die Kosten und benötigten Ressourcen, sowie das
Umsetzungsrisiko, also die potenzielle Unsicherheit des Erfolgseintritts, abgeschätzt
werden. Dies hilft einerseits für die Priorisierung und Erfolgskontrolle der Maßnahmen,
andererseits der Motivation der Betroffenen durch das Inaussichtstellen des Einflusses
bei erfolgreicher Umsetzung. Sofern eine monetäre Quantifizierung schwer umsetzbar
ist, können vereinfachend auch Skalen verwendet werden. Basierend auf der Bewertung
und der Aufwandsschätzung sollten dann feste Budgets zugewiesen werden.
In der akzeptanzbezogenen Implementierungsplanung steht die Sicherstellung
der Durchsetzung von digitalen Marketingmaßnahmen im Vordergrund. Widerstände
erfährt digitales Marketing häufig aus emotionalen Gründen, also beispielsweise aus
Angst vor der Digitalisierung des persönlichen Aufgabenbereichs. Solche Gründe
können aber durch eine konstruktive Kommunikation der Inhalte geschwächt werden
(Welge et al., 2017, S. 827–828). Mitarbeitende sollten dazu einzelne Maßnahmen in
das Große und Ganze einsortieren können. Dazu sollten einerseits etablierte Tools wie
Präsentationen, Schulungen, informelle Veranstaltungen, interne Handbücher, Intranet-
Beiträge oder Infografiken verwendet werden. Andererseits sollten zur Erhöhung der
Transparenz und Verbesserung der unternehmensinternen Kommunikation bezüglich
digitaler Marketingmaßnahmen regelmäßige zentrale Abstimmungsrunden einberufen
werden. Hierzu sollten Unternehmen einen Jour Fixe für digitale Marketingmaßnahmen
ins Leben rufen, an dem sowohl Kanalverantwortliche als auch Maßnahmeninitiierende
sowie CRM-Verantwortliche bzw. zentrale Datenverantwortliche teilnehmen. Da beim
digitalen Marketing insbesondere die Verknüpfung von Kanälen zur Bereitstellung
von Inhalten ein Problem bei der Realisierung von Marketingstrategien darstellt, sollte
eine solche Meeting-Struktur die Abstimmung zwischen Kanälen stärken und die
Maßnahmenrealisierung verbessern.
Solche akzeptanzfördernden Strukturen sind dann Bestandteil der fortlaufenden
Kommunikation im Rahmen der Implementierungsrealisation. Zusätzlich sollte im
Rahmen dieser Kommunikation jedoch auch das inhaltliche Verständnis im Umgang
mit digitalen Angeboten fortlaufend erhöht werden. Dazu können regelmäßige Briefings
des gesamten Unternehmens und ein breites Schulungsangebot für Mitarbeitende auch
außerhalb der Marketing-Projektteams dienen. In der Umsetzungsphase erfolgt dann
die Erfüllung der einzelnen geplanten Handlungen. Entscheidend ist hier neben der
Kontrolle und Steuerung des Fortschritts der einzelnen Maßnahmen insbesondere die
funktionsübergreifend abgestimmte Umsetzung. Aufgrund der oftmals vielfältigen
Wirkungsbeziehungen zwischen klassischen und digitalen Kanälen (Meffert et al., 2019,
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 465

S. 892) sollten diese auch während der Umsetzung nicht losgelöst voneinander betrachtet
werden und Projektteams möglichst interdisziplinär besetzt werden.
In der Implementierungskontrolle steht die Überprüfung der Zielerreichung im
Vordergrund. Aufgrund der zahlreichen technischen Möglichkeiten kann diese parallel
zur Implementierungsrealisation ablaufen. Zum Aufbau eines zielgerichteten Kontroll-
konzeptes dienen folgende drei Schritte (Vgl. Chaffey & Ellis-Chadwick, 2019):
Im ersten Schritt, der Kennzahlendefinition, sollten die benötigten Kennzahlen fest-
gelegt werden. Hierbei sollten Kennzahlen aus unterschiedlichen Ebenen bedacht
werden: (1) jene potentialbezogenen Kennzahlen, die sich an den konkreten Zielen
der einzelnen Maßnahme oder an der konkreten Kundeninteraktion in den Kanälen
orientieren (beispielsweise Referrals, Verweildauer oder Absprungraten auf der Web-
site); (2) jene markterfolgsbezogenen Kennzahlen, die sich an dem Kundenergebnis
orientieren (beispielsweise Kundenzufriedenheit mit der Qualität, Informationsdichte,
Convenience oder Performance des Kanals, Leads, Conversion Raten, Neukunden,
Umsatz); sowie (3) jene ökonomische Kennzahlen, die sich an dem Beitrag zum Unter-
nehmenserfolg orientieren (beispielsweise Profitabilität, Deckungsbeitrag).
Im zweiten Schritt, der Erhebungsprozessdefinition, sollte ein Prozess für die Daten-
erhebung erarbeitet werden. Hierfür stehen insbesondere für die digitalen Kanäle eine
Reihe an Analysetools zur Verfügung (beispielsweise Google Analytics, SEM Rush,
Adobe Analytics, Matomo). Zentraler Erfolgsfaktor für die Nutzung solcher Tools ist
die Gestaltung von klaren Prozessen. Ein solcher Prozess sollte mindestens aus den vier
Schritten bestehen: (1) angestrebte Kennzahlen für die zu verwendenden Tools über-
setzen, (2) Daten sammeln und Kennzahlen bestimmen, (3) Abweichungen identifizieren
und Kennzahlen interpretieren, (4) Informationen berichten und Folgemaßnahmen ein-
leiten (Vgl. Chaffey & Ellis-Chadwick, 2019 sowie Kotler et al., 2007). Hierfür müssen
Verantwortlichkeiten für den Prozess benannt werden, Kapazitäten zur Verfügung
gestellt werden und Berichtswege definiert werden.
Im dritten Schritt, dem Datenmanagement, sollten die Daten aus unterschiedlichen
Quellen harmonisiert werden. Ein dafür geeignetes System sollte Daten aus digitalen
Kanälen mit traditionell erhobenen Marktforschungsdaten zusammenführen und diese
aggregiert auswerten und visualisieren können. Lösungen hierfür, meist als Marketing
Technology (kurz: MarTech) bezeichnet, arbeiten häufig browserbasiert und nutzer-
freundlich, wodurch die Verantwortlichkeit für das Datenmanagement direkt in die Fach-
abteilungen gelegt werden kann. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass nicht durch
unterschiedliche Fachabteilungen unterschiedliche Systeme in Form eines „Flicken-
teppichs“ implementiert werden und dadurch Datensilos für Kunden/Kundinnen,
Interaktionskanäle oder Produkte entstehen. Daher empfiehlt es sich, für das Daten-
management im digital angereicherten Marketing entlang aller Kundenkontaktpunkte
bzw. Kanäle eine zentrale Verantwortlichkeit im Fachbereich zu definieren. Dort sollten
passende MarTech Lösungen ausgewählt und in Form eines sogenannten MarTech Stack
zusammengeführt werden. Für das Datenmanagement sind insbesondere CDP-Lösungen
466 R. Manß

(Customer Data Plattform) zentral (beispielsweise Lösungen von SAP, CrossEngage,


BSI).
Im Rahmen einer solchen fortlaufenden Implementierungskontrolle werden
Abweichungen von der ursprünglichen Implementierungsplanung identifiziert. Solche
Abweichungen sind über die Berichtswege von den Maßnahmen- bzw. Kanalver-
antwortlichkeiten aufzunehmen und Folgemaßnahmen abzuleiten. Dies kann eine
Anpassung der ursprünglichen inhaltlichen Planung oder der Zielvorgaben umfassen,
vor allem aber die Entwicklung von zusätzlichen oder Adjustierung von bestehenden
Implementierungsmaßnahmen.

28.4 Fazit

Eine unzulängliche Implementierung ist insbesondere im digitalen Marketing ein


wesentlicher Grund für hohe Misserfolgsraten von strategischen Marketingprojekten. Ein
klarer strukturierter Prozess, angepasst auf die Besonderheiten von Projekten mit Bezug
zum digitalen Marketing, kann hier die Wahrscheinlichkeit solcher strategisch verpassten
Chancen und operativ verschenkten Budgets verringern.
Probleme bei der Implementierung von strategischen Projekten und die daraus
folgende Erkenntnis der Notwendigkeit von strukturierten Implementierungsprozessen
ist grundsätzlich kein neues Phänomen. Folgerichtig entwickelte Kolks bereits 1990 ein
umfassendes Vorgehensmodell für die Implementierung im strategischen Management,
bestehend aus den drei zyklischen Phasen Planung, Realisation und Kontrolle. Projekte
im digitalen Marketing unterliegen allerdings einer Reihe an Besonderheiten, die in
solchen klassischen Modellen noch keine Berücksichtigung finden konnten. Beispiels-
weise sind Projekte im digitalen Marketing aufgrund der Vielzahl an digitalen Inter-
aktionskanälen parallel zu bestehenden Kanälen häufig gekennzeichnet durch unklare
Verantwortlichkeiten, fehlende Budgets, fehlende Akzeptanz, unzureichende Ziel-
formulierungen, fehlendes Verständnis oder durch ein unstrukturiertes experimentelles
Vorgehen. Daneben ermöglichen digitale Kanäle und Tools ganz neue Möglichkeiten
der Datenerhebung und Maßnahmenkontrolle im Rahmen einer Implementierung. Daher
wurde das Vorgehensmodell von Kolks an diese Besonderheiten angepasst, mit dem Ziel,
einen allgemeingültigen Implementierungsprozess für Projekte im digitalen bzw. digital
angereicherten Marketing zu entwickeln.
Im Ergebnis wurde ein Prozess bestehend aus zwei Abschnitten entwickelt: Einer
Implementierungsplanung, bestehend aus einer sachbezogenen, inhaltlichen Planung
der Umsetzung und einer akzeptanzbezogenen Planung zur Sicherstellung der Durch-
setzung; sowie einer kontinuierlichen Implementierungsrealisation mit parallel-
laufender Implementierungskontrolle. Die zahlreichen technischen Möglichkeiten
im Rahmen der Implementierungskontrolle sollten in einem zielgerichteten Kontroll-
konzept genutzt werden, welches im ersten Schritt Kennzahlen definiert, im zweiten
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 467

Schritt den Erhebungsprozess definiert und im dritten Schritt das Datenmanagement


sicherstellt.
In der Praxis kann ein solcher Prozess insbesondere in kleinen und mittelständischen
Unternehmen hilfreich sein: Einerseits sensibilisieren das strukturierte Vorgehen und
das Nachhalten der Umsetzung die Organisation und weisen auf die erfolgskritische
Bedeutung der Implementierung hin. Andererseits bietet das angepasste Vorgehensmodell
eine konkrete Anleitung, um einen Implementierungsprozess einzuführen, Verantwortlich-
keiten zu benennen und eine passende Meeting- und Berichtsstruktur aufzusetzen.

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468 R. Manß

Prof. Dr. Rico Manß ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere
Marketing, an der IU Internationale Hochschule am Campus Leipzig. Herr Manß promovierte im
Multichannel-Marketing und setzt sich in seinen Forschungsarbeiten mit der Integration von ana-
logen und digitalen Kundenkontaktpunkten auseinander.
Customer Relationship Management im
digitalen Zeitalter: Kundenbeziehungen 29
entlang der Customer Journey aufbauen
und stärken

Uta Scheunert

Zusammenfassung

Insbesondere in den gesättigten B2C-Märkten gilt der Aufbau und Erhalt mög-
lichst langfristiger Kundenbeziehungen als Schlüssel zum Unternehmenserfolg. Die
Digitalisierung mit Big Data und dem Internet of Things bietet dabei Unternehmen
die Chance, Kundendaten zu generieren, zu analysieren und für eine kontinuier-
liche und zielgenaue Kundenansprache zu nutzen sowie eine aus Kundensicht wahr-
nehmbare und einmalige Customer Experience zu erreichen. Demgegenüber stehen
die Herausforderungen, im Kampf um die zunehmend weniger loyalen Kund:innen
immer neu zu überzeugen und immer neue Kundenerlebnisse zu schaffen, sowie
die generierten Daten nicht nur zu sammeln, sondern erfolgsversprechend einzu-
setzen. Neben der Begriffsabgrenzung und Einordnung von Customer Relation-
ship Management (CRM), Customer Journey Management (CJM) und Customer
Experience Management (CXM) liefert dieser Beitrag Anregungen, wie Unternehmen
CJM effizient anwenden und CXM in der zunehmend digitalisierten Welt einsetzen
können. Durch den daraus resultierenden kontinuierlichen Informationsaustausch
zwischen Unternehmen und Kund:innen sowie der Schaffung von Kundenerlebnissen,
welche auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten sind, wird die langfristige Kunden-
beziehungen gestärkt und der Unternehmenserfolg positiv beeinflusst.

U. Scheunert (*)
IU Internationale Hochschule, Erfurt, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 469
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_29
470 U. Scheunert

29.1 Einleitung

Amazon.com, Inc. zeigt eindrucksvoll: In der modernen marktorientierten Unternehmens-


führung gilt eine ganzheitliche Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen und somit eine
gelebte Kunden(beziehungs-)orientierung als Schlüssel für den Unternehmenserfolg (vgl.
u. a. Homburg & Bucerius, 2008, S. 56 ff.; Bruhn, 2016, S. 73). Aber nicht nur Unter-
nehmen, die vordergründig in B2C-Märkten aktiv sind, sondern auch in den meisten
B2B-Märkten entfalten sich ändernde Marktgegebenheiten und insbesondere eine
zunehmende Digitalisierung deren Wirkung. Daraus resultierend stehen Anbieter vor der
Herausforderung, sich an den verändernden und immer komplexer werdenden Kunden-
anforderungen auszurichten und die Möglichkeiten der Digitalisierung aus Unternehmens-
sicht optimal für den Beziehungsaufbau und die Kundenbeziehungspflege zu nutzen,
alle aus Nachfragersicht relevanten Touchpoints optimal zu bedienen und ein aus der
Perspektive der Kund:innen bestmögliches Kundenerlebnis zu schaffen (z. B. Holland &
Ramanathan, 2018, S. 343 ff., Schmäh et al., 2019, S. 55 ff.; Wirtz, 2019, S. 1 ff.). Einen
Überblick zu den aktuellen Rahmenbedingungen liefert (Abb. 29.1).

29.2 Digitalisierung im Rahmen des CRM

29.2.1 Begriffsabgrenzung Customer Relationship Management

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts orientierten sich Definitionen des Begriffs Customer
Relationship Management primär an der sog. Erfolgskette der Kundenbindungen
(Abb. 29.2).

Abb. 29.1 Aktuelle Rahmenbedingungen in (B-2-C-) Märkten


29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 471

Abb. 29.2 Erfolgskette der Kundenzufriedenheit – Grundmodell. Quelle: In Anlehnung an (Hom-


burg & Bucerius, 2008, S. 56 und Bruhn, 2016, S. 73)

Im Fokus steht dabei die Erkenntnis, dass der Aufbau einer Kundenbeziehung zu
einer Kundenloyalität führt. Loyale Kund:innen – so die Argumentation – sind ihrer-
seits für das Unternehmen profitabler als nicht-loyale Kund:innen (vgl. Dowling, 2002,
S. 87). Gründe dafür liegen in der geringeren Wechselbereitschaft loyaler Kund:innen
und der erhöhten Verhaltensabsicht des Wiederkaufs, der Weiterempfehlung oder des
Cross-Sellings. Wenn sich diese Absicht in einem tatsächlichen Verhalten niederschlägt,
was vor allem bei (freiwillig an das Unternehmen) gebundenen Kund:innen gegeben ist,
steigt der Unternehmenserfolg (vgl. Homburg & Bucerius, 2008, S. 55 ff.; Bruhn, 2016,
S. 73).
Neben dieser eher verhaltens- und erfolgsorientierten Auffassung von CRM, ent-
wickelte sich in den nachfolgenden Jahren eine rein bzw. vordergründig technisch-
fokussierte Betrachtungsweise (z. B. Stone & Woodcock, 2001). Dabei wird häufig CRM
(zu) stark vertriebsseitig diskutiert und z. B. als „Verkaufen mit System“ mit einem
„methoden- und systemgestützten Vertrieb“ gleichgesetzt (Winkelmann, 2013, S. 183).
Der Auffassung Winkelmanns (2013, S. 183) folgend sollen „kundenorientierte Prozesse
[…] mit Hilfe von Datenbanken und Vertriebssteuerungs-Software in optimaler Weise
unterstützt werden.“
Seit den 2010er Jahren münden beide Begriffsauffassungen in einen ganzheitlichen
Definitionsansatz, welcher der Ganzheitlichkeit und Komplexität der Thematik am
ehesten gerecht wird. Entsprechend umfasst nach Hippner et al. (2011, S. 18) Customer
Relationship Management (CRM) „den Aufbau und die Festigung langfristig profitabler
Kundenbeziehungen durch abgestimmte und kundenindividuelle Marketing-, Sales-
und Servicekonzepte mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationstechno-
logien.“ Helmke et al. (2017, S. 17) verdeutlichen, dass unter CRM die „ganzheitliche
Bearbeitung der Beziehung eines Unternehmens zu seinen Kunden [zu verstehen ist].
Kommunikations-, Distributions- und Angebotspolitik sind nicht weiterhin losgelöst
voneinander zu betrachten, sondern integriert an den Kundenbedürfnissen auszurichten.
Zentrale Messgröße des CRM-Erfolges ist die Kundenzufriedenheit, die einen Indikator
472 U. Scheunert

für Kundenbindung und somit letztendlich für den langfristigen Unternehmenswert


darstellt. Die CRM-Software bietet hierzu die technologische Unterstützung.“ Hin-
sichtlich der technologischen Unterstützung durch eine geeignete CRM-Software ver-
weisen Hamid und Akir (2013) explizit darauf, dass diese vordergründig zur Sammlung
von Kundendaten genutzt wird, jedoch erst eine Einbettung in eine geeignete Kunden-
kommunikation und (gezielte) Kundenansprache, z. B. durch passgenaue Angebote das
Kundenerlebnis steigert und gemeinsam mit einer gewonnenen Kundenzufriedenheit in
eine Kundenloyalität münden kann und in der Folge der Unternehmenserfolg steigt. Wir
haben das Wort „Kundezufriedenheit“ durch „Kundenzufriedenheit“ ersetzt. Bitte über-
prüfen.Danke! Das ist korrekt

29.2.2 Digitalisierung im Kontext von CRM

Der Begriff „Digitalisierung“ ist aus dem täglichen Sprachgebrauch des 21. Jahrhunderts
nicht mehr wegzudenken und findet Verwendung in verschiedenen gesellschaftspolitischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Strömungen. Unbestritten beeinflusst die Digitalisierung
zunehmend alle Gesellschaftsbereiche und das vor allem in Industriestaaten bzw. der
westlichen Welt. Allerdings ist Digitalisierung (ähnlich wie der Begriff CRM) nicht ein-
deutig definiert und kann (ebenfalls ähnlich der Begriffsabgrenzung CRM) vorder-
gründig aus der technischen Sichtweise mit einem Wechsel von analogen zu digitalen
Daten, Automatisierung von Prozessen oder aus dem Verständnis heraus resultieren, dass
Digitalisierung aufgrund der digitalen Vernetzung neue Wege in der Information und
Kommunikation bietet, wodurch Geschäftsmodelle und Prozesse grundlegend beeinflusst
werden (Faber, 2019, S. 4 ff.; Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018, S. 13 f. und 24 f.). Aus
Sicht des Marketings und dabei insbesondere im Kontext des CRM sind im Zusammen-
hang mit der (zunehmenden) Digitalisierung besonders folgende Aspekte von Relevanz:

1. Das Internet of Things (IoT)


2. Big Data

Big Data tangiert primär die technische Sichtweise des CRM. Entsprechend gilt es für
Unternehmen geeignete Formen und technische Lösungen zu entwickeln und/oder zu
implementieren, welche die Sammlung der Vielzahl von Informationen ermöglicht
und darüber hinaus vor allem aber deren Verarbeitung und damit auch deren Nutzung
effizient unterstützt, um in der Folge die gewonnenen und gespeicherten Daten erfolgs-
steigernd einzusetzen. Dies kann nicht zuletzt durch eine zielgruppengerichtete Aus-
steuerung und personalisierte Ausgestaltung von Marketing-Mix-Maßnahmen erfolgen.
Das Internet of Things, d. h. das Internet der Dinge kann als ein „Netzwerk aus ver-
bundenen Dingen [physische Objekte, wie Computer, Chips, Sensoren] mit Beziehungen
zwischen verschiedenen Menschen, zwischen Menschen und Dingen sowie zwischen
Dingen untereinander“ verstanden werden (Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018, S. 27; Zare
& Honarvar, 2021, S. 1). Neben der Kommunikation, Informationsspeicherung und Ver-
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 473

netzung kennzeichnet sich das IoT zudem durch eine quasi überall gegebene Verfügbar-
keit von smarten/intelligenten Objekten sowie deren Fähigkeit zur Selbststeuerung und
zum selbständigen Lernen (Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018, S. 35).
Zusammengefasst kann die optimale Nutzung von Big Data als Unterstützung der
(personalisierten) Ausgestaltungsmöglichkeiten, die sich durch das Internet of Things
ergeben, angesehen werden, um Customer Experience entlang der Customer Journey
zu erreichen und somit das Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter
erfolgreich zu gestalten.

29.3 Customer Journey Management – Entwicklungen und


Trends

Steht beim “übergeordneten” Customer Relationship Management die Beziehung


zwischen dem Unternehmen und dem Konsumenten, d. h. die Frage nach dem „Wer“
bzw. „Mit wem“ im Fokus, zielt das Customer Journey Management (CJM) vorder-
gründig auf das „Wann“ im Rahmen der Kaufentscheidung sowie des Stadiums der
Kundenbeziehung ab.

Beispiel

Wenn im Jahr 2022 ein Kunde den Bedarf nach einer neuen wärmenden, wasser-
abweisenden Winterjacke hat, sucht er i. d. R. nicht das eine große Warenhaus der
Stadt auf, schaut sich dort um, lässt sich beraten, entscheidet sich direkt vor Ort und
beendet die Kaufentscheidung an der Kasse durch Barzahlung. ◄

Unbestritten agieren Käufer:innen und/oder Konsument:innen in der heutigen Zeit nicht


mehr stoisch und mit wenigen/ohne iterative/n Schleifen entlang der einzelnen Phasen
des Kaufentscheidungsprozesses.
Bezüglich der Darstellung der verschiedenen Phasen des Kaufentscheidungsprozesses
ergeben sich verschiedene Möglichkeiten. (Abb. 29.3) zeigt beispielhafte Möglich-
keiten und verknüpft diese mit der Einordnung in die drei Stages, welche im Bei-
trag von Lemon und Verhoef (2016, S. 77) definiert sind (PREPurchase, Purchase und
POSTpurchase).
Wenngleich die bekannten Phasen des Kaufentscheidungsprozesses auch heute noch
durchlaufen werden (Abb. 29.3), bekommen vor allem die Pre-Awareness/Awareness-,
die After-Sale-/Loyalty-Phase sowie die iterativen Schleifen innerhalb der jeweiligen
Konsumentenentscheidung eine ganz neue und besondere Bedeutung. Bedingt durch
die Digitalisierung und die Möglichkeiten, die das IoT bietet, sowie durch die daten-
basierte gezielte Kundenansprache, wird aus der prozessphasengesteuerten Kaufent-
scheidung eine Reise, die der Kunde antritt – und diese Reise kann eine spezifische
Entscheidung beinhalten, aber auch eine dauernde Kundenbeziehung mit mehreren
474 U. Scheunert

Abb. 29.3 Überblick verschiedener Phasenmodelle des Kaufentscheidungsprozesses

Kaufentscheidungssituationen beschreiben. In einer generischen Form liefert die nach-


stehende Abbildung (Abb. 29.4) die Customer Journey in Anlehnung an die Darstellung
von Lemon und Verhoef (2016, S. 77), welche sich als Modell der Wahl etabliert hat.
Wie aus (Abb. 29.4) ersichtlich, liefern Erfahrungen aus bereits vergangenen Kauf-
entscheidungen wichtige Impulse sowohl direkt für aktuelle, als auch indirekt für noch
künftige Entscheidungssituationen. Der „einbahnstraßenähnliche“ Phasencharakter wird
verlassen und Käufer bzw. Konsumenten springen mitunter zwischen den einzelnen
Phasen hin und her.

Beispiel

Steht der oben beschriebene potenzielle Käufer der Winterjacke bereits an der Kasse,
so kann er während der Wartezeit Preise der Jacke bei anderen Anbietern vergleichen
und sich bspw. für das Angebot eines Online-Händler entscheiden, oder der Kunde
öffnet das Direct Mailing seiner Lieblingsbekleidungsmarke und findet Gefallen an
einem Alternativprodukt. In beiden Fällen wird die Kaufentscheidung durch den
Kunden abgebrochen, in letzterem Beispiel werden die Möglichkeiten des lang-
fristigen Beziehungsmanagements deutlich. ◄

Die (potenziellen) eigenen Kund:innen zu kennen und zu verstehen, wie diese sich in
Kaufentscheidungssituationen verhalten, welche Medien diese nutzen, wofür sie sich
begeistern und was sie ablehnen, ist der Schlüssel zum Erfolg marktorientierter Unter-
nehmensführung, denn nur so kann die Customer Journey an allen relevanten Kontakt-
punkten aus Kundensicht optimal gestaltet und ein kontinuierlicher Austausch von
Informationen im Sinne eines Beziehungsmanagements erreicht werden.
Die Erarbeitung einer oder mehrerer Customer Journeys startet in Unternehmen
mit der Auswahl bereits bekannter oder der Entwicklung neuer bzw. geeigneter Buyer
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 475

Abb. 29.4 Prozessmodell der Customer Journey und Customer Experience. Quelle: In
Anlehnung an Lemon und Verhoef (2016, S. 77)

Personas. Eine Buyer Persona ist ein/e typische/r Vertreter:in der relevanten Zielgruppe.
Ein einheitliches Schema zur Beschreibung von Buyer Personas existiert nicht, jedoch
ist empfehlenswert, dass die Buyer Persona einen Namen, ein Alter und ein Gesicht in
Form eines Fotos/Bildes erhält. Um sich für die Entscheidungen möglichst gut in die
Buyer Persona hineinversetzen zu können, empfehlen sich zudem Angaben zur Persön-
lichkeit – mit Angaben zur emotionalen Persönlichkeitsstruktur, zu Wünschen und
Interessen, Werten, aber auch zu Ängsten und Barrieren. Diese Pain Points gilt es bei der
Ausgestaltung von CX-Maßnahmen unbedingt zu vermeiden. Darüber hinaus finden sich
auf den Buyer-Persona-Steckbriefen meist soziokulturelle Angaben (z. B. Lebensphase,
Lebenssituation), aber auch sozioökonomische (monatliches Nettoeinkommen, monat-
lich verfügbares Haushaltseinkommen) und kulturelle Informationen (Einstellungen,
Normen, Religion) wieder (z. B. Häusel & Henzler, 2018, S. 27 ff.). Für die Ableitung
geeigneter marketingspezifischer Maßnahmen entlang der CJ ist zudem das präferierte
Mediennutzungsverhalten unbedingt zu ergründen und zu dokumentieren. Die bevor-
zugten Medien – und in Angrenzung dazu die nicht genutzten Medien – liefern wichtige
Erkenntnisse zu den Kanälen, über welche die Kommunikation zur Kundenbeziehungs-
pflege stattfinden sollte sowie über die Art (offline/online/mobile) der Touchpoints
entlang der CJ. „Häusel und Henzler 2018“ ist im Text zitiert, fehlt aber im Literatur-
verzeichnis. Bitte in das Verzeichnis aufnehmen oder Zitat aus dem Text streichen.in Lit-
verzeichnis ergänzt - Danke für den Hinweis!
476 U. Scheunert

Customer Journey Management und dabei die Reise der Kund:innen nicht
ausschließlich entlang einer einzelnen Entscheidungssituation, sondern im Rahmen eines
langfristigen ausgelegten Beziehungsmanagements mit einem steten Informations- &
Kommunikationsaustausch mit den Kund:innen zu verstehen, greifen Siebert et al. (2020)
auf. Die Autoren beschreiben die langfristige Kundenbeziehung mit mehreren Kaufent-
scheidungssituationen zum einen in Form von „Smooth Journey Models“, wobei Loyali-
tätsschleifen die Kundenentscheidungen unterstützen, zu Wiederkäufen und einem
Zuwachs an (positiven) Erfahrungen mit den Angeboten anregen und somit die Ent-
scheidungsfindung und das Leben der Kunden erleichtern. Zum anderen beschreiben die
Autoren die ebenfalls den Unternehmenserfolg steigernden „Sticky Journey Models“.
Unternehmen, welche entlang dieser CJ agieren, beziehen die Kunden mit ein und lassen
diese an der Gestaltung des individuellen Kaufentscheidungsprozesses partizipieren, in
denen eine große Bandbreite an Variationen aufgezeigt wird, und der Kunde die Möglich-
keit erhält, schnell in entscheidungsspezifische CJ einzusteigen, aber diese auch ebenso
schnell wieder verlassen kann. Als Beispiele werden hierbei die Dating-App Tinder aber
auch das Fitnessunternehmen Cross Fit oder Spotify genannt (Siebert et al., 2020, S. 49 f.).
Ganz gleich, welche Form der Customer Journey ein Unternehmen wählt, es ist
essentiell, dass sich Unternehmen mit der oder den Customer Journey(s) seiner Kund:innen
auseinandersetzen, relevante Touchpoints identifizieren sowie das Kundenverhalten entlang
der CJ beschreiben und verstehen, um somit potenzielle und bestehende Kund:innen ent-
lang deren Reise zu begleiten, mit ihnen zu kommunizieren, selbst aktiv in der Kundenbe-
ziehung zu agieren und für die Kunden wahrnehmbare Kundenerlebnisse zu schaffen.

29.4 Customer Experience entlang der Customer Journey – Key


Factors für ein erfolgreiches CRM

Mit dem Wissen um das „Wer?/Mit wem?“ und „Wann?“ steht beim Customer
Experience Management (CXM) die Frage nach dem „Wie?“ im Mittelpunkt der
Betrachtung. Die Schaffung von Kundenerlebnissen, welche für den Kunden wahr-
nehmbar sind und einen Erlebnisnutzen stiften, sind die Basis eines erfolgreichen
Customer Relationship Managements. Die Rahmenbedingungen in den vielfach
gesättigten Märkten mit austauschbaren Angeboten, in denen Kund:innen eine möglichst
individuelle Ausrichtung auf deren Ansprüche entlang der Kaufentscheidung erwarten,
stellen dabei eine besondere Herausforderung an die Unternehmen dar.
Gemeinsam mit dem „Wie?“ sind Unternehmen mit der Entscheidung einer geeigneten
Priorisierung konfrontiert. Die Ausgestaltung von CX-Maßnahmen bedarf finanzieller
und humaner Ressourcen und sollte entsprechend gezielt erfolgen. Nachfolgend werden
ausgewählte und als besonders relevant erachtete Schlüsselfaktor für den Aufbau und
Erhalt einer langfristigen sowie erfolgsorientierten Kundenbeziehung aufgeführt. Weitere
Ansatzpunkte liefern z. B. (Keller & Ott, 2017; Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018 oder
Robra-Bissantz & Lattemann, 2019). „Keller 2017“ wurde entsprechend den Angaben im
Literaturverzeichnis zu „Keller und Ott 2017“ geändert. Bitte bestätigen.Danke!
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 477

#1: Relevante Touchpoints entlang der CJ identifizieren, kategorisieren,


priorisieren und aktiv ausgestalten
Sofern nicht direkt bei der Erarbeitung erfolgt, empfiehlt es sich zunächst alle
Touchpoints entlang der Customer Journey zu identifizieren. Das bezieht alle Off-
line-, Online-, Mobile-Touchpoints ebenso mit ein, wie die Betrachtung aller Customer
Journeys von allen relevanten Buyer Personas, welche im Fokus der aktuellen
Marketingentscheidung stehen. Insbesondere durch die Digitalisierung und die Möglich-
keiten, die sich dadurch den Konsument:innen und den Unternehmen bieten, werden
Customer Journeys immer komplexer und die Anzahl und Art (insbesondere online und
mobile) steigen. Um eine ökonomisch sinnvolle Priorisierung vorzunehmen, können die
CJ der verschiedenen Buyer Personas verglichen und redundante Touchpoints identi-
fiziert werden. Unabhängig davon, welche Kategorisierung gewählt wird, gilt, dass eine
aktive Ausgestaltung durch die Hersteller- und Handelsunternehmen erfolgen und jeder
Touchpoint als eigenständig angesehen werden sollte, d. h. jeder Kontaktpunkt steht für
sich selbst und sollte bestmöglich eine eigenständige CX erzeugen. Eine Möglichkeit der
Kategorisierung bietet zum einen der Beitrag von Lemon und Verhoef (2016, S. 76 ff.).
Den Autoren folgend existieren:

• Brand-owned Touchpoints: Interaktionen mit Kunden, die der Ausgestaltung und


der Kontrolle des Hersteller- oder Handelsunternehmens unterliegen. Das Unter-
nehmen muss hier aktiv für Kundenerlebnisse an jedem dieser Touchpoints sorgen.
Ein Beispiel sind eigene Loyalty-Programme. Die Ausstellung einer Kundenkarte
im Scheckkartenformat trägt in der heutigen Zeit sicherlich nur noch begrenzt zu
einem wahrnehmbaren Kundenerlebnis bei. Durch die Digitalisierung sind Loyalty-
Programme ergänzend oder ausschließend mobil auch als App umsetzbar und ver-
fügbar und können mit Gaming Gadgets, digital einsetzbaren Rabattaktionen oder
integrierten Bezahl- und/oder Kassenbon-/Garantiebelegverwaltungsfunktionen einen
erlebbaren Mehrwert für die Kunden bieten (vgl. z. B. Lidl-App). Auf der anderen
Seite erhalten Unternehmen direkt Daten zur Einkaufsstättenwahl und zu besonders
erfolgreichen Marketingaktionen, lernen die Kund:innen besser kennen und können
aktiv die Beziehungspflege gestalten. Weitere brand-owned touchpoints, welche
aktiv vom Hersteller- oder Handelsunternehmen im Sinne einer erlebbaren CX aus-
gestaltet werden sollten, sind das Produkt selbst inkl. dessen Verpackung und Marke,
die eigene Unternehmenswebsite oder die Kommunikation über unternehmenseigene
Social-Media-Accounts sowie die Ausgestaltung der aus Kundensicht gewünschten
Vertriebskanäle.
• Partner-owned Touchpoints: Kundeninteraktionen während des Konsumerlebnisses
an Kontaktpunkten, welche durch das Unternehmen selbst gemeinsam mit mindestens
einem weiteren Partner ausgestaltet und kontrolliert werden.
478 U. Scheunert

Beispiele

Beispiele hierfür sind die offline und digital umgesetzten Multivendor Loyalty
Programme, wie z. B. Payback oder Deutschland Card oder Multichannel Distribution
Partners (Marketplaces) wie z. B. Amazon oder Zalando. ◄

• Customer-owned Touchpoints: Kontaktpunkte, die vom Kunden selbst ausgehen


und gesteuert werden, die CX als Ganzes beeinflussen, aber weder vom Hersteller-
oder Handelsunternehmen, den Partnern oder dem sozialen Umfeld ausgehen. Der
Existenz dieser Touchpoints sollten sich Unternehmen bewusst sein und diese in
der Ausgestaltung der o.g. Touchpoints berücksichtigen. Aufgrund der begrenzten
Ausgestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten durch das Unternehmen selbst, gestaltet
sich die Ableitung und Umsetzung geeigneter CX-Maßnahmen jedoch als schwierig.
• Social-external-owned Touchpoints: Kontaktpunkte, die durch den Einfluss der
sozialen Determinanten des Konsumentenverhaltens beeinflusst werden. Neben
der eigenen Peer-Group oder der Offline- oder Online-Shoppingbegleitung, sind
hierzu auch Influencer:innen zu zählen. Insbesondere die Influencer:innen können
nicht zu unterschätzende Kontaktpunkte innerhalb der CJ sein und sollten daher
vom Hersteller- & Handelsunternehmen bewusst als Kontaktpunkt innerhalb des
Informations- bzw. Kaufentscheidungsprozesses berücksichtigt werden.

Neben dieser Typisierung kann eine Einordnung nach bestimmten Zeitpunkten


(Momenten) entlang der Customer Journey hilfreich sein. Diese Momente werden auch
als Moments of Truth (MoT) bezeichnet (z.B. Keller & Ott, 2017, S. 45; Kruse Brandaõ
& Wolfram, 2018, S. 90). Analog zu den bisherigen Ausführungen, gilt es für Hersteller-
und/oder Handelsunternehmen jeden der Kontaktpunkte als eigenständig anzusehen
und so auszugestalten, dass jeder der Kontaktpunkte eine eigenständige CX kreiert oder
aber zur übergeordneten CX beiträgt. Zu den Momenten mit einer besonderen Auf-
merksamkeitswirkung liefern Kruse Brandaõ und Wolfram (2018, S. 90ff.) folgende
Erläuterungen, die in diesem Beitrag durch Beispiele und zusätzliche Argumentationen
erweitert sind.

• 0th MoT/ZMOT: Informationssuche und Orientierung der Konsument:innen, die


immer häufiger ausschließlich oder zusätzlich durch die Suche oder das unspezifische
Surfen im Internet stattfindet. Hier gilt es für Unternehmen mit den Angeboten sicht-
bar zu sein und sich durch die Angebotsausgestaltung oder die digitale Darbietung
abzuheben. Wird in der einschlägigen Marketingliteratur auf die hohe Bedeutung der
Nachkaufphase verwiesen, verdeutlicht die explizite Beschreibung des ZMOT (Zero
Moment of Truth) die zunehmende Relevanz der Pre-Awareness & Awareness-Phase.
• 1st MoT: Die Entscheidung für ein Produkt oder eine Dienstleistung in einem
stationären oder einem Online-Handel. Insbesondere Webshops bieten hier digital
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 479

Möglichkeiten zu weiteren Käufen durch Produktempfehlungen anzuregen oder eine


CX dahingehend zu gestalten, dass gezielt Gehirnareale angesteuert werden. Denkbar
sind neben der Bestätigung eine gute Wahl getroffen zu haben, Hinweise auf Waren-
korbschwellen, die dem Besteller ein Geschenk oder Versandkostenfreiheit bescheren.
• 2nd MoT: Dieser Moment der Wahrheit beschreibt die Produkt-/ Dienstleistungs-
inbetriebnahme. Hier findet der Vergleich der Ist- mit den Soll-Erwartungen statt,
der die (Un-)Zufriedenheit mit dem Produkt oder der Dienstleistung maßgeblich
beeinflusst. Durch z. B. die Verwendung von QR-Codes auf/in Tüten, Verpackungen
oder im/ am Versandkarton, die digital auf eine Website bzw. Landingpage führen,
kann hier gezielt CX mit dem Kauf selbst erreicht werden (z. B. können auch hier
Belohnungen hinterlegt, oder das Loyalty-Programm kann beworben werden).
Alternativ sind auf der Internetseite z. B. Hilfestellungen zur Inbetriebnahme bei
technischen Geräten hinterlegt, was einer eventuellen Unzufriedenheit entgegen-
wirkt und ganz im Gegensatz zu einem spürbaren Kundenerlebnis beträgt. Eine
weitere Option ist die Registrierung des erworbenen Produkts für den Erhalt zusätz-
licher Serviceleistungen, wie bspw. Garantieverlängerungen, wie es der Elektronik-
anbieter Dyson z. B. anbietet. Das Herstellerunternehmen erhält hierbei Daten zu den
Kund:innen und zur Kaufphase und somit wichtige, verwertbare Informationen, die
dem Unternehmen ansonsten verborgen bleiben würden. Dem Herstellerunternehmen
selbst gelingt somit der Einstieg in den Aufbau einer direkten Kundenbeziehung.
• 3rd MoT: In der Nachkaufphase (postpurchase stage) kann der Kunde seine positiven,
neutralen oder negativen Erfahrungen teilen. Insbesondere in der digitalen Welt
kommt diesem Moment der Wahrheit eine große Bedeutung zu, denn jede Äußerung
wird von einer Vielzahl (potenzieller) Kund:innen wahrgenommen und in die eigene
Informationssuche, Entscheidungsfindung oder Bewertungsphase bewusst oder
unbewusst einbezogen. Hier gilt es innerhalb der CJ die relevanten Kontaktpunkte
(Blogs, Foren, sozialen Medien) zu identifizieren und als Unternehmen aktiv zu
forcieren (Bitte um Bewertungen) und zu gestalten, z. B. durch die Etablierung einer
eigener Community oder die unternehmensseitige Reaktion auf Webbeiträge der
Nutzer:innen.
• Mobile Moments: Die wachsende Bedeutung der mobilen Endgeräte, d. h. Smart-
phones und Tablets, ist ein weiterer technischer Digitalisierungstrend der letzten
Jahre, dem es auch mit der entsprechenden Ausgestaltung der Marketingaktivitäten
gerecht zu werden gilt. Ein responsives Design der Website genügt im Jahr 2022 dies-
bezüglich nicht mehr. Für eine erfolgreiche Bearbeitung dieser digitalen Touchpoint
gilt „be there“ (im Moment der Entscheidung als Unternehmen präsent zu sein), „be
quick“ (der Service muss einfach und schnell verfügbar sein, um ein Kundenerleb-
nis zu schaffen) und „be helpful/be useful“ (es muss für den User ein wahrnehmbarer
Mehrwert erkennbar sein).
480 U. Scheunert

#2: Neue/Digitale Shopper-Typen bei der Ausgestaltung der Marketingmaßnahmen


entlang der CJ berücksichtigen
Neben den „klassischen“ Shopper-Typen, wie dem Schnäppchenjäger (Cherry Picker),
Smart Shopper oder Hybridkäufer, haben sich im Zuge der Digitalisierung weitere
Käufertypen etabliert, die es im Rahmen der CRM-Bestrebungen insgesamt, aber auch
bei der Gestaltung von Kundenerlebnissen entlang der Customer Journey im Speziellen,
zu berücksichtigen gilt (Lemon & Verhoef, 2016, S. 80). Diese Käufertypen und wie ein
Unternehmen die Kund:innen durch gezielte CX-Maßnahmen gewinnen kann, findet sich
nachstehend:

u Webroomer: Käufer/Konsument, der online sucht, aber in einem stationären Geschäft


kauft.

• Der Webroomer sollte bestmöglich direkt in der Prepurchase Stage aufgegriffen


und „festgehalten“ werden – z. B. mit einer Customer Experience, die es für ihn gar
nicht notwendig macht, ein stationäres Ladengeschäft zu betreten. Durch gezielte
Visualisierungsmöglichkeiten, welche die Haptik oder den Duft „erlebbar“ machen,
die Anordnung der Einrichtungsgegenstände im zuvor hochgeladenen Foto des Wohn-
raumes millimeter- und farbgetreu aufzeigen oder den Fit des Kleidungsstücks oder
der Brille direkt am späteren Nutzer veranschaulichen, können Kundenerlebnisse
online geschaffen werden.

u Showroomer: Käufer/Konsument, der in einem stationären Geschäft sucht, aber


online kauft.

• Kunden und dabei typische Showroomer, die ein stationäres Ladengeschäft betreten,
vor dem Kauf – häufig direkt im Geschäft oder in der Umkleidekabine – aber online
die Konditionen vergleichen oder online im favorisierten Shop bestellen und die Ware
nach Hause liefern lassen wollen, kann auf der einen Seite der Händler mit Bestpreis-
versprechen entgegnen oder mobile Bestellterminals für den Kauf im hauseigenen
Online-Shop zur Verfügung stellen. Auf der anderen Seite kann ein Webshop, dem
es gelungen ist, Kunden langfristig zu binden, ebenfalls durch geeignete Maßnahmen
zum Kauf im Shop bewegen, z. B. durch verlängerte Rückgabefristen.

u Research Shopper: Käufer/Konsument, der in einem Online-Kanal oder einem


Online-Shop sucht, aber in einem anderen Online-Kanal oder einem anderen Online-
Shop kauft.

• Research-Shoppern begegnen Unternehmen bestmöglich, indem schnell und ein-


fach Zugänge zum Kauf geboten werden, wie bspw. ein easy-buying-exit mittels
„buy now with one click“ oder durch die Digitale Connection mit Partner-Loyalty-
Programmen „Direkt zu Paypal gehen und Bestellung abschließen“.
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 481

29.5 Zusammenfassung und Ausblick

Langfristige Kundenbeziehungen, die auf der Zufriedenheit der Kund:innen beruhen,


liefern einen positiven Effekt auf den ökonomischen Erfolg eines Unternehmens. In
kaum einer anderen Aussage zur marktorientierten Unternehmensführung herrscht
so viel Einigkeit. Einigkeit besteht auch darin, dass unter den aktuellen Rahmen-
bedingungen mit vielfach gesättigten Märkten sowie der quasi-unendlichen Ver-
fügbarkeit funktional austauschbarer Produkte in Kombination mit einer erhöhten
Markttransparenz aufgrund der Digitalisierung, Kunden besser informiert und eher bereit
sind, zwischen verschiedenen Anbietern zu wechseln. Der zunehmenden Bedeutung von
langfristigen Kundenbeziehungen für Unternehmen auf der einen Seite, steht somit die
abnehmende Loyalität der Kunden auf der anderen Seite gegenüber. Die Digitalisierung
und dabei insbesondere Big Data und das Internet der Dinge verstärken dabei die Macht-
verhältnisse auf beiden Seiten. Kunden erfahren neue Möglichkeiten des Konsums, der
Alternativensuche im Kaufentscheidungsprozess sowie des Erfahrungsaustauschs nach
der erfolgten oder vor der nächsten Kaufentscheidung. Unternehmen ihrerseits können
und sollten die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht nur zur Datensammlung und
„Verwaltung der Vertriebstätigkeiten“ einsetzen, sondern die Vielfalt und Wünsche der
vorhandenen und potenziellen Kunden ergründen und sich an allen relevanten Kontakt-
punkten entlang der Customer Journeys ausrichten. Durch geeignete CX-Maßnahmen
gilt es möglichst passgenau und individuell Kundenerlebnisse zu schaffen und somit
den Kunden nachhaltig und langfristig vom eigenen Angebot zu überzeugen. Die
Kommunikation mit den (potenziellen) Kund:innen und dabei der Informationsaustausch
zwischen Unternehmen und Kund:innen ist dabei die Basis einer „lebendigen“ und
erfolgsorientierten Kundenbeziehung. Dies gilt für Handels- und Herstellerunternehmen
gleichermaßen und bezieht sich nicht ausschließlich auf den B2C-Markt. Vor allem in
B2B-Märkten sind aufgrund der Art der Geschäftsbeziehungen persönliche Kontakte
bei Kaufentscheidungen von besonderer Bedeutung und die Zusammenarbeit der Unter-
nehmen ist i. d. R. auf Langfristigkeit ausgelegt. Nichtsdestotrotz verändern sich auch
B2B-Buyer-Personas und die (zumeist) komplexen Kaufentscheidungsprozesse sowie
die Pflege der Kundenbeziehung wird in zunehmendem Maße durch die Digitalisierung
beeinflusst. Allerdings beschäftigen sich bislang nur wenige wissenschaftliche Arbeiten
mit den spezifischen Anforderungen von CRM im B2B-Markt unter Einbezug der
Erkenntnisse zum CJM und CXM (vgl. z. B. Schmäh et al., 2019). Wissenschaftliche
Arbeiten, wie Geschäftskunden im Sinne von CXM begeistert werden können, um in
B2B-Märkten auch künftig und auf Basis langjähriger, loyaler Kundenbeziehungen
erfolgreich zu sein, werden als wünschenswert angesehen.
482 U. Scheunert

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Prof. Dr. Uta Scheunert erlangte im Anschluss an ihr Diplom-Hochschulstudium „Betriebswirt-


schaftslehre/ Interkulturelles Management“ mit den Schwerpunkten Internationales Management,
Interkulturelle Wirtschaftskommunikation sowie Marketing an der Friedrich-Schiller-Universität
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 483

(FSU) Jena, mit ihrer Promotion zum Thema „Das subjektive Alter von Konsumenten – Ent-
wicklung, empirische Überprüfung und Wertung eines Messansatzes zur Evaluation des gefühlten
Alters von Personen als Basis für eine erfolgreiche Segmentierung und Strategieentwicklung
im Marketing“ den akademischen Grad Dr. rer. pol. Seit Oktober 2019 hat Uta Scheunert die
Professur für ABWL, insbesondere Marketing & Kommunikation an der IU Internationale Hoch-
schule GmbH am Campus Erfurt inne.
Digitale Marketingmöglichkeiten in der
Arztpraxis 30
Cordula Kreuzenbeck   und Gabriele Schuster  

Zusammenfassung

Digitales Marketing hat in den letzten Jahren viele neue Ausprägungen erhalten. Sei
es die Nutzung von sozialen Medien zum Marketing oder eine neue Art von digitaler
Mund-zu-Mundpropaganda über Bewertungsplattformen. Auch vor dem Gesund-
heitswesen macht diese Entwicklung nicht halt. Ärzt:innen und Krankenhäuser finden
sich in den sozialen Medien wieder, Jameda.de und Klinikbewertungen.de bieten
maßgeschneiderte Bewertungsplattformen für Krankenhäuser und Ärzt:innen an.
Nach einem Versuch, die Bewertungen zu unterbinden, und völligem Unverständnis
hierfür bei den niedergelassenen Ärzt:innen, gibt es inzwischen einige wenige, die
diese Seiten aktiv bewirtschaften und für ihr digitales Marketing nutzen. Gerade im
Niedergelassenenbereich zeigt sich anhand der Altersstruktur und Digitalkompetenz
der Ärzt:innen und der Patienten, wie sich die Digitalisierung am zielgruppen-
orientierten Marketing der Ärzt:innen aufreibt. Ein niedriger Wettbewerbsdruck und
strenge gesetzliche Regulierungen sorgen nur für ein vereinzeltes Aufbrechen der
bekannten und gelebten Marketingstrategien.

C. Kreuzenbeck (*)
IU Internationale Hochschule, Velbert, Deutschland
E-Mail: [email protected]
G. Schuster
IU Internationale Hochschule, Campus Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 485
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_30
486 C. Kreuzenbeck und G. Schuster

30.1 Einleitung

Im Gesundheitswesen ist die Digitalisierung aufgrund der Covid-19-Pandemie ein


sehr aktuelles Thema geworden. Digitale Sprechstundenvereinbarung und Online-
Live-Sprechstunden haben ihren Weg in den Versorgungsalltag gefunden. Online-
Bewertungen haben speziell mit der Plattform Jameda auch den niedergelassenen
Bereich erreicht. Eine digitale Patientenakte und digitale Rezepte sind in den letzten
zwei Jahren eingeführt worden. Wie also digitales Marketing in der Arztpraxis aus-
sehen kann, welche Mittel bereits genutzt werden und welche Schwierigkeiten in diesem
Sektor bestehen, stellt dieses Kapitel dar.

30.2 Marketinginstrumente und deren Relevanz für Arztpraxen

Im Folgenden werden die Marketinginstrumente, die für Arztpraxen infrage kommen,


aufgezeigt. Grundsätzlich lassen sich alle Maßnahmen vier Marketinginstrumenten
zuordnen: Produkt- und Programmpolitik, Preispolitik, Distributionspolitik und
Kommunikationspolitik (vgl. Meffert et al., 2019, vgl. Esch et al., 2017, vgl. Kot-
ler et al., 2016). Vor allem für die Dienstleistungsbranche wurden teilweise weitere
Instrumente ergänzt, wie z. B. die Berücksichtigung des Personals, der Prozesse und
der Ausstattung (vgl. u. a. Homburg, 2017, S. 7 u.1003 ff.; Kotler et al., 2017, S. 27 f.;
Kotler et al., 2010, S. 43 f.). Eine ansprechende Ausstattung, freundliches Personal und
optimierte Prozesse sind wesentliche Bestandteile des Marketingmix einer Arztpraxis.
Dieser Beitrag folgt der Logik des Marketing-House von Lucas (Lucas, 2020), wonach
die Ausstattung der Arztpraxis der Produkt- und Programmpolitik, also der Dienst-
leistung der Ärzt:innen, zugeordnet wird, und Personal und Prozesse als Determinanten
betrachtet werden, von denen alle vier Marketinginstrumente betroffen sind.

Produkt- und Programmpolitik


u „Die Produkt- und Programmpolitik ist einer der zentralen Parameter im Marketing.
Aus markt- und kompetenzbasierter Sicht beinhaltet sie alle Entscheidungstatbestände,
die sich auf die Gestaltung der vom Unternehmen im Absatzmarkt anzubietenden
Leistungen beziehen.“ (Meffert et al., 2019, S. 394).

Die Produktpolitik ist für niedergelassene Ärzt:innen durch den gesetzlichen Leistungs-
katalog eingeschränkt. Auch der Bereich von IGeL-Leistungen1 ist beschränkt. Damit
kann die Produktpalette als Marketinginstrument dahingehend wirken, dass der Arzt
gewisse Spezialisierungen oder Fortbildungen aufweist, die das entsprechende Klientel

1 IGeL sind Leistungen, die nicht zum festgeschriebenen Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenkassen gehören. Dies können z. B. Atteste und Reiseimpfungen sein, die per Gesetz
nicht zu den Aufgaben der GKV gehören. Meist sind IGeL medizinische Maßnahmen zur Vor-
sorge, Früherkennung und Therapie von Krankheiten, deren Nutzen bisher nicht bewiesen werden
konnte. (GKV Spitzenverband, 2020).
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 487

anziehen. Hierüber wird in der Regel sowohl auf dem Praxisschild als auch im Internet-
auftritt aufmerksam gemacht. Selten gibt es Alleinstellungsmerkmale, die eine so starke
Spezialleistung darstellen, dass die Patienten überregional angezogen werden, z. B. im
plastischen Bereich beim Ohrmuschelaufbau.

Preispolitik
u „Die Entscheidungen im Rahmen der Preispolitik umfassen die Vereinbarungen über
das Entgelt des Leistungsangebotes, über mögliche Rabatte und darüberhinausgehende
Lieferungs-, Zahlungs-, und Kreditierungsbedingungen sowie der Preisdurchsetzung am
Markt. Diese Instrumente der Preispolitik sind im Hinblick auf die Marketingziele aus-
zugestalten.“ (Meffert et al., 2019, S. 489).

Da entweder Kassen- oder Privatpatienten als Kunden auftreten, spielt der Preis immer
dann eine Rolle, wenn die Leistungen aus eigener Tasche bezahlt werden müssen und
nicht erstattet werden (IGeL-Leistungen – Individuelle Gesundheitsleitungen). Sonder-
stellung haben hier wieder plastische Operationen und zahnmedizinische Behandlungen,
bei denen die Preise durchaus variieren können. Hierfür müsste eine entsprechende
Preiselastizität auf Seite der nachfragenden Patienten bestehen, um ein wettbewerbs-
orientiertes Marketing zu betreiben. Bisher ist dies kaum festzustellen.

Distributionspolitik
u „Die Distributionspolitik bezieht sich auf die Gesamtheit aller Entscheidungen
und Handlungen, welche die Verteilung (engl. Distribution) von materiellen und/oder
immateriellen Leistungen vom Hersteller zum Endkäufer und damit von der Produktion
zur Konsumtion bzw. gewerblichen Verwendung betreffen.“ (Meffert et al., 2019,
S. 579).

Bei Arztpraxen ist der Point-of-Sale in der Regel die Arztpraxis. Gemeint sind hier auch
alle Maßnahmen, die zur Ausstattung der Praxis gehören. Angefangen bei der Rezeption,
über das Wartezimmer bis zum Behandlungsraum. Bei vielen Arztpraxen wird Wert auf
die räumliche Ausgestaltung gelegt. Da sich die Patienten in der Regel allerdings nicht
übermäßig lange in der Praxis aufhalten, dürfte dies neben der fachlichen Eignung des
Arztes und der Freundlichkeit des Personals nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Durch die Covid-19-Pandemie bieten einige wenige Ärzt:innen/Therapeut:innen
inzwischen auch Online-Sprechstunden an. Hierbei betritt der Patient die Praxisräume
nicht, sondern Arzt und Patient sehen sich virtuell über eine Videoplattform. Dies kann
gerade bei weiten Anfahrtswegen oder bei Einschränkungen, die die Anreise erschweren,
einiges an Erleichterung für Patient aber auch Arzt bedeuten. Allerdings liegt dieser
Anteil im Bereich der Hausärzt:innen bei weit unter einem Prozent. (Kreuzenbeck 2022,
eigene Auswertung).
488 C. Kreuzenbeck und G. Schuster

Lediglich eine negative Marketingwirkung könnte sich allerdings durch eine eher
heruntergekommene Einrichtung ergeben, von dieser können die Kunden vermeintliche
Rückschlüsse auf die Fähigkeit des Arztes oder mangelnde Hygiene ziehen. Gleichzeitig
wäre allerdings das Anbieten einer Videosprechstunde eine Chance, gezielt digitalaffine
Patienten zu gewinnen.

Kommunikationspolitik
u „Aus Marketingperspektive versteht man unter Kommunikation das Senden von
verschlüsselten Informationen, um beim Empfänger eine Wirkung zu erzielen. Dem-
entsprechend umfasst die Kommunikationspolitik die systematische Planung,
Ausgestaltung, Abstimmung und Kontrolle aller Kommunikationsmaßnahmen des Unter-
nehmens in Hinblick auf alle relevanten Zielgruppen, um die Kommunikationsziele und
damit die nachgelagerten Marketing- und Unternehmensziele zu erreichen.“ (Meffert
et al., 2019, S. 633).

Unter Kommunikationspolitik wird alles verstanden, was die Kundschaft/die Öffentlich-


keit auf das Produkt/Dienstleistung aufmerksam macht. Angefangen beim Tür-
schild, Website, Portale etc. Diese wird, wie wir im Folgenden noch zeigen werden,
nur eingeschränkt genutzt. Dies hängt einerseits mit dem Klientel und dem Alter der
niedergelassenen Ärzt:innen zusammen, andererseits mit den eingeschränkten Werbe-
möglichkeiten durch diverse Gesetze.
Einen besonderen Stellenwert nimmt hingegen Mund-zu-Mund-Propaganda/Word of
Mouth (WOM) ein:
Die Werbeform, die es von Anbeginn gibt, ist die Mund-zu-Mund-Werbung. Gemeint
ist jede Kommunikation von Personen über Produkte, die nicht vom werbetreibenden
Unternehmen stammen und informell ein Produkt oder eine Dienstleistung bewerten
(vgl. Arndt, 1967, S. 3). Im Mittelpunkt der WOM-Kommunikation steht die Über-
mittlung von Produktinformationen. Empfehlungen für potenzielle Kunden werden in
diesem Zusammenhang aus der subjektiven Konsumentensicht mitgeteilt (vgl. Park &
Kim, 2008). Das Pendant im Online-Marketing wird als „electronic Word of Mouth“
(eWOM) bezeichnet und erlangt immer größere Beachtung. Nachfolgend werden die
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur klassischen Mund-zu-Mund-Propaganda auf-
geführt.
Der bedeutendste Unterschied ist die Reichweite und die Qualität des Kontaktes der
Kommunikation. Traditionell tauschte sich eine Person mit einer anderen Person aus
(one-to-one), in der Regel kennen sich die Personen. Es handelt sich um eine persön-
liche Interaktion und eine synchrone Kommunikation. Online geht die Information
eines Senders an viele Empfänger, die sich größtenteils nicht kennen (one-to-many).
Außerdem ist die Kommunikation auf Online-Bewertungsplattformen asynchron, da der
Empfänger die Information zeitlich versetzt annimmt, und die Information erreicht eine
um ein Vielfaches erhöhte Diffusion.
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 489

Soziale Netzwerke ermöglichen es individuellen Konsumenten, eine große Anzahl


anderer Konsumenten in sehr kurzer Zeit zu informieren, indem sie selbst Inhalte
erstellen oder durch ihre digitalen Netzwerke verbreiten. Diese Umgebung der sozialen
Netzwerke ermöglicht neue digitale Formen der sogenannten Mund-zu-Mund-
Kommunikation, indem beispielsweise in Echtzeit eine große Anzahl von Freunden und
Followern erreicht wird (Hennig-Thurau et al., 2015).
Eine weitere Besonderheit ist die räumliche und zeitliche Unbegrenztheit der
Informationen, da diese rund um die Uhr, von jedem Standort aus abrufbar sind (vgl.
Huber et al., 2011, S. 18). Auch wenn die Online-Kommunikation schriftlich erfolgt,
hat sie einen eher informellen Charakter und nähert sich, ähnlich wie in Chats, Blogs
oder SMS, eher dem gesprochenen Wort an als der formellen Schriftsprache (vgl.
Röthlingshöfer, 2008, S. 29). Gemeinsam ist beiden, dass der Sender ein aktueller
Konsument des Produktes oder der Dienstleistung ist und der Empfänger ein potenzieller
neuer Konsument.
Da inhaltlich kaum Unterschiede erkennbar sind, können Online-Bewertungen als
Weiterentwicklung der Mundpropaganda angesehen werden. Onlinebewertungen sind im
Vergleich zur klassischen Mundpropaganda schneller und diffuser, da durch das Internet
eine exponentielle Verbreitung ermöglicht wird. Durch die Verwendung von relevanten
Keywords der Rezensenten, steigt automatisch die Sichtbarkeit in Suchmaschinen
(vgl. Kaiser & Hopf, 2011, S. 4). Zusammengefasst sind Online-Bewertungen welt-
weit abrufbar, langlebig, haben eine hohe Sichtbarkeit, es besteht die Möglichkeit der
exponentiellen Verbreitung und sie sind in hoher Geschwindigkeit und jederzeit abrufbar.
Produktrezensionen, -bewertungen und -reviews werden auf Bewertungsportalen
veröffentlicht und werden definiert als Publikationen auf einem Medium, in denen ein
Nutzer ein von ihm gekauftes Produkt oder eine Dienstleistung beschreibt, erklärt oder
kritisiert (vgl. Zimmermann, 2014, S. 28).
Rezensionen geben Konsumenten die Möglichkeit, verschiedene Informationen
zu selektieren, miteinander zu vergleichen und sich darüber ein eigenes Bild über das
Produkt oder die Dienstleistung zu verschaffen. Unternehmen können über Rezensionen
Schwachstellen erkennen und somit die Qualität des Produktes oder der Dienstleistung
verbessern (vgl. Huber et al., 2011, S. 18). Rezensionen spielen für Arztpraxen eine
große Rolle, auch wenn sie seitens der Ärzteschaft nicht immer positiv gesehen werden.
Für eine Arztpraxis sind weitere Determinanten, wie freundliches und kompetentes
Personal sowie funktionierende und für den Patienten nachvollziehbare Prozesse wesent-
lich. Da alle Marketinginstrumente von beiden Determinanten betroffen sind, werden sie
nachfolgend separat ausgeführt

Personal Wie wir später noch sehen werden, ist die Freundlichkeit und Professionalität
der Sprechstundenhilfen, Telefonistinnen, des Arztes und der medizinischen Fachange-
stellten zu mindestens aus Sicht der Ärzt:innen ein relevanter Wettbewerbsfaktor. Die
Freundlichkeit der Mitarbeiter und des Arztes findet sich auch in sämtlichen Bewertungs-
plattformen wieder. Die emotionale und soziale Ebene bildet hier einen nicht unwesent-
490 C. Kreuzenbeck und G. Schuster

lichen Grundbaustein für das Vertrauensverhältnis, welches bei einem Vertrauensgut


wie der gesundheitlichen Behandlung von Bedeutung ist. Auch durch die Informations-
möglichkeiten des Internets können der Patient:innen immer noch kaum bewerten, ob die
Beratung, die sie vom Arzt erhalten, fachlich korrekt oder für sie gut ist. Daher spielt das
Vertrauen, welches sich vorwiegend über den persönlichen Eindruck bildet, eine zentrale
Rolle.

Prozesse Die Prozesse einer Arztpraxis sind für Patient:innen primär über die Dauer
der Wartezeiten spürbar. Hierzu gehört aber alles von der Terminvereinbarung über
Wartezeiten, Raumbesetzung, Behandlung, Nachbehandlung, Rezepte bis hin zur Über-
weisung. Ob Prozesse gut laufen und organisiert sind, ist für Patient:innen neben Warte-
zeiten oder Absagen geplanter Termine kaum nachvollziehbar, da sie den Ablauf der
Praxis in der Regel nicht einschätzen können und medizinische Dringlichkeit als Argu-
ment nicht bewerten können. Zumindest über Wartezeiten kann sich der Patient über
unterschiedliche Bewertungsportale informieren. Das Zustandekommen der Wartezeiten
bleibt jedoch unklar. Entstehen diese, weil der Arzt sehr gut und damit viel besucht ist?
Weil der Arzt sich für seine Patienten die nötige Zeit nimmt und eine gründliche Unter-
suchung macht? Oder tatsächlich, weil die Praxis schlecht organisiert ist?

30.3 Praktische Anwendungen

Im Folgenden werden die Marketingaktivitäten niedergelassener Ärzt:innen und die


Gründe für die Nutzung bzw. Nichtnutzung unterschiedlicher Marketinginstrumente dar-
gestellt.

30.3.1 Marketingmaßnahmen der Ärzt:innen

In Tab. 30.1 lassen sich die Marketingmaßnahmen der Ärzt:innen erkennen, die sich
offensichtlich an den Zielen der Praxisinhaber ausrichten. Als Überblick werden diese in
Tab. 30.1. zusammengefasst. (Stiftung Gesundheit, 2015, S. 42).
Auffällig hierbei ist, dass nur etwa 38 % überhaupt das Bedürfnis haben, neue
Patienten hinzuzugewinnen. Der Hauptfokus der Ärzt:innen liegt grundsätzlich in der
Informationsübermittlung, bzw. hier auch der Herausstellung von Alleinstellungs-
merkmalen, z. B. besonderer Behandlungsmöglichkeiten.
Die wichtigste Marketingmaßnahme war 2015 noch die Präsenz im Internet mit 68 %
der von der Stiftung Gesundheit befragten Ärzt:innen. Dies bedeutete primär die Praxis-
Homepage mit 56,6 %. Als weitere Haupt-Marketingmaßnahme wird das Praxispersonal
mit 55,4 % genannt. Dieses lässt sich wiederum mit einem starken Bezug zum WoM
erklären. 43,6 % setzten weiterhin auf die Visitenkarte als klassisches Marketingmittel.
Marketingmittel wie Services z. B. einer Online-Terminvereinbarung über eine Plattform
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 491

Tab. 30.1  Marketingziele
Ich möchte Patienten konkret über mein besonderes Behandlungsspektrum informieren 53,6 %
Ich möchte meine Patienten ganz allgemein informieren 40,4 %
Ich möchte neue Patienten hinzugewinnen 38,2 %
Ich habe das Gefühl, so etwas wird heute von den Patienten erwartet 28,9 %
Ich möchte Geld damit verdienen 27,7 %
Ich möchte mich von anderen Leistungsanbietern abgrenzen 25,2 %
Ich möchte auch den Kollegen meine Kompetenzen vermitteln 15,5 %
Ich habe keine konkreten Zielvorstellungen 12,5 %
Eigene Darstellung nach Stiftung Gesundheit (2015)

wie Jameda nutzten 2015 nur 21 % der befragten Ärzt:innen. Über 47 % schlossen eine
Online-Terminvereinbarung grundsätzlich aus. (Stiftung Gesundheit, 2015, S. 19). Das
Endfazit der Studie ist ernüchternd, nur jeder 10te Arzt befasste sich gezielt mit seinem
Praxismarketing. (Stiftung Gesundheit, 2015, S. 45).
Eine aktuell nicht veröffentlichte Untersuchung von Sekundärdaten einer großen
Krankenkasse zeigte, dass auch die Anzahl der Videosprechstunden über die Covid-19-
Pandemie zwar absolut anstieg, aber auf einem Niveau von 2,75/10,000 Behandlungen
irrelevant gering blieb. Zudem war nach der Hauptphase und dem ersten Lockdown der
Covid –19-Pandemie die Zahl der Videosprechstunden wieder rückläufig. (Kreuzenbeck
2021, eigene Auswertung) Die signifikante Abhängigkeit vom Alter bestätigt auch die
Untersuchung von Scherer et al., nach der eher jüngere Menschen die Videosprechstunde
in Anspruch nehmen. (Scherer et al., 2021).
Auch neuere Marketingkanäle wie Soziale Netzwerke werden gerade mal von 7 % der
niedergelassenen Ärzt:innen verwendet. (Berg, 2021) Es könnte argumentiert werden,
dass solche Angebote schlicht nicht zielgruppengerecht sind.

30.3.2 Unerwünschtes Fremdmarketing

Wo kein Bedarf der Niedergelassenen besteht, wird aber wohl ein Bedarf der
Patientinnen und Patienten sichtbar. Der niedergelassene Bereich ist ungewollt an zahl-
reiche Stellen im Internet vertreten. Hier wird in von den Ärzt:innen nicht forcierten
Webauftritten über Leistungsspektrum, Fachlichkeit und Zufriedenheit der Patienten
mit Ihrem Arzt informiert. 2007 hielten noch rund 20 % der Ärzt:innen solche Arzt-
bewertungsportale für unzulässig. (Stiftung Gesundheit, 2019, S. 7).
Gegen Jameda erreichte die Ärzteschaft 2018 vor dem BGH eine Stärkung ihrer
Rechte im Kampf gegen negative Behauptungen. Die freie Meinungsäußerung wurde
492 C. Kreuzenbeck und G. Schuster

damit aber nicht eingeschränkt, sondern nur klare rufschädigende oder beleidigende
Äußerungen. (Düsberg, 2019).
Gleichzeitig wird das Webportal auch ein wenig von ärztlicher Seite genutzt. Nur
1,58 % aller Ärzt:innen antworten, bzw. kommentieren Bewertungen. Obwohl die
Bewertungsanzahl mit über einer Million von 2010–2015 nicht unerheblich ist. (Emmert,
2017). Inzwischen stellt sich Jameda als größtes Portal für Arztempfehlungen mit nach
eigenen Angaben 6 Mio. Patienten dar, die jeden Monat über dieses Portal einen Arzt
suchen. (Jameda, 2020).
Eine Konkurrenz sind qualitätsgesicherte Portale, worüber primär die Versicherungen
ihre Arzt-Empfehlungen darstellen. Zu nennen ist hier auch der 2008 gegründete
Empfehlungspool der primär auf der Website arzt-auskunft.de zu finden ist. Bei einer
entsprechenden Auswertung der Portale aus dem Empfehlungspool kommt die Stiftung
Gesundheit auf eine Weiterempfehlung der Arztpraxen von 80,11 %. (Stiftung Gesund-
heit, 2019, S. 7) Im Vergleich zu den bekannten Portalen wie Jameda und Google ist die
Bewertungsanzahl auf arzt-auskunft.de allerdings verschwindend gering.
In einer aktuellen noch nicht veröffentlichten Auswertung der Internet-Bewertungen
von 383 gynäkologischen Praxen in München zeigt, dass bei Jameda 65 % dieser Arzt-
gruppe gerundet mit sehr gut bewertet werden und nur ca. ein Drittel vergab Noten von
1,5 und schlechter erhalten. Die Durchschnittsnote im Schulnotensystem bei Jameda
beträgt 1,47. Bei Google.de wurden die Ärzt:innen durchschnittlich mit 4,25 Sternen von
maximal 5 Sternen bewertet. Das Bewirtschaften eines Premiumaccounts bei Jameda
zeigte keine signifikante Verbesserung der Bewertung. (Kreuzenbeck, 2022, eigene Aus-
wertung).
Im Gegensatz zu Hotelbewertungsplattformen zeigt sich, dass die aktive Nutzung von
digitalen Arztbewertungen im Gesamtkonzept des Marketings der Arztpraxis trotz der
bundesweit hohen Bewertungszahlen eine untergeordnete Rolle spielen.

30.4 Hinderungsgründe

In diesem Abschnitt befassen wir uns damit, warum das Marketing gerade in Bezug auf
die digitalen Möglichkeiten im Bereich der niedergelassenen Ärzt:innen hinter anderen
Branchen zurückbleibt.

30.4.1 Fehlender Konkurrenzdruck

Grundsätzlich ist die Menge der vertragsärztlichen, niedergelassenen Ärzt:innen


beschränkt und diese haben ein Monopol auf die Behandlung gesetzlich versicherter
Patienten, die 90 % aller Patienten ausmachen. Dieser Fakt schmälert den Wettbewerbs-
druck merklich. (Wernitz & Pelz, 2015).
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 493

Abb. 30.1 Altersstruktur der Ärzt:innen in Krankenhaus und Niedergelassenenbereich

3,8 Ärzt:innen gibt es in Deutschland im Schnitt pro 1.000 Einwohner. 42 % aller


Ärzt:innen in Deutschland sind Fachärzt:innen, damit liegt Deutschland auf Platz 7 im
internationalen Vergleich der OECD. (Schölkopf & Pressel, 2015).
In einer Befragung durch die Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zeigt sich,
trotz vergleichsweise hoher Arztdichte, eine nicht unerhebliche Wartezeit auf Arzt-
termine im Allgemeinen. 15 % der gesetzlich Versicherten warten über 3 Wochen auf
einen Termin, 12 % zwischen 7 Tagen und 3 Wochen. Bei den Privatversicherten sind
es mit 12 %, die länger als 3 Wochen warten müssen, etwas weniger. Weitere 13 % der
Privatversicherten warten zwischen einer und drei Wochen auf einen Termin. (KBV,
2021) Das Terminservicegesetz hat hier versucht Abhilfe zu schaffen, indem die 20 h pro
Woche verbindliche Sprechstunde auf 25 h erhöht wurden. (Braun, 2020). Hieraus lässt
sich ableiten, dass die Notwendigkeit Marketing zu betreiben bei dem geringen Wett-
bewerbsdruck ebenfalls nachrangig ist.
Neben dem geringen Wettbewerbsdruck, lässt sich diese geringe Marketingaktivität
und die zurückhaltende Nutzung digitaler Medien zusätzlich anhand der Altersstruktur
der niedergelassenen Ärzt:innen erklären. In Abb. 30.1 werden die Ärzt:innen nach
ihrem Alter dargestellt. Hierbei zeigt sich, dass die jungen Ärzt:innen zunächst eher
im stationären Bereich verortet sind. (Bundesärztekammer, 2020) Dies macht vor dem
Hintergrund der Facharztausbildung Sinn.
Es zeigt sich daher, dass im niedergelassenen Bereich eher die älteren Ärzt:innen ver-
treten sind. 38 % aller niedergelassenen Ärzt:innen sind 60 Jahre oder älter, wohingegen
bei allen berufstätigen Ärzt:innen diese Gruppe nur knapp 21 % ausmacht. (Bundes-
ärztekammer, 2020) Hinzu kommt, dass die Gruppe der niedergelassenen Ärzt:innen
der Digitalisierung in der Medizin eher skeptisch gegenübersteht. Nur 53 % der nieder-
494 C. Kreuzenbeck und G. Schuster

Tab. 30.2  Nutzung von Männer Frauen


telemedizinischen Geräten Alter Ländlich Städtisch Ländlich Städtisch
18–29 76,2 82,4 89,7 90,4
30–39 90,6 82.9 72,1 80,5
40–49 92,1 88,0 82,3 82,9
50–59 86,7 87,3 78,3 79,8
60–69 70,0 85,1 72,7 72,7
70 + 66,7 69,5 62,1 53,5
Gesamt 82,1 83,4 76,9 77,4
Eigene Darstellung nach Terschüren et al., (2012)

gelassenen Ärzt:innen sehen in der Digitalisierung eine Chance im Vergleich zu 86 %


der Klinik-Ärzt:innen. Diese Ergebnisse beziehen sich auch vor allem auf die Alters-
struktur, da nur 55 % der 45-jährigen und älteren Ärzt:innen die Digitalisierung als
Chance sehen, im Vergleich zu 88 % bei den 25–44-jährigen, die, wie gezeigt primär
im stationären Sektor beschäftigt sind. 39 % der niedergelassenen Ärzt:innen sehen die
Digitalisierung sogar eher als Risiko. (Berg, 2021).

30.4.2 Die Zielgruppe

Die Inanspruchnahme ambulanter ärztlicher Leistungen steigt mit zunehmendem


Alter, vor allem im Bereich der 65-Jährigen und Älteren an. (Prütz & Rommel, 2022)
Die Bevölkerung entwickelt sich entsprechend in diese Richtung. Von 18,96 %
65–84-Jährigen und 3,01 % 85-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung im
Jahr 2020 entwickeln sich diese Gruppen bis 2040 auf 23,6 % und 4,61 %. (Destatis,
2021a) Die gesellschaftlichen Krankheitskosten liegen bei diesen Gruppen bei
8300 € und 19.500 € pro Kopf. Im Vergleich hierzu sind die Krankheitskosten bei den
45–64-Jährigen mit 3700 € deutlich geringer. Ohne die Inflation zu berücksichtigen,
verursachten die 65-Jährigen und Älteren 2015 noch 168 Mrd. Euro an Krankheits-
kosten und werden 2040 für rund 235 Mrd. € an Krankheitskosten verantwortlich sein.
(Destatis, 2021b) Bei einer Studie der Bertelsmannstiftung zur Bereitschaft, die Corona-
Warn-App zu nutzen, zeigt sich gerade bei der Altersgruppe 60 + eine eher geringe
Bereitschaft von nur ca. 34 % im Vergleich zu den anderen Altersgruppen (41–60 %).
(Etgeton & Schwenk, 2021).
Die Nutzung telemedizinischer Möglichkeiten, wie z. B. des Telemonitorings variiert
ebenfalls zwischen den Geschlechtern und den Altersgruppen auf dem Land und in der
Stadt, wie Tab. 30.2 zeigt. (Terschüren et al., 2012).
Gerade die älteren Bevölkerungsgruppen, die größte Zielgruppe der niedergelassenen
Ärzt:innen, die mutmaßlich am meisten von solchen Technologien profitieren würden,
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 495

scheinen demnach die geringste Bereitschaft zu haben, sie zu nutzen. Frauen hatten
grundsätzlich eine geringeren Nutzungswunsch solcher Geräte als Männer. Einen signi-
fikanten Unterschied bei ländlichen und städtischen Patienten scheint es nicht zu geben.

30.4.3 Gesetzliche Einschränkungen

Erschwerend hinzu kommt, dass Werbung durch die (Muster-)Berufsordnung der


Ärzt:innen eingeschränkt ist. Verboten sind im speziellen anpreisende Werbung, irre-
führende Werbung und vergleichende Werbung. Verboten ist es zudem

• Werbegeschenke wie Kugelschreiber, Kalender, Aufkleber außerhalb der Praxis zu


verteilen,
• Hinweise zu Tätigkeiten bei anderen Leistungserbringern z. B. Beratung von Apo-
theken oder Pharmaherstellern und
• Werbung als eigene Zeitungsbeilage.

Bezieht sich die Werbung nicht auf den Arzt selbst, sondern auf entsprechende
medizinische Verfahren, gilt zudem das Heilmittelwerbegesetz mit seinen Ein-
schränkungen. (Bundesärztekammer, 2021).
Das heißt, die erlaubte Werbung bezieht sich maßgeblich auf die Information der
Patienten.

30.5 Fazit

Abschließend zeigt sich aktuell eine Minimalstrategie vieler Ärzt:innen beim Marketing.
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung im niedergelassenen Bereich scheint
ebenso aktuell nur ein geringes Potenzial für Marketing vorzuliegen, und auch weniger
in digitaler Form. Die Auslastung der Arztpraxen wird in den nächsten Jahren weiter
zunehmen und gezieltes Marketing eher im Kontext der Privat- oder Zusatzversicherten
relevant werden, bzw. in Sonderbereichen wie z. B. plastischer Chirurgie. Gleichzeitig ist
der Verzicht auf eine starke Digitalisierungsstrategie mitunter auch von den Ärzt:innen,
die bald ihre Praxis abgeben wollen, zu kurz gedacht. Denn in der Nachfolge der Praxis
und in dem wachsenden Digitalisierungsgrad aller Bevölkerungsgruppen kann sich die
Digitalisierung der Praxis als Wettbewerbsvorteil für die Suche eines Nachfolgers deut-
lich bemerkbar machen. Gerade in Bezug auf Praxen in ländlichen Gebieten, deren
Attraktivität von Technologien wie der Videosprechstunde deutlich profitieren könnten.
Langfristig ist ohnehin auch in der niedergelassenen Struktur und deren Ziel-
gruppe eine Verjüngung zu erwarten, die wie gezeigt mit einer anderen Einstellung zur
Digitalisierung einhergeht und damit zumindest im Bereich der Serviceangebote und der
Kommunikation über die eigene Homepage hinaus Potenzial bietet. Bis dahin wird die
496 C. Kreuzenbeck und G. Schuster

Digitalisierung durch staatliche Eingriffe, wie bei den Strukturen der Telematikinfra-
struktur, per Gesetz angeschoben. Besonders spannend könnte es sein, ausgerechnet die
Marketingaktivitäten zu identifizieren, die sich trotz der ungünstigen Bedingungen im
Niedergelassenenbereich bislang durchsetzen.
Auch lohnt sich ein Blick in die Fachbereiche, die über Zusatzentgelte oder private
Abrechnung über die Regelvergütung hinaus Leistungen anbieten. Viele Zahnärzt:innen,
plastische Chirurg:innen oder Privatpraxen haben aktuell vermehrt in die digitale Trans-
formation investiert.
Trotz der hohen grundsätzlichen Bedeutung von Mund-zu-Mund-Propaganda in
dem niedergelassenen Bereich ist die digitale Variante, obwohl von den Patienten
häufig genutzt, bislang kein integraler Bestandteil des Marketingkonzeptes von Arzt-
praxen. Kombinieren die Bewertungsplattformen allerdings ihre Angebote mit digitalen
Angeboten wie der direkten Terminbuchung beim gewünschten Arzt, könnten sich hier
langfristig die Zuweisungsstrukturen und die Patientenautonomität maßgeblich ver-
ändern.

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Prof. Dr. Cordula Kreuzenbeck, Professorin für Gesundheitsökonomie an der IU Internationale


Hochschule in Essen seit 2020. Sie verfügt über zehn Jahre Erfahrungen im Krankenhaus - –
zuletzt in leitender Funktion - – und arbeitete in der Versorgungsforschung am Lehrstuhl für
Medizinmanagement in Essen. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsöko-
nomie sowie assoziiertes Mitglied im Verein Digital Health Germany und darüber hinaus in viele
digitale Projekte im Gesundheitswesen eingebunden.

Prof. Dr. Gabriele Schuster, Professorin und Fachgebietsleitung für Marketing-Management an


der IU Internationale Hochschule in Hamburg, ist seit mehr als 23 Jahren in der dualen Lehre tätig.
Außerdem hatte sie Fach- und Führungsfunktionen in verschiedenen Branchen inne. In ihrer Arbeit
als selbstständige Beraterin begleitet sie zahlreiche Projekte und Veränderungsprozesse und unter-
stützt Führungskräfte und Mitarbeiter durch Coaching, Workshops und Seminare.
Die DS-GVO im Lichte des digitalen
Marketings 31
Eva Ghazari-Arndt

Zusammenfassung

Mit dem Bereich Digitales Marketing, worunter beispielsweise Social-Media-


Marketing, E-Mail-Marketing, Online-PR, Pay-per-Click oder Suchmaschinen-
optimierung fallen, gehen auch immer eine Vielzahl an Datenerhebungen und
-sammlungen einher. Diese oft personenbezogenen Daten unterliegen jedoch daten-
schutzrechtlichen Bestimmungen. Vor allem seit Mai 2018 (die DS-GVO gilt seit
dem 25. Mai 2018, vgl. Art. 99 Abs. 2 DS-GVO) gilt die Datenschutz-Grundver-
ordnung (DS-GVO) -(Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Ver-
arbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung
der Richtlinie 95/46/EG, ABl. EU L 119/1 v. 04.05.2016) -, die als Verordnung (VO)
der Europäischen Union (EU) konkrete Bestimmungen zur Verarbeitung personen-
bezogener Daten beinhaltet. Die DS-GVO hat zum Ziel, den Schutz personen-
bezogener Daten innerhalb der EU sicherzustellen und diesen zu vereinheitlichen,
aber auch den freien Datenverkehr innerhalb des Europäischen Binnenmarktes zu
gewährleisten. Damit soll die Verordnung auch zeitgemäße Antworten auf die voran-
schreitende Digitalisierung der Wirtschaft und Gesellschaft geben. Hierbei enthält sie
Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten von natürlichen Personen, richtet
sich im Übrigen jedoch an all diejenigen, die in der Lage sind, personenbezogene
Daten zu verarbeiten. Insofern sind beispielsweise Unternehmen, die Digitales
Marketing betreiben und z. B. auf Grundlage des Surfverhaltens von Internetnutzern

E. Ghazari-Arndt (*)
IU Internationale Hochschule, Marburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 499
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_31
500 E. Ghazari-Arndt

personenbezogene Daten sammeln, an die Vorschriften der DS-GVO gebunden. Der


vorliegende Beitrag möchte daher einen zusammenfassenden Überblick über diese
europäische Verordnung geben, die rechtliche Bedeutung der DS-GVO im Digital
Marketing besprechen und die Besonderheiten hervorheben.

31.1 Bedeutung und Grundlagen des Datenschutzrechts

Aus dem ersten Erwägungsgrund der DS-GVO geht bereits hervor, dass der Schutz
natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ein Grundrecht ist.
Gem. Art. 8 der EU-Grundrechtecharta1 sowie Art. 16 Abs. 1 AEUV2 hat jede Person das
Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. Insofern hat das Daten-
schutzrecht im digitalen Zeitalter, wo es insbesondere die Technik ist, die es ermöglicht,
dass Behörden und private Unternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten in einem noch nie
dagewesenen Umfang auf personenbezogene Daten zurückgreifen und diese zu nutzen,3
an Bedeutung gewonnen. Tendenziell wird die rasche technologische Entwicklung auch
weiterhin dafür sorgen, dass der Verkehr personenbezogener Daten innerhalb der Union,
aber auch die Datenübermittlung weiter ansteigen.4 In Bewusstsein dieses Fortschritts
und dem Ziel der Förderung eines funktionierenden Binnenmarktes soll der Anstieg des
grenzüberschreitenden Verkehrs personenbezogener Daten einem hohen Datenschutz-
niveau begegnen, wo sowohl natürliche Personen, als auch die Wirtschaft und der Staat
in rechtlicher und praktischer Hinsicht über mehr (Rechts-)Sicherheit verfügen.5 Die
DS-GVO, die als VO (EU) 2016/679 vom 27.04.2016 verabschiedet wurde, soll dieses
Schutzniveau erreichen und das Datenschutzrecht in der EU vereinheitlichen. Denn die
Datenschutzrichtlinie (Richtlinie 95/46/EG)6, die vor dem DS-GVO in diesem Bereich
galt und mit Wirkung vom 25.05.2018 aufgehoben wurde (vgl. Art. 94 Abs. 1 DS-GVO),
konnte die Vereinheitlichung nicht hinreichend realisieren, weil damit nicht verhindert
werden konnte, dass der Datenschutz in der EU unterschiedlich gehandhabt wurde.7 Dies
lag vor allem in der Natur des Rechtsakts, da eine europäische Richtlinie gem. Art. 288
Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, nur hinsichtlich des zu
erreichenden Ziels verbindlich ist. Eine Verordnung hingegen hat nach Art. 288 Abs. 2

1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. EU C 326/391 v. 26.10.2012.


2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU L 112/21 v. 24.04.2012.
3 Erwägungsgrund Nr. 6 der DS-GVO.

4 ebd.

5 Erwägungsgrund Nr. 6 und 7 der DS-GVO.

6 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Daten-
verkehr, ABl. EG L 281/31 v. 23.11.95.
7 Erwägungsgrund Nr. 9 der DS-GVO.
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 501

AEUV allgemeine Geltung und ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar
in jedem Mitgliedstaat.
Diesem Grundsatz folgend, wird auch das Verhältnis der DS-GVO zum deutschen
Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)8 deutlich, wonach gem. § 1 Abs. 5 BDSG die Vor-
schriften des nationalen Gesetzes keine Anwendung finden, soweit das Recht der EU
unmittelbar gilt. Diese Regelung entspricht dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs
des EU-Rechts und hat damit eine deklaratorische Wirkung. Besonders für die DS-GVO
ist es jedoch, dass sie in Form einer sog. „Grundverordnung“ als Hybrid zwischen einer
Richtlinie und einer Verordnung gesehen wird, die im Vergleich zu einer herkömmlichen
Verordnung nicht zwangsläufig gewährleistet, dass die durch sie getroffenen Regelungen
einen Sachverhalt auch abschließend decken.9 Die DS-GVO enthält damit mehr als 70
sog. Öffnungsklauseln, die es den Mitgliedstaaten erlauben, die Bestimmungen dieser
Verordnung auszugestalten, d. h. die mitunter sehr komplexen Regelungen der DS-GVO
zu konkretisieren und an ihren nationalen datenschutzrechtlichen Traditionen festzu-
halten.10 Im Allgemeinen orientieren sich datenschutzrechtliche Fragen jedoch mit
Inkrafttreten der DS-GVO nach diesem europäischen Rechtsakt.

31.2 Anwendungsbereich der DS-GVO

Die Frage, wann die DS-GVO Anwendung findet, lässt sich anhand des sachlichen und
des räumlichen Anwendungsbereichs beantworten.

31.2.1 Sachlicher Anwendungsbereich

Der sachliche Anwendungsbereich der DS-GVO ist gem. Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2
Abs. 1 DS-GVO bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten natürlicher Personen
eröffnet, unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder des Aufenthalts- bzw. Wohn-
ortes der natürlichen Person.11 Sie gilt hingegen nicht für die Verarbeitung von Daten
juristischer Personen (z. B. von Gesellschaften wie etwa einer GmbH oder AG).12 Die
Verordnung richtet sich jedoch an all diejenigen, obgleich juristische oder natürliche

8 Bundesdatenschutzgesetz vom 30. Juni 2017 (BGBl. I S. 2097), das durch Artikel 10 des Grund-

gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858) geändert worden ist.
9 Guys/Eichenhofer in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, § 1 Rn. 32.

10 ebd.

11 Erwägungsgrund Nr. 14 der DS-GVO.

12 ebd.
502 E. Ghazari-Arndt

Personen, die in der Lage sind, personenbezogene Daten zu verarbeiten.13 Der Begriff
der „Verarbeitung“ wird dabei in Art. 4 Nr. 2 DS-GVO definiert.

u „Verarbeitung“ meint „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren aus-
geführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personen-
bezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die
Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Ver-
wendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der
Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen
oder die Vernichtung“.

Hinsichtlich der Datenverarbeitung gilt nach Art. 2 Abs. 1 DS-GVO, dass die Ver-
arbeitung entweder ganz oder teilweise automatisiert bzw. nichtautomatisiert sein
muss. Der Begriff der Automatisierung ist dabei weit zu verstehen. Automatisierte Ver-
arbeitungen sind daher solche, die automatisierte Mittel verwenden, d. h. „sämtliche
heute gebräuchlichen rechnergestützten Verarbeitungen personenbezogener Daten“,14
bzw. „alle Verfahren, bei denen ein Datenverarbeitungsvorgang anhand eines vor-
gegebenen Programms ohne weiteres menschliches Zutun selbständig erledigt wird“.15
Dabei ist die Digitalisierung der verarbeiteten Daten eine hinreichende, aber keine not-
wendige Bedingung der Automatisierung.16

Beispiel

Die Erstellung und Instandhaltung eines Kundenprofils mittels Künstlicher Intelligenz


(KI) geschieht regelmäßig durch Sammlung und Auswertung, also durch Ver-
arbeitung von größeren Mengen an personenbezogenen Daten.17 Wird nun mittels
KI-basierter Verfahren und unter Berücksichtigung von vorhandenen Kundendaten
bzw. Persönlichkeitsprofilen Werbung im Internet ausgespielt oder personalisierte
Produktempfehlungen werden ausgesprochen, kommt es zu einem automatisierten
Zusammenspiel von Cookies und Algorithmen, welches einen Personenbezug
beinhaltet und daher den Anwendungsbereich der DS-GVO eröffnen lässt.18 ◄

13 vgl. in etwa Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 5 Rn. 1; vgl. dazu auch die
Definition des Verantwortlichen i. S. d. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO.
14 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 2 Rn. 3.

15 Bäcker in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 2 Rn. 2.

16 ebd.

17 Grausling, Künstliche Intelligenz im digitalen Marketing, ZD 2019, 335 (337).

18 Grausling, Künstliche Intelligenz im digitalen Marketing, ZD 2019, 335 (338).


31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 503

Auch die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten in einem Datei-


system wird vom sachlichen Anwendungsbereich der DS-GVO umfasst. Dabei definiert
die DS-GVO den Begriff des Dateisystems in Art. 4 Nr. 6 wie folgt:

u Dateisystem meint „jede strukturierte Sammlung personenbezogener Daten, die nach


bestimmten Kriterien zugänglich sind, unabhängig davon, ob diese Sammlung zentral,
dezentral oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet geführt
wird“.

Demnach erfasst die DS-GVO praktisch alle geordneten manuellen Datensammlungen,19


wie etwa Daten in Akten oder Aktensammlungen, die nach Aktenzeichen geordnet
sind.20
Auch den Begriff der „personenbezogenen Daten“ definiert die DS-GVO in Art. 4 Nr.
1 wie folgt:

u Personenbezogene Daten meint alle Informationen, die sich auf eine identifizierte
oder identifizierbare natürliche Person beziehen.

Dabei ist jede lebende Person eine natürliche Person im Sinne der DS-GVO, die in der
Verordnung als „betroffene Person“ bezeichnet wird. Die personenbezogenen Daten
Verstorbener fallen hingegen nicht darunter; die Mitgliedstaaten können jedoch Vor-
schriften für die Verarbeitung personenbezogener Daten Verstorbener gesondert vor-
sehen.21 Zudem wird durch eine weite Auslegung des Begriffs „natürliche Person“ in
der Literatur davon ausgegangen, dass der Datenschutz auch bereits beim Nasciturus
ansetzt.22

u Als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die gem. Art. 4 Nr. 1 DS-
GVO „direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie
einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder
zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physio-
logischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität
dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann“.

19 Bäcker in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 2 Rn. 4.


20 Schild in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 4 Rn. 83.
21 Erwägungsgrund Nr. 27 der DS-GVO.

22 vgl. Borges in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht, Art. 4 Rn. 5.


504 E. Ghazari-Arndt

Insofern werden auch die einer Pseudonymisierung23 unterzogenen personenbezogenen


Daten, die durch Heranziehung zusätzlicher Informationen einer natürlichen Person
zugeordnet werden könnten, gem. dem Erwägungsgrund Nr. 26 der DS-GVO als
Informationen über eine identifizierbare natürliche Person betrachtet, da es sich schluss-
endlich um eine andere Form der Speicherung handelt und dem Verantwortlichen auch
weiterhin der vollständige Informationsgehalt der Daten zur Verfügung steht, weil der
individuelle Bezug jedes Informationselementes ohne größeren Aufwand wieder her-
gestellt werden kann.24
Eine echte Anonymisierung von personenbezogenen Daten ergibt sich deshalb
nur aus einer Veränderung der Daten in einer solchen Weise, dass die Identifizierbar-
keit der betroffenen Person nicht mehr gegeben ist.25 Allerdings wird der Begriff der
Anonymisierung in der DS-GVO nicht legaldefiniert.26 Die DS-GVO gibt auch keine
Verfahren zur Anonymisierung vor, sodass die oder der Verantwortliche die in der Ver-
ordnung niedergelegten Kriterien selbst überprüfen muss, wenn sie oder er Daten als
nicht personenbezogen behandeln möchte.27 Die Anforderungen an eine Anonymisierung
sind jedoch hoch:

Beispiel

Die bloße Entfernung von Identifikationsmerkmalen wie etwa Name oder Personal-
nummer genügt beispielsweise nicht.28 Ausreichend wäre aber zum Beispiel, dass der
Personenbezug derart aufgehoben wird, dass auch eine Re-Identifizierung praktisch
unmöglich wird, weil der Personenbezug nur mit einem unverhältnismäßigen Auf-
wand an Zeit und Kosten wiederhergestellt werden kann.29 ◄

Bei der Anonymisierung handelt es sich demnach um ein Mehr zu der


Pseudonymisierung und führt letztendlich dazu, dass der sachliche Anwendungsbereich
der DS-GVO nicht eröffnet ist, weil der Personenbezug fehlt.30

23 „Pseudonymisierung“ meint „die Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, dass die

personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezi-
fischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen
gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die
gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren
natürlichen Person zugewiesen werden“, vgl. Art. 4 Nr. 5 DS-GVO.
24 Klabunde in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 4 Rn. 19.

25 Klabunde in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 4 Rn. 20.

26 vgl. jedoch Erwägungsgrund Nr. 26 der DS-GVO.

27 Klabunde in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 4 Rn. 20.

28 Conrad/Treeger in: Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 34 Rn. 107.

29 Schild in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 4 Rn. 15a.

30 Caldarola/Schrey, Big Data und Recht, Rn. 275.


31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 505

31.2.2 Räumlicher Anwendungsbereich

Der räumliche Anwendungsbereich der DS-GVO wird durch Art. 3 DS-GVO bestimmt.
Ganz allgemein muss die Datenverarbeitung im Sinne der Verordnung einen hin-
reichenden Unionsbezug aufweisen, um dem Schutzbereich der DS-GVO zu unter-
fallen.31 Insofern ist die DS-GVO nach dem sog. Sitzlandprinzip gem. Art. 3 Abs. 1
DS-GVO anwendbar, soweit diese Verarbeitung im Rahmen der Tätigkeiten einer
Niederlassung einer oder eines Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiterin bzw. Auf-
tragsverarbeiters in der Union erfolgt, unabhängig davon, ob die Verarbeitung in der
Union stattfindet oder außerhalb der Union.32 Demzufolge stellt die DS-GVO bei der
Frage ihrer Anwendbarkeit weder auf den Ort der Verarbeitung noch auf den Ort der
personenbezogenen Daten ab; allein das Vorhandensein einer EU-Niederlassung, in
deren Rahmen die Datenverarbeitung erfolgt, ist ausschlaggebend für die Anwendbar-
keit.33
Neu ist hingegen die Einführung des sog. Marktortprinzips, wonach die Grund-
verordnung gem. Art. 3 Abs. 2 DS-GVO anwendbar ist, wenn ein:e nicht EU-
Niedergelassene:r personenbezogene Daten von in der EU befindlichen betroffenen
Personen verarbeitet, um diesen Personen Waren oder Dienstleistungen anzubieten oder
deren Verhalten zu beobachten.34 Dabei kommt es auf den tatsächlichen Ort der Daten-
verarbeitung (z. B. den Ort der Server) nicht an.35 Die DS-GVO soll schlicht immer
auch dann gelten, wenn Unternehmen mit Sitz in einem Drittland Waren oder Dienst-
leistungen in der EU anbieten oder das Verhalten von Privatpersonen in der EU ver-
folgen.36
Der Wille des europäischen Gesetzgebers ist es zum einen, einen umfassenden Schutz
der Rechte von natürlichen Personen, die sich in der Union befinden, zu gewährleisten,37
aber auch Wettbewerbsbedingungen für EU- und Nicht-EU-Unternehmen zu schaffen,
um Wettbewerbsverzerrungen zwischen EU- und Drittstaatsunternehmen, die aber in der
EU tätig sind oder Verbraucher in der EU als Zielgruppen haben, zu vermeiden.38
Die DS-GVO findet gem. Art. 3 Abs. 3 DSGVO ferner auch dann Anwendung, wenn
nach den Regelungen des Völkerrechts das Recht eines Mitgliedstaates anwendbar ist,
auch wenn der oder die Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter:in in einem Drittstaat

31 Hanloser in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 3 Rn. 1.


32 Piltz in: Gola, DS-GVO, Art. 3 Rn. 7; Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 3 Rn. 12.
33 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 3 Rn. 12.

34 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 3 Rn. 13; Borges in: Borges/Hilber, BeckOK IT-

Recht, Art. 3 Rn. 71.


35 Piltz in: Gola, DS-GVO, Art. 3 Rn. 2.

36 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 3 Rn. 2.

37 Erwägungsgrund Nr. 23 der DS-GVO.

38 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 3 Rn. 2.


506 E. Ghazari-Arndt

Treu und
Glauben

Rechen-
Trans-
schas-
parenz
pflicht

Integrität
und DS-GVO Zweck-
Vertrau- Grundsätze bindung
lichkeit

Speicher- Daten-
begren- mini-
zung mierung

Daten-
richgkeit

Abb. 31.1 DS-GVO Grundsätze, Eigene Abbildung

sitzt.39 Von diesen Vorgaben sind gem. dem Erwägungsgrund Nr. 25 der Verordnung ins-
besondere diplomatische und konsularische Vertretungen von Mitgliedstaaten im Aus-
land betroffen.40

31.3 Grundsätze der Verarbeitung personenbezogener Daten

In Art. 5 DS-GVO sind die Grundsätze (Abb. 31.1) für die Verarbeitung personen-
bezogener Daten geregelt, die Grundbedingung für jede Datenverarbeitung darstellen.41

39 Piltz in: Gola, DS-GVO, Art. 3 Rn. 37.


40 ebd.

41 Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 5 Rn. 1.


31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 507

Grundsatz von Treu und Glauben sowie Transparenzgrundsatz


Nach Art. 5 Abs. 1 lit. a) DS-GVO müssen personenbezogene Daten rechtmäßig, d. h.
mit Einwilligung der betroffenen Person oder basierend auf einer Rechtsgrundlage ver-
arbeitet werden.42 Die Beachtung des Grundsatzes von Treu und Glauben wie auch
des Transparenzgrundsatzes ist dabei besonders wichtig. Es geht zum einen um die
Gewährleistung einer fairen bzw. gerechten Verarbeitung,43 aber auch darum, „dass alle
Informationen und Mitteilungen zur Verarbeitung dieser personenbezogenen Daten leicht
zugänglich und verständlich und in klarer und einfacher Sprache abgefasst sind“.44

Beispiel

Der Einsatz und die Verwendung verborgener Techniken wie etwa einer Spyware
dürfte bei der Verarbeitung personenbezogener Daten diesen Grundsätzen wider-
sprechen.45 ◄

Zweckbindungsprinzip
Auch das Erfordernis, dass die personenbezogenen Daten nur für festgelegte Zwecke
erhoben werden dürften, stellt einen Grundsatz im Rahmen der Verarbeitung dar. Dem-
entsprechend müssen personenbezogene Daten gem. Art. 5 Abs. 1 lit. b) DS-GVO „für
festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer
mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden“. Dieses
Zweckbindungsprinzip stellt im Datenschutzrecht einen zentralen Grundsatz dar,46 weil
sich danach z. B. die Erforderlichkeit der Verarbeitung, die Rechtsgrundlagen sowie die
Informationspflichten ausrichten.47

Datenminimierungsgrundsatz
An dem Zweckbindungsprinzip anknüpfend müssen gem. Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS-GVO
personenbezogene Daten „dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die
Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein“. Der nunmehr damit auch
angesprochene Grundsatz der Datenminimierung führt zu einer weiteren Eingrenzung
des Datenverarbeitungsvorgangs, weil die Datenverarbeitung auf das absolute Minimum

42 Erwägungsgrund Nr. 40 der DS-GVO.


43 Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 5 Rn. 9; Steinrötter in: Borges/Hilber, BeckOK
IT-Recht, Art. 5 Rn. 8.
44 Erwägungsgrund Nr. 39 DS-GVO.

45 Pötters in: Gola, DS-GVO, Art. 5 Rn. 9.

46 Steinrötter in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht, Art. 5 Rn. 15.

47 Schantz in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 5. Rn. 13.


508 E. Ghazari-Arndt

beschränkt wird und zudem das grundsätzliche Verbot der Vorratsdatenspeicherung


impliziert.48

Grundsatz der Datenrichtigkeit


Um dem Grundsatz der Datenrichtigkeit in Art. 5 Abs. 1 lit. d) DS-GVO zu entsprechen,
müssen personenbezogene Daten zudem „sachlich richtig und erforderlichenfalls auf
dem neuesten Stand sein“. Richtigkeit meint dabei „die Übereinstimmung der in den
Daten enthaltenen Informationen mit der Realität“.49 Der Grundsatz der Richtigkeit der
Datenverarbeitung dürfte vor allem für die betroffene Person von besonderer Bedeutung
sein, da diese Daten die Basis des Bildes, das sich andere über die betroffene Person
machen, bilden.50 Jedenfalls gewinnt der Grundsatz der Richtigkeit vor allem im
Rahmen des Profilings51 eine immer größere Bedeutung.52

Grundsatz der Speicherbegrenzung


Personenbezogene Daten müssen zudem gem. Art. 5 Abs. 1 lit. e) DS-GVO „in einer
Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen nur so lange
ermöglicht, wie es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist“. Der
Grundsatz der Speicherbegrenzung konkretisiert also den Datenminimierungsgrundsatz
in zeitlicher Hinsicht und stellt sicher,53 „dass die Speicherfrist für personenbezogene
Daten auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß beschränkt bleibt“.54 Um dies sicher-
zustellen, sollte der oder die Verantwortliche55 gem. Erwägungsgrund Nr. 39 der DS-
GVO Fristen für ihre Löschung oder regelmäßige Überprüfung vorsehen.

Grundsatz der Integrität und Vertraulichkeit


Der in Art. 5 Abs. 1 lit. f) DS-GVO normierte Grundsatz der Integrität und Vertraulich-
keit ist im Vergleich zu der Datenschutzrichtlinie neu in die Verordnung aufgenommen

48 Steinrötter in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht, Art. 5 Rn. 28.


49 Steinrötter in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht, Art. 5 Rn. 34.
50 Schantz in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 5. Rn. 27.

51 Nach Art. 4 Nr. 4 DS-GVO bedeutet Profiling „jede Art der automatisierten Verarbeitung

personenbezogener Daten, die darin besteht, dass diese personenbezogenen Daten verwendet
werden, um bestimmte persönliche Aspekte, die sich auf eine natürliche Person beziehen, zu
bewerten, insbesondere um Aspekte bezüglich Arbeitsleistung, wirtschaftliche Lage, Gesundheit,
persönliche Vorlieben, Interessen, Zuverlässigkeit, Verhalten, Aufenthaltsort oder Ortswechsel
dieser natürlichen Person zu analysieren oder vorherzusagen“.
52 Schantz in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 5. Rn. 27.

53 Steinrötter in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht, Art. 5 Rn. 36.

54 Erwägungsgrund Nr. 39 der DS-GVO.

55 „Verantwortlicher“ i. S. d. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO ist „die natürliche oder juristische Person,

Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke
und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet […]“.
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 509

worden und besagt, dass personenbezogene Daten in einer Weise verarbeitet werden
müssen, die eine angemessene Sicherheit der Daten gewährleistet.56 Dazu gehört bei-
spielsweise auch, „dass Unbefugte keinen Zugang zu den Daten haben und weder die
Daten noch die Geräte, mit denen diese verarbeitet werden, benutzen können“.57

Rechenschaftspflicht
In Art. 5 Abs. 2 DS-GVO wird schließlich noch die Rechenschaftspflicht geregelt,
die besagt, dass der oder die Verantwortliche für die Einhaltung der vorgenannten
Grundsätze verantwortlich ist und deren Einhaltung nachweisen muss. Art. 24 DS-
GVO konkretisiert diese Verantwortung und besagt, dass es in erster Linie „geeignete
technische und organisatorische Maßnahmen“ sind, durch die sichergestellt werden soll,
dass die Verarbeitung gemäß den Vorgaben der DS-GVO erfolgt.58

Grundsätze der DS-GVO und Digital Marketing: Konfliktpunkte

All diese Grundsätze der DS-GVO vorangestellt, werden die Konfliktpunkte, die
bei der Anwendung der DS-GVO im Bereich Digital Marketing entstehen, deut-
lich. Auf der einen Seite bieten riesige Datenmengen (Stichwort: Big Data) gute
Möglichkeiten, um positiv Einfluss auf das Digitale Marketing zu nehmen, z. B.
durch intelligente Analysen und die Zusammenführung von Datenmassen der Inter-
netuser, auf der anderen Seite stehen die Grundsätze der DS-GVO, wie etwa der
Grundsatz der Datenminimierung und das Zweckbindungsprinzip, die dem Ganzen
schnell Grenzen setzen.59 Auch ist im Bereich Digital Marketing für die Nutzer von
Social Media beispielsweise nicht immer eindeutig ersichtlich, für welche einzelne
Marketingstrategien, auf Grundlage welcher Kooperationen und für wie lange die
erhobenen Daten im Ergebnis genutzt bzw. gespeichert werden sollen.60 Damit
könnten Handlungen in diesem Bereich sowohl dem Zweckbindungsprinzip als
auch dem Grundsatz der Speicherbegrenzung widersprechen.61 Insofern ist es für
den Einzelfall unumgänglich, die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von personen-
bezogenen Daten genau zu prüfen. ◄

56 Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 5 Rn. 28.


57 Erwägungsgrund Nr. 39 der DS-GVO.
58 Pötters in: Gola, DS-GVO, Art. 5 Rn. 31.

59 vgl. auch Hoffmann/Schmidt, Facebook-Profiling zu Marketingzwecken – datenschutzkonform?,

GRUR 2021, 679 (679).


60 Hoffmann/Schmidt, Facebook-Profiling zu Marketingzwecken – datenschutzkonform?, GRUR

2021, 679 (680).


61 ebd.
510 E. Ghazari-Arndt

31.4 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine
der in Art. 6 Abs. 1 lit. a) bis f) DS-GVO genannten Bedingungen erfüllt ist. Damit ist
Art. 6 DS-GVO die zentrale Vorschrift in diesem Bereich und statuiert in Abs. 1 lit. a),
dass die Verarbeitung rechtmäßig ist, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung zur
Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere
bestimmte Zwecke gegeben hat. Über diesen Verwendungszweck muss die betroffene
Person gem. Erwägungsgrund Nr. 42 der DS-GVO entweder vorher oder bei der Ein-
holung der Einwilligung i. S. d. Art. 13 ff. DS-GVO informiert werden.62 Zudem
enthalten Art. 7 und 8 DS-GVO weitere Bestimmungen und Bedingungen für die Ein-
willigung, sodass aufgrund der gestiegenen Anforderungen an die Wirksamkeit der Ein-
willigung vermehrt empfohlen wird, die Verarbeitung personenbezogener Daten für
Werbezwecke auf berechtigte Interessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO zu
stützen.63 Danach ist die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, sofern die
Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des oder der Verantwortlichen
oder einer oder eines Dritten erforderlich ist und nicht die Interessen oder Grundrecht
und Grundfreiheiten der betroffenen Person überwiegen. Ob ein berechtigtes Interesse
vorliegt, ist auf Grundlage der Zweckbestimmung zu bestimmen, wonach rechtliche,
wirtschaftliche oder ideelle Interessen in Betracht kommen könnten.64 Die Norm enthält
damit die zentrale Interessenabwägungsklausel der DS-GVO und rechtfertigt die Daten-
verarbeitung im Wege einer Interessenabwägung zwischen dem oder der Verantwort-
lichen und dem oder der Betroffenen.65

Beispiel

Erfolgt nutzungsbasierte Werbung auf Grundlage von Auswertungen des Online-


Nutzungsverhalten von betroffenen Personen (Online Behavioural Targetings), richtet
sich die Zulässigkeit dieser Werbemaßnahmen nach Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO,
wenn und soweit man hierfür nicht eine Einwilligung fordert.66 In die Interessen-
abwägung sind sodann sämtliche Umstände des Einzelfalles einzubeziehen, wie etwa
die genutzten Datenarten, das Belästigungspotenzial, die Eingriffstiefe, die Aus-
gestaltung der Informationen (vgl. dazu Art. 13 und 14 DS-GVO) sowie die Berück-

62 Schulz in: Gola, DS-GVO, Art. 6 Rn. 2.


63 Remmertz, DSGVO ante portas: Aktuelle Brennpunkte im Online-Marketing, GRUR-Prax 2018,
254 (254).
64 Schulz in: Gola, DS-GVO, Art. 6 Rn. 57.

65 Albers/Veit in: Brink/Wolff, BeckOK DS-GVO, Art. 6 Rn. 63; Borges/Steinrötter in: Borges/

Hilber, BeckOK IT-Recht, Art. 6 Rn. 39.


66 Bierekoven in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, Teil XI, Kap. 1 Rn. 89.
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 511

sichtigung des Widerspruchsrechts (Art. 21 Abs. 3 DS-GVO) und die ergriffenen


Sicherheitsmaßnahmen (vgl. dazu näher Art. 32 DS-GVO) bezüglich der Ver-
arbeitung von Online-IDs und IP-Adresse.67 Hierzu zählt wiederum die Nutzung von
Pseudonymen, die immer dann möglich ist, wenn sich diese als allgemein erwart-
bar darstellen und die betroffene Person transparent über deren Einsatz informiert
wird.68 Trackingmaßnahmen werden regelmäßig als erwartbar angesehen, wenn
die Einhaltung der zum Einsatz von Google Analytics entwickelten Grundsätze als
Standard berücksichtigt werden.69 Auf der anderen Seite wird auch ein Interesse der
betroffenen Person an einer für sie relevanten Werbung angenommen, wenn diese
Person auf das Widerspruchsrecht hingewiesen wurde, aber hiervon keinen Gebrauch
gemacht hat.70 ◄

31.5 Sanktionen bei Nichteinhaltung von


Datenschutzbestimmungen

Die unweigerliche Folge eines Verstoßes gegen die DS-GVO ist zum einen ein persön-
liches Recht auf Schadensersatz (vgl. Art. 82 DS-GVO), aber auch die Verhängung
von Geldbußen, die gem. Art. 83 Abs. 1 DS-GVO „wirksam, verhältnismäßig und
abschreckend“ sein müssen mit einer maximalen Grenze, die bei 20 Mio. Euro bzw. bei
bis zu 4 % des gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des Unternehmens liegt, je
nachdem, welcher Wert der höhere ist.71 Dementsprechend musste zum Beispiel das
Unternehmen H&M72 in Deutschland bereits eine sehr hohe Geldbuße von etwa 35 Mio.
EUR zahlen, weil es personenbezogene Daten seiner Mitarbeiter unbefugt gespeichert
hatte.73 Auch das Unternehmen Amazon74 in Frankreich, das Cookies ohne Einwilligung
der Nutzer gesetzt hatte, zahlte im Ergebnis eine Geldbuße in Höhe von 35 Mio. EUR.75

67 Bierekoven in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, Teil XI, Kap. 1 Rn. 89;

Schulz in: Gola, DS-GVO, Art. 6 Rn. 90.


68 Schulz in: Gola, DS-GVO, Art. 6 Rn. 89.

69 ebd.

70 Bierekoven in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, Teil XI, Kap. 1 Rn. 89.

71 Gola in: Gola, DS-GVO, Art. 83 Rn. 22; Hakenberg, Wege zu besserer Normbefolgung im

europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonderband 2021, 129 (133).


72 Hennes & Mauritz AB ist ein schwedisches Unternehmen in der Textilbranche mit Sitz in Stock-

holm.
73 Hakenberg, Wege zu besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonder-

band 2021, 129 (134).


74 Amazon.com, Inc. ist ein US-amerikanischer Onlineversandhändler mit Sitz in Seattle,

Washington, USA.
75 Hakenberg, Wege zu besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonder-

band 2021, 129 (134).


512 E. Ghazari-Arndt

Zuständig für die Verhängung der Geldbußen sind jedoch auch weiterhin die nationalen
Aufsichtsbehörden (vgl. Art. 55 DS-GVO).

Ausblick
Auch wenn insbesondere mit Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO eine Grundlage für die
Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten durch
verschiedene Techniken im Bereich Digital Marketing geschaffen wurde, so wird
zunehmend auch die Rechtsunsicherheit in diesem Bereich beklagt. Zum einen
wird beispielsweise kritisiert, dass obwohl ein in der Praxis relevanter Fall der
Weiterverarbeitung personenbezogener Daten die „Big-Data-Analysen“ sind und
diese eine zentrale Herausforderung des Datenschutzes im 21. Jahrhundert bilden,
„Big Data“ dennoch keine Erwähnung in der DS-GVO findet.76 Zum anderen
wird vorgebracht, dass die derzeitige Rechtslage für den Einsatz von Cookies
und Tracking so unübersichtlich sei, dass es in der Praxis zu erheblichen Rechts-
unsicherheiten führt.77 Vor diesem Hintergrund wird derzeit auch zunehmend die
sog. E-Privacy-VO78 diskutiert, die spezifische Regelungen für den Bereich der
elektronischen Kommunikation einführen, die allgemeine Regelungen der DS-
GVO präzisieren und ergänzen sowie den Schutz der Privatsphäre und die Ver-
arbeitung von Daten mit und ohne Personenbezug vereinheitlichen soll.79 Die
Entwicklungen im Datenschutzrecht sind demnach gewiss nicht stagnierend,
sodass mit Blick auf die technischen Entwicklungen auch die Einführung von
datenschutzrechtlichen Ergänzungen erwartet wird.

Literatur

Auer-Reinsdorff, Astrid/Conrad, Isabell. (Hrsg.). Handbuch IT- und Datenschutzrecht (3. Aufl.,).
C. H. Beck. (zitiert: Verfasser:In in: Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutz-
recht).
Borges, Georg/Hilber, Marc. (Hrsg.). BeckOK IT-Recht, 5. Ed., Stand: 01.01.2022, C. H. Beck.
(zitiert: Verfasser:In in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht).

76 vgl.näher dazu Schulz in: Gola, DS-GVO, Art. 6 Rn. 254, 255.
77 Schumacher/Sydow/von Schönfeld, Cookie Compliance, quo vadis?, MMR 2021, 603 (603).
78 Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments

und des Rates über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten in der
elektronischen Kommunikation und zur Aufhebung der RL 2002/58/EG, COM (2017) 10 final,
2017/0003 (COD) vom 10.01.2017 (E-Privacy-VO-E).
79 Schumacher/Sydow/von Schönfeld, Cookie Compliance, quo vadis?, MMR 2021, 603 (605).
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 513

Brink, Stefan/Wolff, Heinrich Amadeus. (Hrsg.). BeckOK Datenschutzrecht, 38. Ed., Stand:
01.11.2021. C. H. Beck. (zitiert: Verfasser:In in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht).
Caldarola, Maria Cristina/Schrey, Joachim. (2019). Big Data und Recht, Einführung für die Praxis,
C. H. Beck. (zitiert: Caldarola/Schrey, Big Data und Recht).
Ehmann, Eugen/Selmayr, Martin (Hrsg.) (2018). DS-GVO, Datenschutzgrundverordnung,
Kommentar (2. Auf.,). C. H. Beck. (zitiert: Verfasser:In in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO).
Forgó, Nikolaus/Helfrich, Marcus/Schneider, Jochen (Hrsg.) (2019). Betrieblicher Datenschutz,
Rechtshandbuch (3. Aufl.,). C. H. Beck (Verfasser:In in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieb-
licher Datenschutz).
Gausling, Tina, Künstliche Intelligenz im digitalen Marketing, Datenschutzrechtliche Bewertung
KI-gestützter Kommunikations-Tools und Profiling-Maßnahmen, Zeitschrift für Datenschutz
(ZD), Heft 8/2019 (zitiert: Grausling, Künstliche Intelligenz im digitalen Marketing, ZD 2019).
Gola, Peter (Hrsg.) (2018). Datenschutz-Grundverordnung, Kommentar (2. Aufl.,). C. H. Beck
(zitiert: Verfasser:In in: Gola, DS-GVO).
Hakenberg, Waltraud, Wege zu besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, Zeit-
schrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) Sonderband 2021 (zitiert: Hakenberg, Wege zu
besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonderband 2021).
Hoffmann, Raphael/Schmidt, Facebook-Profiling zu Marketingzwecken – datenschutzkonform?,
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR), Heft 5/2021 (zitiert: Hoffmann/
Schmidt, Facebook Profiling zu Marketingzwecken – datenschutzkonform?, GRUR 2021).
Remmertz, Frank, DSGVO ante portas: Aktuelle Brennpunkte im Online-Marketing, Gewerblicher
Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis im Immaterialgüter und Wettbewerbsrecht (GRUR
Prax), Heft 11/2018 (zitiert: Remmertz, DSGVO ante portas: Aktuelle Brennpunkte im Online-
Marketing, GRUR Prax 2018).
Schumacher, Pascal/Sydow, Lennart/von Schönfeld, Max, Cookie Compliance, quo vadis?, Daten-
schutzrechtliche Perspektiven für den Einsatz von Cookies und Webtracking nach TTDSG und
ePrivacy-VO, Multimedia und Recht (MMR), Heft 8/2021 (zitiert: Schumacher/Sydow/von
Schönfeld, Cookie Compliance, quo vadis?, MMR 2021).

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