Innovatives Und Digitales Marketing in Der Praxis
Innovatives Und Digitales Marketing in Der Praxis
Innovatives Und Digitales Marketing in Der Praxis
Innovatives
und digitales
Marketing in
der Praxis
Insights, Strategien und Impulse für
Unternehmen
Innovatives und digitales Marketing in der
Praxis
Christian Lucas · Gabriele Schuster
(Hrsg.)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH,
ein Teil von Springer Nature 2023
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Im Marketing hat sich in den letzten 5 bis 10 Jahren ein weiterer Paradigmenwechsel
vollzogen. Marketing- und Vertriebsinstrumentarien verschmelzen mittlerweile zu einem
Instrument, das gleichzeitig Kaufabschlüsse erzielt und das Markenimage beim Kunden
prägt.
Die ursprünglich klar definierten Grenzen zwischen Above- und Below-the-line-
Marketingmaßnahmen verschwinden. Längst dominieren individualisierbare, digitale
Instrumente der Kundenidentifikation, -ansprache und -kommunikation die Marketing-
planung und -budgets. Die Gewinnung und langfristige Nutzung von Kundendaten sowie
die Abschöpfung des Customer Lifetime Values stehen im Mittelpunkt. Breit streuende,
unpräzise Marketingmaßnahmen, die in erster Linie große Kundensegmente adressieren,
folgen in den Überlegungen nachgeordnet. Diese sichern vor allem die Performance im
sog. Upper Funnel der Customer Journey, d. h. sie sind mittlerweile „lediglich“ auf den
Auf- und Ausbau der Brand Awareness fokussiert.
Veränderte digitale Rahmenbedingungen bspw. durch Blockchaintechnologien
und NFTs oder durch den Einsatz von NLP, Deep Learning oder AI-Technologien
treiben diese Veränderungen im Marketing weiter voran. Exemplarisch seien nur die
Konsequenzen in der Zielgruppenkommunikation, -analyse oder der Produkt- oder Preis-
entwicklung genannt. Diese haben bereits ihren Einzug in weite Teile des Marketing-
alltags vollzogen. Die Konsequenz: eine branchenübergreifende, gesteigerte Dynamik
in den Märkten, höhere Individualität in der Zielgruppenansprache und vielfältige neue
Wege, auf veränderte Kundenbedürfnisse schneller, konsequenter und bedürfnisgerechter
zu reagieren.
Diese Entwicklungen werden durch Unternehmen aller Branchen vorangetrieben,
implementiert und laufend adaptiert. Umso wichtiger ist es für Studierende wie
Praktiker:innen, einen möglichst übergreifenden, praxisbezogenen Blick auf den
aktuellen Stand innovativer Marketingansätze im digitalen Zeitalter zu bekommen. So
können der aktuelle Status quo im Marketing beleuchtet, Ausblicke auf sich bereits am
Horizont abzeichnende Entwicklungen gewonnen und Optionen für die Gestaltung des
eigenen Marketings abgeleitet werden.
V
VI Geleitwort
Die Anfänge der Digitalen Revolution datieren auf den Ausgang des 20. Jahrhunderts,
als nahezu weltweit ein Umbruch in fast allen Lebensbereichen hin zu einem digital
vernetzten Lebensstil führte. Die Digitale Revolution wird in Fachkreisen auch als
sogenannte vierte industrielle Revolution bezeichnet, kommt ihr doch eine ähnliche
Bedeutung zu, wie den ersten dreien, etwa 250, 150 bzw. 50 Jahre zuvor.
Marketing muss im Zeitalter der digitalen Revolution völlig neu gedacht werden. Eine
Erweiterung bestehender Konzepte und Modelle, wie sie seit den 1950er Jahren immer
wieder vorgenommen wurden, ist nicht mehr ausreichend. Das bedeutet, dass Erkennt-
nisse der letzten Jahrzehnte, wie zum Beispiel der Kundenfokus oder auch die Kunden-
segmentierung, jeweils besser in das Modell eingepasst werden können. Das neue
Konzept stellt nun die einzelnen Konsument:innen direkt, von Anfang an in den Mittel-
punkt der Betrachtung und richtet das Marketing konsequent auf sie aus. Aus Sicht der
Konsument:innen geht es dann nicht mehr um die Optimierung eines Marketingmixes,
sondern um die Optimierung eines wahrgenommenen kundenspezifischen Angebots.
Dieser Perspektivenwechsel hat weitreichende Konsequenzen: Das Innovations-
management wird aus dem Marketingmix herausgelöst, die Informationsbeschaffung
erhält eine zentralere Rolle, und neuere Möglichkeiten der Individualisierung und ver-
netzten Kundenbeziehung werden besser berücksichtigt. Die Marketinginstrumente
werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern immer im größeren Zusammenspiel
untereinander und in Interaktion mit den Konsument:innen. Die damit verbundene
Komplexitätssteigerung führt in einem ersten Schritt von einer personenzentrierten
Marketing- und Zielgruppenanalyse zu einer prozesszentrierten Analyse. Die Abläufe
werden automatisiert und mittels mustererkennender künstlicher Intelligenz verarbeitet,
als Ergebnis werden Handlungsalternativen auf Basis von Zukunftswahrscheinlichkeiten
vorgeschlagen.
Das vorliegende Werk ist von Hochschuldozierenden für Wirtschaftsunternehmen
geschrieben. Es liefert einen Überblick über Einsatzmöglichkeiten, Sichtweisen und
Impulse für innovatives sowie digitales Marketing. Die zahlreichen Beiträge präsentieren
ein breites Portfolio vielfältiger Ideen und Inspirationen für den praktischen Einsatz in
der Wirtschaft.
VII
VIII Vorwort
wird u.a. auf die Wahrnehmung der Preisfairness seitens der Kund:innen eingegangen.
Der durch die Corona-Pandemie noch weiter forcierte digitale Vertrieb, bspw. mittels
E-Commerce oder Social Selling, wird inhaltlich erläutert und strategisch differenziert,
bevor dann in einem weiteren Beitrag die Auswirkungen der Digitalisierung auf den
B2B-Vertrieb untersucht werden. Abgeschlossen wird dieser Themenblock mit einem
Ausblick auf den Vertrieb im Metaversum. Der Themenbereich Kommunikation startet
mit einer Übersichtarbeit. Es werden drei zentrale Trends beobachtet und Anwendungs-
felder für datenbasierte Analysen vorgestellt. Im Folgenden werden dann konkrete
Situationen betrachtet: Wie ist bspw. mit einem digitalen Shitstorm umzugehen? Welche
Potenziale haben Podcasts in der digitalen Marketingkommunikation? Und wird uns die
künstliche Intelligenz beim Erstellen von Texten unterstützen oder ersetzen?
Teil fünf widmet sich der Implementierung, d. h. es geht darum, den Marketingmix
analog und digital auf die Straße zu bringen, Kundenbeziehungen entlang der Customer
Journey aufzubauen und zu stärken, einen Ausblick auf digitale Marketingmöglichkeiten
in Arztpraxen zu werfen und last but not least die DS-GVO im Lichte des digitalen
Marketings zu betrachten.
Die Entscheidung, wie in den Buchbeiträgen gegendert wird, wurde den Autor:innen
überlassen. Als Herausgeber:innen nehmen wir hier keinen inhaltlichen Einfluss.
Zum Gelingen dieses Sammelbandes haben viele Personen beigetragen. Unser Dank
gilt vor allem den Autor:innen, die erst durch ihre Expertise die Entstehung dieses
Buches ermöglicht haben. Unser Dank gilt auch Frau Imke Sander vom Springer Gabler
Verlag, die unser Projekt mit viel Umsicht und Initiative unterstützt hat.
1 Marketing-House-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Christian Lucas
1.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Das neue Marketing-House-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3 Grundbestandteile des Marketing-House-Konzepts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3.1 Progress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3.2 Market Research. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3.3 Customer Oriented Offering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3.4 Perception. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.3.5 Paradigm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.3.6 Market . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.4 Fazit, Abgrenzung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Teil I Konsumentenverhalten
2 Quo vadis, Homo digitalis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Gabriele Schuster, Verena Renneberg und Susanne O’Gorman
2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.2 Individualistischer Massenkonsum im Zeichen der Digitalisierung . . . . . . 26
2.3 Harte Währung Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.4 Menschliche Grundbedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.5 Konsequenzen für Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.6 Chancen und Risiken neuer Technologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
XI
XII Inhaltsverzeichnis
Teil IV Marketinginstrumente
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Katharina-Maria Rehfeld, Michaela Moser und Maik Günther
11.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
11.2 Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
11.3 Personalmarketing als Selektionsfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
11.4 Employer Brand im Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
11.5 Smart Data als Grundlage von People Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
11.6 Anwendungen von People Analytics für das externe und
interne Personalmarketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
11.6.1 People Analytics im externen Personalmarketing . . . . . . . . . . . 196
11.6.2 People Analytics im internen Personalmarketing. . . . . . . . . . . . 198
11.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
12 Menschen machen Fehler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Christian Lucas
12.1 Entscheidungen als Grundbestandteil betriebswirtschaftlicher
Unternehmensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
12.2 Warum machen Menschen Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
12.3 Systematische und zufällige Fehler bei der Entscheidungsfindung. . . . . . 207
12.3.1 Systematische Fehler, kognitive Verzerrungen, Biases . . . . . . . 207
12.3.2 Zufällige Fehler, Rauschen, Noise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
XVI Inhaltsverzeichnis
Teil V Implementierung
27 Künstliche Intelligenz in der PR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
Josef Arweck
27.1 Wertschöpfung durch KI in der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit . . . . . 447
27.2 Einsatzgebiete von KI im Medienbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
27.3 Ethische Aspekte und Risiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
27.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung
im digitalen Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Rico Manß
28.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
28.2 Begriffe und bestehende Ansätze zur Implementierung . . . . . . . . . . . . . . 459
28.2.1 Begriffliche Abgrenzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
28.2.2 Vorgehensmodell zur Implementierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
28.3 Implementierung im digitalen Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
28.3.1 Herausforderungen im digitalen Marketing. . . . . . . . . . . . . . . . 461
28.3.2 Implementierungskonzept für das digitale Marketing. . . . . . . . 462
28.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter:
Kundenbeziehungen entlang der Customer Journey
aufbauen und stärken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Uta Scheunert
29.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
29.2 Digitalisierung im Rahmen des CRM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
Inhaltsverzeichnis XXIII
Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-
Management und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt
hier als Professor für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u.a. in den
Fächern Digital Business, Marketing, Marktforschung und Innovation Management.
Parallel bietet er als Geschäftsführender Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen
internationalen Fahrservice für Teams und Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Prof. Dr. Gabriele Schuster ist Professorin und Fachgebietsleitung für Marketing-
Management an der IU Internationale Hochschule in Hamburg und seit mehr als 23
Jahren in der dualen Lehre tätig. Außerdem hatte sie Fach- und Führungsfunktionen in
verschiedenen Branchen inne. In ihrer Arbeit als selbstständige Beraterin begleitet sie
zahlreiche Projekte und Veränderungsprozesse und unterstützt Führungskräfte und Mit-
arbeiter durch Coaching, Workshops und Seminare.
Autorenverzeichnis
XXV
XXVI Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Christoph Albers ist für die TUI AG als Head of Delivery Central Region tätig und
verantwortet u.a. in dieser Position das IT-Projektportfolio von TUI Deutschland,
Österreich, Polen und der Schweiz. Er studierte Wirtschaftsinformatik und Business
Administration und ist seit 2013 in der Tourismusbranche für namenhafte Online-
Travel-Agencies sowie seit 2015 in unterschiedlichen leitenden Funktionen bei der
TUI AG beschäftigt. Darüber hinaus ist er Autor von Fachartikeln zu den Themen IT-
Management, agile und digitale Transformation sowie IT-Projektmanagement. Zusätz-
lich engagiert er sich als Dozent zu den Themen Digitalisierung und Tourismus.
Prof. Dr. Josef Arweck ist Professor für Medienmanagement an der IU International
University of Applied Sciences. Seine Schwerpunkte sind Krisen-PR und Reputations-
management. Der gelernte Journalist arbeitete vorher für McKinsey sowie den Porsche-
Konzern, wo er seit 2015 Leiter der weltweiten Konzernkommunikation war. Seit 2020
ist er als Investor im Start-up-Bereich und Kommunikationsberater tätig.
Prof. Dr. Thomas Bolz ist seit 2020 Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce
und Online-Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungsschwer-
punkte liegen in der Entwicklung und Vermarktung von digitalen Geschäftsmodellen.
Durch seine nationale und internationale Praxiserfahrung sowie seine langjährige Tätig-
keit im Management Consulting lernte er digitale Geschäftsmodelle aus verschiedenen
Blickwinkeln kennen. Im Rahmen seiner beruflichen Aktivitäten begleitete er diverse
Unternehmensgründungen und -transaktionen im digitalen Umfeld.
Prof. Dr. Georg Bouché arbeitet als Honorardozent und Professor an Hochschulen und
Universitäten in Deutschland, Frankreich, Mexiko, Spanien und Vietnam. Als geschäfts-
führender Gesellschafter einer Marketing- und Strategieberatung mit Sitz in Berlin,
liegen seine Tätigkeitsschwerpunkte in den Bereichen Marketing, Digitalisierung, Inter-
nationalisierung, strategischer Vertrieb, Business Development und Growth Hacking. Für
LinkedIn ist er als Autor und Trainer tätig und hat zu Growth Hacking und Marketing
mit kleinem Budget Filme für die Plattform veröffentlicht. Vor der Gründung seiner
Beratungsgesellschaft Bouché & Jakob war Georg in Spanien für ein Private Equity
Unternehmen als Management Consultant tätig und baute unter anderem für die Gesell-
schaft eine Niederlassung in China auf. Davor hat er für eine Stuttgarter Werbemedien
Agentur ein Büro in München etabliert. Georg engagiert sich mit einer eigenen Stiftung
in Gambia, Westafrika.
Simon Ens ist seit 2019 an der IU Internationale Hochschule Campus Düsseldorf
Student im Fachbereich „Tourismuswirtschaft“. Gemeinsam mit Professoren der IU
verschiedener Standorte konnte er bereits einige Projekte in der Tourismusbranche
realisieren und seine Interessen an und Kompetenzen in der Tourismusbranche ausbauen.
Dr. Eva Ghazari-Arndt LL.M. ist seit 2015 Rechtsanwältin und Dozentin auf dem
Gebiet des Privat- und Europarechts sowie des Informationstechnologierechts. Das IT-
Recht mit den Bereichen Internetrecht, E-Commerce, Datenschutz und Vertragsrecht
bilden dabei ihren Interessenschwerpunkt.
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XXVII
Prof. Dr. Maik Günther unterrichtet seit 2020 als Professor für Wirtschaftsinformatik
an der IU Internationale Hochschule. Seine Schwerpunkte liegen u. a. in den Bereichen
Big Data, Data Analytics und Künstliche Intelligenz. Nach seiner Promotion an der TU
Ilmenau wechselte er 2010 in die Energiewirtschaft, wo er bis heute tätig ist. Daneben
arbeitet er als Research Affiliate am Center for Energy Markets und ist Mitglied in den
Arbeitskreisen verschiedener Branchenverbände.
Prof. Dr. Nele Hansen ist Professorin für Medienmanagement an der IU Inter-
nationale Hochschule. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Lehrstuhl für Marketing & Medien der Universität Münster und als Redakteurin der
WirtschaftsWoche. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Gebiet Social und News
Media.
Dr. Natascha Hebestreit leitet seit 2014 an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS)
den Fachbereich Innovation Management. Als Business Development Managerin für
einen Mailänder Dienstleistungsunternehmen für Open Innovation hat sie Einblicke
in die praktische Umsetzung für große und mittelständische Unternehmen in unter-
schiedlichen Branchen erhalten. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin über die
Verantwortung des Wirtschaftsakteurs promoviert und studiert zusätzlich seit 2022 Philo-
sophie.
Prof. Dr. Claudia Heß ist Professorin für Digitale Transformation an der IU
Internationale Hochschule. Neben Lehre und Forschung ist sie auch in der Industrie
tätig. Als Beraterin und Projektleiterin unterstützt sie Unternehmen in Digitalisierungs-
projekten und begleitet Teams bei der agilen Entwicklung neuer, digitaler Produkte und
Services.
Prof. Dr. Dr. Dietmar Janetzko ist Head of Research bei der Stockpulse GmbH in
Bonn. Zugleich ist er der Cologne Business School in Köln assoziiert, wo er bis Mai
2022 Wirtschaftsinformatik, Marketing, Statistik und Datenwissenschaft unterrichtet hat.
Prof. Dr. Marion Kalteis ist seit 2018 an der IU Internationale Hochschule als
Professorin für Marketing tätig und hält Vorträge im In- und Ausland. Konzernstrukturen
und Großraumatmosphäre sind ihr nach jahrelanger Tätigkeit in zentralen Marketing-
Positionen bestens vertraut. Auch die Vortragstätigkeit an Fachhochschulen und Uni-
versitäten begleitet sie seit mehr als sechs Jahren regelmäßig. Besonders das Thema
Corporate Social Responsibility und Market Research stehen im Fokus ihrer Forschung.
Prof. Dr. Jan Thido Karlshaus ist als Professor für Marketingmanagement an der
IU Internationale Hochschule tätig. Nach dem Studium (Dipl.-Kfm., Universität zu
Köln, Pennsylvania State University in State College und FGV in São Paulo) und der
Promotion (Dr. rer. pol., WHU Koblenz) war er zunächst als Unternehmensberater
für McKinsey & Co. tätig, wo er vor allem Automobil-, Logistik- und High-Tech-
Unternehmen begleitete. Anschließend wechselte er als Vice President und Leiter der
Konzernstrategie in den Konzern Deutsche Post DHL. Nach Tätigkeit in verschiedenen
XXVIII Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Führungspositionen im Vertrieb wurde er dort zum Chief Customer Officer (CCO) inner-
halb von DHL Supply Chain befördert und übernahm im Anschluss als Senior Vice
President und Geschäftsbereichsleiter die Verantwortung für das weltweite Geschäft
mit Kunden in der High-Tech-Industrie. Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung und
Beratungstätigkeit liegen im Bereich Sales, Strategie, Digitalisierung, Supply Chain und
E-Fulfillment.
Prof. Dr. Anna Klein ist Professorin für Tourismusmanagement an der IU Inter-
nationale Hochschule – Duales Studium und akademische Leiterin am Standort
München. Darüber hinaus ist sie Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Touris-
muswissenschaft e. V. (DGT) und Mitglied im Wissenschaftsbeirat des Bayerischen
Zentrums für Tourismus e. V. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Digitalisierung im Touris-
mus, Destinationsmanagement und nachhaltiger Tourismus. Sie verfügt über jahrelange
praktische Erfahrungen im Tourismusbereich, die sie als Senior Consultant bei BTE
Tourismusberatung und Regionalberatung in Berlin sammeln konnte. Sie war dort für die
internationalen Projekte, insbesondere in Ost- und Südosteuropa, verantwortlich.
Prof. Dr. Ralf Kneuper ist Professor für Datenschutz und IT-Sicherheit an der
IU Internationale Hochschule im Bereich Fernstudium sowie Fachgebietsleiter IT und
Technik. Daneben berät er Unternehmen zu Softwarequalitätsmanagement, Prozessver-
besserung und Datenschutz und ist TÜV-zertifizierter externer Datenschutzbeauftragter.
Prof. Dr. Cordula Kreuzenbeck Professorin für Gesundheitsökonomie an der IU Inter-
nationale Hochschule in Essen seit 2020. Sie verfügt über zehn Jahre Erfahrungen im
Krankenhaus – zuletzt in leitender Funktion – und arbeitete in der Versorgungsforschung
am Lehrstuhl für Medizinmanagement in Essen. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesell-
schaft für Gesundheitsökonomie sowie assoziiertes Mitglied im Verein Digital Health
Germany und darüber hinaus in viele digitale Projekte im Gesundheitswesen ein-
gebunden.
Prof. Dr. Alexandra Kühte ist seit 2020 Professorin für Marketing und
Kommunikation & PR an der IU Internationale Hochschule in Berlin. Sie verfügt
über langjährige Berufserfahrung in der digitalen Transformation von Medienmarken,
Vermarktungs- und Geschäftsmodellen. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind
Marketing- und Unternehmenskommunikation sowie Medienwandel und Medien-
management.
Prof. Dr. Sibylle Kunz ist seit 2020 Professorin im Fernstudium der IU Internationale
Hochschule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangleiterin für Medien-
informatik. Nach dem Diplom in Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität
Darmstadt machte sie sich mit einem IT-Beratungs- und Schulungsunternehmen
selbständig und arbeitete über zwei Jahrzehnte in IT-Projekten u.a. in Versorgungs-
unternehmen, Banken, Verbänden, Verlagen und Kammern. 2011 kehrte sie parallel
dazu zurück in die akademische Welt als Lehrkraft für Wirtschaftsinformatik an der
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XXIX
Hochschule Mainz sowie als Lehrbeauftragte an der European Management School und
der Hochschule Darmstadt, wo sie 2020 mit dem Sonderpreis für Digitalisierung in der
Lehre ausgezeichnet wurde. Ebenfalls 2020 promovierte sie als erste Doktorandin im
Fach Digital Humanities an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Prof. Dr. Rico Manß ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, ins-
besondere Marketing, an der IU Internationale Hochschule am Campus Leipzig. Herr
Manß promovierte im Multichannel-Marketing und setzt sich in seinen Forschungs-
arbeiten mit der Integration von analogen und digitalen Kundenkontaktpunkten aus-
einander.
Prof. Dr. Michaela Moser ist Professorin für Personalmanagement im Fernstudium
an der IU Internationale Hochschule. Sie lehrt und forscht vorwiegend im Bereich
Leadership und Digital HR. Dabei untersucht sie vor allem die Optimierung von Wert-
schöpfungsprozessen im HR-Bereich durch moderne digitale Tools. Die promovierte
Diplom-Kauffrau verfügt über langjährige Management-Erfahrung in verschiedenen
international tätigen Konzernen, unter anderem als obere Führungskraft eines inter-
national tätigen Baukonzerns sowie als Geschäftsführerin einer Konzerngesellschaft.
Prof. Dr. Susanne O’Gorman ist Professorin für Marketing mit Schwerpunkt
Customer Centricity. Sie war vor ihrer akademischen Laufbahn mehr als 20 Jahre lang in
der Marktforschung und Beratung tätig und hat dort Kunden in der Strategie, Umsetzung
und Messung ihrer Customer Experience Projekte unterstützt. Ihre Schwerpunkte liegen
im Bereich Customer Experience, Customer Journeys und Digitalisierung.
Prof. Dr. Jochen Panzer ist seit 2015 an der IU Internationale Hochschule als
Professor für Marketing Management tätig. Nach Studium und Promotion war er für ver-
schiedene nationale und internationale Unternehmensberatungen mit Fokus auf Finanz-
dienstleistungen, Marketing und Vertrieb tätig. Im Anschluss leitete er als Commercial
Director Europe für einen der großen europäischen Versicherungskonzerne den Direkt-
vertrieb. Aktuell verbindet er im Rahmen des Evidence Based Management praktische
Branchenerfahrung und theoretische Expertise in Kooperationen mit ausgewählten
Unternehmensberatungen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Sales Force
Effectiveness, Direct Marketing sowie Ökosystemen und Innovationen.
Prof. Dr. Sven Pastowski ist Professor für Wirtschaft und Management an der IU
Internationale Hochschule – Duales Studium. Er lehrt und forscht u. a. in den Fach-
bereichen Betriebswirtschaftslehre, Tourismusmanagement, Marketing und Strategisches
Management. Nach dem Studium der BWL an der Universität Bayreuth arbeitete und
promovierte er am dortigen BWL-Lehrstuhl für Dienstleistungsmanagement zum
„Qualitätsmanagement bei Dienstleistungen“. Sein besonderes Interesse gilt dienst-
leistungsspezifischen Fragestellungen, u. a. aus der Sportartikelbranche, dem Handel,
der Kultur oder dem Tourismus. Sven Pastowski verfügt über langjährige Berufs- und
Führungserfahrung bei der adidas AG in den Themengebieten Konsumgüterbranche,
XXX Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Grad Dr. rer. pol. Seit Oktober 2019 hat Uta Scheunert die Professur für ABWL, ins-
besondere Marketing & Kommunikation an der IU Internationale Hochschule GmbH am
Campus Erfurt inne.
Prof. Dr. Daniel Schmid ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als Professor
für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre insbesondere Marketing tätig. Nach dem
Studium und der Promotion arbeitete er zunächst in einer internationalen Unternehmens-
beratung. Danach war er über 20 Jahre in einem internationalen Dienstleistungsunter-
nehmen tätig. Als Vorstand verantwortete er u.a. die Bereiche Marketing und Strategie.
Zuletzt war er Bereichsdirektor eines der größten Kinderhilfswerke der Welt. Aktuelle
Themen seiner Forschung sind Digitales Marketing, E-Commerce, Handel und Nach-
haltigkeitsmanagement.
Prof. Dr. Benjamin Krischan Schulte nahm im Jahr 2020 eine Position als Professor
für Marketingmanagement an der IU Internationalen Hochschule in Berlin an. Nach
seinem Studium und der Promotion an der Freien Universität in Berlin arbeitete Schulte
als Projektmanager in einer Unternehmensberatung, bevor es ihn zurück an die Hoch-
schule zog. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Vertriebsstrategie und
-management, Digitales Marketing sowie Konsumentenverhalten und quantitative
Methoden der Marketingforschung.
Prof. Dr. Carsten Skerra ist seit 2021 Professor im Fernstudium der IU Internationale
Hochschule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangsleiter für Computer
Science. Carsten Skerra studierte Technische Informatik an der Berufsakademie in
Stuttgart. An der Universität von Gloucestershire, UK, promovierte Carsten Skerra.
Dabei begründete er Einsichten in den Bereich sozio-kultureller Zusammenhänge
von Kreativität und Erfindung und entwickelte eine neue Theorie zur Stimulanz von
Erfindungen in der Gesellschaft. Seit 2011 lehrte Carsten Skerra an Hochschulen für den
Bereich International Business, Innovationsmanagement und für den Bereit Informatik,
Themen wie IT-Grundlagen, IT-Projektmanagement, IT-Datensicherheit und Soft-
ware Engineering. Carsten Skerra arbeitete zudem langjährig in der Forschung eines
internationalen Technologienunternehmens. Er ist Autor, Mitautor und Reviewer von
Publikationen und aktives Mitglied in der Gesellschaft für Informatik (GI), dem Project
Management Institute (PMI) und dem Design Management Institute (DMI) sowie der
Scrum Alliance.
Prof. Dr. Felix Wölfle ist seit April 2017 an der IU Internationale Hochschule Professor
für Tourismuswirtschaft. Nach seinem Studium der Sportwissenschaften promovierte
er im sporttourismusbezogenen Destinationsmanagement und arbeitete mehrere Jahre
in der Destinationsberatung und im Management eines Bergsportausrüsters. Seine viel-
fältigen Erfahrungen bringt er in seine praxisorientierte Lehre mit ein und führt viel-
fältige (Forschungs-)Projekte mit Praxispartnern mit aktivtouristischer Ausrichtung
durch.
XXXII Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Lisa-Charlotte Wolter ist Professorin und Studiengangsleiterin für Online
Marketing und Customer Centricity an der IU (Internationale Hochschule) und forscht
am College of Journalism & Communications der University of Florida (UF) u. a. zu
Media Sustainability, Media & Consumer Engagement sowie Vertrauen in Marken und
Medien. Im Laufe ihrer Karriere implementierte sie an verschiedenen Instituten neuro-
wissenschaftliche Forschungsmethoden zur Erweiterung bestehender Methoden der
Medien- und Kommunikationsforschung. Mit interdisziplinären Forschergruppen initiiert
sie zudem Grundlagenstudien, aktuell unter anderem zum Thema „Development and
Validation of the Media Brand Trust Scale“.
Prof. Dr. Matthias Zeisberg ist Professor für Marketingmanagement im Dualen
Studium der IU Internationale Hochschule am Campus Hamburg. Er verfügt über
eine langjährige Berufs- und Führungserfahrung in Management und Beratung ver-
schiedenster Branchen mit den Schwerpunkten Consumer Marketing, Marktforschung
und Vertriebsunterstützung. Seine Interessensgebiete liegen in der empirischen
Forschung und im strategischen Marketing.
Prof. Dr. Ina zur Oven-Krockhaus ist Studiengangsleiterin und Professorin für Touris-
musmanagement an der IU Internationale Hochschule – Duales Studium. Sie verfügt als
Diplombetriebswirtin und promovierte Kommunikationswissenschaftlerin sowie durch
eine 18-jährige Berufstätigkeit im weltweit führenden Tourismuskonzern TUI über
ein sehr umfangreiches Fachwissen im Bereich Tourismuswirtschaft. Als Direktorin
Marketing TUI Cruises sowie Direktorin Marketing und Kommunikation TUI Business
Travel und Leiterin Unternehmenskommunikation TUI AG entwickelte sie z. B. das
TUI Logo „Smile“ mit und zeichnete für die internationale Einführung verantwort-
lich. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit
Digitalisierung sowie Kommunikation und Marketing von touristischen Unternehmen.
Prof. Dr. Tanja Zweigle ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre
mit Schwerpunkt Marketing Management an der IU Internationalen Hochschule in
Düsseldorf. Ihre Forschungsinteressen liegen im digitalen Marketing, im Marken- und
Kommunikationsmanagement, im Konsumentenverhalten sowie in der Marktforschung.
Mit ihrer Marketingberatung i4m insights4management berät sie als selbstständige
Research- und Insights-Expertin verschiedene Praxisunternehmen. Vor ihrer Lehrtätig-
keit und Selbstständigkeit war sie in unterschiedlichen Beratungsfirmen, u.a. bei GfK
und BBDO Consulting, in leitenden Positionen tätig. Sie ist persönliches Mitglied im
Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher (BVM).
Marketing-House-Konzept
1
Konsumentenorientiertes Marketing
in Zeiten der Digitalisierung
Christian Lucas
Zusammenfassung
Marketing muss im Zeitalter der digitalen Revolution völlig neu gedacht werden.
Erweiterungen bestehender Konzepte und Modelle, wie sie seit den 1950er Jahren
immer wieder vorgenommen wurden, sind nicht mehr ausreichend. Das bedeutet, dass
Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, wie zum Beispiel der Kundenfokus oder auch
die Kundensegmentierung, jeweils besser in das Modell eingepasst werden können.
Das neue Konzept stellt nun den:die einzelne Konsument:in direkt von Anfang an in
den Mittelpunkt der Betrachtung und richtet das Marketing konsequent auf ihn:sie
aus. Aus Sicht des Konsumenten geht es dann nicht mehr um die Optimierung eines
Marketingmixes, sondern um die Optimierung der Wahrnehmung eines kundenspezi-
fischen Angebots. Dieser Perspektivenwechsel hat weitreichende Konsequenzen:
Das Innovationsmanagement wird aus dem Marketingmix herausgelöst, die
Informationsbeschaffung erhält eine zentralere Rolle, und neuere Möglichkeiten
der Individualisierung und vernetzten Kundenbeziehung werden besser berück-
sichtigt. Die Marketinginstrumente werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern
immer im größeren Zusammenspiel untereinander und in Interaktion mit dem:der
Konsument:in. Die damit verbundene Komplexitätssteigerung führt in einem
ersten Schritt von einer personenzentrierten Marketing- und Zielgruppenanalyse
zu einer prozessorientierten Analyse. Die Abläufe werden automatisiert und mittels
C. Lucas (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
1.1 Hintergrund
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der Neukonzeptionierung des Marketings aus-
einander und dient als Grundlage für die Struktur und die Ausarbeitungen in diesem
Buch.
Der Konsum, so wie auch das Vermarkten von Produkten und Dienstleistungen haben
geschichtlich keinen wirklichen Startpunkt, wie Trentmann (2017, S. 22 ff.) in seinem
Buch „Herrschaft der Dinge“, anhand der Geschichte des Konsums, ausgehend vom
15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit, analysiert. Schon vor dem Nachkriegsboom in
den 1950er und 1960er Jahren, und auch schon vor Einführung der Massenproduktion –
durch Firmen wie Bahlsen im Jahre 1905, oder Ford im Jahre 1913 (vgl. Bongard, 1964)
– wurden Dinge gehandelt und auf Märkten weltweit zum Kauf angeboten. Bereits 1776
stellte auch bspw. Adam Smith in seinem Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“ den:die
Konsument:in schon in den Mittelpunkt der Betrachtung, wenn er schreibt: “Der Ver-
brauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen
des Produzenten eigentlich nur so weit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das
Wohl des Konsumenten zu fördern.“ (vgl. Smith, 1978, S. 558).
Das bisherige, heutige und sogenannte „moderne Marketing“, als eigenes Fach, ent-
steht allerdings nach aktuell etablierter Sichtweise erst Mitte der 1950er Jahre (vgl. u. a.
Sepehr, 2014, S. 76 f.; Meffert et al., 2019, S. 8) mit.
Seit also etwa 70 Jahren hat sich das aktuelle Marketingverständnis nach deutscher
Sichtweise von einer vorrangigen Distributionsorientierung (bis Mitte der 1950er
Jahre), über eine stärkere Verkaufsorientierung (bis in die 1970er Jahre), der stärkeren
Kundenorientierung (seit den 1970er Jahren), zu einem ganzheitlichen Führungs- und
Orientierungskonzept weiterentwickelt (vgl. Sepehr, 2014, S. 77).
Kotler et al., 2021, S. 3 ff.) sprechen von einem.
• Marketing 5.0, welches die neuen Tools und Technologien, wie künstliche Intelligenz
(KI), natürliche Sprachverarbeitung (NLP), oder auch das Internet of Things (IoT)
konsequent nutzt.
Allen diesen Sichtweisen ist jedoch gleich, dass aufbauend auf schon vorhandenem
Wissen, Ergänzungen gemacht wurden. So gab es am Anfang dieser Betrachtung, in
den 1950er Jahren, nur zwei ‚P‘ des klassischen Marketingmixes1: Product und Place
(materielle Güter und die Distribution). Darauf aufbauend kam mit der Werbung das
dritte ‚P‘, die Promotion (Kommunikation) hinzu, sowie als viertes ‚P‘ die Möglich-
keit mit unterschiedlichen preislichen Maßnahmen Konsumentenrenten besser abzu-
schöpfen (P für Price). Einige Autor:innen haben diese 4P um weitere ‚P‘ ergänzt, um
dem Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft besser gerecht
zu werden: bspw. durch die dezidierte Betrachtung der People (Personal), Processes
(Prozesse) oder Physical Facilities (Ausstattung) (vgl. u. a. Homburg, 2017, S. 7 &
1003 ff.; Kotler et al., 2017b, S. 27 f.; Kotler et al., 2010, S. 43 f.).
In diesem Buch soll das Marketing noch einmal neu gedacht werden, ohne bereits
vorgegebene Leitplanken, und konsequent aus der Konsumenten-/Kundensicht heraus.
So wird der Versuch unternommen, eine neue, integrierte und konsumentenorientierte
Marketingkonzeption vorzuschlagen, die der Digitalisierung und den damit einher-
gehenden neuen Möglichkeiten Rechnung trägt.
Stellt man den:die Konsument:in in den Mittelpunkt der Betrachtung, muss man sich an
seinen:ihren Bedarfen und Bedürfnissen orientieren. Diese Bedürfnisse verändern bzw.
entwickeln sich, und zwar kontinuierlich. Im Folgenden sind einige Quellen dieser Ver-
änderung beispielhaft aufgezeigt:
Somit bilden das Verstehen (der Bedürfnisse) und das Verändern (der Bedürfnis-
befriedigung) das Fundament des Marketings. Mit anderen Worten: die Markt- & Konsu-
mentenforschung (Market Research) sowie das Innovationsmanagement (Progress).
Process
Paradigm
Product
& Service
Place Price
People
Promoon
Process
Product
& Service
Paradigm
Promoon
i = specific Customer-Oriented-Offering
Progress Market
1. was das Unternehmen erreichen will (→ welche Bedürfnisse es befriedigen will), und
2. wie das Unternehmen (von wem) wahrgenommen werden will?
haben Unternehmen im Normalfall mehrere im Angebot ( ni=1 COOi) und spezifizieren
diese je Kunde/Kundensegment ( nj=1 COOj).
Um nun vom Kunden konsumiert zu werden, muss das COO wahrgenommen werden
(→ Perception) und für gut bzw. nützlich erachtet werden. Diese Wahrnehmung kann
unterschiedlich intensiv sein. So kann ein:e Kund:in grundsätzlich wissen, dass es ein
Angebot gibt, kann dies für sich als passend wahrnehmen, eine positive Einstellung
gegenüber dem Angebot haben, ein Verlangen danach entwickeln und nach dem Kauf
und Konsum dieses auch positiv (oder negativ) bewerten, wiederkaufen und weiter-
empfehlen (vgl. u. a. Foscht et al., 2017, S. 4, 26, 183 ff.; Meffert et al., 2019, S. 88;
Siggelkow & Terwiesch, 2019, S. 65 ff.). Man kann hier von einer Art Customer Journey
der Wahrnehmung (Perception), bzw. Burmann et al., 2018, S. 15) folgend, von einem
Zusammenspiel zwischen Angebotsidentität und wahrgenommenem Angebotsimage
(bzw. spezieller: einem wahrgenommenen Bedürfnisbefriedigungspotenzial), aufseiten
des:der Kund:in, sprechen.
Abschließend ist noch zu beachten, dass sich ein Unternehmen eingebettet in einer
Umwelt (→ Market) befindet und sich dieser gegenüber verhält. Bedingt wird dieses
Verhalten dabei durch Wirkmechanismen der Wirtschaftspsychologie und Soziologie
(vgl. u. a. Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019, S. 10 f.). Diese zu verstehen und zu
beachten, muss ebenfalls Grundlage einer jeden marktorientierten Unternehmensaktivität
im Außenverhältnis sein (vgl. ebenda, S. 4; Kotler et al., 2007, S. 11). In Abb. 1.1 ist das
soeben vorgestellte Marketing-House-Konzept schematisch dargestellt.
1.3.1 Progress
Diese Bedürfnisse können mittels solcher Konzepte einerseits (1) fokussiert werden,
durch Performance-Steigerung in bestimmten Bereichen des Angebots.
Beispiel Bedürfnisfokussierung
Oder die Bedürfnisse können andererseits (2) durch einen Bedeutungsshift des Angebots
im Gesamten verändert werden.
Beispiel Bedürfnisveränderung
Bei Mobiltelefonen traten das Fotografieren und der soziale Austausch in den Bedürf-
nisfokus, nachdem hochwertige Kameras und eine Internetfunktion verbaut wurden
und das Mobiltelefon dadurch auch sprachlich zum Smartphone wurde. ◄
Einen Vorschlag, die (3) Intensität der Wahrnehmung (Perception) des Angebots zu
verändern, machen Siggelkow und Terwiesch (2019, S. 61 ff.), indem sie den kunden-
individuellen Informationsaustausch in den Fokus ihrer Betrachtung stellen.
Beispiel Wahrnehmungsintensität
Bei Smartphones kann ein Unternehmen durch die Beobachtung des Verwendungs-
verhaltens, sei es durch Cookies, FaceID, Bewegungssensoren, oder sonstige
Möglichkeiten, prüfen, ob eine bestimmte Information über ein neues Angebot
(z. B. eine App) wahrgenommen wurde und diese Wahrnehmung aktiv und kunden-
individuell steuern. ◄
Informationen stellen eine wichtige Voraussetzung für den Markterfolg von Unter-
nehmen dar (vgl. Homburg, 2017, S. 250). Die Marktforschung ist in diesem Sinne das
Mittel zum Zweck, um Informationen zu erlangen.
1 Marketing-House-Konzept 9
Folgt man dem strategischen Dreieck mit den Eckpunkten Kunde, Unternehmen
und Wettbewerber (Market), ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten, spezifische
Informationen zu ergründen. Eine Übersicht ist beispielsweise bei Homburg (2017,
S. 252) zu finden. Der im Mittelpunkt stehende Kunde ist hier auch als potenzielle:r
Kund:in zu verstehen. So schlagen beispielsweise Kim & Mauborgne (2015, S. 30) vor,
den Marktforschungsfokus speziell auf Nichtkunden sowie Bedürfnisbefriedigungsalter-
nativen (Angebote anstatt Wettbewerber) zu legen. Ähnlich sehen dies auch Gassmann
et al. (2017, S. 12 ff.), wenn sie vorschlagen die eigene Branchenlogik zu durchbrechen
und außerhalb dieser zu denken, um das Geschäftsmodell des Unternehmens (Paradigm)
zu innovieren.
Auch bei der Informationsbeschaffung hat sich in den letzten 70 Jahren einiges
getan (vgl. auch Kap. 5: Digitale Beobachtung in der Marktforschung und Kap. 6:
Digitale Transformation der Umfrageforschung). Berichten Berekoven et al. (2009,
S. 141) beispielsweise noch davon, dass Beobachtungen zwar eine wichtige, hinsicht-
lich ihres Volumens aber eher bescheidene Rolle spielen, haben sich im Rahmen der
Digitalisierung die Voraussetzungen massiv verändert. So schlagen Siggelkow und
Terwiesch (2019, S. 101 ff.) ‚connected‘ Customer Relationships vor, um einerseits
durch die Verbindung intensiver zu lernen und andererseits auch aus der Wiederholung
des Kauf- & Konsumaktes zu lernen, um so die Kundenbeziehung zu intensivieren. Sie
unterscheiden hier eine Informationsbeschaffung auf individueller Ebene, dem Lernen
durch Beobachtung einzelner Personen, von der Informationsbeschaffung auf kollektiver
Ebene, dem Lernen durch Beobachtung vieler Personen (vgl. Siggelkow & Terwiesch,
2019, S. 112). Beide Arten haben spezifische Vorzüge und führen jeweils zu einem
größeren Fit zwischen Angeboten und Bedürfnissen.
Ein Hotelgast kauft Erholung und Schlaf (Kernnutzen). Dazu benötigt er u. a. ein
Zimmer, ein Bett, einen Schrank und eine Waschgelegenheit. Der Kernnutzen wird
also durch verschiedene materielle Bestandteile (Produkte) erweitert, allerdings auch
durch immaterielle Bestandteile (Dienstleistungen), wie zum Beispiel einem freund-
lichen Check-In, 24h Service oder Ruhe. Je höherwertiger nun diese Nutzenbestand-
teile2 für den Konsumenten sind, desto höher ist auch seine Zahlungsbereitschaft.
Zusätzlich generiert bspw. auch ein angemessener Preis, eine interessante und
ansprechende Informationsübermittlung, sowie ein passender Verkaufskanal mit
individuellen Zahlungsmodalitäten einen Nutzen. ◄
Einige Kund:innen präferieren das Erlebnis im Kino, für andere bleibt nur die Zeit
im Flugzeug, wiederum andere wollen den Film im FreeTV sehen oder vorab schon
streamen. Auch der Konsum mittels physischer Datenträger (z. B. Blueray) ist aktuell
2 Homburg 2017, S. 1003 ff.) spricht hier u. a. von der Ausstattungspolitik, die im vorliegenden
Fall allerdings im Verständnis der Produkt- & Dienstleistungen aufgeht. Die Ausgestaltung des
Verkaufsraums selber (im Verfügungsbereich des Händlers), zählt für einen Händler ebenso zur
Produkt- & Dienstleistung ggü. dem Hersteller auf der einen Seite, sowie dem Endkunden auf der
anderen Seite (vgl. u. a. Müller-Hagedorn 2005, S. 397 ff.).
3 Die Gestaltung des Vertriebsweges, und damit indirekt verbunden auch die Entscheidung für
die Qualität der Ausstattung eines typischen Verkaufsraums, ist Teil der Distributionspolitik (vgl.
Homburg 2017, S. 878 ff.)
12 C. Lucas
noch nicht ausgestorben und teilweise durch eine Sammelleidenschaft und dem damit
verbundenen Erwerb einer materiellen Kopie beeinflusst. ◄
Geht man davon ausgeht, dass ein Unternehmen entweder mehr als ein singuläres
Angebot offeriert (i ≥ 1) oder aber dieses an mehr als eine:n einzelne:n Kund:in ver-
kauft (j ≥ 1), bietet sich, im Sinne einer Preisdifferenzierung, eine Mischkalkulation zur
Deckung der Kosten an (vgl. Simon & Fassnacht, 2016, S. 244). Die Beziehungen sind
dabei heutzutage nicht mehr nur auf eine einseitige Verbindung vom Unternehmen zum
Kunden beschränkt, sondern können auch:
laufen und von dort in einer Art Netzwerk zu weiteren Marktteilnehmern (vgl. u. a.
Bruhn, 2014, S. 23). Durch diese Zwei- bzw. Mehrseitigkeit des Informationsflusses,
u. a. vom Unternehmen zum Kunden und zurück, ergeben sich ganz neue Preismodelle.
Die (kostenlose) Filmdatenbank Prime Video von Amazon oder auch die Such-
funktion von Google dienen vornehmlich dazu, Verhaltensinformationen über
Nutzer:innen zu generieren, um so andere Produkte des Unternehmens besser ver-
kaufen zu können (vgl. u. a. Siggelkow & Terwiesch, 2019, S. 189 f.). ◄
Als besonders effektiv haben sich bei der kundenindividuellen (dynamischen) Preis-
gestaltung auch Algorithmen (Process) erwiesen. Erkennt ein Algorithmus beispiels-
weise, dass ein:e potenzielle:r Kund:in einen hochwertigen Laptop zum Onlinekauf
verwendet, erhöht sich der Preis teilweise signifikant (Borgesius & Poort, 2017, S. 353).
Auch in der Kommunikationspolitik (Promotion) hat sich in den letzten 70 Jahren viel
entwickelt und erweitert. Zu klassischen Kommunikationsinstrumenten above-the-line,
wie bspw. der Mediawerbung, sind im Laufe der Zeit weitere Instrumente below-the-
line hinzugekommen, wie bspw. das Event-Marketing, Sponsoring, oder auch Product
Placement. Weitere, digitale Instrumente ergänzen diese seit den 2000er Jahren, wie
bspw. die Online-, Social-Media- oder mobile Kommunikation (vgl. Meffert et al., 2019,
S. 652). Bruhn (2016, S. 200 f.) erkennt in dieser Entwicklung unterschiedliche Phasen
und spricht aktuell von einer Phase der Dialog- bzw. Netzwerkkommunikation (seit den
2000er Jahren), die der individuellen kundenspezifischen Kommunikation des hier vor-
gestellten Marketing-House-Konzepts entspricht.
Marketplace, Amazon Credit Cards, Amazon Prime Video, Music & Reading ermög-
licht es Amazon, eine sehr spezifische (Bedürfnis-)Persona eines Kunden, Kotler
et al. (2021, S. 132 ff.) sprechen hier von einem Segment-of-One, zu erstellen. Mit-
hilfe dieser Daten kann Amazon seinen Kund:innen individuelle und bedürfnis-
optimierte Informationen zur Verfügung stellen, wie zum Beispiel Empfehlungen
für den nächsten Film oder das nächste Buch (vgl. Lernen auf individueller Ebene,
Abschn. 1.3.2)4. ◄
1.3.4 Perception
Customer Oriented Offerings sind immer aus der Konsumentensicht heraus gedacht
und zu verstehen. Dementsprechend ist über die (Unternehmens-)Kommunikation
die individuelle Wahrnehmung (Perception) der Stakeholder zu optimieren. Sämt-
liche marktrelevanten Unternehmensaktivitäten haben sich also auf die Perception zu
konzentrieren, sodass die Ziel- und Strategieplanung genau hier ansetzen muss.
Diese Wahrnehmung kann nun in unterschiedliche Phasen unterteilt werden, sodass
aus Konsumentensicht von einer Customer Journey gesprochen werden kann. Siggelkow
und Terwiesch (2019, S. 65 f.) erkennen drei Phasen der Customer Journey (i.w.S).:
• Recognise the customer need: ‚Warum‘ ein:e Konsument:in interagieren möchte, dem
Ergründen seiner:ihrer individuellen Bedürfnisse
• Request the desired option: ‚Wie‘ findet der:die Konsument:in heraus, dass es ein
Angebot gibt, wie wählt er:sie aus, bestellt und bezahlt er:sie? (Customer Journey,
i. e. S.)
• Respond and provide the desired option: ‚Welche‘ spezifische Ausgestaltung des
Angebots passt, um die Erwartungen des:der Konsument:in zu erfüllen?
4 Zusätzlich
lernt Amazon noch auf kollektiver Ebene (vgl. Abschn. 1.3.2), bei welchen Produkt-
& Dienstleistungen Kunden markentreu sind, um so ihrerseits Hersteller von eher generischen
Produkten zu werden und schnell Marktanteile zu gewinnen (vgl. Siggelkow and Terwiesch 2019,
S. 105).
14 C. Lucas
Beispiel5 Respond-to-Desire-Angebot
Die Druckerpatrone ist leer, man loggt sich in einem Online-Store ein, sucht die
richtige Druckerpatrone, bestellt und bezahlt mit einem Klick, da die Zahlungs-
informationen und die Adresse bereits hinterlegt sind. ◄
Beispiel Curated-Offering-Angebot
Die Druckerpatrone ist leer, man loggt sind wiederum in seinem Online-Store ein,
diesmal schlägt die Website basierend auf vorangegangenen Interaktionen bereits die
richtig Druckerpatrone vor und empfiehl gleichzeitig noch passendes Druckerpapier
dazu. ◄
Beispiel Coach-Behaviour-Angebot
Beispiel Automatic-Execution-Angebot
1.3.5 Paradigm
Die theoretisch möglichen Alternativen reichen von einem Angebot für ein Kunden-
segment bis hin zu mehreren Angeboten für unendlich viele (Individual-)Kund:innen.
Beispielhaft könnte man sich die Alphabet Inc. vorstellen, deren Google-Such-
maschinenergebnisse für jede:n Kund:in individualisiert angeboten werden. Gleich-
zeitig hat Alphabet aber mehrere grundlegend unterschiedliche Angebote im Sortiment,
speziell für die Sparte Google bspw. Google Analytics, Android, Chrome, Gmail, Maps,
Shopping, Translate oder YouTube, um nur einige zu nennen. Die erste Dimension
betrifft also die Angebotsbreite und die zweite Dimension die Angebotstiefe (vgl. auch
Meffert et al., 2019, S. 399 ff.).
Eine dritte Frage, die hier beantwortet werden muss, ist die Frage nach dem Ertrags-
modell über alle Customer Oriented Offerings (COOi) hinweg (vgl. u. a. Gassmann
et al., 2017, S. 6 f.; Siggelkow & Terwiesch, 2019, S. 173 ff.):
Beispiel Geschäftsmodelle
Bei Wikipedia wird bspw. ein Ertrag durch Spenden generiert, bei LinkedIn bezahlt
nur ein Teil der Konsumenten (Freemium-Modell), bei Ryan Air wird ein Ertrag durch
den Verkauf von Zusatzleistungen generiert (Add-On-Modell). Ebay und Airbnb nutzen
Modelle, bei denen das Unternehmen als Plattformbetreiber agiert (Peer-to-Peer-
Modell), Gilette und Nespresso verpflichten Kunden dazu, Zusatzleistungen zu kaufen
(Lock-In-Modell), und ShareNow lässt sich bspw. nur für die Nutzung bezahlen (Pay-
per-Use-Modell). ◄
16 C. Lucas
Bei erster Frage geht es um die Anspruchsgruppen, die „einen Einfluss auf die Aktivi-
täten des Unternehmens ausüben können oder im Gegenzug von diesem beeinflusst
werden“ (Müller-Stewens & Lechner, 2016, S. 26): Mit welchen will das Unternehmen
konkret zu tun haben, bzw. welche werden als relevant erachtet? Dazu müssen Markt-
segmente gebildet werden und es muss sich für ein spezifisches Marktsegment ent-
schieden werden (vgl. Kotler et al., 2021, S. 20 f.). Die zweite Frage beschäftigt sich
mit der Wahrnehmung (Perception) bei diesen Anspruchsgruppen, auf diesem Markt.
Positionierung ist also „What you do to the mind of the prospect“ (Ries & Trout, 2001,
S. 2): Das Unternehmen wird im Verstand des Konsumenten etabliert und positioniert.
Beispiel Positionierung
Zigarettenmarken wie Marlboro versuchten vor einigen Jahren noch für Werte wie
Freiheit, Pflichterfüllung, Männlichkeit und Unabhängigkeit zu stehen, personifiziert
im Marlboro-Mann. Mittlerweile wurde aber verstanden, dass die Wahrnehmung
der Konsumenten eine andere ist und so konzentriert man sich nun darauf, diese
Wahrnehmung für sich zu nutzen, um die neue Marke Iqos richtig im Verstand der
Anspruchsgruppen zu positionieren: der Marlboro-Mann ist Geschichte (vgl. u. a.
Weiguny, 2019). ◄
1.3.6 Market
Was ist neu an diesem Konzept, worin unterscheidet sich das Marketing-House-Konzept
von anderen Sichtweisen?
Das hier vorgestellte Konzept ist mit der Marketingdefinition der American Marketing
Association, zumindest in großen Teilen, vereinbar:
„Marketing is the activity, set of institutions, and processes for creating, communicating,
delivering, and exchanging offerings that have value for customers, clients, partners, and
society at large“ (vgl. AMA, 2017).
Auch bei dieser Definition steht das Angebot (Offering) im Mittelpunkt der Betrachtung,
welches für eine größere Unternehmensumwelt (Stakeholder) Wert haben muss
(Perception). Dieses Angebot wird erzeugt (create: Product&Service) durch aktives
7 Kahneman et al., (2021, S. 345 ff.) schlagen mit dem Strukturierten Entscheidungsprotokoll einen
Weg vor, der schon jetzt in diese Richtung deutet.
18 C. Lucas
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Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus.
Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-Management
und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt hier als Professor für
Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u.a. in den Fächern Digital Business,
Marketing, Marktforschung und Innovation Management. Parallel bietet er als Geschäftsführender
Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen internationalen Fahrservice für Teams und
Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Teil I
Konsumentenverhalten
Quo vadis, Homo digitalis?
2
Menschen, Medien und Marketing im digitalen Zeitalter
Zusammenfassung
„Um die Zukunft zu bewahren, brauchen wir eine umfassendere Kenntnis der
historischen Prozesse, durch die wir in die Gegenwart gelangt sind.“ (Trentmann
in Herrschaft der Dinge: Die Geschichte des Konsums vom 15. Deutsche Verlags-
Anstalt, S. 33, 2017). Heute sind Informationen überwiegend digital verfügbar, sie
sind digitaler Natur. Ebenso innovative Waren und Dienstleistungen. Aber welchen
Einfluss hat diese Digitalität auf die Natur des Menschen? Eine ganze digitale Welt
ist im Entstehen befindlich; der „digitale Zwilling“ unseres Planeten soll noch in
dieser Dekade Realität werden (EU-Initiative DestinationE in Shaping Europe’s
digital future, 2022). Auch der Markt für digitale Werbung boomt – allerdings hat
der Zuwachs an verfügbaren Plattformen und Kanälen nicht nur Vorteile gebracht:
Aufmerksamkeit ist zur hart umkämpften Währung geworden und Unternehmen
stellen sich zunehmend die Frage, wie sie ihr Marketing auch für die Zukunft erfolg-
reich gestalten können. Werden wir zu digitalen Avataren unserer selbst, die auf dem
Planeten „DestinationE“ durch das digitale „Metaversum“ schweben? Was macht die
G. Schuster (*)
IU Internationale Hochschule, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
V. Renneberg
IU Internationale Hochschule, Bad Reichenhall, Deutschland
E-Mail: [email protected]
S. O’Gorman
IU Internationale Hochschule, Eglharting, Deutschland
E-Mail: [email protected]
digitale Revolution mit uns als Menschen und welche Konsequenzen ergeben sich
für Unternehmen? Theorien menschlicher Grundbedürfnisse zeigen, dass persönliche
Beziehungen, multisensorische Erfahrungen und der direkte und physische Kontakt
zur Umwelt nötig sind. Storytelling, disruptive und emotionale Ansprache in der
Marketingkommunikation, kundenzentrierte Angebote im Customer Service: Best
Practice Cases zeigen, dass Empathie, Emotion und Digitalisierung sich nicht gegen-
seitig ausschließen, sondern einander im digitalen Transformationsprozess ergänzen.
Eine gelungene Integration ist möglich und der Mensch ist letztendlich vielleicht
weniger ein Homo digitalis, als ein Homo hybridus.
2.1 Einleitung
„Die kognitive Revolution vor etwa 70.000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in
Gang. (…) Niemand, schon gar nicht die Menschen selbst, konnte ahnen, dass ihre Nach-
fahren eines Tages über den Mond spazieren, Atome spalten, das Genom entschlüsseln oder
Geschichtsbücher schreiben würden.“ (Harari, 2019, S. 11 f.).
„Wie lange sind wir noch Mensch?“ fragt der europäische Kulturkanal Arte in seiner
Reihe Homo Digitalis, die diese Frage im Untertitel trägt (Arte, n. d.).
Diese Frage lässt sich damals wie heute und auch in Zukunft im Grunde ganz ein-
fach beantworten: So lange Menschen aus Fleisch und Blut sind, sind sie Menschen,
keine Androiden, keine Cyborgs, keine Hybriden jeglicher Art. Und auf die nahe-
liegende Frage, was das Menschsein ausmacht, liefert – um eine zeitgemäße Quelle
zu konsultieren – der US-amerikanische Autor Philip K. Dick in seinem dystopischen
Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ (1968) die Antwort: Es ist die
Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen. Empathie im Fokus
des Menschseins.
Arte stellt nach der bewusst ostentativen Auftaktfrage im Teaser seines crossmedialen
Angebots schließlich aber doch noch die viel zentralere, entscheidende Frage: Was
macht die digitale Revolution mit uns als Menschen?
Die digitale Revolution datiert auf den Ausgang des 20. Jahrhunderts, als nahezu
weltweit der Umbruch in fast allen Lebensbereichen hin zu einem digital vernetzten
Lebensstil führte. Die digitale Revolution wird in Fachkreisen auch als sogenannte vierte
industrielle Revolution postuliert, kommt ihr doch eine ähnliche Bedeutung zu, wie der
ersten und der dritten, etwa 250 bzw. 50 Jahre zuvor.
Der Technikkritiker, Medienphilosoph und Sozialanthroposoph Günter Anders
fokussierte bereits in den 1950er Jahren auf die Konsequenzen der Medialisierung der
Gesellschaft, die am Rande bzw. infolge der Zweiten industriellen Revolution den Weg
zur Digitalisierung ebnete:
2 Quo vadis, Homo digitalis? 25
„(.) Homo sapiens hat die Spielregeln neu geschrieben. Diese eine Affenart hat es inner-
halb von 70.000 Jahren geschafft, das globale Ökosystem radikal und beispiellos zu ver-
ändern. Unser Einfluss entspricht schon heute dem der Eiszeiten und der tektonischen
Verschiebungen. Binnen eines Jahrhunderts dürfte unser Einfluss noch den des Asteroiden
übertreffen, der vor 65 Millionen Jahren den Dinosauriern den Garaus machte. (Harari,
2019, S. 103)
Content, ergänzt um den interaktiven Ansatz des Web 2.0 und spezifische Applikationen
(sogenannte Apps), die genau auf die Bedürfnisse und Ansprüche der Zielgruppen
zugeschnitten sind.
Bedingt durch die Herausforderungen des digitalen Zeitalters haben sich die Voraus-
setzungen der Medien- und Kommunikationsbranche in den vergangenen drei Jahr-
zehnten von Grund auf verändert. Die sich über alle gesellschaftlichen Bereiche
erstreckende Einbindung von neuen Kommunikationstechnologien in den Alltag
der Menschen stellt in ihrer Bedeutung einen ähnlich großen Einschnitt dar wie die
Erfindung des Buchdrucks. Nicht nur der Medienkonsum, sondern auch die Organisation
des (virtuellen) Zusammenarbeitens und des Lebens an sich sind ohne Smart Devices
kaum noch vorstellbar; man denke beispielsweise an die Smart-Steuerung im Rahmen
von Smarthome-Konzepten. Und genau deshalb sind die smarten, digitalen Devices
von Alexa bis zum Smartphone heutzutage nicht mehr wegzudenken, für manch einen
unersetzlich.
Aber – und genau das ist der wesentliche Punkt in der Diskussion um den Menschen
als digitales Wesen – diese Devices sind bloß Instrumente, Werkzeuge, derer sich
der Mensch seit Menschengedenken bedient. Nur eben sind sie jetzt nicht mehr
ausschließlich mechanisch oder elektronisch, sondern auch digital; es sind digitale Werk-
zeuge. Insofern ist der Mensch ein digitales Wesen, ein Homo digitalis – aber er bleibt
Mensch, ein empathisches, emotionales Wesen, das sich digitaler Werkzeuge bedient,
um seinen Alltag zu erleichtern, um sich zu bilden, zu informieren, zu unterhalten und
zu kommunizieren. Nur hat sich die Vielfalt an Medien und Kommunikationsmitteln im
Zuge der Digitalisierung stark vergrößert. Es bieten sich nun also zahlreiche Möglich-
keiten der Rezeption und der Kommunikation. Diese neue Vielfalt lässt den von Anders
proklamierten solistischen Massenkonsum zu einem individuellen, individualistischen
Massenkonsum werden. Die Individualität des Menschen wird insofern sogar durch die
Digitalisierung unterstrichen, und überwindet – auch dank des Web 2.0 – mit Blick auf
die Massenmedien die Nachteile der ausschließlich rezipierenden Teilhabe der zweiten
industriellen Revolution.
Das bevorstehende Ende der Third-Party-Cookies ist nur eine der Herausforderungen,
mit denen die digitale Werbewirtschaft zu kämpfen hat. Auch das massive Wachstum
an Angeboten und Formaten hat paradoxerweise nicht nur Vorteile für Unternehmen
gebracht. Mit der Zahl der Nutzer:innen von sozialen Medien ist auch die Anzahl an
Plattformen stark gestiegen. Brands kämpfen in sozialen Netzwerken, Messenger-
Diensten, bei Streaming Services, aber auch weiterhin in traditionellen Formaten um
die Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Konsument:innen. Manche Webseiten werden regel-
recht von Anzeigen überflutet, Nutzer und Nutzerinnen erleben dies nicht nur als äußerst
störend (Gordon et al., 2021, S. 16), sondern sie blenden Werbung zunehmend mental
28 G. Schuster et al.
aus. Im Rahmen einer Studie von P&G lag die durchschnittliche Aufmerksamkeits-
spanne für eine Anzeige bei 1,7 s – „little more than a glance.“ (Pritchard, 2021, S. 27).
Hwang (2020) spricht von einer „subprime attention crisis“ und warnt vor einer
bevorstehenden Krise insbesondere im Bereich des programmatic advertising. Es wird
immer schwieriger, Aufmerksamkeit für Werbung im Internet zu erzielen: Die click-
through-rate von Bannerwerbung liegt (Studien von Google und Facebook zufolge)
bei unter einem Prozent und sogar diese Zahl unterschätzt noch den Effekt des unbe-
absichtigten Clicks auf Werbung, vor allem bei der Nutzung von Smartphones (Hwang,
2020, S. 78 f.). Zudem wird es immer schwieriger, die Aufmerksamkeit jüngerer
Generation für Werbung im Internet zu gewinnen und zu halten:
„Since the Millennial and Generation Z consumer are distracted multitaskers in terms of
their digital behavior, a marketing challenge is to capture their attention with their digital
marketing communication and advertising.“ (Munsch, 2021, S. 22)
Laut Hwang hat diese Krise nicht nur unmittelbare Auswirkungen für diejenigen Unter-
nehmen, die Werbung im Internet plazieren, sondern sie gefährdet auch den Grund-
gedanken des Webs an sich: „Intense dysfunction in the online advertising markets
would threaten to create a structural breakdown of the classic bargain at the core of the
information economy: services can be provided for free online to consumers, insofar as
they are subsidized by the revenue generated from advertising.“ (Hwang, 2020, S. 26).
Die Pandemie und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen bis hin zu
Lockdowns haben innerhalb weniger Monate die Mediennutzung insgesamt – und auch
die Nutzung digitaler Medien quer über alle Generation hin – verstärkt. Sie war somit
digitaler Katalysator – zugleich aber auch „Brandbeschleuniger der Einsamkeit“ (Klug
& Hörmanseder, 2021). Für viele Menschen war der Verlust an menschlicher Nähe durch
„social distancing“ mit sehr belastenden Erfahrungen verbunden und es zeigt sich bereits
jetzt, dass psychische Erkrankungen häufiger geworden sind.
Auch hier hat die Digitalisierung dazu beigetragen, die Auswirkungen der Kontakt-
reduktionen zumindest teilweise zu mildern. Viele Menschen nutzten während der
Pandemie soziale Netzwerke, Messenger-Dienste und Videoanrufe, um den Kontakt
zu Freunden und Familie nicht zu verlieren. Eine Kompensation für persönliches Mit-
einander sind digitale Medien allerdings nicht, wie (Beck, 2020, S. 61) ausführt:
Die Digitalisierung hat eine Fülle von Möglichkeiten für Unternehmen und Kunden
geschaffen. Gleichzeitig stellen sich aber auch Fragen, welche Auswirkungen durch
die Überflutung mit digitalen Angeboten auf unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und
2 Quo vadis, Homo digitalis? 29
auf die Ausgestaltung von sozialen Beziehungen entstehen. Die entscheidende Frage
ist dabei nicht, ob Digitalisierung mit einem „Verlust an Menschlichkeit“ einhergeht,
sondern was Unternehmen leisten müssen, um Digitalisierung erfolgreich zu gestalten:
Wie können Anforderungen von Menschen zu einem wesentlichen Bestandteil digitaler
Transformationsprozesse werden?
Ein großes Gehirn, der Gebrauch von Werkzeugen, verbesserte Lernfähigkeit und
komplexe gesellschaftliche Strukturen waren für den Homo sapiens ein gewaltiger Über-
lebensvorteil gegenüber anderen Tier- und Menschenarten (vgl. Harari, 2019, S. 20).
In unserer zivilisierten VUCA1-Welt geht es meist nicht mehr ums nackte Überleben,
sondern oftmals um Grundbedürfnisse eines angenehmen Lebens.
„Es ist Zeit für eine neues Menschenbild.“ postuliert Bregman (2021, S. 433).
Diese Aussage von Bregman in seinem jüngst veröffentlichten Buch, in dem er auf die
positiven Aspekte der Menschheit fokussiert, sollte von mehreren Seiten betrachtet
werden.
Maslow spricht zum ersten Mal 1943 in seinem Artikel „A theory of human
motivation“ von fünf Grundbedürfnissen (Existenzbedürfnisse, Sicherheitsbedürf-
nisse, Sozialbedürfnisse, Bedürfnisse nach Anerkennung und Wertschätzung und dem
Bedürfnis nach Selbstaktualisierung) (vgl. Maslow, 1943). In seinem Buch „The Farther
Reaches of Human Nature“ (vgl. Maslow, 1971) erweiterte er das Modell um drei
weitere Bedürfnisse: kognitive Bedürfnisse, ästhetische Bedürfnisse und Transzendenz.
Maslows Modell ist bekannt und umstritten zugleich, wegen seines pyramidenförmigen
Aufbaus, der suggeriert, dass erst das unterste Bedürfnis erfüllt sein muss, bevor das
nächste erfüllt werden kann. Tatsächlich hat Maslow selbst diese stringente Reihen-
folge nie festgelegt. So kann beispielsweise ein Künstler in einer frühen Phase über-
lappende physiologische Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Sicherheit haben sowie
gleichzeitig das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung spüren. In der Abb. 2.2 werden
die acht Bedürfnisse nach Maslow (vgl. Maslow, 1971) grafisch so dargestellt, dass die
Überlappung der Bedürfnisse deutlicher wird, wobei die Größe der einzelnen Elemente
keinen Hinweis auf ihre für jeden Menschen individuelle Wichtigkeit geben soll.
Überlappende Bedürfnisse sind auch bei den Sinus-Milieus (Sinus Institut, 2022) zu
erkennen. Bei der Segmentierung nach Grundorientierung und Sozialer Lage in zehn
Milieus überlappt sich jedes Milieu mit den jeweils angrenzenden Milieus (Pitters &
Kastlunger, 2020, S. 51). Klaus Grawe (Grawe, 2000) hingegen sieht fünf psycho-
logische Grundbedürfnisse: das Bedürfnis nach
Grawe (2000) geht davon aus, dass eine dauerhafte Nichtbefriedigung der von ihm
benannten Bedürfnisse zur Schädigung der psychischen Gesundheit führt.
Allen Ansätzen gemeinsam ist die Notwendigkeit gesellschaftlicher Strukturen,
sozialen Bedingungen und Sozialbedürfnissen. Auch für den modernen Menschen ist es
wichtig, persönliche Beziehungen zu anderen (Menschen) aufzubauen und zu erhalten.
Weltweit erfahren die Apple-Stores einen enormen Zulauf: Die persönliche Beratung
durch einen versierten und zugewandten Verkäufer – verbunden mit der Haptik der
neuen Apple-Geräte – ist immer noch von hohem Wert. Hier wird deutlich, wie sehr
für uns Homo sapiens die Gesellschaft anderer wichtig ist, und wo die Digitalisierung
an ihre Grenzen kommt. Während der Pandemie ließ sich gut beobachten, dass nicht
nur zwangsläufig digitale Technologie mehr genutzt wurde, sondern vielfach auch
ein stärkeres Bedürfnis nach menschlicher Interaktion entstanden ist und psychische
Erkrankungen zugenommen haben. Gemeinsam sind den Ansätzen zu menschlichen
Grundbedürfnissen ebenfalls die Bedeutung von verbesserter Lernfähigkeit, kognitiven
Bedürfnissen, Orientierung und Kontrolle. In diesen Bereichen ist die Digitalisierung
2 Quo vadis, Homo digitalis? 31
in den zurückliegenden Jahren enorm weiterentwickelt worden und es ist ein deutlicher
Nutzen für die Konsument:innen zu erkennen.
Hinzu gekommen sind in der modernen Welt Bedürfnisse nach Transzendenz sowie
Lustgewinn und Unlustvermeidung. Prestige und Selbstwerterhöhung klingen zwar
modern, bei der Betrachtung des Federschmucks indianischer Häuptlinge, der Aus-
stattung römischer Herrscher oder Monarchen ist es aber offensichtlich ein Bedürf-
nis, welches den Menschen schon lange begleitet. Die Selbstwertsteigerung durch
Konsum funktioniert, da der Konsum uns das gute Gefühl vermittelt, attraktiv, aus-
reichend versorgt, wohltätig oder gar clever zu sein. Der Kauf eines Produktes oder einer
Dienstleitung stimmt uns positiv und gibt für den Moment des Erwerbs unserem Leben
einen tieferen Sinn. Wir fühlen uns einer Gemeinschaft zugehörig und akzeptiert. Hier
spielt es keine Rolle, ob der Kauf offline oder online stattgefunden hat (Pitters, 2020,
S. 50 ff.). Konsum ist ein wesentlicher Teil unserer sozialen Identität. Über die Dinge
drücken wir uns aus und treten mit anderen in Beziehung (Trentmann, 2017, S. 23).
Wir Menschen sind geprägt durch unser Umfeld, vor allem durch andere Menschen.
Die Verknüpfung mit anderen Menschen ist tief in uns verwurzelt und lässt sich sogar
durch Neurowissenschaften belegen. Die – auf der Basis neuronaler Forschung
basierende – Limbic Map (Häusel, 2021) spricht davon, dass Kaufverhalten durch drei
Emotionssysteme (Stimulanz, Dominanz und Balance) geprägt ist. Ähnlich der zwölf
Archetypen nach C.G. Jung (Jung, 2021) klassifiziert Häusel sieben Limbic-Typen,
wie bspw. den Abenteurer und den Hedonisten. Als Archetypen bezeichnet C.G. Jung
die dem kollektiven Unbewussten zugehörigen vermuteten Grundstrukturen mensch-
licher Vorstellungs- und Handlungsmuster (Jung, 2021). Ein Archetyp steht also für eine
symbolische Figur, die mittels sozialpsychologischer Lernprozesse über Generationen
und Kulturen hinweg dieselben Emotionen und Assoziationen bei Menschen auslöst.
Auch er identifiziert Helden/Abenteurer und Schöpfer/Hedonisten. Auch hier geht es um
Identifizierung mit einem Typen, der dem eigenen Ich am meisten ähnelt oder dessen
Züge man sich für die eigene Persönlichkeit wünscht. Eine Übersicht der zwölf Arche-
typen nach C.G. Jung findet sich in der Abb. 2.3.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass wir den direkten und physischen Kontakt
zur Umwelt benötigen, um uns zu identifizieren und ein Teil der Gesellschaft zu sein.
Einiges lässt sich digital herleiten oder gar ersetzen – aber gänzlich kann ein Roboter, so
gut er auch programmiert ist, einen Menschen nicht überflüssig machen.
Nach dem Blick auf menschliche Bedürfnisse, die uns schon seit vielen Jahrtausenden
prägen, soll es hier um die Frage gehen, welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für
die Digitalisierung von Unternehmen haben. Wie können diese Bedürfnisse trotz oder
mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung berücksichtigt werden? Wie
erreichen Unternehmen den Kunden nicht nur als Touchpoint, sondern wie erreichen sie
32 G. Schuster et al.
Abb. 2.3 Archetypen nach C.G. Jung (Darstellung von Holger Ziemann)
den potenziellen Kunden mit seinen Bedürfnissen und damit auch als zufriedenen und
loyalen Kunden für die Zukunft?
Wie in 2.3 ausgeführt existiert nicht nur ein Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung
durch z. B. Berater:innen oder Verkäufer:innen, sondern auch der Wunsch nach multi-
sensorischen Erfahrungen, wie in dem Beispiel von Apple in 2.4 oben angeführt, das
neueste Apple-Produkt in die Hand zu nehmen und auszuprobieren. Es ist wichtig,
anzuerkennen, dass Konsument:innen nicht nur funktionale, sondern auch emotionale
Bedürfnisse haben. Auch Storytelling befriedigt das Bedürfnis, am Leben anderer teil-
haben zu können. Jedes Jahr warten die Marketing-Community (und sicherlich auch
viele Konsument:innen) auf den neuen Weihnachtsspot von John Lewis, UK, um
jedes Mal wieder ob der emotionalen zwischenmenschlichen (oder vermenschlichten)
2 Quo vadis, Homo digitalis? 33
Storys zutiefst gerührt zu sein. Auch hier ist nicht entscheidend, ob der Kanal, über die
Konsument:innen erreicht werden, online oder offline genutzt wird.
Konsument:innen sollten die Wahl haben, wie und wo sie sich über ein Unternehmen
informieren, und Unternehmen stehen vor der Aufgabe zu verstehen, an welchem Punkt
in der Customer Journey welche Kundenansprache den größten Wert für den Kunden
stiftet. Dabei kommt es vor allem auf Qualität der Marketingkommunikation an und
weniger auf den Kanal. Menschen lieben Überraschungen und ansprechende, humor-
volle Werbung hat meist eine positive Wirkung, ob offline oder online, wie diese Bei-
spiele zeigen:
Kentucky Fried Chicken (KFC) musste mehrere Filialen schließen, da dem Unter-
nehmen Ware fehlte. Die Kunden waren verärgert, riefen die Polizei oder – noch viel
dramatischer – gingen zu Burger King. Die in den Zeitungen The Sun und Metro
erschienene Anzeige, die in Zusammenarbeit mit der Werbeagentur Mother London
erstellt wurde, zeigt ein Foto des leeren „FCK“-Eimers und einen Text mit dem Wort-
laut:
„We’re sorry. A chicken restaurant without any chicken. It’s not ideal. Huge apologies to
our customers, especially those who travelled out of their way to find we were closed. And
endless thanks to our KFC team members and our franchise partners for working tirelessly
to improve the situation. It’s been a hell of a week, but we’re making progress, and every
day more and more fresh chicken is being delivered to our restaurants. Thank you for
bearing with us. (Amatulli, 2018)“ ◄
Für ihre Instagram-Kampagne hat die Fastfoodkette KFC am Computer den jungen,
hippen Influencer-Colonel Sanders jr gebastelt. Der präsentiert sich heiß, zeitgemäß,
natürlich in Posen, wie sie zu Instagram gehören. Und mit den modernen Botschaften
dazu. In Besprechungen mit seinem Team ist „natürlich alles super, tolle Leute, super
Partner“. Sanders jr. fühlt sich der Natur innig verbunden, liebt es, selbst zu kochen:
„Ich mag zwar ein Restaurant-Mogul und ein weltweites Vorbild sein, aber ich bin
immer noch ein Kind, das es liebt, in der Küche zu stehen und rät: „Mach dein Ding.“
(Hermann, 2019). ◄
McDonald’s offline
Jedes Produkt wurde detailliert fotografiert, sodass die Nahaufnahmen leicht erkenn-
bar sind. Um zu zeigen, wie unwiderstehlich die amerikanischen Fast-Food-Produkte
sind, wurde jedes Plakat „angebissen“, sodass Zahnabdrücke hinterlassen wurden
– als Zeichen eines überwältigenden Verlangens nach Produkten von McDonald’s
(Neira, 2020). ◄
McDonalds online
Coca-Cola offline
Eine Werbetafel von Coca-Cola an einer Hauswand, versehen mit einem riesigen
Strohhalm, der in ein Fenster führt: Die berühmte Getränkemarke zeigte ein Plakat
mit dem Bild einer leeren Flasche und einem Strohhalm sowie der Aufschrift
"Refresh on the Coca-Cola Side of Life". Auch OOH-Plakatwerbung kann attraktiv
und innovativ sein und viele Besucher anlocken (Studiousguy, 2020). ◄
Coca-Cola online
London 2012: Gemäß den beiden Leitprinzipien "flüssige und verknüpfte" Inhalte
zu schaffen, beschloss Coke für die Olympischen Spiele 2012, jugendliche Ver-
braucher anzusprechen, indem es die inhärenten sozialen Werte der Spiele nutzte, bei
denen die ganze Welt zusammenkommt, um sich auf ein Ereignis zu konzentrieren.
Die (crossmedial inszenierte) Kampagne hieß “Move To The Beat", und die Idee
war, Musik als entscheidendes Element der Erzählung zu nutzen. Coke engagierte
den in London ansässigen Produzenten Mark Ronson und die Sängerin Katie B, die
mit fünf Olympia-Hoffnungen einen Song mit dem Sound ihrer Sportarten kreierten
(eConsultancy, 2018). ◄
Diese Beispiele machen deutlich, dass der Kanal nur ein Aspekt in der Marketing-
kommunikation ist. Der Kunde sollte im Mittelpunkt stehen, wie er es nach der
ursprünglichen Definition von Meffert (Meffert, 1986, S. 31) schon immer sollte. Der
moderne Begriff Consumer-centric betont dies seit einigen Jahren. Der Kunde sollte als
2 Quo vadis, Homo digitalis? 35
„Mensch“, als Wesen mit Empathie, Emotionen und Bedürfnissen eben gesehen werden,
nicht bloß als „User“.
Digitale Medien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Mehr als 74 Mio.
Menschen nutzten in Deutschland im Jahr 2021 das Internet (Statista, 2022a), 57 Mio.
sind auch in sozialen Netzwerken aktiv (Statista, 2022b). Über alle Altersgruppen hinweg
verbrachten die Deutschen im Jahr 2021 im Schnitt 149 min täglich im Web (Seven.
One Media GmbH, 2021, S. 10), bei den 12–19-Jährigen sind es sogar 241 min – eine
Steigerung von fast 90 % seit dem Jahr 2011 (mpfs, 2021, S. 33). In dieser „Generation
Z“ haben digitale Medien klassische Formate wie TV oder Radio zwar nicht komplett ver-
drängt, aber zurückgedrängt: 88 % der Jugendlichen nutzen täglich das Internet, nur knapp
die Hälfte sieht täglich TV (mpfs, 2021, S. 16). Messenger-Dienste und soziale Netzwerke
erreichen hohe Anteile, insbesondere WhatsApp wird von 92 % der Jugendlichen mehr-
mals pro Woche genutzt, gefolgt von Instagram und TikTok (mpfs, 2021, S. 37).
Unternehmen haben erkannt, dass sie dort aktiv sein müssen, wo ihre Kunden und
Kundinnen sind und dass sie vielfältige digitale Touchpoints in allen Phasen der
Customer Journey anbieten müssen.
Es ist nur konsequent, dass der Markt für digitale Werbung boomt. Besseres Targeting
und dadurch Verringerung von Streuverlusten, bessere Steuerung von Kampagnen durch
konkrete und messbare Indikatoren (wie Clicks oder Likes), erhöhte Glaubwürdigkeit
(z. B. durch Influencer-Marketing) sind nur einige der Vorteile, die Firmen zu schätzen
wissen. Für 2022 werden die globalen Ausgaben für digitale Werbung voraussichtlich bei
524 Mrd. US$ liegen (Cramer-Flood, 2021) und Prognosen zufolge werden im Jahr 2024
mehr als 65 % aller Werbeausgaben auf das Internet entfallen, im Vergleich zu 21 % für
TV-Werbung (Zenith, 2021, S. 2).
Es ist eine große Herausforderung, die ständig wachsende Zahl an Touchpoints
zu pflegen, einen konsistenten Markenauftritt in allen Kanälen und einheitliche
Servicelevels zu sichern. Gleichzeitig profitieren Unternehmen von den zahlreichen
neuen Chancen, die Online-Marketing im Web 2.0 bietet: Immer neue kreative Formate
und Funktionen können zur Bekanntmachung und Stärkung der Marke genutzt werden.
Just spices
Das Gewürze-Startup „Just Spices“ hat sich zum Ziel gesetzt, mithilfe von Rezepten
neue Follower zu gewinnen. Sogenannte „Reels“, also Kurzvideos, sind ideale
Formate, um potenzielle Kunden zum Kochen zu inspirieren, ihnen neue Rezepte zu
zeigen und auch, um den Einsatz der jeweiligen Gewürzmischungen zu vermarkten.
Die Reels von Just Spices erreichen zwischen 140.000 und 275.000 Views (Gardt,
2021). ◄
36 G. Schuster et al.
Auch im Customer Service werden digitale Medien seit vielen Jahren eingesetzt. Unter-
nehmen haben erkannt, dass sie die neuen Möglichkeiten der direkten Interaktion mit
Kunden nutzen können, um Kundenanfragen zu beantworten und haben zum Bei-
spiel spezielle Twitter Accounts aufgesetzt oder beantworten Anfragen über Facebook,
Instagram und andere soziale Netzwerke.
jetBlue
Aber auch für die Produktinnovation und -entwicklung sind digitale Technologien
essenziell geworden. Mithilfe von „Crowdsourcing“ nutzen Unternehmen den
kollaborativen Charakter des Web 2.0 für Ideengenerierung oder Produktdesign und
erzielen damit gute Erfolge, unter anderem mit Blick auf die Bedienungsfreundlichkeit
von Produkten (Allen et al., 2018). Digitales Marketing ist dabei ständig im Wandel –
getrieben durch neue technologische Entwicklungen (Hoffman et al., 2022), die unter
anderem die Interaktion zwischen Konsument:innen und Unternehmen verändern:
Chatbots Viele Unternehmen setzen bereits seit einigen Jahren Chatbots (digitale Kon-
versationsagenten) ein, um Interaktionen mit Kunden effizienter zu gestalten. Chatbots
sind insbesondere dann erfolgreich, wenn Aufgaben oder Anfragen klar abgrenzbar sind
und ein hohes Maß an Standardisierung erlauben. Sie können im Kundenservice ein-
gesetzt werden und einfache Fragen beantworten, bei Buchungen unterstützen, den Erst-
kontakt bei gesperrten Passwörtern managen oder auch automatisiert Kundenfeedback
einholen. Die Nutzung von Chatbots ist nicht nur für Unternehmen effizient: Viele
Kunden bevorzugen es bei einfachen Fragen, eine kurze Textnachricht zu schreiben, die
automatisiert sofort beantwortet wird.
NFTs Ein weiterer Meilenstein der Digitalisierung wurde mit NFTs erreicht. Als im
März 2021 das britische Auktionshaus Christie’s ein digitales Kunstwerk im Wert von
69 Mio. US$ versteigerte, wurde deutlich, dass NFTs im Mainstream angekommen sind.
Die Abkürzung NFT steht für „non-fungible token“, d. h. es handelt sich um nicht aus-
tauschbare, digitale Zertifikate. Ein NFT ist also eine digitale Besitzurkunde, und die
Speicherung auf einer Blockchain stellt sicher, dass Besitzverhältnisse von digitalen
Gütern eindeutig nachvollzogen werden können. Die Meinungen gehen derzeit aus-
einander: Sind NFTs tatsächlich „marketing’s latest idiot magnet“ (Ritson, 2022) oder
haben NFTs das Potenzial für grundlegende Innovationen auch im Marketing?
Die Anwendungsfelder für digitale Technologien sind in den letzten Jahren immer
vielfältiger und gleichzeitig auch immer „digitaler“ geworden. Bei aller Euphorie über
die Einsatzmöglichkeiten für das Marketing werden aber auch vermehrt Stimmen
laut, die fordern die „‘dark side‘ of new technology“ (Hoffman et al., 2022, S. 5) zum
Forschungsgegenstand zu machen.
Es ist schwer, dem scheinbar unaufhaltsamen Erfolgszug neuer, digitaler Technologien
nicht nur mit Begeisterung zu begegnen. Für den weiteren Erfolg der digitalen Trans-
formationsprozesse in Unternehmen ist es allerdings entscheidend, immer wieder zu hinter-
fragen, ob die Entwicklungen und der Einsatz von neuen Technologien wirklich durch
Kundenzentrierung geprägt sind. Ein Customer-Oriented-Offering (Lucas, 2020) sollte
die Erlebnisse der Kunden in den Mittelpunkt zu stellen. Problematisch wird es, wenn
Unternehmen den Einsatz von neuen Technologien lediglich unter dem Gesichtspunkt der
Effizienzoptimierung (sowohl mit Blick auf Serviceprozesse als auch für Marketing KPIs)
vorantreiben und nicht mit dem Ziel, bessere Kundenerfahrungen zu schaffen.
38 G. Schuster et al.
Fazit
Der Mensch wird immer in der realen Welt bleiben, solange er aus Fleisch und Blut
besteht, solange der menschliche Körper stoffliche Materie ist. Wir werden uns nicht
auflösen in digitale Pixel, aber die Welt um uns herum ist de facto bereits um eine
nicht-stoffliche Dimension, eine virtuelle Sphäre, also eine digitale Welt, die wir
selbst geschaffen haben, ergänzt: Medien-/Freizeiterlebnisse werden zunehmend
digitaler. Früher galten Besuche auf Jahrmärkten oder später in Fernsehstuben oder
Kinos als ultimative Highlights, heute haben wir die Wahl zwischen diesen Ereig-
nissen in der realen Welt und Erlebnissen mittels Virtual-Reality-Brillen. Wir können
beispielsweise wählen zwischen Theaterbesuch und Theaterabend mit VR-Brille
(Staatstheater Augsburg, 2022).
Hybride Events mit realen und virtuellen Veranstaltungen können künftig, konkret
auf die Bedürfnisse der Zielgruppen hin zugeschnitten, zentrale Instrumente in
Marketing und Werbung werden. Denn – und das hat die Corona-Pandemie gezeigt –
Menschen wollen an Veranstaltungen teilnehmen, Produkte vor Ort ausprobieren,
reisen, urlauben und feiern. Und sie wollen nicht nur digital, sondern von Angesicht
zu Angesicht kommunizieren, sich umarmen oder auf die Schulter klopfen. Auch
diese Kommunikationsformen werden niemals aussterben und gehören zum Mensch-
sein dazu. Und hier zeigt sich wiederum auch der Unterschied zu Androiden, Cyborgs
und Co: Der Mensch ist ein kommunikatives und empathisches Wesen. Aber keines-
falls im technischen Sinne empaticus und digitalis, sondern letzten Endes vielleicht
doch ein Homo hybridus. ◄
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40 G. Schuster et al.
Prof. Dr. Gabriele Schuster ist Professorin und Fachgebietsleitung für Marketing-Management
an der IU Internationale Hochschule in Hamburg und seit mehr als 23 Jahren in der dualen Lehre
tätig. Außerdem hatte sie Fach- und Führungsfunktionen in verschiedenen Branchen inne. In ihrer
Arbeit als selbstständige Beraterin begleitet sie zahlreiche Projekte und Veränderungsprozesse und
unterstützt Führungskräfte und Mitarbeiter durch Coaching, Workshops und Seminare.
2 Quo vadis, Homo digitalis? 41
Prof. Dr. Susanne O’Gorman ist Professorin für Marketing mit Schwerpunkt Customer
Centricity. Sie war vor ihrer akademischen Laufbahn mehr als 20 Jahre lang in der Marktforschung
und Beratung tätig und hat dort Kunden in der Strategie, Umsetzung und Messung ihrer Customer
Experience Projekte unterstützt. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich Customer Experience,
Customer Journeys und Digitalisierung.
Emotionalisierung der
Kundenbeziehung – Möglichkeiten und 3
Grenzen der digitalen Kommunikation
Stand der Forschung sowie
Handlungsempfehlungen für die Praxis
Daniel Schmid
Zusammenfassung
Emotionen spielen im Marketing eine beutende Rolle, da sie einen großen Einfluss
auf das Kaufverhalten haben. Emotionen werden durch Kommunikation beein-
flusst bzw. in vielen Fällen dadurch ausgelöst. Die zunehmende Digitalisierung
führt dazu, dass die persönliche und analoge Kommunikation zunehmend durch die
digitale Kommunikation ersetzt wird. Das heißt, die Nachricht wird nicht mehr von
Mensch zu Mensch übermittelt, sondern beispielsweise durch einen Computer. Für
das Marketing stellt sich die Frage, ob digitale Kommunikation auch in der Lage
ist, Emotionen bei den Empfänger:innen auszulösen. Um diese Frage zu klären,
beleuchtet die Arbeit zunächst die Besonderheiten digitaler Kommunikation, die
Entstehung von Emotionen sowie die Wahrnehmung von Botschaften über die
menschlichen Sinnesorgane. Darauf aufbauend untersucht die Arbeit auf Basis
aktueller Forschungen, ob beispielsweise digitale Kommunikation für „emotionale
Ansteckung“ der Teilnehmer eines virtuellen Events sorgen kann, oder wie sich der
Verlust von Hintergrundinformation, wie zum Beispiel der Gesichtsausdruck des/
er Empfängers:in der Nachricht, auf die Kommunikation und die Entstehung von
Emotionen auswirkt. Abschließend werden für den Einsatz digitaler Kommunikation
Handlungsempfehlungen für die Praxis gegeben.
D. Schmid (*)
IU Internationale Hochschule, Frankfurt, Deutschland
E-Mail: [email protected]
Die Digitalisierung verändert die Welt radikal und eröffnet Anbieter:innen und
Nachfrager:innen von Produkten und Dienstleistungen zusätzliche Perspektiven. Zum
einen haben heute die Konsument:innen viel mehr Angebote, sich über ein Produkt zu
informieren und es zu kaufen. Zum anderen haben die Herstellenden und Händler:innen
viel mehr Möglichkeiten, auf die Wünsche ihrer Kund:innen einzugehen, sie individuell
anzusprechen und auf vielseitige Weise mit ihnen zu kommunizieren. Auf diese Ent-
wicklung haben viele Unternehmen reagiert, indem sie beispielsweise ihre Werbeaktivi-
täten von klassischen Medien auf Onlinemedien verlagert haben. Unternehmen, wie zum
Beispiel Adidas, setzen den größten Teil ihres Werbeetats für Online-Marketingaktivi-
täten oder Aktivitäten, die über die digitalen Kanäle erfolgen, ein. Die Covid-Pandemie
hat diese Entwicklung nochmals beschleunigt. Aufgrund der Ansteckungsgefahr
wurden immer mehr Aktivitäten ins Internet verlagert. Die Folge war, dass Automobil-
herstellende ihre neuen Modelle nicht mehr auf Events dem Publikum präsentierten,
sondern auf digitalen Veranstaltungen. So wurde beispielsweise die Vorstellung des
neuen Audi Elektrofahrzeuges e-tron GT in das weltweite Datennetz verlagert. Das
interessierte Publikum konnte die Autopremiere über Livestream verfolgen. Mehrere
Millionen Menschen haben in den ersten 12 Monaten das Video von der Premiere im
Internet angesehen. Die Zahl ist deutlich höher als die Zahl der Besucher von Autoneu-
vorstellungen in den vergangenen Jahren. Es ist nicht verwunderlich, dass immer mehr
Unternehmen überlegen, auch künftig solche Events mittels digitalen Formaten durchzu-
führen.
Viele Unternehmen fragen sich, ob solche digitalen bzw. virtuellen Events künftig
die klassischen Events der analogen realen Welt ersetzen können. Die Marketingwissen-
schaft steht dabei vor neuen Herausforderungen und ist gefordert, Antworten zu finden
und Handlungsempfehlungen zu geben. Um die Frage klären zu können, inwieweit
digitale Kommunikation analoge und persönliche Kommunikation ersetzen kann, ist
es unabdingbar, sich mit dem Konsument:innenverhalten auseinanderzusetzen. Hierbei
ist zu untersuchen, ob beispielsweise bei einer virtuellen Autopremiere bei den Teil-
nehmenden genauso viele positive Effekte ausgelöst oder Emotionen erzeugt werden
können, wie bei einem Event im Showroom. Ähnliche Fragestellungen ergeben sich
bei der Kund:innenberatung via Zoom oder Whatsapp im Vergleich zur persönlichen
Beratung, bei der sich zwei Menschen gegenübersitzen.
Der folgende Beitrag zielt darauf ab, Antworten darauf zu finden und Empfehlungen
für die Praxis zu geben. Insbesondere geht es um die Frage, inwieweit digitale
Kommunikation in der Lage ist, Emotionen bei Kund:innen zu erzeugen. Die
Emotionen werden deshalb genau analysiert, weil die Marketingwissenschaft in den
letzten Jahren zu der Kenntnis erlangt ist, dass Emotionen einen wesentlichen Ein-
fluss auf das Kund:innenverhalten ausüben. Wissenschaftler gehen davon aus, dass
95 % der Entscheidungen unterbewusst und emotional getroffen werden (Mayer
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 45
de Groot, 2014). Die folgende Arbeit setzt sich deshalb zunächst mit den Themen
der digitalen Kommunikation auseinander. Danach wird dargestellt, durch welche
Faktoren das Kund:innenverhalten beeinflusst wird. Anschließend wird ein Über-
blick darüber gegeben, welche Bedeutung Emotionen für die Kaufentscheidung haben
und wie Emotionen entstehen beziehungsweise gesteuert werden können. Im zweiten
Kapitel wird untersucht, ob und inwieweit digitale Kommunikation in der Lage ist,
bei Konsument:innen Emotionen hervorzurufen. Es wird erörtert, welche Besonder-
heiten digitale Kommunikation aufweist. Im letzten Teil des Beitrags werden konkrete
Handlungsempfehlungen für die Praxis gegeben, denn es zeigt sich immer wieder, dass
nicht die digitalen Kommunikationskanäle in den Kinderschuhen stecken, sondern die
Medienkompetenz der Nutzer (Bauer & Müssle, 2020).
Für Bauer und Müssle sind die oben genannten Definitionen zu eng gefasst (2020).
Sie kritisieren, dass viele Besonderheiten der digitalen Kommunikation in diesen
Definitionen keine Berücksichtigung finden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen
digitaler und analoger Kommunikation machen sie daran fest, dass man bei der digitalen
Kommunikation nicht erkennt, wie eine E-Mail-Nachricht bei den Empfänger:innen auf-
genommen wird.
46 D. Schmid
Insgesamt sind sich die meisten Forschenden einig, dass sich digitale Kommunikation
letztlich von der bisherigen (analogen) Kommunikation nur darin unterscheidet, dass
die Übermittlung der Botschaft über digitale Kanäle erfolgt. In der Praxis ist es dennoch
schwierig, die Kommunikation klar in die genannten Kategorien einzuordnen. So ist ein
analoges Meeting, bei denen zwei Teilnehmende via Zoom zugeschaltet sind, als digital
zu bezeichnen. Viele Forschende betonen, dass digitale Kommunikation nicht alle Eigen-
schaften von analoger Kommunikation besitzt und umgekehrt. Digitale Kommunikation
hat, im Unterschied zur persönlichen bzw. analogen Kommunikation, eine Vielzahl an
Besonderheiten, die im Verlauf des Beitrags erörtert werden.
In diesem Beitrag wird als digitale Kommunikation alle Arten von Kommunikation
verstanden, die über digitale Kanäle, wie zum Beispiel E-Mail, vermittelt wird.
• Messenger-Dienste
• Chatrooms
• E-Mails
• Social Media
• Videokonferenzen, z. B. Zoom
• Blogs
• Transfer-Dienste, z. B. dropbox
• Plattformen, z. B. Amazon
• Online-Welten, z. B. Second Life
• Open-Source-Communitys
• Crowdworking, z. B. Wikipedia
3.3 Konsument:innenverhalten
fischen Bedürfnisse der Kund:innen ausgerichtet werden. Die Aufgabe des Marketings
ist es, das Konsument:innenverhalten zu lenken mit der Absicht, die Kund:innen zum
Kauf zu motivieren. In den letzten Jahren wurden verschiedene Ansätze und Modelle
zur Erklärung des Kund:innenverhaltens entwickelt (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein,
2019, S. 10). Mit dem SR-Modell wurde ein Ansatz erarbeitet, der sich auf die von
außen ersichtlichen und messbaren Parameter Stimulus und Reaktion beschränkt. Er
bietet jedoch nur eine grobe Beschreibung für die Erklärung des Kaufverhaltens. Es
hat sich gezeigt, dass in diesem Modell wesentliche Punkte des Kaufverhaltens nicht
berücksichtigt werden. Insbesondere finden die psychischen Prozesse im Gehirn der
Konsument:innen, die einen wesentlichen Einfluss auf den Kauf haben, in dem Modell
keinen Niederschlag. Deshalb wurde das SOR-Modell entwickelt (Bagozzi et al.,
2000, S. 242). Dieses Modell versucht zusätzlich, die Abläufe und Prozesse im Gehirn
der Konsument:innen möglichst genau zu beschreiben. Das neobehavioristische SOR-
Modell wurde in den letzten Jahren weiter verfeinert und hat das Ziel, menschliches Ver-
halten möglichst exakt vorherzusagen. (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 14)
Wie in Abb. 3.1 vorgestellt, geht das SOR-Modell auf die psychischen Prozesse
im Gehirn der Konsument:innen ein und berücksichtigt auch die nicht beobacht-
baren Konstrukte des Kund:innenverhaltens. Insbesondere werden die kognitiven und
aktivierenden Faktoren, die zu einer Bewertung führen, analysiert.
Forschungen, die sich mit den Abläufen im Gehirn befasst haben, kamen zum
Ergebnis, dass insbesondere die Emotionen für die Bewertung eine sehr bedeutende
Rolle spielen. Emotionen gelten für viele Wissenschaftler als Treiber der Kaufent-
scheidung (Schlegel, 2011, S. 35). Deshalb sollen im weiteren Verlauf der Arbeit die
Bedeutung von Emotionen, ihre Entstehung und ihr Einfluss auf die Kaufentscheidung
näher untersucht werden. In einem weiteren Schritt wird überprüft, inwieweit digitale
Kommunikation Emotionen auslösen kann.
Um die Wirkung von Kommunikation zu analysieren, ist es erforderlich, sich mit dem
Modell der Kommunikation auseinanderzusetzen. Im Sender-Empfänger-Modell
von Shannon und Weaver wird der Kommunikationsprozess anschaulich beschrieben
(Abb. 3.2.). Das Modell basiert auf der Annahme, dass zur Kommunikation immer
ein Sender/eine Senderin und ein Empfänger/eine Empfängerin gehören. Der Sender
übermittelt mit einem Code (der Sprache) seine Nachricht an den Empfänger/die
Empfängerin. Der Empfänger/die Empfängerin entschlüsselt den Code und sendet eine
Antwort an den Sender/die Senderin zurück (Meinel und Sack 2009, S. 19).
Das Kommunikationsmodell hat sich durch weiterführende Forschungen dahingehend
verändert, dass sich die Übermittlung des Codes nicht nur einem Kanal, sondern ver-
schiedener Kanäle bedient. Es herrscht Einigkeit darin, dass Kommunikation in vielen
Fällen über mehrere Kanäle, meistens auch zeitgleich, erfolgt. Das bedeutet wiederum,
dass die Konsument:innen die Nachricht über verschiedene Sinnesorgane empfangen.
In diesem Zusammenhang wird von Multisensualität gesprochen. Der Begriff Multi-
sensualität beinhaltet für Steiner die „Ansprache einer Person über verschiedene
menschliche Sinne“ (2011). Er nennt den Gesichts- (Optik), Gehör- (Akustik), Geruchs-
(Olfaktorik), Geschmacks- (Gustatorik) und Tastsinn (Haptik) als besonders relevant für
das Marketing (Abb. 3.3). Multisensorische Ansätze gehen davon aus, dass die Wirkung
der kognitiven Verarbeitung eingehender Reize umso höher ist, desto mehr Reize gleich-
zeitig angesprochen werden (Steiner, 2011).
Mit dem Ziel, die Konsument:innen ganzheitlich über möglichst viele Sinne anzu-
sprechen, ist das Multisensorische Marketing entstanden. Nölke und Gierke verstehen
darunter eine gezielte Strategie, den Kund:innen die multisensorischen Eigenschaften
eines Produktes durch ein „multisensorisches, alle Sinne berührendes positiv-vertrauen-
erweckendes Gesamterlebnis“, zu vermitteln (2011). Um die Bedeutung der einzelnen
Reize und die Ansprache der verschiedenen Sinne besser zu verstehen, ist es wichtig,
erkennungswert als die Sprache haben. Diese Erkenntnis wird in der Literatur auch als
„Picture Superiority Effect“ bezeichnet (Whitehouse et al., 2006). Dass verbale und non-
verbale Reize im Gehirn in zwei getrennten Bereichen verarbeitet werden, wird auch als
duale Konditionierung bezeichnet (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 369). Der
Mensch nimmt deshalb nicht nur einzelne Reize war, sondern deren Summe. Deshalb ist
es wichtig, mehrere Sinne gleichzeitig anzusprechen.
Die Ergebnisse haben dazu geführt, dass im Marketing die mulitsensorische
Kommunikation bzw. modalspezifische Gestaltung der Kommunikation zunehmend
an Bedeutung gewinnt. Ziel dabei ist es, durch die gleichzeitige Ansprache mehrerer
Sinnesorgane die Wahrnehmung einer Marke oder Botschaft zu verstärken. Esch geht
davon aus, „dass das Erfahren und Erleben einer Marke mit unterschiedlichen Sinnes-
modalitäten signifikante Wertschöpfungsbeiträge leisten kann und einen multiadditiven
Effekt auf den Aufbau von Markenbekanntheit“ hat (2022). Durch aufeinander
abgestimmte multisensuale Reize wird die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung der
Informationen erleichtert und die Markenwirkungen verstärkt. Das heißt, dass eine Bot-
schaft, die über mehrere Sinneskanäle das Gehirn erreicht, „schneller und bis zu zehnmal
intensiver verarbeitet wird als ein einzeln ankommendes Signal“ (Nölke & Gierke, 2011,
S. 22).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Konsument:innen über unter-
schiedliche Kanäle angesprochen werden können. Um eine große Wirkung zu erzeugen
bzw. um überhaupt wahrgenommen zu werden, sollte die Ansprache mehrere Sinne
bestreffen.
Emotionen spielen im Alltag eine große Rolle. Emotionen entscheiden, ob uns etwas
gefällt oder ob wir uns wohlfühlen. Aus diesem Grund machen sich beispielsweise
Handelsunternehmen oder Hotels sehr viele Gedanken, wie sie die Geschäftsräume oder
Hotelzimmer gestalten. Die Wissenschaft hat aufgezeigt, dass Unternehmen, denen es
gelingt, Emotionen bei den Konsument:innen zu erzeugen, viele Vorteile haben. Positive
Emotionen wirken sich positiv auf den Kaufabschluss und die Kund:innenbindung aus
(Ackermann & Furchheim, 2018).
Der Begriff Emotion wird in der Wissenschaft unterschiedlich definiert. Insbesondere
in der Psychologie gibt es zahlreiche Definitionen (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein,
2019, S. 94). Grund für die unterschiedlichen Auffassungen ist die Tatsache, dass die
Entstehung von Emotionen bis heute nicht endgültig geklärt ist. Einen guten Überblick
über die verschiedenen Emotionsbegriffe gibt Plutchik (1991). Die meisten Definitionen
stimmen darin überein, dass eine Emotion eine innere Erregung ist, die als angenehm
oder unangenehm wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung der inneren Erregung wirkt
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 51
sich häufig auf das Ausdrucksverhalten, wie z. B. den Gesichtsausdruck, aus. Grund
dafür sind neuropsychologische Vorgänge, die auf die Gesichtsmuskulatur Einfluss
haben (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 94).
Die Gehirnforschung kommt zum Ergebnis, dass Emotionen mit und ohne
Beteiligung kognitiver Prozesse entstehen können (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein,
2019, S. 99). Die Forschenden sind sich einig, dass Emotionen durch interne Prozesse
und externe Stimuli ausgelöst werden können und letztlich zu konkreten Verhaltens-
weisen führen. Emotionen kennzeichnen im Gedächtnis insbesondere solche Verhaltens-
weisen, die erfolgreich waren und solche, die zu Misserfolg führten. Die „Somantic
marker“-Hypothese besagt, dass sich das Gehirn emotional bedeutsame Ereignisse als
angenehme oder unangenehme Situation abspeichert. Ferner sind es auch die Emotionen,
die die Dauer und die Intensität von Verhaltensweisen bestimmen, beispielsweise ob ein
Produkt nochmals gekauft werden soll oder nicht.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass Emotionen sehr wichtig sind und das Kauf-
verhalten beeinflussen. Die Konsument:innen suchen Situationen auf, die sich für
ihn gut anfühlen. Gleichzeitig geht er Situationen aus dem Wege, die bei ihm negative
Assoziationen hervorrufen.
Menschen lassen sich von Emotionen leiten. Studien zeigen, dass die Mehrheit
der Kund:innenerlebnisse durch Emotionen geprägt ist (Shaw & Hamilton, 2016).
Emotionen sind deshalb so bedeutend, da sie sich unmittelbar auf unser Denken aus-
wirken. Marketingexperten haben das Zusammenspiel von Emotionen und Kauf-
verhalten erkannt und setzen deshalb gezielt Maßnahmen ein, um Emotionen bei
den Konsument:innen zu wecken. In der Praxis gibt es sehr viele Beispiele für
Werbemaßnahmen, die darauf abzielen, positive Emotionen bei den Konsument:innen
zu erzeugen. Reize, die beispielsweise beim Betrachten einer Anzeige hervorgerufen
werden, sind jedoch nicht allein für die Entstehung von Emotionen verantwortlich. Die
Forschung zeigt, dass erst die Verarbeitung der aufgenommenen Reize im Gehirn dazu
führt, dass Konsument:innen eine Entscheidung treffen. Forschende sind sich einig, dass
der kognitiven Komponente eine besonders wichtige Rolle zu Teil wird. Die sogenannten
kognitiven Emotionstheorien gehen davon aus, dass Emotionen nicht primär durch
externe Stimuli, sondern vor allem durch innere kognitive Prozesse hervorgerufen
werden (Rothermund & Eder, 2020, S. 187). Folglich werden Emotionen nicht nur durch
Reize aus der Umwelt erzeugt, sondern sind Ergebnis der Verarbeitung der Reize im
Gehirn. Durch den Vergleich der inneren und äußeren Stimuli bekommt der Konsument
eine Einschätzung, wie schwierig es ist, das Ziel zu erreichen. Erst durch den Vergleich
eines externen Stimulis mit der internen Kognition können Emotionen, wie Enttäuschung
oder Freude, entstehen (Rothermund & Eder, 2020). Emotionen entstehen demnach aus
52 D. Schmid
der Verknüpfung von externen physischen Reizen (Situation) und internen kognitiven
Stimuli (z. B. Erwartungshaltungen). Rothermund und Eder sprechen hierbei von „Ziel-
relevanz und Zielkongruenz“ (2020, S. 187). Eine emotionale Reaktion kann folglich nur
dann ausgelöst werden, wenn die externe Situation in Bezug auf die eigenen Ziele als
relevant eingestuft wird.
Die Erkenntnisse der kognitiven Emotionspsychologie sind für das Marketing sehr
richtungsweisend (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 99). Sie zeigen, dass bei-
spielsweise eine erlebnisorientierte Warenpräsentation oder die Verwendung von ver-
schiedenen Schlüsselreizen bei der Gestaltung einer Anzeige alleine nicht ausreichen,
um Emotionen hervorzurufen. Vielmehr ist es notwendig, auch die Werte, Ziele und
Wünsche der Zielkund:innen zu kennen. Die angesprochenen Reize müssen als relevant
angesehen werden. Dies bedeutet, dass die Kenntnis der Bedürfnisse einer Person die
Grundvoraussetzung ist, um mit einer darauf ausgerichteten Reizgestaltung, durch eine
Zielkongruenz Emotionen zu wecken.
Wie dargestellt, ist das Kund:innenverhalten sehr komplex. Viele Faktoren haben Ein-
fluss auf das Verhalten. Mit dem SOR-Modell werden die unterschiedlichen Einfluss-
faktoren erklärt und schematisch eingeordnet. Schwierigkeiten ergeben sich aus der
Komplexität der kognitiven Vorgänge, denn hierbei spielen auch die Wahrnehmung
oder auch das Lernen wichtige Rollen. Prozesse, die im Gehirn ablaufen, waren in
der Vergangenheit nicht direkt beobachtbar und messbar. Fortschritte in der Medizin-
technik und der Neurologie führen dazu, dass zunehmend mehr Fragen geklärt werden
können (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 112). Im Zuge der Erforschung
des Konsument:innenverhaltens und der Abläufe im Gehirn hat ebenso die Emotions-
forschung viele neue Erkenntnisse erlangt. Auch hier helfen moderne Verfahren, Kennt-
nisse über die Entstehung und das Empfinden von Emotionen zu erlangen. Zahlreiche
Studien zeigen, dass Emotionen mit der Kommunikation eng in Verbindung stehen.
Auch die Wahl des Kanals entscheidet darüber, welche Wirkung die Kommunikation
erzielt und ob Emotionen ausgelöst werden. Häufig ist die Kommunikation Auslöser der
Emotion. Im Zuge der Werbeforschung wurden viele Studien durchgeführt und Modelle
entwickelt, die die Wirkung der Kommunikation auf das Kaufverhalten erklären. Diese
Erkenntnisse erhielten Einzug in die Praxis. Die Werbeindustrie versucht, durch ziel-
gerichtete Kommunikation das Konsument:innenverhalten in bestimmte Bahnen zu
lenken. Hierfür setzen sie verschiedene Kommunikationstechniken, wie z. B. die Technik
der emotionalen Konditionierung, ein. Anzeigen oder TV-Spot werden entsprechend
konzipiert (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019, S. 557). Kroeber-Riel und Groeppel-
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 53
Klein gehen davon aus, dass sich Kommunikationsmaßnahmen unterschiedlich stark auf
die Emotionen auswirken. Sie unterscheiden in informative, emotionale und gemischte
Werbung. Als emotionale Werbung bezeichnen sie Werbung, bei der die „Darbietung
emotionaler Reize (Bilder einer Traumlandschaft …)“ dominiert (2019, S. 560).
Wie im SOR-Modell beschrieben, kann zielgerichtete Kommunikation der Auslöser
von Aktivierungsvorgängen sein. Auslöser sind jedoch nicht nur externe Reize, sondern
auch interne. Interne Reize sind zum Beispiel Vorstellungsbilder der Konsument:innen,
die im Gehirn durch die Kommunikation erzeugt werden. Zum Beispiel löst die bildliche
Darstellung der Lieblingsspeise Hunger aus. (Kroeber-Riel & Groeppel-Klein, 2019)
Äußere Reize sind Töne, Bilder, Texte oder Gerüche.
Für die Kommunikation bzw. die Werbung spielen affektive Stimuli als Reize eine
große Bedeutung. Studien belegen, dass emotionale Stimuli bevorzugt wahrgenommen
werden und ihre Werbeerinnerung deutlich höher ist. Studien zeigen, dass emotionale
Werbereize auch unkontrollierbare Wirkungen auf Einstellung und Kaufverhalten aus-
üben können. Die Untersuchungen von Hütter und Sweldens kommen zum Ergebnis,
dass aufgrund einer Konditionierung die Einstellungsbildung und das Kaufverhalten
automatisch ablaufen kann (2018). Ebenso ist sich die Wissenschaft darüber einig, dass
Schlüsselreize eine große Rolle für die Aktivierung haben, denn sie initiieren biologisch
vorprogrammierte Reaktionen beim Empfänger:innen. Natürliche Schlüsselreize können
beispielsweise durch Bilder oder Fotos in Gang gesetzt werden. Als Beispiel nennt Wein-
berg das Kindchenschema (1986). Emotionale Stimuli können visuell erfolgen, aber
auch akustisch, taktil und olfaktorisch. Ebenso gibt es viele Studien, die belegen, dass
Sprache, Texte und Zeichen Emotionen auslösen können (Lohmann et al, 2015a).
Es wurde gezeigt, wie vielschichtig die Kommunikation ist und wie stark sie für die
Auslösung von Emotionen verantwortlich ist. Im Folgenden geht es um die Frage, ob
durch digitale Kommunikation die gleichen Emotionen ausgelöst werden, wie durch
die analoge Kommunikation. So fragen sich beispielsweise Autoherstellende, ob eine
Neuwagenpräsentation im Internet die gleichen Emotionen hervorrufen, wie eine
Präsentation im Autohaus oder in einer schönen Event-Location.
Page und Mapstone haben zum Thema Emotionen im digitalen Marketing geforscht
und deren Auswirkungen auf die Marketingaktivitäten analysiert (2010). Sie kommen
wie viele andere Forschende zu dem Ergebnis, dass auch im digitalen Marketing
Emotionen eine große Bedeutung für die Entscheidungsfindung der Kund:innen
haben (Damasio, 2005; Page & Mapstone, 2010). Ferner zeigen Studien, dass sich
Konsument:innen online wie offline nicht immer rational verhalten und stattdessen ihrem
Bauchgefühl vertrauen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Handlungen, die aus rationalen
Gründen unverständlich sind. Es zeigt sich, dass solchen nicht rationalen Verhalten
54 D. Schmid
häufig ein Erlebnis vorausgeht, das Emotionen und Gefühle auslöst, die wiederum zu
einer Anpassung des Verhaltens führen (Damasio, 2005).
Basierend auf ihren Untersuchungen haben Page und Mapstone das Modell
Consumption Emotions Set (CES) entwickelt (2010, S. 1348). Dieses Modell zeigt
auf, welche Emotionen in der digitalen Kommunikation ausgelöst und wahrgenommen
werden können. Das CES-Modell betrachtet 13 Emotionen, die anschaulich beschrieben
werden.
Studien zeigen auf, dass die Wahl des Onlinekanals bzw. der verwendeten Online-
medien, einen großen Einfluss auf das Auslösen von Emotionen haben (Richins,
1997) (Kwortnik & Ross, 2007). Forschende kommen zum Ergebnis, dass per se alle
digitalen Medienkanäle geeignet sind, Emotionen in Gang zu setzen (Jones & Cross,
2009) (Hartig et al., 1999). Darüber hinaus wurde auch gezeigt, dass die digitale
Kommunikation bei den Empfänger:innen Emotionen erzeugen können, die dem
digitalen Kommunikationsweg geschuldet sind und mit der analogen Kommunikation
nicht hätten erzeugt werden können. Als Beispiel hierfür können Postings in Social
Media genannt werden.
Im Folgenden soll deshalb aufgezeigt werden, worin sich die digitale Kommunikation
von der persönlichen und/oder der analogen Kommunikation hinsichtlich der Auslösung
von Emotionen unterscheidet.
Digitale Kommunikation hat insbesondere folgende Effekte (Bauer & Müssle, 2020)
(Lohmann et al., 2015a, b) (Nölke & Gierke, 2011) (Lünenborg, 2020), die sich auf die
Emotion niederschlagen, und im Folgenden näher betrachtet werden.
Abb. 3.4 Prozess der emotionalen Ansteckung. (Eigene Darstellung basierend auf den Aus-
führungen von Lohmann et al. (2020))
Virtuelle Events
Virtuelle Events schaffen es häufig nicht, dass der „Funke“ auf die Teilnehmer
überspringt. Grund dafür ist die fehlende „Emotionale Ansteckung“ durch andere
Teilnehmer. Um den Teilnehmenden von solchen virtuellen oder hybriden Ver-
anstaltungen zu zeigen, wie gut das Event ankommt, werden häufig von der Kamera
Bilder von sichtlich begeisterten Teilnehmenden gezeigt. ◄
56 D. Schmid
Kommunikation ist vielseitig und kann über unterschiedliche Kanäle erfolgen. Unser
Gehirn empfängt über die Sinnesorgane permanent Informationen über Beschaffenheit
oder Qualität eines Produktes. Diese Informationen werden von unseren äußeren Sinnen,
wie Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmackssinn und Tastsinn sowie unsere physiologischen
Sinne (Temperatursinn, Schmerzempfindung, Gleichgewichtssinn, Körperempfindung)
aufgenommen. Sie alle stimulieren auch unsere inneren Sinne, die wiederum für
Emotionen sorgen. Häufig verleiten sie uns auch zu einem unbewussten Verhalten.
Aus diesem Wissen heraus ist in den letzten Jahren das multisensorische Marketing
entstanden. Es zielt darauf ab, all die Wahrnehmungskanäle so zu beeinflussen, dass
positive Emotionen entstehen (Nölke & Gierke, 2011, S. 19). Eine Untersuchung des
Marktforschungsunternehmens Milward Brown hat ergeben, dass eine Ansprache der
Kund:innen über mehrere Sinnesorgane zu einer höheren Markenloyalität führt. Eine
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 57
Botschaft, die über mehrere Sinnesorgane aufgenommen wird, wird schneller und
intensiver verarbeitet als ein einzeln ankommendes Signal (Nölke & Gierke, 2011).
Diese Vorzüge des multisensorischen Marketings lassen sich im Rahmen der digitalen
Kommunikation nur bedingt nutzen. Das Innenleben eines Autos lässt sich digital –
trotz VR-Brillen – nur eingeschränkt erleben. So ist weder das Probesitzen möglich,
noch kann die Haptik des Lederbezugs erfasst werden. Auch der Geruch eines Neufahr-
zeuges lässt sich auf digitalen Kanälen nicht übertragen. Da die Wahrnehmung letztlich
eingeschränkt ist, wird das Interieur des Fahrzeuges folglich auch anders bewertet und
positive Emotionen mitunter nicht hervorgerufen werden.
VR-Brillen
Traditionelle Modelle der Kommunikation gehen vom folgenden Prozess aus: Es gibt
einen Sender/eine Senderin und einen Empfänger/eine Empfängerin einer Botschaft.
Der Sender/die Senderin schickt die Botschaft dem Empfänger/der Empfängerin.
Dann wird der Empfänger/die Empfängerin zum Sender:in und sendet eine Botschaft
zurück. Mittlerweile gehen Forschende davon aus, dass insbesondere persönliche
Kommunikation anders abläuft. Der Sender/die Senderin ist immer zeitgleich auch
Empfänger/Empfängerin, da er/sie, während er seine Botschaft übermittelt, die Mimik
und Gestik des Gegenübers wahrnimmt. Das bedeutet, dass das Feedback des Gegen-
übers unmittelbaren Einfluss auf seine Botschaft hat. Das heißt, die Botschaft ent-
steht durch das Zusammenwirken von Sender/Senderin und Empfänger/Empfängerin
(Hadi & Valenzuela, 2014). Die Botschaft wird folglich vom Empfänger/Empfängerin
mitgestaltet und ist davon abhängig, wie aufmerksam er zuhört, wie seine Mimik
und Gestik dabei ist (Venus et al., 2019). Das Phänomen wird auch als „Embodied
Communication“ bezeichnet (Storch & Tschacher, 2016). Der Ansatz der Embodied
Communication geht davon aus, dass Gesprächspartner:innen sich besonders gut ver-
stehen, wenn sie das Gefühl der „Stimmigkeit“ empfinden. Stimmigkeit entsteht dann,
wenn die Gesprächspartner:innen den Eindruck haben, dass sie über dasselbe sprechen
und wenn sie eine gemeinsame Beziehung entwickeln. Dies ist häufig daran zu
erkennen, dass Gesprächspartner:innen zunehmend die gleichen Worte nutzen und sich
58 D. Schmid
Soziale Medien spielen heutzutage in der Kommunikation eine bedeutende Rolle. Die
zahlreichen Plattformen bieten die Möglichkeit, Botschaften mit Bild und Ton zu ver-
breiten. Die Besonderheit ist, dass Sender:innen und Empfänger:innen, im Gegensatz
zu anderen Formen der Kommunikation, spontane und unmittelbare Gefühlsausdrücke,
wie zum Beispiel Freude oder Begeisterung, kundtun können (Bauer & Müssle, 2020).
Ein Kennzeichen von Social Media ist, dass solche Emotionsäußerungen nicht im Ver-
borgenen bleiben, sondern einer größeren Gruppe oder der Öffentlichkeit sichtbar
werden. Die persönliche Gefühlsäußerung wird öffentlich. Die Empfänger:innen der
Botschaft können darauf schnell und unkompliziert reagieren, indem sie die Nachricht
3 Emotionalisierung der Kundenbeziehung – Möglichkeiten und Grenzen ... 59
Social Media
Studien zeigen, dass Nutzer mit ihrer Social-Media-Plattform sehr emotional ver-
bunden sind (Lünenborg, 2020). Das kommt u. a. daher, dass die Benutzer sich häufig
viele Gedanken machen, welche Nachricht sie posten oder welchen Beitrag sie teilen
(Ozimek et al., 2020; Stsiampkouskaya et al., 2021). Botschaften, die über Social-
Media-Plattformen verbreitet werden, und im Feed der Nutzer landen, sind aufgrund der
Algorithmen auf die Interessen der jeweiligen Nutzer zugeschnitten und sorgen dadurch
zudem meistens für positive Emotionen (Bauer & Müssle, 2020). Dies wird dadurch
unterstützt, dass Empfänger:innen und User zeitlich einen Beitrag bzw. einen Post
kommentieren können. Die Nähe von Sender:innen und Empfänger:innen wird dadurch
hergestellt (Andalibi & Buss, 2020). Auch in sogenannten “Livevideos“, in denen zum
Beispiel ein Influencer live im Video zu sehen ist und Fragen beantwortet, die zeit-
gleich von der Fan-Community über die Chatfunktion gestellt werden, sorgen für Nähe.
Dadurch, dass die Zuschauer an den Kommentaren und Likes die Stimmung anderer
Teilnehmer erkennen können, kommt es häufig zu einer emotionalen Ansteckung (Bauer
& Müssle, 2020). Auch die Likes und Kommentare, die ein Teilnehmer für sein Posting
bzw. seinen Kommentar erhält, sorgen für positive Emotionen, da sie als Zustimmung
oder Anerkennung wahrgenommen werden (Klaas, 2018).
Livevideos
Das Sichtbarwerden der Reaktionen Anderer führt dazu, dass man seine eigene
Meinung an der Meinung anderer orientiert. In der Psychologie spricht man auch vom
„Chamäleoneffekt“ (Kutter & Müller, 2008). Dies kann auch dazu führen, dass es zu
kollektiven Emotionsäußerungen kommt. Im negativen Fall zu sog. Shitstorms (Steg-
bauer, 2018).
60 D. Schmid
Internet
Kund:innenverhalten haben, beschäftigte sich die Arbeit insbesondere mit der Frage,
ob digitale Kommunikation beim Konsument:innen Emotionen hervorrufen kann. Um
die Frage zu beantworten, wurden vor allem Erkenntnisse aus der Psychologie und
Soziologie betrachtet.
Die Ergebnisse zeigen, dass durch digitale Kommunikation bei Konsument:innen
Emotionen ausgelöst werden können. Das Auslösen von Emotionen ist jedoch im
Vergleich zur analogen und persönlichen Kommunikation schwieriger und bedarf
in vielen Fällen mehr Anstrengungen. Nachteile der digitalen Kommunikation
sind insbesondere das Fehlen wichtiger Hintergrundinformationen, die geringere
emotionalere Ansteckung sowie die eingeschränkte Zahl an Sinnen, die durch die
digitale Kommunikation angesprochen werden.
Der Beitrag zeigt auch, dass digitale Kommunikation gegenüber der herkömm-
lichen Kommunikation auch Vorteile hat. Insbesondere die Kommunikation über
Soziale Medien sowie individuell auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnittene
Direktmarketingaktionen bieten viele Möglichkeiten, Emotionen auszulösen. Diese
resultieren u. a. aus der einfachen Möglichkeit der Interaktion zwischen Sender:innen
und Empfänger:innen sowie des Sendens, des Teilens oder des Bewertens von Bot-
schaften. ◄
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Prof. Dr. Daniel Schmid ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als Professor für
Allgemeine Betriebswirtschaftslehre insbesondere Marketing tätig. Nach dem Studium und der
Promotion arbeitete er zunächst in einer internationalen Unternehmensberatung. Danach war
er über 20 Jahre in einem internationalen Dienstleistungsunternehmen tätig. Als Vorstand ver-
antwortete er u. a. die Bereiche Marketing und Strategie. Zuletzt war er Bereichsdirektor eines der
größten Kinderhilfswerke der Welt. Aktuelle Themen seiner Forschung sind Digitales Marketing,
E-Commerce, Handel und Nachhaltigkeitsmanagement.
Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen
im digitalen Marketing für ältere 4
Zielgruppen
Jonas Polfuß
Zusammenfassung
Längst nutzen auch ältere Generationen das Internet für unterschiedlichste Zwecke.
Die Covid-19-Pandemie hat diesen Trend seit 2020 zusätzlich beschleunigt. Das hat
auch Konsequenzen für digitales Marketing, das in der öffentlichen Wahrnehmung
häufig auf jüngere Nutzerschaften ausgerichtet ist. Ältere Zielgruppen werden
nicht nur als passive Käuferschaft für Unternehmen oder Organisationen relevanter.
Immer mehr Menschen höheren Alters teilen Inhalte im Internet, die Marketers für
strategische Zwecke auswerten und Unternehmen in die eigene Kommunikation ein-
binden können. Außerdem wächst die Anzahl der älteren Medienschaffenden, die
in sozialen Medien große Reichweiten erzielen und Trends beeinflussen. Hierdurch
ergeben sich neue Chancen für generationsübergreifendes und altersspezifisches
Marketing.
4.1 Einleitung
Dass digitales und insbesondere Social-Media-Marketing vor allem für die jungen
Generationen tauge, ist bis heute eine weit verbreitete Annahme. Tatsächlich haben
auch Nutzer:innen im höheren Alter längst das Internet für sich entdeckt, was durch
J. Polfuß (*)
IU Internationale Hochschule, Essen, Deutschland
E-Mail: [email protected]
Deutschland steht wie viele andere Länder vor den enormen Herausforderungen einer
alternden Gesellschaft. Die Zahl der jüngeren Menschen geht stetig zurück und die
der älteren nimmt zu, wobei besonders die Anzahl der Über-80-Jährigen beständig
ansteigen wird (Destatis, 2021). Schätzungen zufolge sinkt in Deutschland der Anteil der
Menschen im Alter von 20 bis 59 zwischen 2020 und 2030 von 43,9 auf 39,6 Mio.; dem-
gegenüber wird die Anzahl der Menschen im Alter von 60 Jahren oder älter in diesem
Zeitraum von 24,1 auf 27,8 Mio. ansteigen (Statista, 2021a). Die wachsende Zahl älterer
Menschen schlägt sich auch in der digitalen Welt nieder. Seit vielen Jahren wächst die
Gruppe der betagten Internetnutzer:innen an, allein in Deutschland hat sich die Nutzer-
gruppe der 60- bis 69-Jährigen zwischen 2009 und 2019 mehr als verdoppelt (ARD/ZDF,
2020).
Dieser Trend lässt sich ebenso im deutschen E-Commerce beobachten, wo schon vor
der Covid-Pandemie die Anzahl der Online-Shopper besonders bei den über 60-Jährigen
stark angestiegen war (HDE, 2019). Die pandemiebedingten Lockdowns haben derartige
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 67
Entwicklungen seit dem Frühjahr 2020 noch beschleunigt und der gesamte Online-Ver-
kauf ist nicht nur in Deutschland weiter stark angewachsen (z. B. Glas, 2021).
Im Online-Banking beispielsweise, dem viele ältere Deutsche lange skeptisch gegen-
überstanden, ist die Nutzung unter den 65-Jährigen innerhalb eines Jahres von 22 % auf
39 % hochgesprungen (Bitkom, 2021a). Umfragen haben außerdem gezeigt, dass hier-
zulande speziell ältere Menschen das Shoppingverhalten auch künftig stärker ins Inter-
net verlagern möchten (Klarna, 2021). Zwar kaufen im Verhältnis immer noch mehr
junge Menschen im Internet ein (VuMA, 2021), die Zahl der älteren wächst aber über-
proportional und die früher Geborenen sind als Zielgruppe oftmals deutlich kaufkräftiger
(Niehues & Stockhausen, 2020).
Mit Blick auf Generationsunterschiede lässt sich der Konsum digitaler Produkte und
Dienstleistungen grob in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen gibt es traditionelle
Produkte wie Zeitungen, die im Zuge der Digitalisierung auch als Onlineversionen ver-
fügbar gemacht wurden (Donnerstag und Mika 2015). Hier lässt sich argumentieren,
dass der Zugang für ältere Generationen leichter ist, weil ihnen das ursprüngliche
Produkt sehr vertraut ist und die Digitalisierung relativ wenig daran verändert hat.
Zum anderen gibt es eine Vielzahl von neuartigen Produkten und Services, die erst
durch das Internet möglich geworden sind und in der analogen Welt nie oder nur stark
abgewandelt vorhanden waren bzw. sind. Hierzu gehören z. B. soziale Medien, in denen
die Nutzung älterer Menschen ebenfalls von Jahr zu Jahr ansteigt (Statista, 2021b). Da
ältere Nutzerschaften in zahlreichen Onlinebereichen aufholen, stellt sich die Frage, wie
sich das digitale Marketing heute und in Zukunft mit diesen Zielgruppen befassen muss.
Anfang der 2010er-Jahre wurde zurecht festgestellt, dass ältere Zielgruppen im Inter-
net bisweilen komplett vernachlässigt wurden (Köhler & Kirchhof, 2011). Nach wie
vor werden ältere Nutzer:innen teilweise ignoriert oder wenig zielgruppengemäß
angesprochen (z. B. Fron, 2018), was verschiedene Gründe hat. In sozialen Medien
liegt dies unter anderem daran, dass jüngere Zielgruppen deutlich dominanter sind, da
sie als Digital Natives authentischer kommunizieren, mit nutzergenerierten Inhalten
neue Trends beeinflussen, und auch die größten Influencer bis heute jüngeren Alters sind
(Deges, 2018, S. 19–23).
68 J. Polfuß
Dass der inzwischen durchaus vorhandene Beitrag älterer Nutzer:innen in der Inter-
net-Community oft übersehen wird, dürfte mit den jeweiligen Peer-Groups zusammen-
hängen. Viele Verantwortliche im Onlinemarketing sind deutlich jünger und somit
emotional weiter entfernt von den Nutzergruppen im Seniorenalter. In Kommunikations-
und Werbeagenturen, wo ein Altersschnitt von 32 Jahren keine Seltenheit ist, wird seit
Jahren ein „Jugendwahn“ beklagt (Weber, 2015). In heutigen Digitalagenturen dürfte
diese Altersstruktur nicht anders, wenn nicht noch ausgeprägter sein. Auch deutlich
mehr als die Hälfte der Gründer:innen von Start-ups in Deutschland, die maßgeblich
zur Digitalisierung des Landes beitragen, ist im Durchschnitt jünger als 35 Jahre (DSM,
2019; Lammers, 2018). Dort, wo Ältere und Jüngere zusammenarbeiten, kommt es nicht
selten zu Missverständnissen und dem Vorwurf, die jeweils andere Generationen nicht zu
verstehen (Kotler et al., 2021, S. 19).
Natürlich ist vielen Werbenden klar, dass ältere Zielgruppen einflussreicher werden,
und das digitale Marketing hat sich in den letzten Jahren stärker in deren Richtung ent-
wickelt (z. B. Steiger, 2021a). Es stellt sich indes die Frage, ob die jüngere Generation
von Marketingverantwortlichen dazu fähig und gewillt ist, sich in die Lage der Älteren
zu versetzen (Bily, 2019, S. 154). Dass dies notwendiger wird, steht außer Zweifel. Fach-
leute gehen davon aus, dass das Verständnis von Alter und Alterungsprozessen in Zukunft
auch im Marketing eine ganz zentrale Rolle spielen wird (Bily, 2019, S. 122; Bui, 2021).
Im digitalen Marketing, beispielsweise auf Facebook, lassen sich ältere Menschen
zwar leicht mit den demografischen Tracking-Möglichkeiten als Zielgruppen erfassen
(Facebook for Business, 2021). Das heißt jedoch nicht, dass damit auch ein tief-
ergehendes Verständnis für diese Generationen einhergeht. Ein Blick in die Werbe-
bibliothek von Facebook mit Schlagwörtern wie „Best Ager“ zeigt eher das Gegenteil
(Facebook, 2021). Altersphasen werden mit den in der Werbebranche üblichen Klischees
verklärt – etwa durch die Darstellung retuschierter Dauersportler oder beschwerdefreier
Wohlstandsgenießer ohne jegliche Verpflichtungen (vgl. Richter, 2020, S. 118–120).
Online und offline werden Ältere regelmäßig so illusorisch jung dargestellt, dass sich
dies nicht mehr mit einem vermeintlichen Wunsch nach Jugendlichkeit im Alter erklären
ließe (z. B. Steiger, 2021b). Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass – deutlich
jüngere – Werbeleute ältere Zielgruppen aus ökonomischen Gründen und ohne großen
Aufwand ködern möchten.
Um ältere Menschen langfristig und erfolgreich zu erreichen, wird es aber nicht aus-
reichen, kurzfristig deren Kaufkraft abschöpfen zu wollen. Neben fraglos wertvollen
Werbemöglichkeiten bieten sich im digitalen Raum essenzielle Chancen, das Konsum-
verhalten und die Lebenswelten der Menschen höheren Alters besser kennen- und ver-
stehen zu lernen. Erst so lässt sich vermeiden, dass Seniorenwerbung nicht aufgesetzt
oder anbiedernd wirkt und sich betagtere Zielgruppen nicht bevormundet oder übervor-
teilt fühlen (vgl. Balazs, 2014, S. 30–32).
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 69
Heutzutage führen Profitgier und Rücksichtslosigkeit noch immer dazu, dass ältere
Nutzer:innen auch im Internet getäuscht und abgezockt werden (z. B. Seitel, 2021). Dass
Betrüger:innen hier Chancen wittern und leider oft finden, hat unterschiedliche Gründe.
Nachdem eine ganze Generation von Jugendlichen mit der eigenen Unachtsamkeit beim
Umgang mit z. B. persönlichen Fotos im Netz konfrontiert wurde, können sich jüngere
Menschen mittlerweile besser im Netz schützen, als dies bei Senior:innen der Fall ist
(Trepte & Masur, 2015; vgl. Bitkom, 2021b).
Nach diversen Datenskandalen und Missbrauchsfällen haben außerdem einige
Medienanbieter begonnen, den Jugendschutz auf ihren Plattformen ernster zu nehmen,
sodass beispielsweise auf Instagram die Möglichkeiten für Teenager-Werbung ein-
geschränkt wurden (Bayer, 2021). Für ältere Nutzer:innen gibt es hingegen bis heute
wenige Vereinfachungen und kaum Schutzmaßnahmen im Netz. Die Verhinderung von
Betrug und die Einführung von schützenden Initiativen sind jedoch sehr wichtig, um das
Internet und besonders die sozialen Medien als sicheren Ort für alle Generationen zu
etablieren.
Nur auf diese Weise lässt sich auch schrittweise generationsübergreifendes Ver-
trauen für neuartige Produkte und Dienstleistungen wie Streaming-Dienste oder gar
den Kryptohandel aufbauen, gegenüber denen Senior:innen noch zurückhaltend sind
(Bitkom, 2020; Kraus & Winkler, 2021).
In Bezug auf altersgerechtes Internet und Online-Shopping lohnt ein Blick nach Asien,
wo ältere Generationen teils deutlich länger und aktiver im (mobilen) Internet unterwegs
sind als in Deutschland. In Südkorea fanden zum Beispiel schon im Jahr 2017 welt-
weit die meisten Einkäufe von Online-Lebensmitteln statt (FEW 2017) und im gleichen
Jahr ließ sich dort in höheren Altersgruppen ein Trend zum Kauf von Kryptowährungen
beobachten (Ramirez, 2017).
Im stark digitalisierten China setzt sich die Regierung dafür ein, dass die rund
300 Mio. älteren Menschen nicht online bzw. mobil abgehängt werden, was bei der
digitalen Entwicklungsgeschwindigkeit im Land leicht passieren kann (Li, 2020). Aus
diesem Grund – und angeregt vom enormen Marktpotenzial – haben zahlreiche Platt-
form- und App-Betreiber längst Produkt- und Serviceversionen eingeführt, die sich
vornehmlich an die ältere Nutzerschaft richten (Deng & Hu, 2021; HR Asia, 2021). In
vielen dieser Varianten gibt es eine vereinfachte Bedienung und schützende Werbeein-
schränkungen, die so beliebt sind, dass sie sogar jüngere Menschen bevorzugen und
gerne mitnutzen (Lew, 2018).
Die digitale Einbeziehung älterer Menschen ist in sowohl technisch stark ent-
wickelten als auch überalternden Gesellschaften wie derjenigen in Singapur ebenfalls
70 J. Polfuß
ein großes Thema. Hier und anderorts geht es dabei nicht nur um Shopping und Enter-
tainment, sondern zugleich um die medizinische Aufklärung und Versorgung der älteren
Bevölkerung (GovTech, 2021).
Ein besonderer Raum, der gesellschaftliche Chancen, aber gleichermaßen Risiken
beinhaltet, sind die sozialen Medien. Die chinesische Universal-App WeChat wies schon
im Jahr 2015 eine hohe Penetrationsrate unter Über-50-Jährigen auf (Statista, 2021c).
Heutzutage finden sich in China zudem mehr und mehr betagte Influencer:innen (Qu &
Deng, 2021). Auch in Deutschland lassen sich auf den vermeintlich jugendlichen Platt-
formen mehr Über-50-Jährige antreffen und ins Marketing einbeziehen.
In einer Umfrage von 2020–2021 gaben 76 % der 50–59-Jährigen und 54 % der Über-
60-Jährigen in Deutschland an, soziale Medien zu nutzen (Faktenkontor, 2021a).
Während Teenager:innen sich stark von Facebook abgewandt haben, verwenden
Deutsche ab 30 Jahren die Plattform weiterhin recht aktiv; Instagram nutzten 30 % der
50–59-Jährigen und 15 % der Über-60-Jährigen (Faktenkontor, 2021b). Die App TikTok
kannten im Jahr 2020 immerhin 33 % der befragten Deutschen ab 55 Jahren (YouGov,
2021).
Auch als Folge der Pandemie-Lockdowns wurden immer mehr ältere Menschen über
die passive Nutzung hinaus zu engagierten Netizens, d. h. zur aktiven Nutzerschaft im
Netz, indem sie sich mit eigenen Meinungen und Inhalten in Online-Communities ein-
bringen (Dinges, 2020). Dadurch ergeben sich nicht nur wertvolle Einblicke für Marken-
verantwortliche und Marktforschende, die sich auf ältere Zielgruppen konzentrieren.
Einige Kreative im Rentenalter haben sich in den sozialen Medien große Fan-Gemein-
schaften aufgebaut, wodurch neue Chancen für generationsspezifisches und -über-
greifendes Marketing entstehen.
Ab den 2010er-Jahren und im Zuge des großen Erfolgs von YouTube und Instagram
kam jungen Influencer:innen, die oft bereits im Teenageralter medial gestartet waren,
wachsende Aufmerksamkeit zu. Diese Medienschaffenden, neudeutsch auch Content
Creator genannt, wurden dank ihrer Fähigkeiten, Inhalte interessant aufzubereiten und
damit große Reichweiten aufzubauen, zu Lieblingen der Werbeindustrie (Nymoen &
Schmitt, 2021, S. 24–36).
Unzählige junge Menschen folgten in den sozialen Medien den neuen Vorbildern, die
– anders als die Models und Akteure in der traditionellen Werbung – in der Regel jünger,
alltäglicher und nahbarer erschienen (Schach, 2018, S. 31–32). Influencer:innen können
in Hinblick auf ihre Zielsetzung und ihr Publikum in die Bereiche Hobby, Information,
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 71
Entertainment und Infotainment unterteilt werden (Gross & Wangenheim, 2018), wobei
die Professionalisierung der Branche in den letzten Jahren stetig zugenommen hat. Dies
lässt sich tendenziell auch für Social-Media-Persönlichkeiten im höheren Alter fest-
stellen.
Ältere Menschen, die seit einigen Jahren in der Influencer- und Creator-Szene mit-
mischen, lassen sich auf Grundlage ihrer medialen Partizipation und Kreativität grob in
die Kategorien der 1) „Einsteiger:innen“, 2) „Imitator:innen“ und 3) „Innovator:innen“
unterteilen, wobei insgesamt die Bereiche Hobby und Unterhaltung bisher überwiegen.
Tab. 4.1 vergleicht die drei Typen älterer Influencer:innen überblickshaft.
mit Hashtags wie #50plusmodel, #bestager oder #grandfluencer nicht nur ihre eigene
Altersgruppe, sondern ebenso Unternehmen mit Zielgruppen in diesem Alter ansprechen.
Ein Beispiel ist die 68-jährige Barbara Lutz, die sich als „German Silverhair Classic-
Model“ vorstellt und rund 4.200 Follower:innen angesammelt hat (Instagram, 2021b).
In dieser Kategorie finden sich generell zahlreiche Fotomodelle und Unternehmer:innen,
die schon vor dem Instagram-Hype in der Mode und Werbung tätig waren. Eine deutlich
jüngere und sehr erfolgreiche Influencerin ist die 1973 geborene Gitta Banko, die auf
Instagram weit über 600.000 Follower:innen angelockt hat, für Firmen wie Breuninger
modelt und vor ihrer Social-Media-Karriere als Modeunternehmerin gearbeitet hat
(Instagram, 2021c; YouJoy, 2021).
Obwohl die generationsübergreifenden Projekte häufig noch einseitig sind und ältere
Influencer:innen weiter die Ausnahme bleiben, deutet sich bereits großes soziales,
kreatives und ökonomisches Potenzial durch mehr generative Vielfalt in Social-Media
an. Während die jüngeren Digital Natives technisch-intuitiv mit sozialen Medien auf-
gewachsen sind, ist bei älteren Medienschaffenden, die nicht mit Smartphones groß
geworden sind, die zusätzliche Lebenserfahrung ein inhaltlicher Pluspunkt.
Hier zeigt sich in Hinblick auf Altersstrukturen ein interessantes Paradoxon:
Zumindest in den Bereichen Beauty, Mode und Luxus präsentieren junge Creators in
den sozialen Medien einen Lebensstil, den sich die meisten Menschen erst im höheren
Alter – nach einem erfolgreichen und langen Arbeitsleben – leisten können. Hier findet
insofern ein erstes Umdenken statt, als beispielsweise einige Luxushotels wählerischer
bei Kooperationen mit jungen Influencern geworden sind (Reinhard, 2019). Tatsächlich
4 Ü50 auf TikTok? Barrieren und Chancen im digitalen Marketing für ältere ... 73
Viele junge Influencer:innen und Blogger:innen verfügen durchaus über Expertise und
Erfahrungen in ihren Kerngebieten. Aufgrund ihres Alters bringen betagtere Medien-
schaffende indes zusätzliche Lebens- und Konsumerfahrung mit. Im Modebereich haben
sie zum Beispiel bestimmte Trends, die aktuell ein Comeback feiern, vor Jahrzehnten
schon in der Ursprungsversion miterlebt.
Nicht selten verschulden sich junge Influencer:innen, die noch bei ihren Eltern
wohnen, um ihrer Gefolgschaft ein Jetset-Leben präsentieren zu können (z. B. W&V,
2018). Demgegenüber führen einige Best Ager nicht nur weitaus länger, sondern auch
glaubwürdiger einen Instagram-tauglichen Lebensstil. Dass sie ihre Altersgruppen
direkter ansprechen können, müsste auf der Hand liegen. Doch obwohl in Konsum-
sparten, die ein bestimmtes Lebensalter voraussetzen, ältere Testimonials deutlich
organischer und authentischer sein dürften, werden sie bis heute relativ selten eingesetzt.
Phasenweise haben zwar ältere Models auf Laufstegen für Aufsehen gesorgt, ver-
abschiedet hat sich die Werbebranche von der Altersdiskriminierung vor den Kameras
hingegen nicht (Arnett, 2020). Einige Marketingverantwortliche scheinen regelrecht
Angst davor zu haben, ihre Zielgruppen über 50 Jahren altersgerecht anzusprechen (Bily,
2019, S. 145).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ältere Menschen längst im Internet und in
den nur anfangs von der Jugend dominierten sozialen Medien angekommen sind. Die
digitalen Strukturen und Angebote für diese Gruppierungen erscheinen allerdings weiter-
hin wenig altersgerecht.
Ein Grund dafür ist der jugendliche Fokus, der sich nach wie vor in (digitalen)
Agenturen und in Werbekampagnen findet, selbst wenn diese auf höhere Altersgruppen
ausgerichtet sind. Genauso wie junge Menschen Jugendsprache aus dem Mund älterer
Generationen oft befremdlich finden, dürften sich betagte Zielgruppen wundern, warum
in werbenden Webvideos Seniorendarsteller als Skateboard-Fahrer präsentiert werden.
Auch erscheint es seltsam, dass noch immer 35-jährigen Models graue Haare gefärbt
werden, um sie Produkte für Über-60-Jährige bewerben zu lassen (vgl. Fellmann &
Natterer, 2021).
Erfolgreiches Marketing für Konsument:innen im höheren Alter erfordert ein tief-
ergehendes Verständnis für deren Lebenssituationen und die daraus resultierenden
Vorstellungen und Bedürfnisse (Felser, 2015, S. 324–326). Hierbei ist zu beachten,
74 J. Polfuß
dass sich das Selbstbild der älteren Generationen, unter anderem als Folge digitaler
Partizipation, stetig weiterentwickeln wird. Menschen im höheren Alter kennen nicht
nur viele sich wiederholende Konsumtrends von früher, sondern haben auch unterschied-
liche Marketingphasen von der einst produktbezogenen bis zur heute stark technologie-
fokussierten Herangehensweise miterlebt (Kotler et al., 2021, S. 30–33). Teils sind sie
noch besser mit klassischer Werbung zu erreichen, zugleich öffnen sie sich im Zuge der
eigenen Digitalisierung schnell für neuartige Ansätze wie das Omnichannel-Shopping,
was sich eindrucksvoll in der Covid-Pandemie gezeigt hat. Das Internet selbst bietet
sich an, um den Wandel der Zielgruppen im höheren Alter mitzuverfolgen. Dies gelingt
zum Beispiel durch die direkte Kommunikation mit der Webshop-Kundschaft, die Aus-
wertung von altersspezifischem Online-Nutzerverhalten oder durch Social Monitoring/
Listening-Analysen innerhalb größerer Gruppen in Foren und sozialen Medien (Makita
et al., 2021; vgl. Reinikainen et al., 2020).
Auf diese Weise stellen Unternehmen und Organisationen nicht nur sicher, dass
sie Zielgruppen im höheren Alter an sich binden, sondern können im Dialog hin
zu einer wertschöpfenden Co-Creation die eigenen Produkte, Dienstleistungen und
Kommunikationsmaßnahmen altersgerecht optimieren (z. B. Mansson et al., 2020).
Nicht zuletzt verpassen Marketingverantwortliche so keine Trends der über 50-jährigen
Influencer:innen mehr, die in Zukunft immer zahlreicher werden dürften.
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Dez. 2021b.
Prof. Dr. Jonas Polfuß ist Marketing-Professor und Leiter des Bachelorstudiengangs Inter-
nationales Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind
digitales Marketing und globale Markenführung. Als Berater und Marketer unterstützt er regionale
und internationale Unternehmen beim Community-Marketing und digitalen Branding.
Teil II
Marktforschung & Marktanalyse
Digitale Beobachtung in der
Marktforschung – Erweiterung der 5
Forschungsmethode Beobachtung
Marion Kalteis
Zusammenfassung
Die Digitalisierung der Marktforschung war bereits Anfang der 2000er-Jahre als Thema
im wissenschaftlichen und wirtschaftspraktischen Diskurs zu finden (Theobald, 2009;
Wiedmann & Buxel, 2003). Wie in den vorangegangenen Jahrzehnten des letzten
Jahrhunderts bleibt die methodische Bandbreite in der modernen, digitalen Markt-
forschung erhalten. Zur Verfügung stehen Befragung und Beobachtung im quantitativen
sowie qualitativen Forschungsparadigma sowie deren experimentelle Variationen. Im
quantitativen Paradigma wird das Auszählen PageViews, Use-Time, Unique Clients,
AdImpressions etc. als statistische Analyse betrieben. Besonders der A/B-Test ist aus
M. Kalteis (*)
IU Internationale Hochschule, Wien, Österreich
E-Mail: [email protected]
Beispiel
Diese generierten Daten sind der neue Goldstandard der Daten für Unternehmen, da
diese nur schwerlich durch die Nutzer:innen in ihrer Qualität verfälscht werden können.
Woche für Woche erinnert das Smartphone an die Bildschirmnutzung, aufgegliedert
nach diversen Rubriken wie die genutzten Applikationen in Zeiteinheiten und einen Hin-
weis, ob das mobile Endgerät mehr oder weniger als in der Vorwoche in Verwendung
war. Österreichische Smartphone-Nutzer:innen geben an, im Schnitt 20-mal pro Tag
bewusst auf ihr mobiles Endgerät zu blicken (Marketagent, 2022). Andere Studien
weisen darauf hin, dass Proband:innen dokumentiert durch eigens entwickelte Nutzungs-
verhaltens-Apps durchschnittlich mehr als 80-mal pro Tag das Handy zur Hand nehmen
(Hartner-Tiefenthaler, 2018). Aus Sicht der Nutzer:innen ist die Information über die
Bildschirmnutzungszeit eine Form der digitalen Selbstkontrolle, die durch die Hersteller-
unternehmen bereitgestellt wird. Es handelt sich dabei um die vermeintliche Trans-
parenz an Informationen, die die Hersteller bislang ohnehin gesammelt hatten. Einige
5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung … 83
Herstellermarken stehen in diesem Zusammenhang mehr in der Kritik als andere (apfel-
page.de, 2019; Federrath, 2015; Rall, 2020).
Beispiel
Der digitale Sprachassistent von Apple namens Siri war im Sommer 2019 bei
Nutzer:innen weltweit in Ungnade gefallen. Siri schnappte inaktiviert und ungefragt
Fragmente von Gesprächen mit medizinischen oder geschäftlichen Inhalten, mög-
liche kriminelle Aktivitäten oder auch Nutzer:innen beim Geschlechtsverkehr auf. Die
fehlerhaften Aktivierungen, bei denen die Software glaubte, die Aktivierungsworte
„Hey, Siri“ gehört zu haben, waren dabei ein brisantes Problem. Denn dabei zeichnete
das Gerät möglicherweise Sätze und Unterhaltungen auf, die nicht an Apples Sprach-
assistentin gerichtet waren. Die Analyse der auditiven Daten durch Apple wurde kurz
nach Bekanntwerden des Abhörskandals eingestellt und als Konsequenz wurden mehr
als 300 Mitarbeiter:innen des IT-Konzerns entlassen (Computerbild, 2019). ◄
Das Interesse an diesen unverfälschten Daten von Millionen von Menschen in den
modernen Gesellschaften ist enorm. Die Beobachtung an sich ist so alt wie die Mensch-
heit selbst (Weischer & Gehrau, 2017). Bereits im zarten Babyalter erlernt der Mensch
durch Beobachtung wie seine Welt um ihn herum funktioniert (Treml, 2002). Diese
Form des sozialen Lernens erfolgt durch wichtige Bezugspersonen, durch Bücher
und in der heutigen Zeit durch vermehrte digitale Mediennutzung (z. B. Videos am
Tabletcomputer). Als Forschungsmethode zählt die Beobachtung zu den qualitativen
Forschungsmethoden. Ihr Einsatz erfolgt über die unterschiedlichsten Wissenschafts-
disziplinen von der Medizin über die Psychologie bis hin zur Betriebswirtschaftslehre.
Eine gängige Einteilung nach Friedrichs erfolgt anhand von fünf Dimensionen (Thier-
bach & Petschick, 2019, S. 1166):
Diese Einteilung kann durch die sechste Dimension – analog vs. digital – ergänzt werden
(s. Abb. 5.2).
Die moderne Marktforschung hat sich diese neue, digitale Spielart der Beobachtung
zu eigen gemacht. Der an Fahrt aufnehmende Prozess der Digitalisierung war vor der
Corona-Pandemie in den kleinen und großen Marktforschungsinstituten im deutsch-
sprachigen Europa deutlich vernehmbar (zB IPSOS, Kantar, GfK). Die zahlreichen Ein-
schränkungen der zwischenmenschlichen Interaktionsmöglichkeiten ausgelöst durch
Corona-Schutzbestimmungen, die für zahlreiche qualitative Marktforschungsmethoden
5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung … 85
Beobachtung
nicht
verdeckt vs. systemasch vs. natürlich vs. digital vs.
teilnehmend vs. selbst vs. fremd
offen unsystemasch künstlich analog
teilnehmend
Sind dieselben Proband:innen als Privatpersonen mit ihrem Smartphone im Internet zum
Informationsaustausch, zu Recherchezwecken etc. unterwegs, dann haben sie diesen
Analysen ihres Nutzungsverhaltens sehr wahrscheinlich nicht zugestimmt. Mit jedem
Update der mobilen Betriebssysteme verbessern sich die Optimierungsmöglichkeiten
rund um Tracking, Datenanalyse und Privatsphären-Einstellungen. Als eine weitere
Möglichkeit der Datenanalyse steht der modernen Marktforschung Social-Media-
Listening und Social-Media-Monitoring zur Verfügung. Unter Social-Media-Listening
wird mithilfe weniger Klicks sichtbar, wie und was Konsument:innen sowie Nicht-
Nutzer:innen anlassbezogen über eine Marke in diversen Social-Media-Kanälen denken
(Digital Business Institut der Fachhochschule Oberösterreich, 2022; Reinikainen et al.,
2020). Unternehmen wie Spinklr bieten diese Analysen gestützt mittels Künstlicher
Intelligenz (KI) an (Spinklr, 2022). Bei rund geschätzten 700.000 geteilten Storys auf
Instagram, annähernd 70 Mio. gesendeten Nachrichten auf WhatsApp in einer Minute im
Jahr 2021, kann die automatisierte KI-Unterstützung bei der Auswertung hilfreich sein.
86 M. Kalteis
Beispiel
Beide erwähnten Positionen zur Digitalisierung sind als extrem in ihrer Auslegung
anzusehen. Fakt ist, dass stetig mehr Menschen ihren digitalen Konsum hinterfragen
und ihre Privatsphäreneinstellungen regelmäßig überprüfen. Dazu beigetragen haben
nicht zuletzt Aktivisten wie Max Schremser oder der weltbekannte Whistleblower
Edward Snowden (Nocun, 2018). Sensible Daten wie Gesundheitsdaten sind für Unter-
nehmen, Arbeitgeber:innen und Gesundheitsbehörden sehr wertvoll und aus diesem
Grund besonders schützenswert, da es medizinisch sowie technisch möglich ist, von Ver-
sicherten gezeigte Verhaltensweisen als Risikofaktoren auf spätere Erkrankungen sowie
körperliche Komplikationen zu berechnen und entsprechend einzupreisen (Nocun, 2018).
Beispiel
Digitale Ethik beschäftigt sich als junge Forschungsdisziplin mit diesen Überlegungen
und analysiert die Möglichkeiten für menschliche Digitalisierung der heutigen sowie
zukünftigen Gesellschaft oder in den Worten von Spiekermann ausgedrückt „menschen-
gerechter Fortschritt durch Werteethik“ (2019, S. 36). In diesem Zusammenhang wird
der Begriff des „Technologie-Paternalismus“ von Pallas geprägt, der darauf hinweist,
dass technische Systeme bevormunden können, wo sie ihre Nutzer:innen vorgeblich
schützen (z. B. Pkw-Sicherheitsgurt meldet sich bei Nicht-Angurten, vermeintliche
Datenschutzeinstellungen einer mobilen App) (iRights, 2014).
Fazit
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5 Digitale Beobachtung in der Marktforschung – Erweiterung … 89
Prof. Dr. Marion Kalteis ist seit 2018 an der IU Internationale Hochschule als Professorin
für Marketing tätig und hält Vorträge im In- und Ausland. Konzernstrukturen und
Großraumatmosphäre sind ihr nach jahrelanger Tätigkeit in zentralen Marketing-Positionen
bestens vertraut. Auch die Vortragstätigkeit an Fachhochschulen und Universitäten begleitet sie
seit mehr als sechs Jahren regelmäßig. Besonders das Thema Corporate Social Responsibility und
Market Research stehen im Fokus ihrer Forschung.
Digitale Transformation der
Umfrageforschung 6
Tanja Zweigle
Zusammenfassung
Die Digitalisierung hat die Umfrageforschung in den letzten 20 Jahren radikal ver-
ändert. Das betrifft nahezu alle Teile der Wertschöpfung entlang des Forschungs-
prozesses. Einige Prozessschritte sind bereits so erfolgreich automatisiert (z. B.
Qualitätsmanagement bei Online-Panels, Datenanalyse und -aufbereitung in
Dashboards), dass eine Do-it-Yourself-Marktforschung für Nicht-Marktforscher:innen
möglich ist. Die Datenerhebung von Umfragen sollte sich stets am üblichen
Kommunikationsverhalten der Konsument:innen orientieren. Daher wird der App-
basierte Mobile-Research immer wichtiger. Potenziale zeigen sich auch im Voice-
Assisted-Interview, das über Sprachassistenten wie Alexa oder Siri Umfragen
durchführt. Darüber hinaus gibt es interessante auf Basis selbstlernender Systeme
basierende Methoden, die sich zwar derzeit noch in der Erprobungsphase befinden,
die allerdings die Umfrageforschung künftig stark verändern könnten (z. B. Einsatz
von Bots bzw. Avataren, KI-basierte Textanalysen).
6.1 Einleitung
Die Art und Weise, wie Unternehmen Umfrageforschung durchführen, hat sich in den
letzten beiden Jahrzehnten radikal verändert. Das betrifft nahezu alle Teile der Wert-
schöpfung entlang des klassischen Marktforschungsprozesses. Anhand der Dimensionen
T. Zweigle (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]
„Preis“ und „Zeit“ lassen sich deutlich die Folgen für die Marktforschungsbranche
erkennen: Befragungsergebnisse werden heute ein Vielfaches schneller und zu
deutlich geringeren Preisen als früher zur Verfügung gestellt. Die Prozesse sind
derart standardisiert und automatisiert, dass oft Unternehmen kein klassisches Markt-
forschungsinstitut mehr beauftragen (müssen), sondern die Befragungen in Eigenregie
mit Do-it-Yourself-(DIY)-Softwarelösungen durchführen. Chancen und Risiken der
Automatisierung von Umfragen sind aber wesentlich weitreichender als die Effekte,
die sich aus einer Standardisierung ergeben. Daher wird nachfolgend entlang des
Forschungsprozesses für Befragungen aufgezeigt, wo und wie die Digitalisierung die
einzelnen Forschungsschritte bereits transformiert hat oder weiter transformieren wird.
Ferner wird auf die derzeit am häufigsten eingesetzte Befragungsform, die Online-
Marktforschung, und deren Entwicklung eingegangen. Ein besonderes Augenmerk wird
auf den Methodenmix gelegt, der daraus resultiert, dass anstelle des stationären Desk-
tops immer öfter die Online-Befragungen über mobile Smartphones beantwortet werden.
Hieraus ergibt sich eine weiterführende Diskussion zum Thema Mobile-Research und
zwar dahingehend, wie Research-Applikationen (Apps) für das Smartphone gestaltet
sein sollten, die über den App-Store von Panelisten hochgeladen werden können.
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Umfrageforschung sind ferner die
verschiedenen Softwarelösungen zu berücksichtigen, die dazu dienen, die Arbeit der
Marktforscher:innen effizienter zu gestalten und/oder die Datenqualität zu erhöhen.
Neben automatisierten Prozessen sind es vor allem die selbstlernenden KI-Systeme,
die künftig die Umfrageforschung weiter revolutionieren werden. Beispiele hierfür sind
Tools zur automatisierten Textanalyse, Sentimentsanalyse, Emotionsmessung oder auch
Chatbots bzw. Avatare, die einfache Interviewtätigkeiten selbstständig durchführen.
Mit VAI (Voice-Assisted-Interviews) steht bereits eine weitere Befragungsform in
den Startlöchern, welche die bisherigen computergestützten Befragungsformen CATI
(Computer-Assisted-Telephone- Interviews), CAPI (Computer-Assisted-Personal-
Interviews), CAWI (Computer-Assisted-Web-Interviews) bzw. Online-Interviews sowie
App-Interviews ersetzen oder ergänzen wird.
Die Anfänge der Digitalisierung in der Umfrageforschung finden sich in den 1990iger
Jahren mit den computergestützten telefonischen (CATI) und persönlichen (CAPI)
Befragungen. Kennzeichnend für diese Form der Interviews ist, dass mensch-
liche Interviewer:innen Fragen aus dem Computer vorlesen und die Antworten direkt dort
eingeben. Hierdurch können komplexe Fragebogenabläufe wie beispielsweise Filter-
führungen umgesetzt werden. Zugleich stehen die Daten direkt nach der Erhebung in
maschinenlesbarer Form zur Verfügung (Wübbenhorst, 2018). CAWI bzw. Online-
Befragungen, die ebenfalls computergestützt erfolgen, ermöglichen vergleichsweise
günstige und schnelle Befragungen, da keine Interviewer:innen benötigt werden und die
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 93
3% 1%
10% 6%
13%
22%
22%
38% 34%
22% 30% 9%
49%
6% 8%
41%
45%
33% 7%
35%
65%
60%
22%
34%
24% 21% 24%
17%
Abb. 6.1 Quantitative Interviews nach Befragungsart in Deutschland. (Quelle: ADM, 2021)
Grund hierfür sind neben der rückläufigen Entwicklung von Festnetzanschlüssen auch
die abnehmende Akzeptanz von spontanen Telefonbefragungen in der Bevölkerung. Die
Zukunft der quantitativen Umfrageforschung scheint in der Befragung per Mobile App
zu liegen. Auch wenn ihr Anteil in 2020 lediglich bei 6 % lag, besaßen 2021 immerhin
fast 90 % der Deutschen (Statista, 2021) ein Smartphone.
Die Etablierung des Smartphones als Kommunikationsgerät Nummer eins der
Konsument:innen hat auch einen erheblichen Einfluss auf die derzeit gängigste
Befragungsform der Online-Umfrage. Immer mehr Personen nehmen an den Online-
Umfragen mit mobilen Endgeräten und weniger mit dem klassischen Desktop oder
Laptop teil (Theobald et al., 2018, S. 18). Dieses trifft nicht nur für junge Generationen
zu, sondern auch für Altersgruppen über 50 Jahre (Vitt & Friedrich-Freska, 2018, S. 33).
Der Online-Panel-Anbieter CINT weist aus, dass im Zeitraum April bis Juni 2021 die
über CINT in Deutschland durchgeführten Umfragen zu 56 % über Desktop, zu 40 %
über Smartphones und zu 4 % über Tablets beantwortet wurden (Cint, 2021).
Infolge der Automatisierung des Marktforschungsprozesses bieten viele
Marktforschungsdienstleister DIY-Plattformen an, über die Unternehmen selbst Umfragen
ins Panel einpflegen können – ohne Zuhilfenahme von Marktforschungsexpert:innen
(Hedewig-Mohr, 2018). Mit Baukastensystemen werden vordefinierte Fragetypen, Frage-
texte, Antwortkategorien etc. angeboten. Viele DIY-Tools verfügen über Schnittstellen zu
Online-Panelanbietern, sodass Unternehmen zugleich eine spezifische Zielgruppenaus-
wahl anhand bestimmter Merkmale eigenständig vornehmen können. DIY-Befragungen
sind seit Jahren auf dem Vormarsch. Laut einer Studie werden im Jahr 2022 bereits 50 %
aller Forschungsprojekte intern in den Unternehmen durchgeführt und an kein klassisches
Marktforschungsinstitut vergeben (Müßigmann, 2020).
Chancen und Risiken, die sich für die Marktforschungsbranche aus der Auto-
matisierung und der DIY-Marktforschung ergeben, wurden bereits 2016 intensiv dis-
kutiert (Poynter & Murphy, 2016). Tab. 6.1 fasst die Erkenntnisse zusammen.
Die skizzierte Entwicklung der Umfrageforschung hat erheblichen Einfluss auf das
magische Dreieck der Marktforschung mit seinen Dimensionen Zeit, Kosten und Quali-
tät. Infolge der Digitalisierung sind Zeit und Kosten für die Durchführung von Markt-
forschungsstudien deutlich gesunken. Umfragen können deutlich effizienter als vor
20 Jahren durchgeführt werden. Allerdings muss nun ein besonderes Augenmerk
auf die Qualität der Umfragedaten gelegt werden. Dieses ist umso wichtiger, da viele
Beteiligte auf dem Markt der Umfrageforschung zu finden sind, deren Kernkompetenzen
eher in der technologischen Umsetzung von Softwarelösungen liegen und weniger in
der institutionellen klassischen Marktforschung. Gleichzeitig führt diese Entwicklung
zu einem erheblichen Preisdruck bei klassischen Marktforschungsinstituten und dort
zu Kompromisslösungen, die ihrerseits wieder kritisch von Unternehmen, die Markt-
forschung betreiben, gesehen wird (Thunig, 2020, S. 38).
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 95
Während die Schritte 1, 2 und 6 derzeit weitestgehend durch den Menschen selbst
erfolgen, zeigt sich die Auswirkung der Digitalisierung insbesondere in den Schritten 3 bis
5. Daher wird hierfür der Einfluss der Digitalisierung nachfolgend spezifischer aufgeführt.
96 T. Zweigle
Die Hälfte aller Umfragen wird derzeit online durchgeführt (siehe Abb. 6.1). Damit
sind Online-Interviews die mit Abstand bevorzugte Befragungsart. Sie sind mithilfe
von Online-Access-Panels schnell durchführbar, vergleichsweise günstig pro erhobener
Stimme und können Multimedia-Elemente im Fragebogen berücksichtigen.
In der Marktforschung erfolgt bereits seit Jahrzehnten die Analyse quantitativ erhobener
Daten, also das Data Mining, computerunterstützt. Programme wie SPSS oder R, die
eine benutzerfreundliche Oberfläche aufweisen, führen komplexe Analysen vergleichs-
weise einfach und schnell durch. Einfache Analysen sind bereits mit dem allgegen-
wärtigen Microsoft-Standardprogramm Excel möglich.
Vergleichsweise viele Innovationen gab es in den letzten Jahren aufgrund der
exponentiell steigenden Rechenleistungen und Speicherkapazitäten von Computern
in der Analyse von Informationen mithilfe der Künstlichen Intelligenz. Hierbei geht
es um die Automatisierung von Entscheidungsprozessen, die auf neuronalen Netzen
und Algorithmen beruhen, um aus Entscheidungen zu lernen. Durch diese Techno-
logie können Systeme die menschliche Intelligenz nachahmen und langfristig eigen-
ständige Lösungen ableiten. In der Umfrageforschung helfen Algorithmen den
Marktforscher:innen bei aufwendigen, standardisierten Aufgaben, bei denen der Mensch
alleine weniger gut zurechtkommt bzw. sehr viel Zeit hierfür aufwenden müsste.
Algorithmen sind in der Lage, diese Tätigkeit schneller, zuverlässiger und teilweise
intelligenter durchzuführen (Engel, 2021a).
Text sowie von Text zu Sprache, sind daher für die Umfrageforschung in Bezug auf den
Einsatz von Avataren äußert interessant (Zweigle, 2021, S. 173).
Automatisierte Übersetzungssoftware
Ein weiterer Nutzen der Automatisierung ergibt sich aus der Übersetzungssoftware. So
werden Tools wie Google Übersetzer oder deepl.com für Mehrländerstudien eingesetzt,
um vergleichende oder aggregierte Daten auszuwerten. Kritisch ist allerdings beim
automatisierten Übersetzen von umfangreichen Texten anzumerken, dass sprachliche
Feinheiten oder geäußerte Emotionen von der Übersetzungssoftware oft nicht zufrieden-
stellend erkannt werden. Daher empfiehlt sich, die automatisierte Übersetzung eher
als Gerüst im Sinne von „Top-Lines“ für die Auswertung heranzuziehen (Appleton &
Haehling von Lanzenauer, 2019).
Im Folgenden werden die Bereiche konkreter ausgeführt, die aufgrund der digitalen
Transformation der Umfrageforschung auch in Zukunft die Marktforschungs-
branche weiter verändern. Denn DIY-Plattformen werden sich weiter etablieren,
mobile Befragungen weiter auf dem Vormarsch sein und digitale Sprachassistenten
in Form von Chatbots oder Avataren als Alternative oder Ergänzung zu menschlichen
Interviewer:innen eingesetzt.
Seit 1999 bietet die Umfrage-Plattform Survey Monkey jedem die Möglichkeit, digitale
Umfragen selbst zu erstellen und diese an eine selbst definierte und selbst rekrutierte
Zielgruppe zu schicken. Lange Zeit galten diese DIY-Befragungssoftwarelösungen in
der Marktforschungsbranche als „billig und zweitklassige Alternative“ (Hedewig-Mohr,
2018). Die neuesten Entwicklungen der DIY-Anwendungen allerdings bieten neben der
reinen Befragung nahezu den gesamten Forschungsprozess an, indem sie standardisierte
Befragungen mit professionellen Online-Access-Panels verbinden. Interessant ist, dass
nicht nur DIY-Softwarelösungsanbieter den DIY-Markt bestimmen, sondern auch die
Online-Access-Panelanbieter selbst. Letztere besitzen bereits Plattformen zur Ver-
waltung der Panelisten und ergänzen diese mit Schnittstellen zur Befragungssoftware,
kombinieren diese mit einem Dashboard für das Reporting und bieten somit ihr eigenes
DIY-Tool an.
102 T. Zweigle
Wie das Beispiel von Kvest zeigt, offerieren DIY-Dienstleister einen automatisierten
Forschungsprozess, ohne dass fundierte Marktforschungskenntnisse vonnöten sind.
Deshalb können auch Mitarbeitende aus dem Marketing, aus kleinen Firmen, aus
Beratungen oder Agenturen selbstständig Befragungsstudien durchführen, ohne ein
Marktforschungsinstitut oder die Marktforschungsabteilung zu involvieren. Darüber
hinaus erkennen immer öfter betriebliche Marktforscher:innen die Vorteile der auto-
matisierten Tools für sich, da sie dadurch bei Routinetätigkeiten entlastet werden und
sich stärker um die Generierung von Insights kümmern können.
Die Vorteile der DIY-Tools für Anwendende liegen auf der Hand. Sie bieten eine
schnelle, günstige und effiziente Umfrageforschung. Kritisch ist der Ansatz allerdings
bezüglich der Datenqualität zu sehen. Zwar bieten DIY-Tools meist vorgefertigte Frage-
bogenkonstruktionen an, aber die Gefahr der falschen Anwendung bleibt bestehen,
in etwa, wenn die Fragen in der falschen Reihenfolge angeordnet werden oder die
gewählten Antwortkategorien nicht passend zur Fragestellung sind. Ein weiteres
Risiko bezüglich der Datenqualität betrifft den richtigen Umgang mit Abbrechenden,
also mit Panelisten, die das Interview nicht bis zum Ende durchführen. Bei zu vielen
Abbrechenden leidet die Repräsentativität der Stichprobe. Je geringer die Inzidenz der
Zielgruppe ist, desto dramatischer wirkt sich dieser Effekt aus. Für Unternehmen, die
DIY-Befragungsplattformen nutzen, ist es daher essentiell bereits bei der Konzeption
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 103
des Fragebogens darauf zu achten, dass Panelisten die Befragung interessant finden.
DIY-Dienstleister versuchen diese Qualitätsrisiken für ihre Kund:innen zu minimieren,
indem sie wissenschaftlich-fundierte Fragebogenvorlagen oder auch ihre fachliche
Unterstützung in Form von Leitfäden anbieten (Wigmore, 2021). Weitere Hilfsangebote
betreffen den sogenannten On-Demand-Service, der hinzugebucht werden kann, falls
während des DIY-Forschungsprozesses seitens der Anwendenden Fragen auftauchen
(Jurowskaja, 2021). Chancen und Risiken der DIY-Marktforschung für Unternehmen
zeigt zusammengefasst Tab. 6.2.
Ebenso stark diskutiert wie der DIY-Trend in der Marktforschungsbranche wird Mobile-
Research, also die Befragung über Smartphones (Woppmann, 2017). Dabei gibt es zwei
grundsätzliche Ansätze der mobilen Marktforschung: Browser-basiert und App-basiert.
Während es sich bei Browser-basierten mobilen Umfragen eigentlich um Online-
Umfragen handelt, die in ihrer gestalterischen Umsetzung für das Smartphone mobil
„optimiert“ werden, ist die Gestaltung der App-basierten Umfragen bereits auf die
mobilen Endgeräte ausgerichtet.
104 T. Zweigle
sowie Surfen im Internet mit Alexa, Google etc. (17 %) mittels Spracheingabe bzw.
Voice, genannt (Absatzwirtschaft, 2019). Es ist davon auszugehen, dass die Nutzung
künftig weiter ansteigen wird. Daher liegt es auf der Hand, dass Sprachassistenten auch
in der Umfrageforschung in Form von Voice-Assisted-Interviews (VAI) an Bedeutung
gewinnen und im Studiendesign Berücksichtigung finden. Das Marktforschungsinstitut
Dialego beispielsweise setzte Amazons Alexa zur Befragung von Konsumenten in
der Innenstadt von Aachen zum Thema „Einkaufen der Zukunft“ ein (Gadeib, 2018).
Für diesen Zweck wurde Alexa allerdings umprogrammiert, weil Sprachassistenten
normalerweise Fragen beantworten und nun Alexa aber die Fragen stellen sollte. Auch
das Institut FFIND führt seit kurzem neben CATI- und CAPI-Befragungen auch VAI-
Research mit Alexa durch (Hedewig-Mohr, 2021).
Tab. 6.4 Chancen und Risiken beim Einsatz von Chatbots bzw. Avataren in der Umfrage-
forschung
Chancen von Chatbots Risiken von Chatbots
Hohe Akzeptanz digitaler Sprachassistenten bei Mangelndes Vertrauen der Befragten in den
(jungen) Konsument:innen Chatbot
Schnelle Befragungsergebnisse durch Mangelnde Akzeptanz seitens der
Speech2text-Verfahren möglich (älteren) Befragten
Qualitativ höherwertige Daten, da Befragte in Nur für einfache standardisierte Nachfragen
gleicher Zeit mehr Informationen als beim Ein- derzeit möglich
tippen preisgeben Hohe Fehleranfälligkeit der Systeme, da
24/7 verfügbar und einsetzbar Technik derzeit noch nicht ausgereift ist
Unterstützt Spieltrieb Gaming-affiner Ziel- Echte Dialoge sind derzeit noch nicht möglich
gruppen (z. B. Erstellen eigener Avatare) (KI wird überschätzt)
Durch Standardisierung der Interviewer-
situation gibt es keinen Reliabilitätsverlust
durch Einflüsse der Interviewer:innen
Eigene Darstellung
war so groß, dass auch nach der Studie die Teilnehmer mit Serena weiterchatten wollten
(Geißler, 2020).
Chatbots bzw. Avatare bieten zwar ein großes Potenzial für die Umfrageforschung,
die Erwartungen an die KI sowie an den Einsatz von Chatbots bzw. Avataren sind der-
zeit allerdings überzogen (Thommes, 2020). Chancen und Risiken für den Einsatz von
Chatbots bzw. Avataren im Rahmen der Umfrageforschung stellt Tab. 6.4 zusammen-
fassend gegenüber.
Die Ausführungen zeigen, dass es bereits diverse Ansätze für automatisierte Lösungen
entlang des Umfrageforschungsprozesses gibt. Computergestützte Datenerhebungen
mittels CATI, CAPI oder CAWI sowie die digitale Datenanalyse mittels Auswertungs-
software wie SPSS, R und Excel sind schon seit Jahrzehnten fester Bestandteil der
Umfrageforschung. Erhebliche Potenziale bei der Datenanalyse liegen allerdings in der
Textanalyse und im Semantic Mining. Hier können automatisierte und selbstlernende
Systeme den menschlichen Forscher:innen viel Routine- und Präzisionsarbeit abnehmen.
Neben der Datenanalyse unterstützt die Automatisierung insbesondere auch die Daten-
aufbereitung in Form von standardisierten Reportings, die über vollautomatisierte
Dashboards jederzeit abrufbar sind – meist sogar in Echtzeit.
Bereits etablierte Trends in der Umfrageforschung betreffen DIY-Research sowie
Mobile-Research. In den letzten Jahren hat sich DIY-Research für standardisierte
Erhebungen durchgesetzt und wird von den unterschiedlichen Nutzergruppen
6 Digitale Transformation der Umfrageforschung 109
Und was bedeutet die Digitalisierung generell für die Zukunft der Umfrage-
forschung?
Auch wenn es mittels der digitalen Möglichkeiten und der KI immer leichter wird, das
digitale Verhalten von Konsument:innen zu beobachten, ohne direkt Fragen zu stellen,
wird die originäre Befragung von Menschen auch künftig von Relevanz sein. Nur durch
Befragungen kann das individuelle Warum von Entscheidungen näher analysiert werden.
Informationen über Einstellungen, Motive und Beweggründe der Konsument:innen sind
weiterhin von großer Bedeutung für das Marketing (Kirchmair, 2020, S. 217). Daher
kommt der Umfrageforschung auch künftig eine große Bedeutung zu. Nur das Wie muss
unter ökonomischen Gesichtspunkten (siehe DIY-Research) sowie dem allgemeinen
Verhalten der verschiedenen Zielgruppen (beispielsweise Smartphone als präferiertes
Kommunikationsmittel) angepasst werden. Marktforschungsinstitute reagieren hierauf.
So wurde beispielsweise jüngst der digitale Testmarkt der GfK SE in Haßloch nach
35 Jahren geschlossen. Er war nicht mehr zeitgemäß. Die Erhebungen erfolgen nun unter
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114 T. Zweigle
Prof. Dr. Tanja Zweigle ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt
Marketing Management an der IU Internationalen Hochschule in Düsseldorf. Ihre Forschungs-
interessen liegen im digitalen Marketing, im Marken- und Kommunikationsmanagement,
im Konsumentenverhalten sowie in der Marktforschung. Mit ihrer Marketingberatung i4m
insights4management berät sie als selbstständige Research- und Insights-Expertin verschiedene
Praxisunternehmen. Vor ihrer Lehrtätigkeit und Selbstständigkeit war sie in unterschiedlichen
Beratungsfirmen, u. a. bei GfK und BBDO Consulting (heute: Batten & Company), in leitenden
Positionen tätig. Sie ist persönliches Mitglied im Berufsverband Deutscher Markt- und Sozial-
forscher (BVM).
Tools zur Analyse des Internetauftritts
kleiner und mittelständischer 7
Unternehmen in der Tourismusbranche
am Beispiel von Google Lighthouse
Zusammenfassung
A. Klein (*)
IU Internationale Hochschule, München, Deutschland
E-Mail: [email protected]
I. zur Oven-Krockhaus
IU Internationale Hochschule, Hannover, Deutschland
E-Mail: [email protected]
S. Pastowski
IU Internationale Hochschule, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
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Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_7
116 A. Klein et al.
Website. Darauf aufbauend fokussiert der Beitrag vor allem technische Kriterien
wie Suchmaschinenoptimierung, Barrierefreiheit und Ladegeschwindigkeit, die
mithilfe eines Online-Analysetools quantitativ erhoben werden können. Eine Dar-
stellung der Anforderungen an Tools zur Analyse von Websites wird um einen Über-
blick momentan verfügbarer Tools ergänzt. Auf dieser Grundlage erfolgt dann eine
praktische Anwendung des Tools Google Lighthouse anhand einer Case Study. Neben
einer Vorstellung des Tools werden auch Vorteile sowie Restriktionen aufgezeigt und
kritisch betrachtet. Die Analyse der Startseiten von drei (anonymisierten) Unter-
nehmen aus touristischen Teilbereichen (Hotellerie und Reiseanbieter) veranschau-
licht die praktische Anwendung von Google Lighthouse.
7.1 Einführung
2021 nutzten in Deutschland fast 67 Mio. Menschen das Internet. Dabei ist es auch zum
Leitmedium der kaufkräftigen Altersklassen jenseits der 50 geworden (ARD/ZDF, 2021).
Im Zusammenspiel von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring sowie Print- und
Onlinemarketing gehört mittlerweile der Internetauftritt1 zum unverzichtbaren Bestand-
teil der Unternehmenspräsentation. Die veränderte Mediennutzung geht dabei vor allem
zulasten der gedruckten Medien – also der klassischen Kommunikationsinstrumente der
KMUs (Bernsau, 2021).
Über die reine Kommunikationsform hinausgehend kommt dem Internetauftritt
eines Unternehmens bei vielen Onlineanbietern allerdings noch eine viel zentralere
Rolle zu: Er ist die Basis ihres Geschäftsmodells und damit ihrer wertschöpfenden
Geschäftsaktivitäten im Internet. Internetanbieter weisen oftmals eine Wertschöpfungs-
konfiguration auf, die nicht dem Geschäftsmodell der „klassischen” Wertkette, sondern
dem Wertshop oder dem Wertnetzwerk folgt (Stabell & Fjeldstad, 1998). Vor allem
ist zu berücksichtigen, dass der Wettbewerb im Internet immens hoch ist: Der nächste
Wettbewerber ist nur einen Mausklick oder ein Wischen auf dem Smartphone entfernt,
die Transparenz über andere Anbieter und deren Konditionen ist weitgehend gegeben
und die Wechselbarrieren sind gering. Gleichzeitig steigt die Bereitschaft, Einkäufe
über das Internet zu tätigen (HDE Deutscher Handelsverband, 2021). Informieren sich
Kund:innen beispielsweise über eine Pauschalreise und vergleichen die oftmals aus-
tauschbaren Angebotsbestandteile verschiedener Reiseveranstalter (Flug, Hotel und
1 Nach Jacobsen (2017, S. 468–469) werden in diesem Beitrag die Begriffe Internetauftritt, Website
und Webpräsenz synonym betrachtet und zur Beschreibung einer „Sammlung von HTML-Seiten
und anderen Dateien, die unter einer Domain“ (www.Domainname.Endung) erreichbar sind, ver-
wendet. Der Begriff Seite dagegen wird als Bezeichnung eines „einzelnen HTML-Dokuments, das
in einem Browser angezeigt wird“ und die Begriffe Homepage bzw. Startseite für die erste HTML-
Seite einer Website verwendet.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 117
Transferangebote), dann ist innerhalb kurzer Zeit und mit wenig Aufwand ein Anbieter-
und Preisvergleich möglich. Spezialisierte Preissuchmaschinen liefern diesen Marktüber-
blick ebenfalls auf Mausklick.
Damit ist die Güte einer Webpräsenz – sowohl der eher kommunikationspolitisch
ausgerichteten als auch des im und übers Internet funktionierenden Geschäftsmodells –
von grundsätzlicher Bedeutung für das Unternehmen. Deren Analyse stellt allerdings
häufig für kleine und mittelständische touristische Unternehmen eine Herausforderung
dar. Was bedeutet und beinhaltet ein „guter“ Internetauftritt und welche Tools stehen
gerade für Kleinstunternehmen zur Verfügung, um einen schnellen Überblick in Bezug
auf Optimierungsmöglichkeiten zu bekommen? Was sind relevante Kriterien und
Bewertungsmaßstäbe und welche konkreten Werkzeuge bzw. Tools können auch durch
Nicht-Expert:innen verwendet werden? Auf diese Fragen wird in den kommenden
Abschnitten eingegangen.
Auf die Frage nach einem „guten“ Internetauftritt gibt es trotz umfassender wissen-
schaftlicher Auseinandersetzung mit der Thematik keine allgemeingültige Antwort
bzw. kein Standardset an Kriterien (Bernsau, 2021). Eine Möglichkeit der Betrachtung
besteht in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Functionality und Usability
(Law, 2019), wobei unter der ersten Dimension die inhaltlichen Kriterien (Content
und Design/Layout) zusammengefasst werden und die zweite Dimension sich auf die
technischen Kriterien (Aufbau der Seite/Programmierung) konzentriert. Dabei bestehen
allerdings zahlreiche Interpretationen darüber, wie konkret Functionality und Usability
zu definieren sind und welche Kriterien in deren Bewertung einfließen. Oft überlappen
bzw. beeinflussen sich die Kriterien der beiden Dimensionen, sodass hier eine scharfe
Trennung nicht wirklich möglich ist.
Darüber hinaus existieren in der wissenschaftlichen Literatur einige theoretische
Modelle zur Bewertung der Qualität der Websites (Jeddi et al., 2017), deren Bedeutung
aber in der Praxis als gering einzuschätzen ist. Vielmehr wird das Augenmerk auf
einzelne Kriterien gelegt bzw. es werden – ähnlich wie bei der allgemeinen Betrachtung
des Qualitätsbegriffs (Bruhn, 2020, S. 34–35) – unterschiedliche Perspektiven ein-
genommen. Eine Übersicht der häufigsten Perspektiven findet man beispielsweise
bei Bernsau (2021), der zwischen vier Ansätzen zur Bewertung der Websitequalität
unterscheidet. Der erste Ansatz fokussiert die Auffindbarkeit der Seiten durch die
Suchmaschinen (SEO-Performance), der zweite die Nutzerfreundlichkeit der Seite
(Usability + User Experience), der dritte und vierte die technischen bzw. gestalterischen
Elemente. Diese können auf unterschiedliche Art und Weise realisiert werden, je nach-
dem, ob eine subjektive Sicht der Nutzer bzw. der Expert:innen herangezogen oder
118 A. Klein et al.
Abb. 7.1 Ansätze und Erhebungsmethoden bei der Bewertung der Qualität von Websites.
(Quelle: [3, S. 12])
aber eine Messung anhand von objektiven Faktoren vorgenommen wird. Die Abb. 7.1
beinhaltet eine Übersicht der angesprochenen Ansätze und Erhebungsmethoden.
Ungeachtet der methodischen Aufteilung der unterschiedlichen Messkriterien
gilt es für die Unternehmen, sich im globalen Wettbewerb so darzustellen, dass
einerseits Suchmaschinen die Website finden und möglichst hoch in den Ergebnis-
listen aufführen, gleichzeitig aber die technischen und inhaltlichen Aspekte von den
Websitebesucher:innen positiv eingeschätzt werden. Immerhin gibt es weltweit über
364,6 Mio. Websites als sogenannte registrierte Top-Level-Domains (Stand 03/2021,
Verisign Inc., 2021).
Demzufolge werden an dieser Stelle die Kriterien erläutert, die als am wichtigsten
für die touristischen KMUs zu betrachten sind: Suchmaschinenoptimierung (SEO),
Barrierefreiheit (Accessibility), Ladegeschwindigkeit (Quality Performance) und Inhalt
der Seite (Content). Im Anschluss wird auf sogenannte Progressive Web Apps (PWA)
eingegangen, die als eine Mischung zwischen einer im Browser abrufbaren Website und
einer nativen App zu betrachten sind, und deren Bedeutung im Tourismus zunehmend
wächst.
Suchmaschinenoptimierung (SEO)
Eine Suchmaschine ist letztendlich nichts anderes als eine große Bibliothek, in der
Informationen zusammengestellt, eingeordnet und kategorisiert werden, damit sie bei
Bedarf wiedergefunden und dargestellt werden können (Alpar et al., 2015, S. 46–47)2.
In der Praxis ist Suchmaschinenoptimierung ein von den Unternehmen häufig genanntes
Kriterium in Zusammenhang mit dem eigenen Internetauftritt. Dabei gilt es, nicht die
Suchmaschine zu optimieren, sondern vielmehr die eigene Website so zu programmieren
und zu gestalten, dass sie von Suchmaschinen besser gefunden, indiziert (also in einen
2 Die globalen Marktanteile von Suchmaschinen verteilen sich wie folgt: Google ist mit Stand
Dezember 2021 die größte Suchmaschine (78,6 %), gefolgt mit großem Abstand von Bing
(9,86 %), dem chinesischen Marktführer Baidu (3,46 %) oder Yahoo! (2,19 %) und dem russisch-
niederländischen Unternehmen Yandex (4,8 %) (Netmarketshare, 2021).
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 119
Index aufgenommen) und möglichst hoch gerankt wird. Die Aufnahme in den Index
erfolgt dabei auf der Basis eines Algorithmus und mithilfe der sogenannten Webcrawler,
also kleiner Programme, die automatisch das Internet durchsuchen und Informationen
über die Websites sammeln (Raaf, 2021, S. 7–8).
Bei der Anzeige der Suchergebnisse werden üblicherweise für jeden Suchtreffer
der Seitentitel, die Adresse (URL) und die Meta-Description3 aufgelistet. Weitere
ergänzende Informationen, beispielsweise Preisinformationen oder Bewertungen,
werden als „Rich Snippets“ bezeichnet und werden ebenfalls aus dem Quelltext der
jeweiligen Datei ermittelt (Czysch, 2017). Diese Informationen kann ein Website-
betreiber auf seiner Website und im Quelltext hinterlegen und somit der Suchmaschine
das Finden und Erstellen von Informationen „erleichtern“.
Insofern empfiehlt Raaf (2021, S. 11–14) einen achtstufigen Prozess der
Websiteoptimierung, indem folgende Schritte systematisch abgearbeitet werden:
Auch wenn Google keinen detaillierten Einblick in den Algorithmus gewährt, nach
dem Websites indiziert und in Suchergebnissen aufgeführt werden, so gibt Google die
Möglichkeit, sich mit den Grundlagen und dem Aufbau vertraut zu machen. Wie eine
Suche bei Google funktioniert, erläutert das Unternehmen ausführlich im SEO-Leitfaden
(http://seobuch.net/719), nicht nur mit Hinweisen für ein richtlinienkonformes Vorgehen,
sondern gleichermaßen mit Tipps über Maßnahmen für eine erfolgreiche SEO.
Barrierefreiheit (Accessibility)
Barrierefreiheit – also die Abwesenheit von Hindernissen – ist nicht nur für Menschen
mit Behinderung in Gebäuden oder Einrichtungen hilfreich und notwendig, sondern
3 Mit Meta-Description wird die Programmzeile bezeichnet, in der spezifische, die Websiteinhalte
beschreibende Begriffe aufgeführt werden. Zusammen mit der Titel-Programmzeile, in der ein
Titel für die Website vergeben werden kann, bildet sie die Informationen, die von Suchmaschinen
ausgelesen und i. d. R. für die Ergebnisdarstellung verwendet werden (Lammenett, 2021, S. 243–
247).
4 Keywords sind Suchbegriffe, die Nutzer:innen in Suchmaschinen eingeben. Für das Ranking
spielt die Platzierung von Keywords an den richtigen Stellen eine sehr wichtige Rolle.
120 A. Klein et al.
ebenso im Internet. Übertragen auf die Gestaltung und die Programmierung von Web-
sites gilt es, einen barrierefreien Zugang und Nutzung zu ermöglichen. Dies ist in
einigen Ländern bereits gesetzlich vorgeschrieben: In den USA beispielsweise ist
ein barrierefreies Webdesign bei öffentlichen Websites bereits heute Pflicht und wird
gemäß den Richtlinien zum „American Disabilities Act (ADA 1990)“ verbindlich vor-
geschrieben. In Europa – und damit auch in Deutschland – müssen seit der Veröffent-
lichung der EN 301 549 (Version 3.2.1) im Jahr 2021 öffentliche Stellen des Bundes
die aktualisierten rechtlichen Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit umsetzen. Diese
wurden in der Barrierefreien-Informationstechnik-Verordnung (BITV) konkretisiert
(Bundesfachstelle Barrierefreiheit, 2022)5. Dazu zählen beispielsweise Websites, Apps,
Intranet, Extranet und elektronische Verwaltungsabläufe (Behindertengleichstellungs-
gesetz, § 12a Absatz 1).
Neben dem rechtlichen Aspekt wird dem Faktor Barrierefreiheit von immer mehr
Suchmaschinen umfassende Bedeutung zugemessen und in die Berechnung eines Scores
einbezogen (Lammenett, 2021, S. 243). Diese können sich dabei auf international gültige
Standards zur Barrierefreiheit stützen. Daher ist es empfehlenswert, dass der Code einer
Website auf die Einhaltung der Standards des W3C Konsortiums (World Wide Web Con-
sortium) überprüft wird. Dieser Standard soll sicherstellen, dass Websites eine hohe
technische und redaktionelle Qualität erreichen (Kreutzer, 2018, S. 292–293).
Ein wichtiges Element zur Vermeidung von Barrieren ist ein guter Kontrast von Text
und Hintergrund sowie die Vergabe von Alternativtexten für Bilder (sog. Alt-Attribut).
Der Alternativtext wird im Quelltext hinterlegt und wird anstelle des nicht sichtbaren
Bildes angezeigt. Das ermöglicht es Menschen mit Sehbehinderung, die den Vorlese-
modus einschalten, die Websiteinhalte zu erfassen. Die Vergabe von alternativen Bild-
texten soll zudem eine höhere Score-Berechnung der Suchmaschinen ergeben (Sens,
2020, S. 28).
Smartphone) und bereiten keine optischen Hindernisse (Bernsau, 2021, S. 23–24). Damit
verbunden ist auch die Devise „mobile first“, die bedeutet, dass sich die Erstellung und
Pflege von Websites auf den Abruf auf mobilen Endgeräten – und nicht wie ursprünglich
auf stationären Computern – konzentriert.
Von den zuvor genannten Erhebungsmethoden zur Bewertung der Qualität von Web-
sites kann insbesondere die Messung anhand objektiver Faktoren gerade für kleinere
Unternehmen im Tourismus wie z. B. Privathotels oder selbständige Reisebüros als
besonders hilfreich betrachtet werden. Viele touristische KMUs verfügen nicht über eine
IT-Abteilung oder Wissen in den Bereichen Informatik, Marketing oder Design. Daher
benötigen sie leicht verständliche und praktisch gestaltete Tools, die ihnen ermöglichen,
relevante Aspekte ganz einfach mit Hilfe von Checklisten selbst umzusetzen (Raaf, 2021,
S. 1). Welche weiteren Anforderungen solch ein Analysetool erfüllen soll, kann der
Tab. 7.1 entnommen werden.
Im Anschluss sollen nun gemäß den dargestellten Anforderungen die Website-Ana-
lysetools vorgestellt werden, die insbesondere die Prüfung und Optimierung des eigenen
Internetauftritts in Bezug auf die wichtigsten in Abschn. 1.2 aufgeführten Kriterien
ermöglichen.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 123
Tab. 7.2 Tools zur Analyse von Websites von kleinen und mittelständischen Unternehmen
Daten über technische und inhaltliche Faktoren: Wie performt die eigene Website
bei Suchmaschinen?
Google Search Console (alternativ: Bing search.google.com/search-console/welcome
Webmastertool, RYTE): Ranking im Such- de.ryte.com
ergebnis, Klickraten, Impressionen etc.
Google Analytics (alternativ: Piwik, Matomo, seoquake.com/index.html
SEO Quake): misst jeden einzelnen Klick auf
der Website und generiert Statistiken zu Seiten-
aufrufen, Besucherzahlen, Demografie oder wo
Nutzer herkommen
Ladegeschwindigkeit
Google Pagespeed (alternativ: Pingdom): misst developers.google.com/speed/pagespeed/
die Ladegeschwindigkeit der Website insights/
tools.pingdom.com/
Core Web Vitals: Probleme beim Laden der web.dev/vitals/
Website werden anhand einer Ampel in Echtzeit
angezeigt
JPEGmini: um die Ladegeschwindigkeit zu jpegmini.com/
erhöhen, verkleinert JPEGmini Bilddateien vor
dem Upload
Keywords
Google Ads Key Word Planer (alternativ: ads.google.com/intl/de_de/home/tools/
Hypersuggest): Googles kostenloses Tool für keyword-planner/hypersuggest.com/de/
Keywords, andere Tools sind kostenpflichtig
SeoQuake SEO Extension: Dieses Add-on seoquake.com/index.html
für die Browser Mozilla Firefox und Google
Chrome zeigt, wie hoch die Keyword-Dichte
für den Websitetext ist
Keywordtool.io: Bei kleinem Monatsbudget keywordtool.io/
für Google AdWords zu empfehlen; englisch-
sprachiges Tool für Keyword-Recherche (zeigt
Suchvolumen für Keywords und schlägt weitere
themenrelevante Keywords vor)
Responsivität
Google Mobile Friendly Tool in der Google search.google.com/test/mobile-friendly
Search Console
Snippet Optimizer von Ryte: Mit dem Snippet de.ryte.com/free-tools/snippet-optimizer/
Optimizer von Ryte können Suchergebnisse auf
den verschiedenen Endgeräten, wie beispiels-
weise dem iPhone, geprüft werden
Lesbarkeit: Texte mit einem Index-Wert unter 50 gelten als schwer verständlich, Ziel ist ein
Wert von über 60
(Fortsetzung)
124 A. Klein et al.
Die momentan auf dem Markt verfügbaren Tools konzentrieren sich vorwiegend auf
die technischen Kriterien wie zum Beispiel Ladegeschwindigkeit, Formatierung der
Überschriften oder Verlinkungen. Sie beziehen sich damit auf sogenannte Onpage-
Maßnahmen, die das Unternehmen beeinflussen kann, da sie auf der eigenen Website
6 Backlink (Rückverweis) ist ein Link von einer fremden, externen Seite zu der eigenen Internet-
seite. Je mehr hochwertige Backlinks vorhanden sind, desto attraktiver und vertrauenswürdiger
scheint eine Seite im Internet zu sein.
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 125
stattfinden. Deren Fokus liegt zum großen Teil auf einzelnen Kriterien, sodass sie keinen
Anspruch darauf erheben, die Qualität eines Internetauftritts umfassend zu betrachten.
Hervorzuheben an dieser Stelle ist die Website zur Bewertung verschiedener SEO-
Tools (www.seo-vergleich.de/seo-tools/onpage-tools/). Die meisten dort vorgestellten
Tools sind für einen begrenzten Zeitraum und eine sehr begrenzte Anzahl von Seiten
kostenlos und anschließend gegen eine Gebühr zwischen 40 € und 100 € pro Monat zu
nutzen – abhängig von der Zahl der analysierten Domains und dem gewählten Paket
(Raaf, 2021, S. 16). Gängige Tools, die nach diesem Prinzip agieren, sind: Seobility,
Pagerangers, Ryte, XOVI, Screaming Frog und Ahrefs. In der Tab. 7.2. werden die ver-
schiedenen Tools und Werkzeuge für die Website-Analyse aufgezeigt und kurz erläutert
bzw. entsprechende Links angegeben.
Im folgenden Kapitel wird Google Lighthouse näher erläutert – ein Tool, das in
der obigen Tabelle nicht berücksichtigt wurde, das aber aufgrund seines umfassenden
Ansatzes im Fokus dieses Beitrags steht. Die theoretische Darstellung wird um eine
praktische Anwendung anhand einer Case Study touristischer Unternehmen aus den
Bereichen Hotellerie und Reiseanbieter ergänzt. Die Analyse am praktischen Beispiel
soll als Impulsgeber für KMUs in der Tourismusbranche – aber nicht nur – dienen.
Google selbst beschreibt sein Tool wie folgt: „Lighthouse is an open-source, automated
tool for improving the quality of web pages. You can run it against any web page, public
or requiring authentication. It has audits for performance, accessibility, progressive web
apps, SEO and more.“ (Google Developers, 2021). Damit werden bereits die wichtigsten
Eigenschaften von Lighthouse genannt – eine kostenfreie Nutzung und Analyse jeder
Art von Websites unter Berücksichtigung folgender Bereiche: Leistung, Barrierefreiheit,
Sicherheit, Suchmaschinenoptimierung (SEO) und Progressive Web App.
Für die Installation des Tools gibt es drei Möglichkeiten: über die Google Platt-
form für die Entwickler (https://web.dev/measure/), über Installation eines Plug-
Ins im Browser und über einen Code-Befehl7. Die vierte Möglichkeit steht nur den
Nutzer:innen von Chrome zur Verfügung, ist allerdings die einfachste Möglichkeit: über
die Chrome-Entwicklertools8. Dafür muss lediglich nach dem rechten Mausklick auf
7 Dafür muss die Plattform Node.JS installiert werden. Diese Variante wird allerdings eher für IT-
versierte Marketingverantwortliche empfohlen und ist daher für KMUs eher zu vernachlässigen.
8 Sogenannte Entwicklertools bzw. Dev-Tools sind mittlerweile in den meisten Browsern integriert.
Sie beinhalten zahlreiche Funktionen zu Gestaltung, Analyse und Optimierung von Websites und
Web-Applikationen.
126 A. Klein et al.
Abb. 7.2 Abruf von Google Lighthouse über Chrome-Entwicklertools. (Quelle: Screenshot von
Google Lighthouse vom 23.02.2022)
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 127
der zu untersuchenden Seite aus dem Auswahlmenü der letzte Befehl „Untersuchen“
gewählt werden9. Danach erscheint neben der untersuchten Seite ein separates Fenster,
in dem verschiedene Chrome-Entwicklertools in einer Zeile dargestellt werden. Google
9 Alternativ
kann das Tastaturkürzel Cmd + Option + I (Mac) bzw. der Strg + Shift + I (Windows)
verwendet werden.
128 A. Klein et al.
Lighthouse wird als letztes Tool unter „Lighthouse“ (Version 8.5; in einer früheren
Version unter „Audits“) aufgelistet. Nach der Auswahl des Tools erscheint eine Seite, auf
der man direkt zu einem Report gelangt. Voreingestellt ist die Analyse aller verfügbaren
Kategorien und die Untersuchung einer mobilen Version.10 In der Abb. 7.2 werden die
einzelnen Schritte zum Abruf von Google Lighthouse über Chrome-Entwicklertools als
Screenshots dargestellt.
Der Report beinhaltet zunächst eine übersichtliche Darstellung der Hauptergeb-
nisse, die mithilfe der Gesamt-Scores (0 bis 100) für die einzelnen Bereiche berechnet
werden. Deren Interpretation wird durch die Einordnung in eine der drei farblich gekenn-
zeichneten Klassen erleichtert: rot (schlecht: Score 0 bis 49), orange (durchschnittlich:
Score 50 bis 89) und grün (gut: Score 90 bis 100). Danach folgt eine Darstellung der
Einzelindikatoren des jeweiligen Bereichs sowie der konkreten Verbesserungsvorschläge.
Die farbliche Kennzeichnung wird ebenfalls bei der Darstellung der Analyse der Einzel-
indikatoren angewandt, was die Interpretation der Ergebnisse deutlich erleichtert.11 Die
Ergebnisse des Reports können als eine PDF-Datei (aber auch in anderen Formaten)
heruntergeladen werden. Hier bietet Lighthouse eine zusammengefasste Version (die
auch auf dem Bildschirm angezeigt wird) und eine erweiterte Version, die viele weitere
Detailinformationen und Erklärungen beinhaltet. Im Folgenden werden einzelne
Bewertungsbereiche detailliert dargestellt.12
In die Berechnung des Gesamt-Scores im Bereich Leistung fließen insgesamt sechs
unterschiedlich gewichtete Einzelindikatoren ein, die auf verschiedene Art und Weise die
Geschwindigkeit der Seite messen. Die Bedeutung und Gewichtung der Indikatoren kann
der Tab. 7.3 entnommen werden.
Der Bereich Barrierefreiheit bezieht sich auf die Zugänglichkeit der Seite, d. h.
ihre nutzerfreundliche Gestaltung. Zur Berechnung des Gesamt-Scores werden sechs
Indikatoren herangezogen, die insgesamt rund 40 zu prüfende Merkmale beinhalten.13
Die folgende Tab. 7.4 beinhaltet eine Darstellung der von Lighthouse zu überprüfenden
Indikatoren.
Der Bereich Best Practices umfasst vier Indikatoren (Trust and Safety, User
Experience, Browser Compatibility, General), in deren Rahmen insgesamt 16 Items
10 Der Nutzer kann entscheiden, ob die mobile Version oder eine Desktop-Version der Seite
zeichnung der Indikatoren eingesetzt werden, wird an dieser Stelle verzichtet. Sie können der
aktuellen Seite der Google Developers (https://developers.google.com/web/tools/lighthouse) ent-
nommen werden.
12 Die Darstellung bezieht sich auf die Version 8.5.0 – die zum Zeitpunkt der Publikations-
erscheinung aktuellste Version von Google Lighthouse. Die früheren bzw. späteren Versionen
können davon abweichen.
13 Darüber hinaus werden zehn weitere Items genannt, die von den Nutzer:innen selbst manuell
Abb. 7.3 Zusammengefasste Ergebnisse der Google Lighthouse Analyse der untersuchten Start-
seiten (Unternehmen A, B und C). (Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 08.03.2022)
geprüft werden. Sie beziehen sich auf Sicherheitsaspekte wie Verwendung von HTTPS,
Einbindung von Ressourcen aus sicheren Quellen oder Vermeidung von unsicheren
Befehlen.
130 A. Klein et al.
Abb. 7.4 Detailergebnisse im Hinblick auf die Leistung der Startseite des Unternehmens A.
(Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)
Abb. 7.5 Detailergebnisse im Hinblick auf die Barrierefreiheit der Startseite des Unternehmens
B. (Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)
auf der Seite eine Beschreibung beinhalten. Google selbst verweist auf einen ein-
geschränkten Umfang der zu prüfenden Aspekte und empfiehlt eine weitere tief-
ergehende Prüfung. Damit ist das hier angezeigte Ergebnis als erster Hinweis zu
verstehen, vor allem bei einem niedrigen Score, sich mit der Problematik detaillierter zu
befassen.
Der letzte fünfte Bereich bietet sich zur Analyse einer Progressive Web App. Unter
zwei Kategorien (Installable und PWA Optimized) werden neun Tests durchgeführt, die
die Kernfunktionalitäten einer PWA prüfen, wie zum Beispiel responsives Design oder
die Möglichkeit einer Offline-Nutzung der Seite.
132 A. Klein et al.
Abb. 7.6 Detailergebnisse im Hinblick auf die Sicherheit der Startseite des Unternehmens C.
(Quelle: Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)
Abb. 7.7 Detailergebnisse im Hinblick auf SEO der Startseite des Unternehmens C. (Quelle:
Screenshot von Google Lighthouse vom 23.02.2022)
Eine übersichtliche Ausgabe der Scores der untersuchten Seiten in der Abb. 7.3
zeigt deren Stärken und Schwächen auf den ersten Blick. Die Startseite des ersten
Unternehmens (Unternehmen A) ist barrierefrei, sicher und suchmaschinenoptimiert.
Stark verbesserungswürdig ist allerdings ihre Ladegeschwindigkeit. Die zweite Startseite
(Unternehmen B) weist deutliche Schwächen hinsichtlich der Leistung und Barriere-
freiheit auf, ebenso sind die Sicherheitsaspekte nicht optimal. Dagegen wurde die Such-
maschinenoptimierung mit einem sehr guten Score bewertet. Die letzte Homepage
(Unternehmen C) weist in allen analysierten Bereichen Verbesserungspotenziale auf;
insbesondere die Themen Leistung und Sicherheit schneiden sehr schlecht ab. Keine der
untersuchten Startseiten wurde als eine PWA identifiziert.
Die nähere Betrachtung der Bewertung des Indikators „Leistung“ des Unternehmens
A in Abb. 7.4 zeigt, dass hier die Ladezeit, die notwendig ist, um erste Inhalte (Text oder
Bild) zu zeigen, noch als durchschnittlich (orange) bewertet werden kann; allerdings
sind alle anderen Indikatoren im „roten“ Bereich und damit stark verbesserungs-
würdig. Google Lighthouse liefert konkrete Vorschläge, wie dieses Problem gelöst
werden kann. Allerdings ist davon auszugehen, dass für deren Verständnis und vor allem
134 A. Klein et al.
Suchmaschinen bekommen im Zweifelsfall nicht mit, dass die Seite des Unternehmens
bestimmte Informationen beinhaltet.
Die Frage nach dem Nutzen von Lighthouse als Analysetool für Websites von kleinen
und mittelständischen Unternehmen fällt zum größten Teil positiv aus. Die Bedienung
von Lighthouse ist denkbar einfach – es ist keine Installation notwendig, die Analyse
wird nach wenigen Klicks und in kürzester Zeit durchgeführt, die Ergebnisse sind auf
den ersten Blick leicht zu verstehen. Dass Google Lighthouse kostenlos zur Verfügung
gestellt wird, ist ein weiterer großer Pluspunkt, da eine valide Website-Analyse mit ver-
gleichsweise geringem Aufwand ermöglicht wird.
Bei der Annahme, dass hier als Zielgruppe KMUs ohne tiefergehende IT-Kennt-
nisse im Fokus stehen, liefert der Report von Lighthouse viele wertvolle Hinweise auf
mögliche Schwächen der Seite und gleichzeitig auch konkrete Lösungsvorschläge. Ins-
besondere der erweiterte Report beinhaltet weiterführende Erklärungen, welche die
möglicherweise „abschreckend“ formulierten Anmerkungen der zusammengefassten
Version verständlicher machen. Auch existieren zahlreiche Erklärungen und Tutorials
zur Verwendung von Lighthouse. Bei Nutzern mit keinen bis geringen IT-Kenntnissen
können die Ergebnisse eine gute Grundlage für ein Gespräch mit den für die Erstellung
bzw. Hosting der Seite verantwortlichen Personen liefern. Die IT-affinen Unternehmen
können den Report nutzen, um selbständig bestimmte Verbesserungen vorzunehmen
(z. B. Beschriftung der Bilder für die Verbesserung der Barrierefreiheit der Seite). Auch
bei Verwendung von Content-Management-Systemen, also Software-Werkzeugen für
den Betrieb von Websites, kann die Bearbeitung von analysierten Indikatoren nach einer
durchgeführten Schulung gut intern erfolgen. Das entspricht grundsätzlich der Mentali-
tät des Mittelstandes, der vielfach argumentiert, dass eine interne Pflege kostengünstiger
sei und weniger Vorbereitung bedarf sowie schneller erfolgen kann. Hier ist allerdings
darauf zu achten, für bestimmte Aufgaben – gerade im Bereich SEO – externe Hilfe hin-
zuzuziehen. Teure Anfängerfehler lassen sich so vermeiden, die in den meisten Fällen
nur mit sehr viel Zeit und Geld wieder behoben werden können (Raaf, 2021, S. 1).
Essenziell ist aber dabei, dass – auch wenn Teilbereiche an externe Dienstleister mangels
Zeit oder Know-how ausgelagert werden – die Führung, die Zielsetzung und die Quali-
tätskontrolle bei dem touristischen Unternehmen bleibt.
Als Kritikpunkt ist vor allem die Tatsache zu nennen, dass die Ergebnisse je nach
Zeitraum bzw. Gerät zum Teil unterschiedlich ausfallen können; vor allem der Per-
formance-Score ist stark von der jeweiligen Internetverbindung beim Testen abhängig.
Darüber hinaus bezieht sich der Report auf die einzelnen Seiten einer Domain und nicht
auf die gesamte Domain bzw. den gesamten Internetauftritt, sodass ggf. mehrere Tests
notwendig sind. Es soll auch hervorgehoben werden, dass die Analysen – insbesondere
im Hinblick auf Barrierefreiheit und SEO – bei Weitem nicht alle wichtigen Aspekte
136 A. Klein et al.
beinhalten und eher als eine Basis für weitere Analysen zu verstehen sind. Diese sind
auch aus einem anderen Grund notwendig – Google Lighthouse beschränkt sich auf die
Analyse von fünf eher technischen Indikatoren, unbeachtet bleiben qualitative Aspekte
wie der Content der Seite und seine Darstellung.
7.5 Fazit
Was macht eine gute Website aus? Wie können Unternehmen auf ihre Internetpräsenz
aufmerksam machen und vor allem wie von Suchmaschinen gefunden werden? Welche
Möglichkeiten gibt es für Unternehmen, technische Kennzahlen über die Performance
ihrer Website zu bekommen? Mit diesen und weiterführenden Fragen beschäftigt sich
der vorliegende Beitrag und liefert sowohl theoretische als auch sehr praxisorientierte
Ansätze. Insgesamt liegt der Schwerpunkt auf der Perspektive kleiner und mittel-
ständischer Unternehmen (KMUs), die sich oftmals aufgrund der Ressourcenausstattung
mit der Optimierung ihrer Website schwertun. Insbesondere die Tourismusbranche ist
durch viele KMU-Anbieter gekennzeichnet, gleichzeitig herrscht großer Wettbewerb,
Informationsüberfluss im Internet und ein mittlerweile durch Onlinekonsum geprägtes
Nachfrageverhalten. Der vorliegende Beitrag untersucht daher als zentrale Fragestellung,
welche Internetanalysetools gerade KMUs zur Verfügung stehen und wie diese speziell
von touristischen Anbietern eingesetzt werden können.
Bei der Internetoptimierung spielen sowohl quantitative (technische) als auch
inhaltliche (qualitative) Aspekte eine Rolle. Der Beitrag fokussiert sich auf technisch
ausgelegte Kriterien, da diese von den Unternehmen oftmals eigenständig für die
Optimierung ihres Internetauftritts eingesetzt werden können. Faktoren wie Barriere-
freiheit, Ladegeschwindigkeit und die Suchmaschinenoptimierung spielen hierbei eine
zentrale Rolle. Diese Kriterien können mittels Software-Tools – oftmals online und in
Echtzeit – erhoben werden. Ein Überblick über Anforderungen an diese Tools zur Ana-
lyse von Websites wird um eine Auswahl momentan verfügbarer Tools ergänzt. Auf
Grundlage der theoretischen Fundierung erfolgt die Vorstellung des kostenlosen Online-
Tools Google Lighthouse anhand einer Case Study drei anonymisierter Unternehmen aus
der Tourismusbranche.
Die Erkenntnisse aus einer Google Lighthouse Analyse helfen KMUs sowohl,
einen ersten Überblick über die Leistungsfähigkeit ihrer Website zu erlangen als auch
detailliert Ansatzpunkte für Verbesserungen zu bekommen. Insbesondere die übersicht-
liche Darstellung der sekundenschnellen Auswertung zu Sichtbarkeit im Internet, ver-
besserter Auffindbarkeit durch Suchmaschinen und damit einer besseren Platzierung in
Suchergebnislisten ohne explizites finanzielles Investment konnten als zentrale Vorteile
von Google Lighthouse identifiziert werden.
Wenngleich die Analyseergebnisse durchaus technisch ausgerichtet sind, ermög-
lichen sie KMUs, einen Leistungstest der eigenen Webpräsenz vorzunehmen. Ob die
notwendigen Verbesserungen (z. B. Programmierung, SEO) selbstständig oder von
7 Tools zur Analyse des Internetauftritts kleiner … 137
externen Spezialisten umgesetzt werden, hängt vom Kenntnisstand und den Ressourcen
der KMUs ab. Oftmals reichen die Lighthouse-Analyseergebnisse aber aus, um sich
einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der eigenen – oder sogar im Sinne einer
Benchmarkanalyse von Wettbewerbssites – zu verschaffen.
Literatur
Alpar, A., Koczy, M., & Metzen, M. (2015). SEO-Strategie, Taktik und Technik: Online-Marketing
mittels effektiver Suchmaschinenoptimierung. Springer Gabler.
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Sven Pastowski ist Professor für Wirtschaft und Management an der IU Internationale Hoch-
schule – Duales Studium. Er lehrt und forscht u. a. in den Fachbereichen Betriebswirtschafts-
lehre, Tourismusmanagement, Marketing und Strategisches Management. Nach dem Studium der
BWL an der Universität Bayreuth arbeitete und promovierte er am dortigen BWL-Lehrstuhl für
Dienstleistungsmanagement zum „Qualitätsmanagement bei Dienstleistungen“. Sein besonderes
Interesse gilt dienstleistungsspezifischen Fragestellungen, u. a. aus der Sportartikelbranche, dem
Handel, der Kultur oder dem Tourismus. Sven Pastowski verfügt über langjährige Berufs- und
Führungserfahrung bei der adidas AG in den Themengebieten Konsumgüterbranche, Marketing
und Öffentlichkeitsarbeit, Projektmanagement, Organisationsentwicklung sowie Nachhaltigkeits-
und Innovationsmanagement.
Teil III
Ziele, Strategien und Innovationen
Open Innovation
8
Vom gehypten Sammelbegriff zum dominanten Prinzip
Natascha Hebestreit
Zusammenfassung
Bei Open Innovation geht es nicht so sehr um die Frage der absoluten Neu-
heit des Grundgedankens, sondern vielmehr um die Entwicklungen in Bezug auf
seine Umsetzungen, die sich in den letzten Jahren stark verändert haben – und von
denen Weiterentwicklungen auch zukünftig zu erwarten sind. Dabei kommt der
Digitalisierung aus zwei Gründen eine Schlüsselrolle zu: Einerseits ermöglicht sie
neue Informationsflüsse und Kooperationsformen, andererseits sind die digitalen
Technologien selbst Felder für Innovationen. Besonders im Bereich der alternativen
Anwendungsfelder für interne Technologien (inside-out) haben viele Unternehmen
noch ungenutztes Potenzial. Es sind aber nicht immer freiwillige Entscheidungen,
welche einer Öffnung des Innovationsprozesses vorausgehen, sondern oft externe
Erfordernisse wie fehlendes internes Know-how, die nicht nur Unternehmen dazu ver-
anlassen, sondern auch Staaten.
N. Hebestreit (*)
Fernfachhochschule Schweiz, Turin, Italien
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 141
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_8
142 N. Hebestreit
„Das, was Sie da Open Innovation nennen, heißt bei uns einfach Forschung und Ent-
wicklung.“ Sicherlich hatte der Herr mit dieser Wortmeldung zu meinem Vortrag auch
Provokation im Sinn. Skepsis bezüglich altem Wein in neuen Schläuchen ist in der
Betriebswirtschaftslehre nicht immer fehl am Platz. Er könnte damit aber auch zum Aus-
druck gebracht haben, dass Open Innovation mittlerweile so verbreitet ist, dass es zum
Synonym für unternehmerische Innovation geworden ist. Handelt es sich tatsächlich
um eine neue Form des Innovationsprozesses? Lassen sich strukturelle oder funktionale
Unterschiede feststellen oder handelt es sich vielmehr um einen treffenden Begriff, in
dessen Schlepptau sich Veränderungen der Innovationspraxis allmählich vollziehen?
Welche Rolle spielen die Digitalisierung und neue Kommunikationstechnologien? Hat
sich die Innovationspraxis in erfolgreichen Unternehmen wie auch die Forschung der
letzten zwei Jahrzehnte so stark verändert, dass es sich lohnt, mehr darüber zu erfahren?
Und welchen Ausblick können wir wagen? Wird uns Open Innovation noch lange
begleiten, oder ist der Zenit seiner Popularität bereits überschritten?
Diesen Fragen widmet sich der folgende Artikel und gibt dabei einen kurzen Über-
blick über die Geschichte des Begriffs Open Innovation seit seiner Einführung durch
Chesbrough im Jahr 2003 und wie das Konzept die unternehmerische Praxis wie auch
die wissenschaftliche Forschung durchdrungen und verändert hat. Dabei soll eine Ver-
bindung zur Digitalisierung in besonderem Fokus der Betrachtung stehen. Die Vielzahl
der Ausprägungen und Vorgehensweisen bei einer Öffnung des Innovationsprozesses
macht es für Unternehmen zwingend notwendig, den Kontext und die erreichbaren
Ziele sowie Risiken der einzelnen Formen zu kennen, um sie erfolgreich einsetzen und
effizient nutzen zu können. Unter dem Begriff muss man sich nämlich vielmehr einen
bunten Werkzeugkasten vorstellen – und nicht jedes Problem lässt sich mit einem
Hammer lösen. Anschließend möchte dieser Artikel einen Ausblick in die Bereiche
wagen, in denen ein großes Potenzial für Open Innovation erwartet wird und die in
den letzten Jahren eine neue Richtung eingeschlagen haben – die öffentliche Hand und
Regierungen mit einer Erweiterung auf nicht-monetäre Zielgrößen.
Es besteht Einigkeit darüber, dass der Begriff Open Innovation auf Chesbrough (2003)
zurückgeht – mit einer weiteren Spezifizierung wenige Jahre später (Chesbrough, 2006).
Dabei handelt es sich um einen Oberbegriff, der eine Vielzahl bereits bestehender
Praktiken zusammenfasst, verbindet und integriert (Huizingh, 2011, S. 3). Gemeinsam
ist allen eine Öffnung von Unternehmensgrenzen für Innovationen gegenüber der
Außenwelt, die entweder in einer Absorption externer Information (outside-in) oder in
einer Vermarktung interner Innovationsaktivitäten (inside-out) bestehen kann.
8 Open Innovation 143
u „Open innovation processes combine internal and external ideas together into platforms,
architectures, and systems. Open innovation processes use business models to define the
requirements for these architectures and systems. These business models access both
external and internal ideas to create value while defining internal mechanisms to claim some
portion of that value.“ (Bogers et al., 2018, S.6)
An dieser Definition fällt auf, dass die Notwendigkeit von strukturellen Elementen
hervorgehoben wird und zugrunde liegende Geschäftsmodelle einen systematischen
Prozess von zufälligen oder gelegentlichen Ereignissen unterscheiden. Deshalb muss
Open Innovation als Erweiterung, nicht als Ersatz einer traditionell vertikal ver-
ankerten Forschung und Entwicklung (wie sie bspw. von Freemann 1974, Chandler,
1990 oder Pavitt, 1991 beschrieben wird) verstanden werden, bei der externe Partner
zum Produktionsprozess hinzugezogen und gleichzeitig neue Märkte für interne Ent-
wicklungen zum Beispiel über Lizenzen gesucht werden (Chesbrough, 2006). Als
Konsequenz werden die Unternehmensgrenzen durchlässiger in Bezug auf Innovationen
und Wissen (Pénin et al., 2011, S. 16).
Open Innovation wird dabei oft als Gegenkonzept zu einem abgeschlossenen,
internen und geheimen Forschungs- und Entwicklungsprozess verstanden (closed
innovation), wobei bezweifelt werden darf, ob in der Unternehmenspraxis ein solches
Vorgehen jemals verbreitet gewesen ist (vgl. Dahlander & Gann, 2010). Vorstellbar ist
das höchstens in wenigen sensiblen Branchen wie dem Militär oder im Energiesektor,
aber sicherlich haben Unternehmen immer schon Ideen und Wissen ihrer Stakeholder zur
Weiterentwicklung genutzt (Pénin et al., 2011, S. 14). Was war also tatsächlich neu an
dem, was Chesbrough präsentiert hat? Die Erkenntnis, dass sich mehr Wissen außerhalb
eines Unternehmens befindet1, hatte schon vorher unter unterschiedlichen Begriffen
(bspw. „modular innovation“, Brusoni und Prencipe (2011), „distributed innovation“ bei
Kogut, 2008 und McKelvey, 1998 oder „dispersed innovation“ bei Becker, 2001) Ein-
gang in die Innovationsforschung gefunden.
Zunächst einmal kann der Einbezug einer Inside-out-Perspektive für Innovationen als
konträr zur bis dato vorherrschenden Lehrmeinung verstanden werden, wonach Betriebs-
interna niemals verkauft oder geteilt werden sollten (Mascarenhas et al., 1998). Open
Innovation legt Unternehmen ausdrücklich nahe, interne Innovationen zu teilen und bei-
spielsweise dafür neue Märkte, Lizenzen für andere Marktteilnehmer oder Spin-offs zu
schaffen.
Dann ist der Erfolg des Begriffs aber auch darauf zurückzuführen, dass er gerade
nicht von Grund auf neu war, sondern Anknüpfungspunkte zur bestehenden Innovations-
forschung sowie einer sich verändernden Unternehmenspraxis hatte. Chesbrough leitet
1 Inder Literatur trifft man dazu häufig Joy´s law, das dem Mitgründer von Sun Microsystems Bill
Joy (*1954) zugeschrieben wird: „No matter who you are, most of the smartest people work for
someone else.“
144 N. Hebestreit
seine Erkenntnisse von der Beobachtung ab, dass eine kleine Anzahl großer innovativer
Unternehmen von der traditionellen Innovationspraxis abgewichen sind (Chesbrough &
Rosenbloom, 2002), was seinerseits auf einer seit den 1970er Jahren gereifte Erkennt-
nis beruht, dass sich Quellen für Innovationsideen häufig außerhalb der Unternehmung
befinden (vgl. Freeman, 1974 oder Gibbons & Johnston, 1974). So spricht Allen bereits
1977 von F&E-Abteilungen als einem „open system“ (Allen, 1977) mit einer externen
Unterstützung zur Findung neuer Ideen und von Hippels Arbeiten haben diese Ansichten
verstärkt und weiter ausgebaut (von Hippel, 1976, 1978, 1982). Einen wesentlichen Bei-
trag hatten auch die Erkenntnisse von Teece (1986), der sich vertieft mit den Heraus-
forderungen von Unternehmen bei der Monetarisierung von Innovationsaktivitäten
beschäftigt hat. Hier spielen Betrachtungen des Technologiemarktes mit seiner unvoll-
ständigen Information sowie asymmetrischer Machtverteilung der Verhandlungsparteien
eine zentrale Rolle.
Das Konzept ist folglich als Beobachtung der Unternehmenspraxis geboren und hat
durch den Eingang in die Forschungsliteratur, an die es aufbauend anknüpfen konnte,
mit daraus folgenden Konferenzen, Special-Issue Themen in Journals und Seminaren zur
Verbreitung beigetragen, sodass es heute als common sense begriffen werden kann. Die
Forschungsarbeiten haben damit als Katalysator für die weitere Verbreitung dieser Art
von Innovationsaktivitäten gesorgt, einen internationalen Know-how-Transfer ermöglicht
und Rückkopplungseffekte in die Unternehmenspraxis erzeugt. Chesbroughs Beitrag
durch Schaffung des Begriffs Open Innovation als „a catch-all term for any new model
of innovation“ (West et al., 2014, S. 805) kann vor allem in einer neuen Sprache für Ver-
änderungen der Forschungs- und Entwicklungsarbeit sowie in einer neuen Ausrichtung
von innen nach außen verstanden werden. Führungskräfte sind ermutigt worden, neue
Formen der Innovationskommerzialisierung zu finden und ein neues Verständnis für die
Risiken aus einem solchen Vorgehen zu vertreten.
Zwei treibende Kräfte lassen sich hinter dem Siegeszug von Open Innovation identi-
fizieren, und zwar einmal die Globalisierung, die zu einer Verstärkung von Arbeits-
teilung und neuen gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Arbeitsformen geführt hat
(Huizingh, 2011 S. 4) und die Digitalisierung mit neuen Kommunikationstechnologien
zur Zusammenarbeit über geografische Distanzen hinweg (Dahlander & Gann, 2010
S. 2–3). Letztere hat neue Formen der Open Innovation wie das Crowdsourcing oder die
Nutzung digitaler Plattformen, von denen weiter unten noch die Rede sein wird, über-
haupt erst in dem heutigen Ausmaß möglich gemacht. Wenn die Kernidee hinter Open
Innovation die Fähigkeit eines Unternehmens ist, Teil eines Ökosystems zu sein, in dem
Menschen, Organisationen und Branchen gemeinsam entwickeln und Wissen teilen
(Adner & Kapoor, 2010), dann sind digitale Technologien ein unverzichtbarer Bestand-
8 Open Innovation 145
teil eines solchen Umfeldes. Dank ihnen verlaufen Entwicklungsprozesse nicht mehr
linear, sondern in Feedback-Schleifen, bei denen Nutzer zurückmelden, welche Arten
von Innovationen gebraucht werden (Bogers et al., 2010). Durch die Digitalisierung
haben sich Machtverhältnisse vom Anbieter zum Nachfrager verschoben und Unter-
nehmen können es sich heute aus Wettbewerbsgründen nicht mehr leisten, Ansprüche
und Bedürfnisse zentraler Stakeholder zu ignorieren (Jones et al., 2017).
„Das Bauen nach traditionellen Methoden ist nicht wirklich effizient.“ (Woerle,
Unternehmen Hilti 2021) Dabei bietet die Digitalisierung für das Baugewerbe nicht
nur Chancen im Bereich der integralen Planung (Building Information Modeling),
sondern Dank großer Datenverarbeitungskapazitäten wäre es möglich, repetitive und
gefährliche Tätigkeiten von Robotern ausführen zu lassen – bspw. die Bohrungen zur
Sprengung oder Begutachtungen von einsturzgefährdeten Gebäuden. ◄
Wir beobachten aber auch, dass die Digitalisierung Schwierigkeiten hat, in Kernsektoren
der Realwirtschaft Fuß zu fassen und dort Wachstum und Effizienzsteigerungen zu
unterstützen. Nur zögerlich erleben wir, wie digitale Technologien in streng regulierte
Branchen wie Gesundheit, Energie, Transport, Wohnen oder den Finanzsektor vor-
dringen, und wir befinden uns weiterhin in einem Anfangsstadium, bei dem Erfolg
mit viel Unsicherheit behaftet ist. Doch gerade in diesen wachstumsstarken Sektoren
entwickelter Volkswirtschaften wird Potenzial für positive Wachstumsschübe ver-
mutet (Bogers et al., 2018, S. 9) und es ist eine Welt, in der Blockchain, IoT, Machine
Learning und Big Data zu den dominanten und beschreibenden Begriffen für unsere
wirtschaftliche Realität werden (Case, 2017). Mittels Open Innovation können neue
Geschäftsmodelle, Märkte und Lösungen entwickelt werden, um in diesen Sektoren
die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Dabei könnten cross-industry Innovationen,
bei denen Prozesse und Verfahren aus einer Branche in eine andere überführt werden,
besonders erfolgversprechend sein – ähnlich der militärischen Kommunikationstechno-
logie, die wir alle heute als Handys in der Hosentasche tragen, oder dem Teflon, das
vom Korrosionsschutz bei der Urananreicherung seinen Weg bis in die heimischen Brat-
pfannen gefunden hat (Rhodes, 1986).
Im Jahr 2011 wagte Huizingh die Prophezeiung, dass Open Innovation sich in
den folgenden zehn Jahren so weit verbreitet haben wird, dass es zur dominanten
Innovationspraxis geworden und der Begriff dadurch seiner Distinktionskraft beraubt
sein wird.
u „My prediction is that we should not be surprised to learn that within a decade, the
term will fade away. Not because the concept has lost its usefulness, but, on the contrary,
because it has been fully integrated in innovation management practices.“ (Huizingh,
2011, S. 7).
146 N. Hebestreit
Passung
Bessere Messbarkeit Anwendungserweiterung
Open Innovaon Prakk und
von Erfolg und Kosten auf Regierungen und NGOs
Anwendungskontext
Einer der Gründe, warum sich diese Vorhersage bisher nicht erfüllt hat, könnte in der
unzureichenden Diffusion digitaler Technologien in jenen genannten Sektoren der Real-
wirtschaft liegen und in der Bedeutung, die Open Innovation für eine Erschließung
zugeschrieben wird. Dann würden Open Innovation und Digitalisierung bei der Durch-
dringung unserer Wirtschaft und ihrer Weiterentwicklung gewissermaßen Hand in Hand
gehen und Open Innovation würde in gleichem Maße wie sich die Digitalisierung ver-
breitet, zur dominanten und selbstverständlichen Innovationspraxis werden, die keiner
gesonderten Betrachtung mehr bedarf. So lange eine solche Erschließung noch aussteht,
dürfte uns der Begriff also weiterhin begleiten.
u „Open innovation will play a key role in the developed economies over the next
decade. There will be new technological trends that will fuel innovation, from
blockchain to digitalization to genomic editing.“ (Bogers et al., 2018, S. 11)
Drei Trends zeichnen sich aktuell aus der Forschung zu Open Innovation ab (Abb. 8.1):
Ein Bedarf nach einer besseren Messbarkeit von Erfolg (Spithoven et al., 2013) und
den Kosten von Open Innovation (Faems et al., 2010) einerseits und einer Lösung der
Frage nach der richtigen Passung von Open-Innovation-Praktiken unter Einbezug des
konkreten Anwendungskontextes andererseits (beides nach West et al., 2014). Eine
dritte Entwicklung deutet in Richtung von Regierungen, NGOs mit einer Erweiterung
der Zielgrößen um nicht-monetäre Zwecke und supranationalen Organisationen, die
ihrerseits nach Entwicklungsmöglichkeiten durch Open-Innovation-Praktiken suchen
(siehe Abschn. 1.6).
Zwei große Irrtümer sind noch immer in der unternehmerischen Praxis anzutreffen,
wenn es um die Nutzung von Open Innovation geht. Einer ist eine unzureichende
Unterscheidung zwischen Prozess und Ergebnis (von Hippel, 2010) – ein offener Ent-
wicklungsprozess muss nicht zwangsläufig auch zu einem öffentlichen Ergebnis führen
8 Open Innovation 147
und zwischen Inhalt, Kontext und Prozess muss unterschieden werden (Pettigrew, 1990).
Gleichzeitig ist eine freie Verfügbarmachung von Innovationen – also eine Öffnung nicht
nur in Bezug auf den Prozess, sondern auch auf das Innovationsergebnis – nicht immer
so ökonomisch widersinnig wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Pisano (2006) hat
gezeigt, dass Wettbewerbsvorteile nicht zwangsläufig auch mit einem starken Schutz des
geistigen Eigentums einhergehen, und für eine Öffnung kann es im Einzelfall durchaus
rationale Überlegungen geben (von Hippel & Krogh, 2006).
Der andere ist ein kontextunabhängiger Einsatz von Open-Innovation-Praktiken, die
gerade als im Trend liegend empfunden werden, um „auch etwas in dem Bereich“ vorzu-
weisen. Doch wie nicht zu jedem Unternehmen und jeder Art von Kundenbeziehung ein
eigener YouTube-Kanal passt, lassen sich auch nur ganz bestimmte Arten von Problemen
über Crowdsouring-Plattformen lösen.
Noch wissen wir zu wenig über den Erfolg und das Scheitern von Open Innovation
Aktivitäten und bei Fehlschlägen kann nicht immer eindeutig gesagt werden, ob es sich
um eine falsche Anwendung gehandelt hat oder ob Open Innovation an sich die falsche
Herangehensweise war (Huizingh, 2011, S. 4). Die Höhe von Transaktionskosten (Keupp
& Gassmann, 2009) und die Effizienz hängen dabei auch von den externen wie internen
Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer ein Unternehmen operiert.
Zu den internen Faktoren gehören beeinflussbare Größen wie die Mitarbeiterstruktur
– Anzahl, demografische Verteilung, aber auch Eigenschaften wie das Ausbildungsniveau
(untersucht bei Harison & Koski, 2010) – die strategische Ausrichtung oder auch die
Unternehmensgröße, wobei Open Innovation längst nicht mehr nur großen Unternehmen
vorbehalten ist (van de Vrande et al., 2009).
Technisches Wissen und eine grundlegende Technologiestrategie gehören zu
den wichtigsten Ressourcen für viele Unternehmen (Diaz-Diaz et al., 2006) und
Lichtenthaler und Ernst (2009) identifizierten in ihrer Studie mit 154 Industrieunter-
nehmen, dass ein hoher Grad an Aggressivität (technology aggressiveness nach
Weisenfeld-Schenk, 1994) in Bezug auf eher radikale oder inkrementelle technologische
(Weiter-)Entwicklungen einen negativen Effekt auf die Nutzung externer Informationen
(inbound), aber einen positiven Effekt auf die externe Verwertung von internem Wissen
(outbound) hat. Je zentraler Technologien für den Wettbewerbserfolg sind, desto besser
lassen sich technische Innovationen verkaufen – wohl auch mit dem Ziel, die eigene
Technologie als Branchenstandard zu implementieren (Colarelli O´Connor, 2006).
Auch der Produktlebenszyklus beeinflusst das Suchverhalten und in frühen Ent-
wicklungsphasen werden Informationen stärker vertieft, während in späteren Ent-
wicklungsphasen eine breitere, oberflächlichere Informationssuche über verschiedene
Kanäle dominiert (Laursen & Salter, 2006).
Zwar haben Produktinnovationen eine bessere Sichtbarkeit, doch gerade
Prozessoptimierungen haben ein unterschätztes Potenzial für Open Innovation (West
& Gallagher, 2006). Dabei erliegen technische Experten oft der Fehlannahme, die
Komplexität und den spezifischen Kontext eines Problems als Ausschlusskriterium für
Open Innovation anzusehen. Tatsächlich sind die kritischen Elemente eines technischen
148 N. Hebestreit
Es scheint also weniger von der Branche als von der Strategie des einzelnen Unter-
nehmens abzuhängen, ob und wie Open Innovation umgesetzt wird (Keupp &
Gassmann, 2009). Dabei sind zwei Prozessschritte zu unterscheiden (Huizingh, 2011,
S. 6): Zunächst der Prozess einer Öffnung des Unternehmens und der Implementierung
von Open Innovation als Innovationsstrategie. Dies kann als organisationaler
Wandlungsprozess („organisational change“ im Sinne Lewins (1974) mit den drei
Phasen unfreezing, moving und institutionalisation) verstanden werden, und es geht
dabei in erster Linie darum, die Absorptionsfähigkeit des Unternehmens gegenüber
Informationen zu verbessern, was als Grundlage für eine erfolgreiche Open-Innovation-
Praxis verstanden werden kann (Huizingh, 2011, S. 6).
In einem zweiten Schritt geht es um Fragen der konkreten Umsetzung und einer
Auswahl der passenden Open-Innovation-Praktik unter Einbezug der vorherrschenden
Rahmenbedingungen. Eine Möglichkeit zur Auswahl der Open-Innovation-Form könnte
8 Open Innovation 149
für ein Unternehmen in einer Wahl der passenden Typologie nach Gassmann und Enkel
(2004) liegen – inbound, outbound oder gekoppelt – mit einer anschließenden Definition
verschiedener Praktiken für jede dieser Aktivitäten. Alternativ kann auch zwischen
technology exploitation und technology exploration (Vrande et al., 2009) unterschieden
werden oder der Roadmap von Lichtenthaler (2010) gefolgt werden, bei der es um die
passende Nutzung für vorhandene Technologien geht. Ein alternatives Vorgehen stellen
Fetterhoff und Voelkel (2006) vor, nach dem ein Unternehmen zunächst
Auf welche Art auch immer ein Unternehmen seinen Öffnungsprozess vollzieht, sieht es
sich mit Herausforderungen konfrontiert, deren Bewältigung über den Erfolg der Open-
Innovation-Strategie mitentscheiden. Wenn es darum geht, durch Kommerzialisierung
eine Wertschöpfung zu erzielen, werden besondere Anforderungen an das Management
gestellt: Die Auswahl der passenden Partner, Bewertung von Beteiligungen, geistiges
Eigentum und dessen Verfügbarmachung bzw. Nutzung, Aufteilung von Gewinnen und
Verlusten, Gruppenentscheidungen und Konfliktbewältigung (Wallin & van Krogh,
2010) sind nur einige der Herausforderungen, die im Zuge von Open Innovation erfolg-
reich bewältigt werden müssen.
Die Art und Weise, wie und mit welchen externen Partnern zusammengearbeitet
werden soll, stellt eine zentrale Managemententscheidung dar, wobei auch die
Zielgrößen klar definiert werden sollten. Hier spielen Überlegungen zu einer mög-
licherweise auf Dauer angelegten Beziehung beispielsweise zur gemeinsamen Techno-
logieentwicklung eine Rolle: Wenn eine Kooperation bei mehreren Projekten zum
Tragen kommen soll und verschiedene Gruppen innerhalb des Unternehmens beteiligt
sein können, ist eine sorgfältige Auswahl der Kooperationspartner umso zentraler. Ver-
schiedene Rollen aus unterschiedlichen Abteilungen müssen mit Verantwortungs-
bereichen versehen, Entscheidungspfade festgelegt und Kompetenzen zugewiesen sowie
Ressourcen bereitgestellt werden (Huizingh, 2011).
Der Aufbau von partnerschaftlichen Beziehungen ist essenziell, aber auch zeit-
intensiv. Alternativ kann auf bestehende Nutzwerke und Forschungsgemeinschaften
zurückgegriffen werden, die bereits eine vertrauensvolle Zusammenarbeit etabliert haben
(Spithoven et al., 2010). Ein solcher Rückgriff auf bestehende Netzwerke kann sowohl
für KMUs wie auch für große Unternehmen Vorteile und Kosteneinsparungen bringen.
Jedoch birgt dieses Vorgehen seinerseits Herausforderungen, die ihren Ursprung in der
unterschiedlichen Herangehensweise verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen
150 N. Hebestreit
und der Arbeitsweise innerhalb bzw. außerhalb von Forschungs- und Entwicklungs-
abteilungen haben (Sieg et al., 2010).
Interessenskonflikte mit dem unterschiedlichen Partner und stark abweichende
Anreize für die Zusammenarbeit können langfristig ebenfalls zu einer Herausforderung
werden. Entscheiden sich Unternehmen beispielsweise dafür, das „Wissen der Masse“
für sich zu nutzen, müssen sie Externe zu einer Mitarbeit motivieren und managen
(Wallin & van Krogh, 2010). Diese Freiwilligen haben eigene Interessen, die dem
Unternehmen möglicherweise nicht bekannt sind und von den Unternehmenszielen ver-
schieden sein können – ein Phänomen, das im Bereich von Open-Source-Software gut
untersucht ist (West et al., 2006). Dabei unterstreichen Kogut und Metiu (2001), dass
es nicht nur um die Motivation zur Mitarbeit geht, sondern um die Gewinnung von hoch
motivierten und fähigen Teilnehmern.
Unternehmen müssen die Frage nach dem Ausmaß der Öffnung für sich beantworten:
Auch, wenn sich der genaue Punkt schwer bestimmen lässt, zeigen Laursen und Salter
(2006) in ihrer Studie ein kurvenförmiges Verhältnis zwischen Unternehmenserfolg und
Offenheit auf, was darauf hindeutet, dass es auch ein schädliches Zuviel an Offenheit
geben kann. Gerade in Bezug auf die Preisgabe von Innovationen (outbound) besteht
noch immer die Angst, dass Wettbewerber an relevante Informationen gelangen (Rivette
& Kline, 2000), weswegen ein Informationsfluss von außen nach innen (inbound) die
häufiger anzutreffende Form der Öffnung darstellt (Chesbrough & Crowther, 2006).
Wie Erfolg definiert wird – und damit, ob sich Open Innovation für ein Unternehmen
lohnt – kann unterschiedlich sein und Faktoren wie die Anzahl der Innovationen oder
ihren Neuheitsgrad, finanzielle oder nicht-monetäre Vorteile (Cheng & Huizingh,
2010) umfassen. Effektivitätsmessungen können aber auch weiche Faktoren wie eine
bessere Messung des Innovationserfolgs oder eine deutlichere Herausstellung der unter-
nehmerischen Kernkompetenzen mit einbeziehen (Rigby & Zook, 2002).
Es gibt aber auch andere Risiken, die mit einer externen Vermarktung interner
Informationen und Technologien einhergehen können und die Unternehmen für sich
abwägen müssen: Zwar erhöht der Verkauf von Lizenzen unmittelbar den Unter-
nehmensgewinn, der damit verbundene Aufwand könnte aber auch zu einer Ablenkung
von den Kundenbedürfnissen im Kernmarkt führen und damit langfristig die Gewinne
schmälern (Huizingh, 2011).
Abschließend sollten Unternehmen vor der Anwendung von Open Innovation
sicherstellen, dass das notwendige Wissen und die benötigten Fähigkeiten beim ver-
antwortlichen Management vorhanden sind. Externe Informationsflüsse und hierarchie-
übergreifendes internes Know-how verlangen ein effizientes Wissensmanagement, das
häufig Weiterentwicklungen der Organisationsstruktur und -kultur notwendig machen
(Lichtenthaler & Lichtenthaler, 2009). Schon allein aus diesem Grund sollte der Ein-
8 Open Innovation 151
führungsprozess gut durchdacht und abgewogen werden. Und natürlich müssen auch
Fragen des geistigen Eigentums geklärt werden. Hierbei liegt eine Herausforderung
darin, solche Überlegungen frühzeitig mit den beteiligten Partnern zu klären, wenn das
Innovationsergebnis und seine Vermarktungschancen noch in weiter Ferne liegen und
höchst unsicher sind (Henkel, 2006).
Zwei große Irrtümer sind noch immer in der unternehmerischen Praxis anzutreffen,
wenn es um die Nutzung von Open Innovation geht. Einer ist eine unzureichende
Unterscheidung zwischen Prozess und Ergebnis (von Hippel, 2010) – ein offener Ent-
wicklungsprozess muss nicht zwangsläufig auch zu einem öffentlichen Ergebnis führen
und zwischen Inhalt, Kontext und Prozess muss unterschieden werden (Pettigrew, 1990).
Gleichzeitig ist eine freie Verfügbarmachung von Innovationen – also eine Öffnung nicht
nur in Bezug auf den Prozess, sondern auch auf das Innovationsergebnis – nicht immer
so ökonomisch widersinnig wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Pisano (2006) hat
gezeigt, dass Wettbewerbsvorteile nicht zwangsläufig auch mit einem starken Schutz des
geistigen Eigentums einhergehen, und für eine Öffnung kann es im Einzelfall durchaus
rationale Überlegungen geben (von Hippel & Krogh, 2006).
Der andere ist ein kontextunabhängiger Einsatz von Open-Innovation-Praktiken, die
gerade als im Trend liegend empfunden werden, um „auch etwas in dem Bereich“ vorzu-
weisen. Doch wie nicht zu jedem Unternehmen und jeder Art von Kundenbeziehung ein
eigener YouTube-Kanal passt, lassen sich auch nur ganz bestimmte Arten von Problemen
über Crowdsouring-Plattformen lösen.
Noch wissen wir zu wenig über den Erfolg und das Scheitern von Open-Innovation-
Aktivitäten und bei Fehlschlägen kann nicht immer eindeutig gesagt werden, ob es sich
um eine falsche Anwendung gehandelt hat oder ob Open Innovation an sich die falsche
Herangehensweise war (Huizingh, 2011, S. 4). Die Höhe von Transaktionskosten (Keupp
& Gassmann, 2009) und die Effizienz hängen dabei auch von den externen wie internen
Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer ein Unternehmen operiert.
8.6.1 Crowdsourcing
Eine berühmte Form ist das sogenannte Crowdsourcing – ein Begriff, der sich aus
Outsourcing und Crowd zusammensetzt (Howe, 2006). Dabei geht es darum, eine
große Anzahl Unternehmensexterner zur Mitarbeit an einem Problem zu gewinnen
und dadurch Ideen, Wissen oder Lösungsvorschläge zu generieren. Diese Mitarbeit
kann kostenlos oder mit Gewinnprämien verknüpft sein (bspw. auf InnoCentive.com).
Meistens werden dazu Online-Plattformen genutzt, doch auch vor der Verbreitung des
Internets haben Unternehmen auf Wettbewerbe oder Ausschreibungen gesetzt (Schenk &
152 N. Hebestreit
Guittard, 2011). Durch den einfacheren und kostenlosen Zugang zu einer großen Zahl
unterschiedlicher potenzieller Teilnehmer hat das Internet diese Form der Innovation
jedoch deutlich ausgeweitet.
Als Vorteile gelten die Externalisierung von Risiken und dass nur für solche
Lösungen bezahlt wird, welche die Erwartungen erfüllen (vgl. ebd.). Es handelt sich
wohl um die offenste Form der Zusammenarbeit, bei der Unternehmen keine Selektion
der Teilnehmer durchführen, und Beispiele wie der Fiat Mio – ein komplett durch
Crowdsourcing entstandenes futuristisches Auto – zeigt mit 17.000 Teilnehmern und
über 11.000 Ideen, wie umfangreich und breit gestreut Teilnehmer und Output sein
können (Prado Saldanha et al., 2014).
Greenpeace nutzte 2021 bei seiner Kampagne „Let´s Go“ die Ideen vieler frei-
williger Teilnehmer, die sich ironische und sarkastische Werbesprüche für das
Unternehmen Shell ausdenken sollten, um damit die Exploration von Erdöl in der
Polarregion öffentlich zu polarisieren. Auf diese Weise kamen nicht nur viele kreative
Ideen zustande, sondern die Kampagne selbst erhielt zusätzliche Verbreitung durch
das kostenlose Weiterleiten des Aufrufs der Teilnehmer im eigenen sozialen Netz-
werk. Durch die Aufmerksamkeit generierende Wirkung solcher Projekte erhält
Crowdsourcing für das Marketing besondere Bedeutung (The Guardian, 2012). ◄
Doch bei aller Begeisterung für solche Projekte sind Diversität und eine hohe Teil-
nehmerzahl längst keine Garanten für akkurate und qualitativ hochwertige Ergebnisse,
und es kann passieren, dass Unternehmen viel Zeit mit der Auswertung minderwertiger
Vorschläge verbringen müssen (Mehlman et al., 2010). Auch der Neuheitsgrad und die
Kreativität der Vorschläge bleiben oft hinter den Wünschen des Unternehmens zurück
(Pénin et al., 2011). Zwar betonen Schenk und Guittard (2011), dass sich das Verfahren
auch für komplexe technische Herausforderungen eigne, doch meine Erfahrungen aus
der Beratungspraxis deuten in eine andere Richtung, sodass dieses Vorgehen weniger
für technische Herausforderungen als für das Testen – Finden von Anwendungsfehlern,
Stimmungsbild, Nutzungsverhalten – oder Designfragen empfehlenswert scheint. Ent-
sprechend verbreitet ist es bei der Softwareentwicklung (Glass, 2003).
Die Lösung solcher technischen Probleme verlangt meistens Spezialkenntnisse, über die
nur wenige Experten verfügen und oft ist es schon eine Herausforderung, den Problem-
komplex laiengerecht zu formulieren. In solchen Fällen ist eine Streuung über eine breite
Masse weniger erfolgversprechend als eine gezielte Suche nach externen Technikern und
Ingenieuren.
8 Open Innovation 153
Lead User müssen nicht unbedingt Endverbraucher sein und können auch in unter-
nehmensfremden Branchen gefunden werden. Zentral ist, dass die unerfüllten Bedürf-
nisse des Lead Users denen des restlichen Marktes zeitlich vorauseilen, was bei
richtiger Nutzung Wettbewerbsvorteile generieren kann:
• Hersteller von Elektroautos können zu Lead Usern für effiziente Batterien werden.
• Ein Sternerestaurant kann Lead User für in Manufakturen erzeugte Spezialitäten
sein.
• Die Internationale Raumstation ISS kann zum Lead User für unterschiedliche
Materialien in extremen Belastungssituationen werden.
• Onlineplattformen können für Softwarehersteller zur Datenerfassung und -aus-
wertung zu Lead Usern werden.
• Die Organisation Ärzte ohne Grenzen kann in Kriegsgebieten für medizinische
Geräte und deren Haltbarkeit sowie Funktionalität zu einem Lead User werden.
• Menschen mit Behinderungen können Lead User für die Bedienbarkeit von Smart-
phones sein. ◄
154 N. Hebestreit
Spin-in, Spin-out, Ankauf oder Ausgliederung sind weitere Formen für Unternehmen,
Innovationen zu nutzen: Technologien können über den Kauf von Lizenzen oder gleich
der entwickelnden Unternehmen selbst gewonnen werden. In einigen Branchen wie der
Pharmabranche ist der Erwerb von innovativen Start-ups, die ihrerseits eine Produktion
und Vermarktung für den Massenmarkt nicht stemmen könnten, üblich (Hamdouch &
Depret, 2001). In Bezug auf die Nutzung oder Verwertung von Lizenzen sind ebenfalls
Partnerschaften denkbar, zum Beispiel mit einem Patent-Pool als Konsortium mehrerer
Unternehmen zur wechselseitigen oder gemeinsamen Lizenzierung von Technologien.
Jede der genannten Formen unterscheidet sich im Offenheitsgrad und in Bezug auf
die Teilnehmer sowie die Art der Beziehung, die das Unternehmen zu ihnen eingeht. In
vielen Fällen ist es tatsächlich schneller und profitabler, auf externes Wissen zurückzu-
greifen und die Chance für innovative Ideen der Unternehmensumwelt für den eigenen
Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Jedoch ist nicht jede Art der Öffnung automatisch für jede
Herausforderung auch erfolgversprechend.
Wie in Abschn. 1.2 beschrieben, ist für Open Innovation gerade die Externalisierung
interner Entwicklungen eine Neuerung auf strategischer Ebene. Das Potenzial einer
externen Weiterverfolgung intern entwickelter Innovationen wird von zu vielen Unter-
nehmen weiterhin unterschätzt.
Daneels und Frattini (2018) schlagen hier einen vierstufigen Prozess vor, um externe
Anwendungen für Technologien zu finden und bestmöglich nutzen zu können:
Neben der Bedeutung, die Open Innovation für Unternehmen hat und von der wir
gesehen haben, dass sie dabei ist, Synonym für Forschung und Entwicklung zu werden,
sind wir Zeitzeugen einer weiteren Art von Wandlung, die Regierungen und supra-
nationale Organisationen erfasst. In zunehmendem Maße wird versucht, mittels Open
Innovation das Wachstum von Volkswirtschaften zu erhöhen und wir beobachten ein
verstärktes Interesse daran, Rahmenbedingungen in Richtung eines offenen Systems
umzugestalten (West et al., 2014). Als Beispiel sei Obamas “call for new forms of
collaboration to increase the innovativeness of public service delivery” (Mergel &
Desouza, 2013) genannt, aber auch der ehemalige EU-Kommissar für Forschung,
Wissenschaft und Entwicklung Carlos Moedas setzte drei neue Ziele für die europäische
Forschungs- und Innovationspolitik: Open Innovation, Open Science, and Open to the
World (Moedas, 2015). Diese Ziele stellen weniger eine neue politische Initiative als
vielmehr eine Unterstützung für bereits existierende Programme wie das Horizon 2020
156 N. Hebestreit
oder die Ausrichtung der europäischen Forschungsbereiche dar und die Digitalisierung
macht Forschung und Innovation insgesamt offener, kollaborativer und globaler. Konkret
bemüht sich dazu die Europäische Kommission beispielsweise um öffentlich zugäng-
liche Forschungsergebnisse, bei denen Forschende für den freien Zugang zu ihren
Forschungsartikeln Gelder seitens der EU bekommen können.
Es darf berechtigt erwartet werden, dass eine solche Verbreitung von Erkenntnissen
unter Wissenschaftlern wie Praktikern der wirtschaftlichen Entwicklung der EU zugute-
kommen wird (Bogers et al., 2018). Trotzdem bleibt die Unsicherheit über den Erfolg
solcher Maßnahmen, die in der Schwierigkeit bei der Messbarkeit von Innovations-
erfolgen im Allgemeinen liegt, eine Herausforderung für die Politik, die ihren Bei-
trag zum Wachstum vorweisen können muss. Kritisch ist dabei auch die Frage, wie
Innovationen aus gesellschaftlicher Perspektive zu bewerten und ob disruptive
Innovationen förderlich sind – und damit gefördert werden sollten – oder unerwünschte
gesellschaftliche Entwicklungen nach sich ziehen (ebd.). Die Autoren vermuten in der
über Wirtschaftssektoren ungleich verteilten Digitalisierung ein ungleich verteiltes Wirt-
schaftswachstum, was wiederum sozialer Ungleichheit Vorschub leistet – mit hohen
volkswirtschaftlichen Kosten durch verschwendete Ressourcen, ungenutzte Talente und
vergeudetes Potenzial. Zur Beseitigung von Ungleichheit und für das Wachstum in den
wenig digitalisierten Branchen wird Open Innovation eine Schlüsselrolle zugeschrieben
– und als Notwendigkeit für Forschung, Wirtschaft und Politik begründet.
Mit einer Verschiebung des Anwendungsbereichs in den öffentlichen Sektor gehen
zwangsläufig auch neue Zielgrößen und multiple Stakeholderinteressen einher. Statt
einer rein monetären Zielsetzung rücken Fragen der ökologischen und sozialen Nach-
haltigkeit ins Blickfeld, nach gesellschaftlichem Wohlstand und Möglichkeiten zur
Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Der große Innovationsbedarf zur Erreichung
dieser Ziele verlangt nach technischen Neuerungen ebenso wie nach globaler
Kollaboration – den Stärken von Open Innovation. Ganze Branchen wie die Textil-
branche oder das Transportwesen müssen verstärkt in Richtung Kreislaufwirtschaft
transformiert werden und ein Lernen voneinander (Cross-Industry) verringert Ent-
wicklungszeiträume und Risiken.
In Bezug auf ihre Open-Innovation-Bemühungen hängen die westlichen Länder den
Maßnahmen in China jedoch weit hinterher. Noch assoziieren wir mit „Made in China“
minderwertige Qualität und Plagiate – wie es einst die Briten mit der Warnung „Made
in Germany“ im Merchandise Marks Act 1887 deutlich machen wollten, als deutsche
Imitate ihre Industrie bedrohten – doch längst arbeitet China daran, sein Image zu
„Innovated in China“ zu entwickeln (Yip und McKern, 2016). Aus reiner Notwendig-
keit heraus begann Chinas Öffnung gegenüber externen Technologien bereits 1979 und
auch dank staatlicher Unterstützung ist in den letzten Jahren ein beeindruckendes Netz
aus Universitäten und Forschungseinrichtungen ebenso wie Kooperationen mit unter-
schiedlichen global agierenden Unternehmen entstanden, die auf Chinas Interessen hin
ausgerichtet werden. Dieses Ökosystem aus Wirtschaft, Regierung und Gesellschaft setzt
auf digitale Technologien und mobilen Zugang zu Informationen und Kommunikation.
8 Open Innovation 157
u „As opportunities to innovate expand widely through the growth of open platforms,
China is in a strong position to become a global leader by drawing on its large and
dynamic ecosystem.“ (Yip und McKern, 2016, S. 203).
Dabei beobachten wir ein starkes Interesse an einer weltweiten Dominanz, bei einer
gleichzeitigen Abschottung des chinesischen Marktes gegenüber Ausländern. Denn
China ist vom einstigen umfassenden Wachstum in eine Phase des intensiven Wachstums
eingetreten und zeigt der Welt, wie eine konsequent an den Unternehmens- bzw.
nationalen Zielen ausgerichtete Open-Innovation-Strategie zu wirtschaftlichem Erfolg
führen kann.
Fazit
Open Innovation ist als Prinzip heute in den meisten Unternehmen angekommen.
Dabei handelt es sich jedoch um einen Oberbegriff, unter den eine Vielzahl sehr
unterschiedlicher Umsetzungsformen fallen. Deren starke Kontextabhängig-
keit stellt viele Unternehmen vor Herausforderungen bei einer erfolgreichen
Umsetzung. Trotz der starken Verbreitung kann damit gerechnet werden, dass
das Thema auch zukünftig große Bedeutung behalten wird. Grund dafür ist vor
allem das große Effizienzsteigerungspotenzial, das zentrale Branchen entwickelter
Volkswirtschaften noch durch eine verstärkte Digitalisierung haben. Open
Innovation wird eine Schlüsselrolle zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle
und bei der Übertragung von Technologien und Ideen aus bereits digitalisierten
Sektoren zugeschrieben. Dabei sind digitale Technologien auch selbst Feld für
innovative Anwendungen. Zudem wird die eigentliche Neuerung des Open-
Innovation-Ansatzes – nämlich die Externalisierung von Technologien in neue
Anwendungsgebiete – von Unternehmen noch zu wenig genutzt. Den Risiken und
Herausforderungen einer Erschließung neuer Märkte stehen hohe ungenutzte Ent-
wicklungspotenziale gegenüber. Auch Staaten und supranationale Organisationen
entdecken die Vorteile von Open Innovation für sich. Chinas exzessives Streben
nach der Vorherrschaft in speziellen Bereichen von Wirtschaft und Forschung kann
als eine historisch verwurzelte Politik der Open Innovation auf volkswirtschaft-
licher Ebene verstanden werden.
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8 Open Innovation 161
Dr. Natascha Hebestreit leitet seit 2014 an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) den Fach-
bereich Innovation Management. Als Business Development Managerin für einen Mailänder
Dienstleistungsunternehmen für Open Innovation hat sie Einblicke in die praktische Umsetzung
für große und mittelständische Unternehmen in unterschiedlichen Branchen erhalten. Sie hat an
der Humboldt-Universität zu Berlin über die Verantwortung des Wirtschaftsakteurs promoviert und
studiert zusätzlich seit 2022 Philosophie.
Digitale Unternehmensverantwortung
(Corporate Digital Responsibility, CDR) 9
im Marketing der Zukunft
Carsten Skerra
Zusammenfassung
Die Digitalisierung in Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft bringt neue
Herausforderungen für das 21. Jahrhundert. Der damit verbundene Wandel fordert
die Unternehmen, den Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen und die
Gesellschaft, national und international. Internationale Bewegungen wie „Fridays for
future“ fördern den gesellschaftlichen Mindset zu mehr Nachhaltigkeit und Rück-
sicht auf die Gesellschaft und die nachkommenden Generationen. Aufgefordert sind
letztendlich alle, aber im Speziellen tragen die Unternehmen und Konzerne mit ihren
Initiativen zur gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social
Responsibility, CSR) bei. Doch wie sieht nun der Schulterschluss zwischen CSR und
Digitalisierung in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft aus? Hier sind nun
im Wesentlichen drei Bereiche zu unterscheiden: (I) Die Anwendung von CSR auf die
Branchen, die im Informationstechnik- und Kommunikationssektor (ITK) eine Viel-
falt an Produkten und Dienstleistungen anbieten. (II) Die Erweiterung des Konzepts
CSR für alle Unternehmen auf „digitale Belange“ und Szenarien. Also im Rahmen
der bestehenden, bereits genannten Strukturen und ähnlich der Einordnung der
Sustainability Development Goals (SDGs) zur Nachhaltigkeit in die sozialen, öko-
logischen und ethischen Aspekte des CSR. In diesem Teil des Artikels werden auch
die „digitalen“ Aspekte im strategischen Marketing erörtert. Abschließend, als dritter
Bereich (III) wird eine Neubetrachtung von CSR im Sinne einer vollumfänglichen
digitalen Verantwortung der Unternehmen (Corporate Digital Responsibility, CDR)
C. Skerra (*)
IU Internationale Hochschule, Ludwigsburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 163
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_9
164 C. Skerra
skizziert, oftmals in diesem Kontext als die vierte Dimension bezeichnet. Die digitale
Verantwortung der Unternehmen (Corporate Digital Responsibility, CDR) wird in
dem Artikel „Corporate Digital Responsibility im Metaverse: Ein E-Commerce-
Szenario“ an einem Business-to-Customer-(B2C)-Szenario einer hypothetischen Ver-
kaufssituation im Metaversum konkretisiert.
Die Digitalisierung in Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft bringt neue Heraus-
forderungen für das 21. Jahrhundert. Der damit verbundene Wandel fordert die Unter-
nehmen, den Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen und die Gesellschaft,
national und international. Weltweite Bewegungen wie „Fridays for future“ fördern den
gesellschaftlichen Konsens zu mehr Nachhaltigkeit und Rücksicht auf die Gesellschaft
und die nachkommenden Generationen. Aufgefordert sich daran zu beteiligen sind letzt-
endlich alle, aber im Speziellen tragen die Unternehmen und Konzerne heute mit ihren
Initiativen zur gesellschaftlichen Verantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR)
bei. Dabei ist die Idee nicht neu, der Begriff Corporate Social Responsibility (CSR)
wurde bereits 1953 von Howard R. Bowen in seinem Buch „Social Responsibilities
of the businessman“ (eng. = gesellschaftliche Verantwortung des Geschäftsmannes)
verwendet (Carroll, 2016). In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich das
Konzept der Corporate Social Responsibility (CSR) kontinuierlich weiter, zunächst
geprägt durch den Zeitgeist der Sozialbewegungen in den 1960er-Jahren, beispielsweise
durch die Bürgerrechtsbewegung, die Verbraucherbewegung, die Umweltbewegung
sowie die Frauenbewegungen (Carroll, 2016; Helmold et al., 2020). In der „EU Strategie
2011–2014“ definiert die Europäische Kommission für die Unternehmen CSR als
die vollumfängliche, soziale Verantwortung bezüglich der „sozialen, ökologischen,
ethischen, Menschenrechts- und Verbraucherbelange“ (Helmold et al., 2020). Auch wird
dort die aktive Rolle der Unternehmen eingefordert, etwaige negative Auswirkungen
aufzuzeigen, zu verhindern und abzufedern. Kenning und Weißenberger (2016) weisen
darauf hin, dass die frühe, „reine Shareholder-Orientierung und primär ökonomische
Funktion von Unternehmungen mittlerweile in weiten Teilen der Vergangenheit
angehört, heute haben die meisten Unternehmen neben ökonomischen, auch öko-
logische und soziale Aspekte in ihre Zielsysteme und Berichterstattung implementiert“.
Als Augenmerk finden sich in vielen Geschäftsberichten von Unternehmen und börsen-
notierten Unternehmen die Maßnahmen und Ergebnisse zur Erfüllung der genannten
CSR-Ziele. Der „Global 2021 RepTrak® 100“ zeigt die aktuelle Tragweite von CSR in
Bezug auf Unternehmenswert und Reputation auf, denn dort werden die Unternehmens-
bewertungen von über 2000 Unternehmen in einem Ranking von CSR-Punktwerten
zusammengefasst (Dörr, 2020; RepTrack, 2021). Das stützt die moderne Sichtweise
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 165
von Unternehmern und Managern, diese haben eine weite Auffassung in Bezug auf die
gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmens und für sie überwiegen die Vorteile
durch CSR-Aktivitäten (Helmold et al., 2020). Doch wie sieht nun der Schulterschluss
zwischen CSR und Digitalisierung in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft
aus? Ist die einfache Formel CSR + Digital = CDR Corporate Digital Responsibility
korrekt? In den folgenden Kapiteln werden drei Bereiche zur Unterscheidung der mög-
lichen Herangehensweisen ausgeführt:
Dieser erste Bereich (I) ist der zunächst wohl einfachste Fall, denn auch die Unter-
nehmen aus den Sektoren der Informationstechnik und Kommunikationstechnik (ITK)
unterliegen den Anforderungen der Corporate Social Responsibility (CSR). Auch diese
Unternehmen sind unternehmerisch verantwortlich beispielsweise im Hinblick auf
Treibhausgase oder Elektronikschrott zu handeln, das „bedeutet, den „ökologischen
Fußabdruck“ der eigenen direkten und indirekten ITK-Nutzung, der sich im Zuge der
Digitalisierung stetig vergrößert hat, ökologisch nachhaltig zu organisieren und die
negativen Wirkungen zu reduzieren“ (Dörr, 2020). Die Unternehmen des ITK-Sektors
können mit Maßnahmen „zum Umwelt- und Klimaschutz beitragen, indem sie auf Öko-
strom bei der Wahl ihrer Internet-Service-Provider, Webhosting und Cloud-Service-
Anbieter achten, sowie „grüne Rechenzentren“ beauftragen. IT- und ITK-Anbieter
können ihre Kunden beim Klimaschutz unterstützen, indem sie selbst CO2-neutrale
Produktion und Betrieb anbieten,“ (Dörr, 2020). Damit können diese Unternehmen aus
den Sektoren der Informationstechnik und Kommunikationstechnik (ITK), wie alle
anderen Unternehmen auch, die Chancen und Vorteile in Bezug auf die Steigerung von
Unternehmenswert und verbesserter Reputation wahrnehmen.
166 C. Skerra
Die (II) Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale „Belange“ und Szenarien ist so
zu verstehen, dass das Konzept CSR als Vorgehensmodell für alle Unternehmen Ver-
wendung findet, um die Kriterien des CSR-Konzepts (ökonomisch, ökologisch,
sozial) aus dem Blickwinkel der Digitalisierung anzuwenden. Somit sind die digitalen
„Belange“ und Szenarien ein Teilaspekt der Corporate Social Responsibility (CSR), also
der „Verantwortung eines Unternehmens für die Auswirkungen seiner Aktivitäten im
weiteren Sinne auf Gesellschaft, Mensch und Umwelt. Die Nutzung neuer digitaler Ver-
fahren und Techniken erlegt Unternehmen neue Verpflichtungen auf, wie beispielsweise
beim Umgang mit Daten oder beim Einsatz von künstlicher Intelligenz“ (digitale Wirt-
schaft, 2020).
Die Anschauungsweise, ob es sich hier um Verpflichtungen, oder um Chancen zur
Steigerung des Unternehmenswerts und der Reputation handelt, oder sogar um ein nicht-
akzeptiertes Übel, liegt im Verhalten und der Reife des betrachteten Unternehmens. Die
Literatur stellt hierfür eine Taxonomie im Sinne eines Reifegradmodells für CSR bereit,
die von der Stufe „Verleugnen“, oder „Ignorieren“ der nicht-finanziellen Verantwortung
durch den Einsatz von Digitaltechnologie, oder der Erhebung von Daten und die
Nutzung von digitalen Geschäftsmodellen bis hin zu der Stufe „Transformativ“ reicht.
Also Unternehmen, die sich als proaktive politische Gestalter über den unmittelbaren
Einflussbereich und Gestaltungshorizont des Unternehmens hinaussehen und ein breites
Engagement zeigen, um das Geschäftsumfeld und die Märkte zu verändern (Dörr, 2020;
Hansen, 2010; Schneider, 2012). Es ist in diesem Rahmen kurz anzumerken, dass zur
Erreichung der Stufe „Transformativ“ potenziell eine Neubetrachtung von CSR im Sinne
einer Corporate Digital Responsibility (CDR) erforderlich ist.
Zum eigentlichen Gedanken der Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale
„Belange“ und Szenarien zurückgekehrt, können die folgenden fünf Kriterien von
Lischka (2020) zur weiteren Betrachtung der Digitalisierung innerhalb des bestehenden
CSR-Konzepts herangezogen werden:
Übersicht
(1) Gesellschaftliche Interessen (Anliegen, die jenseits der primären Interessen
des Unternehmens liegen)
(2) Freiwilligkeit (Maßnahmen, die über gesetzliche Verpflichtungen hinaus-
gehen)
(3) Stakeholder-Orientierung (Ausrichtung der Aktivitäten an den Bedürfnissen
aller Stakeholder des Unternehmens)
(4) Interne und externe Aktivitäten (unternehmerisches Handeln nach innen und
außen)
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 167
In Bezug auf die gesellschaftlichen Interessen (1) und den Aspekt der Freiwilligkeit (2)
fordert die Digitalisierung in erster Linie die unternehmerische Verantwortung heraus.
Dieses geschieht analog zu den Umweltproblemen und der Globalisierung, die in der
Vergangenheit die Bedeutung der ökologischen und sozialen Verantwortung von Unter-
nehmen veränderten.
Derzeit entwickelt sich beispielsweise die Unsicherheit gegenüber Technologien als
neue gesellschaftliche Disparität. Im Hinblick auf den Digital Divide, dieser beschreibt
die internationalen, nationalen, aber auch regionalen Unterschiede im Zugang zu und
der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie (ITK) aufgrund von
technischen, aber auch sozio-ökonomischen Faktoren, können Unternehmen beispiels-
weise dabei helfen, Resignation und Misstrauen, die neue Technologien hervorrufen, zu
adressieren und abzubauen (BMJV, 2018; Joynson, 2018; Lischka, 2020).
In Bezug auf die Stakeholder-Orientierung (3) sind neben den aus Unternehmens-
sicht typischen, wie Kunden, oder Mitarbeitern, weitere Stakeholder mit einzubeziehen.
„Wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Anforderungen, beispielsweise für eine
Stakeholder- oder Wesentlichkeitsanalyse besser zu verstehen, ist das Unternehmen auf
einen Dialog mit relevanten Stakeholdergruppen angewiesen. Der Dialog kann Aus-
gangspunkt für strategische Partnerschaften oder Allianzen mit zivilgesellschaftlichen
Organisationen sein,“ (Dörr, 2020). Dörr (2020) führt in ihrem Praxisleitfaden zur
Corporate Digital Responsibility tabellarisch eine umfangreiche Aufzählung dieser aus
Unternehmenssicht weiteren Stakeholder auf.
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• „FragDenStaat“ (https://fragdenstaat.de/),
• Code for Germany (https://www.codefor.de/),
• Make IT Fair (https://www.germanwatch.org/de/stichwort/makeitfair) oder der
• Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V.(https://www.bvdw.org/). ◄
In Bezug auf interne und externe Aktivitäten (4) kann allgemein auf zwei Veränderungen
eingegangen werden. Zum einen, die neuen, digitalen Anforderungen an die Unter-
nehmen, das Leistungsangebot, das Erlösmodell und die Wertschöpfung zu verändern,
oder sogar neu zu definieren (Schreiner & Kenning, 2018). Die zweite Veränderung liegt
im Rahmen einer digitalen Wertschöpfungskette und den neuen Stakeholdern (3), denn
die Konsumenten wirken durch die Bereitstellung ihrer personenbezogenen Daten an
168 C. Skerra
dem Wertschöpfungsprozess mit. Damit lösen die Konsumenten sich aus der Rolle eines
nur passiven Verbrauchers, indem sie als Prosument (Produzent-Konsument) eben auch
zu Lieferanten, Dienstleistern oder Herstellern werden (Brönneke & Tonner, 2021; Hell-
mann, 2021; Peter Kenning & Lamla, 2017; Lischka, 2020; Schreiner & Kenning, 2018).
In Bezug auf interne und externe Aktivitäten (4) sind die Aufgaben des Marketings
von besonderer Bedeutung, ausgehend vom optimalen Marketing-Mix der sogenannten
„4Ps – Product, Price, Place, Promotion“, der Produktpolitik, Preispolitik, Distributions-
politik und Kommunikationspolitik, oder dem vernetzten Marketing-Mix betrachtet,
den „4Cs – Co-Creation, Currency, Communal Activation, Conversation“, der neuen
Produktentwicklungsstrategien unter Mitwirkung der Verbraucher, die neuen Konzepte
der dynamischen Preisbildung, die Einordnung der Sharing Economy sowie der Inter-
aktion über Plattformen (Kotler & Armstrong, 2004; Kotler et al., 2017; Kotler et al.,
2021). Mit der Digitalisierung und der zurückliegenden Einführung des Internets wurden
zahlreiche neue Möglichkeiten geschaffen, die von Alphabet, Amazon, Facebook (Meta)
und Apple, den „vier apokalyptischen Reitern“, frühzeitig und erfolgreich genutzt
worden sind (Galloway, 2017). Im Weiteren werden nun die Gesichtspunkte Produkt und
Digitalisierung, Kundenbedürfnisse und Digitalisierung sowie die mit der Digitalisierung
verbundenen Risiken im Ansatz dargestellt.
In den letzten Jahren war zu beobachten, wie die Nachhaltigkeit von Produkten ein
wichtiges Thema wurde, indem das Interesse an nachhaltigen Lösungen kontinuierlich
gewachsen ist und sich im Wettbewerb als weiteres Differenzierungsmerkmal eignet,
wie der „wachsende Markt für ökologische und fair gehandelte Produkte zeigt“ (digitale
Wirtschaft, 2020). Ausgehend von den Erkenntnissen im Innovationsmanagement ent-
wickeln sich im Spannungsfeld von Wirtschaft und Gesellschaft, dem sogenannte Sweet
Spot, in welchem Unternehmens- und gesellschaftliche Interessen in Einklang gebracht
werden, nicht nur neue Produkt-, Prozess- und Managementinnovationen, sondern dort
werden auch neue Märkte und Kundengruppen erschlossen (Helmold et al., 2020). Heute
schon ist zu erkennen, wie stark digitale Technologien in der Lage sind, das Leben von
Menschen in der Gesellschaft und das Arbeiten in Unternehmen zu beeinflussen. Viele
dieser Einflüsse können individuell und gesamtgesellschaftlich als sehr vorteilhaft
betrachtet werden, wie z. B. neue Möglichkeiten zur Kommunikation, zur Sammlung
und Analyse von Informationen, zur Entscheidungsfindung oder zur Partizipation in
demokratischen Prozessen. Auch für die Überwindung ökologischer Herausforderungen
bietet die Digitalisierung große Potenziale durch die bessere Nutzung von Ressourcen
(digitale Wirtschaft, 2020). In Fragen der Produkt- und Dienstleistungsgestaltung spielt
damit die Digitalisierung eine erhebliche Rolle. Allgemein sollten Produkte und Dienst-
leistungen so entworfen werden, dass die positiven individuellen und gesellschaftlichen
Eigenschaften weitgehend umgesetzt werden, ebenso, dass die negativen Auswirkungen
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 169
vermieden, oder zumindest abgeschwächt werden. Dies sollte auch nachgehalten und
nach Möglichkeit messbar gemacht werden. Dabei gilt es, spezifisch jene potenziellen
Eigenschaften und Auswirkungen zu erheben, die vermieden oder gesteigert werden
sollen. Wenn beispielsweise ein Unternehmen, das virtuelle Einkaufswelten im
Metaversum entwickelt (Kunz, 2022), begründete Sorgen hat, dass die virtuellen Ein-
kaufswelten zur sozialen Isolation oder der langfristigen Realitätsflucht Einzelner führen,
dann sollte es nach Möglichkeiten suchen, ebendiese Auswirkung zu identifizieren
und zu quantifizieren, um dann bei tatsächlichem Eintreten der oftmals ungewollten,
negativen Auswirkungen gegensteuern zu können (digitale Wirtschaft, 2020). Insofern
ist bei der Produktpolitik in digitalen und virtuellen Welten darauf zu achten, dass eine
Technologieakzeptanz in der Gesellschaft entweder zunächst erreicht oder dann in der
weiteren Entwicklung beibehalten wird. Dann, und nur dann, bestehen die zahlreichen
Chancen für die Vermarktung nachhaltiger digitaler Produkte und Dienstleistungen
(digitale Wirtschaft, 2020). In diesem Zusammenhang bedeutet transformatives
Marketing, dass alle Marketingaktivitäten von Unternehmen so ausgerichtet werden,
dass sich das Unternehmen und die Mitarbeiter zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung
bekennen und auch geeignete Nachweise erbringen. Durch die Übernahme gesellschaft-
licher Verantwortung positionieren sich Unternehmen als gute Partner in der Gesellschaft
und schaffen damit gute Voraussetzungen für einen langfristigen Erfolg (Helmold et al.,
2020; Kotler et al., 2021; Kürble et al., 2016).
Von den Unternehmen, die digitale Technologien entwickeln oder nutzen, wird erwartet,
dass sie mit diesen potenziell negativen als auch positiven Auswirkungen digitaler
Technologien auf die Menschen verantwortungsvoll umgehen. Tun sie dies nicht, sind
ihre Produkte und Dienstleistungen weniger gefragt, möglicherweise werden sie in
Zukunft sogar verboten; und das Unternehmen selbst wird angreifbar (digitale Wirt-
schaft, 2020). Die Perspektive, was grundrecht- und verfassungswidrig ist, verändert
sich in der politischen und öffentlichen Debatte und mit der Entwicklung neuer Möglich-
keiten der Digitaltechnologie. Unsere Gesellschaft befindet sich im Prozess einer
individuellen und kollektiven Güterabwägung. Diese Veränderungen und ihre Wirkungen
auf Geschäftsentscheidungen zu verfolgen, ist Teil eines zukunftsgerichteten Risiko-
managements in Digitalunternehmen (Dörr, 2020). Geschäftsmodelle, die auf „regel-
konformes“ Verhalten abzielen (z. B. Versicherungen) oder Profile von Nutzern aufbauen
(z. B. Energieversorger) und ökonomisch nutzen, sind als riskant zu bewerten. Sie
stellen möglicherweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Privatheit und
Menschenrechte infrage und stellen sich somit gegen die demokratische Grundordnung
Deutschlands und Europas. Für Unternehmen stehen das Vertrauen der Öffentlichkeit
und die „License-to-operate“ auf dem Spiel (Dörr, 2020). Wesentliches Risiko ist der
Vertrauensverlust von Nutzern und damit ein Einbruch von Umsatz und Gewinn. Bei
Meta (ehemals Facebook) lässt sich dieser Effekt aktuell zeigen, von Anfang Februar
bis Mitte Februar 2022 fiel der Börsenkurs des Technologieunternehmens von 282 EUR
pro Aktie (Stichtag 02.02.2022) auf 182 EUR pro Aktie (Stichtag 18.02.2022), das
sind zirka 35 % der Marktkapitalisierung (Meta, 2022). Damit kann das Fehlverhalten
an einer beliebigen Stelle im Unternehmen die wahrgenommene Verantwortlichkeit
beschädigen. Verzerrung in der Wahrnehmung führt zudem zu einem „Negativity-Bias“
(dt. Negativitätsvorurteil), d. h. die negativen Effekte von Fehlverhalten wiegen stärker
als die positiven Effekte von CSR-Aktivitäten. Als Folge kann sich das Unternehmen
mit dem Vorwurf „Ethics Washing“ konfrontiert sehen (Dörr, 2020; Lin-Hi & Blum-
berg, 2018). Weitere, wesentliche unternehmerische Risiken sind der Vertrauensverlust
der Öffentlichkeit, weitere Regulierungen, Reputationsschäden durch verletzten Ver-
braucher- oder Kinderschutz oder Schäden an der Demokratie (Dörr, 2020).
Im Rahmen der Erweiterung des Konzepts CSR auf digitale „Belange“ und Szenarien
sollen also die negativen gesellschaftlichen Effekte der Digitalisierung minimiert werden
und die Chancen der Digitalisierung genutzt werden, um gesamtgesellschaftliche Ziele
zu verwirklichen (Lischka, 2020). Bei dieser Betrachtung steht Digitalisierung als
9 Digitale Unternehmensverantwortung … 171
Mittel zum Zweck im Vordergrund. Im Weiteren soll nun der Ansatz im Sinne der Neu-
betrachtung der Corporate Digital Responsibility (CDR) erläutert werden.
Bei der (III) Neubetrachtung im Sinne einer Corporate Digital Responsibility (CDR)
handelt es sich um die Idee, die sozialen, ökologischen, ethischen, Menschenrechts- und
Verbraucherbelange um eine vierte Verantwortungsdimension zu erweitern. Lischka
(2020) formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Wird hingegen zugrunde gelegt,
dass Digitalisierung nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern in sich ein wünschens-
wertes Ziel einer nachhaltigen Entwicklung darstellt, welchem Bestrebungen vonseiten
des Staats, der Wirtschaft und der Gesellschaft gewidmet werden (sollten), so würde
die Konzeptualisierung von Corporate Digital Responsibility (CDR) als Erweiterung
einer Corporate Social Responsibility diesem Gedanken durch die Ergänzung um eine
vierte Dimension Rechnung tragen. Es finden sich bereits vereinzelte Vorschläge und
Forderungen nach einer vierten Dimension, die sich neben der Darstellungsform ins-
besondere im Hinblick auf ihre Benennung unterscheiden” (Lischka, 2020).
Eine vierte Dimension eröffnet die Möglichkeit, digitale Themen in den bereits
etablierten Dimensionen der Ökonomie, der Soziologie und der Ökologie (s. Abb. 9.1.1)
zu erörtern, um die sich zusätzlich ergebenden Verantwortungen zu identifizieren und
auszuarbeiten (Thorun, Kettner, & Johannes Merck, 2019). Beispielsweise werden in
den klassischen CSR-Dimensionen zentrale Themen aus den Bereichen Wettbewerbs-
fähigkeit, Umwelt- und Ressourcenschutz sowie die Einhaltung von Arbeits- und
Sozialstandards betrachtet. In der Neubetrachtung im Sinne einer vierten Dimension
könnten sich Themenbereiche auf die Datenethik, den Datenschutz und die Daten-
9.5 Fazit
gestellte Formel nach dem Schema 1 + 1 = 2 nicht den Anforderungen einer umfäng-
lichen Betrachtung des Themas CDR, sondern der Zusammenhang folgt eher dem
Schema einer Multiplikation (vgl. Abb. 9.1.1): Digital x CSR = CDR. Ein Unter-
nehmen, welches nur die Digitalisierung in den Fokus seiner Bemühungen stellt, aber
die Aktivitäten im Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung zu vermeiden ver-
sucht (CSR ist gleich Null), erhält im Resultat ebenso Null und verpasst seine Chancen
in den Märkten, genau wie ein Unternehmen, dass seine Bemühungen bezüglich der
Digitalisierung einstellt (Digital ist gleich Null). Vergleichbar ist auch die Heran-
gehensweise, wie in Teil eins der „Anwendung der Corporate Social Responsibility im
ITK-Sektor“ beschrieben, und sie kommt in der Formel Digital x CSR = CDR, einem
„Green Washing“ gleich: Das Resultat ist Null. Daher sind im strategischen Marketing
und im Rahmen des Innovationsmanagements zu neuen digitalen Produkten und Dienst-
leistungen zwingend und vorausschauend die sozialen, ökologischen, ethischen und
digitalen Menschenrechts- und Verbraucherbelange zu betrachten. Lippenbekenntnisse
zu den einzelnen Faktoren führen also nicht zum gewünschten Ergebnis der Erhaltung
von Marktpositionen noch zur Erschließung der zukünftigen digitalen Marktpotenziale,
sondern diese Unternehmen riskieren katastrophale Einbrüche in der Reputation und
damit im Unternehmenswert – von einem Tag auf den anderen.
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9 Digitale Unternehmensverantwortung … 175
Prof. Dr. Carsten Skerra ist seit 2021 Professor im Fernstudium der IU Internationale Hoch-
schule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangsleiter für Computer Science. Carsten
Skerra studierte Technische Informatik an der Berufsakademie in Stuttgart. An der Universität von
Gloucestershire, UK, promovierte Carsten Skerra. Dabei begründete er Einsichten in den Bereich
sozio-kultureller Zusammenhänge von Kreativität und Erfindung und entwickelte eine neue
Theorie zur Stimulanz von Erfindungen in der Gesellschaft. Seit 2011 lehrte Carsten Skerra an
Hochschulen für den Bereich International Business, Innovationsmanagement und für den Bereich
Informatik, Themen wie IT-Grundlagen, IT-Projektmanagement, IT-Datensicherheit und Software
Engineering. Carsten Skerra arbeitete zudem langjährig in der Forschung eines internationalen
Technologienunternehmens. Er ist Autor, Mitautor und Reviewer von Publikationen und aktives
Mitglied in der Gesellschaft für Informatik (GI), dem Project Management Institute (PMI) und
dem Design Management Institute (DMI) sowie der Scrum Alliance.
Growth Hacking – Erfolg durch
Wachstumsmarketing 10
Thomas Bolz und Georg Bouché
Zusammenfassung
Immer häufiger hört man im Bereich des Online-Marketings den Begriff Growth
Hacking, dessen Ursprung aus dem Silicon Valley stammt und mittlerweile auch in
Europa immer mehr an Relevanz gewonnen hat. Als Growth Hacks werden Prozesse
bezeichnet, die das Ziel haben, mit kosten-effizienten Maßnahmen starkes Unter-
nehmenswachstum zu generieren. Dabei sind verschiedene Kompetenzen nötig, vor
allem aus den Bereichen des digitalen Marketings, Informationstechnologie (IT),
Produktmanagement und der Datenanalyse. Bewusst wird dabei auf kostenintensive
konventionelle Werbemedien und Kommunikationskanäle verzichtet. Die Methoden
orientieren sich dabei üblicherweise an dem bekannten Marketing-Funnel, der in
diesem Artikel mit den fünf Schritten Akquisition, Aktivierung, Kundenbindung,
Umsatz und der Weiterempfehlung abgebildet wird. Bei Growth Hacking geht es vor
allem darum, bei allen eingesetzten Maßnahmen den Return on Investment (ROI)
zu steigern. Wichtig ist zu erwähnen, dass das Growth Hacking nicht als eine ein-
fache Methode angewandt werden kann, sondern in Form von Experimenten und
kontinuierlichen Anpassungen ständig weiterentwickelt werden muss. Trends, Märkte
und das Nutzverhalten ändern sind laufend. Um wirksame und effiziente Wachstums-
strategien umzusetzen, müssen sich Growth Hacker daher an den sich ändernden
T. Bolz (*)
IU Internationale Hochschule, Regensburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
G. Bouché
IU Internationale Hochschule, Stuttgart, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 177
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_10
178 T. Bolz und G. Bouché
10.1 Einleitung
Wie lassen sich die Anzahl an Kund:innen und die Umsätze steigern, ohne dabei die
Kosten exponentiell ansteigen zu lassen? Mit genau dieser Frage beschäftigt sich Growth
Hacking. Der Begriff Growth Hacking wurde von Sean Ellis im Jahr 2010 in dem Artikel
„Find a Growth Hacker for Your Startup“ zum ersten Mal öffentlich verwendet und
beschrieben. In diesem Artikel beschreibt Ellis, dass Marketer üblicherweise nicht die
erforderlichen Fähigkeiten haben, die in einem Start-up benötigt werden, um kosten-
günstiges Wachstum zu erzeugen. Dabei nennt Ellis (2010) den sogenannten „Growth
Hacker“ als optimale Lösung und beschreibt diesen als: „a person whose true north is
growth“.
Das Wachstum durch Growth Hacking basiert auf dem sogenannten Product-Market-
Fit, der Schnittmenge zwischen Produkt und Marktnachfrage, der für das Wachstum
laut der Growth-Hacking-Theorie nötig wird (Gassner, 2021, S. 5). Growth Hacking
findet man vor allem bei noch recht jungen Unternehmen, wobei auch etablierte Unter-
nehmen immer öfter Growth Hacking für sich entdecken. Gerade Start-ups suchen nach
kostengünstigen, aber effektiven Wegen, um Wachstum zu erzeugen. Aufgrund von
knappen Budgets oder fehlenden Investoren, werden oftmals neue innovative Möglich-
keiten gesucht, um die herkömmlichen Marketingmethoden zu umgehen (Lennarz, 2017,
S. 1 ff.).
Growth Hacking lässt sich als permanenter, strukturierter, rückkoppelnder Prozess
beschreiben, mit dem Maßnahmen, die direkten Einfluss auf das Wachstum haben, ent-
wickelt, getestet und optimiert werden sowie als interdisziplinäres Konzept, das die fünf
Handlungsebenen Experimente, Unternehmenskultur, Produkt, Prozess und Kunden-
beziehung umfasst (Gassner, 2021, S. 15). Das ideale Growth-Hacking-Team besteht
üblicherweise aus einer Kombination von Marketingfachleuten, Datenanalyst:innen,
Software-Entwickler:innen und Produktmanager:innen, die alle ein Ziel verfolgen: neue
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 179
Growth Hacking ist per se nichts Neues und in der Praxis fest verankert, wurde jedoch,
wie anfangs beschrieben, erst im Jahre 2010 von Sean Ellis geprägt, und so als eigen-
ständiges Konzept etabliert. In einem Blog-Beitrag diskutierte Ellis als erster öffentlich
den Begriff als solchen.
Es folgte Chen (2012) mit seinem Blog-Beitrag "Growth Hacker is the new VP
Marketing". Als Basis für seine Veröffentlichung fungierte die Kurzzeitvermietungs-
plattform Airbnb, die dem Growth Hacking ihren Erfolg zu verdanken hat, was im Detail
im Abschn. 1.3.2 betrachtet wird. Außerdem wurden Growth Hacker als eine Mischung
aus Programmierer:innen und Vermarkter:innen vorgestellt, die moderne Marketing-
instrumente wie A/B-Tests, virales Marketing, Landing Pages und E-Mail-Zustell-
barkeit einsetzen. Ginn (2012) stellte das Growth Hacking auf dem Nachrichtenportal
TechCrunch als eine Denkweise vor, die Kreativität, Inhalt und Neugierde erfordert.
Burgard und Petzer (2014) bezeichnen Growth Hacking als „Taktiken („Hacks“) zur
Steigerung von für das Unternehmen wichtigen Kennzahlen“ (Burgard & Petzer 2014,
S. 7).
Das Hauptziel des Growth Hackings ist kostengünstiges Wachstum. Hierbei steht
vor allem die Lead-Generierung, also die Kontaktaufnahme mit qualitativ-hochwertigen
Interessenten, im Mittelpunkt, die zu Kunden konvertiert werden und langfristig an
das Unternehmen gebunden werden sollen. Um die Reichweite zu maximieren, setzen
Growth Hacker:innen vor allem auf die Kombination von verschiedenen Maßnahmen
und Marketingkanälen wie Content Marketing, E-Mail-Marketing, Suchmaschinen-
optimierung (SEO), virale Strategien, Soziale Medien, Community Management, A/B-
Testing, Datenanalyse und Produktentwicklung. Die Abb. 10.1 zeigt die einzelnen
Komponenten, die zu kostengünstigem Wachstum und der Generierung von Leads ver-
helfen können.
Die Produktentwicklung wird durch das Growth Hacking stark beeinflusst, da das
Produkt selbst einen bedeutenden intrinsischen Wert für den Wachstumsprozess besitzt.
Ein Produkt kommt auf den Markt, wenn es ‚produkt-market-fit‘ ist, also reif für den
Markt, vielleicht auch noch nicht komplett ausgereift, um in Echtzeit ein Feedback zu
erhalten.
In ihrem Buch „Growth Hacking: Silicon Valleys Best Kept Secret“ beschreiben Fong
und Ridderson (2017) das Novum als einfallsreiche und innovative Marktstrategie, die
auf ein Wachstum mit großer Hebelwirkung ausgerichtet ist.
180 T. Bolz und G. Bouché
Durch die wachsende Zahl an Growth Hackern und deren Erfolgsgeschichten gewinnt
die Erscheinung immer mehr an Popularität. Die folgenden Beispiele erläutern, wie
Growth Hacking bei bekannten Unternehmen erfolgreich umgesetzt wurde.
10.3.1 Dropbox
Der Cloud-Speicherdienst Dropbox dient als erstes klassisches Beispiel für Growth
Hacking und wird am häufigsten zitiert, da anstelle von Werbeausgaben ein genialer
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 181
10.3.2 Airbnb
Dollar Shave beweist, dass Videomarketing nicht nur eine Modeerscheinung ist, sondern
auch ein effektiver Wachstums-Hack, wenn dieser richtig eingesetzt wird. So startete
das Unternehmen eine Videokampagne, um für sich selbst zu werben. Der Dollar Shave
Club übermittelte die Botschaft, dass er jeden Monat neue Rasierklingen für nur 1 Dollar
liefert. Das Video verbreitete sich viral und hat bis heute mehr als 25 Mio. Aufrufe ver-
zeichnet, was wiederum zu einem Umsatz in dreistelliger Millionenhöhe führte. Dieser
simple, aber kreative Growth Hack hat dem Unternehmen zu einer Milliarden-Bewertung
geholfen (FAZ, 2016).
182 T. Bolz und G. Bouché
10.3.4 Facebook
Wie Facebook exponentielles Wachstum erreicht hat, ist kein Geheimnis. Growth Hacks
werden bei Facebook kontinuierlich entwickelt und eingesetzt, um die Reichweite stetig
zu erhöhen. Nutzer werden ermutigt, ihre Kontakte in die Plattform zu integrieren.
Facebook-User:innen wurden zu Beginn per E-Mail benachrichtigt, wenn sie markiert
oder erwähnt werden. Community-Management wird durch Gruppen und Seiten
gefördert. Das Interesse vieler Menschen wurde geweckt für Themen aller Art und sie
konnten sich einbringen.
Kalhammer (2019) empfiehlt Unternehmen in Bezug auf das Community-
Management abwechslungsreiche Beiträge zu posten, das heißt, zwischen einfachen
Textbeiträgen, Bildern und Videos zu wechseln. Weiterhin ist zu erwähnen, dass es
Facebook schafft, durch das Nutzerverhalten in Echtzeit Geschehnisse zu posten, sodass
das Unternehmen sogar von renommierten Nachrichtenformaten in Funk und Fernsehen
zitiert wird.
10.3.5 Foundr
10.3.6 Gmail
Bereits bei der Markteinführung von Gmail hatte Google mit starken Konkurrenten
auf dem Markt zu kämpfen, sodass es schwierig war, neue Kund:innen zu gewinnen,
die bereit waren, von der Konkurrenz zu wechseln und sich eine neue E-Mail-Adresse
einzurichten. Kostspielig wäre es gewesen, neue Kund:innen mit herkömmlichen
Werbemaßnahmen zu gewinnen, sodass ein System eingesetzt wurde, dass auf Ein-
ladungen basierte. Dies führte so weit, dass die Angst groß war, etwas zu verpassen. Die
Faszination dafür bewegte Menschen dazu, sich über Freunde und Familienmitglieder
anzumelden. Gmail setzte darauf, eine Dienstleistung anzubieten, die gefragt war, vor
10 Growth Hacking – Erfolg durch Wachstumsmarketing 183
allem aus Angst etwas zu verpassen. Das Einzige was nötig war, war es, auf diese Aktion
aufmerksam zu machen. Die "Invite-Only"-Strategie wirkte hervorragend. Die E-Mail-
Verwaltung wurde so beliebt, dass die Google-Mail-Einladungen sogar auf eBay ver-
steigert wurden.
10.3.7 Groupon
Eine der kostengünstigen Methoden ist die Empfehlung oder auch das Teilen von Bei-
trägen in den Sozialen Medien. Groupon hat diese Idee der Weiterempfehlungen
so gestaltet, dass gewisse Angebote nur erhältlich waren, wenn diese von mehreren
Personen zeitgleich erworben wurden. Die Angebote waren zeitlich begrenzt, sodass
auch hier die Angst, etwas zu verpassen, eine Rolle spielte. Zudem stiegen die Bekannt-
heit und die Zahl der Teilnehmer:innen dadurch, dass Angebote auch mündlich verbreitet
wurden, da nur ab einer bestimmten Zahl an Käufer:innen das Angebot zustande kam.
10.4 Growth-Hacking-Maßnahmen
Als Basis für die Strukturierung von Growth-Hacking-Maßnahmen kann der aus dem
Marketing bekannte Trichter (s. Abb. 1) herangezogen werden (Gassner, 2021, S. 70).
Auf Englisch spricht man von einem Funnel. Wichtige Aspekte wie Kennzahlen und
Erfolgsmessung der Kampagnen kommen hier zur Geltung. Vor allem geht es aber
um die Erweiterung des Kund:innenstamms und der Nutzer:innenbasis wie auch um
den Ausbau des bestehenden Geschäfts, sodass der Trichter zum wichtigsten Bestand-
teil der Growth-Hacking-Strategie geworden ist. Dieser kann sich in folgende Phasen
aufteilen lassen: Im ersten Schritt geht es um die Akquisition, das Gewinnen von
neuen Kund:innen und wie man diese locken kann. Im zweiten Schritt geht es darum,
potenzielle Kund:innen davon zu überzeugen, ein Produkt oder eine Dienstleistung zu
nutzen. Dieser Schritt kann als Aktivierung bezeichnet werden. Im dritten Schritt geht
es um die Bindung der Kund:innen an das Unternehmen. Das Abwanderung dieser soll
vermieden werden, damit im vierten Schritt ständig Geldströme in Form von Einkünften
erzielt werden, was als Monetarisierung bezeichnet werden kann. Schließlich geht es im
fünften Abschnitt des Trichters darum, Nutzer:innen dazu zu bringen, Empfehlungen
auszusprechen. Anhand dieser fünf Schritte, die in Abb. 2 dargestellt werden, können
Growth-Hacking-Maßnahmen strukturiert werden. Im Folgenden werden einige grund-
legende, ausgewählte Growth-Hacking-Maßnahmen beispielhaft skizziert.
Die Abb. 10.2, der Growth Hacking Trichter, erinnert an Kotler et al., (2017, S. 80)
und den sogenannten Ansatz der 5As der Customer Journey (Aware, Appeal, Ask, Act
und Advocate). Er setzt genau zwischen Act und Advocate an. Nachdem ein Konsument
“gehandelt” hat (act bzw. acquisition), durchläuft er im Growth-Hacking-Trichter die
184 T. Bolz und G. Bouché
10.4.1 E-Mail-Marketing
Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss und das Potenzial, das Social-Media-Nutzer
auf andere Interessent:innen ausüben. Daher sollte Kund:innen die Möglichkeit ein-
geräumt werden, ein Angebot auf verschiedenen Plattformen zu teilen und so eine
Empfehlung auszusprechen. Dafür sollen auch Anreize in Form von Rabatten gewährt
werden. Dadurch wird der Anteil der Kund:innen, die das Social Sharing für die Weiter-
empfehlung eines Produktes oder einer Dienstleistung nutzen, deutlich erhöht.
Eine weitere Maßnahme für erfolgreiches Growth Hacking ist die Gamifizierung
des Onboarding-Prozesses. Unter Onboarding versteht man die Aufnahme neuer
Kund:innen. Dabei hilft das nutzerfreundliche Onboarding die Kund:innenbindung
zu erhöhen und eine mögliche Nutzer:innenabwanderung zu minimieren. Damit diese
Growth-Hacking-Strategie funktioniert, benötigt es einen kreativen Onboarding-
Workflow, der den Nutzern hilft, das Produkt oder die Dienstleistung zu verstehen, und
diese auch ermutigt, diese weiterzuempfehlen.
Die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen ist bei einem kostenlosen Produkt mit hohem
Nutzen auf jeden Fall gegeben. Kostenlose Produkte auf einer Webseite in Form
eines auf die Zielgruppe zugeschnittenen Geschenkes können zum Kauf von weiteren
Produkten führen. Auch wenn es zunächst kontraproduktiv wirkt, führt dieser
Ansatz üblicherweise zu einer erhöhten Anzahl an Besucher:innen und steigert die
Kund:innenbindung. So wird auch der Bekanntheitsgrad einer Marke oder eines Unter-
nehmens gesteigert.
Der Vorteil von Gewinnspielen und Verlosungen liegt in der hohen Interaktivität. Wenn
interessante Artikel oder Dienstleistungen verlost werden, ist die Empfehlungsquote sehr
hoch oder ist sogar Voraussetzung für die Teilnahme. So können beispielsweise attraktive
Produkte auf Instagram oder Facebook verlost werden und mit Hashtags versehen sowie
die Markierung von anderen Personen im Post als Voraussetzung genannt werden, was
wiederum die Sichtbarkeit erhöht und zu einer viralen Verbreitung führen kann. Auch der
Markenname sollte sinnvoll platziert werden.
186 T. Bolz und G. Bouché
Fazit
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Prof. Dr. Thomas Bolz ist seit 2020 Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce und
Online-Marketing an der IU Internationale Hochschule. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in
der Entwicklung und Vermarktung von digitalen Geschäftsmodellen. Durch seine nationale und
internationale Praxiserfahrung sowie seine langjährige Tätigkeit im Management Consulting lernte
er digitale Geschäftsmodelle aus verschiedenen Blickwinkeln kennen. Im Rahmen seiner beruf-
lichen Aktivitäten begleitete er diverse Unternehmensgründungen und -transaktionen im digitalen
Umfeld.
Prof. Dr. Georg Bouché arbeitet als Honorardozent und Professor an Hochschulen und Uni-
versitäten in Deutschland, Frankreich, Mexiko, Spanien und Vietnam. Als geschäftsführender
Gesellschafter einer Marketing- und Strategieberatung mit Sitz in Berlin, liegen seine Tätigkeits-
schwerpunkte in den Bereichen Marketing, Digitalisierung, Internationalisierung, strategischer
Vertrieb, Business Development und Growth Hacking. Für LinkedIn ist er als Autor und Trainer
tätig und hat zu Growth Hacking und Marketing mit kleinem Budget Filme für die Plattform ver-
öffentlicht. Vor der Gründung seiner Beratungsgesellschaft Bouché & Jakob war Georg in Spanien
für ein Private Equity Unternehmen als Management Consultant tätig und baute unter anderem
für die Gesellschaft eine Niederlassung in China auf. Davor hat er für eine Stuttgarter Werbe-
medien Agentur ein Büro in München etabliert. Georg engagiert sich mit einer eigenen Stiftung in
Gambia, Westafrika.
Teil IV
Marketinginstrumente
Nutzen von People Analytics im
Personalmarketing 11
Katharina-Maria Rehfeld , Michaela Moser und Maik Günther
Zusammenfassung
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 191
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_11
192 K.-M. Rehfeld et al.
gedacht und Maßnahmen angepasst werden. Mit Hilfe von People Analytics können
Unternehmen ihre Mitarbeiter als Ganzes begreifen, ihre Bedürfnisse zielgerichtet mit
den Unternehmenszielen in Einklang bringen und damit ihre wirtschaftliche Position
und die Position im Wettbewerb um die besten Talente stärken.
11.1 Einleitung
11.2 Personalmarketing
Alle Aktivitäten des Personalmarketings richten sich immer an der gewünschten Ziel-
gruppe aus, die man zur Bewerbung bewegen bzw. an das Unternehmen binden möchte.
Insoweit kommt dem Personalmarketing eine Selektionsfunktion zu.
bereitete Daten, die intelligent miteinander verknüpft und ausgewertet werden. Mittels
intelligenter Verknüpfung unternehmensinterner und -externer Daten kann neues Wissen
als Basis für zielgerichtete Maßnahmen generiert werden (Marler & Bordreau, 2017).
Smart Data weisen demnach einen Wert für ein Unternehmen auf, weil sie sinnvoll zur
Wertschöpfung beitragen können (Hastenteufel et al., 2021). Die Motivation für die
Nutzung dieser Daten durch PA liegen in der Optimierung von Geschäftsentscheidungen
auf Basis zielgerichteter Analysen mit eindeutig formulierten Fragestellungen.
PA erweitert damit das klassische Personalmarketing, weil es Muster aus digitalen
Daten zum Verhalten von Bewerbern und Mitarbeitern durch Künstliche Intelligenz
(KI) und Algorithmen ermitteln kann, um darauf aufbauend Zukunftstrends für die
Personalmanagementaktivitäten zu erkennen und digitale Handlungsempfehlungen zu
geben (Abb. 11.1). Im Gegensatz zum klassischen Personalmarketing ist PA wesent-
lich stärker datenbasiert und kann auch eine zukunftsgerichtete Sichtweise einnehmen,
weshalb auch drei Stufen bzw. drei Reifegrade unterschieden werden (siehe Abb. 1):
Descriptive PA, Predictive People Analytics und Prescriptive People Analytics (Moser
et al., 2021). Während Descriptive People Analytics beschreibt, was und weshalb
etwas passiert ist, können mithilfe von Predictive bzw. Prescriptive People Analytics
die zukunftsbezogenen, explorativen Fragen beantwortet werden, wie: ‚Was wird
geschehen?‘ bzw. ‚Was sollte geschehen?‘ (Kajüter et al., 2019, S. 141).
forderung, aus einer Vielzahl an Angeboten die für sie passende Vakanz zu finden. Web-
seitenbasierte Filtermöglichkeiten reichen häufig nicht aus, um die Anzahl auf ein
sinnvolles Maß zu reduzieren. Simply Hired sendet seinen Nutzern daher auf Wunsch
E-Mail-Benachrichtigungen mit relevanten Stellenempfehlungen. Dabei wird u. a. das
individuelle Nutzerverhalten analysiert, wodurch die Reihenfolge der Empfehlungen ver-
bessert werden kann (Jiang et al., 2019).
Aussagen über die Effektivität einer zielgruppengerechten Ansprache im Sinne von
Qualität des Employer Brandings können auf Basis der Abbruchquote von neu ein-
gestellten Mitarbeitern während der Probezeit, sowie der Recruitingkosten pro Bewerber
gemacht werden. Um die Passung der Kandidaten zu erhöhen, sollten die meistge-
nutzten Kanäle zur Anwerbung neuer Kandidaten und Bindung bestehender Mitarbeiter
durch People Analytics identifiziert werden. In diesem Zusammenhang spricht man vom
Bewerber-Tracking, mit dem nachvollzogen werden kann, über welche Kanäle oder
Quellen Bewerber auf den Arbeitgeber aufmerksam wurden und Kontakt zum Unter-
nehmen aufnahmen. Bewerbertracking lässt eine differenzierte Erfolgskontrolle zu, mit
dessen Hilfe zukünftige Personalmarketingkampagnen zielgerichteter geplant, Streuver-
luste vermieden und das entsprechende Budget effizienter eingesetzt werden können.
Bewerber-Tracking kann durch die Anwendungen von Google-Analytics- und
sogenannten UTM-Codes (Urchin Tracking Module) erfolgen. Ein UTM-Code ist
eine Textfolge, die am Ende der URLs der Internetstellenanzeige des Unternehmens
zugefügt wird (Weber, 2015). Damit lässt sich nachverfolgen, wie gut der Job-Fit bzw.
Unternehmensfit der Kandidaten ist, die sich über unterschiedliche Kanäle wie Job-
portale, Unternehmenskarriereseiten, Social Media etc. bewerben. Ein guter Fit wird sich
letztlich auch auf die Einstellungszeit bzw. Time-to-Hire auswirken und diese senken.
Die Einstellungszeit entspricht der Zeitspanne beginnend mit dem Moment, ab dem
ein Kandidat Interesse an einer Vakanz bekundet hat (z.B. Datum der Einsendung der
Bewerbung) bis zum Zeitpunkt seiner Einstellung. Eine differenzierte Analyse der Ein-
stellungszeit aufgeschlüsselt nach Recruitingkanal auf der Basis von PA gibt ebenfalls
wertvolle Hinweise auf die Effektivität der externen Personalmarketingaktivitäten. Holl-
dorf (2020, S. 21) betont die Reaktionsgeschwindigkeit des Arbeitgebers gegenüber dem
Bewerber als einen erfolgsentscheidenden Faktor für einen erfolgreichen Rekrutierungs-
prozess. In Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels müssen Unternehmen schnell
und effizient beim Recruiting handeln, da vor allem qualifizierte Bewerber häufig
zwischen mehreren Jobangeboten auswählen können (Anger et al., 2021). Auch dieser
Aspekt kann über ein PA-Projekt einer näheren Untersuchung unterzogen werden.
Um dem Fachkräftemangel, insbesondere im MINT-Bereich, entgegenzuwirken,
kann auch ein zielgerichtetes Personalmarketing unter Schülern, also vor dem Start ins
Berufsleben, nützlich sein. So hat man bei Schülern, die später nach ihrem Studium in
einem MINT-Fach arbeiten, Muster in Clickstream-Daten der Online-Lernsoftware
ASSISTments mit Machine Learning erkannt. Anhand dieser Muster können gezielt
198 K.-M. Rehfeld et al.
neue Schüler identifiziert und motiviert werden, sich für MINT-Fächer einzuschreiben
(Makjlouf & Mine, 2020). Dieser Ansatz kann ebenso von Unternehmen genutzt
werden, um Schüler oder Studierende frühzeitig auf sich aufmerksam zu machen, deren
Interessen, Begabungen und Talente zu identifizieren und über Praktika, Werkstudenten-
tätigkeiten oder Traineeprogramme frühzeitig an sich zu binden.
Das interne Personalmarketing beschäftigt sich mit Fragen der Mitarbeiterbindung, Mit-
arbeitermotivation sowie Nachwuchskräfteförderung. Dabei haben insbesondere die
Zufriedenheit und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz signifikant positive Auswirkungen
auf die Bindung und die Motivation der Mitarbeiter (Colquitt et al., 2020, S. 92 ff.). Die
Gründe für eine fehlende Zufriedenheit oder mangelndes Wohlbefinden am Arbeits-
platz können durch PA analysiert werden, um interne Personalmarketingaktivitäten ziel-
gruppengerechter aufzubereiten. Die Analyse über PA kann dabei auf interne und externe
digitale Verhaltensspuren der Mitarbeiter zurückgreifen, um sie in Bezug auf vor-
handene Verhaltensmuster zu analysieren. Auf dieser Basis können Unternehmen dann
aktiv geeignete Bindungsmaßnahmen ergreifen und das affektive Commitment erhöhen.
Dazu können etwa negative Kommentare zum Arbeitgeber in Sozialen Medien durch
eine digitale Analyse herausgefiltert und entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet
werden. Starbucks etwa hat das Problem der hohen Mitarbeiterfluktuation analysiert,
indem die Kommentare vorhandener und ehemaliger Mitarbeiter auf der Arbeitgeber-
bewertungsplattform „Glassdoor.com“ über ein Textmining-Programm untersucht
wurden (Sakellariadis, 2015). Ziel muss es sein, Mitarbeiter zu Werbetreibenden bzw.
Promotoren für das Unternehmen zu gewinnen, indem sie innerhalb und außerhalb des
Unternehmens positiv über ihren Arbeitgeber sprechen (Owen, 2019).
Unternehmen wie Siemens Healthineers zum Beispiel gehen dazu über, sogenannte
Dashboards zu nutzen, die auf digitalen Pulsbefragungen basieren und die den Managern
relevante Daten in Echtzeit über derartige Sachverhalte anzeigen. Die Bezeichnung Puls-
befragungen oder Puls Checks entstammen dem medizinischen Bereich und werden
als eine Art Messgerät verstanden, mit dessen Hilfe in regelmäßigen Abständen die
Zufriedenheit und Stimmung der Mitarbeiter eines Unternehmens anhand bestimmter
Aspekte festgestellt wird. Im Gegensatz zur klassischen Mitarbeiterbefragung ist eine
Pulsbefragung sehr kurz und spezifisch und sollte sich auf die Verbesserung eines
bestimmten Bereiches oder Themas fokussieren. Bei Pulsbefragungen handelt es sich
um eine agile Befragungsmethode, bei welcher die Zielerreichung, zum Teil durch
eine Eingrenzung der Zielgruppen, möglichst ohne Streuverluste im Mittelpunkt stehen
(Trost, 2018). Die Kosten einer einzelnen Pulsbefragung sind im Vergleich zu anderen
Befragungsmethoden durch den geringeren Aufwand deutlich niedriger. Dadurch kann
sowohl der Geschäftsleitung als auch den Mitarbeitern regelmäßig ein wertvolles,
kostengünstiges und zeiteffizientes Feedback zur Verfügung gestellt werden. Moderne
11 Nutzen von People Analytics im Personalmarketing 199
11.7 Fazit
Der demografische Wandel und die Digitalisierung bestimmen mehr denn je die Arbeits-
welt und werden auch im War for Talents weiter an Bedeutung gewinnen. Unternehmen
haben nicht nur die Option, sondern sind gezwungen, sich diesen Veränderungen anzu-
passen und die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen (Trost, 2018, S. 18). Im
Bereich des Personalmarketings offeriert der Einsatz von PA die Möglichkeit, Prozesse
und Aktivitäten datenbasiert und zielgerichtet zu analysieren, zu bewerten und zu
optimieren.
Mithilfe von PA können Unternehmen ihre Belegschaft als Ganzes begreifen, indem
sie ein besseres Verständnis und neuen Zugang zu ihren Bedürfnissen erhalten und damit
ihre Position im Wettbewerb um die besten Talente stärken (Tursunbayeva et al., 2018).
Obschon Unternehmen die Notwendigkeit und das Potenzial von PA sehen, fallen der
Einsatz und die Umsetzung allerdings noch gering aus (Hastenteufel et al., 2021).
Umfragen unter Unternehmen bestätigen, dass sie den größten Bedarf und die
intensivste Nutzung im Rahmen von Personalmarketingaktivitäten sehen (Kienbaum,
2020; Bersin, 2019). Personalmarketing sieht den Arbeitgeber als Werbenden, der sich
als attraktiver Arbeitgeber gegenüber seinen Kunden, den potenziellen Bewerbern,
präsentiert. Dabei spielt die Arbeitgebermarke sowohl für zukünftige als auch bestehende
Mitarbeiter eine große Rolle.
200 K.-M. Rehfeld et al.
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Prof. Dr. Katharina-Maria Rehfeld ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als
Professorin für Personalmanagement (HRM) tätig. Ihre Schwerpunkte liegen dabei in den
Bereichen Internationales HRM, Digital HR & People Analytics sowie Personal- und Führungs-
kräfteentwicklung. Nach ihrer Promotion an der Universität Heidelberg, war sie mehr als zwölf
Jahre im Personalbereich für deutsche Unternehmen in Asien tätig. Neben Ihrer Tätigkeit an der
IU Internationale Hochschule führt Frau Rehfeld Führungskräfteseminare insbesondere im Bereich
interkulturelle Kommunikation und interkulturelle Zusammenarbeit durch.
202 K.-M. Rehfeld et al.
Prof. Dr. Michaela Moser ist Professorin für Personalmanagement im Fernstudium an der IU
Internationale Hochschule. Sie lehrt und forscht vorwiegend im Bereich Leadership und Digital
HR. Dabei untersucht sie vor allem die Optimierung von Wertschöpfungsprozessen im HR-
Bereich durch moderne digitale Tools. Die promovierte Diplom-Kauffrau verfügt über langjährige
Management-Erfahrung in verschiedenen international tätigen Konzernen, unter anderem als obere
Führungskraft eines international tätigen Baukonzerns sowie als Geschäftsführerin einer Konzern-
gesellschaft.
Prof. Dr. Maik Günther unterrichtet seit 2020 als Professor für Wirtschaftsinformatik an der
IU Internationale Hochschule. Seine Schwerpunkte liegen u. a. in den Bereichen Big Data, Data
Analytics und Künstliche Intelligenz. Nach seiner Promotion an der TU Ilmenau wechselte er
2010 in die Energiewirtschaft, wo er bis heute tätig ist. Daneben arbeitet er als Research Affiliate
am Center for Energy Markets und ist Mitglied in den Arbeitskreisen verschiedener Branchen-
verbände.
Menschen machen Fehler
12
Systematische und zufällige
Fehler – künstliche Intelligenz kann helfen
Christian Lucas
Zusammenfassung
„Die Unternehmensführung hat die Aufgabe, den Prozess der betrieblichen Leistungs-
erstellung und -verwertung so zu gestalten, dass das (die) Unternehmensziel(e) auf
höchstmöglichem Niveau erreicht wird (werden)“ (vgl. Wöhe et al., 2020, S. 47).
Nach dieser Definition gehören neben der (Ziel-)Planung, Ausführung und Kontrolle,
C. Lucas (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 203
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_12
204 C. Lucas
auch die Entscheidung zu den grundlegenden und alltäglichen Aufgaben, die zur
Führung eines Unternehmens notwendig sind. Rational handelnde Unternehmen und
Unternehmer:innen sollten sich dabei formal immer für solche Handlungsalternativen
entscheiden, die (langfristig) den höchsten Zielerreichungsgrad versprechen (vgl.
ebenda, S. 47 f.).
Auch wenn sich das theoretisch recht trivial anhören mag, offenbaren sich hier gleich
mehrere Probleme, die sowohl die Planung der Handlungsalternativen als auch die Ent-
scheidung für die rational richtige Alternative sehr schwierig und komplex machen
(können):
Wenn Menschen Entscheidungen treffen, machen sie, auch wenn sehr viele
Informationen vorliegen, bisweilen Fehler. Zwei Arten von menschlichen Fehlern
können nach Kahneman et al., (2021, S. 10 f.) unterscheiden werden: systematische
Fehler (Biases bzw. Verzerrungen) und zufällige Fehler (Noise bzw. Rauschen).
– Beispiel Systematischer Fehler:
Sie arbeiten in einer Personalabteilung und haben für Montagmorgen eine:n
Bewerber:in mit guten Zeugnissen als aussichtsreiche:n Kandidat:in zu einem Vor-
stellungsgespräch in Ihr Büro eingeladen. Der Bewerbung war kein Foto beigefügt.
Wenn die Haarfarbe, Größe, oder auch das Gewicht des:der Bewerber:in nun Ihre
Entscheidung beeinflusst, spricht man ganz allgemein von einem systematischen
Fehler.
– Beispiel Zufälliger Fehler:
Sie arbeiten in der Personalabteilung eines Kölner Unternehmens. Ein:e Düssel-
dorfer Bewerber:in mit guten Zeugnissen ist als aussichtsreiche:r Kandidat:in
zu einem Vorstellungsgespräch am Montagmorgen in Ihr Büro eingeladen.
Am Wochenende fand das Fußballspiel Köln gegen Düsseldorf statt. Wenn das
Fußballergebnis nun Ihre Entscheidung beeinflusst, spricht man ganz allgemein
von einem zufälligen Fehler.
Im Folgenden wird sich der vorliegende Beitrag nun kurz mit den Gründen für diese
menschlichen Fehler befassen (vgl. Abschn. 12.2), um dann genauer auf die unterschied-
lichen Arten von systematischen und zufälligen Fehlern einzugehen (vgl. Abschn. 12.3).
Abschließend werden Lösungsstrategien diskutiert (vgl. Abschn. 12.4).
Geht man davon aus, dass eine rationale Entscheidung, die den höchsten Ziel-
erreichungsgrad verspricht, eindeutig sein muss, stellt man sich unweigerlich die Frage,
warum nicht alle Menschen zwingend zur gleichen Lösung kommen. Geht man weiter
davon aus, dass dies auch auf Fälle zutrifft, in denen Informationen gleichverteilt sind,
bleibt als Ursache für die Unterschiede im Entscheidungsverhalten nur der Mensch
selber, und die Frage „wie“ er denkt, wenn nicht rational.
Kahneman und Tversky gingen dieser Frage als eine der ersten nach und konnten
1979 mit ihrer Prospect Theorie die Grundlagen für die Verhaltensökonomik
(behavioral economics) legen. In dieser wird davon ausgegangen, dass es den rein
rational denkenden Menschen, in der ökonomischen Wissenschaft gerne als „homo
oeconomicus“ bezeichnet, nicht gibt (vgl. Kahneman, 2011, S. 278 ff.; Rabin & Thaler,
2001, S. 219 ff.).
Kahneman (2011, S. 20 f.) schlägt vor, von zwei grundlegend verschiedenen Denk-
systemen innerhalb einer Person auszugehen, einem System 1 und einem System 2 (vgl.
auch Taleb, 2008, S. 110):
206 C. Lucas
• „System 1 operates automatically and quickly, with little or no effort and no sense of
voluntary control.”
• „System 2 allocates attention to the effortful mental activities that demand it,
including complex computations. The operations of System 2 are often associated
with the subjective experience of agency, choice, and concentration.”
Er geht weiter davon aus, dass das System 2 „faul“ ist und einige intuitive Gedanken und
Handlungen, die System 1 vorschlägt, von System 2 nicht unterdrückt oder korrigiert
werden. Viele Menschen sind nach dieser Vorstellung zu zuversichtlich, dass ihre
Intuitionen richtig sind, auch weil sie die kognitiven Anstrengungen, die System 2 ver-
langt, als unangenehm wahrnehmen und wenn möglich vermeiden wollen (vgl. Kahn-
eman, 2011, S. 44 f.). Kahneman verdeutlicht dies u. a. in diesem Beispiel:
Wenn man nicht versucht dieses Beispiel zu lösen, sondern sich von seiner Intuition
leiten lässt, kommt einem ohne jegliche Anstrengung eine Zahl in den Sinn: die 10, also
10 Cent. Mathematisch ist das aber falsch, wie eine einfache Rechnung zeigt: wenn der
Ball 10 Cent kostet und der Baseball-Schläger 1 Dollar mehr (also $1,10), kommt man
in der Summe auf $1,20. Die richtige Antwort muss also 5 Cent als Preis für den Ball
lauten (vgl. ebenda, S. 44).
Wie kommt System 1 nun so schnell zu einem Ergebnis? Kahneman (2011, S. 97 ff.)
geht u. a. davon aus, dass die schwierige Zielfrage durch eine leichtere „heuristische“
Frage ersetzt wird und im Folgenden dann diese beantwortet wird. Durch ein Intensitäts-
Matching wird im Anschluss wieder die gleiche Dimension der Antwortkategorie her-
gestellt (vgl. auch Kahneman et al., 2021, S. 179 ff. und 196 ff.).
Zielfrage: Wie viel würden Sie zur Rettung bedrohter Arten beitragen?
Heuristische Frage: Wie viel Gefühl empfinde ich, wenn ich an sterbende Delphine
denke?
Intensitäts-Matching: Das Gefühl bzgl. sterbender Delphine muss nun in einen
Geldbetrag umgewandelt werden. Dazu wird von System 1 die Stärke des Gefühls
als stark oder weniger stark eingeschätzt und gleichzeitig automatisch ein hoher oder
weniger hoher Geldbetrag wahrgenommen. ◄
Heuristiken sind per Definition also einfache Verfahren, die helfen, angemessene, wenn
auch oft unvollkommene, Antworten auf schwierige Fragen zu finden (ebenda, S. 184;
Kahneman, 2011, S. 98).
12 Menschen machen Fehler 207
Weitere Forschung, u. a. mittels des Cognitive Reflection Tests (CRT) (vgl. Frederick,
2005, S. 25 ff.), hat gezeigt, dass man Menschen grob in zwei Gruppen unterteilen
kann, solche bei denen das System 1 dominanter ist, die stärker auf ihre Intuition ver-
trauen und damit stärker kognitiven Verzerrungen unterliegen, und andere, rationalere
Menschen (vgl. auch Abschn. 12.4.1). Nichtsdestotrotz sind aber auch die anderen,
rationaleren und kritischeren Individuen, nicht vor kognitiven Verzerrungen (sog. Biases)
gefeit. Besonders, wenn das System 2 bereits beschäftigt ist, mit anderen kognitiv
anstrengenden Aufgaben, übernimmt System 1 und wir glauben fast alles (vgl. Kahn-
eman, 2011, S. 81). Dies ist derselbe Effekt, den auch Alkohol und Schlafdefizit auf
unsere kognitiven Leistungen hat (vgl. ebenda, S. 41).
Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Arten von kognitiven Verzerrungen
(Biases) bietet u. a. Rolf Dobelli in seinem Buch über die Kunst des klaren Denkens, in
Höhe des
Zielerreichungs-
grads
Abb. 12.1 Verzerrte (Bias) und verrauschte (Noise) Entscheidungen (eigene Darstellung)
welchem er 52 Denkfehler auflistet und beschreibt (vgl. Dobelli, 2011). Einige davon
sollen hier beispielhaft vorgestellt werden. Die Auswahl orientiert sich dabei vornehm-
lich an den Vorgaben von Kahneman et al., (2021, S. 179 ff. und 241) und beinhaltet:
Belief-Bias, Confirmation-Bias, Anker-Effekt und die Selbstüberschätzung. Viele
weitere, wie bspw. der Planungsfehlschluss, die Verlustaversion, der Endowment-Effekt,
oder auch der Status-quo-Bias haben ähnliche Effekte auf den gemachten Fehler.
Belief-Bias: ist die Tendenz, die Stärke von Argumenten anhand der Plausibilität ihrer
Schlussfolgerung zu beurteilen und nicht danach, wie stark die Argumente diese Schluss-
folgerung unterstützen (vgl. Leighton & Sternberg, 2003, S. 300). Personen akzeptieren
solche Argumente eher, die eine Schlussfolgerung zulassen, welche mit den Werten und
Überzeugungen dieser Person übereinstimmen. Gegenargumente zu dieser Schluss-
folgerung werden zurückgewiesen (vgl. Evans et al., 1993, S. 243).
Beispiel Belief-Bias
Ähnlich verhält es sich, wenn man sich fragt, wie wahrscheinlich es sich, dass (1) Angela
Merkel gerne Skateboard fährt. Ist das wahrscheinlicher als die Aussage, dass (2) Angela
Merkel gerne Skateboard fährt und eine große Sympathisantin der Bayreuther Wagner-
Festspiele ist? Gefühlt mag die zweite Aussage plausibler klingen, weil wir glauben zu
wissen, dass Angela Merkel gerne zu den Bayreuther Wagner-Festspielen geht. Objektiv
ist aber Aussage 1 wahrscheinlicher.
Eng verwandt mit dem Belief-Bias ist der Confirmation-Bias, der im Folgenden
beschrieben wird.
Confirmation-Bias: ist „die Tendenz, neue Informationen so zu interpretieren,
dass sie mit unseren bestehenden Theorien, Weltanschauungen und Überzeugungen
kompatibel sind.“ (Dobelli, 2011, S. 29).
Beispiel Confirmation-Bias
Anker-Effekt: Anker werden z. B. benutzt, wenn der richtige Wert, das wahre Ergebnis
nicht bekannt ist und somit geschätzt werden muss. Die schwierige Frage wird durch
eine einfache Frage ersetzt (vgl. Dobelli, 2011, S. 125). Man setzt sich quasi selber einen
Anker und versucht sich von dort aus dem wahren Ergebnis durch weitere Überlegungen
anzunähern. Diese hilfreiche Heuristik kann einen allerdings auch in Situationen beein-
flussen, in denen das nicht unbedingt gewollt ist.
Beispiel Anker-Effekt
Es sollen Preise für Produkte geschätzt werden. Auf dem Tisch steht eine Ihnen
unbekannte Flasche Wein. Sie werden gebeten die letzten beiden Ziffern Ihrer Tele-
fonnummer aufzuschreiben und anzugeben, ob Sie den Wein zu diesem Preis kaufen
würden. Anschließend werden Sie gebeten, den höchsten Preis anzugeben, den Sie für
die Flasche zahlen würden.
Die Ergebnisse dieses mehrfach durchgeführten Experiments (vgl. Ariely et al.,
2003, S. 73 ff.) zeigen, dass Proband:innen sich von dieser willkürlichen Zahl so stark
beeinflussen lassen, dass teilweise bis zu dreimal so hohe Zahlungsbereitschaften
genannt wurden (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 189). ◄
210 C. Lucas
Selbstüberschätzung, auch schon mal Overconfidence-Bias genannt, ist, wie der Name
schon sagt, die systematische Fehleinschätzung des eigenen Könnens und der eigenen
Kompetenzen (vgl. Alpert & Raiffa, 1982, S. 294 ff.). Werden bspw. Prognosen und
Schätzungen gemacht, misst der Overconfidence-Bias „den Unterschied zwischen dem,
was Menschen wirklich wissen, und dem, was sie denken zu wissen“ (vgl. Dobelli, 2011,
S. 14). Es geht also nicht darum, ob die Schätzung nun richtig ist oder nicht.
Beispiel Selbstüberschätzung
Suchen Sie sich eine beliebige Zahl aus, die ansonsten nicht sehr bekannt ist. Das
könnte die Anzahl der Liebhaber von Katharina der Großen, die Absatzzahlen
eines bestimmten Buches, oder auch der Jahresumsatz einer beliebigen Firma sein.
Bitten Sie nun viele Menschen, unabhängig voneinander eine Schätzung vorzu-
nehmen. Geschätzt werden soll ein Bereich möglicher Werte für diese Zahl, der zu
98 % richtig sein soll und nur zu 2 % falsch. Bspw. „Ich bin zu 98 % sicher, dass
der Jahresumsatz der Firma X zwischen 1 und 3 Mrd. EUR liegt.“ Theoretisch sollten
nun von allen von Ihnen getesteten Personen nur 2 % danebengelegen haben. Tatsäch-
lich wird die Zahl wahrscheinlich deutlich höher liegen. Bei Alpert und Raiffa (1982)
betrug die Fehlerrate bspw. nahezu 45 % (vgl. Taleb, 2008, S. 175 f.). ◄
Nassim Taleb (2008, S. 177) konnte dies mit mehreren Experimenten nachweisen und
stellte fest, dass wir zum Überschätzen unseres Wissens und zum Unterschätzen unserer
Unwissenheit neigen. Mit anderen Worten: Wir unterschätzen systematisch den Grad der
Veränderung, den die Zukunft bringen wird.
Spannend in diesem Zusammenhang ist, dass Taleb (2008, S. 181 ff.) ebenfalls nach-
weisen konnte, dass je mehr Informationen jemand bekommt, desto mehr Hypothesen
wird er:sie zwischendurch auch aufstellen und desto schlechter wird seine:ihre Vorher-
sage sein. Ein Zuviel an Informationen kann also kontraproduktiv sein, da das zufällige
Rauschen irrtümlicherweise für Informationen gehalten wird. Hier sind zwei Fehler am
Werk, die sich gegenseitig beeinflussen: der Bestätigungsfehler (confirmation bias) und
ein Beharren auf Überzeugungen.
Mit diesem Rauschen und zufälligem Rauschen im Allgemeinen beschäftigt sich das
folgende Kapitel.
Zufällige Fehler schwanken um den wahren Wert, die rational richtige Entscheidung. So
könnte man versucht sein zu vermuten, dass sich diese Fehler einfach gegenseitig auf-
heben. Leider ist dem in einer konkreten Entscheidungssituation nicht so, da sich hier
per Definition „entschieden“ werden muss, es also nur eine einzelne Entscheidung gibt.
Und wenn die getroffene Entscheidung zufällig von der rational richtigen Entscheidung
abweicht, wird nicht das Optimum erreicht. Auch wenn eine Person über mehrere Jahre
hinweg viele Entscheidungen trifft, gleichen sich diese Fehler nicht etwa aus, sondern
12 Menschen machen Fehler 211
addieren sich. Zusätzlich konnte noch nachgewiesen werden, dass diese zufälligen
Fehler auch häufig einen noch größeren Einfluss auf die Entscheidung haben, als
systematische Fehler (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 234).
Beispiel Zufällige Fehler bei der Einschätzung des fairen Wertes einer Aktie
Wenn ein:e Vermögensverwalter:in mit der Aufgabe betreut wird, den fairen
Wert einer Aktie zu bestimmen, wird er:sie alle ihm:ihr zur Verfügung stehenden
Informationen zur Rate ziehen wollen. Zur Vermeidung von kognitiven Verzerrungen
(Biases) wird er:sie sich zusätzlich an ein etabliertes Schätzverfahren halten. Gibt
man diese Aufgabe nun mehreren Vermögensverwalter:innen, der gleichen Unter-
nehmung, die alle dasselbe Schätzverfahren einsetzen, und kommen diese dennoch zu
unterschiedlichen Ergebnisse, spricht man von einem zufälligen Fehler. ◄
Man könnte nun richtigerweise argumentieren, dass man diese vielen Urteile der unter-
schiedlichen Vermögensverwalter:innen aus dem obigen Beispiel einfach „mitteln“
könnte, um Noise zu reduzieren. Was wohl richtig wäre, allerdings müssten dazu auch
diese vielen Schätzungen erst einmal vorgenommen werden, was in der Praxis eher
selten passiert. Hierzu würden knappe Ressourcen gebunden werden müssen. Wichtiger
ist festzuhalten, dass tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse produziert werden, auch
wenn alle Informationen gleichverteilt sind und dieselbe Methode angewendet wird
(vgl. u. a. Doyle, 2007, S. 1583 ff.; Grimstad & Jørgensen, 2007, S. 1770 ff.; Frakes &
Wasserman, 2017, S. 550 ff.; Kahneman et al., 2021, S. 12 ff.; Lemley & Sampat, 2012,
S. 817 ff.; Ramji-Nogales et al., 2007).
Kahneman et al., (2021, S. 233 ff.) unterscheiden drei Arten von zufälligen Fehlern
(Bestandteile von Noise), die sich additiv ergänzen und je nach Situation unterschied-
lich stark zum gesamten Zufallsfehler (System-Noise) beitragen: Level-Noise, stabiles
Pattern-Noise und Occasion-Noise2.
Level-Noise bezeichnet dabei ein „personenspezifisches Rauschen aufgrund der
individuellen Grundeinstellung“ bzw. ein „individuelles Basisniveau von Noise“
(ebenda, S. 478). Damit ist gemeint, dass sich Personen untereinander durch ihre
individuelle Vorgeschichte, ihre Lebenserfahrungen, politischen Einstellungen und
so weiter voneinander unterscheiden (vgl. ebenda, S. 84). Jeder Mensch legt, bedingt
durch diese Erfahrungen, auf einer (seiner) Intensitätsskala (vgl. Abschn. 12.2) willkür-
lich einen Ankerpunkt, den Nullpunkt fest, und macht diese Skala damit zu seiner „Ver-
hältnisskala“ (vgl. Stevens & Marks, 2017). Von nun an muss er keine absoluten Urteile
2 Dabei sind stabiles Pattern-Noise und Occasion-Noise Bestandteile von sog. Pattern-Noise,
sowie auf einer Ebene höher Pattern-Noise und Level-Noise Bestandteile von System-Noise (des
gesamten Zufallsfehlers).
212 C. Lucas
mehr fällen, sondern nur noch relative, relativ zu „seinem“ Anker, was erheblich ein-
facher ist (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 216 f.).
Beispiel Level-Noise
Ein „alter Hase“ in der Schadensregulierung einer Versicherung, der als Mitglied der
Generation Baby Boomer in den 50er und 60er Jahren groß geworden ist, bewertet
die ihm vorgelegten Sachschäden an Kraftfahrzeugen eventuell konsistent höher,
als dies ein:e junge:r Mitarbeiter:in der Gen Z tun würde, obwohl die objektiven
Informationen identisch sind. ◄
Der gleiche „alter Hase“ aus der Schadensregulierung einer Versicherung (siehe
Beispiel oben), der Sachschäden an Fahrzeugen generell höher bewertet, bewertet
allerdings vielleicht Sachschäden an einer bestimmter Fahrzeugmarke (z. B. Renault)
weniger hoch, weil er in seinen jungen Jahren selber einmal ein solches Fahrzeug
gefahren hat und wenig begeistert von der Qualität des Autos war. ◄
Beispiel Occasion-Noise
Der „alte Hase“ aus den vorherigen Beispielen hat heute einen guten Tag. Die Sonne
scheint, es ist Freitag und an diesem Abend werden seine Freunde auf ein Bierchen
zum Grillen vorbeischauen: Er ist gut gelaunt. Deshalb drückt er dieses Mal auch ein
Auge zu und bewertet den vorgelegten Sachschaden höher als sonst üblich. ◄
Wie man aus diesen Beispielen erkennen kann, ist es für das Versicherungsunter-
nehmen grundsätzlich unangenehm, wenn ein Schaden nicht objektiv richtig bewertet
wurde, weil ja auch bei der initialen Festlegung der Versicherungspolicen ein
objektiver Maßstab angesetzt wurde, der nur etwas mit dem Schadensrisiko des:der
12 Menschen machen Fehler 213
Versicherungsnehmer:in zu tun hat, und nicht mit den variablen Urteilen der eigenen
Mitarbeiter:innen aus der Schadensregulierung. Würden diese variablen Urteile von
Anfang an mit eingepreist werden, hätte die Versicherung eventuell einen strategischen
Wettbewerbsnachteil. An diesem Beispiel lässt sich bereits erkennen, dass Zufallsfehler
(Noise) unbedingt zu vermeiden sind.
12.4 Lösungsstrategien
Eine der sinnvollsten Methoden, um Urteile und Entscheidungen zu verbessern, ist natür-
lich solche Personen auszuwählen, die über die beste Urteilskraft verfügen (vgl. Kahn-
eman et al., 2021, S. 246). Alternativ, bzw. grundsätzlich auch zusätzlich, kann man
natürlich versuchen, die Personen, die man schon als Mitarbeiter hat, zu sensibilisieren
und zu trainieren (vgl. Abschn. 12.4.2).
Es stellt sich die Frage, wie man solche Topbeurteiler, vielleicht sogar Super-
Prognostiker oder Super-Forecaster (vgl. Tetlock & Gardner, 2015, S. 81 ff.), findet.
Was zeichnet diese Leute aus? Drei Dinge spielen dabei eine Rolle: (1) was die Personen
wissen, (2) wie gut die Personen denken können und (3) wie sie denken (vgl. Kahneman
et al., 2021, S. 249).
Eine Grundvoraussetzung, um möglichst fehlerfrei Urteile zu fällen, ist die Erfahrung.
Je mehr Zeit sich jemand mit einer bestimmten Sache beschäftigt hat, desto besser.
Zusätzlich muss noch darauf geachtet werden, ob sich diese Person auch an gemeinsame
Normen bzw. berufsständige Standards gehalten hat (vgl. ebenda, S. 251 f.). Nur wenn
jemand sorgfältig arbeitet, können Fehler minimiert werden.
Die zweite wichtige Voraussetzung ist die Intelligenz, bzw. die sog. General Mental
Ability (GMA) (vgl. ebenda, S. 253). Noch immer sagt der GMA den später erreichten
Berufsstatus und auch das Leistungsniveau besser voraus, „als jede andere Fähigkeit,
jedes andere Merkmal oder jede andere Disposition und auch besser als die Berufs-
erfahrung“ (vgl. Schmidt & Hunter, 2004, S. 162).
214 C. Lucas
Der dritte Punkt bezieht sich auf den kognitiven Stil, also die Frage, wie sehr jemand
bereit ist, sich selber aktiv zu hinterfragen. Baron (2000, S. 14 ff.) hat hierzu die
maßgebliche Skala entwickelt, welche misst, wie sehr man bspw. auch abweichende
Meinungen von anderen zulässt und wie sorgfältig man diese neuen Informationen,
welche den eigenen bestehenden Hypothesen widersprechen, gegen seine alten Über-
zeugungen abwägt (vgl. Kahneman et al., 2021, S. 258).
Auch Prozesse und Handlungsweisen können angepasst und verbessert werden, sodass
systematische wie auch zufällige Fehler weitestgehend vermieden werden. In Bezug auf
individuelle kognitive Verzerrungen (Biases) eignet sich nachträgliches, korrigierendes
Debiasing („ex post“) sowie präventives Debiasing („ex ante“) (vgl. ebenda, S. 262 f.).
Sie planen die Herausgabe eines Buches. Dazu legen Sie verschiedene Deadlines
fest, z. B. eine Deadline zur Abgabe des Abstracts, eine zur Abgabe des finalen Bei-
trags, eine weitere für letzte Korrekturen und so weiter. Der errechnete Termin für
die Abgabe aller Unterlagen an den Verlag steht fest. Da Sie wissen, dass einerseits
Sie selber und andererseits auch Ihre Kolleg:innen, die die Beiträge zu Ihrem Buch
einreichen, unter kognitiven Verzerrungen bzgl. der Zeitplanung „leiden“, planen Sie
einen großzügigen Puffer ein. ◄
Sie wollen sich gesünder ernähren und sportlich fitter werden. Ein Nudge wäre
nun einerseits ein Hinweis Ihrer Smartwatch, dass Sie sich gestern mehr bewegt
haben. Andererseits könnte auch Ihr Supermarkt die gesunden Lebensmittel besser
positioniert haben, sodass Sie sie leichter finden: bspw. in typischer Greifhöhe oder
im Kassenbereich. ◄
12 Menschen machen Fehler 215
Eine Bachelorarbeit soll kontrolliert werden. Entscheidend für die Note sollte dabei
ausschließlich der Inhalt sein. Dementsprechend sollten alle Informationen, die mit
der Entscheidung nichts zu tun haben, zurückgehalten werden. Dies betrifft bspw. den
Namen, das Geschlecht oder auch den Wohnort des Studierenden. Zusätzlich kann es
helfen, wenn diese Beurteilung von zwei Personen vorgenommen wird. Dabei sollte
darauf geachtet werden, dass die jeweiligen Beurteiler:innen die Entscheidung der
anderen Person nicht kennen: die Entscheidung also unabhängig getroffen werden
kann. ◄
schreibung und Sauberkeit der Darstellung könnten relevante Dimensionen sein, auch
wenn diese sicherlich weniger gewichtig in die Endnote eingehen sollten. ◄
Das Verständnis darüber, was in einer Bachelorarbeit der Note 1 und was der Note
3 entspricht, kann unter Beurteiler:innen stark variieren. Bzgl. der Quantität der
genutzten Literatur kann man noch recht einfach feste Zahlenwerte vorgeben, die
sich aus der Rückschau, der vielen bisher eingereichten Bachelorarbeiten, ergeben.
Bzgl. der Qualität der genutzten Literatur wird es zwar schwieriger, man sollte aber
ähnlich vorgehen: es sollten typische, allen bekannte Beispiele, als Referenzpunkte
(Anker) auf der Notenskala eingetragen werden, sodass eine relative Beurteilung vor-
genommen werden kann. Diese Referenzpunkte sind regelmäßig zu kontrollieren. ◄
Diese Maßnahmen der Strukturierung üben einen starken Einfluss auf die Reduzierung
der Fehlerrate bei Entscheidungen aus (vgl. ebenda, S. 343). Aufgrund ihres Aufwands
bei der Erstellung und Durchführung, sowie bei der zeitlichen Anpassung, eignen sie
sich jedoch eventuell nur für solch gewichtige und langfristige Entscheidungen, wie
dies bspw. im Falle der Notenfindung bei Bachelorarbeiten oder bei der Einstellung von
Personal der Fall ist (vgl. ebenda, S. 364 ff.).
Im nachfolgenden Unterkapitel wird kurz diskutiert, inwieweit sich die Ersetzung
bzw. Abbildung der vorgestellten Prozesse durch künstlich geschaffene Algorithmen
anbietet.
„Artificial intelligence is the study of how to make computers do things at which, at the
moment, people are better” (Rich, 1983) ist eine Definition für künstliche Intelligenz aus
dem Jahr 1983. Hier hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel getan. Selbst
einfachste Algorithmen (sog. weak AI) können mittlerweile Aufgaben erledigen, die
traditionell von Menschen durchgeführt wurden (vgl. Iansiti & Lakhani, 2020, S. 4),
und das zu viel geringeren direkten Kosten und ohne jegliche zufälligen Fehler (vgl.
Kahneman et al., 2021, S. 361 und 410). So könnte man heutzutage genauer definieren:
„Künstliche Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit einer Maschine, kognitive Aufgaben
12 Menschen machen Fehler 217
auszuführen, die wir mit dem menschlichen Verstand verbinden“ (Kreutzer & Sirrenberg,
2019, S. 3), und da der menschliche Verstand einerseits systematischen und andererseits
zufälligen Fehlern unterliegt, könnte man ergänzen: „…, ohne dabei dieselben mensch-
lichen Fehler zu begehen.“
Indirekte Kosten allerdings können durch die Nutzung von künstlicher Intelligenz
sehr wohl entstehen und sollten unbedingt in die Betrachtung mit einbezogen werden.
Dies betrifft in erster Linie unbeabsichtigte Diskriminierungen der KI (vgl. u. a. Lucas,
2022; Kahneman et al., 2021, S. 370 f.), welche eine Art systematischen Fehler dar-
stellen. Andererseits besteht aber auch die Gefahr der Bürokratisierung von Ent-
scheidungen und der Demotivation von Fachkräften (vgl. ebenda, S. 415).
Microsofts Chatbot „Tay“ wurde im März 2016 nach nur 16 h wieder von der Platt-
form Twitter genommen, nachdem es sein Kommunikationsverhalten so stark an
beeinflussende Versuche von Nutzer:innen angepasst hatte, dass es selbstständig
anfing Dinge zu posten wie „Ich hasse alle Feministen, sie sollen in der Hölle
schmoren“ (vgl. Graff, 2016). ◄
Beispiel Algorithmen, die bei der Bewertung von Bachelorarbeiten helfen können
Einfachste Algorithmen können bspw. die Anzahl der genutzten Quellen zählen
sowie ermitteln, wie häufig jede einzelne Quelle genutzt wurde. Es kann auch ein
Score erstellt werden, wie viele deutschsprachige und wie viele englischsprachige
Quellen genutzt wurden. Neben der Quantität kann auch die Qualität ermittelt
werden: Wie viele Lehrbuchquellen wurden genutzt, wie viele Webseiten und wie
viele Journal-Artikel. Wie häufig wurden diese Journal-Artikel bereits von anderen
Autor:innen zitiert? Auch eine Plagiatsprüfung ist heute kein Problem mehr und wird
standardmäßig durchgeführt. Das System könnte zudem eine Note für diesen Teil-
bereich vorschlagen. ◄
In diesem Sinne kann eher von einer Intelligent Amplification (IA), einer Erweiterung
der menschlichen Intelligenz, im Gegensatz zur Ersetzung dieser (AI), gesprochen
werden (vgl. Kotler et al., 2021, S. 170).
218 C. Lucas
Menschen machen Fehler, auch im Marketing. Diese Fehler können sehr kostspielig sein,
weil sie eine rational richtige Entscheidung verhindern. Im vorliegenden Beitrag wurden
einige Gründe für diese menschlichen Fehler aufgezeigt (vgl. Abschn. 12.2), die Fehler
selbst wurden vorgestellt und diskutiert (vgl. Abschn. 12.3), sowie Lösungsstrategien
vorgeschlagen (vgl. Abschn. 12.4). Bisher ausgeklammerte Aspekt, wie der Mangel
an Informationen und die vermeintliche Unvorhersagbarkeit der Reaktion der übrigen
Marktteilnehmer:innen (vgl. Abschn. 12.1) machen deutlich, dass sich die Grundstruktur
der Unternehmen ändern muss: Informationen (Market Research) und die Verarbeitung
dieser Informationen, durch immer neue technische Möglichkeiten (Progress), müssen
zu den Grundpfeilern einer jeden Unternehmung gehören, wie im Marketing-House-
Konzept vorgeschlagen (vgl. Kap. 1: Marketing-House-Konzept; vgl. auch Iansiti &
Lakhani, 2020, S. 7 f.).
Innovatives Marketing bedeutet also die neuen Möglichkeiten von Big Data, künst-
licher Intelligenz und intelligenten Algorithmen mit Bedacht für sich zu nutzen. Durch
die Digitalisierung hat sich hier zwar einiges getan und vieles ist möglich geworden,
aber nicht immer ist alles auch sinnvoll.
Die Nutzung von künstlicher Intelligenz zur Entscheidungsfindung muss auch
weiterhin kritisch hinterfragt und überwacht werden. Ein selbstverstärkendes Lernen
(reinforcement learning), ohne Überwachung, wie im Fall von Chatbot „Tay“ aufgezeigt,
kann (und muss3) schnell zu Entscheidungen führen, die ein Mensch nicht treffen wollen
würde.
Durch diese Entwicklungen steigen die ethischen und moralischen Anforderungen an
die eigenen Mitarbeiter:innen, gerade und besonders im Marketing, stark an und müssen
stärker in den Fokus der Betrachtung rücken!
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Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-Management
und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt hier als Professor für
Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u.a. in den Fächern Digital Business,
Marketing, Marktforschung und Innovation Management. Parallel bietet er als Geschäftsführender
Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen internationalen Fahrservice für Teams und
Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Künstliche Intelligenz im Marketing
Ein anwendungsorientierter Überblick
13
Jan Pieper
Zusammenfassung
In einer wachsenden Zahl von Unternehmen kommen Anwendungen, die auf künst-
licher Intelligenz (KI) basieren, für Marketingzwecke zum Einsatz. Um das enorme
Potenzial auszuschöpfen, müssen Marketingverantwortliche die verschiedenen
Anwendungsarten verstehen und wissen, wie diese sich weiterentwickeln könnten.
Dieses Kapitel bietet einen anwendungsorientierten Überblick über den aktuellen
Stand der KI in der Marketingpraxis. Ein Bezugsrahmen wird vorgestellt, der bei der
Einschätzung hilft, welche Technologien wann sinnvoll eingesetzt werden können.
Dabei werden KI-Anwendungen nach ihrem Intelligenzgrad (einfache Aufgabenauto-
matisierung oder fortgeschrittenes maschinelles Lernen) und ihrer Struktur (eigen-
ständige Anwendung oder integrierte Plattformlösungen) klassifiziert. Die wichtigsten
Herausforderungen und Risiken für Marketingverantwortliche bei der Nutzung von
KI-Anwendungen werden analysiert.
13.1 Einleitung
J. Pieper (*)
IU Internationale Hochschule, Wuppertal, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 221
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_13
222 J. Pieper
verbessern kann. So dokumentiert eine 2018 von McKinsey durchgeführte Studie mit
mehr als 400 fortschrittlichen Anwendungsfällen, dass das Marketing der Bereich ist, in
dem KI den größten Wertbeitrag leisten wird (Chui et al., 2018).
Marketingverantwortliche machen sich KI-Technologie zunehmend zu eigen:
Eine Befragung der American Marketing Association (ama.org, 2019) von 341 US-
amerikanischen Chief Marketing Officern ergab, dass allein zwischen Februar 2018 und
August 2019 die Implementierung von KI-Projekten um 27 % gestiegen ist. Eine globale
Deloitte-Umfrage aus dem Jahr 2020 unter 794 „Early Adoptern“ im Bereich der KI
zeigte, dass drei der fünf wichtigsten KI-Ziele marketingorientiert waren: Verbesserung
bestehender Produkte und Dienstleistungen, Schaffung neuer Produkte und Dienst-
leistungen sowie Verbesserung der Kundenbeziehungen (Deloitte, 2021).
Während KI im Marketing bereits Einzug gehalten hat, ist zu erwarten, dass sie in den
kommenden Jahren auch in anderen Funktionsbereichen an Bedeutung gewinnen wird.
Angesichts des enormen Potenzials der Technologie ist es für Marketingverantwort-
liche von entscheidender Bedeutung zu verstehen, welche Arten von KI-Anwendungen
für das Marketing heute verfügbar sind und wie sie sich weiterentwickeln können. Das
in diesem Kapitel vorgestellte Framework kann branchenübergreifend Entscheidern im
Marketing dabei helfen, bestehende KI-Projekte zu klassifizieren und die Einführung
zukünftiger Projekte zu planen. Bevor das Framework im Detail vorgestellt wird, soll
zunächst ein Blick auf den aktuellen Stand der Dinge geworfen werden.
Die Unternehmen setzen KI auch in jeder Phase der Customer Journey ein. Wenn sich
potenzielle Kunden in der „Abwägungsphase“ befinden und ein Produkt recherchieren,
kann KI sie mit gezielter Werbung ansprechen und sie bei ihrer Suche unterstützen
(Zinkann & Mahadevan, 2017).
Beispiel Wayfair
Beispiel Vee24
KI-fähige Bots von Unternehmen wie Vee24 (Vee24, 2021) können Marketingfach-
leuten dabei helfen, die Bedürfnisse der Kunden zu verstehen, ihr Engagement bei
einer Suche zu erhöhen, sie in eine gewünschte Richtung zu lenken (z. B. zu einer
bestimmten Webseite) und sie bei Bedarf per Chat, Telefon, Video oder sogar „Co-
Browsing“ mit einem menschlichen Vertriebsmitarbeiter zu verbinden, der dem
Kunden bei der Navigation auf einem gemeinsamen Bildschirm hilft. ◄
KI kann den Verkaufsprozess verschlanken, indem sie extrem detaillierte Daten über
Personen, einschließlich geografischer Daten in Echtzeit, verwendet, um hochgradig
2 Chatbots (oder auch: Bots) als KI-Anwendungsform erlauben Unternehmen, die Kommunikation
mit ihrer Kundschaft zu verbessern, zu intensivieren und vor allem zu automatisieren.
224 J. Pieper
Beispiel Amelia
Maschinelles Lernen ist ein Oberbegriff für die „künstliche“ Generierung von Wissen
aus Erfahrung. Dabei löst ein Algorithmus ein Optimierungsproblem, ohne dabei auf
ein statistisches Modell festgelegt zu sein. Vielmehr optimiert der Algorithmus zwischen
verschiedenen Modellen. Der Algorithmus wird anhand großer Datenmengen „trainiert“,
um relativ komplexe Vorhersagen und Entscheidungen zu treffen (MacKay, 2003).
Mittels maschinellem Lernen können Bilder erkannt, Texte entschlüsselt, Kunden
segmentiert und vorhergesagt werden, wie Kunden auf verschiedene Initiativen, z. B.
Werbeaktionen, reagieren werden. Das maschinelle Lernen ist bereits die Grund-
lage für programmatische Werbung, für E-Commerce-Empfehlungsmaschinen und für
Modelle zur Ermittlung der Verkaufsneigung in CRM-Systemen (Customer Relation-
ship Management) (Dzyabura & Yoganarasimhan, 2018). Das maschinelle Lernen und
seine anspruchsvollere Variante, das Deep Learning3, sind die zentralen Technologien
im Bereich der künstlichen Intelligenz und entwickeln sich schnell zu leistungsstarken
Werkzeugen im Marketing. Dennoch ist es wichtig, klarzustellen, dass bestehende
Anwendungen für maschinelles Lernen nach wie vor nur begrenzte Aufgaben erfüllen
und mit großen Datenmengen trainiert werden müssen.
3 Deep Learning (deutsch: mehrschichtiges Lernen, tiefes Lernen oder tiefgehendes Lernen)
bezeichnet eine Methode des maschinellen Lernens, die künstliche neuronale Netze (KNN) mit
zahlreichen Zwischenschichten (englisch: hidden layers) zwischen Eingabeschicht und Ausgabe-
schicht einsetzt und dadurch eine umfangreiche innere Struktur herausbildet (Goodfellow et al.,
2016). Deep Learning wurde bislang u. a. in den Bereichen Computer Vision, Spracherkennung,
Verarbeitung natürlicher Sprache, maschinelle Übersetzung, Medikamentenentwicklung,
medizinische Bildanalyse eingesetzt, wo es zu Ergebnissen geführt hat, die mit der Leistung
menschlicher Experten vergleichbar sind und diese in einigen Fällen sogar übertreffen (Ciresan
et al., 2012; Hu et al., 2020).
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 227
Beispiel Behr
Beispiel Netflix
Beispiel CRM-Systeme
Teil der Sales Cloud, Service Cloud, Marketing Cloud und der Customer-Data-
Platform(CDP)-Anwendung über mehrere Funktionen, darunter ein KI-basiertes
Lead-Scoring-System, das B2B-Kundenkontakte automatisch nach ihrer Kaufwahr-
scheinlichkeit einstuft (Salesforce, o. J.). Anbieter wie Cogito, die KI-Anwendungen
für das Coaching von Call-Center-Verkäufern anbieten, integrieren ihre Anwendungen
ebenfalls in das CRM-System von Salesforce (Cogito, o. J.). ◄
Für Unternehmen mit begrenzter KI-Erfahrung ist es ein sinnvoller Start, einfache
regelbasierte Anwendungen zu entwickeln oder einzukaufen. Zahlreiche Unternehmen
„lernen laufen“ auf diesem Ansatz. Sie beginnen mit einer eigenständigen, nicht kunden-
orientierten App zur Aufgabenautomatisierung, z. B. einer App, die Servicemitarbeiter
bei der Kundenbetreuung unterstützt. Sobald das Unternehmen über grundlegende KI-
Fähigkeiten verfügt und eine Fülle von Kunden- und Marktdaten erworben habt, kann
schrittweise der Übergang von der Aufgabenautomatisierung zum maschinellen Lernen
erfolgen.
13 Künstliche Intelligenz im Marketing 229
Ein passendes Beispiel für ein solches Vorgehen sind die KI-Anwendungen
kuratierender Styling-Anbieter wie Stitch Fix, Zalon oder Outfittery (Lake, 2018).
Maschinelles Lernen hilft den dort angestellten Stylisten, Angebote für die Kunden
zusammenzustellen, die auf den von den Kunden angegebenen Stilvorlieben, den
Artikeln, die sie behalten und zurückgeben, und ihrem Feedback basiert. Diese
Ansätze wurden noch effektiver, als die Unternehmen begannen, die Kunden aufzu-
fordern, aus durchmischten Fotos mit Style-Vorschlägen, ihre Favoriten auszuwählen,
wodurch eine wertvolle Quelle neuer Daten geschaffen wurde. ◄
Neue Datenquellen – etwa aus internen Transaktionen, von externen Lieferanten und
auch durch potenzielle Akquisitionen – sind etwas, wonach Marketingverantwortliche
ständig Ausschau halten sollten, da die meisten KI-Anwendungen, insbesondere das
maschinelle Lernen, große Mengen an hochwertigen Daten benötigen.
Beispiel XO
Bei bestimmten Entscheidungen sind einige Unternehmen bei der Nutzung von
Marketing-KI inzwischen so raffiniert, dass menschliches Zutun gar nicht mehr nötig
ist. Insbesondere bei sich wiederholenden, schnellen Entscheidungen, wie sie für
programmatische Werbung erforderlich sind, ist dieser Ansatz unerlässlich. In anderen
Bereichen kann die KI einer Person, die vor einer Entscheidung steht, zumindest
Empfehlungen geben, z. B. einen Film für einen Verbraucher oder eine Strategie für
einen Marketingleiter. Soweit möglich und sinnvoll sollten Unternehmen zu auto-
matisierten Marketing-Entscheidungen übergehen, auch wenn menschliche Ent-
scheidungsfindung in der Regel den folgenreichsten Entscheidungen vorbehalten bleibt,
z. B. ob eine Kampagne fortgesetzt oder ein teurer TV-Spot genehmigt werden soll.
zu konfigurieren sein und von den Unternehmen den Erwerb eigener KI-Kenntnisse
erfordern. Der Einsatz von KI in einem Arbeitsablauf erfordert eine sorgfältige Integration
menschlicher und maschineller Aufgaben, damit die KI die Fähigkeiten der Mitarbeiter
ergänzt und nicht in einer Weise eingesetzt wird, die Probleme verursacht. Viele Unter-
nehmen setzen beispielsweise regelbasierte Chatbots ein, um den Kundenservice zu
automatisieren. Allerdings können weniger fähige Chatbots Kunden auch verärgern. Im
Einzelfall kann es vorteilhaft sein, wenn solche Chatbots menschliche Servicekräfte unter-
stützen, anstatt direkt mit den Kunden zu interagieren (Chen et al., 2021).
Wenn Unternehmen immer ausgefeiltere, integrierte KI-Anwendungen einsetzen,
ergeben sich weitere Überlegungen. Insbesondere die Integration von KI in Plattformen
von Drittanbietern kann sich als schwierig erweisen.
Der Olay Skin Advisor von Procter & Gamble analysiert mithilfe von Deep Learning
Selfies von Kunden, bewertet ihr biologisches Alter und ihren Hauttyp und empfiehlt
entsprechende Produkte. Die KI-Anwendung ist in die E-Commerce- und Kunden-
bindungsplattform Olay.com integriert und hat in einigen Regionen die Konversions-
raten, Absprungraten und durchschnittlichen Warenkorbgrößen verbessert (Uzzi, 2019).
Die Integration in Einzelhandelsgeschäfte und Amazon, die einen hohen Prozentsatz des
Umsatzes von Olay ausmachen, war jedoch schwieriger. Der Skin Advisor ist auf der
umfangreichen Website von Olay auf Amazon nicht verfügbar, was die Fähigkeit der
Marke behindert, dort ein nahtloses, KI-gestütztes Kundenerlebnis zu bieten. ◄
13.5 Fazit
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Prof. Dr. Jan Pieper ist seit 2016 an der IU Internationale Hochschule Professor für Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre. Nach seinem Doktorat am Lehrstuhl für Unternehmensführung und
-politik der Universität Zürich war er für ein Schweizer Start-up sowie an verschiedenen Hoch-
schulen in der Schweiz und Italien tätig. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im
Bereich Unternehmensstrategie und Innovationsmanagement.
Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox
für zielgruppenorientierte Werbung im Internet
14
Claudia Heß und Ralf Kneuper
Zusammenfassung
Google entwickelt im Rahmen der sogenannten Privacy Sandbox Alternativen für die
hinsichtlich des Datenschutzes umstrittenen, für Werbetreibende aber sehr relevanten
Drittanbieter-Cookies (Third-Party-Cookies). Einer dieser Ansätze war das Federated
Learning of Cohorts (FLoC). Bei FLoC werden Personen, die aufgrund ihres Surf-
Verhaltens ähnliche Interessen aufweisen, in sogenannte Kohorten gruppiert. Ein neuerer
Ansatz ist das Topic API, welcher die Interessen der Nutzer:innen auf Topics, also ver-
schiedene Themen abbildet. Der vorliegende Beitrag führt in diese technischen Konzepte
ein und beleuchtet ihre Konsequenzen aus mehreren Perspektiven. Diese neuen Ansätze
werden einerseits aus Sicht der Internetnutzer:innen bewertet. Hierbei steht die Frage des
Datenschutzes im Vordergrund. Zum anderen wird die Perspektive der Werbetreibenden,
der Ad Exchanges sowie anderer Browser-Anbieter eingenommen und erwartete Ände-
rungen hinsichtlich des Digitalen Marketings werden aufgezeigt. Letztlich diskutiert der
Beitrag, inwieweit Googles neue Ansätze dazu dienen, die Monopolstellung von Google
weiter auszubauen und welche weiteren Entwicklungen von anderen Playern am Markt,
wie z. B. Apple vorangetrieben werden.
C. Heß (B)
IU Internationale Hochschule, Bad Reichenhall, Deutschland
E-mail: [email protected]
R. Kneuper
IU Internationale Hochschule, Bad Reichenhall, Deutschland
E-mail: [email protected]
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien 233
Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_14
234 C. Heß und R. Kneuper
Weltweit wurden im Jahr 2020 mehr als 378 Mrd. US$ für digitale Anzeigen ausgegeben und
es wird erwartet, dass die Ausgaben weiter steigen, mit einer Prognose von über 645 Mrd. in
2024 (eMarketer, 2021). Dabei kommen unterschiedliche Formen der Werbung zum Einsatz,
z. B. Anzeigen in der Ergebnisliste zu Suchanfragen oder Anzeigen, die auf Webseiten
eingeblendet werden. Aus Sicht der Werbetreibenden ist es zentral, dass die Werbeanzeigen
wirksam sind, selbst wenn die Werbetreibenden für wirkungslose Anzeigen nicht unbedingt
bezahlen müssen. Das bedeutet, dass Anzeigen möglichst nur solchen Personen eingeblendet
werden, die an dem Thema bzw. dem Produkt ein entsprechendes Interesse haben (Geradin
et al., 2021, S. 3).
Bei Suchanfragen legen die Nutzenden ihr konkretes Interesse anhand der Suchbegriffe
dar. Dementsprechend kann eine inhaltlich passende Anzeige geschaltet werden. Um auf
anderen Webseiten zielgerichtete Online-Werbung anzuzeigen, müssen die Interessen der
Internetnutzer:innen erst auf andere Art und Weise ermittelt werden. Hier kommen verschie-
dene Tracking-Mechanismen zur Nachverfolgung der Nutzeraktionen ins Spiel, insbeson-
dere die sogenannten Drittanbieter-Cookies (Third-Party-Cookies). Drittanbieter-Cookies
ermöglichen es, Internetnutzer:innen über verschiedene Webpräsenzen hinweg zu identifi-
zieren und ihr Surf-Verhalten zu tracken. Sie sind heutzutage der wichtigste Mechanismus,
um die Interessen der Nutzer:innen zu ermitteln und um letztlich auch den Erfolg von
Marketing-Kampagnen zu messen (Geradin et al., 2021, S. 3).
Allerdings ist gerade diese Möglichkeit, das Verhalten der Internetnutzer zu tracken, der
Grund, warum Drittanbieter-Cookies erheblich in der Kritik stehen. Ebenso wie Apple und
Mozilla hat Google daher angekündigt, Drittanbieter-Cookies in seinem Browser Chrome
zukünftig zu blockieren (Schuh, 2019). Da Chrome weltweit der meistgenutzte Browser
ist1 , hat diese Ankündigung große Beachtung gefunden. Es wird sogar davon gesprochen,
dass dies der bisher größte Umbruch für die Online-Werbung sei. Dass diese Ankündigun-
gen einzelner Unternehmen so große Wellen schlagen, zeigt die Macht von Konzernen wie
Google und Apple über die Online-Werbung (Geradin et al., 2021, S. 4). Der Bundesver-
band Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V. spricht sogar davon, dass Browser-Hersteller durch
ihre Marktmacht zu De-facto-Regulatoren wurden, ja sogar, dass dies als Missbrauch ihrer
Marktmacht angesehen werden kann (Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V.,
2019).
Ursprünglich plante Google die Abschaffung der Drittanbieter-Cookies in Chrome für
das Jahr 2022, hat es mittlerweile aber auf 2023 verschoben (Goel, 2021). In dieser Zeit
soll ein Ersatz entwickelt werden, der zukünftig zielgerichtete Werbung ohne Drittanbieter-
Cookies ermöglicht. Google hat dafür verschiedene Ansätze im Rahmen seiner Initiative
1 Chrome hat weltweit betrachtet in den letzten fünf Jahren einen Marktanteil an den Page Views von
über 60 % (StatCounter, 2021)
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 235
Privacy Sandbox entwickelt, insbesondere das Federated Learning of Cohorts (FLoC) sowie
das Topics API. Diese Ansätze und ihre Konsequenzen werden in diesem Beitrag aufgezeigt.
Wie beschrieben dient das Werbetracking dazu, Nutzeraktivitäten nachzuverfolgen mit dem
Ziel, den Nutzer:innen spezifische, individuell auf ihre Interessen zugeschnittene Werbung
anzuzeigen. Damit soll erreicht werden, dass diese Werbung eine höhere Aufmerksamkeit
findet und damit auch häufiger ihr Ziel, meist den Kauf eines bestimmten Produktes oder
einer bestimmten Dienstleistung, erreicht.
Wenn nun eine einzelne Webpräsenz Informationen darüber sammelt, was ihre Besuchen-
den beim Besuch der Webpräsenz tun, welche Seiten sie in welcher Reihenfolge besuchen
etc., dann können diese Informationen hilfreich sein, um die Gestaltung der Webpräsenz zu
verbessern. Sie helfen aber meist nur wenig, um die Interessen der Besuchenden zu erken-
nen und darauf zu reagieren. Um diese Beschränkung zu überwinden, wurden u. a. die im
Folgenden beschriebenen Techniken eingeführt.
14.2.1 Cookies
Cookies sind kleine Text-Dateien, die im Browser auf Anforderung eines besuchten Webser-
vers gespeichert sind und diesem Webserver bzw. seiner Internet-Domäne zugeordnet sind.
Wenn der Browser Daten von dieser Domäne abruft, dann sendet er jeweils die zugehörigen
Cookies mit und stellt damit die Verbindung zwischen verschiedenen Anfragen des Brow-
sers her. Dadurch wird beispielsweise erkannt, dass ein Nutzer oder eine Nutzerin bereits
angemeldet ist, einen Warenkorb gefüllt hat, oder die zu verwendende Sprache ausgewählt
hat.
Eine spezielle Variante der Cookies sind die Drittanbieter-Cookies, bei denen neben Besu-
chenden und den Betreibern der Webpräsenzen eine dritte Partei involviert ist, an die diese
Cookies gesendet werden und die damit typischerweise Informationen über das Verhalten
der Besucher und Besucherinnen über verschiedene Webpräsenzen hinweg sammeln. Durch
die Kombination dieser Informationen kann ein solcher Drittanbieter sehr viel umfangrei-
chere und konkretere Aussagen über die Besuchenden machen (Mayer & Mitchell, 2012;
Perlitz & Kneuper, 2019).
Aus Sicht der Werbetreibenden haben Cookies als Werkzeug zum Tracking aber auch
gravierende Einschränkungen: Nutzer:innen können Cookies im Browser jederzeit löschen
und damit den gewünschten Bezug zu früheren Besuchen der gleichen Webpräsenz aufheben.
Auch aus Sicht des Datenschutzrechtes sind Cookies problematisch, und zumindest für
Drittanbieter-Cookies ist meist eine Einwilligung der Nutzer:innen erforderlich.
236 C. Heß und R. Kneuper
• (Device) Fingerprinting nutzt die von einem Browser übermittelten technischen Informa-
tionen wie benutzte Browser, Zeitzone, Bildschirmauflösung dazu, Browser und damit
auch Personen bei einem neuen Besuch der gleichen Seite wiederzuerkennen. Das ist
technisch relativ einfach möglich, kann auch von einem Browser nicht erkannt und nur
sehr eingeschränkt verhindert werden. Fingerprinting ist aber im Geltungsbereich der
DSGVO ohne Einwilligung der Nutzer:innen nicht erlaubt.
• Tracking Pixels sind kleine Grafiken (1 × 1 Pixel), die mit individualisierten Dateinamen
in E-Mails oder Webseiten eingebettet werden, dort aber meist nicht sichtbar sind. Wenn
diese Grafik vom Server des Werbetreibenden abgerufen wird, kann dieser erkennen,
dass die entsprechende E-Mail oder Webseite gelesen wurde. Damit kann der Erfolg
der entsprechenden Werbeaktivität bewertet sowie Informationen über die Nutzer:innen
abgeleitet werden.
• Kontext-basierte Anzeigen verwenden kein Tracking der Nutzer:innen. Stattdessen wer-
den Anzeigen abhängig vom Inhalt der besuchten Webseite ausgewählt. Dies ist aus Sicht
des Datenschutzes meist unproblematisch, aber aus Sicht der Werbetreibenden weniger
erfolgreich als Tracking-basierte Verfahren.
• Device IDs, wie sie von vielen Systemen bereitgestellt werden, beispielsweise GAID für
Android-Geräte oder IDFA für iOS-Geräte, sind fest mit dem jeweiligen Gerät verbunden
und werden unter bestimmten Bedingungen von Apps an Werbetreibende übermittelt.
• Universal IDs beziehen sich nicht auf Geräte, sondern auf Personen, und haben das
Ziel, Informationen zu Personen aus verschiedenen Quellen unter einem Identifizierer
zusammenzutragen.
Abb. 14.1 und die folgende Erläuterung geben einen kurzen Überblick über die am Werbe-
tracking beteiligten Rollen.2
• Nutzer:innen besuchen Webseiten und bekommen dort Werbung angezeigt. Sie können
bestimmte Cookies erlauben oder verbieten.
• Betreiber von Webpräsenzen stellen Platz für Werbung bereit und finanzieren damit
ggf. Inhalte. Dies wird oft als Grund genannt, warum zielgerichtete Werbung weiterhin
möglich sein muss.
2 Eine etwas ausführlichere Darstellung findet sich beispielsweise in (Perlitz & Kneuper, 2019).
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 237
• Werbetreibende buchen Platz auf Webseiten, um ihre Werbung dort anzuzeigen. Eine
direkte Buchung bei den Betreibern von Webpräsenzen ist grundsätzlich möglich, wird
aber heute nur selten genutzt. Stattdessen sind meist Ad Exchanges beteiligt.
• Ad Exchanges agieren als Vermittler zwischen den Betreibern von Webpräsenzen und
den Werbetreibenden. Dies geschieht häufig in Form von automatisierten Auktionen in
Echtzeit („Real Time Bidding“). Ob ein Gebot abgegeben wird, hängt davon ab, inwieweit
der jeweilige Nutzer oder Nutzerin der Zielgruppe entspricht. Um dies zu beurteilen,
braucht es bestimmte Informationen über den Nutzer bzw. die Nutzerin. Daher wird
bei der Aufforderung, ein Gebot abzugeben, typischerweise die Cookie-ID des Nutzers
übermittelt (Geradin et al., 2021, S. 18).
Google kündigte die sogenannte Privacy Sandbox im August 2019 an (Schuh, 2019). Als
Motivation wurde angeführt, dass die heute im Online-Marketing gängigen Technologien,
insbesondere der Einsatz von Drittanbieter-Cookies, nicht mehr den Erwartungen der Inter-
netnutzer:innen hinsichtlich dem Schutz ihrer Privatsphäre entsprechen. Formuliertes Ziel
der Bestrebungen im Rahmen der Privacy Sandbox ist es, eine Alternative zu entwickeln,
die gleichzeitig die Privatsphäre der Internetnutzer:innen wahrt und zielgerichtete Werbung
ermöglicht. Eine Alternative zu den bisherigen Ansätzen ist nötig, da ein generelles Verbot
von Drittanbieter-Cookies negative Auswirkungen erwarten lässt, wie z. B. einen verstärkten
Einsatz des Fingerprintings oder eine Abnahme von kostenlosen, bislang werbefinanzier-
ten Inhalten (Schuh, 2019; Geradin et al., 2021). Die Privacy Sandbox wird von Google im
Rahmen der Open-Source Initiative „Chromium“ vorangetrieben, also dem Projekt, das hin-
238 C. Heß und R. Kneuper
ter Googles Browser Chrome steht3 . Ziel dieser Initiative ist laut Google die Entwicklung
von Standards und Programmierschnittstellen (z. B. Schuh, 2019). Google hat zur Mitar-
beit aufgerufen, damit die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt werden (z. B. Schuh,
2019).
Unter einer Sandbox (deutsch: Sandkasten) verstehen Informatiker einen isolierten, abge-
schotteten Bereich, in welchem z. B. Anwendungen nur auf die Ressourcen zugreifen kön-
nen, die sie tatsächlich für die auszuführende Aufgabe benötigten (z. B. Rohr, 2018, S. 20).
Die Idee der Privacy Sandbox ist es, die Daten der Internetnutzer:innen durch den Browser
zu schützen. Es soll verhindert werden, dass persönliche Informationen so geteilt und wei-
tergegeben werden, dass Personen über verschiedenen Webpräsenzen hinweg identifiziert
werden können (Dutton, 2020).
Als Ersatz für Drittanbieter-Cookies wurde im Rahmen der Privacy Sandbox maßgeblich
von Google der Ansatz Federated Learning of Cohorts (FLoC) entwickelt. Die hinter FLoC
stehenden zentralen technischen Konzepte werden im Folgenden beschrieben, allerdings
ohne auf die Details der Algorithmen und der technischen Umsetzung einzugehen.
Bildung von Kohorten Unter einer Kohorte versteht Google eine Gruppe von Nutzer:innen
mit ähnlichen Interessen (Google Research & Ads, o. J.). Die Idee hinter der Bildung von
Kohorten ist, dass es für zielgerichtete Werbung nicht nötig ist, die genaue Identität einer
Person zu kennen. Die gezeigte Werbung orientiert sich in Konsequenz an den Interessen
der Kohorte und kann damit zielgruppenorientiert ausgewählt werden.
Nutzer:innen wird, basierend auf ihrem persönlichen Surfverhalten, eine sogenannte
Kohorten-ID zugewiesen (Google Research & Ads, o. J.). Da immer mindestens k Nut-
zer:innen einer Kohorte zugeordnet werden, spricht man von k-Anonymität. Je höher k ist,
also je mehr Nutzer:innen in einer Kohorte sind, umso besser ist die Privatsphäre jeder ein-
zelnen Person geschützt, da es schwieriger wird, von der Kohorten-ID auf das Individuum
zu schließen. Bildlich gesprochen kann sich der oder die Einzelne in der Gruppe verstecken.
Umgekehrt weichen in großen Kohorten die Interessen der Nutzer:innen weiter voneinan-
der ab, was dazu führt, dass Werbung weniger zielgerichtet ausgespielt werden kann. Es ist
daher wichtig, die Balance zu finden.
Berechnung der Kohorten-IDs in FLoC Die Kohorten-IDs werden im Browser mit Hilfe
von Algorithmen des Maschinellen Lernens berechnet (Xiao & Karlin, 2021). Diese Algo-
rithmen nutzen verschiedene Informationen über das Surfverhalten, wie z. B. die URLs der
besuchten Webseiten oder deren Inhalte. Hier kommt die Idee des „Federated Learnings“
zum Tragen: Die Berechnung der Kohorten-ID erfolgt in einer verteilten („federated“) Art
3 https://www.chromium.org/Home/chromium-privacy/privacy-sandbox.
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 239
und Weise. Die verschiedenen Inputdaten für die Berechnung werden dabei nicht an eine
zentrale Stelle geschickt, sondern lokal im Browser verarbeitet. Die Hoheit über die Daten
verbleibt damit beim Nutzer oder der Nutzerin selbst.
Google formuliert daher als Prinzip, dass die Berechnung der Kohorten-IDs so einfach
sein muss, dass die Systemanforderungen gering sind und die Berechnung tatsächlich lokal
durchgeführt werden kann (Google Research & Ads, o. J.). Außerdem muss einfach nach-
vollziehbar sein, wie verschiedene Parameter bei der Berechnung der Kohorten-ID festgelegt
werden.
Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die Vor- und Nachteile der Nutzung von
FLoC aus der Sicht der verschiedenen Beteiligten. Dabei sind im Wesentlichen zwei unter-
schiedliche Fragestellungen zu betrachten, nämlich einerseits der Datenschutz und damit
die Sicht der Internetnutzer:innen, und andererseits das Wettbewerbsrecht und damit die
Sicht der Werbetreibenden, anderer Ad Exchanges, der Betreiber von Webpräsenzen sowie
anderer Browser-Anbieter.
Ein zentrales Argument von Google für die Einführung von FLoC ist der verbesserte Daten-
schutz, da mit FLoC nicht mehr Daten über einzelne Personen gesammelt werden, son-
dern das Tracking sich auf die Zuordnung zu einer Gruppe von Nutzer:innen, der Kohorte,
beschränkt. Da allerdings die Zuordnung zu einer Kohorte auf Basis der Browser-Historie
einer Person geschieht, liefert schon die Zugehörigkeit zu einer Kohorte viel Information
über individuelle Nutzer:innen – das ist ja gerade der Sinn der Einteilung in Kohorten.
240 C. Heß und R. Kneuper
Im Gegenteil besteht mit FLoC nicht einmal mehr die Möglichkeit, dass eine Webpräsenz
auf das Tracking ihrer Nutzer:innen verzichtet, da auch Besuche dieser Webpräsenz in der
Browser-Historie protokolliert sind und damit in die Berechnung der Kohorten-ID eingehen.
Formuliertes Ziel des FLoC-Ansatzes ist eine Anonymisierung der personenbezogenen
Daten. Da die Nutzer:innen innerhalb einer Kohorte nicht unterscheidbar sind, spricht man
hier von k-Anonymität der Daten, wobei die Zahl k der Mitgliederzahl der kleinsten Kohorte
entspricht (Kneuper, 2021, Kap. 6.5.3). Dieser Ansatz der k-Anonymität hat allerdings eine
Reihe bekannter Schwächen. Insbesondere kann man in manchen Fällen immer noch einige
(möglicherweise sensible) Attribute einer Person ableiten, auch ohne die einzelne Person
identifizieren zu können, und genau das ist auch bei FLoC der Fall. Das gilt ggf. auch für
Daten, die im Sinne von Art. 9 DSGVO als besonders schützenswert gelten, beispielsweise
weil die Person regelmäßig Seiten von Selbsthilfegruppen zu einer bestimmten Krankheit
besucht. Es gibt daher eine Reihe von Erweiterungen des Konzeptes der k-Anonymität,
die die genannten Probleme adressieren (z. B. l-Diversität, t-Closeness), und (Medina et
al., o. J.) beschreibt, wie t-Closeness für als sensitiv bewertete Daten in FLoC genutzt werden
soll.
Bei der Beurteilung des erforderlichen Grades der Anonymität ist zu beachten, dass die
Kohorten-ID nicht nur beeinflussen kann, welche Werbung angezeigt wird, sondern mög-
licherweise weit darüber hinaus geht. Was passiert beispielsweise, wenn die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Kohorte den regelmäßigen Besuch von Seiten einer Selbsthilfegruppe
zu einer schweren Krankheit signalisiert, und der Nutzer oder die Nutzerin dann eine Ver-
sicherung abschließen will?
Ein wesentlicher Vorteil von FLoC gegenüber der aktuellen Situation ist, dass die oft
als nervig bewertete Frage nach einer Einwilligung in die Nutzung von Cookies entfällt.
Bei genauerem Hinsehen ist dies allerdings zweischneidig: Das Tracking der Nutzer:innen
findet in etwas anderer Form weiterhin statt, aber es ist nicht mehr so sichtbar wie es derzeit
aufgrund der expliziten Einwilligung der Fall ist.
Eine wichtige Eigenschaft von FLoC ist, dass mit der Kohorten-ID eine zusätzliche
Information an die Werbetreibenden geliefert wird, die das Fingerprinting voraussichtlich
deutlich erleichtern wird. Mit Hilfe der Kohorten-ID ist die Wiedererkennung nur noch
innerhalb einer Kohorte erforderlich und nicht mehr innerhalb der Gesamtmenge aller Inter-
netnutzer:innen.
Eine ausführlichere Beschreibung dieser Datenschutz-Herausforderungen von FLoC ist
beispielsweise in (Cyphers, 2021) zu finden.
Google damit zum Gatekeeper der Nutzerdaten werde. Dadurch kann letztlich im Chrome-
Browser verhindert werden, Werbung unabhängig von Google zu schalten. Aufgrund der
Marktmacht von Google ist außerdem zu befürchten, dass Werbeanzeigen für Werbetrei-
bende teurer werden.
Die Ergebnisse aus den Pilotversuchen lassen zudem zweifeln, ob und inwieweit FLoC es
ermöglichen wird, Werbung in der Qualität zu schalten, wie es auf Basis von Drittanbieter-
Cookies heute möglich ist (Rouzaud, 2021a, 2021b). Laut Google erreicht Werbung mit
FLoC 95 % der Effizienz von Werbeanzeigen basierend auf Drittanbieter-Cookies (Bindra,
2021). Allerdings hat Google die zugrundeliegende Studie nicht veröffentlicht.
Verschiedene Studien beschäftigen sich damit, wie sich die Marketing-Branche generell
auf den Wegfall der Drittanbieter-Cookies vorbereitet. Laut der Studie „Online-Werbung
in der Post-Cookie-Ära“ 4 ist zu erwarten, dass zukünftig mehrere Technologien kombi-
niert werden, wobei Kontext-basierte Anzeigen (s. Abschn. 14.2.2) neben den Ansätzen
der Privacy Sandbox eine wichtige Rolle spielen werden (Vonwerschpartner, Organisation
Werbungtreibende im Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirtschaft
(BVDW), 2020, S. 2). Auch die Studie „Digital Dialog Insights 2021“, die United Internet
Media zusammen mit der Hochschule der Medien in Stuttgart durchgeführt hat, prognos-
tiziert eine Comeback der Kontext-basierten Anzeigen und betont, dass diese heute durch
den Einsatz des Maschinellen Lernens deutlich leistungsfähiger seien als früher (Eichsteller
& Seitz, 2021, S. 35). Auch alternative IDs wie Universal IDs (s. Abschn. 14.2.2) werden
zukünftig eine wichtige Rolle spielen (Eichsteller & Seitz, 2021; Dutton, 2020).
Ähnlich wie Werbetreibende werden auch Ad Exchanges, die zwischen den Werbetreibenden
und den Betreibern von Webpräsenzen vermitteln, stark von Googles Plänen zum Wegfall
von Drittanbieter-Cookies betroffen sein. (Vonwerschpartner, Organisation Werbungtrei-
bende im Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirtschaft (BVDW),
2020, S. 2) sieht Konzerne wie Google, Amazon oder Facebook als Gewinner. Durch die
von ihnen betriebenen Plattformen und Dienste haben sie weiterhin direkten Zugang zu
den Daten der bei ihnen angemeldeten Nutzer:innen und können auf dieser Basis geeignete
Werbung auswählen. Damit können sie sich von anderen Ad Exchanges, die keinen leichten
Zugang zu diesen Daten haben, abheben und somit ihre Monopolstellung weiter ausbauen.
Um im Konkurrenzkampf mit Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook und Apple
nicht überflüssig zu werden, sehen Ad Exchanges, aber auch Werbetreibende, es als notwen-
dig an, dass branchenweit akzeptierte Marktstandards entwickelt werden, insbesondere für
den Datenaustausch, die Durchführung von Bewertungen, sowie für das Matching zwischen
den Betreibern von Webpräsenzen und den Werbetreibenden (Vonwerschpartner, Organisa-
4 Die Studie wurde 2020 von der Organisation Werbungtreibende im Markenverband (OWM) und
dem Bundesverband der Digitalen Wirtschaft (BVDW) in Auftrag gegeben und vom Beratungsun-
ternehmen vonwerschpartner Digital Strategies durchgeführt.
242 C. Heß und R. Kneuper
FLoC wie derzeit konzipiert funktioniert nur dann, wenn der Browser diese Funktion unter-
stützt. Schwierig abzuschätzen ist daher aktuell, welche Auswirkungen FLoC auf andere
Browser-Anbieter haben wird. Google hält mit den verschiedenen Chrome-Versionen der-
zeit mehr als die Hälfte des Browser-Marktes (StatCounter, 2021) und es erscheint kaum
vorstellbar, dass Google ohne Not auf zielgerichtete Werbung bei den Nutzer:innen anderer
Browser, also fast der Hälfte seines Werbemarktes, verzichtet. Derzeit erscheinen folgende
Szenarien vorstellbar:
Hier bleibt also abzuwarten, wie Google mit dieser Herausforderung umgehen wird, bevor
die Auswirkungen von FLoC auf die anderen Browser-Anbieter abgeschätzt werden können.
Im Januar 2022 kündigte Google an, auf Basis der Erfahrungen und des Feedbacks zu FLoC,
diesen Ansatz für zielgruppenorientierte Werbung durch einen neuen Ansatz zu ersetzen,
nämlich Topics (Goel, 2022).
14.5.1 Funktionsweise
Grundlage für diesen neuen Ansatz sind sogenannte Topics, wie zum Beispiel „Fitness“
oder „Reisen“ (Goel, 2022). Für diese Topics soll es eine kuratierte, öffentlich einsehbare
Liste geben. Indem diese Taxonomie von Menschen gepflegt wird, soll sichergestellt wer-
den, dass sie keine sensiblen Kategorien enthält, wie z. B. in Bezug auf Geschlecht oder
Herkunft. Diese Topics werden genutzt, um Webpräsenzen mit einem Label zu versehen.
Beispielsweise kann eine Webpräsenz über Yoga mit „Fitness“gelabelt werden. (Dutton,
2022) erwartet, dass diese Liste zukünftig zwischen wenigen hundert bis wenigen tausend
Topics enthalten wird.
Basierend auf den von einem Nutzer oder einer Nutzerin besuchten Webpräsenzen und
ihren Topics können die für diese Person relevantesten Topics bestimmt werden. Dies erfolgt
direkt im Browser. Daten über das Surfverhalten müssen dabei nicht mit Google geteilt wer-
den. Die Liste der für einen Nutzer bzw. eine Nutzerin wichtigsten Topics wird regelmäßig
aktualisiert und alte Topics werden nach wenigen Wochen gelöscht, damit diese tatsächlich
die aktuellen Interessen dieser Person widerspiegeln.
Besucht eine Person nun eine Webpräsenz, die an diesem Ansatz teilnimmt, so werden
drei der aktuellen Topics der Person mit dieser Webpräsenz und den Werbepartnern geteilt.
Auf Basis dieser geteilten Topics kann dann zielgruppenorientierte Werbung geschaltet wer-
den, ohne dass Informationen über bisher besuchte Webpräsenzen weitergegeben werden.
244 C. Heß und R. Kneuper
Das Topics API adressiert eine Reihe der an FLoC geäußerten Kritikpunkte (Dutton, 2022),
zumindest der Kritikpunkte, die sich auf den Datenschutz und die Sicht der Internetnut-
zer:innen bezogen. Die wettbewerbsrechtlichen Kritikpunkte aus Sicht der Werbetreibenden
sowie der Wettbewerber von Google dagegen treffen im Wesentlichen unverändert weiter
zu.
Soweit das derzeit, kurz nach Veröffentlichung des neuen Konzeptes der Topics, erkenn-
bar ist, werden mit Topics kaum Daten über die Internetnutzer:innen außerhalb des Browsers
gesammelt. Selbst wenn ein Werbetreibender oder eine Ad Exchange zusätzlich zum Einsatz
von Topics noch andere Werkzeuge zum Tracking verwendet, beispielsweise Fingerprinting,
liefert Topics wenig Zusatzinformationen.
Anders sieht es aus wettbewerbsrechtlicher Sicht aus. Auch Topics wird, wenn es erfolg-
reich ist, das Monopol von Google auf dem Markt der Online-Werbung weiter ausbauen,
evtl. auch auf dem Markt der Internet-Browser.
Abzuwarten bleibt, inwieweit sich mit Topics die Wirksamkeit von Online-Werbung ver-
ändern wird. Da weniger Informationen über die Internetnutzer:innen vorliegen, kann die
Werbung nicht mehr ganz so zielgenau platziert werden. Die Tendenz im Online-Marketing
ging bislang dahin, die Internetnutzer:innen in immer kleinere Gruppen einzuteilen, mit
einem „Segment of One“ als Idealvorstellung. Bereits mit FLoC ging Google dahin, wieder
etwas größere Gruppen zu bilden, um die Kritik an dieser Tendenz aus Sicht des Datenschut-
zes und der Internetnutzer:innen aufzugreifen. Mit Topics geht Google noch einen Schritt
weiter und ordnet Internetnutzer:innen nicht mehr einer stabilen Gruppen zu, sondern stellt
den Werbetreibenden nur noch eine wechselnde Auswahl der wichtigsten Interessen der
Internetnutzer:innen bereit. Andererseits sind für das Online-Marketing gerade die Interes-
sen der Internetnutzer:innen von Bedeutung, so dass die Wirksamkeit der Online-Werbung
möglicherweise nicht unter diesem neuen Ansatz leidet.
Apple hat mit dem iOS. 14.5 im April 2021 das App Tracking Transparency Framework
(ATF) veröffentlicht. Neu ist damit, dass der sog. „identifier for advertisers (IDFA)“ nicht
mehr standardmäßig aktiviert ist. Stattdessen müssen Nutzer:innen jeder App explizit erlau-
ben, ihre Aktivität über verschiedene Apps und Webseiten hinweg zu verfolgen (Runge &
Seufert, 2021). Es ist zu erwarten, dass wenige Personen diesen Zugriff auf ihre Daten ertei-
len. Apple präsentiert sich damit als Vorbild hinsichtlich Datenschutz. Allerdings ermöglicht
es Apple auch, seine eigenen Ansätze für zielgerichtete Werbung voranzutreiben (Runge &
Seufert, 2021).
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 245
Google FLoC scheint auf den ersten Blick eine Lösung für die wesentlichen mit nutzer-
zentrierter Werbung über Drittanbieter-Cookies verbundenen Probleme. Auf den zweiten
Blick gibt es mit FLoC aber weiterhin Probleme in Bezug auf den Datenschutz sowie neue
Herausforderungen aus Sicht des Wettbewerbs auf dem Markt der Online-Werbung. Goo-
gle selbst hat die kritischen Rückmeldungen aus den ersten Pilotversuchen zu FLoC ernst
genommen und arbeitet mit dem Topics API bereits an einem neuen Ansatz.
Auch wenn seitens Google noch nicht klar ist, ob das Topics-API letztendlich die
Drittanbieter-Cookies ersetzen wird, so haben Googles Ansätze im Rahmen der Privacy
Sandbox das Potenzial, die Art und Weise, wie online Werbeanzeigen geschaltet werden,
grundsätzlich zu verändern. Dies kann zu weitreichenden Änderungen für alle beteiligten
Akteure – von den Werbetreibenden über die Betreiber von Webseiten und Ad Exchan-
ges – führen. Die Marketing-Branche schaut Google dabei aber nicht tatenlos zu, sondern
arbeitet an verschiedenen Alternativen. Dabei stellt sich auch die Frage, ob es der Branche
gelingen wird, wie in der Studie von (Vonwerschpartner, Organisation Werbungtreibende im
Markenverband (OWM) & Bundesverband der Digitalen Wirtschaft (BVDW), 2020, S. 22)
gefordert, sich auf eine transparente Marktlösung zu einigen – im Gegensatz zu einer von
Google diktierten Lösung.
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Prof. Dr. Claudia Heß ist Professorin für Digitale Transformation an der IU Internationale Hoch-
schule. Neben Lehre und Forschung ist sie auch in der Industrie tätig. Als Beraterin und Projekt-
leiterin unterstützt sie Unternehmen in Digitalisierungsprojekten und begleitet Teams bei der agilen
Entwicklung neuer, digitaler Produkte und Services.
14 Googles neue Ansätze aus der Privacy Sandbox für zielgruppenorientierte … 247
Prof. Dr. Ralf Kneuper ist Professor für Datenschutz und IT-Sicherheit an der IU Internationale
Hochschule im Bereich Fernstudium sowie Fachgebietsleiter IT und Technik. Daneben berät er
Unternehmen zu Softwarequalitätsmanagement, Prozessverbesserung und Datenschutz und ist TÜV-
zertifizierter externer Datenschutzbeauftragter.
Blockchain im Marketing
15
Dietmar Janetzko
Zusammenfassung
Wie lässt sich die Blockchain für Anwendungen im Marketing einsetzen? Welche
Potenziale können darüber für das Marketing erschlossen werden? Zur Beantwortung
dieser Fragen werden mit Kontrolle und Vertrauen zwei intendierte Effekte der Mehr-
zahl von Blockchainanwendungen im Marketing herausgearbeitet. Um erfolgreich
zu sein, ist Marketing im besonderen Maße auf Vertrauen angewiesen. Internationale
Datenskandale und die zeitlos gültige Frage nach der Qualität und auch der Her-
kunft von Produkten strapazieren jedoch das Vertrauen der Konsumenten. Hier setzen
Blockchaintechnologien an. Mit ihrem Einsatz verbindet sich oft das Ziel, das Ver-
trauen der Konsumenten in Produkte und Dienstleistungen zu steigern. Um dies
zu erreichen, sollen Blockchaintechnologien den Konsumenten Transparenz und
Kontrolle über die eigenen Daten ermöglichen. Für eine systematische Betrachtung
der Blockchain im Marketing ist es sinnvoll, neben Vertrauen und Kontrolle auch
zwischen back office und front office Anwendungen zu unterscheiden. Dabei ver-
weist back office auf Blockchaintechnologien, die als Teil der IT-Infrastruktur eines
Unternehmens im Hintergrund laufen. Dagegen steht front office für eine explizite
Positionierung der Blockchain in der Kundenansprache. Auf der Grundlage eines
solchen 2 × 2 Schemas lässt sich ein großer Teil der rasch zunehmenden Nutzungs-
konzepte der Blockchain im Marketing einordnen und untersuchen.
D. Janetzko (*)
Cologne Business School, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 249
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_15
250 D. Janetzko
15.1 Einleitung
Neue Tendenzen im Marketing machen nicht selten mit einer Flut neuer Wörter auf
sich aufmerksam. Mit Begriffen wie virtuelle Mode, Grundstücke etc., virtuellem
Merchandising, NFT-Economy, data sharing, Metaverse, token gating, Web3 und
selbstverständlich Blockchain deutet sich gegenwärtig eine solche Neuerung an. Ihr
inhaltliches Zentrum ist eine Technologie, die eine Aura von digitalem Fortschritt und
radikalen Umwälzungen umweht – die Blockchain. Konzipiert im Zusammenhang mit
der ersten Kryptowährung Bitcoin (Nakamoto, 2008), stellt eine Blockchain eine ver-
teilte und fälschungssichere Datenbank dar, die Kontrolle bzw. Verifikationen über eine
Abstimmung von Gleichrangigen in einen Computernetz (peer to peer) ermöglicht und
damit Vertrauen schafft. Dabei handelt es sich um eine disintermediatisierte Kontrolle.
Sie kommt ohne klassische Intermediäre wie z. B. Banken aus und setzt stattdessen bei
der Kontrolle von Manipulationen auf eine Community. Zwei zentrale Merkmale bzw.
intendierte Effekte beim Einsatz von Blockchaintechnologien in digitalen Settings
wie dem Internet sind damit benannt: Kontrolle und Vertrauen. Fragen der Kontrolle
und des Vertrauens stellen sich nahezu überall und vor allem in anonymen digitalen
Settings. Sie sind es, die die Blockchaintechnologien zu weit mehr als nur einen Ansatz
der Informationsverarbeitung für Kryptowährungen machen. Zugleich drängt sich eine
ergänzende Unterscheidung auf – die von back office und front office: Back office ver-
weist auf Blockchainanwendungen, die vor allem die IT-Infrastruktur prägen. Front
office steht für eine zentrale und explizite Positionierung der Blockchain in der Kunden-
ansprache. Back office und front office ist keine Frage von Entweder-Oder, sondern steht
für Schwerpunkte, die Blockchain für das Marketing zu nutzen (Tab. 15.1).
Kaum jemand zweifelt, dass die Blockchain auch für Marketing eine vielversprechende
Technologie darstellt. Aber welche Konzepte und Geschäftsmodelle hier leitend
sein können, beginnt sich erst in den letzten Jahren abzuzeichnen. Während sich im
WWW dazu zahlreiche euphorische Beiträge mit zumeist visionärem Charakter finden
(z. B. Lieberman, 2020), sind es nur wenige wissenschaftliche Beiträge, die sich der
Blockchain im Marketing widmen. Doch leider sind auch diese in der Substanz oft ent-
täuschend. Nicht selten beschränken sie sich darauf, wortreich den Mangel an Studien
zu beklagen oder allgemeine Hintergründe zu Blockchaintechnologien zu wiederholen
(Gleim & Stevens, 2021, Harvey et al., 2018). Andere Studien artikulieren im wesent-
lichen Wunschvorstellungen, z. B. dass der Einsatz der Blockchain die Vorherrschaft
von Facebook und Google beim digitalen Marketing brechen werde, ohne dass dazu
Fakten angeboten werden, die dies plausibel erscheinen ließen (Harvey et al., 2018).
Ein anderer Ansatz ist in den Arbeiten von John Daley (Daley, 2019, 2021) zu erkennen.
Seine Arbeiten diskutieren konkrete Blockchainanwendungen im Marketing wie z. B. die
Bekämpfung des Anzeigenbetrugs und die Nutzung von Blockchains bei Kundentreue-
programmen. Einen solchen, an Beispielen ausgerichteten Bottom-Up-Ansatz verfolgt
auch der vorliegende Beitrag.
Der Übertragung von Daten in offenen Netzwerken ist in aller Regel mit Chancen (z. B.
Transparenz, Kommunikation, Vertrauen, Kontrollmöglichkeiten), aber auch Risiken
(z. B. Missbrauch, Fälschung) verbunden. Es ist kein Zufall, dass eine solche Mischung
an die Blockchain denken lässt, denn ähnliche Chancen und Risiken gaben den Anstoß,
die Blockchaintechnologie zu entwickeln. Angepasst an die Spezifika unterschiedlicher
Einsatzgebiete, kann die Blockchain bedeutsame Beiträge leisten, um die Risiken von
Datentransfers zu senken und deren Chancen zu verbessern. Im Marketing stellt sich die
Situation z.Z. so dar, dass Blockchaintechnologien keineswegs in der Breite ausgerollt
werden. Vielmehr kommen sie bevorzugt bei einzelnen Anwendungen zum Einsatz, die
sich zumeist auf Aspekte der Kontrolle und des Vertrauens im Marketing richten.
15.4.1 Airdrop
Ein Airdrop ist eine Promotionsmaßnahme in der Welt der Kryptowährungen bzw. NFTs.
Dabei werden den Wallets von möglichen Interessenten ungefragt kostenlos neue Tokens
überwiesen, um diese zu bewerben. Es gibt Krypto- und NFT-Airdrops. Oft bestehen
Krypto-Airdrops darin, den Governance-Token des Projekts zu verschenken. Ein solches
252 D. Janetzko
Token gibt den Inhabern das Recht, über zukünftige Entwicklungen des Projekts abzu-
stimmen. Bei NFT-Airdrops werden ebenfalls Governance-Tokens oder aber NFTs ver-
schenkt. Der Wert von Airdrops variiert, liegt aber zumeist im einstelligen Euro-Bereich
(Vasile & Kons, 2022).
15.4.2 Blockchain
Eine Blockchain ist eine verteilte, und von einer Community von Nutzern (z. B. von
Bitcoin) gemeinsam verwaltete und in Blöcke gegliederten Datenbank, die in zahlreichen
identischen und schwer manipulierbaren Kopien auf Servern eben dieser Community
vorhanden ist. Jeder einzelne Block speichert Daten, zu denen im Wesentlichen geprüfte
Transaktionen der Vergangenheit zählen. Sämtliche Informationen eines Blocks werden
über eine eindeutige Folge von Zahlen und Buchstaben (Block-Hash) ausgedrückt. Mit
Ausnahme des ersten Blocks einer Blockchain schließen solche Informationen auch den
Block-Hash des jeweils vorausgegangen Blocks ein (Abb. 15.1).
Der erste Block einer Blockchain heißt Genesis Block. Bevor ein neuer Block einer
existierenden Blockchain hinzugefügt wird, werden die Transaktionen geprüft. Die
meisten Blockchains (z. B. Bitcoin) verlangen zudem, dass ein sehr rechenintensives
Problem gelöst wird. Wer dieses Problem löst, muss dazu außerordentlich viel Elektrizi-
tät aufwenden, wird jedoch im Gegenzug mit einer großzügigen Ausschüttung der
jeweiligen Kryptowährung belohnt. Die aus solchen Blöcken bestehende Blockchain
wird auf allen Rechnern gespeichert, die an der jeweiligen Blockchain teilnehmen. Die
vielfache Speicherung der Blockchain in Kombination mit den per Hash ausgedrückten
Informationen sorgt für eine weitgehende Absicherung gegenüber Manipulationen der
gespeicherten Informationen. Potenzielle Fälscher müssten Fälschungen so anlegen, dass
diese ab dem Zeitpunkt der Fälschung bis in die Gegenwart fortgeschrieben werden.
Zudem müssten auch die Kopien der Blockchain auf anderen Rechnern entsprechend
15 Blockchain im Marketing 253
manipuliert werden. Das alles wäre mit enormem Rechenaufwand verbunden, den
gegenwärtige Computer kaum zu leisten vermögen. Bei neuartigen Computern (z. B.
Quantencomputern) wird eine Manipulation von Blockchains allerdings nicht aus-
geschlossen.
15.4.3 Hash
Kryptographisches Hashing ist die Bezeichnung für eine Reihe von Methoden der Ver-
schlüsselung, die bei der Konstruktion von Blockchains, aber auch in vielen anderen
Bereichen eine wichtige Rolle spielen. Mit einer Hash-Funktion lässt sich jede beliebige
Zeichenmenge in eine eindeutige Folge von Zahlen und Buchstaben definierter Länge
umwandeln. Während also die Eingabe beliebig umfangreich sein kann und auch die
leere Menge einschließen kann, ist die Ausgabe – der Hash bzw. Hash-Wert – immer
gleich lang. Es gibt verschiedene Hash-Algorithmen. Bitcoin etwa verwendet SHA-256.1
Bitcoin → b4056df6691f8dc72e56302ddad345d65fead3ead9299609a826e2344eb6
3aa4
Ein willkommener Nebeneffekt beim Hashing ist, dass der Hash-Wert in der Regel
weit weniger speicherintensiv ist als der Eingabewert. Hash-Funktionen sind Einweg-
funktion, d. h., es ist nahezu unmöglich, aus dem Hash-Wert den ursprünglichen Ein-
gabewert zu rekonstruieren. Typischerweise kommen Hash-Funktionen zum Einsatz,
wenn ermittelt werden soll, ob eine Menge von Zeichen (z. B. eine Datei oder auch
Blöcke in einer Blockchain) infolge von Übertragungsfehlern oder auch durch eine
Manipulation verändert wurde. Der Hash-Wert dient dann als Prüfsumme. Im Kontext
von Kryptowährungen ist Hashing eines von mehreren sich ergänzenden Verfahren,
mögliche Manipulationen der Blockchain zu ermitteln bzw. zu vereiteln. Dazu werden
Hashes einzelner Transaktionen, aber auch ganzer Transaktionsblöcke erzeugt. Selbst bei
einer geringfügigen Änderung entspricht der Hash einer Transaktion oder eines Blocks
von Transaktionen nicht mehr dem original Hash, wie er auf zahlreichen Servern hinter-
legt ist. Bei der Hash-Bildung pro Block (Block-Hash) wird jeweils auch der Block-Hash
des vorausgegangenen Blocks einbezogen. Das hat den durchaus erwünschten Effekt,
dass eine Manipulation eines beliebigen Blocks in der Vergangenheit auch die Hashes
aller zeitlich nachfolgenden Blöcke verändern würde. Im Kern besteht eine Blockchain
zu einem großen Teil aus Hash-Werten. Diese liegt in vielfacher Kopie auf jedem Server
(node), der aktiv an der Blockchain teilnimmt. Eine Manipulation auf einem oder auch
mehreren Servern würde wegen der Differenz zu den Hash-Werten bei der Mehrzahl der
1 SHA seht für secure hashing algorithm. Die Zahl 256 drückt aus, dass der resultierende Hash-
Wert eine Länge von 256 Bit hat, der letztlich über 64 Zeichen dargestellt wird. Bei Bitcoin
werden Transaktionen mittels SHA-256 verschlüsselt. Der resultierende Hash-Wert wird dann
erneut mit SHA-256 verschlüsselt.
254 D. Janetzko
anderen Server sofort auffallen. Nur wenn es einem Angreifer gelingt, mindestens 51 %
der Server unter seine Kontrolle zu bringen, wäre eine Manipulation der Blockchain
möglich.
15.4.4 Hash
Kryptographisches Hashing ist die Bezeichnung für eine Reihe von Methoden der Ver-
schlüsselung, die bei der Konstruktion von Blockchains, aber auch in vielen anderen
Bereichen eine wichtige Rolle spielen. Mit einer Hash-Funktion lässt sich jede beliebige
Zeichenmenge in eine eindeutige Folge von Zahlen und Buchstaben definierter Länge
umwandeln. Während also die Eingabe beliebig umfangreich sein kann und auch die
leere Menge einschließen kann, ist die Ausgabe – der Hash bzw. Hash-Wert – immer
gleich lang. Es gibt verschiedene Hash-Algorithmen. Bitcoin etwa verwendet SHA-2561.
Bitcoin → b4056df6691f8dc72e56302ddad345d65fead3ead9299609a826e2344eb6
3aa4
Ein willkommener Nebeneffekt beim Hashing ist, dass der Hash-Wert in der Regel
weit weniger speicherintensiv ist als der Eingabewert. Hash-Funktionen sind Einweg-
funktion, d. h., es ist nahezu unmöglich, aus dem Hash-Wert den ursprünglichen Ein-
gabewert zu rekonstruieren. Typischerweise kommen Hash-Funktionen zum Einsatz,
wenn ermittelt werden soll, ob eine Menge von Zeichen (z. B. eine Datei oder auch
Blöcke in einer Blockchain) infolge von Übertragungsfehlern oder auch durch eine
Manipulation verändert wurde. Der Hash-Wert dient dann als Prüfsumme. Im Kontext
von Kryptowährungen ist Hashing eines von mehren sich ergänzenden Verfahren, mög-
liche Manipulationen der Blockchain zu identifizieren. Dazu werden Hashes einzelner
Transaktionen, aber auch ganzer Transaktionsblöcke erzeugt. Selbst bei einer gering-
fügigen Änderung entspricht der Hash einer Transaktion oder eines Blocks von Trans-
aktionen nicht mehr dem original Hash, wie er auf zahlreichen Servern hinterlegt ist.
Bei der Hash-Bildung pro Block (Block-Hash) wird jeweils auch der Block-Hash des
vorausgegangenen Blocks einbezogen. Das hat den durchaus erwünschten Effekt, dass
eine Manipulation eines beliebigen Blocks in der Vergangenheit auch die Hashes aller
zeitlich nachfolgenden Blöcke verändern würde. Im Kern besteht eine Blockchain zu
einem großen Teil aus Hash-Werten. Diese liegt in vielfacher Kopie auf jedem Server
(node), der aktiv an der Blockchain teilnimmt. Eine Manipulation auf einem oder auch
mehreren Servern würde wegen der Differenz zu den Hash-Werten bei der Mehrzahl der
anderen Server sofort auffallen. Nur wenn es einem Angreifer gelingt, mindestens 51 %
der Server unter seine Kontrolle zu bringen, wäre eine Manipulation der Blockchain
möglich.
15 Blockchain im Marketing 255
15.4.5 Kryptographie
Kryptographie ist die Bezeichnung für eine Reihe von Methoden, die der Ver-
schlüsselung bzw. Entschlüsselung von Informationen dienen. Dazu werden üblicher-
weise Verfahren der public-key-Verschlüsselung herangezogen, die auch bei der
Mehrzahl von Blockchains zum Einsatz kommen. Zu den Vorzügen dieser Ver-
schlüsselungsverfahren zählt, dass sie sichere Transaktionen unter Fremden ermög-
lichen. Eine public-key-Verschlüsselung beruht auf zwei Schlüsseln: privater sowie
öffentlicher Schlüssel. Allerdings muss man im Zusammenhang von Kryptowährungen
noch weitere konzeptuelle Bausteine betrachten, die für den Kauf-, Verkauf sowie die
Verwaltung von Kryptowährungen relevant sind: Zur Verwaltung von Kryptowährungen
in Wallets wird der private Schlüssel typischerweise über eine sogenannte mnemonische
Phrase bzw. seed oder recovery phrase erzeugt. Damit ist eine zusammenhangslose
Liste von zumeist 12 oder 24 Wörtern gemeint, die als Rekonstruktionshilfe für den
privaten Schlüssel dient. Der private Schlüssel ist erforderlich, um auf ein Guthaben an
Kryptowährungen zugreifen zu können. Z. B., um eigene Bitcoin auszugeben. Er muss
daher sicher verwahrt werden, beispielsweise in einer Wallet. Der private Schlüssel dient
ferner dazu, über Hashing einen korrespondierenden öffentlichen Schlüssel zu erzeugen.
Die Hash-Version des öffentlichen Schlüssels ist die kryptographische Adresse.
Sie ist im Zusammenhang von Bitcoin als Bitcoin-Adresse bekannt und wird oft einer
Kontonummer oder IBAN verglichen. Da sie öffentlich ist, kann jede Person Krypto-
währungen an diese Adresse schicken.2 Der geschilderte Zusammenhang konzeptueller
Bausteine lässt sich über folgende Sequenz vereinfacht zusammenfassen: mnemonische
Phrase → privater Schlüssel → öffentlicher Schlüssel → kryptographische Adresse. Dabei
steht jeder → für Hashing und oft noch weitere Verarbeitungsschritte.
15.4.6 Metaverse
“Metaverse” ist ein Begriff, der 1992 vom amerikanischen Schriftsteller Neal
Stephenson in seinem Roman Snow Crash geprägt wurde. Im Kern geht es um eine
Erweiterung des Internet um die physikalische Welt und anderer virtueller Welten v. a.
Gaming und Virtuelle Realität. Die Vorstellungen von Neal Stephenson wurden rasch
von führenden Vertretern der Internet-Wirtschaft aufgegriffen. Dazu zählt unter anderem
Tim Sweeney von Epic Games, der im Metaverse eine evolutionäre Weiterentwicklung
des Internet sieht, in der kommuniziert werden kann, aber in der auch mit Marken und
Produkten Erfahrungen gesammelt werden können (Park, 2021). Klassische Formen
der Internet-Werbung über Banner sieht Sweeney dagegen als Auslaufmodell an. Dass
2 ImFrühjahr 2022 hat beispielsweise die Ukraine solche Adressen veröffentlicht, um darüber
Spenden von Kryptowährungen zu erlangen.
256 D. Janetzko
Facebook im Oktober 2021 in “Meta” umbenannt wurde, dürfte von den Vorstellungen
von Neal Stephenson inspiriert worden sein. Etwa zu gleichen Zeit macht Microsoft mit
Billionen schweren Übernahmen von Gaming-Firmen auf sich aufmerksam, was Markt-
beobachter ebenfalls als klares Zeichen für ein Engagement in Richtung Metaverse
werten (Bary, 2022). Seit 2019 nimmt das Metaverse konkrete Formen in der Produkt-
entwicklung und im Marketing global agierender Unternehmen an. In der ersten Welle
eines zumeist kapitalintensiven Firmenengagements sind es vor allem Luxus-Marken,
die ihre jeweilige Version des Metaverse sowohl als Absatzkanal wie auch als Laufsteg
für digitale Veblen-Güter (Veblen, 2019) identifiziert haben. Zu solchen Marken zählen
u. a. Balenciaga, Burberry, Dolce & Gabbana, Gucci, Louis Vuitton, Ralph Lauren und
Rolex. Aber auch Zara, Adidas oder Nike engagieren sich mit ihrer jeweiligen Version
des Metaverse, die sie gezielt für ihr Branding einsetzen. Auffällig ist die Verbindung
von Metaversen und NFTs für Grundstücke, Häuser, Autos, Mode, Schmuck, Schuhe,
Autos sowie andere Veblen-Güter. Diese sind so konzipiert, dass sie in einem Meta-
verse zum Einsatz kommen, z. B. indem NFT-Schmuck von Avataren getragen wird. Die
Betonung liegt hier auf dem unbestimmten Artikel, einem Metaverse. Denn bislang gibt
es lediglich eine Reihe unverbundener Metaversen, deren Zugang oft über token gating
kontrolliert wird.
15 Blockchain im Marketing 257
Bevor non-fungible tokens (NFT) vorgestellt werden, ist zunächst der Begriff Token zu
erläutern. Tokens sind Wertmarken, über die sich Eigentums-, Zugangs-, oder Nutzungs-
rechte von Produkten, Dienstleistungen und Wertpapieren digital abbilden lassen
(Bruehl, 2021). Die Verknüpfung von Vermögenswerten (z. B. Immobilien, Kunstwerke,
Wertpapiere) einschließlich Pflichte und Rechte mit einem Token wird als Tokenisierung
bezeichnet. Eine in letzter Zeit außerordentlich populäre Form von Tokenisierung erfolgt
im Zusammenhang mit non-fungible tokens (NFT, Abb. 15.2.).
NFTs sind 2018 aus einer Weiterentwicklung des Ethereum Standards (ERC-20)3
hervorgegangen und wurden in ihren technischen Details im Standard ERC-721 nieder-
gelegt (ERC721, 2018). Während in sogenannten fungiblen Währungen wie US-Dollar,
Euro, Yen, aber auch Bitcoin, jede Wertmarke eigenschaftsgleich und somit austausch-
bar ist, gilt dies für non fungible Wertmarken (Tokens) nicht. Hier ist jede Wertmarke
individuell, womit auch die Wertgleichheit von Tokens in der Regel entfällt. NFTs
lassen sich indirekt mit Dateien wie z. B. Text- Grafik- oder Sounddateien assoziieren.
Solche Dateien werden jedoch in der Regel nicht direkt auf der Blockchain (on-chain)
gespeichert. Stattdessen wird hier ein Link der fraglichen Datei, ihr Hash oder auch Hash
der Metadaten dieser Datei on-chain interlegt.
Bei der Vermarktung von NFTs wird gegenwärtig eine Reihe neuer Konzepte erprobt.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang zum einen Ansätze, Mehrwerte für
NFTs zu generieren: Als Profilfoto (Avatar) genutzt, verhelfen NFTs ihren Besitzern
dazu, sich von anderen abzuheben. Solche Distinktionsgewinne lassen sich am ehesten
mit NFTs aus populären NFT-Serien wie Bored Apes Yacht Club oder CryptoPunks
erzielen. Für NFTs aus solchen Serien werden auf Auktionen bis zu achtstellige Dollar-
summen gezahlt. Hinzu kommt, dass mit dem Erwerb solcher NFTs oft der Zugang
zu exklusiven Chat-Communities verbunden ist (token gating). NFTs werden mit-
hin über mehrere, sich teils überlappende bzw. ergänzende Mechanismen in die Welt
moderner Luxusgüter eingebracht: Dazu zählen der Fokus auf digitale Veblen-Güter,
die Generierung von Distinktionsgewinnen sowie token gating. Neben der Mehrwert-
generierung besteht ein alternatives Vermarktungskonzept darin, eine Abbildung (z. B.
eines Kunstwerks) über eine große Zahl von NFTs zu repräsentieren (Mattei, 2021) Das
US Unternehmen Particle hat Banskys Bild Love is in the Air für 12.9 Million US-Dollar
ersteigert, dann über 10.000 NFTs abgebildet und diese wiederum einzeln versteigert.
Solche fraktionalen NFTs sind eher erschwinglich und können dennoch an den meisten
der üblichen online Marktplätze für NFTs (z. B. OpenSea) gehandelt werden. Über die
moderne Kunst hinausgehend wird die Vermarktung von Bildmaterialien über fraktionale
NFTs gegenwärtig auch bei Filmen und TV-Shows erprobt.
3 Das Kürzel ERC steht Ethereum Request for Comments. ERC spezifizieren technische Standards,
die für Programmierer von Anwendungen der Kryptowährung Ethereum verbindlich sind.
258 D. Janetzko
Als Smart Contract wird ein selbstausführendes Programm auf einer Blockchain
bezeichnet, das einer Wenn-Dann-Logik folgt: Wenn eine digital spezifizierbare
Bedingung (z. B. Wertsteigerung oder Wertverlust einer Immobilie) erfüllt ist, erfolgt
eine vorab vereinbarte Aktion (z. B. Anheben oder Senken der Miete). Der Smart
Contract sorgt dafür, dass eine zuvor zwischen den Vertragspartnern getroffene Ver-
einbarung direkt mit der vorgesehenen Aktion umgesetzt wird. Der Einsatz von
Smart Contracts kann Transaktionskosten senken – allerdings kostet die Aktivierung
(Deployment) selbst eines einfachen Smart Contracts z.Z. mindestens 500 $. Nach
dem Deployment eines Smart Contracts kann dieser nicht mehr geändert werden. Heute
gibt es eine Reihe von Blockchains, die Smart Contracts unterstützen, indem sie solche
intelligenten Verträge repräsentieren und ausführen. Smart Contracts erlauben Ver-
kettungen und werden für zahlreiche anspruchsvolle Blockchainanwendungen benötigt.
Beispielsweise kommen Smart Contracts beim Kauf und Weiterverkauf von NFTs zum
Einsatz. Wer als Besitzer eines NFTs gilt, wird ebenfalls über eine Wenn-Dann Logik
ausgedrückt, die von einem smart contract umgesetzt wird: Wenn ein Benutzer sich mit
einer Wallet einer bestimmten Kennung ausweisen kann, dann ist dieser Besitzer dieser
Wallet auch Besitzer eines bestimmten NFT.
Obwohl mehr als eine Dekade vergangen ist, seitdem Satoshi Nakamoto in 2008 die
Blockchaintechnologie eingeführt hatte, gibt es im Marketing bislang nur wenige
konkrete Anwendungsbeispiele. Unübersehbar ist allerdings, dass deren Zahl wächst.
Bevor eine Auswahl davon vorgestellt wird, sollen zunächst allgemeine Aspekte zum
gegenwärtigen Stand von Anwendungen der Blockchain im Marketing vorausgeschickt
werden. Gegenwärtige Blockchainanwendungen im Marketing.
15 Blockchain im Marketing 259
4 Auseinandersetzungen rund um Fragen des Eigentums setzen den mit der Blockchain ver-
bundenen Hoffnungen auf Disintermediation Grenzen: Im Streitfall werden zur Klärung von
Eigentumsrechten eben doch zentrale Instanzen (v. a. Gerichte) erforderlich.
260 D. Janetzko
Digitale Werbung hat sich in den letzten Jahren zu einem überaus komplexen System
mit zahlreichen Akteuren entwickelt, das insgesamt oft als advertising supply chain
bezeichnet wird. Werbetreibende (advertiser, z. B. Unternehmen) einerseits und
Plattformbetreiber oder Werbeflächenanbieter (publisher, z. B. populäre Websites)
anderseits nehmen hier eine herausragende Stellung ein. Das primäre Interesse der
Werbetreibenden besteht darin, ihre Anzeigen so platzieren, dass sie von zahlreichen
Personen der Zielgruppe des beworbenen Produktes gesehen werden. An dieser Stelle
kommen publisher ins Spiel. Sie stellen für Anzeigen der Werbetreibenden Werbeflächen
auf Medien (z. B. Websites, soziale Medien, Apps, Smart TV) bereit. Zugleich vermitteln
die Publisher den Werbetreibenden Informationen über die Anzahl und die Besucher
solcher Werbeflächen. Werden Werbetreibende und Publisher sich einig, kommt es
direkt oder über Zwischenhändler5 zu Zahlungen von ersteren an letztere. Die Höhe der
Zahlungen ergibt sich in der Regel aus dem Produkt eines Betrages für den Werbe-
platz und der Anzahl der Sichtkontakte bzw. Aufrufe.
Die Prozesse, die digitale Werbung ermöglichen, laufen in Bruchteilen von
Sekunden automatisiert ab und sind in ihrer Komplexität schwer durchschau-
bar. Solche Bedingungen begünstigen betrügerische Aktivitäten wie den Anzeigen-
betrug (ad fraud). Der Bundesverband digitale Wirtschaft e. V. definiert ad fraud als
“Sammelbegriff für verschiedene Arten unlauterer oder illegaler Manipulationen von
Online- Werbemaßnahmen mit dem Ziel, einen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen”
(Bundesverband digitale Wirtschaft, 2022). Unter den verschiedenen Varianten von
Anzeigenbetrug gilt Clickbetrug (click fraud) als die am häufigsten vorkommenden
Masche, sich Werbeeinnahmen zu erschleichen. Jeder Klick auf eine kommerzielle
Werbefläche löst eine geringe Zahlung der Werbetreibenden an den Plattformbetreiber
für eine unter Umständen nur vorgetäuschte Werbeleistung aus. Eine großen Zahl
betrügerischer Clicks kann z. B. mit Computerprogrammen (“Hitbots”) oder auch durch
Menschen in sogenannten cxlick-farms erfolgen. Beide Methoden führen in der Summe
zu beträchtlichen Zahlungen an die Betrüger.
Transparenz bei den Transaktionen von Werbeflächenangeboten und Zahlungen
(v. a. pay-per-click, pay-per-impression) ist eine zwingende Voraussetzung,
dem digitalen Anzeigenbetrug etwas entgegenzusetzen. Im Prinzip ließen sich mit
Blockchaintechnologien die komplexen Abfolgen digitaler Werbetransaktionen trans-
parent dokumentieren. Wie ist die Umsetzbarkeit eines solchen Vorhabens ein-
zuschätzen? Digitale Werbung operiert im Millisekunden Bereich, während die
Transaktionen der schnellsten Blockchaintechnologien6 mittlerweile weniger als 1
Bereits in Nakomotos white paper (Nakamoto, 2008) war der Verzicht auf Inter-
mediäre bei Transaktionen eine wesentliche Motivation für die Entwicklung der
Blockchaintechnologie. Im Finanzwesen sind solche Intermediäre die Banken. Bei der
262 D. Janetzko
15.5.5 Loyalitätsprogramme
Die Kundenbindung zu stärken gilt als ein wesentliches Ziel des Marketings. Traditionell
werden kartenbasierte Bonusprogramme eingesetzt, um dies zu erreichen. In Deutsch-
land zählen dazu Payback oder Deutschlandcard. Aber natürlich dienen solche und
andere Loyalitätsprogramme auch dazu, Daten über Kunden zu sammeln. Allerdings
stoßen herkömmliche Loyalitätsprogramme an Grenzen. Das trifft auf Firmen wie
auch auf Kunden zu. Unter anderem wegen der unverzichtbaren Sicherstellung des
Datenschutzes ist der organisatorische Aufwand hoch, solche Loyalitätsprogramme
zu betreiben. Für Kunden ist es oft schwierig, eine Übersicht über Transaktionen zu
bewahren.
Vor diesem Hintergrund versprechen blockchainbasierten Loyalitätsprogramme mehr
Funktionen bei gleichzeitig geringerem Aufwand für die Verwaltung und Nutzung. Das
trifft auf Loyalitätsprogramme einzelner Unternehmen wie auch auf die Integration
7 Meineeigene Erfahrung mit Brave sieht anders aus. Als Nutzer von Brave bekommt man über
Push-Benachrichtigungen nahezu ausschließlich Anzeigen aus der Kryptobranche zu sehen.
15 Blockchain im Marketing 263
15.5.6 Datenaustausch
der Zahlungen, die erstere leisten, leitet BitsaboutMe an letztere weiter, behält als Inter-
mediär jedoch einen Teil ein.
Zu den Firmen, die ebenfalls mit einem auf opt-in beruhenden Datenaustausch
mit Kunden arbeiten, zählen die Tributech GmbH aus Österreich und Piprate aus
Irland. Dabei konzentriert sich Tributech unter Wahrung von Datensouveränität und
Datenschutz auf die Entwicklung von allgemein einsetzbaren Technologien zum
Datenaustausch. Piprate entwickelt Anwendungen mit ähnlichem Zuschnitt in der
Versicherungsbranche. Einen branchenunabhängigen, auf Blockchain-Technologien
beruhenden Ansatz zum Datenaustausch unter Berücksichtigung von Datensouveränität
und -schutz sowie Bonifizierung stellen (Shrestha et al., 2020) vor.
15.6 Diskussion
Dass NFTs im Marketing der Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen werden, kann
als sicher gelten. Dafür spricht, dass es bereits vielversprechende Konzepte gibt (z. B.
NFTs mit Mehrwerten auszustatten, fraktionale NFTs, token gaiting, Airdrops), die sich
leicht auf Anwendungen im Marketing übertragen lassen. Aber es sind nicht nur NFTs,
die dem Marketing neue Impulse geben. Auch andere Blockchainanwendungen haben
bereits eine Reihe innovativer Pilotanwendungen im Marketing inspiriert, die Vertrauens-
bildung und Kontrolle im Marketing unterstützen. Es ist abzusehen, dass eine Reihe
solcher Anwendungen sich nicht am Markt durchsetzen werden, während die erfolg-
reichen kopiert werden. Ob das Modell von Disintermediation–Re-Intermediation zu
den Gewinnern dieser Entwicklung zählen wird, bleibt abzuwarten. Dass dieses Modell
in der Regel sehr aktiver Nutzer voraussetzt, die z. B. ihre Einkaufsbelege regelmäßig
scannen und die überdies noch bereit sein sollten, ihre Daten zu teilen, weckt Zweifel ob
dies im Falle des Konsumverhaltens im großen Maßstab gelingen wird. Dennoch wäre
es voreilig, hier pessimistisch zu sein. Bei anderen Produkten oder Dienstleistungen
kann vermutlich eher mit aktiven Nutzern gerechnet werden, was über klassische Markt-
forschung zu ermitteln wäre.
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Prof. Dr. Dr. Dietmar Janetzko ist head of research bei der Stockpulse GmbH in Bonn. Zugleich
ist er der Cologne Business School in Köln assoziiert, wo er bis Mai 2022 Wirtschaftsinformatik,
Statistik und Datenwissenschaft unterrichtet hat.
Digitale Anwendungen in der
touristischen Besucherlenkung – Erhalt 16
und Steigerung der Attraktivität und
Akzeptanz
Zusammenfassung
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 267
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_16
268 F. Wölfle und S. Ens
16.1 Hintergrund
Zu viele Touristen, teilweise überlaufene Städte und Regionen, mehr Touristen als Ein-
heimische, Staus und Belastungen durch hohes Verkehrsaufkommen, negative Aus-
wirkungen auf Natur und Umwelt. All dies sind Phänomene, welche in den letzten
Jahren immer häufiger im Kontext des Tourismus wahrnehmbar waren (Bauer, et al.,
2020, S. 89). Auch wenn die Corona-Pandemie diese Phänomene, oder zumindest deren
öffentliche Wahrnehmung, zu Teilen für unterschiedliche Akteure des Systems Touris-
mus wie unter einem Brennglas zugespitzt hat, existierten sie bereits auch vor der
Pandemie.
Auswirkungen einer hohen Tourismusintensität – Anzahl an touristischen Über-
nachtungen je 100.000 Einwohner – können dabei in positiver als auch in negativer Aus-
richtung die touristische Destination und ihre Einwohner betreffen. Aus ökonomischer
Betrachtungsweise heraus gehen mit einer gesteigerten Tourismusintensität ein
höherer tourismusinduzierter Umsatz und damit eine gesteigerte Wertschöpfung einher
(Schmücker, & Reif, 2021, S. 20). Dies ist sicherlich für viele Akteure in der Destination
mit positiven Aspekten verbunden, da es zu gesteigerten Einkommen, einer größeren
Zahl an Arbeitsplätzen und somit zu erhöhtem Lebensstandard führen kann.
Neben den positiven, vornehmlich ökonomischen Effekten führt touristische Aktivität
jedoch auch zu einigen negativen Effekten. Diese betreffen vornehmlich die Einwohner
und die Tier- und Pflanzenwelt der bereisten Regionen. So kann die Touristifizierung
von Städten und Gemeinden das Absenken der dortigen Lebensqualität für Einheimische
zur Folge haben, wie beispielsweise die Verdrängung alltagsrelevanter Infrastruktur, z.
B. des Einzelhandels des täglichen Bedarfs, durch Souvenir- und Andenkenshops und
Crowding-Effekte zu saisonalen Hochzeiten (Kagermeier, 2021, S. 38). Fauna und Flora
werden häufig stark beeinträchtig oder verdrängt. Die Versiegelung großer Flächen für
Freizeitinfrastruktur und das Aufhalten von Touristen in sensiblen Bereichen zur Aus-
übung von Freizeitaktivitäten wie Wandern und Mountainbiken können Auslöser für
die besagten Beeinträchtigungen sein (ebd. S. 137). Auch kann dabei eine gesteigerte
Nutzung durch Massentourismusphänomene die negativen Auswirkungen immens
steigern. Insgesamt steigt somit der Druck auf die Destination mit steigender Besucher-
zahl. Unter diesen Entwicklungen kann die Tourismusakzeptanz der Wohnbevölkerung
leiden. Diese kritische Einstellung kann dazu führen, dass die Umsetzung neuer
touristischer Projekte abgelehnt wird und sich sogar negativ auf die Einstellung gegen-
über neuen Gästen auswirkt (Deutscher Tourismusverband e. V., o. J.).
All diese Rahmenbedingungen verlangen nach Lösungsansätzen zur Minimierung der
negativen und zur Verstärkung der positiven Auswirkungen. Besucherlenkung ist dabei
das Schlagwort. Mit ihr beschäftigen sich Ökologen bereits seit geraumer Zeit, um die
16 Digitale Anwendungen … 269
seinem Aufenthalt und möglichen Aktivitäten liefert. Ebenso kann dies eine Progressive
Web App leisten, um dem Gästebedürfnis nachzukommen, unterwegs online zu sein und
möglichst in Echtzeit Informationen rund um den Aufenthalt vor Ort einholen zu können.
Der Nachreisephase wird im Rahmen der Besucherlenkung bislang am wenigsten
Beachtung geschenkt. Unter dem Aspekt der Akquisition der richtigen Zielgruppen
sollte sie jedoch nicht vernachlässigt werden. Denn ähnlich wie in der Vor-Reise-Phase
kann auch nach dem Aufenthalt direkter Kontakt zum Gast gehalten werden. In analoger
Hinsicht bietet sich beispielsweise die Möglichkeit, dem (ehemaligen) Gast Flyer und
Broschüren zukommen zu lassen, um ihm weitere und aktuelle Informationen über die
Destinationen zukommen zu lassen, während Newsletter, Social Media und Internet-
präsenzen der Destinationen dies auf digitale Weise darstellen können. So existiert die
Möglichkeit, den Kreis der Customer Journey zu schließen und die anvisierte Zielgruppe
für einen erneuten Aufenthalt zu gewinnen.
Zur Erfüllung der drei Hauptaufgaben der Besucherlenkung existieren unterschied-
liche Ansätze. Dieser Artikel legt den Fokus auf digitale Anwendungen, daher wird auf
die analogen Möglichkeiten nicht weiter eingegangen. Nachfolgend werden vier Bei-
spiele dargestellt, welche in unterschiedlichen Phasen der Customer Journey zu verorten
sind und daher auch an verschiedenen Kundenkontaktpunkten ansetzen.
16.2.1 WunderlineGo-App
für eine Schnitzeljagd in den jeweiligen Regionen genutzt werden kann. Hierzu navigiert
ein Kompass den Gast durch die Regionen und übermittelt via Bildern, Videos, Audios
und Texten über umliegende Besonderheiten. Diese Besonderheiten, die sogenannten
„Wunder“, verleihen der App ihren Namen, können abgespeichert und von überall aus
erneut abgespielt werden. (Netzwerk Anschlussmobilität Wunderline, o. J.)
Vor allem im Bereich der Informationssuche ist das Internet nicht mehr weg zu denken.
Allerdings wird es immer schwieriger, die Informationen auf eigenen Kanälen an die
relevanten Zielgruppen auszuspielen. Der Grund hierfür ist, dass die Präsenz großer
Online-Dienste auch im Reisebereich immer größer wird. Daher wird es zunehmend
274 F. Wölfle und S. Ens
irrelevant, auf welchen Kanälen die Informationen zu den Kunden gelangen. Vielmehr
rückt die Qualität der bereitgestellten Daten über alle Kanäle hinweg in den Vordergrund.
Hier setzt das Projekt Data Hub NRW des Tourismus NRW e. V. an. Ziel ist es, relevante
touristische Daten in hoher Qualität im Data Hub zentral zu organisieren und zur freien
Nutzung zu öffnen. Damit dient DATA HUB NRW als Datendrehscheibe, welche
touristische Datenströme steuert. Die Daten werden von Unternehmen, touristischen
Regionen und weiteren Akteuren maschinenlesbar über Schnittstellen in den Hub
integriert. Auf diese Daten können dann unterschiedliche Dienste wie Webseiten, Google
und Sprachassistenten zugreifen. Gäste erhalten so unkompliziert und jederzeit relevante
Informationen auf jedem Informationskanal (Tourismus NRW e. V., o. J.).
Die zentrale Steuerung und einheitliche Qualitätskriterien erhöhen NRW-weit die
Datenqualität. Dies hat zum einen die Stärkung der digitalen Präsenz zur Folge. Da alle
Partner auf dasselbe, qualitative Datenmaterial zugreifen können, haben sie die Möglich-
keit, ihre eigene Webpräsenz zu professionalisieren. Hinzu kommt, dass alle Akteure
im Land in allen (neuen) Apps und relevanten Kanälen direkt hinterlegt sind. Neben
dem Anheben der Datenqualität werden auch die Kooperation und die Vernetzung aller
Partner gefördert und ein einheitliches Erscheinungsbild nach außen transportiert.
Insgesamt dient der DATA HUB NRW dem Generieren von qualitativ hochwertigem,
touristischem Datenmaterial, welches allen Partnern zum Bespielen der unterschied-
lichsten Ausgabemedien zur Verfügung steht.
16.3 Fazit
Die Digitalisierung bietet einige neue Möglichkeiten für die Aufgabenbereiche der
Besucherlenkung. Die aufgeführten vier Beispiele zeigen hierzu aktuelle Anwendungs-
gebiete. Für die Aufgabenerfüllung einer effektiven Besucherlenkung zur Minimierung
der negativen und Stärkung der positiven Effekte bedarf es insgesamt einer integrativen
Form der Besucherlenkung. Da Gästeerlebnisse nach wie vor vornehmlich analog statt-
finden, müssen neben den digitalen Anwendungen, die vorwiegend in der Vor-Reise-Phase
und zum Teil während des Aufenthalts vor Ort zum Einsatz kommen, analoge Formen
der Besucherlenkung umgesetzt und alle Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden.
Beispielsweise kann eine App, welche dem Wanderer Routenvorschläge anbietet und
die Routen dann im Sinne einer Navigation vor Ort auf dem Smartphone anzeigt, in der
Planung und Durchführung der Wanderung sehr hilfreich sein. Zusätzlich sollte jedoch
auch eine Wanderwegbeschilderung den Wanderern auf ihren Etappen Orientierung
bieten. Zum einen wird den Gästen so Sicherheit vermittelt, da Handyempfang in länd-
lichen Regionen nicht flächendeckend gegeben ist, dass sie sich auf der richtigen Etappe
befinden und wie lange diese noch andauert. Zum anderen kann die Beschilderung eine
motivierende Funktion einnehmen, und diese über Anreize wie Belohnungssysteme, unter
anderem in Form von Schnitzeljagden, wiederum mit der App gekoppelt (bspw. via QR-
Codes) dann die analoge und digitale Welt gewinnbringend miteinander verbinden.
16 Digitale Anwendungen … 275
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Prof. Dr. Felix Wölfle ist seit April 2017 an der IU Internationale Hochschule Professor für
Tourismuswirtschaft. Nach seinem Studium der Sportwissenschaften promovierte er im sport-
tourismusbezogenen Destinationsmanagement und arbeitete mehrere Jahre in der Destinations-
beratung und im Management eines Bergsportausrüsters. Seine vielfältigen Erfahrungen bringt
er in seine praxisorientierte Lehre mit ein und führt vielfältige (Forschungs-)Projekte mit Praxis-
partnern mit aktivtouristischer Ausrichtung durch.
Simon Ens ist seit 2019 an der IU Internationale Hochschule Campus Düsseldorf Student im
Fachbereich „Tourismuswirtschaft“. Gemeinsam mit Professoren der IU verschiedener Standorte
konnte er bereits einige Projekte in der Tourismusbranche realisieren und seine Interessen an und
Kompetenzen in der Tourismusbranche ausbauen.
Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung
17
Über den Produkt-Anteil im Customer Oriented Offering
Christian Lucas
Zusammenfassung
Das Marketing hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark weiterentwickelt.
Das Verständnis von Marketing wurde allerdings in diesen Jahren häufig nur
erweitert. Dies führte u. a. dazu, dass aus „dem produzierten Produkt“ der 1950er
Jahre (substanzieller Produktbegriff) über die Jahre eine „Produkt-Dienstleistungs-
Kombination“ wurde (erweiterter Produktbegriff) und heutzutage häufig von einem
„generischen Produkt“ gesprochen wird. Damit verliert sich aber die Differenzier-
barkeit zum Marketing-Mix selber, da nun alles als „Produkt“ angesehen werden
kann, weil auch alles einen Nutzen stiften kann. Der vorliegende Beitrag erläutert
nun aus Sicht des Marketing-House-Konzepts, was genau der Product „P“-Anteil
im Customer Oriented Offering ist und grenzt diesen von den restlichen Bestand-
teilen im Marketing-Mix ab. Dazu wird in einem ersten Schritt der:die Konsument:in
konsequent in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt und alles an seinen:ihren
Bedürfnissen, der Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet. Der Beitrag prüft ebenso die
Passung des Konzepts zu neueren Erscheinungen, wie digitalen Daten, Influencern,
Erlebnissen, digitalen Währungen oder auch Non-Fungible Tokens (NFTs).
C. Lucas (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Düsseldorf, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 277
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_17
278 C. Lucas
• klassische Produkte bzw. Waren, wie z. B. ein Apfel, ein Glas Marmelade, ein Kühl-
schrank oder ein Auto.
• klassische Dienstleistungen, wie z. B. ein Haarschnitt, eine Hotelübernachtung,
Restaurantbesuch oder eine Flugreise.
• Ideen und Informationen, wie z. B. Nachrichten, (Bildungs-)Wissen, Patente,
(digitale) Daten, oder auch Geschichten (in Büchern oder Filmen).
• Orte, Organisationen und Personen, wie z. B. Unternehmen, Museen, Länder,
(National-)Parks bzw. auch Filmstars, Influencer oder man selber.
• Events und Erlebnisse, wie z. B. Sportveranstaltungen, Messen, Konzerte oder auch
Safaris, Touren und Urlaube.
• Wertanlagen, wie z. B. Aktien, (digitale) Währungen, Immobilien oder Non-
Fungible Tokens (NFTs).
• ….
Wie bereits an Dingen wie digitalen Daten und Non-Fungible Tokens (NFTs) erkennbar
wird, erweitert sich diese Liste kontinuierlich. Das vorgestellte Marketing-Konzept muss
auch für diese, zum Teil digitale, und für mögliche zukünftige Dinge, robust genug sein,
um ihre Vermarktung verständlich erklären zu können.
Setzt man den:die Konsument:in in den Mittelpunkt der Betrachtung, muss man auch
von dessen:deren Bedürfnissen ausgehen. Tut man das nicht, entwickelt man Angebote
(Offerings), die am Markt vorbeigehen, bzw. von diesem nicht beachtet werden. Ziel des
Marketing-House-Konzeptes ist es aber konsumentenorientierte Angebote (Customer
Oriented Offerings) zu schaffen.
Bedürfnisse lassen sich nach Maslow (1943, S. 370 ff.) in fünf1 Ebenen unter-
scheiden. Nach dieser Vorstellung gibt es:
1 bzw.acht (vgl. Maslow, 1971). Eine Diskussion alternativer Ansätze findet sich bspw. bei
Kroeber-Riel und Gröppel-Klein (2019, S. 156 ff.).
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 279
Sollten diese drei Bedürfnisebenen jeweils zu großen Teilen befriedigt sein, streben
Personen eine vierte und fünfte Ebene an:
Aus Anbietersicht macht es nun allerdings wenig Sinn, sich auf diese eher allgemeinen
und undifferenzierten Bedürfnisse direkt zu konzentrieren.
Unternehmen, die sich darauf spezialisieren wollen würden, das Bedürfnis nach
Schlaf zu befriedigen, könnten natürlich einerseits als Hotelbetreiber die Nutzung
eines Hotelzimmers anbieten, sie könnten sich aber auch andererseits darauf
konzentrieren Betten herstellen, Schlaftabletten anzubieten, oder auch beruhigende
Musik zu produzieren. Hier gibt es sicherlich noch unendlich viel mehr Möglich-
keiten, wie man das Bedürfnis nach Schlaf befriedigen kann. ◄
Dieses konkrete Bedürfnis bildet den Markt, einerseits für den:die Konsument:in, sowie
auch andererseits für den:die Anbieter:in. Je nachdem wie konkret das Bedürfnis ist, ist
der Markt entweder größer oder kleiner. An diesem Punkt setzen auch die Marketing-
anstrengungen der Anbieter:innen an: das Angebot muss dem:der Konsument:in bekannt
280 C. Lucas
Angebote
der Webewerber
Abb. 17.1 Der Markt aus Sicht des Kunden (eigene Darstellung)
(aware) sein, es muss ansprechend (appeal) sein, er:sie will sich eventuell auch genauer
darüber informieren/austauschen (ask), um es dann zu erwerben (act) (vgl. auch Kotler
et al., 2017a, S. 80).
Wie man bereits an diesem Beispiel erkennen kann, geht das Customer Oriented
Offering (COO) weit über den Produktkern hinaus. Ein einfaches Bett in einem Hotel-
zimmer reicht nicht aus. Was aber nun der konkrete Produktkern ist, bzw. was genau das
„Product“ innerhalb der klassischen vier P des Marketing-Mixes ist, soll im Folgenden
geklärt werden.
beliebt bei Freunden und Bekannten der potenziellen Kund:innen, mit mindestens
100 Bewertungen auf bekannten, aber nicht näher bestimmten Bewertungsseiten im
Internet und einem Instagram-Account, dessen Fotos bereits von Freunden und/oder
Bekannten geliked bzw. reposted oder durch eigene Fotos ergänzt wurden. ◄
Konsument:innen konsumieren Dinge nur, wenn Sie daraus einen Nutzen für sich ziehen
können, wenn das Angebot also einen Wert für sie hat. Bruhn und Hadwich (2006, S. 12)
sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „nutzenstiftenden Einheit“.
Dieser (Kern-)Nutzen kann nun weiter in einen Grundnutzen sowie einen Zusatznutzen
unterteilt werden (vgl. u. a. Vershofen, 1940, S. 71; Meffert et al., 2019, S. 396; Kot-
ler et al., 2017b, S. 11 ff.). Der Grundnutzen bezieht sich dabei auf die erste Ebene der
Maslow’schen Bedürfnisebenen, die grundlegenden und existenziellen Bedürfnisse. Ein
eventuell vorhandener Zusatznutzen bezieht sich auf alle weiteren Bedürfnisebenen und
schließt damit auch die von Bänsch (2002, S. 246 ff.) und Meffert et al., (2019, S. 396)
vorgeschlagenen „Erbauungsnutzen“ (vgl. soziale Bedürfnisse) und „Geltungsnutzen“
(vgl. individuelle Bedürfnisse, speziell nach Wertschätzung und Prestige) mit ein (vgl.
auch Solomon, 2016, S. 25).
282 C. Lucas
Wie man an diesem Beispiel sehen kann, ist die Wertigkeit der jeweiligen Nutzen-
bestandteile entscheidend. Kann man einen ähnlichen Nutzengewinn günstiger erwerben,
wird man sich wahrscheinlich für die Alternative entscheiden.
Dieser werthaltige Nutzen setzt sich aus materiellen und immateriellen Bestandteilen
zusammen (vgl. Brockhoff, 1999, S. 13), und wird durch die Ausgestaltung der übrigen
„P“ des Angebots (People, Process, Price, Place, Promotion) ergänzt. Im Folgenden
beschäftigt sich der Beitrag als erstes mit den immateriellen Bestandteilen des Angebots,
im Anschluss mit den materiellen Bestandteilen.
Was passiert nun, wenn ein:e Konsument:in ein Angebot annimmt bzw. erwirbt, was
erwirbt er:sie damit? Die Antwort ist, dass der:die Konsument:in damit in erste Linie ein
Recht erwirbt, entweder als Nutzungsrecht oder als Besitzrecht2.
Ein Film kann unterhalten, bilden oder dient bspw. als Mittel einem:einer Partner:in
im Kino emotional oder physisch näher zu kommen. Welche materiellen Bestand-
teile des Films werden aber nun erworben? Die Kinokarte selber? – Ja, an dieser wird
2 Diejuristische Literatur unterscheidet hier genauer in ein absolutes und ein relatives Besitzrecht,
bzw. auch in ein einfaches und ausschließliches Nutzungsrecht. Zusätzlich wird noch zwischen
schuldrechtlichen Nutzungsrechten an Sachen und an Rechten unterschieden (vgl. u. a. Müssig,
2021, S. 57 ff., 156 ff., 220 ff., 511 ff.). Dem muss sich an anderer Stelle genauer gewidmet
werden.
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 283
das Besitzrecht erworben. Der Kinosessel? – Nein, hieran wird nur das Nutzungs-
recht erworben. Die erzählte Geschichte des Films? – Nein, auch hieran wird nur das
Nutzungsrecht erworben. Wie sieht es mit der Ausstattung des Films aus, den im Film
genutzten Requisiten, die ja auch einen großen Anteil am Wert des Films und dem
daraus gezogenen Nutzen haben? – Auch hieran wird kein Besitzrecht erworben. ◄
Ein:e Konsument:in kann also nur für den Mehrwert eines Angebots, den ein:e
Anbieter:in von Nutzungsrechten schafft, ein Besitzrecht erwerben. Wird der Film also
beispielsweise auf einem Blu-ray-Datenträger verkauft, erwirbt ein Konsument damit
nur Besitzrecht am Datenträger selber, am Film erwirbt er ein Nutzungsrecht.
(Erworbene) Besitzrechte können allerdings auch weiterverkauft werden. So hat
Disney bspw. die (Besitz-)Rechte an der Star-Wars-Saga erworben und damit auch das
Recht, diese Geschichte entsprechend auszudifferenzieren und weitere Geschichten im
Star-Wars-Universum zu erfinden. Außerdem hat Disney damit das Recht, entsprechende
Nutzungsrechte (z. B. Lizenzen) an TV-Stationen zu verkaufen, die diese Filme somit,
eventuell nur zu ganz bestimmten Zeiten, ausstrahlen dürfen. Direkt nach dem Kauf der
Besitzrechte, besaß Disney also nichts anderes als das Recht selber: Mehrwerte mussten
erst geschaffen werden.
Hätte Disney, einen Tag nach Kauf der Star-Wars-Rechte, diese weiterverkaufen
wollen, hätten diese Rechte eventuell schon einen höheren Wert gehabt. Dieser
höhere Wert (Mehrwert) hätte sich u. a. eventuell aus der Marke Disney, aus den
Informationen, die Disney über den Erwerb der Rechte gestreut hatte, sowie aus den
Beziehungen zu potenziellen, neuen Käufergruppen zusammengesetzt. ◄
Rechte sind also ein integraler Teil der immateriellen Bestandteile (Leistungen) eines
Angebots und beziehen sich u. a. auf in der Vergangenheit durchgeführte Dienst-
leistungen und dabei eingesetzte materielle Bestandteile. Diese materiellen Bestandteile
werden im übernächsten Abschnitt betrachtet. Im hier folgenden Abschnitt beschäftigt
sich der vorliegende Beitrag mit den weiteren immateriellen Bestandteilen: den Dienst-
leistungen selber.
Charakteristika dieser Dienstleistungen sind u. a. nach Kotler et al., (2017b, S. 500 ff.):
• Immaterialität: Dienstleistungen können vor dem Kauf nicht mittels der mensch-
lichen fünf Sinne erfasst werden, sie sind nicht greifbar.
• Untrennbarkeit: Erschaffung und Konsum von Dienstleistung findet zur gleichen
Zeit statt.
• Variabilität: Die Qualität der Dienstleistungen hängt vom Durchführenden ab und ist
damit inter und intra Personen variabel.
• Fehlender Lagerfähigkeit: Dienstleistungen finden immer nur aktuell, zum jetzigen
Zeitpunkt statt.
Folgt man dieser Vorstellung, was der vorliegende Beitrag gerne tun möchte, stellt sich
die Frage, was ein „gereinigtes“ Hotelzimmer (aus dem Beispiel aus Abschn. 17.3) ist.
Oder auch die Frage, was ein Film ist, was eine schöne Frisur ist, oder was ein gutes
Essen ist… Dies sind alles Dinge, die in der Vergangenheit, u. a. durch eine Dienst-
leistung, geschaffen wurden. Es handelt sich also um die Ergebnisse von Dienst-
leistungen. Dienstleistungen selber können nach dieser Eingrenzung als Handlungen
oder Tätigkeiten verstanden werden3.
Um einen guten Film zeigen bzw. verkaufen zu können, wird ein:e Autor:in eine
Geschichte geschrieben haben müssen. Diese Geschichte wird angepasst worden sein
müssen an die Anforderungen des:der Regisseur:in und das Medium Film. Passende
Schauspieler:innen werden ausgewählt, Texte eingeprobt und vorgesprochen sein
müssen. Der Film selber muss gedreht, geschnitten und nachvertont sein müssen,
bevor er dann an TV-Stationen oder Kinos verkauft werden konnte. ◄
Nur durch die kontinuierliche Schaffung von mehr Wert (→ Mehrwert), durch eine
Kombination von eingesetzten materiellen Bestandteilen – wie zum Beispiel Filmrolle,
3 Meffert et al., (2018, S. 13) sprechen differenzierender von einer Potenzial-, Prozess- und Ergeb-
nisorientierung, als konstitutive Merkmale, von Dienstleistungen.
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 285
Wert
Promoon-Leistungen
Place-Leistungen
Price-Leistungen
materielle
BESTANDTEILE
des Angebots
immaterielle
BESTANDTEILE
des Angebots
Besitz-/Nutzungs-
RECHTE
Kern-
NUTZEN
0 Zeit
Abb. 17.2 Das Product „P“ des Customer Oriented Offerings (eigene Darstellung)
Wie in Abb. 17.2 gut zu erkennen ist, runden die materiellen Bestandteile das Product
„P“ des konsumentenorientierten Angebots (COO) ab. Auch hier beziehen sich die
materiellen Bestandteile nicht nur auf das Jetzt, den durch den Anbieter geschaffenen
Mehrwert, sondern auch auf die Vergangenheit.
286 C. Lucas
Beispiel: Einfluss der in der Vergangenheit genutzten Materialien auf den Wert eines
Angebots
Ein Apfel wird gemeinhin als materielles Gut wahrgenommen. Nach dem Verständ-
nis des Marketing-House-Konzepts handelt es sich hierbei um ein Angebot, welches
alle materiellen und immateriellen Bestandteile der Vergangenheit beinhaltet. Dazu
gehören demnach u. a. auch die eingesetzten Pflanzenschutzmittel, als materielle
Bestandteile. Ob diese Information aus der Vergangenheit nun extra betont wird, ist
Teil der Promotion-Leistungen des Angebots. ◄
Materielle Bestandteile können also im aktuellen Angebot einerseits nur noch indirekt
erhalten sein, oder sind andererseits direkte, greifbare Bestandteile. Wenden wir uns
wieder dem Beispiel des Kinobesuchs aus Abschn. 17.3.2 zu: den materiellen Mehrwert,
den ein:e Kinobetreiber:in gegenüber der Vergangenheit anbietet, sind u. a. die Eintritts-
karte (in analoger Form), der Kinosessel, sowie die Bild- und Tontechnik. Mit diesen
Bestandteilen kann er:sie sich gegenüber seinen:ihren Wettbewerber:innen abgrenzen.
Indirekt im Angebot enthalten sind weiterhin, die im Zweifel professionelle Ausstattung
des Filmsets, welche während des Filmdrehs genutzt wurde.
Um die eingesetzten materiellen Bestandteile des Angebots weiter zu untergliedern
bzw. genauer zu differenzieren und zu beschreiben, wird im Folgenden den Arbeiten von
Koppelmann (2001, S. 340 ff.) gefolgt. Koppelmann (2001, S. 340 ff.) nennt als grund-
legende Mittel der Produktgestaltung:
17.3.5 Dimensionen
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass je mehr Bestandteile ein spezielles
Angebot (COO) ausmachen, desto höher auch der Wert bzw. Nutzen ist, den ein Konsu-
ment aus diesem Angebot für sich ziehen kann. Hier ist allerdings von einem (stark)
abnehmenden Grenznutzen auszugehen. Irgendwann wird der Zusatznutzen (Mehrwert)
infinitesimal klein.
Die zweite Dimension betrifft die wahrgenommene Qualität der Bestandteile (vgl.
auch Juran, 1980, S. 629). Auch hier ist nicht per se von einem „höher, schneller, weiter“
auszugehen, sondern erst einmal von einem abstrakten Verständnis von Qualität. Gold
wird, im Vergleich zu Silber, häufig als qualitativ hochwertiger wahrgenommen, weil die
allgemeine Nachfrage nach Gold höher ist und die Verfügbarkeit geringer.
Nur im multiplikativen Zusammenspiel mit der dritten Dimension, der wahr-
genommenen Individualität des Angebots, bzw. Passung zu den individuellen Bedürf-
nissen eines:einer Konsument:in, lässt sich die Wertigkeit und damit der Nutzen (bzw.
die Bedürfnisbefriedigung) für diese:n Konsument:in ableiten und berechnen5.
Laut dem Deutschen Diamant Club e. V. wird der Wert eines Diamanten, und damit
auch sein Preis, durch vier Kriterien bestimmt, den 4C: Cut (der Schliff), Colour
(die Farbe), Clarity (die Reinheit) und Carat (sein Carat-Gewicht) (vgl. DDC, 2022).
Die ersten drei Kriterien beziehen sich dabei auf die Qualität (im Allgemeinen), das
Carat-Gewicht des Diamanten auf die Menge. Diese Kriterien haben allerdings nur
dann einen Wert für den:die Konsument:in, wenn sich diese:r über die Unterschiede,
zum Beispiel in der Reinheit (Clarity), im Klaren ist. Die individuelle Zahlungs-
bereitschaft hängt schlussendlich noch von der Bedürfnispassung ab. Ist der:die
Konsument:in auf der Suche nach Modeschmuck, ist die individuelle Wertigkeit, und
damit Zahlungsbereitschaft, gering. ◄
Im Folgenden soll überprüft werden, ob die hier vorgestellte Darstellung des Produkt-
anteils im Customer Oriented Offering (COO) auch auf die übrigen Dinge passt, die in
Abschn. 17.1 aufgelistet, aber im Verlauf des Beitrags noch nicht explizit mittels der
eingefügten Beispiele erläutert wurden. Beispielhaft soll dies an (1) digitalen Daten, (2)
Personen wie Influencer:innen, (3) Sportveranstaltungen und (4) Non-Fungible Tokens
(NFTs) gezeigt werden.
5 Diese
Individualität steigt mit einem höheren Grad an Konnektivität (vgl. Kap. 1.3.4: Marketing-
House-Konzept).
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 289
S. 43 ff.), oder, als Ergebnis, selber Dinge repräsentieren, wie bspw. das aufgezeichnete
Verhalten (von Personen)6 oder die Verhaltensvorhersage (vgl. Zuboff, 2018, S. 22 ff.).
Ein Recht auf „Eigentum an Daten“ (per se) sieht die deutsche Rechtsordnung zwar
aktuell nicht vor (vgl. Froese & Straub, 2022, S. 138), allerdings gibt es einige Vor-
schriften in Bezug auf den Umgang mit Daten (vgl. u. a. Kap. 31: Die DS-GVO im
Lichte des digitalen Marketings). Informationen allerdings, die aus den Daten abgeleitet
bzw. gewonnen wurden, mittels einer aktiven Tätigkeit oder Handlung, haben einen
Eigentumscharakter. John Locke schreibt 1689 dazu bspw.:
„Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, können wir sagen, sind im eigent-
lichen Sinn sein Eigentum.“ (Locke, 1906, S. 133)
6 Dieses „aufgezeichnete Verhalten“ schließt u. a. auch die digitale Kopie von Musik oder Filmen
mit ein.
290 C. Lucas
auch die Aufnahme eines Rennens in den Rennkalender an einen Staat (z. B. Bahrain)
verkaufen. Dabei können im Detail unterschiedliche weitere Rechte Bestandteil des Ver-
trags sein: bspw. die Nutzung der Tribünen, der Parkplätz oder VIP-Räume, genauso wie
die Nutzung von Logos oder Namen. Die Bestandteile des Angebots können also wieder
materieller Natur, wie auch immaterieller Natur sein und Nutzungs- oder Besitzrecht
beinhalten.
Ein Non Fungible Token (NFT) ist ein „kryptografisch eindeutiger, unteilbarer, unersetz-
barer und überprüfbarer Token, der einen bestimmten Gegenstand, sei er digital oder
physisch, in einer Blockchain repräsentiert“ (Valeonti et al., 2021, S. 9931)7. Die Auf-
gabe des Tokens ist es dabei, materielle wie auch immaterielle Dinge eindeutig identi-
fizierbar zu machen. Wie auch in Kap. 15 (Blockchain im Marketing) beschrieben,
sind viele Dinge, bspw. auch ein materieller Geldschein, trotz Seriennummer, nicht
fälschungssicher und damit nicht (zwingend) eindeutig. Erst der Non Fungible Token,
wie der Name schon sagt, macht den Gegenstand „nicht austauschbar“. Besonders
relevant sind diese Tokens u. a. bei digitalen Dateien (z. B. Text-, Bild- oder Musik-
dateien), da eine besondere Charaktereigenschaft dieser Dateien ist, dass sie verlustfrei
vervielfältigt werden können und damit nicht mehr einzigartig sind (vgl. u. a. McAfee
& Brynjolfsson, 2017, S. 135 ff.; Quah, 2003). Um nun digitale Dateien besitzen zu
können, im Gegensatz zu einem Recht zur Nutzung, muss diese Datei aber eindeutig
sein. Die Tokens (NTFs), um dies zu tun, können dafür gehandelt werden.
Spannend wird die Technologie bspw. auch, wenn es darum geht, vorher nicht handel-
bare Teile an Dinge, wie Anteile an realen Kunstwerken, fälschungssicher zu handeln.
Oder auch, wenn digitale Dokumente wie bspw. die erste SMS (vgl. FAZ, 2021), welche
geschichtliche Ereignisse (vergangene Handlungen) belegen, verkauft werden. Der
Markt ist hier erst in der Entstehung.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Product „P“ in den klassischen
vier „P“ des Marketing-Mixes weniger ein generisches Produkt darstellt, als vielmehr
die Materialität des Customer Oriented Offerings beschreibt. Somit ist eher von einer Art
7 Auch an diesen Daten (NFT) gibt es kein Recht auf Eigentum per se – man kann nicht einfach
bestimmen, dass alle in Zukunft jemals geschaffenen Token einem selber gehören werden – allein
durch die Schaffung der Token, erwirbt man das Recht auf Eigentum an diesen.
17 Produkt vs. Bedürfnisbefriedigung 291
„Productness“ oder „Physicality“ zu sprechen, auf Deutsch von einer „Materialität“ oder
„Körperlichkeit“ des Angebots bzw. der Bedürfnisbefriedigung.
Dabei sind die materiellen und teilweise auch immateriellen Bestandteile optionale,
hinreichende Bedingungen, während ein Nutzen sowie ein Besitz- oder Nutzungsrecht
unabdingbare, notwendige Bedingungen sind. Zusätzlich gehen hiernach immer auch
alle vergangenen Dinge und Handlungen mit in das Angebot ein, ob sie nun bekannt
sind, oder auch nicht. Genauso verhält es sich mit zukünftigen Dingen und Handlungen,
auch die können Bestandteil des Angebots sein.
Ergänzend schaffen noch die beteiligten Personen (People) und Prozesse (Process),
die konkreten Preise und Zahlungsmöglichkeiten (Price), der Vertriebskanal und
die Verfügbarkeit (Place), sowie die übermittelten Informationen und genutzten
Kommunikationskanäle (Promotion), einen zusätzlichen Nutzen.
Die Ausführungen in Abschn. 17.4 zeigen, dass dieses Denkkonzept auch für die
aktuell neuen (digitalen) Märkte, sowie zukünftige Märkte, robust ist.
Literatur
Meffert, H., Bruhn, M., & Hadwich, K. (2018). Dienstleistungsmarketing: Grundlagen – Konzepte
– Methoden (9. Aufl.). Springer Gabler Verlag.
Meffert, H., Burmann, C., Kirchgeorg, M., & Eisenbeiß, M. (2019). Marketing: Grundlagen
marktorientierter Unternehmensführung Konzepte-Instrumente-Praxisbeispiele (13. Aufl.).
Springer.
Müssig, P. (2021). Wirtschaftsprivatrecht: Rechtliche Grundlagen wirtschaftlichen Handelns (22.
Aufl.). Müller Verlag.
Quah, D. (2003). Digital goods and the new economy. SSRN 410604.
Solomon, M. R. (2016). Konsumentenverhalten (11. Aufl.). Pearson Verlag.
Valeonti, F., Bikakis, A., Terras, M., Speed, C., Hudson-Smith, A., & Chalkias, K. (2021). Crypto
collectibles, museum funding and OpenGLAM: Challenges, opportunities and the potential of
non-fungible tokens (NFTs). Applied Sciences, 11(21), 9931.
Vershofen, W. (1940). Handbuch der Verbrauchsforschung. Heymanns Verlag.
Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus.
Prof. Dr. Christian Lucas ist Studiengangleiter für die Studiengänge Marketing-Management
und Online Marketing an der IU Internationale Hochschule und lehrt hier als Professor für
Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing u. a. in den Fächern Digital Business,
Marketing, Marktforschung und Innovation Management. Parallel bietet er als Geschäftsführender
Gesellschafter der LUCAS Drive GmbH einen internationalen Fahrservice für Teams und
Sponsoren der Formel 1 und Formel E an.
Digital Pricing für digitale Produkte –
Herausforderungen und Chancen für die 18
Preispolitik und –kommunikation
Zusammenfassung
Dass Pricing durch seine direkte Wirkung auf die Bottom Line eine besondere
Bedeutung hat, ist in der Marketingliteratur unbestritten. Aufgrund der zunehmenden
Digitalisierung wird das Pricing im Marketingmix immer bedeutender. Den richtigen
Preis zu finden, wird für Unternehmen immer schwieriger. Sie sind zunehmend
gefordert, Preise zu differenzieren, Preise in Echtzeit anzupassen und die Vor-
teile der Künstlichen Intelligenz zu nutzen. Insbesondere Preisstrategien für digitale
Produkte erfordern besondere Aufmerksamkeit. Viele bekannte Modelle der Preiser-
mittlung können nicht übernommen werden, da beispielsweise die geringe Bedeutung
der variablen Kosten keine ausreichende Berücksichtigung findet. Diese Arbeit hat
das Ziel aufzuzeigen, wie das Pricing für digitale Produkte in der Zukunft erfolgen
sollte/könnte. Zunächst werden die Besonderheiten der Preissetzung für digitale
Produkte beleuchtet. Ferner werden innovative Preisstrategien für sowohl digitale als
auch analoge Produkte untersucht. Es werden darauf aufbauend Anforderungen an
eine künftige Digital-Pricing-Strategie formuliert. Insbesondere werden auch Über-
legungen zur Preiskommunikation und zum „Behavioral Pricing“ angestellt.
J. Panzer
IU Internationale Hochschule, Frankfurt am Main, Deutschland
E-Mail: [email protected]
D. Schmid (*)
IU Internationale Hochschule, Frankfurt, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 293
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_18
294 J. Panzer und D. Schmid
Unter den globalen Megatrends spielt die Digitalisierung eine besondere Rolle.
In Zukunft müssen Unternehmen die Potenziale dieser digitalen Veränderung zu
ihren Gunsten nutzen, um zu wachsen. So wird die Bedeutung des digitalen Price-
Managements klar erkennbar. Denn noch stärker als bisher, als Pricing-Entscheidungen
quasi „nur“ einen direkten Einfluss auf die Bottom Line hatten (und bereits auf diesem
Niveau von Akademikern und Praktikern für die wichtigste Marketingentscheidung
gehalten wurden (Han et al., 2001, Nagele & Hogan, 2006, Husemann-Kopetzky, 2020)),
steuern diese nun Entscheidungen über die Verteilung der Erträge aus der digitalen
Transformation (Frohmann, 2018)
Bei der Betrachtung des digitalen Pricings sollte man sich bewusst sein, dass der
Begriff in der Praxis in unterschiedlicher Weise verwendet wird. Zum einen wird
darunter der Prozess der Preisgestaltung unter Verwendung von digitalen, meist
dynamischen und datengetriebenen Instrumenten verstanden (vgl. Kap. 19, zur Oven-
Krockhaus, Albers). Zum anderen wird die Bezeichnung des digitalen Pricings für
digitale Leistungen verwendet. Zwischen beiden Ansätzen können Unterschiede
bestehen. Dies liegt an der besonderen Natur der digitalen Dienstleistungen und ihrer
Skalierbarkeit.
Die grundsätzliche Idee, dass sowohl eine Konsumentenrente als auch eine
Produzentenrente zu verteilen sind, deren Höhe von der Wertewahrnehmung bzw. dem
Nutzen der Kunden abhängt (Tacke, 2018; Simon & Fassnacht, 2016), bleibt erhalten.
Somit resultiert die Stärke von Unternehmen langfristig weiterhin aus dem von Kunden
wahrgenommenen Nutzen relativ zum zu zahlenden Preis (Simon & Fassnacht, 2016).
Preismodelle, die eine Reaktion auf veränderte Nutzenwerte erlauben, sind von zentraler
Bedeutung. Der für die Kunden geschaffene Nutzen („value generation“) sowie die
Realisierung des Gegenwerts für das Unternehmen über den Preis („value extraction“)
müssen optimiert werden. Im Zentrum steht die Nutzung neuer Informationstechno-
logien sowie digitalisierter Prozesse zur Werteabschöpfung.
Neben den Besonderheiten digitaler Produkte, die Penetration Pricing bzw. die
schnelle Durchdringung des Marktes durch einen niedrigen Preis (mit seiner Extrem-
form „Follow the Free“) besonders attraktiv machen, wird dieser Artikel sowohl auf
die nicht-dynamischen als auch auf die dynamischen Optionen des Pricings für digitale
Produkte eingehen. Als Konsequenz werden die Anforderungen an künftige Preis-
strategien formuliert und Bezug auf den Einfluss auf Preiskommunikation im Kontext
des Behavioral Finance genommen. Die Wahrnehmung des Preises kann wichtiger sein
als das tatsächliche Preis-Leistungs-Verhältnis. Dies gilt insbesondere dann, wenn der
Preis dynamisch auf den wahrgenommenen Nutzen der Kunden reagieren soll.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 295
Abb. 18.1 Die sieben Determinanten des Pricings in Anlehnung an Frohmann (2018)
296 J. Panzer und D. Schmid
Auch das Pricing digitaler Produkte leitet sich aus dem Geschäftsmodell ab. Daran
anschließend wird im Erlösmodell die Frage beantwortet, wer (Kunde, Unternehmen,
Werbetreibende) wofür (Produkt, Service, Content, Nutzerdaten, Software) bezahlt. Dies
wird in Abb. 18.2 über die Abhängigkeit des Preisprozesses von den Geschäfts- und
Erlösmodellen der Unternehmen illustriert.
Der dargestellte Preisprozess folgt im Wesentlichen dem in Abschn. 18.2 dargelegten
Preisprozess. Um aber den digitalen Produkten in vollem Umfang gerecht zu werden,
müssen deren Besonderheiten in Abschn. 18.3.1 betrachtet werden. Die Abschn. 18.3.2
und 18.3.3. erfassen anschließend die Möglichkeiten des Pricings digitaler Produkte mit
nicht-dynamischen und dynamischen Modellen.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 297
Abb. 18.2 Abhängigkeit des Preisprozesses von den Geschäfts- und Erlösmodellen der Unter-
nehmen (Frohmann, 2018)
Klassische Konzepte der Preisbildung lassen sich meist nur eingeschränkt auf digitale
Angebote übertragen (Bontis & Chung, 2000; Buxmann et al., 2008, Frohmann, 2018).
Dies liegt daran, dass Informationsangebote (Software, Online-Inhalte, digitale Dienst-
leistungen usw.) wirtschaftlichen Regeln unterliegen, die sie grundlegend von Leistungs-
bündeln anderer Sektoren (Produkte und persönliche Dienstleistungen) unterscheiden. In
Anlehnung an Frohmann 2018 werden zwei wesentliche Kategorien unterschieden:
Sechs zentrale Besonderheiten (s. Abb. 18.3) wirken auf das Preispotenzial ein. Die
Reproduzier-, Veränder- und Unzerstörbarkeit führen dazu, dass eine Vervielfältigung
einfach ist und Nutzung keine Verschlechterung des Leistungsbündels zur Folge hat.
Damit ist eine hohe Verbreitung in Kombination mit häufig erfolgenden Netzeffekten
besonders attraktiv für Unternehmen. Die Wechselwirkungen mit Dienstleistungen ver-
stärken die Attraktivität weiterer Produktverbreitung. Die Lock-in-Effekte, die durch
die hohen Kosten bei der Anschaffung entstehen, unterstützen langfristige Geschäfts-
beziehungen und Ertragsmodelle, die die Kapitalisierung von Bestandskunden zum Ziel
haben. Die relativ hohen Fixkosten sind im Kontext der leichten Reproduzierbarkeit und
der Lock-in-Effekte zu sehen.
298 J. Panzer und D. Schmid
oder online Ausweis im Internet) sind die Kosten für Preisänderungen gesunken, sodass
heute Variationen des Preises attraktiv sind, die früher durch Transaktionskosten ver-
nichtet worden wären. Dynamisches Pricing hat damit die Chance, sich immer breiter
und über Branchen hinweg durchzusetzen (Spann & Skiera, 2020). Aber auch Geschäfts-
modelle wie Online-Auktionen (eBay.com) oder Co-Shopping (Letsbuyit.com, Power-
shopping.de) sowie neue Preismodelle wie Customer Driven Pricing (CDP) sind durch
das Internet entstanden. Wir dürfen jedoch nicht außer Acht lassen, dass eine höhere
Transparenz die Preisobergrenzen reduziert hat.
Bevor konkrete Preisstrategien für digitale Produkte dargestellt werden, soll auf die
Merkmale dynamischer und nicht-dynamischer Ansätze eingegangen und der Fokus auf
nicht-dynamische Lösungen gelegt werden. (Ausgewählte Preisstrategien wurden bereits
in Abschn. 18.2 angesprochen.)
Dynamische Preisgestaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Preise für ein
prinzipiell gleiches Produkt über Kaufzeitpunkte oder Konsumenten variieren (Skiera &
Spann, 2000). Dies ist grundsätzlich auch bei nicht-dynamischen Ansätzen möglich. Ein
wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist jedoch, dass der Käufer bei der dynamischen
300 J. Panzer und D. Schmid
Preisstrategie zum Zeitpunkt des Kaufs nicht darüber informiert ist, dass das gleiche
Produkt vom Verkaufenden zu unterschiedlichen Preisen angeboten wird (Abb. 18.4).
Für die nicht-dynamische Preisdifferenzierung können zwei Gruppen unterschieden
werden. Im ersten Fall (Preisdifferenzierung ohne Selbstselektion) bietet das Unter-
nehmen ausgewählten Kundengruppen das Produkt zu unterschiedlichen Preisen an, bei-
spielsweise Microsoft mit Schüler- und Studentenermäßigungen (Spann & Skiera, 2020).
Im zweiten Fall (Preisdifferenzierung mit Selbstselektion) wählen Kunden die für sie
passende Preiskategorie aus. So können Kunden bei Vodafone zwischen Red XS, S, M,
L und XL wählen oder bei den Social-Media-Plattformen XING und Linkedin zwischen
der kostenfreien Grundversion oder kostenpflichtigen Premiumversion.
Studien zeigen, dass Preisdifferenzierung mit Selbstselektion von Käufern stärker
akzeptiert werden, als Preisdifferenzierungen ohne Selbstselektion, da sie allen Käufern
gegenüber offen ist (Dickson & Kalapurakal, 1994). Dies lässt sich teilweise durch den
Eindruck einer stärkeren Kontrolle durch den Käufer erklären.
Abb. 18.4 Formen der Preisdifferenzierungen in Anlehnung an Spann und Skiera (2020)
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 301
& Baumgarten, 2020). Softwarelösungen der neuesten Generation sind in der Lage, die
gewonnenen Erkenntnisse ins Online-Marketing zu übertragen, sodass das Produkt folg-
lich mit dem angepassten Preis in einem Banner oder in einer Anzeige beworben wird.
Die Ergebnisse der Forschung im Rahmen der Künstlichen Intelligenz finden Nieder-
schlag in den modernen Softwarelösungen. In Bezug auf die Preispolitik spielt das
Maschinelle Lernen oder Machine Learning (ML) eine bedeutende Rolle. Machine
Learning versucht zu besseren Ergebnissen zu kommen, indem es sich mit den
gewonnenen Daten beschäftigt. Ziel dabei ist es, dass die Fragen aufgrund von großen
Datenmengen immer besser beantwortet werden können und im verbesserten Algorith-
mus ihren Niederschlag finden. Die Algorithmen verändern sich durch das Machine
Learning folglich permanent weiter (Weber, 2020).
Die Komplexität der Entscheidung hängt von der Preisstrategie ab. So gibt es im
Handel die EDLP-Strategie (Every Day Low Prices). Unternehmen wollen häufig der
Anbieter mit dem niedrigsten Preis sein. Bei einer solchen Strategie muss das System
lediglich die Preise des Wettbewerbs im Blick haben und gegebenenfalls unterbieten.
Verfolgt das Unternehmen dagegen die HiLo-Strategie (High-Low-Prices), so wird die
zu lösende Aufgabe deutlich komplexer (Weber, 2020).
Da immer mehr Unternehmen KI einsetzen, kommt es vermehrt dazu, dass
intelligente Softwarelösungen aufeinandertreffen und gegenseitig die Preise nach oben
oder unten treiben (s. Abb. 18.6).
304 J. Panzer und D. Schmid
18.4.1 Preisdifferenzierung
Die Preisstrategie von digitalen Produkten unterscheidet sich wie oben bereits vor-
gestellt, deutlich von der von klassischen materiellen Produkten. Um den Umsatz zu
optimieren, wäre – der ökonomischen Theorie folgend– allen potenziellen Käufern das
Produkt zu dem Preis anzubieten, der der individuellen Zahlungsbereitschaft entspricht.
Dieses Vorgehen lässt sich in Gänze nicht in die Praxis umsetzen. Nichtsdestotrotz
sollten die Unternehmen Preisdifferenzierungen einsetzen, um möglichst viele Kunden
zu erreichen und dadurch mehr Umsatz und Ertrag zu erzielen.
Im Zuge der Digitalisierung des Pricing-Prozesses haben sich die technologischen
und organisatorischen Voraussetzungen zur Abschöpfung von Pricing-Potenzialen deut-
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 305
Abb. 18.7 Preisdifferenzierungen ersten, zweiten und dritten Grades (Weber, 2020)
lich verbessert. Drei Formen der Preisdifferenzierung (vgl. Abb. 18.7) lassen sich unter-
scheiden Simon & Fassnacht, 2016
• Bei der Differenzierung ersten Grades verlangt der Verkäufer von Kunden den
individuellen Maximalpreis. Die gesamte Konsumentenrente wird monetarisiert.
• Bei der Preisdifferenzierung zweiten Grades haben Kunden verschiedene Wahl-
möglichkeiten. Das Unternehmen segmentiert Kunden nach der Bereitschaft, einen
bestimmten Maximalpreis zu bezahlen. Die Preishöhe wird auf die Zielgruppen
ausgerichtet. Es gibt verschiedene Produkt-Preis-Kombinationen und Käufer ent-
scheiden, welche Kombination präferiert wird.
• Die Preisdifferenzierung dritten Grades knüpft den Zugang zu verschiedenen Preisen
an definierte Parameter. Kunden können nicht frei wählen (Skiera & Spann, 2000).
Ein Beispiel ist ein Rabatt bei Streamingdiensten, der nur Studierenden gewährt wird.
• Bundling
• Abonnement
• Freemium
• Flatrate
• Penetration Pricing
• Auktionen
Bundling
Bundling ist ein Instrument der Preisgestaltung, das sowohl bei materiellen als auch bei
digitalen Produkten häufig Anwendung findet. Dabei werden mehrere Produkte oder
Dienstleistungen des Unternehmens zu einem Paket geschnürt, das für einen Preis,
Paketpreis oder Gesamtpreis angeboten wird (Olderog & Skiera, 2000). Typische Bei-
spiele sind Menüs in Fastfood-Restaurants, Hotelzimmer mit Verpflegung oder Soft-
warepakete wie Microsoft Office. Ziel solcher Produkt- und Preisbündel ist einerseits,
die unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften von Kunden auszunutzen. Andererseits soll
die Kaufentscheidung beeinflusst werden. Insbesondere die Preiswahrnehmung durch die
Kunden soll durch Bundling verändert werden. Leistungsbündelungen haben beispiels-
weise das Ziel, dass
Abonnement
Als Abonnement wird eine Vereinbarung zwischen Verbraucher und Unternehmen über
wiederkehrende Käufe eines Produkts oder einer Dienstleistung bezeichnet (Glazer &
Hassin, 1982). Es entsteht also eine Art Dauerschuldverhältnis, das im Rahmen eines
Customer-Relationship-Management-Ansatzes optimiert werden kann. Ziel des Unter-
nehmens ist es daher, langfristige Kundenbeziehungen sowie wiederkehrende Umsätze
zu generieren. Der Online-Abonnementmarkt eignet sich sowohl für materielle Produkte
als auch für digitale Produkte. So gibt es neben dem klassischen Zeitungsabonnement
heute auch das passende Abonnement der digitalen Zeitung. Aus Kundensicht lohnt sich
das Abonnement, da die Produkte im Abonnementbezug mit einem Preisnachlass ver-
bunden sind. So ist in der Regel die Summe der Einzelausgaben der Zeitung teurer, als
der Preis für das Monats- oder Jahresabonnement der Zeitung. Rudolph et al. (2017)
unterscheiden in vordefinierte, kuratierte und überraschende Abonnements.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 307
Freemium
Der Begriff Freemium besteht aus den englischen Wörtern für kostenlos (free) und
Premium (premium). Freemium, das bevorzugt für digitale Produkte verwendet
wird, bietet dem Nutzer eine kostenfreie Test- oder Demoversion. Diese Versionen
sind üblicherweise zeitlich oder im Umfang bzw. in der Funktionalität begrenzt. Der
Kunde muss lediglich für die über die Basisversion hinausgehenden Leistungen in der
Premium-Variante bezahlen. Meist ist es das Ziel der Freemium-Modelle, die Kunden
an das Produkt zu gewöhnen und anschließend die kostenpflichtige Premium-Variante zu
verkaufen (Simon, 2016). Freemium ist in der Gamer-Branche als Free-to-Play bekannt.
Darüber hinaus wird es bei Spiele-Apps und Browser Games verwendet. Auch bei Soft-
ware as a Service (SaaS), also Online-Lösungen, wird das Freemium-Modell genutzt.
Hierzu zählen Xing, Skype, Spotify oder Dropbox. Die genannten Produkte sind bisher
in der Basis-Variante für den Nutzer zeitlich unbeschränkt kostenfrei.
Flatrate
Bei dem Flatrate-Modell zahlt der Konsument einen im Vorfeld festgelegten Preis pro
Anlass oder Zeitraum und kann dann das Produkt oder die Dienstleistung in beliebigem
Umfang nutzen. Klassische Formen von Flatrates sind Monatskarten, Abonnements in
Fitnessstudios oder Online-Nachrichtendienste. Auch in der Telekommunikation und bei
Internet-Zugängen sind Flatrates stark verbreitet.
Studien zeigen, dass viele Verbraucher eine Flatrate kaufen, obwohl diese für sie nicht
die günstigste Tarifvariante darstellt. Lambrecht und Skiera bezeichnen dieses Phänomen
als „Flatrate-Bias“ (2005). Aus Verbrauchersicht haben Flatrates mehrere Vorteile.
Der Vorzug der Flatrate kann aus folgenden Gründen geschehen (Simon & Fassnacht,
2016):
Penetration Pricing
Bei der Strategie des Penetration Pricing wird mit einem niedrigen Preis in einen Markt
eingetreten, mit dem Ziel, viele Kaufende zu gewinnen (Stahl, 2005). Grundidee ist, dass
sich im Zeitverlauf für fast alle Produkte die Bezugs- und Herstellungskosten ändern.
Wenn bei technisch anspruchsvollen Produkten die Kosten mit der Ausbringungsmenge
erheblich sinken, haben die Unternehmen durch frühzeitige und hohe Absatzmengen
Wettbewerbsvorteile auf der Kostenseite. Daher kann es strategisch sinnvoll sein,
308 J. Panzer und D. Schmid
Produkte bei Markteinführung bewusst aggressiv zu positionieren und starke Kauf- und
Volumenanreize durch das Pricing zu setzen. Ziel ist es, dass sich die hohen Anfangs-
investitionen über die Zeit rechnen und möglichst erhebliche Markteintrittsbarrieren für
andere Markteinsteiger geschaffen werden. Wettbewerber, die erst später in den Markt
eintreten, sehen sich mit erheblichen Nachteilen bei den Herstellungskosten konfrontiert.
Auch bei digitalen Produkten spielt das Penetration Pricing eine große Rolle. Auf-
grund eines niedrigen Preises wird die Kaufbereitschaft zu Beginn erhöht. Gleichzeitig
werden Netzwerkeffekt, „Switching Costs“ und „Lock-in“ Effekte erzeugt. Auf dieser
Basis ist es möglich, dass Preise erhöht werden können, ohne die gesamte negative
Wirkung auf die Nachfrage zu entfalten (Stahl, 2005). Zahlreiche Internetanbieter nutzen
Penetration Pricing. Hier besteht eine Nähe zum oben beschriebenen Freemium.
Auktionen
Auktionen haben im Handel eine lange Tradition. In der digitalen Welt kommt die
Methode zunehmend zum Einsatz. Bekanntestes Beispiel ist Ebay. Auf der Plattform
legen Anbieter einen Startpreis fest und Kaufinteressenten geben Preisgebote ab. Nach
dem Ende der Auktion erhält der Höchstbietende den Artikel. In den letzten Jahren sind
verschiedene Verfahren entstanden, die sich in den Bietregeln unterscheiden, z. B. ob
Preisangebote offen oder verdeckt erfolgen. Eine häufig eingesetzte Form ist die sog.
Vickrey-Auktion, bei der Bieter gleichzeitig Gebote in verdeckter Form abgeben. Der
Bieter mit dem höchsten Gebot erhält den Zuschlag. Diese Vorgehensweise hat für den
Bieter den Vorteil, dass er Gebote genau in Höhe seiner Zahlungsbereitschaft abgibt
(Skiera & Revenstorff, 1999). Die Kenntnis über die maximale Zahlungsbereitschaft
eines Nachfragers hilft dem Anbieter, einen gewinnmaximalen Preis zu bestimmen.
Da bei digitalen Produkten die Kenntnis der „Nachfrage nach einem Produkt“ weit-
aus wichtiger ist als es die „Herstellungskosten“ für die Preisermittlung sind, kommen
Auktionen häufig zum Einsatz. Google verkauft seine Anzeigen „Google Ads“ über
solche Auktionen. Unternehmen geben Gebote für Suchbegriffe ab, mit denen sie in der
Suchmaschine gefunden werden möchten. Der Höchstbietende erhält den Zuschlag und
bezahlt den zuvor angebotenen Preis. Auch im B2B-Geschäft kommen Auktionen zum
Einsatz. Beispielsweise werden Lizenzen im Bereich des Mobilfunkes über Auktionen
vergeben (Simon & Fassnacht, 2016).
18.4.3 Preiskommunikation
Die Digitalisierung hat die Preisgestaltung stark beeinflusst. Preise können schneller
und flexibler festgelegt werden. Neue Technologien machen es möglich, dass eine
dynamische Preisgestaltung wirtschaftlich realisierbar und Preise in Echtzeit veränder-
bar sind. Dynamisches Pricing ist eine Konsequenz daraus. Beim dynamischen Pricing
wird der Verkaufspreis an den aktuellen Markt angepasst. Diese Dynamisierung der
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 309
Preise ergibt auch eine neue Dynamik in der Kommunikation von Preisfestsetzungen
und -veränderungen. Für die Preiskommunikation ergeben sich dadurch zwei große
Herausforderungen (s. Abb. 18.8). Erstens müssen die technischen Voraussetzungen
geschaffen werden, dass Echtzeitpreise bzw. häufige Preisänderungen kommuniziert
werden können. Zweitens müssen Strategien und Argumentationsketten definiert werden,
wie dynamische Preisdifferenzierungen den Konsumenten kommuniziert werden, sodass
sie nicht zu einem Vertrauensverlust oder zu einem Imageschaden führen. Gerade der
letzte Punkt bekommt in der Praxis eine immer größere Bedeutung. Preise müssen so
gesetzt werden, dass sie von Kunden als gut bzw. attraktiv bewertet werden. Das heißt,
die subjektive Bewertung des Preises durch den Konsumenten ist das zentrale Maß.
„Behavioral Pricing“ erfordert eine darauf abgestimmte Kommunikationsstrategie
(Krämer, 2020a).
u Beim Behavioral Pricing ist die subjektive Bewertung des Preises durch den
Konsumenten das zentrale Maß.
Im Folgenden sollen die Anforderungen der Preiskommunikation, die sich aus der
dynamischen Preisveränderung ergeben, näher erläutert:
• Echtzeitpreiskommunikation
• Schlüssige Argumentation der Preisdifferenzen
• „Behavioral Pricing“-orientierte Kommunikation
• Nutzung neuer Kommunikationskanäle
Die Preiskommunikation muss mit der Preisänderung Schritt halten, nur dann erfüllen
Preisänderungen ihren Zweck. Deshalb bedarf es der Anwendung und dem Einsatz
moderner Technik. Spezialisierte Softwarelösungen sorgen dafür, dass veränderte Preise
automatisiert in verbundene Online-Shops übertragen werden und dass auch Werbe-
banner etc. um den veränderten Preis angepasst werden. Für den stationären Handel
bedeutet dies, dass Preisauszeichnungssysteme erforderlich werden, die Preisänderungen
einfach und flexibel umsetzen lassen.
Preise werden sich in der Zukunft deutlich häufiger ändern als in der Vergangenheit, denn
Preisdifferenzierung ist ein wichtiger Erfolgsfaktor der Zukunft. Die Entwicklung kann
dazu führen, dass ein identisches Produkt am gleichen Tag zu unterschiedlichen Preisen
verkauft wird. Dadurch entsteht die Gefahr, dass die Preisänderung bei den Konsumenten
negativ ankommt und sie sich vom Unternehmen abwenden. Unternehmen sind gefordert
sich Gedanken zu machen, wie sie mit solchen Situationen umgehen bzw. wie sie Preis-
differenzierungen argumentieren und kommunizieren (Kalka, 2020; Krämer, 2020b).
Hierbei ist es wichtig, nah an Kunden zu sein, um zu verstehen, wie sie auf die einzel-
nen preispolitischen Maßnahmen reagieren. Experten sind der Meinung, dass Kunden sich
daran gewöhnen, dass Preise mehrmals am Tag verändert werden. Studien belegen, dass
Konsumenten Preisdifferenzierungen bei Flug- oder Mietwagenpreisen mittlerweile ver-
stehen und akzeptieren (sowie z. B. Spritpreise an der Tankstelle). Unterschiedliche Preise
im Supermarkt, abhängig von der Uhrzeit des Einkaufs, sind dagegen für die Mehrheit der
Bevölkerung noch nicht akzeptabel (Haws & Bearden, 2006; Priester et al., 2020).
Damit die Kunden sich für ein Produkt entscheiden, muss der Preis „passen“, d. h. er
muss den Erwartungen entsprechen oder die Erwartungen übertreffen. Nur die subjektive
Einschätzung bzw. Bewertung der Kunden zählt. Anders ausgedrückt: es geht um den
wahrgenommenen Wert („Perceived Value“). Wenn der Wert, den Kunden durch den
Kauf eines Produktes erhalten, größer ist als der gezahlte Preis, wird der Preis positiv
beurteilt (Krämer, 2020a). Die Kommunikationsmaßnahmen müssen darauf ausgerichtet
sein, dass Kunden das Gefühl haben, dass der Preis im Vergleich zum erzielten Nutzen
günstig war. Auf Preiswahrnehmung ausgerichtete Kommunikationsmaßnahmen sind
zum Teil gleich mit denen der Vermarktung über den stationären Handel. Es gibt aber
auch Positionen, die jeweils nur einem Kanal zugeordnet werden können.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 311
Kommunikationsinstrumente, die sich sowohl für materielle als auch für digitale
Produkte eignen, sind Rabatte oder durchgestrichene Preise. Ferner sind die zeitliche
Befristung einer Preisaktion, die Verknappung eines Gutes oder der Vergleich des Preises
mit dem Preis des Mitbewerbers Instrumente, die grundsätzlich auf analogen sowie
digitalen Kanälen funktionieren.
In der digitalen Kommunikation und Vermarktung gibt es jedoch Instrumente, die nur
für Produkte und Dienstleistungen funktionieren, die hauptsächlich über die digitalen
Vertriebskanäle vermarktet werden. Im Folgenden werden einige Besonderheiten und
Instrumente dieser Preiskommunikation dargestellt:
Der Megatrend der Digitalisierung hat große Auswirkungen auf das Marketing. Ins-
besondere stellt sie die Preispolitik vor neue Herausforderungen und erhöht ihre
Bedeutung im Marketing-Mix. Ziel dieses Beitrags war es aufzuzeigen, welche Heraus-
forderungen und Chancen sich durch die zunehmende Digitalisierung für die Preispolitik
eröffnen. Das besondere Interesse lag dabei auf der Frage, welche Auswirkungen sich für
die Preispolitik von digitalen Produkten ergeben.
Dieser Artikel beschäftigte sich mit den Besonderheiten der Preisfestsetzung von
digitalen Produkten. Die Unterschiede zu materiellen Produkten wurden heraus-
gearbeitet. Ein wesentlicher Teil befasste sich mit der Thematik der Preisdifferenzierung
von digitalen Produkten. Denn gerade auch die neuen technischen Möglichkeiten sowie
Zukunftsthemen – wie Big Data, KI, Marketingautomation – eröffnen den Unternehmen
sehr viele Möglichkeiten Preise zu differenzieren, um möglichst viel von der Konsu-
mentenrente abzuschöpfen. Darauf aufbauend wurden Preisstrategien dargestellt, die
speziell für die Vermarktung von digitalen Produkten entwickelt wurden und zunehmend
in der Praxis Anwendung finden. Der letzte Teil der Ausarbeitung befasste sich mit dem
Thema Preiskommunikation. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des
„Behavioral Pricing“ wurden Anforderungen an die Preiskommunikation definiert.
Dieser Artikel kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:
Literatur
Jochen Panzer ist seit 2015 an der IU Internationale Hochschule als Professor für Marketing
Management tätig. Nach Studium und Promotion war er für verschiedene nationale und inter-
nationale Unternehmensberatungen mit Fokus auf Finanzdienstleistungen, Marketing und Vertrieb
tätig. Im Anschluss leitete er als Commercial Director Europe für einen der großen europäischen
Versicherungskonzerne den Direktvertrieb. Aktuell verbindet er im Rahmen des Evidence Based
Management praktische Branchenerfahrung und theoretische Expertise in Kooperationen mit
ausgewählten Unternehmensberatungen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Sales Force
Effectiveness, Direct Marketing sowie Ökosystemen und Innovationen.
18 Digital Pricing für digitale Produkte … 315
Daniel Schmid ist seit 2020 an der IU Internationale Hochschule als Professor für Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre insbesondere Marketing tätig. Nach Studium und Promotion arbeitete er
zunächst in einer internationalen Unternehmensberatung. Danach war er über 20 Jahre in einem
internationalen Dienstleistungsunternehmen tätig. Als Vorstand verantwortete er u. a. die Bereiche
Marketing und Strategie. Zuletzt war er Bereichsdirektor eines der größten internationalen Kinder-
hilfswerke der Welt. Aktuelle Themen seiner Forschung sind Digitales Marketing, E-Commerce,
Handel und Nachhaltigkeitsmanagement.
Dynamisches Pricing bei
Fluggesellschaften und Wahrnehmung 19
der Preisfairness bei Flugreisenden
Zusammenfassung
Das Pricing von Fluggesellschaften entwickelt sich seit den 80er Jahren sehr
dynamisch aufgrund von Deregulierung und Liberalisierung des Luftverkehrs inner-
halb der EU sowie intensiven Wettbewerbs. Dabei verfolgen Fluggesellschaften
heute ein professionelles technologiegesteuertes Preismanagement zur optimalen
Preis- und Kapazitätssteuerung. Treibende Technologien sind dabei Automatisierung
durch Algorithmen und leistungsstarke Kernelemente der Digitalisierung wie Künst-
liche Intelligenz und Big Data. Auf Konsumentenseite hat der Preis für einen Flug
in vielen Märkten eine herausragende Bedeutung bei der Kaufentscheidung. Die
daraus folgende Preissensibilität von Flugpassagieren gilt als hoch. Das dynamische
Preismanagement der Fluggesellschaft kann allerdings dazu führen, dass Reisende
im Verlauf des Kaufprozesses die Preissetzung als unfair wahrnehmen und negative
Kundenreaktionen daraus resultieren. Der Beitrag betrachtet daher die Entwicklung
und Bestandteile des dynamischen Pricings bei Fluggesellschaften unter besonderer
Berücksichtigung der technologischen Treiber und geht auf die Kundenwahrnehmung
des dynamischen Pricings in Bezug auf Preisfairness sowie Folgen für die Fluggesell-
schaften ein.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 317
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_19
318 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers
19.1 Einleitung
Der Einfluss des Preises auf die Absatzmenge lässt sich durch die Preiselastizität messen.
Eine Elastizität gibt im Allgemeinen das Verhältnis der prozentualen Änderung einer
Variablen zu der sie verursachenden prozentualen Änderung einer anderen Variablen
an (Simon & Fassnacht, 2016, S. 108). Die Elastizität ist dabei dimensionslos. Bei der
Preisbestimmung ist die Preiselastizität der Nachfrage eine wichtige Determinante, die
definiert wird als relative Mengenänderung im Verhältnis zur relativen Preisänderung.
Der preispolitische Handlungsspielraum von Fluggesellschaften orientiert sich
somit auch an der Höhe der Preiselastizität der Nachfrage. Ist eine hohe Preiselastizi-
tät gegeben, kann eine Preissenkung zu einem überproportionalen Anstieg der Nach-
frage und entsprechender Umsatzsteigerung führen. Zu einem Umsatzrückgang
kommt es, wenn eine geringe Preiselastizität der Nachfrage vorherrscht und eine Preis-
senkung demnach zu einer unterproportionalen Erhöhung der Nachfrage führt (Simon
& Fassnacht, 2016, S. 121–124). Da Fluggesellschaften in der Regel mit einem Mehr-
Klassensystem agieren, können die Preiselastizitäten der unterschiedlichen Zielgruppen-
segmente (insbesondere Geschäftsreisende und Privatreisende) dazu führen, dass in der
Economy-Class Preise weiter reduziert, hingegen in der Business- und First-Class Preis-
steigerungen realisiert werden.
320 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers
Auf die Preiselastizität der Nachfrage bei Flugprodukten wirken verschiedene Ein-
flussfaktoren, die wiederum abhängig von den Zielgruppensegmenten sind (Conrady
et al., 2019, S. 256):
Preisdifferenzierung liegt vor, wenn eine Fluggesellschaft das gleiche Produkt zu unter-
schiedlichen Preisen anbietet mit dem Ziel, verschiedene Käufergruppen zu erreichen
und die Konsumentenrente abzuschöpfen. Unter Konsumentenrente wird die Differenz
zwischen Zahlungsbereitschaft des Nachfragers und dem Marktpreis verstanden. Eine
differenzierte Marktbearbeitung auf Basis von Marktsegmentierungen wird damit sicher-
gestellt (Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 171). Theoretisch kann so jedem Konsumenten
ein individuell auf ihn abgestimmter Preis angeboten werden. Im Luftverkehr ist eine
sehr ausgeprägte Preisdifferenzierung im Vergleich zu vielen anderen Branchen mög-
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 321
lich, da Tickets personalisiert und nicht übertragbar sind (Conrady et al., 2019, S. 258).
Bei der Preisfestsetzung wird unterschieden, ob es sich um eine langfristig orientierte,
strategische Entscheidung handelt (strategische Preispolitik) oder um eine kurzfristige,
nachfrageorientierte Preisanpassung (operative Preispolitik). Bei Letzterem erfolgt
die Anpassung der langfristigen Kalkulationsbasis an sich kurzfristig ergebende Para-
meter (geringe Nachfrage, Preissteigerungen, Wettbewerbsanpassung u. ä.) (Kolbeck &
Rauscher, 2020, S. 171).
Im Luftverkehr finden folgende Formen der Preisdifferenzierung Anwendung
(Conrady et al., 2019, S. 260; Kolbeck & Rauscher, 2020, S. 172):
Revenue-Management hat sich in den frühen 1960er Jahren zunächst aus einer Über-
buchungsstrategie entwickelt. Dabei wurden mehr Sitzplätze am Markt angeboten als
eigentlich vorhanden waren. 1978 fand eine weitreichende Deregulierung des Luftver-
kehrs in den USA statt. Neu entstandene Low-Cost-Airlines boten wesentlich günstigere
Preise an, die die etablierten Airlines mit höheren Kostenstrukturen nicht anbieten
konnten. Erste Revenue-Management-Systeme entwickelten sich am Markt, um Preise
und Kapazitäten ertragsreicher steuern zu können. Federführend zeichnete sich hier-
bei American Airlines aus, die 1980 das erste System mit kapazitätskontrollierten
Discounted Fares einführten. In den 1990er Jahren etablierten sich dann Systeme, die
E-Commerce, Distribution Control, Lifetime Customer Value Issues sowie Pricing und
Revenue-Optimierung integrierten wie beispielsweise Talus oder ProfitLogic (Conrady
et al., 2019, S. 267–368). Heute kann keine Airline mehr ohne Revenue-Management
agieren und es haben sich hochkomplexe Systeme entwickelt.
Neben der unter Punkt 5.2 dargestellten Preisdifferenzierung beinhalten Revenue-
Management-Systeme Elemente zur Nachfragelenkung im Zeitverlauf, Management
von Überbuchungen, Bildung und Steuerung von Buchungsklassen. Auch das
sogenannte Nesting (Buchungsklassenschachtelung) ist ein Teilbereich des Revenue-
Managements. Hierbei haben höhere Buchungsklassen Zugriff auf vorhandene Kapazi-
täten der niedrigeren Buchungsklasse, allerdings nicht umgekehrt (Conrady et al., 2019,
S. 368–379). Die Buchungsklassen werden darüber hinaus verkehrsstrombezogen
(Reisende einer Buchungsklasse können unterschiedliche Ertragswerte je nach Reise-
weg-, Abflugs- und Ankunftsflughafen aufweisen) und verkaufsursprungsbezogen (nach
Ertragswertigkeit des Verkaufsortes kann die Verfügbarkeit in einer Klasse variieren)
gesteuert. Prognosemodelle zum Management des Nachfrage- und No-Show-Ver-
haltens sowie der Abschätzung des Marktpotenzials sind weitere Standardelemente eines
Revenue-Management-Systems. Die hohe Komplexität der Prozesse kann nur mithilfe
von IT-Systemen gemanagt werden, und somit sind auch die Treiber in diesem Bereich
essenziell bei der dynamischen Pricing-Entwicklung (ebd. S. 267–280).
Wie dargestellt wurde, hat das Pricing von Flugleistungen einen tiefgreifenden Wandel
durchlaufen. Dabei ist diese dynamische Entwicklung nicht nur durch die Fluggesell-
schaften oder Kundenbedürfnisse getrieben, sondern wurde im Wesentlichen auch durch
den technologischen Fortschritt in den Bereichen Algorithmen sowie Automatisierung
ermöglicht.
Zur Darstellung dieses Zusammenhangs werden nachfolgend einerseits die techno-
logischen Treiber aus dem Bereich der Algorithmen bei der Preisbildung vorgestellt und
basierend auf diesen Erkenntnissen die Automatisierung als weitere Dimension in der
Preisgestaltung erörtert.
324 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers
eröffnen zudem das Ausnutzen weiterer Potenziale im Zusammenhang mit der Preis-
bildung bei Flugprodukten, wie nachfolgend detaillierter dargestellt wird.
19.3.2 Einfluss von Künstlicher Intelligenz und Big Data bei der
Preisbildung von Flugprodukten
Künstliche Intelligenz und Big Data sind zwei leistungsstarke Kerntechnologien der
Digitalisierung. KI umfasst dabei Verfahren, welche kognitive Aufgaben- und Problem-
stellungen bearbeiten, die in einem Zusammenhang mit dem menschlichen Verstand
stehen. Hierunter fallen beispielsweise die Bereiche selbstständiges Lernen, eigen-
ständige Kompetenz zur Problemlösungsentwicklung sowie das Themenfeld der Wahr-
nehmung (Kreutzer & Sirrenberg, 2019, S. 3).
In Bezug auf die Preiskalkulation existieren beispielsweise so genannte Price
Intelligence Tools, welche die Produktpreise unter Zuhilfenahme von Machine-Learning-
Verfahren, welche technologisch der KI zuzuordnen sind, kalkulieren. Durch die Ver-
wendung von internen (bspw. Kundendaten) wie auch externen Daten (bspw. Wetter- und
Verkehrsdaten) berechnen diese Tools vollautomatisch Produktpreise (Rainsberger, 2021,
S. 53). Im konkreten Bezug auf die Preisbildung bei Flugprodukten sind vornehmlich
zwei Anwendungsgebiete von zentraler Bedeutung:
Aufbauen auf diesen externen Daten wird der eigene Preisalgorithmus aktiv und kann
die eigenen Produktpreise auf Grundlage von Zielvorgaben anpassen.
Solche auf KI basierende Algorithmen zur Produktpreisberechnung sind in vielen
Unternehmen unterschiedlicher Branchen bereits seit Jahren etablierte Praxis: Die Auto-
vermietung Sixt bezieht bei jeder Anfrage kundenindividuelle Parameter wie die der-
zeitige Nachfrage aber auch den Standort des Gastes sowie das aktuelle Wetter mit ein
(Manager Magazin, 2019) und der Handelskonzern OTTO nutzt eine KI, um dynamische
326 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers
Einerseits sind es die Potenziale der unterschiedlichen Algorithmen an sich, welche die
hohe Dynamik und Qualität der Preiskalkulation für Flugprodukte begünstigen. Anderer-
seits ist es aber auch die Automatisierung von Kalkulationsprozessen, welche ein hoch-
gradig dynamisches, markt- und unternehmensgerechtes Pricing unterstützt.
Die Prozessautomatisierung meint die Durchführung von definierten Abläufen
üblicherweise ohne menschlichen Eingriff (DIN IEC 60050-351:2014-09, o. J.). Dabei
wird in Abhängigkeit vom Umfang der (Teil-)Durchführung von Arbeitsschritten
zwischen einer manuellen Tätigkeit, Teil- und Vollautomatisierung unterschieden.
Findet keinerlei Automatisierung statt, so wird von einem Automatisierungsgrad von
0 % gesprochen, d. h. einem ausschließlich manuellen Prozess. Bei einer vollständigen
Abarbeitung aller Prozessschritte durch einen Algorithmus ohne jeglichen mensch-
lichen Eingriff, beträgt der Automatisierungsgrad 100 % und es wird von einer Voll-
automatisierung gesprochen. Dabei bedeutet ein Automatisierungsgrad von 100 % nicht
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 327
Wie in den vorherigen Kapiteln dargestellt, variieren die Preise der Fluggesellschaften
systematisch durch zunehmend automatisierte und dynamische Prozesse des Revenue-
Managements zwischen verschiedenen Konsumzeiten oder Leistungsniveaus und ins-
328 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers
besondere nach dem Zeitpunkt der Buchung, die bei Flugprodukten oft weit vor dem
Konsum stattfindet (Pompl, 2002). Eine klare und eindeutige Preisbotschaft („der Flug
kostet … EUR“) ist bei einem Dynamic Pricing und ausgefeiltem Erlösmanagement
nicht mehr möglich. So können die Preise für einen innereuropäischen Flug mit einer
Low-Cost-Airline zwischen unter 10 EUR und mehreren hundert EUR je nach Aus-
lastung und Nachfrage variieren (Kalka & Krämer, 2020, S. 481). Wie die Preisfairness –
das heißt die subjektive Beurteilung des Preises eines Angebots als richtig, gerecht oder
legitim (Leinsle, 2017, S. 9) – dabei von Nachfragenden wahrgenommen wird, ist im
Dienstleistungssektor im Gegensatz zur Konsumgüterindustrie wenig untersucht (Hom-
burg und Koschate, ).
Die vom Reisenden wahrgenommene Preisfairness beinhaltet eine Abwägung
der wahrgenommenen Kosten und des wahrgenommenen Nutzens bzw. des wahr-
genommenen Verlustes/Opfers. Obwohl das Preis-Leistungs-Verhältnis und die Preis-
fairness beide Preisbeurteilungen darstellen und eine Kosten-Nutzen-Abwägung
implizieren, bezieht sich der zentrale Unterschied zwischen beiden Konstrukten auf die
Einbeziehung sozialer Normen und Standards in das Preisfairnessurteil (Leinsle, 2017,
S. 11). Sie beinhaltet daher einen Vergleich eines Preises oder Prozesses mit einem
relevanten Standard, einer Referenz oder einer Norm. In Austauschbeziehungen ent-
stehen Fairnesswahrnehmungen, wenn eine Person ein Produkt und das damit wahr-
genommene Kosten-Nutzen-Verhältnis mit einem anderen vergleicht. Demnach wird
der Preis eines Produktes als fair bewertet, wenn das wahrgenommene Kosten-Nutzen-
Verhältnis eines Produkts mindestens dem einer vergleichbaren Referenztransaktion
entspricht (Ziehe und Schüren-Hineklmann, 2020, S. 295). Neben dieser kognitiven
Perspektive des ökonomischen Abwägens des Nutzens und der Kosten werden beim
Preisfairnessurteil der Reisenden auch weitere Informationen berücksichtigt (Leinsle,
2017, S. 12):
Nachgewiesener Maßen ist der Preis eines Fluges einer der wichtigsten Entscheidungs-
kriterien für Reisende im Kaufzyklus (Bieger et al., 2002; Pompl, 2002; Friesen, 2008).
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 329
Auf Grundlage bisheriger Erkenntnisse kann eine als unfair wahrgenommene Preis-
gestaltung zu folgenden negativen Verbraucherreaktionen führen:
Abb. 19.1 stellt noch einmal die Treiber des dynamisches Pricings sowohl auf Anbieter-
als auch auf Nachfragerseite sowie Preisfairnesselemente zur Gestaltung des Pricing-
prozesses dar.
19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 331
19.5 Fazit
In diesem Artikel wurde die Entwicklung der dynamischen Preisgestaltung bei Flug-
gesellschaft aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen wurden die technologischen
Treiber dieses Prozesses, insbesondere die Automatisierung, Künstliche Intelligenz
sowie Big Data, hinsichtlich des Potenzials für die Preisgestaltung dargestellt. Zum
anderen wurde untersucht, inwieweit die durch Technologie ermöglichte Dynamik der
Preise in der Kundenwahrnehmung als fair bzw. transparent aufgefasst werden.
Als Ergebnis dieser Untersuchung kann konstatiert werden, dass Schlüsseltechno-
logien der Digitalisierung wie KI und Big Data im Zusammenspiel mit der Auto-
332 I. zur Oven-Krockhaus und C. Albers
Literatur
Bieger, T., et al. (2002). Transformation of business models in the airline industry. Impact on
tourism. In P. Keller & T. Bieger (Hrsg.), Air Transport and Tourism, Bd. 44, (S. 49–82). St.
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19 Dynamisches Pricing und Wahrnehmung … 333
Christoph Albers ist für die TUI AG als Head of Delivery Central Region tätig und verantwortet
u.a. in dieser Position das IT-Projektportfolio von TUI Deutschland, Österreich, Polen und der
Schweiz. Er studierte Wirtschaftsinformatik und Business Administration und ist seit 2013 in der
Tourismusbranche für namenhafte Online-Travel-Agencies sowie seit 2015 in unterschiedlichen
leitenden Funktionen bei der TUI AG beschäftigt. Darüber hinaus ist er Autor von Fachartikeln
zu den Themen IT-Management, agile und digitale Transformation sowie IT-Projektmanagement.
Zusätzlich engagiert er sich als Dozent zu den Themen Digitalisierung und Tourismus.
Paid-Content-Strategien im
Verlagswesen – eine vergleichende 20
Analyse führender Zeitungen aus den
USA und Deutschland
Zusammenfassung
Die digitale Revolution hat längst die Medienbranche und mit ihr die Zeitungsverlage
erfasst. Während die Branche zunächst– in der Hoffnung auf gute Werbeeinnahmen
durch eine hohe Reichweite– die Inhalte der eigenen Website kostenlos angeboten
hat, stellt sich heutzutage die Frage, welches Bezahlmodell die jeweils geeignete
Variante ist. Mit der harten Bezahlschranke (Hard Paywall), dem Freemium- und
Metered-Modell, Dynamischen Paywalls, sowie mit Hybrid- und Spendenmodellen
stehen Alternativen zur Verfügung, die sich teilweise sehr deutlich voneinander
unterscheiden. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, inwieweit sich die Paid-
Content-Modelle der führenden Zeitungen aus den USA und Deutschland von-
einander unterscheiden bzw. welches Modell sich aktuell durchzusetzen scheint. Ziel
des Artikels ist es, anhand der Analyse Medienschaffenden und Unternehmen einen
Überblick bestehender Geschäftsmodelle zu bieten, die aktuell die Medienlandschaft
dominieren.
M. Zeisberg (*)
IU Internationale Hochschule, Campus Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
N. Hansen
IU Internationale Hochschule, Münster, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 335
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_20
336 M. Zeisberg und N. Hansen
20.1 Einleitung
The New York Times, The Wall Street Journal, die Bild oder die Ostsee-Zeitung − so
unterschiedlich in ihrem Anspruch, so vereint doch in der Notwendigkeit, eine Antwort
auf den gravierenden Wandel der Digitalisierung zu finden (vgl. Czerny, 2017). Dies
betrifft in besonderer Weise das traditionelle Erlösmodell als bewährtes Mischmodell
aus Verkaufserlösen (Einzel- und Aboverkäufe) und Werbeeinnahmen (Anzeigen und
Beilagen). Dieses erlebt einen anhaltend dramatisch-revolutionären Wandel. Dieser
wird nicht zuletzt von dem weitgehenden Verlust des wichtigen Rubrikengeschäfts
(u. a. Stellen-, Auto-, Immobilien- und Bekanntschaftsanzeigen) und nachhaltigen Ver-
änderungen im Leseverhalten getrieben: Bis zur Jahrtausendwende wurden als Faust-
regel noch zwei Drittel der Einnahmen durch Werbung erzielt. Aber bereits 2009
übertrafen die Einnahmen aus dem Vertrieb der Zeitungen in Deutschland die Anzeigen-
erlöse (Pasquay, 2010). Erwartungsgemäß haben die Verlage versucht, diese Einnahme-
verluste mittels einer erheblichen Erhöhung der Verkaufspreise auszugleichen (Röper,
2012). Vor dem Hintergrund sinkender Auflagen war eine Kompensation der Ein-
nahmen jedoch nur teilweise möglich. So gewann die Frage strategische Bedeutung,
wie die Lücke weitergehend geschlossen werden kann. So unterschiedlich die Verlags-
welt, so differenziert fallen auch die Strategien aus. Diese reichen von einer Fusion
mit einer größeren Zeitung bis hin zur Diversifikation in neue Geschäftsfelder. In der
Breite fokussierten sich die Erwägungen jedoch schnell auf die Suche nach der richtigen
Strategie für Bezahllösungen für digitale Inhalte. Dahinter stand die sich immer
mehr durchsetzende Erkenntnis, dass die bis ungefähr 2010 vertretenen Ansätze sich
gleichermaßen nicht langfristig als wirksam erweisen können: die Bereitstellung kosten-
loser Onlineangebote (im Vertrauen auf Werbefinanzierung durch Reichweite) bzw. des
Schutzes vor einer Kannibalisierung der Druckauflage durch den konsequenten Verzicht
auf ein digitales Engagement (Grasemann, 2019).
Diese Entwicklung reflektiert sich auch in den Zahlen des Bundesverbands
Digitalpublisher und Zeitungsverleger für das Jahr 2020: Demnach steuerten die Anzeigen-
und Werbeerlöse nur noch 26 % zu den Einnahmen bei (2016: 35 %). Gleichzeitig erzielten
die Zeitungsverlage rund 10 % ihrer Umsätze durch digitale Angebote, wobei es bei den
überregionalen Zeitungen bereits mehr als ein Viertel war (Keller & Eggert, 2021).
Gleichzeitig gab es zu keinem Zeitpunkt nur den einen naheliegenden Ansatz zur
konkreten Ausgestaltung der Bezahllösung für digitale Inhalte. Bis heute sind Zeitungs-
verlage gefordert, dasjenige Geschäftsmodell herauszuarbeiten, welches zu den spezi-
fischen Merkmalen des Unternehmens und der Leserschaft am besten passt.
Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag zum einen der Frage nach-
gegangen, welche Modelle führende Zeitungen in den USA für Bezahllösungen
anwenden. Damit verbindet sich die Frage, ob die USA als Wegbereiter bei den
elektronischen Medien bei allen bestehenden Unterschieden im Mediensystem auch
in dieser Frage eine Vorreiterrolle einnehmen könnten bzw. durch ihre Vorgehens-
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 337
weise einen Denkanstoß für deutsche Verlage liefern (Kleinsteuber & Kutz, 2008). Zum
anderen wird in diesem Beitrag skizziert, wie sich die Situation im Vergleich zur Vor-
gehensweise deutscher Tageszeitungen darstellt.
20.2 Definitionen
u Paid Content: „Bezahlinhalt, Bezeichnung für Inhalte aller Art, die über digitale Ver-
breitungswege wie das Internet oder über mobile Dienste gegen Bezahlung verfügbar
gemacht werden.“ (Sjurts, 2010).
u Paywall: „Unter einer Paywall versteht man eine Bezahlschranke auf einer Internet-
seite. Das heißt, bestimmte oder alle Inhalte auf einer Website werden für den User erst
sichtbar, wenn er eine Gebühr bezahlt bzw. ein Abonnement abschließt […]“. (BDZV,
o. J.).
Die Ausbreitung der Paywalls bringt wie so viele andere Errungenschaften und Möglich-
keiten des Internets sehr spezifische Vor- und Nachteile mit sich. So weist beispielsweise
Kansky (2015, S. 85 f.) mittels einer Analyse verschiedener Studien zu diesem Thema
darauf hin, dass Paywalls die Verlage bei der Realisierung unterschiedlichster Ziele
unterstützen: Allein schon durch die Registrierung auf der Website werden die nutzenden
Personen identifizierbar und können so gezielt für Vermarktungszwecke angesprochen
werden, während gleichzeitig auch eine Förderung der journalistischen Qualität denkbar
ist: Der Ehrgeiz, durch eine besondere Exklusivität der Beiträge hinter die Paywall zu
gelangen und damit zum Teil des „wertigen“ Journalismus beizutragen, kann sich durch-
aus qualitätsfördernd auswirken. Eine Zusammenfassung verschiedener Betrachtungs-
weisen liefert auch Benson (2019, S. 146 f.), indem er feststellt, dass „the upside of
the subscription model is that readers are only going to pay money for something they
really want or need. This provides a strong incentive for news organizations to produce
the highest quality journalism. … The downside, though, is that subscriber-funded
news caters to relatively high-income, high-education elites. Even if subscriptions
contribute to higher quality news, if that news fails to reach a broad audience, it’s not
really a solution to the civic crisis of an uninformed, often misinformed, and distrustful
citizenry“.
Nach Angaben des Reuters Institute Digital News Report 2021 gingen im Jahr 2020
zunehmend mehr Verleger dazu über, ihre Inhalte hinter einer Paywall zu verbergen, um
338 M. Zeisberg und N. Hansen
somit ihre Abhängigkeit von Werbeanzeigen, die vornehmlich an Google und Facebook
gehen, zu reduzieren (Newman et al., 2021).
Unterscheiden lassen sich in der Praxis unterschiedliche Ausgestaltungen von
Paywalls: die harte Bezahlschranke (Hard Paywall), das Freemium- und Metered-
Modell, Dynamische Paywalls, Hybride Modelle und das Spendenmodell. Diese
Modelle sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Das Online-Angebot der Zeitung kann nur dann genutzt werden, wenn man entweder ein
Abonnement bezieht oder einen Tagespass erwirbt, ansonsten bleibt man „ausgesperrt“
(Feil, 2019). Diese Form der Paywall findet man aber vergleichsweise eher selten vor,
besteht doch die Gefahr, massiv Kundschaft und Traffic zu verlieren (Manhart, 2019a).
So verlor 2010 als mahnendes Beispiel die Website der renommierten Londoner Tages-
zeitung The Times nach Einführung der harten Paywall gut zwei Drittel ihrer Leserschaft
und dies, obwohl sich nicht wenige Lesende sicherlich das Online-Abo hätten leisten
können (Manhart, 2021b). In Nischenbereichen und bei Fachmedien bestehen aber
durchaus Aussichten auf Erfolg, sofern vergleichbare Informationen nicht bequem und
eben kostenlos an einem anderen Ort bereitstehen (ebenda).
Eine klare harte Bezahlschranken-Strategie verfolgt die norddeutsche Regional-
zeitung Zevener Zeitung (www.zevener-zeitung.de), die ihren Sitz nordöstlich von
Bremen hat. Beim Aufrufen der Website wird der Interessierte zum ePaper-Login auf-
gefordert, lediglich das „Sonntagsjournal“ und das „Vereinsblatt“ sind als pdf frei abruf-
bar. Möglicherweise setzt man als traditionsreiche und betont regionale Tageszeitung
(Gründungsjahr 1889) für die vier Samtgemeinden Zeven, Sittensen, Tarmstedt und
Selsingen auf eine entsprechende Exklusivität des lokalen Nachrichtenteils, in Ver-
bindung mit einem moderaten monatlichen Bezugspreis (Zevener Zeitung, o. J.).
20.3.2 Freemium-Modell
Mit dem Kunstwort „Freemium“ als Kombination von „Free“ und „Premium“, wird
das Vorgehen beschrieben, einen Teil der Beiträge der gesamten Leserschaft kostenlos
(„free“) zur Verfügung zu stellen, während andere, exklusive („premium“) Inhalte der
zahlenden Kundschaft vorbehalten bleiben (Heinz, 2019). Diese Vorgehensweise, die
gelegentlich auch als „Soft Paywall“ bezeichnet wird, fokussiert sich bei den Bezahl-
angeboten in der Regel auf Datenjournalismus, Reportagen, Hintergrundberichte oder
Leitartikel (Feil, 2019) bzw. ganz allgemein auf Inhalte, die aus der Sicht des Zeitungs-
hauses sehr hochwertig bzw. exklusiv sind (Pasquay, 2010). Die Entscheidung darüber,
welche Beiträge kostenpflichtig sind, obliegt beispielsweise bei der FAZ der Redaktion
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 339
Das Hamburger Abendblatt des Axel Spinger Verlags (www.abendblatt.de) setzt eben-
falls auf das Freemium-Modell und kennzeichnet seine Bezahlartikel („Plus-Artikel“)
mit einem A+. Während bei den Lokalnachrichten („Hamburg“) alle Inhalte kosten-
pflichtig sind, betrifft es im regionalen Teil („Nord“) eine deutliche Mehrheit der
Beiträge, während beispielsweise in der Rubrik „Politik“ gänzlich auf eine Bezahl-
schranke verzichtet wird. ◄
20.3.3 Metered-Modell
Bei dem Metered-Modell, hergeleitet vom englischen Wort für „dosiert“ (metering),
stellt die Zeitung eine bestimmte Anzahl von Beiträgen kostenlos zur Verfügung (Gansel
340 M. Zeisberg und N. Hansen
et al., 2019). Wird dieses vom Verlag gesetzte Limit erreicht, erfolgt die Aufforderung,
ein Abo abzuschließen oder einen Tagespass zu erwerben. Dahinter steht die Idee, dass
die kostenlosen Artikel es den Interessierten erlauben, sich eine Meinung über die Quali-
tät der Inhalte zu bilden (Pasquay, 2010).
Allerdings stehen Unternehmen vor der Herausforderung, die Anzahl der Frei-
artikel so auszutarieren, dass sie zum einen keine bestehenden Abonnierenden verlieren
(Kannibalisierung), gleichzeitig aber durch lesende Personen ohne Zahlungsbereitschaft
Werbeeinnahmen generieren. Bestehende Abonnierende der Printausgabe könnten bei-
spielsweise ihr bestehendes Abo nicht weiter verlängern, wenn sie feststellen, dass sie
online ausreichend Artikel umsonst lesen können. Lesenden Personen mit einer geringen
Zahlungsbereitschaft hingegen sollte eine ausreichende Anzahl an Freiartikeln zur Ver-
fügung gestellt werden, damit für diese Werbeeinnahmen abgegriffen werden können.
Das optimale Verhältnis gilt es hier zu ermitteln.
Bekanntestes Beispiel für ein Metered-Modell ist die New York Times. 2011 führte
sie erstmals dieses Modell ein, bei dem zunächst 20 Artikel pro Monat umsonst
gelesen werden konnten (Pattabhiramaiah et al., 2018). Diese recht hohe Schwelle
zur Bezahlschranke sollte zusätzliche Werbeeinnahmen generieren. Rund ein Jahr
später, im April 2012 reduzierte die NYT die Anzahl der Freiartikel auf 10, um mehr
Personen zum Abschluss eines Abos zu motivieren. ◄
Viele Medienunternehmen sind inzwischen dazu übergegangen, stärker auf die Bedürf-
nisse der User bzw. der Leserschaft zu „hören“. Moderne Paywalls sind datengetrieben,
sodass nur solche Inhalte, die Teile der Leserschaft effizient in Abonnenten verwandeln,
hinter der Paywall verschwinden. Wie diese Inhalte ausgewählt werden, variiert von
Zeitung zu Zeitung.
Bei einer dynamischen oder „smarten“ Paywall handelt es sich um eine Techno-
logie, die an einem bestimmten Punkt im Akquirierungsprozess datengetriebene
Personalisierung einsetzt, um die Effizienz zu verbessern. Während reguläre Paywalls
sich auf etablierte Regeln verlassen, werden dynamische Paywalls für jede nutzende
Person einzeln angepasst (Leitner, 2018).
Das dynamische Paywall-Modell entscheidet somit dynamisch, ob der angefragte
Artikel angezeigt wird oder ob man aufgefordert wird, ein Abo abzuschließen.
Während das Metered- und Freemium-Modell die gleichen Regeln für alle fest-
setzen, versucht die dynamische Paywall das individuelle Verhalten zu berücksichtigen,
zum Beispiel, indem das Limit des Metered-Modells angepasst wird oder personalisierte
Marketingaktivitäten geschaltet werden (Leitner, 2018).
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 341
Zwei Medien, die bereits eine dynamische Paywall einsetzen, sind die Neue Zürcher
Zeitung (NZZ) und das Wall Street Journal (WSJ).
Beide analysieren das Leseverhalten der Leserschaft. Auf dieser Basis erstellen
sie entweder ein persönliches Profil, bei dem über 100 Kriterien wie Lesehistorie oder
benutztes Endgerät erfasst werden, um daraus die Wahrscheinlichkeit eines Abonne-
ment-Abschlusses zu errechnen (NZZ). Oder sie führen eine Segmentierung anhand
von 60 Kriterien in die drei Abschlusskategorien „cold“, „warm“ und „hot“ durch
(WSJ). Je wahrscheinlicher es ist, dass ein Abo abgeschlossen wird, desto weniger
Artikel werden der nutzenden Person kostenlos angezeigt. Zudem steigern die Ver-
lage durch die „offene“ Paywall für zahlungsunwillige Personen ihre Attraktivität für
Werbekunden (Gansel et al., 2019).
Demografische Kriterien, zum Beispiel in Bezug auf Ausbildung und Ein-
kommen, haben eine starke Korrelation zur Wahrscheinlichkeit des Abo-Abschlusses.
Allerdings ist es bedingt durch technische oder datenschutzrechtliche Ein-
schränkungen oft nicht möglich, diese Daten zu erheben (Leitner, 2018). Das Wall
Street Journal umgeht diese Einschränkungen, indem es näherungsweise Schätzungen
auf Basis anderer Kriterien wie Ort des Zugriffs erstellt und auf diese Weise über
hundert verschiedene Entscheidungsbäume kreiert.
Durch diese Automatisierung kann die Redaktion allerdings nicht mehr selbst ent-
scheiden, welche Artikel umsonst zugänglich oder hinter der Paywall verborgen sind.
Auch wenn das bei einigen betroffenen Personen nicht auf Zustimmung stößt, gibt
der Erfolg der dynamischen Paywall dem Verlag recht: Die Anzahl der Artikel, die
kostenlos zugänglich sind, hat sich nicht verändert, allerdings hat sich die Conversion
Rate (Konversionsrate) verdoppelt (Leitner, 2018). ◄
20.3.5 Hybrid-Modell
Abb. 20.1 Bezahlmodelle der reichweitenstärksten Zeitungen in Deutschland und den USA im
Jahr 2019 im Vergleich. (Eigene Darstellung nach Simon und Graves (2019))
Abb. 20.2 Bezahlmodelle der reichweitenstärksten Zeitungen in Deutschland und den USA im
Jahr 2017 im Vergleich. (Eigene Darstellung nach Simon und Graves (2019))
Bei diesem Modell entscheidet jeder für sich selbst, ob und in welcher Höhe er einen
finanziellen Beitrag leisten möchte (BDZV, 2021). Mit einem Anteil von rund einem Pro-
zent aller Bezahlmodelle in Deutschland ist dieser Ansatz eine Rarität, der vor allem in
Deutschland mit der taz (www.taz.de) verbunden ist. Dazu heißt es seitens der Zeitung,
dass „mit ‚taz.zahl ich‘ die Leser:innen der taz daran erinnert werden, dass hinter jedem
Klick journalistischer und technischer Aufwand steckt, und jeder Beitrag seitens der
Leser:innen dabei helfen kann, den Online-Journalismus der taz zu erhalten. … Damit
geht nicht zuletzt ein solidarischer Gedanke einher: taz.de soll in seiner aufklärerischen
Funktion auch für Menschen, die sich weder einen Beitragnoch ein Abonnement leisten
können, frei zugänglich sein.“ (Matusko, o. J.).
Insgesamt zeigt sich, dass sowohl in den USA als auch in Deutschland der Trend zu
Bezahlmodellen zugenommen hat. Waren 2017 in den USA noch knapp 45 % der News-
Angebote kostenlos zugängig, waren es 2019 nur noch 32 % (Abb. 20.1). In Deutschland
bezahlte das Lesepublikum 2017 für mehr als 47 % der Angebote nichts (Abb. 20.2),
2019 nur noch für 43 % (Simon & Graves, 2019).
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 343
Obwohl die Zahlungsbereitschaft für Nachrichten nach wie vor gering ist (Newman
et al., 2021), zeigt sich in den USA ein neuer Trend: Die Mehrheit der Menschen, die
sich ein Abonnement leisten, abonnierte zwei Publikationen, zunehmend eine nationale
Publikation in Kombination mit einem regionalen Angebot (Newman et al., 2021).
20
18 17,46
16
14,51
Monatlicher Durchschnispreis in €
14
11,93
12
10,6
10
0
2017 2019
Deutschland USA
Abb. 20.3 Durchschnittlicher monatlicher Abopreis pro Monat. (Eigene Darstellung nach (Simon
und Graves 2019))
344 M. Zeisberg und N. Hansen
Abb. 20.4 Bezahlmodelle für Online-Nachrichten in den USA. (Eigene Darstellung nach (Simon
und Graves 2019))
Ein neues Modell hat sich zudem in den USA etabliert: Das in San Francisco
ansässige Start-up Substack macht von sich reden, da es renommierte Journalisten von
etablierten Zeitungen weglockt und eine Plattform bietet, auf der sich Abonnements
digitaler Newsletter von einzelnen Medienschaffenden monetarisieren lassen (Newman
et al., 2021). So erscheinen auf Substack z. B. Rolling-Stone-Redakteur Matt Taibbi oder
Buzzfeed-Technologie-Reporter Alex Kantrowix. Substack zeichnet sich somit durch ein
neuartiges Geschäftsmodell insgesamt aus, das ein Bezahlmodell mit einem neuartigen
journalistischen Produkt kombiniert.
20.6 Ausblick
Der Trend zu Bezahlmodellen nimmt zu. Zeitungsverlage stehen vor der Heraus-
forderung, die Zahlungsbereitschaft ihrer Leserschaft zu erkennen und geeignete
Angebote zu offerieren, ohne an Reichweite und somit Werbeeinnahmen einzubüßen.
In den USA hat sich ein eindeutiger Trend zur Einführung von Metered-Modellen
gezeigt. Allerdings gehen Verlage zunehmend dazu über, nicht mehr die klassische
Form anzuwenden, bei der vorab eine bestimmte Anzahl an Freiartikeln festgelegt wird,
20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 345
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20 Paid-Content-Strategien im Verlagswesen … 347
Prof. Dr. Matthias Zeisberg ist Professor für Marketingmanagement im Dualen Studium der IU
Internationale Hochschule am Campus Hamburg. Er verfügt über eine langjährige Berufs- und
Führungserfahrung in Management und Beratung mit den Schwerpunkten Consumer Marketing,
Marktforschung und Vertriebsunterstützung. Seine Interessensgebiete liegen in der empirischen
Forschung und im strategischen Marketing.
Prof. Dr. Nele Hansen ist Professorin für Medienmanagement an der IU Internationale Hoch-
schule. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Marketing &
Medien der Universität Münster und als Redakteurin der WirtschaftsWoche. Ihr Forschungs-
schwerpunkt liegt auf dem Gebiet Social und News Media.
E-Commerce-Strategien – Digitaler
Vertrieb und aktuelle Praxisbeispiele 21
Benjamin Schulte
Zusammenfassung
B. Schulte (*)
IU Internationale Hochschule, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 349
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_21
350 B. Schulte
diese Kanäle entweder exklusiv genutzt oder kombiniert werden können, und welche
strategischen Erwägungen diesen Optionen zu Grunde liegen. Es werden die typischen
Strategien und Modi des digitalen Vertriebs zusammenfassend dargestellt und auch
die Mehrkanal-Aspekte erörtert. Aktuelle Praxisbeispiele belegen die beschriebenen
Strategieansätze im deutschen Markt. Abschließend wird ein Ausblick auf die Ent-
wicklungen der kommenden Jahre gegeben. Die Zukunft des Online-Vertriebs zeigt
neue Perspektiven auf innovative Vertriebsmodelle, verstärkten Einsatz von mobilen
Lösungen und Social-Media- sowie Omni-Channel-Ansätze. Diese ermöglichen es
B2C-Unternehmen, auch in Zukunft relevant zu bleiben, Kund:inn:en zu begeistern und
die Reichweite zu erhöhen.
Die digitale Transformation im Handel mit Waren und Dienstleistungen ist die wichtigste
Entwicklung für Handelsunternehmen in Deutschland (Deutsche Telekom, 2021). Dies
betrifft alle Geschäftsbereiche, jedoch insbesondere das Marketing und den Vertrieb ent-
lang des Kaufprozesses. Der Weg des Verkaufs an Endverbraucher:innen – die Customer
Journey – ist heute mehr denn je von digitalen Touchpoints dominiert.
Bereits zu Beginn des digitalen Kaufprozesses (Abb. 21.1) werden die Kund:inn:en
mit Kommunikationsmaßnahmen online erreicht und gestalten ihre Suche hauptsäch-
lich mittels digitaler Werkzeuge. Die Preisgestaltung ist seit langer Zeit dynamisiert und
muss vermehrt den digitalen Wettbewerb berücksichtigen. Weiterhin zeigt sich, dass der
Vertrieb einen großen Anteil am Gelingen einer digitalen Strategie hat, da viele Schritte
des Kaufprozesses in diesen Schwerpunkt fallen.
In der Vorkaufphase ist vor allem das Marketing im Lead, Kommunikationsmaßnahmen
zu gestalten, um in der Bedarfserkennung und Informationssuche digital Informationen zu
liefern und den:die Kund:inn:en in den Vertriebskanal des Unternehmens zu führen. Wie
eine aktuelle Befragung belegt, ist hier neben einer eigenen Webseite auch eine Social-
Media-Präsenz wichtig (Bitkom Research, 2021).
In der Kauf- und Nachkaufphase beginnt der Schwerpunkt des Vertriebs – die
Abwicklung der Bestellung und Bezahlung bis hin zur Leistungserbringung und
zum After-Sales-Services. Auch die Anbahnung von Wiederkäufen bspw. durch ver-
triebsgesteuerte Kommunikation oder Loyalitätsprogramme sowie das Servicing von
Abo-Modellen sind Vertriebsaufgaben. Bereits 85 % der Einzelhändler in Deutsch-
land verkaufen komplett oder parallel zum stationären Geschäft per Internet (Bitkom
Research, 2021).
Allgemein lassen sich verschiedene digitale Vertriebswege abgrenzen, die für Unter-
nehmen bestimmte Besonderheiten bieten.
Der Einstieg in den digitalen Vertrieb ist heute einfacher denn je. Grundsätzlich steht
jedem Unternehmen eine Vielzahl an digitalen Vertriebswegen zur Verfügung, die sich
verschiedenen Kategorien zuordnen lassen: Direkte Vertriebskanäle wie ein eigener
Online-Store sowie indirekte Vertriebskanäle wie Online-Händler oder Online-Markt-
plätze.
Jedoch gibt es keinen „typischen“ Einstieg in den Onlinevertrieb. Vielmehr stehen
die Vertriebswege eigenständig nebeneinander, bieten eigene Vor- und Nachteile, die
abgewogen und mit der Vertriebsstrategie des Unternehmens in Einklang gebracht
werden müssen und in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
Beim Online-Kauf findet die Bestellung und Bezahlung über einen digitalen Ver-
triebsweg statt. Das Fulfillment (Auftragserfüllung/Distribution) – also die Leistungser-
bringung – wird dann je nach Produkttyp digital oder auf klassischen Distributionswegen
durchgeführt, die bereits aus dem Versandhandel bekannt sind. Diese umfassen die
großen Paketdienstleister wie DHL und Hermes und viele weitere Logistik- und Dis-
tributionsdienstleister. Alternative Vertriebswege stehen zur Verfügung – so können
Anbieter mit einem stationären Vertriebskanal integrierte Services wie Click-and-Collect
anbieten, bei denen Online-Bestellungen in einer Filiale abgeholt werden können.
Beispiel Adidas
Direkter digitaler Vertrieb bedeutet, dass das Unternehmen in weiten Teilen direkt die
Bestellung von Kund:inn:en aufnimmt, abwickelt und die Leistungserbringung über-
nimmt. Dieser strategische Ansatz eignet sich wie aktuelle Beispiele zeigen sowohl
für digitale wie auch für physische Produkte und Dienstleistungen und erfreut sich
steigender Beliebtheit.
Beispiel H&M
Der Modehändler H&M vertreibt neben dem stationären Geschäft seine Produkte
erfolgreich über einen Online-Store und über eine eigene App – hierbei hat das
Unternehmen ein hohes Maß an vertikaler Integration. Der digitale Vertrieb ist laut
Geschäftsbericht ab 2020 gewachsen, während der stationäre Vertrieb stark gesunken
ist (H&M Group, 2020). Dies reflektiert einen industrieweiten Trend: Der Anteil des
Online- und Versandhandels am Textil- und Bekleidungsumsatz in Deutschland ist in
2020 auf über 27 % gestiegen (BTE, 2021). ◄
Heute setzen viele Firmen im B2C-Geschäft auf einen eigenen Online-Store oder eine
Shopping-App für mobile Geräte ergänzend zu ihrer Unternehmensseite. Der Einstieg
in den direkten Vertrieb ist im digitalen Bereich weniger komplex als im stationären
Geschäft. Denn die digitale Infrastruktur zum Kontakt zu Kund:inn:en und der
Bestellungsabwicklung steht heute weitgehend standardisiert zur Verfügung – Shop-
system-Dienstleister wie Magento senken die Einstiegsbarrieren hierbei maßgeblich
(Süss, 2016, S. 9). Der Markt dieser Anbieter hat den Einstieg in den direkten Online-
Vertrieb auch für KMU stark vereinfacht.
Zusätzlich ist im Rahmen der Digitalisierung der Unternehmensprozesse oft ohnehin
notwendig, dass Unternehmen ihre digitalen Systeme umstellen und viele Shopsysteme
sind mit den verbreiteten CRM- und ERP-Systemen kompatibel, so wie beispielsweise
Salesforce Commerce Cloud und SAP Commerce.
Strategisch kann der Einstieg in den digitalen Vertrieb mittels direktem Vertriebs-
kanal für Unternehmen mit bereits vorhandenem stationärem Geschäft vorteilhaft sein.
Dafür spricht beispielsweise, dass die psychologische Distanz bei bereits bekannten
Händlern geringer ausgeprägt ist, als bei unbekannten Händlern und dies dazu führt, dass
Kund:inn:en in der Vorkaufphase eher Händler wählen, bei denen diese Distanz gering
ist, die sie also bereits kennen (Darke et al., 2016).
21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 353
Digitaler Vertrieb per Intermediär umfasst alle Kanäle, bei denen ein Intermediär
zwischen Unternehmen und Kund:inn:en steht, der die digitale Bestellung entgegen-
nimmt. Dies kann ein Händler oder ein Absatzhelfer sein. Die übrigen Schritte im Kauf-
prozess können sowohl beim Intermediär als auch beim Unternehmen selbst liegen.
Bei Vertrieb über Händler spricht man auch von indirektem Vertrieb (Homburg, 2020,
S. 950). Hierbei kauft ein Unternehmen ein Produkt vom Hersteller mit der Absicht,
es zu verkaufen (Homburg, 2020, S. 1096). Bei dieser Vertriebsform verliert das ver-
kaufende Unternehmen in weiten Teilen die strategische Kontrolle über den digitalen
Kanal, daher wird diese Form von indirektem Vertrieb in diesem Beitrag nicht weiter
berücksichtigt.
Solange das Eigentum an der Ware bei dem Drittunternehmen verbleibt, tritt der Inter-
mediär als Absatzhelfer auf, hierbei spricht man über direkten Vertrieb mit Intermediär.
Dieser kann auch weitere oder alle Schritte im digitalen Kaufprozess übernehmen – also
die Zahlungsabwicklung, Distribution bzw. Leistungserstellung und die Abwicklung von
Service und Retouren.
Beispiel Intermediäre
Social Commerce
Auch Social Commerce, bei dem Bestellmöglichkeiten direkt in die Social-Media-Profile der
Unternehmen eingebunden sind, wird immer populärer. Hier tritt der Anbieter des Social-Media-
Netzwerks als Intermediär auf. So bietet bspw. Instagram mit Instagram Shopping die Möglichkeit
an, den eigenen Online-Store einzubinden (https://business.instagram.com/shopping).
Der größte Vorteil an der Nutzung von Intermediären beim digitalen Vertrieb sind die
geringen Barrieren zum Einstieg und der geringere Aufwand, der im Vergleich zum Auf-
bau einer eigenen digitalen Vertriebsplattform betrieben werden muss. In der höchsten
Ausprägung kann das Unternehmen hier sämtliche Elemente des digitalen Vertriebs aus-
lagern und lediglich die Ware an einen Intermediär liefern, der alle weiteren Schritte
übernimmt – das sogenannte Fulfillment.
Die meisten Unternehmen sind bereits digital tätig; nur wenige haben keiner-
lei Kommunikation oder Produktverfügbarkeit über digitale Kanäle – hierbei aber
oft noch lediglich indirekt über Händler oder auch direkt, aber bspw. lediglich als
Kommunikation über Unternehmenswebseiten oder per E-Mail.
Der Einstieg in den digitalen Vertrieb, bei dem weitere oder alle Schritte im Kauf-
prozess digital erfolgen, ist abhängig von der übergeordneten Vertriebsstrategie (s.
Abb. 21.2) – hier sollten die strategischen Optionen erörtert und verglichen werden.
Diese strategische Entscheidung ist heute oft geprägt von steigender Wettbewerbsintensi-
tät in unterschiedlichen Vertriebskanälen und steigenden Erwartungen von Kund:inn:en.
Der Einstieg in den digitalen Vertrieb erfolgt meist durch eine Exklusivstrategie,
die dann bei Erfolg in eine hybride Mehrkanalstrategie erweitert wird. Einige Autoren
beobachten, dass Entwicklungen in Richtung Omni-Channel-Strategie erkennbar werden
(Verhoef et al., 2015). Dies wird im Fazit aufgegriffen.
Im weiteren Verlauf werden die wichtigsten strategischen Optionen erörtert.
ermöglicht. Gleichzeitig muss hierfür ein digitales Vertriebs- sowie Serviceteam auf-
gebaut werden, das oft spezifisch geschult werden muss.
Durch das hohe Maß an Individualisierung müssen Unternehmen, die dieser Strategie
folgen, höhere Investitionen für Betrieb und Kommunikation des Online-Stores in Kauf
nehmen als Unternehmen, die auf Intermediäre setzen. So eignet sich diese Strategie
besonders für Unternehmen mit stark differenzierten Produkten. Hier ist die enge Ver-
bindung mit den Kund:inn:en wichtig und auch von Kund:inn:enseite gewünscht –
die Exklusivität der Produkte spiegelt sich in der Wahl des Vertriebskanals wider. So
können Produktdarstellung und Kommunikation stärker gesteuert sowie Beziehungen zu
Kund:inn:en gepflegt sowie Wiederkäufe über eigene Kanäle generiert werden. Zum Ein-
stieg kann ein Online-Store hierbei auch ein limitiertes Sortiment umfassen.
Beispiel Direktvertrieb
Ein Beispiel für diese Strategie ist die Firma Vorwerk, die ihre Produkte stationär wie
digital exklusiv vertreibt und beim digitalen Vertrieb auf einen eigenen Online-Shop
in Kombination mit direktem Kontakt zu Kund:inn:en setzt (www.vorwerk.de). ◄
Ein wachsender Sektor im digitalen Direktvertrieb ist die „Abo-Economy“, bei der
zusätzlich mit wiederkehrenden Lieferungen und Zahlungen eine langfristige Beziehung
aufgebaut wird. Das deutsche Start-up Hellofresh hat es geschafft, viele Kund:inn:en
regelmäßig mit Lebensmitteln und passenden Rezepten zu versorgen. So schafft es eine
enge Bindung und regelmäßige Umsätze (www.hellofresh.de). Häufig arbeiten Unter-
nehmen neben direktem digitalem Vertrieb auch mit Händlern zusammen. So vertreibt
Springer Science and Business Media seine Medienprodukte über den digitalen Buch-
und Medienhandel und verfügt auch über direkte Kanäle wie springer.com.
356 B. Schulte
Besonders relevant ist hier die Bewertung, wie eng die Kund:inn:enbeziehung tatsäch-
lich ist und sein soll – diese Modelle eignen sich eher für Produkte und Dienstleistungen
mit hoher Relevanz für Kund:inn:en und ggf. einem regelmäßig wiederkehrenden
Bedarf. Um mit einem eigenen Online-Store Reichweite zu erzielen, muss jedoch mehr
in Kommunikationsmaßnahmen investiert werden, als es beim digitalen Vertrieb mit
Intermediär notwendig ist.
Während direkter Vertrieb also mehr Einflussmöglichkeiten ermöglicht, profitiert man
bei einem Einstieg mit Intermediär von einem:r starken, erfahrenen Partner:in.
Der digitale Exklusivvertrieb kann auch durch enge Zusammenarbeit mit einem oder
wenigen Intermediären realisiert werden. Hierbei stützt sich das Unternehmen auf die
Reichweite und Expertise eines Partners, der als Absatzhelfer auftritt.
Der wichtigste Anbieter, der als digitaler Intermediär herangezogen wird, ist im
deutschen Markt derzeit Amazon Marketplace (HDE Handelsverband Deutschland,
2021). Weltweit nutzen diesen mehr als 1,9 Mio. KMU und machen fast 60 % des
Einzelhandelsumsatzes von Amazon aus (Bezos, 2020). Doch auch immer mehr andere
Online-Händler bieten ihre Dienste als Marktplätze an. Beispiele im deutschen Markt
sind Kaufland.de, Otto.de und Zalando.de. Insbesondere für Märkte in denen der Wett-
bewerb moderat ist, bietet sich ein solches Hybrid-Modell an (Tian et al., 2018).
Nutzer:innen von Marktplätzen profitieren von der Reichweite und den Fähigkeiten
des Intermediärs, Produkte zu bewerben, bei potenziellen Käufer:inne:n zu platzieren
und auch weitere Vertriebsschritte im Verkaufsprozess zu übernehmen. Viele Inter-
mediäre haben sich darauf spezialisiert, ihren Kund:inn:enstamm zu begeistern und dazu
zu animieren, regelmäßig ihre Online-Angebote zur Informationssuche aufzusuchen.
Kleinere Unternehmen unterstützen erfahrene Intermediäre mit Hinweisen zur korrekten
Darstellung der angebotenen Produkte und Vermarktungsoptionen. Manche Marktplatz-
anbieter bieten auch Nischenanbietern die Möglichkeit, von größerer Reichweite zu
profitieren – im deutschen Markt gehören dazu bspw. etsy (www.etsy.de) für handwerk-
liche Produkte, oder Avocadostore (www.avocadostore.de) für nachhaltig produzierte
Waren.
Nutzung von Intermediären hat jedoch auch Nachteile für Unternehmen in Bezug
auf Ertragsumfang und Kontrolle, die strategisch abgewogen werden sollten. Da diese
Kanäle meist auf Provisionsbasis funktionieren, hat der Intermediär potenziell eine große
Preismacht, insbesondere, wenn dieser als Absatzkanal stark wächst und somit besonders
wichtig wird.
21 E-Commerce-Strategien – Digitaler Vertrieb … 357
Beispiel Marketplace-Anbieter
Weiterhin hat das Unternehmen weniger Einfluss auf die Darbietung der eigenen
Produkte im Kontext des Intermediärs und weniger Datenzugriff auf Kund:inn:en und
Transaktionsdaten. Der Intermediär hingegen hat vollen Zugriff auf Transaktions-
informationen und Verhaltensdaten von Kund:inn:en. Mit steigender Marktmacht
einzelner Marktplätze wird klar, dass dieser Datenzugang einen Wettbewerbsvorteil
für den Intermediär bedeuten kann. Diese Praktik hat bereits die EU Kommission auf
den Plan gerufen, welche für das Vorgehen von Amazon in diesem Gebiet rechtliche
Konsequenzen prüft (Europäische Kommission, 2019).
Oft haben Unternehmen, welche diese Strategie verfolgen, bereits eine große
Abhängigkeit vom Intermediär oder einem bestimmten Marketplace-Anbieter ent-
wickelt. So wurde der Kofferhersteller Tumi von Amazon unter Druck gesetzt, Produkte
nicht über den Amazon Marketplace zu verkaufen, sondern ausschließlich Amazon als
Händler einzubinden (Weise, 2019).
21.3.3 Hybridstrategien
Beispiel D2C
initial oftmals rein über digitale Marktplätze vertrieben und haben sich so am Markt
etabliert. Dazu gehören bspw. die Marken Klarstein und Auna, welche durch BBG
weiterhin über indirekte digitale Kanäle vertrieben werden. Aktuell liegt der Fokus
auf einer hybriden Strategie, wobei der direkte Vertrieb gefördert wird und möglichst
viele Elemente der Produktion, des Fulfillments und des Kontakts zu Kund:inn:en
direkt erfolgen sollen (www.berlinbrandgroup.com). ◄
Die Kanalbreite der hybriden Vertriebsstrategie kann nach selektivem und intensivem
Vertrieb differenziert werden (Homburg, 2020, S. 955).
Bei selektivem Mehrkanal-Vertrieb werden neben dem eigenen Online-Store nur
einzelne Intermediäre herangezogen, die zum Anbieter passen, bestimmte Nischen
abdecken oder attraktive Konditionen bieten. Hierbei wird möglicherweise ein
begrenztes oder fokussiertes Sortiment angeboten und gleichzeitig die vorhandene
Fulfillment-Infrastruktur des Online-Stores verwendet.
Bei einem intensiven Mehrkanal-Vertrieb wird versucht, auf so vielen Kanälen wie
möglich für Kund:inn:en erreichbar und verfügbar zu sein. Zentrales Ziel ist hierbei
eine hohe Sichtbarkeit in Märkten mit hoher Wettbewerbsintensität zu erreichen. Hier-
bei macht sich das Unternehmen taktisch die hohe Reichweite der Marktplätze zu Nutze,
um eine möglichst breite Gruppe an Kund:inn:en zu erreichen. Hierbei muss abgewogen
werden, wie die Provisionsstruktur der gewählten Intermediäre – bspw. Marktplätze und
Preissuchmaschinen – gestaltet sind. So ist es möglich, diese Kosten einzupreisen und
einen Anreiz zu setzen, auf dem eigenen Online-Store die Bestellung zu tätigen, der
meist geringere Vertriebskosten nach sich zieht.
Beispiel Media-Saturn-Holding
Beispiel Integration
Eine Möglichkeit, den digitalen und stationären Handel zu integrieren, bietet das
Kölner Start-up Blaenk, das unter Anderem den digital-first Anbietern die Möglich-
keit gibt, ihr Angebot in der Offline-Welt verfügbar zu werden. Hierfür pflegt das
Unternehmen einen thematisch kuratierten Online-Marktplatz zusammen mit einem
Ladengeschäft. In diesem „Erlebnis Store“ werden die Produkte erlebbar werden –
hierbei integriert das Unternehmen die Kanäle nach einem Omni-Channel-Konzept,
per App, Webseite und Kasse in der stationären Filiale. Hierfür erhielten die Gründer
den Innovationspreis für Handel 2020 (www.blaenk.com). ◄
Wie der stationäre Einzelhandel strategisch reagieren kann, zeigt die Parfümeriekette
Douglas. Ende 2020 wurde hier ein Strategieschwenk zu „Digital first“ vollzogen, der
zu einer Fokussierung auf Online-Angebote und einem Omni-Channel-Ansatz führte,
bei dem das stationäre Geschäft nur noch ein Kontaktpunkt neben den anderen auf der
Customer Journey wird (Douglas, 2020). Dies kann als Vorbild für andere Unternehmen
gesehen werden, die bisher die digitale Seite ihrer Vertriebsstrategie vernachlässigt
haben.
Je nach branchenindividuellen Begebenheiten kann auch der Einstieg über digitale
Intermediäre eine günstige Alternative sein. Anbieter wie stocksquare bieten eine ein-
fache Implementierung von „Ship-from-store"-Lösungen auch für kleine und mittlere
Unternehmen – das Unternehmen beschreibt sich selbst als Omni-Channel-Connector
360 B. Schulte
Literatur
Prof. Dr. Benjamin Schulte nahm im Jahr 2020 eine Position als Professor für Marketing-
management an der IU Internationalen Hochschule in Berlin an. Nach seinem Studium und der
Promotion an der Freien Universität in Berlin arbeitete Schulte als Projektmanager in einer Unter-
nehmensberatung, bevor es ihn zurück an die Hochschule zog. Zu seinen Schwerpunkten gehören
die Themen Vertriebsstrategie und -management, Digitales Marketing sowie Konsumentenver-
halten und quantitative Methoden der Marketingforschung.
Digitalisierung im B2B-Vertrieb –
Zielsetzungen, Bestandsaufnahme und 22
Gestaltungsempfehlungen
Zusammenfassung
Die Interaktion mit Kunden im B2B-Vertrieb hat sich im Verlauf der letzten Jahre
signifikant verändert. Neben traditionellen Vertriebsansätzen haben sich digitale Ver-
triebsformen mehr und mehr etabliert. Spätestens seit Beginn der Covid-19-Pandemie
ist die Relevanz der Digitalisierung im B2B-Vertrieb überdeutlich geworden. Durch
die Umstellung auf digitale Kauf- bzw. Verkaufsprozesse ergeben sich zahlreiche
Chancen, jedoch auch deutliche Herausforderungen. Aus Sicht des B2B-Vertriebs
müssen digitale und nicht-digitale Verkaufskanäle systematisch kombiniert werden.
Die Customer Journey ist so zu gestalten, dass Kundenbedürfnisse optimal befriedigt
werden können. Dabei müssen wichtige Voraussetzungen aus organisatorischer
Sicht sichergestellt werden, der Vertrieb muss im Hinblick auf die notwendigen
Qualifikationen befähigt werden und es müssen geeignete (digitale) Instrumente und
Technologien implementiert werden. Für eine erfolgreiche Digitalisierung ist eine
systematische Vorgehensweise erforderlich, die mit einer Bestandsaufnahme beginnt
und schrittweise priorisierte Handlungsfelder der Digitalisierung angeht.
J. T. Karlshaus (*)
IU Internationale Hochschule, Köln, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 363
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_22
364 J. T. Karlshaus
22.1 Einleitung
Die Digitalisierung erfasst Schritt für Schritt immer mehr Aspekte unserer Gesellschaft
und damit auch der Wirtschaft. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen
aller Branchen den eigenen digitalen Wandel beschleunigen. Aus Unternehmens-
sicht wird unter Digitalisierung allgemein der Wandel von traditionellen und analogen
Prozessen und Informationen zu neuen und digitalen Prozessen und Informationen ver-
standen (für eine tiefergehende Diskussion des Begriffs der Digitalisierung vgl. Wolf
& Strohschen, 1998). Unter dem Begriff der digitalen Transformation wird der Ein-
satz von digitalen Technologien zur Schaffung von neuen – oder der Modifizierung
von existierenden – Unternehmensprozessen, -kulturen oder Kundenerfahrungen ver-
standen (vgl. Salesforce, o. J.a.) und damit die Sicht des Kunden in den Vordergrund
gerückt. Aus diesen Definitionen wird bereits deutlich, dass sämtliche Industrien und
Unternehmensbereiche und alle Teilprozesse im Unternehmen von der Digitalisierung
betroffen sein können. Von besonderer Relevanz ist die Frage, wie im Rahmen der
digitalen Transformation die Interaktion mit dem Kunden und die Kundenerfahrung
beeinflusst wird. Der Kunde steht damit im Mittelpunkt der digitalen Transformation:
„digital transformation begins and ends with how you think about, and engage with,
customers“ (vgl. Salesforce, o. J.a.).
Neue, bessere und häufig kostengünstigere digitale Technologien sind seit einigen
Jahren im Vertrieb verfügbar. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass die überwiegende
Mehrzahl der (B2B-)Kunden heute bereits auf nicht traditionelle Methoden der Inter-
aktion bzw. auf digitale Vertriebskanäle und den sog. ‚Digital Self-Serve‘ zurückgreift
(vgl. Arora et al., 2022, S. 3 oder LinkedIn, 2021). Spätestens seit Beginn der Covid-19-
Pandemie ist die Relevanz der Digitalisierung im B2B-Vertrieb überdeutlich geworden.
Verkäufer haben sich in kürzester Zeit auf digitale Verkaufsprozesse umstellen müssen
– Käufer mussten sich ihrerseits umstellen und den Kaufprozess in vielen Bereichen
digitalisieren. Die Pandemie und der Wechsel zum ‚Remote-Working‘ hat, wie in vielen
anderen Bereichen der Wirtschaft, auch im Vertrieb die Digitalisierung beschleunigt. Die
Digitalisierung im B2B-Vertrieb ist damit zu einer neuen und bereits existierenden Reali-
tät geworden. Durch diese dynamische Entwicklung ist der Handlungsdruck für solche
Unternehmen enorm angestiegen, die weiterhin schwerpunktmäßig auf traditionelle Ver-
triebsmethoden setzen.
In diesem Beitrag wird die Rolle der Digitalisierung an der direkten Schnittstelle
zum Kunden, im Vertrieb, untersucht. Der Fokus liegt hierbei auf der Betrachtung der
Digitalisierung im B2B-Kontext. Gerade hier besteht signifikanter Handlungsbedarf,
der aus den geänderten Kundenpräferenzen und dem Verhalten der Kunden in der Inter-
aktion mit Anbietern resultiert. Vor diesem Hintergrund werden drei ausgewählte, praxis-
relevante Fragestellungen betrachtet: zunächst wird die Zielsetzung einer Digitalisierung
im B2B-Vertrieb untersucht. Danach werden aktuelle Erkenntnisse zum Status der
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 365
Erhöhte Erhöhte
Effizienz Effizienz interner Effizienz der
Prozesse Kundeninteraktion
Hauptziel:
Ziele der digitalen
Mehrwert aus
Transformation
Kundensicht
Erhöhte Erhöhte
Effektivität Effektivität interner Effektivität der
Prozesse Kundeninteraktion
Abb. 22.1 Ziele und Bezugsobjekt der digitalen Transformation im B2B-Vertrieb. (Eigene Dar-
stellung)
366 J. T. Karlshaus
vorher gar nicht oder nicht in gleicher Güte verfügbar waren (z. B. über automatisierte
Datenerfassung in Bezug auf Bilder, Sprache oder Texte). Diese erweiterte Datenbasis
kann durch den Einsatz von neuen, leistungsstarken Analysemethoden ausgewertet
werden (z. B. unterstützt über Künstliche Intelligenz oder Machine Learning). Auf
dieser Basis können relevante Erkenntnisse abgeleitet und schließlich bessere Vertriebs-
entscheidungen getroffen und zeitnah umgesetzt werden – zum Teil deutlich schneller
als dies bisher möglich war (z. B. durch Einsatz von Chatbots zur Kommunikation mit
Kunden in Echtzeit).
Grundsätzlich ist denkbar, dass in allen Bereichen des Vertriebs Entscheidungen ziel-
gerichtet durch neue, digitale Technologien unterstützt werden. Hierbei lassen sich einer-
seits Aktivitäten unterscheiden, die auf die Digitalisierung interner Vertriebsprozesse
abzielen und andererseits solche Aktivitäten, die unmittelbar die Kundeninteraktion
betreffen. Zu den internen Prozessen zählen Vertriebstätigkeiten, wie beispielsweise die
Vertriebsplanung, die Vorbereitung von Kundenterminen oder das Sales Performance
Management. In beiden Bereichen – bei internen und bei der direkten Kundeninter-
aktion steht die Frage im Vordergrund, wie Effizienz und Effektivität gesteigert werden
kann (vgl. Guenzi & Habel, 2020, S. 62 ff.). Hierbei ist aus Unternehmenssicht eine
digitale Transformation im Vertrieb dann erfolgreich, wenn positive Effekte auf Gewinn
und Profitabilität erzielt werden können, wenn Kundenloyalität gesteigert und letztlich
Marktanteile hinzugewonnen werden können (vgl. Zoltners et al., 2021, S. 88).
Wie bereits erwähnt, ist im Rahmen der digitalen Transformation jedoch vor
allen Dingen die Kundensicht entscheidend und die Frage, wie Wert für den Kunden
geschaffen werden kann. Aus Sicht des Kunden wird ein verbessertes Kauferlebnis bzw.
eine verbesserte Interaktion im Rahmen des Kaufes erwartet. Ein verbessertes oder neues
Leistungsangebot wird ebenso geschätzt, wie eine erhöhte Agilität. Diese kann sich
durch eine schnelle Reaktion auf Kundenanliegen bzw. die direkte und unkomplizierte
Bereitstellung von Informationen über digitale Kanäle auszeichnen. Gerade im B2B
Kontext ist außerdem die Kostensicht entscheidend und die Frage, wie die TCO (Total
Cost of Ownership) ausfallen. Der Gesamtwert für den Kunden ergibt sich aus diesen
Aspekten und steht im Mittelpunkt einer digitalen Transformation im Vertrieb.
In Abb. 22.1 werden die bisher beschriebenen Betrachtungsperspektiven zur Ziel-
setzung einer digitalen Transformation im (B2B-)Vertrieb zusammengefasst. Die
Schaffung von Mehrwert für den Kunden – über Verbesserung interner Vertriebsprozesse
oder der Kundeninteraktionsprozesse – wird als zentrale Zielsetzung der digitalen Trans-
formation betrachtet. Die Steigerung der Effizienz oder Effektivität werden als weitere
Ziele identifiziert – und beantworten die Frage nach dem ‚Warum?‘ einer digitalen
Transformation. Interne Prozesse oder Kundeninteraktionsprozesse sind Bezugsobjekt
der digitalen Transformation und klären damit die Frage nach dem ‚Was?‘ (vgl. Guenzi
& Habel, 2020, S. 63).
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 367
Kaufbeteiligte: Rollen relativ klar definiert, wenig Änderung Rollen weniger klar definiert, häufigere
Kunde / Buying Änderungen und mehr Beteiligte
Center
Kaufbeteiligte: Schrittweiser Einbindung und Übergabe von Integrierter Verkaufsprozess sowie enge und
Verkäufer Marketing (Lead Generation) zu Sales kontinuierliche Abstimmung zwischen Marketing,
(Kundengewinnung) bzw. zum Service Sales und Service
(Kundensupport)
Kaufprozess Sequentiell; wenige, jedoch klar definierte Iterativ, parallel; höhere Anzahl und z.T. nicht klar
Touchpoints mit Kunden definierte Touchpoints mit Kunden
Verkaufskanäle Hauptkanal: Persönlicher Kontakt Hybride Interaktion über multiple Kanäle,
wachsende Relevanz neuer, digitaler Kanäle
Tools Zahlreiche manuelle Tätigkeiten; Rückgriff Weitgehende Digitalisierung, Einsatz großer Zahl
auf ausgewählte Tools (z.B. CRM) von digitalen Tools und Data Analytics
Rahmenbe- Statisch – relativ wenige interne und externe Dynamisch – viele interne und externe
dingungen Änderungen Änderungen
Abb. 22.2 Aktuelle Entwicklungen in Bezug auf die Customer Journey im B2B-Vertrieb. (Eigene
Darstellung)
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 369
22.4 Gestaltungsempfehlungen
Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die Digitalisierung im B2B-Ver-
trieb weit fortgeschritten ist und grundsätzlich positiv aus Sicht der meisten Kunden
wahrgenommen wird. Allerdings existieren unterschiedliche Wahrnehmungen aus Sicht
der Käufer und Verkäufer im Hinblick auf die Relevanz der Digitalisierung im Ver-
trieb sowie zahlreiche Herausforderungen bei der Umsetzung der Digitalisierung, die
sich negativ auf den Erfolg der Digitalisierungsbemühungen auswirken können. Vor
diesem Hintergrund sollen in diesem Abschnitt ausgewählte Handlungsempfehlungen
zur erfolgreichen Digitalisierung im Vertrieb dargestellt werden. Hierbei werden ins-
besondere vier Handlungsfelder vorgestellt: (1) die Optimierung der Kundeninteraktion
entlang der Customer Journey, (2) die Schaffung organisatorischer Voraussetzungen für
die Digitalisierung im Vertrieb, (3) die Unterstützung durch ausgewählte digitale Techno-
logien und (4) die Befähigung der Mitarbeiter im Vertrieb (für eine detaillierte Dar-
stellung weiterer Erfolgsvoraussetzungen vgl. z. B. Zoltners et al., 2021 oder Mullins &
Agnihotri, 2022).
Im Hinblick auf die Interaktion mit dem Kunden gilt es, sämtliche Kontaktpunkte
mit dem Kunden – sowohl entlang sämtlicher Stufen der Customer Journey sowie
in Bezug auf alle Verkaufskanäle so zu gestalten, dass die oben beschriebenen Ziele
einer Digitalisierung im Vertrieb erreicht werden können. Von zentraler Bedeutung
ist die Frage, wie ein Mehrwert für den Kunden erzielt – und wie darüber letztlich ein
Vertriebserfolg ermöglicht werden kann. Ausgangspunkt hierfür ist die Analyse der
aktuellen Interaktion mit dem Kunden und eine Bestandsaufnahme derzeitiger und
zukünftig erwarteter Kundenpräferenzen sowie der wahrgenommenen Schwachstellen in
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 371
der Kundeninteraktion mit dem Kunden. Je nach Unternehmen – und auch in Bezug auf
Unternehmen unterschiedlicher Branche oder Größe – werden hierzu unterschiedliche
Erkenntnisse und Ansatzpunkte für Verbesserungen zutage kommen. Auf Basis dieser
Analyse gilt es, das geeignete Zielmodell für die Interaktion mit den Kunden festzu-
legen. Als Resultat dieser Analyse können für einzelne Kunden oder Kundengruppen die
jeweils relevanten Verkaufskanäle in jeder Stufe des Verkaufsprozesses definiert werden.
Für einen großen Kunden und bei neuartigen, komplexen oder werthaltigen Kaufgegen-
ständen könnte beispielsweise eine intensive Interaktion entlang mehrerer Verkaufs-
kanäle sinnvoll sein, während für einen kleinen Kunden bei einem Wiederkauf eines
wenig erklärungsbedürftigen und nicht-werthaltigen Produktes unter Umständen nur ein
einziger Verkaufskanal und eine fokussierte Interaktion erforderlich sein könnte.
Im so entstehenden Interaktionsmodell findet der Austausch mit den Kunden kontinuier-
lich statt – digitale oder traditionelle Verkaufskanäle werden kombiniert oder einzeln entlang
der Customer Journey eingesetzt und entfalten ihre Wirkung über den gesamten Prozess
oder in Bezug auf einzelne Prozessabschnitte (vgl. Abb. 22.3). Die Interaktion mit den
Kunden wird in diesem Zusammenhang über die gesamte Customer Journey ‚orchestriert‘
(vgl. Zoltners et al., 2020 oder Arora et al., 2022, S. 10). Wie gut diese Orchestrierung
gelingt, ist entscheidend für den Erfolg im Vertrieb: „An effective sales model designates
which in-person or online activities are approapriate for the various stages of the customer
buying process“ (Cespedes, 2021b, S. 57). In diesem Zusammenhang erfolgt ein ständiger
und teilweise iterativer Austausch von Informationen und deren Validierung. Aus Sicht des
Verkäufers werden Daten über den Kunden und die Kundenanforderungen gesammelt und
validiert – für den Käufer stehen Informationen im Hinblick auf die jeweiligen Anbieter
und mögliche Lösungen im Vordergrund. Entlang der gesamten Customer Journey findet
1 2 3 4 5
Käufer:
Bedarfs- Ausschrei-
Customer Recherche Kauf Wiederkauf
erkennung bung
Journey
Kontinuierliche Interaktion
Außendienst
Sammlung & Validierung von Informationen (intern und zwischen Käufer / Verkäufer)
Inside Sales
kaufskanäle ist beispielsweise auch die Schnittstelle zur Logistik zentral, damit Online-
Bestellungen schnell und reibungslos ausgeliefert werden können und damit umgehend
auf etwaige Probleme reagiert werden kann. Von zunehmender Bedeutung ist auch die
Schnittstelle zum IT-Bereich und eine enge Abstimmung in Bezug auf vertriebsrelevante
Daten sowie auf einzusetzende Technologien. Wiederholt wird auf die Notwendigkeit
hingewiesen, dass Kundendaten in allen Bereichen der Customer Journey und über alle
Verkaufskanäle systematisch erfasst und analysiert werden müssen (vgl. Zoltners et al.,
2021, S. 89 oder Lemon & Verhoef, 2016). Entscheidend ist hierbei der Rückgriff auf
Kundendaten aus allen relevanten Quellen – aus Marketing und Vertrieb, jedoch auch
aus anderen internen oder externen Quellen – und die Integration dieser Daten (vgl.
Andersen et al., 2018, S. 4 oder Cespedes, 2021a, S. 140 ff.). Über diese ganzheit-
liche Sicht auf den Kunden können Kundenanforderungen insgesamt und spezifische
Anforderungen des Buying-Centers besser analysiert werden und die Kundeninteraktion
so gestaltet werden, dass eine konsistente und positiv wahrgenommene Kundenerfahrung
entsteht.
Der Rückgriff auf Daten spielt demzufolge im Vertrieb eine immer größere Rolle im
Vertrieb: „In almost every domain of sales, data-driven decisions are replacing instinct
and gut-feel decisions“ (Zoltners et al., 2020, S. 4; vgl. auch Guenzi & Habel, 2020,
S. 69). Größere Datenmengen können mit neuen Auswertungsmethoden und mit deutlich
höherer Rechengeschwindigkeit als bisher ausgewertet werden, sowohl vergangenheits-
bezogene als auch zukunftsbezogene Analysen können im Vertrieb über Data Analytics
unterstützt werden (vgl. Schulze, 2022). Hiermit verbunden ist der zunehmende Einsatz
von Künstlicher Intelligenz (KI) bzw. Artificial Intelligence (AI) im Vertrieb (vgl. Singh
et al., 2019 für einen Überblick). Data Analytics und AI können einen wichtigen Beitrag
zum besseren Verständnis von Kundenbedürfnissen leisten (vgl. Salesforce, 2021, S. 18).
Über AI kann die Frage unterstützt werden, welche Kunden oder welche Geschäfts-
möglichkeiten überhaupt priorisiert werden sollten (‚Lead Scoring‘). Darüber hinaus
können Vorhersagen in Bezug auf die Vertriebserfolge bzw. Zielerreichung abgeleitet
werden – sowohl auf Unternehmensebene als auch in Bezug auf einzelne Vertriebs-
mitarbeiter (vgl. Davis et al., 2021, S. 4). Außerdem können Cross- oder Up-Selling
Potenziale identifiziert werden – durch einen schnellen Datenzugriff können außerdem
automatisierte und personifizierte Angebote oder Lösungen für Kunden erstellt werden
(vgl. Rapp & Beeler, 2021, S. 41 f. und Hoffman et al., 2022, S. 4). Auch im Hinblick
auf die Preisfestlegung, zur Unterstützung von Verhandlungen mit Kunden und in Bezug
auf die Vorhersage der Abwanderungswahrscheinlichkeit von Kunden wird AI bereits im
B2B-Vertrieb eingesetzt (vgl. Singh et al., 2019, S. 7 oder Davis et al., 2021, S. 4).
Aufgrund der enormen Datenmenge, die entlang aller relevanten Kundeninteraktionen
betrachtet werden muss, wird die Messbarkeit der Interaktionen zu einer immer größer
werdenden Herausforderung. Die schrittweise Einführung und Erweiterung geeigneter
Systeme zur Zusammenführung aller Kundendaten und die gezielte Befähigung des Ver-
triebs in der Nutzung dieser Systeme schafft hier Abhilfe. Von zentraler Bedeutung sind
Customer-Relations-Management-Systeme (CRM), über die eine ganzheitliche Sicht auf
374 J. T. Karlshaus
den Kunden ermöglicht wird. Sämtliche Daten – aus allen Interaktionen mit dem Kunden
und in Bezug auf alle Geschäftsmöglichkeiten – werden hier erfasst und in Echtzeit Ent-
scheidungsträgern im Vertrieb bereitgestellt, sodass eine gezielte Steuerung und Unter-
stützung des Vertriebs ermöglicht wird.
Der Einsatz von neuen Technologien beschränkt sich nicht nur auf kundenbezogene
Aktivitäten, sondern unterstützt auch interne Prozesse im Vertrieb. So können ins-
besondere nicht produktive Tätigkeiten und Aktivitäten, die einen hohen manuellen
Arbeitsanteil und sich ständig wiederholende Tätigkeiten betreffen, zunehmend auto-
matisiert werden (vgl. Ahearne et al., 2005 für einen Überblick zur sog. Salesforce
Automation). Hierüber kann die Vertriebseffizienz gesteigert und freie Zeit für den
direkten Kontakt mit Kunden geschaffen werden. Zahlreiche Vertriebstätigkeiten können
auf diese Weise optimiert werden – bspw. die Erstellung von Vertriebsberichten oder
Kundenpräsentationen, die Priorisierung und Zuordnung von Aufgaben oder Leads,
die Identifikation von Kundenaktivitäten und die Vereinbarung von Terminen (vgl.
Thaichon et al., 2018, S. 292 und Salesforce, 2021, S. 10). Im Zusammenhang mit
der Optimierung von Geschäftsprozessen ist zu erwarten, dass auch das sog. ‚Process
Mining‘ in Zukunft breitere Anwendung im Vertriebsumfeld finden wird. Über diese
Form der Prozessoptimierung können Prozessabläufe im Kundenservice und auch Ver-
triebsprozesse optimiert werden. Im Vertrieb können einzelne Prozessschritte, von der
Leadgenerierung bis zum Vertragsabschluss, schnell visualisiert und unter Einsatz von
AI im Hinblick auf Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten untersucht werden.
Die Digitalisierung und der Einsatz neuer Technologien haben unmittelbar Aus-
wirkungen auf die Mitarbeiter im Vertrieb. Sowohl positive als auch negative Aus-
wirkungen sind hierbei zu verzeichnen (vgl. Guenzi & Nijssen, 2021, S. 130). Einerseits
ergeben sich positive Effekte – etwa durch vereinfachten Zugriff auf Informationen, Ver-
einfachung von Prozessen und durch Tools, welche die Interaktion mit Kunden unter-
stützen und die Erreichung von Vertriebszielen fördern können. Auf der anderen Seite
sind Vertriebsmitarbeiter jedoch auch mit zunehmenden Anforderungen konfrontiert. So
müssen bspw. neue technische Fähigkeiten oder Arbeitsmethoden erworben werden –
häufig werden auch die Zielvorgaben im Zuge Digitalisierung des Vertriebs erhöht.
Vor diesem Hintergrund sind die Akzeptanz und eine nachhaltige Umsetzung einer
Digitalisierung im Vertrieb nicht automatisch gegeben. Vielmehr gilt es, gezielt die Ver-
triebsmitarbeiter in die Planung und Umsetzung von Digitalisierungsinitiativen ein-
zubeziehen, um Unsicherheit zu reduzieren und den (persönlichen) Nutzen durch
Digitalisierung transparent zu machen. Gezielte Kommunikationsmaßnahmen und
insbesondere Trainings können helfen, die Vertriebsmitarbeiter zu überzeugen und
zu befähigen. Handlungsbedarf in Bezug auf ein Re-Skilling der Mitarbeiter wird von
den meisten Unternehmen im B2B-Umfeld erkannt – eine Vielzahl von Unternehmen
geht davon aus, dass aktuell nicht die erforderlichen Kenntnisse im Vertrieb vorhanden
22 Digitalisierung im B2B-Vertrieb – Zielsetzungen, … 375
sind, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein (vgl. Harney et al., 2022, S. 5 sowie Rapp
& Beeler, 2021, S. 42). Neben der Qualifikation vorhandener Mitarbeiter kann es auch
sinnvoll sein, Mitarbeiter einzustellen, die bereits Kenntnisse im Hinblick auf digitale
Tools aufweisen (vgl. Zoltners et al., 2021, S. 90 ff. und Guenzi & Nijssen, 2021,
S. 143). Von entscheidender Bedeutung ist zudem die fortwährende Unterstützung
durch die Vertriebsleitung sowie die Sales Leader – und in der gesamten Unternehmens-
führung. Das Management dient durch die aktive und sichtbare Nutzung digitaler Tools
als Vorbild und spielt eine zentrale Rolle auch im Hinblick auf das Coaching der Ver-
triebsmitarbeiter (vgl. Mattila et al., 2021, S. 116 oder Mullins & Agnihotri, 2022).
22.5 Fazit
Für die allermeisten Unternehmen, die im B2B-Umfeld aktiv sind, besteht Handlungs-
bedarf im Hinblick auf eine Digitalisierung des Vertriebs. Dieser Bedarf resultiert
einerseits aus dem Potenzial, das sich durch gesteigerte Effizienz und Effektivität von
Vertriebsprozessen ergeben kann und insbesondere aus der Erwartung der Kunden,
dass digitale Interaktion und digitale Tools professionell und kundengerecht eingesetzt
werden.
Für Unternehmen, welche die Digitalisierung im Vertrieb weiter vorantreiben wollen,
ist zunächst eine Bestandsaufnahme der Kundenanforderungen und der internen Aus-
gangslage bzw. der derzeitigen Leistungsfähigkeit im Vertrieb entscheidend. Wenn
auf Basis dieser Analyse grundlegende Probleme in Bezug auf Vertriebsstrategie,
Organisation, Beteiligte, Prozesse oder existierende IT bzw. Vertriebstools offensichtlich
werden, besteht die Notwendigkeit, die Voraussetzungen für eine weitere Digitalisierung
zu schaffen. Offensichtliche Probleme müssen beseitigt werden, ein solides Funda-
ment für eine zukunftsfähige Digitalisierung im Vertrieb muss geschaffen werden. Auf
dieser Grundlage kann ein systematischer und kontextabhängiger Entwicklungs- und
Implementierungsplan für eine Digitalisierung im Vertrieb entwickelt werden. Eine
Priorisierung im Hinblick auf besonders wichtige Handlungsfelder und Pilotprojekte
macht in den allermeisten Fällen Sinn, um schnelle erste Fortschritte zu erzielen und um
hiermit verbundene Erfolge nutzen zu können.
Damit hat die Digitalisierung das Potenzial, die Rolle des Vertriebs – an der
zentralen Schnittstelle zum Kunden – weiter zu stärken. Der B2B-Vertrieb wird durch
die zunehmende Digitalisierung nicht ersetzt, sondern weiter befähigt und wird damit
wichtiger als je zuvor. Die Digitalisierung im Vertrieb bleibt hierbei keine einmalige
Aktivität, sondern muss – aufgrund fortschreitender Entwicklungen in Bezug auf
Kundenanforderungen, Technologien und Marktentwicklungen – als dauerhafte Aufgabe
im Vertrieb etabliert werden.
376 J. T. Karlshaus
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378 J. T. Karlshaus
Prof. Dr. Jan Thido Karlshaus ist als Professor für Marketingmanagement an der IU Inter-
nationale Hochschule tätig. Nach dem Studium (Dipl.-Kfm., Universität zu Köln, Pennsylvania
State University in State College und FGV in São Paulo) und der Promotion (Dr. rer. pol., WHU
Koblenz) war er zunächst als Unternehmensberater für McKinsey & Co. tätig, wo er vor allem
Automobil-, Logistik- und High-Tech-Unternehmen begleitete. Anschließend wechselte er als
Vice President und Leiter der Konzernstrategie in den Konzern Deutsche Post DHL. Nach Tätig-
keit in verschiedenen Führungspositionen im Vertrieb wurde er dort zum Chief Customer Officer
(CCO) innerhalb von DHL Supply Chain befördert und übernahm im Anschluss als Senior Vice
President und Geschäftsbereichsleiter die Verantwortung für das weltweite Geschäft mit Kunden
in der High-Tech-Industrie. Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung und Beratungstätigkeit liegen
im Bereich Sales, Strategie, Digitalisierung, Supply Chain und E-Fulfillment.
Corporate Digital Responsibility im
Metaversum: Ein E-Commerce-Szenario 23
Sibylle Kunz
Zusammenfassung
S. Kunz (*)
IU Internationale Hochschule, Essenheim, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 379
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_23
380 S. Kunz
Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen Abriss über die Etablierung des Onlinehandels
als Vertriebskanal. Daran anschließend werden die Grundlagen von Augmented und
Virtual Reality skizziert und der Begriff des Metaversums erläutert, der durch Facebooks
Umbenennung in „Meta“ zu neuer Aktualität gelangt.
Mit der zunehmenden Nutzung des World Wide Web in den 1990er-Jahren entstanden ab
1994 die ersten Online-Shops (Lewis, 1994). Amazon ging 1994 als reine Online-Buch-
handlung an den Start und ist heute der erfolgreichste digitale Shoppinganbieter der Welt
mit einem Gesamtumsatz von 386 Mrd. US-Dollar in 2020 (Amazon, 2021). Der erfolg-
reichste chinesische Anbieter jd.com, der im Jahr 2003 ursprünglich als Elektronik-
händler gestartet war, kam im Jahr 2020 auf 114 Mrd. US-Dollar Umsatz (JD.Com,
2021).
Für Deutschland wird das jährliche Volumen im Onlinehandel für 2020 auf
ca. 83,3 Mrd. € geschätzt. Knapp 73 Mrd. € davon fließen in den B2C-Bereich. Den
größten Anteil an Produkten nimmt dabei Bekleidung ein, gefolgt von Elektronik-
artikeln und Gütern für Freizeit und Hobby. Der erfolgreichste Online-Händler ist auch
in Deutschland Amazon mit knapp 14 Mrd. € Umsatz, weit abgeschlagen folgen Otto.de
mit 4,5 Mrd. € und Zalando mit knapp 2 Mrd. €. Zu den zehn größten Onlinehändlern in
Deutschland zählen ferner (in dieser Reihenfolge) MediaMarkt und Saturn, Lidl, Apple
und IKEA. (Statista Research, 2021; HDE, 2021; EHI Retail Institute/Statista, 2021).
Die Nutzenden haben sich an durchsuchbare Produktdatenbanken, die Metapher
des Einkaufswagens, in den die Artikel „gelegt“ werden können und zumeist ähnlich
strukturierte Checkout-Vorgänge mit Adresseingabe und Bezahlschnittstellen gewöhnt.
Passwortgeschützte Kundenaccounts erlauben das leichte Einloggen und Bestellen.
Einige Online-Shops setzen Chatbots ein, um Fragen von Kunden zu beantworten und
diesen eine Kommunikation in natürlicher Sprache zu ermöglichen. Alternativ werden
Kontaktformulare, Service-Mailadressen oder Telefonhotlines angeboten, wie in
Abb. 23.1 dargestellt. Die Funktionsweise solcher Online-Shops hat sich in den letzten
25 Jahren nicht wesentlich verändert. Zahlreiche „klassische“ Online-Shops sind aber
aufgrund des immensen Innovationsdrucks und ausbleibenden Wachstums in ihrer
Existenz bedroht (Heinemann, 2016).
Charakteristisch für dieses traditionelle Online-Shopping-Szenario ist, dass sich
Kunden auf jeder Plattform erneut einloggen müssen und die einzelnen Online-
Shopping-Plattformen organisatorisch und technisch voneinander getrennt sind.
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 381
Nichtsdestotrotz kann das Informations- und Einkaufsverhalten der Kunden über Log-
file-Analysen und ausgedehnte Cookie-Netzwerke intensiv beobachtet und dokumentiert
werden (Hassler, 2019). Die so gewonnenen Daten werden zur gezielten Aussendung
von Werbung verwendet. Es existieren aber inzwischen weitreichende verbraucher- und
datenschutzrechtliche Regelungen für den Einsatz von Cookies und Nutzer-Tracking.
Im Zuge des Web 2.0 und der Erschaffung sozialer Netzwerke wie Facebook,
Instagram, Twitter oder TikTok wurden Konsument:innen immer stärker zu
Prosument:innen, die ihre eigenen Inhalte in Form von Texten, Bildern, Audio- und
Videobeiträgen erstellten und teilten. Die asynchrone Kommunikation über diese
sozialen Netzwerke wurde durch zahlreiche Chat- und Video-Kommunikations-
anwendungen wie WhatsApp, Telegram, Clubhouse, Skype, Teams oder Zoom etc.
ergänzt, die eine synchrone Kommunikation ermöglichen.
Im Web 3.0 sorgen inzwischen Blockchain-basierte Anwendungen für fälschungs-
sichere Transaktionen mit digitalen Währungen und Smart Contracts. Vor allem auf der
Basis der Plattform Ethereum entstanden die Non-Fungible Tokens (NFTs), digitale
Besitz- und Originalitätsnachweise für reale oder virtuelle Güter (Moorstedt, 2021).
Online-Shopping ist inzwischen auch auf mobilen Endgeräten wie Smartphone und
Tablets problemlos möglich. Die Anforderungen an die Hardware, insbesondere an die
Grafikleistung, sind gering. Die Nutzer:innen sind nur für die Dauer der Informations-
und Transaktionsvorgänge auf den Plattformen aktiv. Immersion im Sinne eines mög-
lichst realistischen „räumlichen“ Erlebnisses spielt keine Rolle. Dreidimensionale
Produktdarstellungen existieren fallweise, sind aber nicht die Regel. Mit dem Auf-
kommen leistungsfähigerer Hard- und Software zur Generierung augmentierter und
virtueller Realitäten wird sich das in den nächsten Jahren sichtbar ändern.
382 S. Kunz
Augmented Reality (AR) bezeichnet das Erweitern der Realität um künstliche grafische
Objekte, die in Echtzeit berechnet und über ein See-Through-Display (z. B. eine Brille)
eingeblendet werden und mit denen die Nutzer:innen ebenfalls in Echtzeit interagieren
können, indem sie sie selektieren und manipulieren, sie also beispielsweise „ergreifen“
und von allen Seiten betrachten oder in der Größe verändern. (Azuma, 1997). Zur
Anzeige von AR-Elementen können die Displays von Smartphones oder Tablets ver-
wendet werden, es gibt aber auch spezielle AR-Brillen, durch die die Realität, ergänzt
um die virtuellen Objekte wahrgenommen werden kann. Zu größerer Bekanntheit
gelangte beispielsweise die bereits 2012 vorgestellte „Google Glass“, die einfache
Datendarstellungen über ein Display in der Brille anzeigen konnte oder das aktuelle
Modell HoloLens2 von Microsoft (Microsoft, o. J.), das vor allem in Design, Forschung
und Weiterbildung eingesetzt wird.
Virtual Reality (VR) bezeichnet im Gegensatz dazu die Darstellung drei-
dimensionaler, komplett künstlicher Welten. Zu ihrer Darstellung werden VR-Brillen
benötigt, die im einfachsten Fall aus einem Smartphone in einer Papphalterung
(„Cardboard“) bestehen. Die Software berechnet zwei leicht versetzte stereoskopische
Bilder, die nebeneinander für je ein Auge auf dem Display angezeigt werden (Dörner
et al., 2019). Hochwertige VR-Brillen wie die Oculus Rift2 verfügen über zwei getrennte
Displays, zuweilen wird in die Brillenhalterung auch noch ein Kopfhörer integriert.
Da die Anwender:innen während der Nutzung die Außenwelt nicht wahrnehmen, ist
der Bewegungsradius zumeist beschränkt. Für die Interaktion werden Controller ein-
gesetzt, die Positionen der Nutzer:innen werden über externe Sensoren oder in die Brille
integrierte Kameras getrackt. Je nach Hersteller:in werden drei oder sechs Freiheits-
grade der Bewegung (3DoF, 6DoF) ermöglicht (Dörner et al., 2019). Es existieren zahl-
reiche Anwendungsmöglichkeiten, am weitesten verbreitet sind Gaming, Simulationen,
Lernsoftware (z. B. für Piloten oder in der Medizin oder zum Erlernen virtueller
Instrumente) und virtuelle Reisen, daneben wird VR auch zur Therapie von Angst-
störungen (z. B. Höhenangst) oder für Meditationen eingesetzt. Auch virtuelle Events
zur Freizeitgestaltung sind möglich, etwa in VR-Arcades mit hochwertigen Simulatoren,
Multiplayerräumen oder beispielsweise beim VR-Bodyflying im Windtunnel, während-
dessen die Kunden einen virtuellen Basejump erleben (Jochen Schweizer, 2021). Ferner
existieren Anwendungen zur Kollaboration von Mitarbeitenden oder Implementierung
digitaler Klassenräume, wobei die Teilnehmenden dann über teil- oder ganzkörperlich
dargestellte Avatare repräsentiert werden.
Wichtig ist bei VR-Anwendungen das möglichst große Ausmaß an Immersion, d. h.
die Nutzenden fühlen sich vollständig in die künstliche Welt versetzt und erleben eine
möglichst authentische Präsenz durch Ansprache möglichst vieler Sinne (Multimodali-
tät) (Dörner et al., 2019). Neben den optischen können dabei akustische oder – bei Ver-
wendung von Datenhandschuhen oder Datenanzügen – auch haptische Reize eingesetzt
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 383
werden. Erste Experimente gibt es auch schon mit der Ausbringung von künstlichen
Düften über eine zusätzliche Apparatur.
VR-Anwendungen stellen hohe Anforderungen an die Hardware, da große Mengen
von Bildern und Objekten in Szenen in Echtzeit berechnet und bei Bewegungen von
Augen oder Kopf angepasst werden müssen. Die dazu notwendige Rechenleistung
kommt bei autarken Systemen direkt aus der Brille, alternativ aus einem verbundenen
PC. Zukünftig werden Anwendungen vermehrt über das Internet gestreamt werden
können, sodass die erforderliche Rechenleistung in Cloudsystemen erbracht werden
kann.
Insbesondere Facebook geriet im Laufe der 2010er Jahre zunehmend für seinen Umgang
mit Nutzerdaten in die Kritik. Höhepunkte waren der Cambridge Analytica-Skandal mit
dem Verdacht der gezielten Wahlbeeinflussung durch Nutzen von Wähler:innenprofilen
im Jahr 2016 und die Offenlegungen durch die Whisteblowerinnen Sophie Zang in
2020 und Frances Haugen in 2021. Sie brachten an die Öffentlichkeit, dass nicht alle
Nutzer:innen auf Facebook gleichen Regeln unterliegen, dass der Konsum von Inhalten
auf Instagram zu Depressionen und Suizidgefährdung bei Jugendlichen führen kann
und dieses dem Unternehmen bekannt ist und dass die Gestaltung des Newsfeeds der
Nutzer:innen aufsehenerregende und negativ gestimmte Beiträge bevorzugt. Zudem ist
durch die Übernahme von WhatsApp und Instagram eine nahezu marktbeherrschende
Stellung entstanden und das Unternehmen steht international im Fokus der Aufsichts-
behörden (Bager, 2021).
Am 28. Oktober 2021 gab Facebook auf der Entwicklerpräsentation „Facebook
Connect“ seine Transformation in ein „Social Technology“-Unternehmen und seine
Umbenennung in Meta bekannt und stellte auch das neue Logo vor (Facebook/Meta,
2021a). Neues Ziel soll der Aufbau des Metaverse (deutsch: Metaversum) sein, eine
Weiterentwicklung des World Wide Web zu einer dreidimensionalen offenen Spiele-,
Einkaufs- und Kollaborationsplattform. In den Jahren zuvor hatte Facebook schon mit
Akquisitionen wie Oculus (ein Hersteller von VR-Brillen wie beispielsweise den erfolg-
reichen Modellen Oculus Rift, Oculus Quest sowie Oculus Quest 2) oder Beat Games,
dem Hersteller des weitverbreiteten VR-Spiels Beat Saber seine Aktivitäten im Bereich
Virtual Reality deutlich verstärkt (Meta, 2021).
Der Begriff Metaverse stammt aus dem 1992 veröffentlichten Roman „Snowcrash“
von Neal Stephenson und bezeichnete dort eine virtuelle Welt, in die sich Menschen
zum Arbeiten und in der Freizeit begeben. Eine erste Implementierung war das 2003
ins Leben gerufene SecondLife (https://secondlife.com), das grafisch noch wenig
anspruchsvoll gestaltet war, aber bereits viele Unternehmen zu einer virtuellen Präsenz
verleitete. Das von Epic Games 2017 veröffentlichte kostenlose Kooperations- und
Survivalspiel Fortnite (https://www.epicgames.com/fortnite/de/home) wurde seit 2019
384 S. Kunz
In diesem Abschnitt werden die Besonderheiten einer nun ins Metaversum verlagerten
Verkaufsstätte aufgezeigt, und es werden verschiedene Konstellationen von Kunden und
Verkaufspersonal sowie Besonderheiten der im Virtuellen gehandelten Güter erörtert.
Abb. 23.3 Dreidimensionaler Onlineshop, Kunden und Mitarbeitende oder Bots als Avatare, m:n-
Beziehung. (Quelle: eigene Darstellung)
Anders verhält es sich mit nativ digitalen Gütern wie z. B. E-Books, Filmen, Musik-
dateien oder Computerspielen. Diese ließen sich auch direkt in virtuellen Umgebungen
konsumieren – auch in Anwesenheit von Freund:innen (gemeinsames Filmeschauen,
Musikhören, Tanzen in einer virtuellen Diskothek). Zunehmend finden auch Erlebnisse
oder kulturelle Veranstaltungen in virtuellen Umgebungen statt. So sind virtuelle Reisen
zu internationalen Sehenswürdigkeiten denkbar, es gibt zahlreiche virtuelle Museen und
Kunstgalerien und einige Theater bieten bereits ein Erlebnispaket aus VR-Brille und
virtuellem interaktivem Theaterstück an, so etwa das Staatstheater Augsburg mit dem
Konzept VR-theater@home (Staatstheater Augsburg, 2021).
Im Folgenden sollen die spezifischen Risiken und Gefahren aufgezeigt werden, die die
Nutzung des Metaversums für E-Commerce-Szenarien mit sich bringen kann. Unter-
schieden wird dabei zwischen Risiken, die aus der individuellen VR-Nutzung für die
Einzelnen erwachsen sowie Risiken, die sich aus der Gruppendynamik beim Zusammen-
treffen mehrerer Kunden und Verkaufsmitarbeitenden ergeben können. Als drittes
werden noch die Risiken für die anzubahnende oder bereits bestehende Geschäfts-
beziehung zwischen Kunden und Hersteller:in oder Händler:in aufgezeigt.
388 S. Kunz
Virtuelle, möglichst real wirkende und die Kunden multimodal und mit dem Ziel höchst-
möglicher Immersion ansprechende Verkaufsräume und Produkte bringen auch eine
Vielzahl neuer Problematiken mit sich, die im Folgenden beleuchtet werden sollen.
Zunächst muss auf der Ebene einzelner Nutzer:innen oder Kunden erforscht werden,
welche Auswirkungen ein längerer Aufenthalt in virtuellen Welten mit sich bringt. Auf der
physischen Ebene können das Tragen einer VR-Brille und das Erleben dreidimensionaler
künstlicher Umgebungen das Phänomen der Motion- oder Cyber-Sickness hervorrufen,
das mit der Seekrankheit vergleichbar ist. Symptome sind Schwindel und Übelkeit bis
hin zum Erbrechen, länger anhaltende Kopfschmerzen und Dehydrierung. Als Ursache
wird zum einen die Abweichung der von den Augen gemeldeten Reize und Positionen
im Raum von den vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr und somit dem vestibulären
System gemeldeten Daten vermutet, wozu auch die technisch bedingte Verzögerung der
Anpassung der visuellen Darstellung nach Kopf- oder Augenbewegungen (Latenz) bei-
trägt, zum anderen scheinen z. B. Frauen anfälliger für Cyber-Sickness zu sein als Männer
und es gibt offenbar weitere genetisch bedingte Faktoren. (Dörner et al., 2019).
Auf psychologischer Ebene ist vor allem das Erleben des „Selbst“, das Selbst-
bewusstsein ein noch zu wenig geklärtes und kaum physisch im Körper verortbares
Phänomen. Unter dem Begriff „Unit of identification“ wird dies im Zusammenhang
mit VR und außerkörperlichen Erfahrungen untersucht (Metzinger, 2013). Die Identi-
fikation mit einem Avatar kann sehr starke Ausmaße annehmen. Eindrucksvoll belegt
dies die „rubber hand illusion“ (illusion of embodiment) (Ehrsson et al., 2005). Von einer
steigenden Immersion in fotorealistischen Welten, die gleichzeitig erlauben, bislang
„unmögliche“ Ereignisse zu erleben (da z. B. physikalische Grundlagen nicht gelten),
geht eine große Faszination und eine erhöhte Suchtgefahr aus (Kind et al., 2019).
Die schon aus den herkömmlichen sozialen Netzwerken verbreitete „Fear of missing
out“ (FOMO), also die Angst, etwas zu verpassen, das viele Familienmitglieder, Freunde
und Bekannte erleben, könnte flankierend einen sozialen Druck ausüben, ebenfalls teil-
zunehmen und sich vielleicht länger im Metaversum aufzuhalten, als ursprünglich
beabsichtigt. Dadurch steigen ebenfalls die Suchtgefahr sowie die Vernachlässigung
des eigenen Körpers und der Lebensumgebung oder auch der Rückgang realweltlicher
sozialer Kontakte. Die Folge können Depersonalisations- und Derealisationsstörungen
sein (Madary & Metzinger, 2016).
Bei der Interaktion von Nutzer:innen in virtuellen Räumen können Konflikte und
problematische Verhaltensweisen auftreten, wie sie sich heute schon auf Gaming-Platt-
formen beobachten lassen. Dazu zählt eine erhöhte Gewaltbereitschaft durch herab-
23 Corporate Digital Responsibility im Metaversum … 389
Datenschutz
Für die über die Kunden vor, während und nach ihrem Aufenthalt im virtuellen Geschäft
gesammelten Einstellungs- und Verhaltensdaten müssen mindestens die bereits durch
Richtlinien wie die DSGVO vorgegebenen Regeln gelten. Eventuell bedarf es sogar
eines Verbots, Dinge wie Bewegungs- und Blickverlaufsdaten überhaupt zu erfassen oder
zu speichern und auszuwerten.
Jugendschutz
Für die angebotenen Waren und Dienstleistungen müssen die Vorschriften des Jugend-
schutzes eingehalten werden.
• Wie dicht dürfen Avatare von Kunden und Mitarbeitenden aufeinander zugehen oder
beieinanderstehen?
• Dürfen Kundenavatare beobachten, was andere Kundenavatare anschauen oder
kaufen?
• Können fremde Avatare den Inhalt des eigenen Einkaufswagens sehen?
• Gibt es Verhaltensweisen im Kaufprozess, die bewusst unsichtbar geschaltet werden
sollen?
Kurz gesagt, bedarf es einer Überprüfung und ggf. Übertragung geltender Gesetze,
Verordnungen, Regeln oder Empfehlungen aus dem realweltlichen Kontext in den
Kontext des Metaversums. Statt dies für jedes Unternehmen oder jede Einrichtung im
Metaversum individuell zu tun, wäre es sinnvoll, sich auf allgemeine „Spielregeln“ zu
einigen, die bereits beim Login in das Metaversum von allen Nutzer:innen akzeptiert
werden müssen und die bei Nichtbeachtung entsprechende Sanktionen nach sich ziehen.
Die in der Entwicklung befindlichen Regelwerke Digital Markets Act (DMA) und
Digital Services Act (DSA) bieten hierfür erste Anknüpfungsmöglichkeiten (Europäische
Kommission).
Gemäß der Kategorisierung in Skerra (2022) lassen sich hier folgende Akteur:innen
benennen:
23.5 Fazit
Die Nutzer:innen haben sich seit mehr als zwanzig Jahren an im Wesentlichen gleich
gestaltete E-Commerce-Plattformen gewöhnt. Doch das Metaversum ist mehr als nur
eine Fortführung solcher Plattformen in der Dreidimensionalität. Durch die höhere
Immersion und die dauerhafte Verbindung von Nutzer:innen mit Avataren sowie durch
neue Formen des Zusammentreffens eines oder mehrerer Akteur:innen in Informations-
und Einkaufsszenarien ergeben sich zahlreiche, schon heute absehbare Risiken. Die
daraus resultierenden Fragen sollten daher mithilfe einer umfassenden Corporate-
Digital-Responsibility-Strategie angegangen werden, um Kundenbeziehungen weiterhin
erfolgreich anbahnen und nutzen zu können.
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394 S. Kunz
Prof. Dr. Sibylle Kunz ist seit 2020 Professorin im Fernstudium der IU Internationale Hoch-
schule im Fachbereich IT und Technik und Studiengangleiterin für Medieninformatik. Nach dem
Diplom in Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Darmstadt machte sie sich mit
einem IT-Beratungs- und Schulungsunternehmen selbständig und arbeitete über zwei Jahrzehnte
in IT-Projekten u.a. in Versorgungsunternehmen, Banken, Verbänden, Verlagen und Kammern.
2011 kehrte sie parallel dazu zurück in die akademische Welt als Lehrkraft für Wirtschafts-
informatik an der Hochschule Mainz sowie als Lehrbeauftragte an der European Management
School und der Hochschule Darmstadt, wo sie 2020 mit dem Sonderpreis für Digitalisierung in
der Lehre ausgezeichnet wurde. Ebenfalls 2020 promovierte sie als erste Doktorandin im Fach
Digital Humanities an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Digitalisierung in der
Unternehmenskommunikation 24
Alexandra Kühte und Angela Rohde
Zusammenfassung
A. Kühte
IU Internationale Hochschule, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]
A. Rohde (*)
IU Internationale Hochschule, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 395
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_24
396 A. Kühte und A. Rohde
Was sind die Aufgaben der Unternehmenskommunikation und wie lässt sie sich
abgrenzen von Marketing? In der Fachliteratur sind die Ansätze zur Systematisierung
sowie Aufsplittung in Teilbereiche unternehmerischer Kommunikation zahlreich.
Anstöße zur Professionalisierung der Kommunikation und zum Dialog der Wissen-
schaftsdisziplinen kommen zudem aus den Wirtschaftswissenschaften (mit dem
Schwerpunkt im Marketing) sowie den Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie,
Politikwissenschaften).
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 397
1 Jenach Ansatz werden diese Teilbereiche noch ergänzt um die Begriffe Corporate Philosophy
und Corporate Soul.
398 A. Kühte und A. Rohde
tionsprozessen. Die Ziele der einzelnen Bereiche können sich teilweise entgegenstehen,
weshalb Ansätze zur integrierten Unternehmenskommunikation entstanden sind in dem
Bemühen, Widersprüche identifizierbar zu machen (vgl. Hoffjann, 2020, S. 132). Dabei
gerät beispielsweise die Integration von interner und externer Kommunikation stärker
in den Fokus (vgl. Bruhn, 2014, S. 289–299). Integrierte Kommunikation bedeutet, ein
„inhaltlich, formal und zeitlich einheitliches Erscheinungsbild“ (Mast, 2020, S. 39) des
Unternehmens zu erzeugen. Gemeinsam ist diesen Forschungsansätzen das Bemühen
darum, die Komplexität der Kommunikationsaktivitäten in den Unternehmen zu erfassen
und gegenseitige Bezüge sichtbarer zu machen.
Mast macht in den vergangenen Jahren verschiedene Entwicklungsphasen der
Unternehmenskommunikation aus. Vor dem Hintergrund des digitalen Wandels in
Medien und Kommunikation sieht sie um das Jahr 2015 herum contentzentrierte
Ansätze als wichtigen Schwerpunkt. „Content first“ laute die Devise und Strategie. Der
Inhalt stehe im Mittelpunkt der Kommunikationsarbeit – unabhängig von einzelnen
Medien(gattungen), Kommunikationsformen oder Zielgruppen (vgl. Mast, 2020, S. 19).
Aktuell sieht Mast die Erreichung gesellschaftspolitischer Akzeptanz als zentrale Ziel-
stellung in der Kommunikation von Unternehmen (vgl. 2020, S. 19).
die Bedeutung des klassischen Journalismus sinkt, etablieren sich neue Gatekeeper.2 Vor
allem in den Sozialen Medien wandelt sich „die öffentliche Kommunikation von einer
sozial selektiven, einseitigen, linearen und zentralen zu einer partizipativen, interaktiven,
netzartigen und dezentralen Kommunikation“ (Neuberger, 2017, S. 102).
Die Unternehmenskommunikation ist aufgrund dieser tiefgreifenden Veränderungen
damit konfrontiert, zunehmend die Kontroll- und Deutungshoheit darüber zu verlieren,
was über das Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen und die handelnden
Personen verbreitet wird. Es wird immer schwieriger, die Verbreitung von Botschaften
medial zu kontrollieren (Kirf et al., 2020, S. 6). Professionelle Kommunikation ist „auf
spezielle Weise geplant, folgt etablierten und professionalisierten Handlungsmustern und
ist systematisch mit Führung und Management eines Unternehmens verknüpft“ (Mast &
Spachmann, 2020, S. 1). So wird strategische Kommunikation zur Managementaufgabe.
Die wachsende Bedeutung dieses Feldes findet in größeren Unternehmen ihren Ausdruck
in der Installation der Position des Chief Communication Officer (CCO). Unternehmen
brauchen daher „ein Kommunikationssystem, das mit Blick auf Tempo, Reaktionsfähig-
keit, Beweglichkeit und Lernvermögen spitze ist“ (Mast, 2020, S. XIIII).
„Die PR-Abteilungen müssen heute sehr agil sein. Die Anforderungen ergeben sich
schon allein durch neue Social-Media-Plattformen wie Twitter, LinkedIn, Facebook oder
Instagram, aber auch durch eigene News- und Videoplattformen. Immer häufiger halten
Newsrooms, wie wir sie aus Redaktionen kennen, Einzug in Kommunikationsabteilungen,
um die vielfältigen Kanäle mit Nachrichten und ganzen Kampagnen versorgen zu können.
Damit einher geht auch das Anwerben von Journalistinnen und Journalisten, um diesem
Anspruch, vor allem auch dem des Storytellings, gerecht zu werden.”3
Den aktuellen Stand der Kommunikation in den Unternehmen erfasst jährlich der
European Communication Monitor (ECM). 2020 standen die Themen „Ethical
Challenges, Gender Issues, Cyber Security and Competence Gap in Strategic
Communication” im Fokus des Berichts. Fake News wurden 2018 als zentrale Heraus-
forderung identifiziert. 2019 dominierte das Thema Vertrauen in die PR. Für 2021 und
als anhaltende Herausforderung wurde u. a. der Bereich Commtech („Communication”
und „Technology“) ausgemacht. Der Bericht fragt zudem nach den zukünftigen Rollen
der Kommunikationsexpertinnen und -experten. Der Zukunftstrend ist eindeutig.
Zerfaß, leitender Forscher des ECM, stellt fest: „Without any doubt, the change of the
profession will be accelerated. There will be neither a return to the old familiar nor a
new normal that reflects today’s practices. Instead, communications will be transformed
by digitalisation on all levels […]“ (2021, S. 7). Gefordert wird das Bemühen, Soft-
ware umfassend in die Workflows zu integrieren und digitale Tools sowohl für die
interne Kommunikation als auch im Dialog mit den Stakeholdern zu nutzen (vgl. Larsen,
2021, S. 6). Die Branche ist sich der Herausforderung bewusst. Die breite Mehrheit
(knapp 88 %) der im Frühjahr 2021 rund 2600 Befragten innerhalb Europas betonte
die Bedeutung der digitalisierten Stakeholder-Kommunikation verbunden mit dem not-
wendigen Auf- und Ausbau einer passenden Digital-Infrastruktur (knapp 84 %). Rund
40 % der Befragten aus Kommunikationsabteilungen und Agenturen schätzen den
Digitalisierungsgrad in ihrer Kommunikation mit Stakeholdern sowie die digitalen Infra-
strukturen als noch nicht ausgereift („not mature“) ein (vgl. Zerfaß, 2021, S. 21).
Kommunikationsprofis stehen an den wesentlichen Schnittstellen zu den Ziel-
gruppen eines Unternehmens, den internen und externen Teilöffentlichkeiten. Mit-
arbeiter, Kunden, Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und ggf. Aktionäre
(Shareholder) gehören zu den wichtigsten Bezugsgruppen (Stakeholdern) der Unter-
nehmen. Dabei stehen ihnen eine Vielfalt an Kanälen, Instrumenten und Publikations-
3 Das Gespräch mit Hilmar Schepp, SAP, fand im Februar 2022 statt.
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 401
formen zur Verfügung – von der Corporate Website über den Corporate Newsroom bis
hin zu Communities, Podcasts oder Web-TV (vgl. Zerfaß & Pleil, 2015, S. 68–69). Dies
erfordert völlig neue Kompetenzen der Kommunikatorinnen und Kommunikatoren und
führt in den letzten Jahren zu neuen Bewegungsmustern in der Branche: Journalistinnen
und Journalisten sowie andere Medienschaffende wechseln aus den Medienhäusern
in die Kommunikation und PR der Unternehmen. Der sogenannte Seitenwechsel4 in
die Unternehmenskommunikation ist auch eine Folge des strukturellen Wandels in der
Medienbranche aufgrund der ökonomischen Medienkrise.
„First we spoke. Then we wrote. Then we printed. Then we listened to the radio and
watched TV. And now we surf the Internet.“ (Poe, 2013, S. X). Was hier, vorgetragen
durch den amerikanischen Historiker Marshall T. Poe, fast spielerisch und leicht aus
der Perspektive der heutigen Mediennutzerinnen und Mediennutzer klingt, ist für die
Kommunikationsverantwortlichen in den Unternehmen eine große Herausforderung.
Die Digitalisierung beschleunigt die Kommunikationsprozesse. Die Kommunikation
mit den verschiedenen Stakeholdergruppen kann zudem über direkte Kommunikations-
wege erfolgen (Mast, 2020, S. 174), denn es kann heute ein vielfältiges Spektrum an
Medienkanälen genutzt werden. Mast differenziert die Schnelligkeit der verschiedenen
Informationswege in „langsam“, „eher langsam“, „minimal zeitversetzt“ und „Echt-
zeit“ (2020, S. 175). Die Stakeholder können selbst zu Kommunikatorinnen und
4 Weitere
Wechsel lassen sich von Kommunikationsprofis und Journalistinnen und Journalisten aus
den Unternehmen hin zu strategischen Kommunikationsberatungen beobachten (vgl. Thoms, 2021,
S. 18).
402 A. Kühte und A. Rohde
Ihre massenhafte Verbreitung über nahezu alle Zielgruppen hinweg macht die Sozialen
Medien zu einem wesentlichen Bestandteil der Unternehmenskommunikation. In ihren
von Euphorie geprägten Anfangszeiten hieß es zunächst vorrangig: Hauptsache dabei!
Das war Erfolg genug. Heute dienen die verschiedenen Social-Media-Angebote der
Unternehmen zur Kommunikation mit der digitalen Öffentlichkeit, um Kommunikations-
und Marketingziele zu erreichen. Durch die vielfältig verfügbaren Online-Angebote
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 403
haben dort inzwischen auch die digital vernetzte Kommunikation sowie die Partizipation
der Nutzerinnen und Nutzer an der Erstellung und Verbreitung von Inhalten Einzug
gehalten (vgl. Taddicken & Schmidt, 2017, S. 8). Die verschiedenen Social-Media-
Plattformen wie Twitter, Facebook, Instagram oder auch YouTube unterscheiden sich
in ihren Kernfunktionen, Medientechnologien und Nutzergruppen. Sie werden als Ver-
breitungskanäle für Unternehmensbotschaften sowie als dialogorientierte, interaktive
Kommunikationskanäle genutzt. Zudem werden sie für die Recherche eingesetzt zu
verschiedenen Fragestellungen: Mit welcher Tonalität wird über das Unternehmen
gesprochen? Welche Themen sind im Fokus? etc.
Wichtig sind die Präsenz in den Kanälen, in denen sich die Zielgruppe aufhält, sowie
der gezielte, unmittelbare Beziehungsaufbau (vgl. Pleil & Bastian, 2017, S. 130). Das
geht nicht ohne eine konkrete, auf die eigene Branche, eigene Produkte sowie Ziel-
gruppe(n) angepasste Kommunikationsstrategie. Wurde in der Forschung anfangs noch
das vermeintlich unerschöpfliche Potenzial der Sozialen Medien für das Beziehungs-
management mit den Zielgruppen betont, sind inzwischen auch die damit verbundenen
Risiken wie sogenannte „Shitstorms” und Desinformationskampagnen Teil der Social-
Media-Welt und für die Unternehmenskommunikation eine reelle, ernst zu nehmende
Gefahr, auch wenn nicht jeder Shitstorm gleich in einer Krise münden muss (vgl.
Niggemann, 2019, S. 36).
Formalisierte Kommunikation ist im heutigen digitalen Zeitalter zumeist nur noch
eingeschränkt möglich, so Mast. Die Verantwortlichen der Unternehmenskommunikation
können zwar den ersten Kommunikationsimpuls in Richtung der Stakeholder planen und
kontrollieren – beispielsweise das Verbreiten einer Pressemitteilung oder das Absetzen
eines Postings. Die Reaktionen darauf und die einsetzende Anschlusskommunikation
unter den Stakeholdern, innerhalb der Social-Media-Community, seien jedoch kaum
planbar (vgl. Mast, 2020, S. 187–188). Zudem ist die Unternehmenskommunikation
möglicherweise mit der sehr schnellen Weiterverbreitung innerhalb der Social-Media-
Community konfrontiert, also mit viralen Effekten – positiven wie negativen.
Kirf et al. konstatieren, dass das „einstige Absender-Monopol der Unternehmens-
kommunikation in Zeiten von Social Media/Social Web […] schon längst aufgehoben
ist zugunsten eines reichweiten-vergrößerten Many-to-Many-Prinzips“ (2020, S. 7). Die
Unternehmenskommunikation hat die exklusive Rolle des alleinigen Senders eingebüßt.
Im Social-Media-Zeitalter hat sich „der klassische Dualismus von Sender und Nutzer
von Kommunikationsofferten in eine Zirkularität verwandelt“ (Kirf et al., 2020, S. 9).
Unternehmen sollten verschiedene Anforderungen beachten, um erfolgreich Social-
Media-Kommunikation zu betreiben. Kirf et al. empfehlen Unternehmen u. a. eine aktive
Partizipation an für das Unternehmen relevanten Social-Media-Diskursen. Das Auf-
treten sollte authentisch und offen sein. Im Diskurs sind Zuhörbereitschaft, ein schnelles
Feedback und eine direkte, interpersonale Kommunikationsbereitschaft wichtig (vgl.
Kirf et al., 2020, S. 19).
Echtzeitkommunikation, Dialogbereitschaft, Direktkommunikation und inter-
personale Anschlusskommunikation sind typische Merkmale und Verhaltensweisen in
404 A. Kühte und A. Rohde
nehmenswerte beiträgt und damit zur „License to operate“, d. h. zur Legitimation des
Unternehmens. Schepp untermauert im Gespräch mit den Verfasserinnen die Bedeutung
datenunterstützter PR-Arbeit und erklärt:
„In den PR-Abteilungen möchten alle Beteiligten wegkommen von sogenannten Bauchent-
scheidungen, von Entscheidungen, die einzig und allein auf Erfahrungswerten der letzten
Jahre beruhen. Ich möchte das mal die ‚Alte-Hasen-Weisheit‘ nennen. Heutzutage helfen
alleine schon Werkzeuge zur Auswertung von Inhalten auf Social-Media-Plattformen wie
Twitter, LinkedIn, Facebook etc., die einen Trend zu gewissen Themen erkennen lassen. So
können PR-Kolleginnen und -Kollegen entsprechend Kommunikationskampagnen planen.
In einem zweiten Schritt kommen dann Analysewerkzeuge hinzu, die die durchgeführten
Kampagnen auf ihren Erfolg hin abklopfen.“
Über Analyse-Tools steht den Unternehmen eine potenziell große Datenmenge zur Ver-
fügung, um das Image des Unternehmens, branchenrelevante Themen, Erwähnungen
des CEO oder anderer Führungskräfte sowie Kampagnenerfolge über ausgewählte
Kennzahlen (KPIs = Key Performance Indicators) zu messen. Effizienznachweise für
in den Medien realisierte Erfolge erfolgen also im Kommunikationscontrolling, als
Unterstützungs- und Steuerungsfunktion, die von der Strategie über den Prozess bis zum
Ergebnis „Transparenz für den arbeitsteiligen Prozess des Kommunikationsmanagements
schafft sowie geeignete Methoden, Strukturen und Kennzahlen für die Planung,
Umsetzung und Kontrolle der Unternehmenskommunikation bzw. Public Relations
bereitstellt“ (Zerfaß & Buchele, 2008, S. 24). Hier liefert der in 2009 von der Deutschen
Public Relations Gesellschaft (DPRG) und dem Internationalen Controller Verein (ICV)
als Branchenstandard verabschiedete DPRG-ICV-Bezugsrahmen ein anschauliches
Modell der auf unterschiedlichen Wirkungsstufen erfassbaren Daten bzw. Informationen
(vgl. DPRG, 2016).
Die zentrale Bedeutung von Digitalisierung und Technologisierung in der
Kommunikation findet ihren Ausdruck im bereits angeführten Begriff CommTech,
der auf die Arthur Page Society zurückgeht. Ende 2021 gründete das IMWF (Institut
für Management- und Wirtschaftsforschung GmbH) die AG CommTech, in der sich
PR-Praktikerinnen und -Praktiker in Arbeitsgruppen versammeln, um die Kern-
felder digitalisierter Kommunikation zu identifizieren und Professionalisierungs-
strategien zu erarbeiten (vgl. IMWF, 2021). Dennoch hat auch der datengetriebene
Fokus seine Grenzen in der Auswertbarkeit und hinsichtlich der zielsicheren Erhebung
durch Menschen mit ihren individuellen Kommunikations- und Informationsbedürf-
nissen sowie der angestrebten Unternehmenswerte. Verantwortliche müssen auch
mit unerwarteten, widersprüchlichen oder gar unerwünschten Ergebnissen rechnen
und mit ihnen angemessen umgehen können. Die Vielfalt der Erhebungsmöglich-
keiten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kausalzusammenhänge zwischen Input
(Ressourceneinsatz) und Output (Wirkung, Wertschöpfung) in komplexen, dynamischen
Umgebungen problematisch sind. Mit ihrem Rat, unternehmerische Prozesse komplett
zu digitalisieren, könnten Digitalisierungsexperten auch falsch liegen. „Wer ‚durch-
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 407
Aus der Vielzahl der Anwendungsmöglichkeiten werden im Folgenden für die PR-Arbeit
wesentliche Bereiche kurz vorgestellt.
Digitale Medienbeobachtung
Die öffentliche Wahrnehmung des Unternehmens wird mittels einer Medienresonanzana-
lyse in der medialen Berichterstattung systematisch analysiert. Software-Tools externer
Dienstleister bieten die Möglichkeit, den Pressespiegel (Clippings) per Knopfdruck zu
erstellen (z. B. PMG Presse-Monitor5), indem regelmäßig auf Basis einer umfassenden,
digitalen Pressedatenbank tagesaktuell relevante Medien mit festgelegten Keywords
sowie gezielt bzw. ad hoc zu bestimmten Anlässen und Themen gescannt werden.
Beispiel
Im Herbst 2021 musste sich die Fondsgesellschaft DWS Investments, Tochter der
Deutschen Bank, Vorwürfen des Greenwashings stellen, die von einer ehemaligen
Managerin ausgesprochen wurden. Mögliche Keywords, um Berichterstattung rund
um diesen Vorfall zu analysieren, könnten sein: DWS (Unternehmensname), Finanz-
dienstleistungen (Branche), Greenwashing/ESG Investing/Nachhaltigkeit (Thema/
Issue) etc.6 ◄
Digitale Pressearbeit
Viele PR-Abteilungen wurden in den letzten Jahren personell massiv aufgestockt, neue
Technologien halten Einzug, illustriert anhand des folgenden Praxisfalls:
Beispiel
In der PR-Abteilung von Amazon wurde von Jeff Bezos im Jahr 2016 ein sogenanntes
Rapid Response Team installiert, mit dem Ziel, sich aufgrund der wahrgenommenen
„explosion of negative press coverage“ (Martineau, 2021) quasi in Echtzeit unter
Anwendung einer Software von Salesforce einen Überblick über 90 % dieser
negativen Inhalte zu verschaffen und wiederum 90 % davon i. d. R. innerhalb von
zwei Stunden durch das PR-Team öffentlich richtigstellen zu lassen. Hierzu wurde
die Anzahl der Beschäftigten in der Kommunikation seit 2015 auf ca. 800 ver-
doppelt. Chef der Abteilung wurde Jay Carney, ein ehemaliger Pressesprecher des
Weißen Hauses in den USA. Weitere prominente Top-Medienschaffende folgten
ihm. Dies vermittelt einen Eindruck, wie mit Analysewerkzeugen heutzutage bereits
PR praktiziert wird, und verweist auf eine Entwicklung in Unternehmen, die sich in
Zukunft noch verstärken wird. ◄
Die genannten Anwendungsfelder geben bereits einen Eindruck davon, wie vielfältig
digitalisierte und technologiebasierte Kommunikation ist. Tab. 24.1 verweist neben den
Potenzialen auch auf ausgewählte Risiken weiterer Anwendungsbeispiele mit Fokus auf
die Unternehmenskommunikation.
24 Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation 409
zur Wertschöpfung zu beziffern, ist eher von einer Steigerung dieser Entwicklung aus-
zugehen. Kommunikation lebt vom menschlichen Dialog. „Die proklamierte Mensch-
Maschine-Fusion stößt an eine kommunikative Schallmauer, weil Menschen als soziale
Akteure immer noch und weiterhin in persönlichen Begegnungen als Sender, Empfänger
oder Mittler miteinander kommunizieren. Digitalisierung kann den authentischen und
direkten, in die Aura der Sinneswahrnehmungen eingebetteten kommunikativen Aus-
tausch nicht ersetzen“ (Kirf et al., 2020, S. 121). Die zweifellos großen Errungen-
schaften der Digitalisierung in der Unternehmenskommunikation in Bezug auf
Kommunikationskanäle und Analyse- und Recherche-Tools haben den Arbeitsalltag von
Kommunikationsverantwortlichen stark erleichtert. Dennoch stehen Daten nicht für sich
selbst, sondern müssen von den Verantwortlichen professionell erhoben und gedeutet
werden, damit sie ihr volles Potenzial in der strategischen Kommunikation im Sinne der
Unternehmensziele entfalten können.
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414 A. Kühte und A. Rohde
Prof. Dr. Alexandra Kühte ist seit 2020 Professorin für Marketing, Kommunikation & PR an
der IU Internationale Hochschule in Berlin. Sie verfügt über langjährige Berufserfahrung in der
digitalen Transformation von Medienmarken, Vermarktungs- und Geschäftsmodellen. Ihre Lehr-
und Forschungsschwerpunkte sind Unternehmens- und Markenkommunikation sowie Medien-
wandel und Medienmanagement.
Prof. Dr. Angela Rohde ist seit 2019 Professorin für Medien & PR an der IU Internationale Hoch-
schule im Fernstudium und Lehrende im IU Duales Studium in Hamburg. Sie war über viele Jahre
in leitenden Funktionen in Marketing und Unternehmenskommunikation internationaler Unter-
nehmen (Finanzdienstleistung und Verlage) tätig. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind
Medienwandel, Strategische Kommunikation, Mediennutzungs- und Medienwirkungsforschung,
Konfliktmanagement sowie Mindful Leadership.
Ein Firestorm – was tun?
Krisenkommunikation bei digitalen 25
Markenkrisen
Zusammenfassung
Firestorms (im Deutschen oft auch als Shitstorms bezeichnet) als Form digitaler
Markenkrisen stellen für viele Unternehmen heutzutage ein existenzbedrohendes
Ereignis dar, während sie für andere ein willkommener PR-Gag sind. Doch vor
welchen Firestorms sollten sich Unternehmen potenziell fürchten, wie können
sie sich vorbereiten und wie reagieren? Nach einer konzeptionellen Einordnung
von Firestorms als Markenkrise im digitalen Zeitalter zeigen zwei Praxisbei-
spiele mögliche Auslöser, Verläufe und Konsequenzen auf. Der Beitrag schließt mit
Empfehlungen für geeignete Krisenkommunikationsstrategien.
25.1 Einleitung
Ein pinker Handschuh sollte für die zwei Gründer Eugen Raimkulow und Andre
Ritterswürden der Durchbruch sein. Als sie ihr Produkt, pinkfarbene Einmalhand-
schuhe zur Entsorgung von Tampons, in der VOX-Sendung „Die Höhle der Löwen“
präsentierten, stieg Investor Ralf Dümmels mit 30.000 € ein. Doch schon während
der Sendung entbrannte ein Firestorm in sozialen Netzwerken: „frauenverachtend“,
N. Hansen (*)
IU Internationale Hochschule, Münster, Deutschland
E-Mail: [email protected]
J. Arweck
IU Internationale Hochschule, Passau, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 415
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_25
416 N. Hansen und J. Arweck
Nach Hansen et al. (2018) lassen sich Social Media Firestorms zunächst als neue,
digitale Form des breiteren Phänomens von Markenkrisen charakterisieren. Marken-
krisen an sich sind kein neues Phänomen. Ob bei Shells Brent-Spar-Skandal (das
Unternehmen plante, eine Ölplattform in der Nordsee zu versenken) oder beim
Contergan-Skandal (das Medikament verursachte Fehlbildungen tausender Neu-
geborener in den 1960er Jahren) – Manager:innen sahen sich auch im analogen Zeitalter
mit Markenkrisen konfrontiert, die meistens von Massenmedien wie Zeitungen, Radio
und Fernsehen verbreitet wurden.
Zurückführen lassen sich Krisen auf verschiedene Auslöser wie beispielsweise
ein Produktversagen, ein soziales Versagen oder ein Kommunikationsversagen. Die
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation … 417
Rolle der traditionellen Medien bei der Verbreitung spielte zudem eine Rolle. Auch die
Reaktionsstrategien der Unternehmen beeinflussten die Schwere der Krise.
Verschiedene Typen von Auslösern lassen sich gleichermaßen auf digitale Marken-
krisen übertragen. Auch die traditionellen Medien spielen weiterhin eine Rolle bei der
Verbreitung. Neu ist allerdings das sogenannte digitale Word-of-Mouth als zu Grunde
liegendes Phänomen.
Das Aufkommen von Social Media hat zu einer neuen Umgebung geführt, in der
Konsumenten Markenaktionen untereinander diskutieren, oft einhergehend mit einer
Berichterstattung in traditionellen Massenmedien. Wissenschaftler:innen sind sich
einig, dass digitale soziale Medien die Macht von traditionellen Medienquellen hin
zu subjektiven Konsumentenäußerungen verschoben haben, sodass aktive vernetzte
Konsument:innen eine dominierende Rolle in Markenkrisen übernehmen (Labrecque
et al., 2013).
Wurden traditionelle Markenkrisen vor allem durch Journalist:innen verbreitet,
sind es bei Firestorms vor allem die Beiträge des digitalen Word-of-Mouth (Hansen
et al., 2018). Der Hauptunterschied zum traditionellen Word-of-Mouth besteht in der
Geschwindigkeit, in der sich Nachrichten verbreiten können. Digitales Word-of-Mouth
erreicht eine unbegrenzte Anzahl an Konsument:innen und Medien, wohingegen
in traditionellen Offline-Umgebungen die Reichweite auf eine kleine Anzahl an
Konsument:innen begrenzt war.
Digitale Nachrichten können insbesondere auf Social-Media-Plattformen geteilt
und aufgegriffen werden. Das Aufgreifen dieser Nachrichten bzw. Widerhallen von
traditionellen Massenmedien, die wiederum von Social-Media-Beiträgen aufgegriffen
werden (Echoverse), verstärkt den Verbreitungseffekt (Hewett et al., 2016).
Zusammenfassend definieren Hansen et al. (2018) Social Media Firestorms als
Doch sind Firestorms tatsächlich schädlich für die Marke oder steigern sie vielleicht
sogar die Markenbekanntheit und damit den Kund:innenstamm?
Hansen et al. (2018) zeigen in ihrer Studie, dass nicht alle Firestorms gleichermaßen
negative Folgen auf die kurz- und langfristige Markenwahrnehmung haben. So ver-
ursachen beispielsweise Firestorms, die durch ein Produkt- oder Dienstleistungsver-
sagen hervorgerufen wurden (z. B. fehlerhafte Bremsen bei einem Autohersteller),
größere persönliche Betroffenheit und damit eine stärkere Informationsverarbeitung
durch Konsument:innen als etwa ein Kommunikationsversagen. Dies führt sowohl zu
418 N. Hansen und J. Arweck
mit der Unternehmenspositionierung identifizieren, die erst durch die erhöhte Reich-
weite im Zuge der Firestorms das Unternehmen oder Produkt kennenlernten und
deren Treue durch die Firestorms gestärkt wurden.
Dass True Fruits sich aktiv provokant positionieren will, zeigt sich nicht nur in
den Werbe- und Kommunikationsmaßnahmen, sondern auch in seinen Statements.
Eine ausführliche Stellungnahme im Februar 2019 zu diversen Firestorms seit 2017
endet mit der Aussage: „Aber in einem Punkt, das müssen wir uns eingestehen, sind
wir anscheinend diskriminierend! Wir sind diskriminierend gegenüber dummen
Menschen, denn dumme Menschen schließt unsere Art der Kommunikation eindeutig
aus. Sie ist schlichtweg nicht für Dumme gemacht und wird sie auch nie sein, das tut
uns leid.“ (True fruits Smoothies, 2019). Eines ist klar: True Fruits polarisiert. Das
zieht eine enorme Aufmerksamkeit mit sich. Auf diesen Post beispielsweise folgten
27.000 Reaktionen, 3300 Kommentare und 4000 Shares (Fanpage karma, 2019). Und
daraus ergibt sich eine wachsende Follower:innengemeinde, da der Algorithmus eine
hohe Anzahl von Interaktionen – egal ob positive oder negative – begünstigt; das
fördert die Reichweite und das wiederum führt dazu, dass Personen, die die Marke
bislang nicht kannten auf sie, ihre Botschaft und den Firestorm erst aufmerksam
werden – und dann möglicherweise sympathisieren. Folge allein dieser Kampagne
war für True Fruits ein Plus von 1200 neuen Fans auf Twitter, 8700 auf Instagram und
5900 auf Facebook (Fanpage karma, 2019).
True Fruits polarisierende Außenseiter-Strategie lässt das Unternehmen regelmäßig
in den Medien erscheinen und profitiert von seinen kalkulierten Firestorms. ◄
Das junge Start-up nahm 2021 an der deutschen TV-Sendung „Die Höhle der
Löwen“ teil. In der Aufzeichnung der Sendung präsentierten die zwei Gründer von
Pinky Gloves ihre pinken Einweghandschuhe, die laut ihrer Aussage das diskrete,
geruchs- und auslauffreie Entsorgen von Tampons ermöglichen. Anzeichen eines
sich anbahnenden Firestorms gab es zu diesem Zeitpunkt nicht – im Gegenteil:
Pinky Gloves konnte sich einen Deal mit Ralf Dümmel, einem der Investoren aus der
Sendung, sichern und erhielt durchweg Lob von der fünfköpfigen Jury.
Dass die Emotionen der Zuschauer:innen sich drastisch von denen der Jury
unterschieden, offenbarte sich erst bei Ausstrahlung der Folge am 12.04.2021. Auf
Social Media äußerten einzelne Zuschauer ihre Verärgerung und Überraschung, ver-
mehrt auch unter den Hashtags #Pinkygloves, #Pinkygate #periodshaming und
#diehöhlederlöwen. In den darauffolgenden Tagen verbreiteten sich immer mehr
Videos des Pitches, Zitate der Gründer aus der Sendung sowie Meinungsbeiträge
von Zuschauer:innen, Fotos und Karikaturen. Pinky Gloves gehörte in diesen Tagen
zu den Top Trends auf Social Media – und landete am 14.04.2021 sogar Platz 1 der
Twitter Trends (Erxleben, 2021). Gleichzeitig wurden neben sachlichen Äußerungen
420 N. Hansen und J. Arweck
Gründer: Entschieden haben sie sich für eine zweiminütige Stellungnahme per Video
auf Instagram. In diesem bedanken sie sich für konstruktive Kritik und distanzieren
sich von der der Tabuisierung der Menstruation: „Auf keinen Fall wollten wir zum
Ausdruck bringen, dass die Menstruation etwas Ekelhaftes sei und die Entsorgung
der Hygiene-Artikel im heimischen Mülleimer beschönigt werden müsse.“ (Erxleben,
2021). Ebenfalls erklären sie, dass sie sich mit Pinky Gloves genau für das einsetzen,
für das sie nun kritisiert werden: „Aus unserer Sicht sollte die Menstruation schon
lange kein Tabu-Thema mehr sein. Wer uns schon länger auf Instagram folgt, weiß,
dass wir uns dafür einsetzen, eine positive Aufmerksamkeit zu schaffen, die einer
Stigmatisierung der Menstruation entgegenwirkt.“ (Erxleben, 2021).
Seinen zweiten Höhepunkt erreicht der Firestorm um Pinky Gloves dann mit dem
zweiten Statement, in dem die Gründer nicht nur offenlegen, dass sie einer heftigen
Welle an Hass, Mobbing und Gewalt- sowie Morddrohungen in Folge ihres Auftrittes
ausgesetzt sind, sondern auch, dass sie zusammen mit dem Investor Ralf Dümmel
entschieden haben, Pinky Gloves vom Markt zu nehmen (Pinky Gloves, 2021). Zu
diesem Zeitpunkt haben sie bereits alle Einkaufs- und Vertriebsaktivitäten eingestellt.
Spätestens hier wird manifest, dass Pinky Gloves als junges Start-up diesem Ausmaß
eines Firestorms nicht standhalten konnte.
Das Beispiel zeigt fast schon musterhaft den klassischen Worst-Case-Verlauf eines
Firestorms – von einzelnen Beiträgen (Erscheinen) über Social-Media-Gruppen und
viralen Nachrichten (Beschleunigen) bis hin zur breiten Medienberichterstattung
(Verbreitung) und emotionalen, engagierten Meldungen und Stellungnahmen (Peak)
sowie dem Abflachen der Bedeutung des Firestorms und sinkender Relevanz des
Unternehmens (Bedeutungsverlust) (vgl. Abb. 25.1) (Bintz & Mutschler, 2020).
Es dokumentiert, wie extrem die Auswirkungen eines Firestorms sein können: Im
Falle Pinky Gloves das Auflösen des Unternehmens – gepaart mit extremer mentaler
Belastung der Betroffenen durch Hassnachrichten.
Besonders junge Unternehmen dürfen Firestorms nicht unterschätzen. Mit wenig
Kommunikationserfahrung, einem kleinen Kundenstamm, geringer bestehender
Reputation und einem kleinen Portfolio, auf das sich das Unternehmen wirtschaft-
lich stützt, sind die Gefahrenpotenziale durch Firestorms sehr groß – mit der richtigen
Vorbereitung aber auch vermeidbar. ◄
Peak
300
250
Anzahl der Beiträge
erneuter
Peak
200
erneute
150 Beschleunigung
Abflachen
50
Verbreitung
Start
0
12.04. 13.04. 14.04. 15.04. 16.04. 17.04. 18.04. 19.04. 20.04. 21.04. 22.04. 23.04. 24.04. 24.04. 25.05. 26.05.
Datum
Jede Krise ist allerdings anders und daher gibt es keine allgemeingültigen Patent-
rezepte für die Praxis (vgl. Abb. 25.2). Jeder Firestorm jedoch ist eine potenzielle Krise
und ein paar Grundregeln in der Praxis gelten immer – in der digitalen wie der analogen
Welt, wobei die eine nicht mehr ohne die andere denkbar ist.
Die Prävention beginnt mit der regelmäßigen Sensibilisierung für mög-
liche kritische Sachverhalte. Jede Entscheidung des Managements sollte nicht nur
wirtschaftliche Auswirkungen, sondern auch etwaige öffentliche Konsequenzen
berücksichtigen. Das Denken in Szenarien erleichtert das Simulieren von möglichen
Entwicklungen. Unerlässlich bleibt ein kontinuierliches Screening von aktuellen und
latenten Entwicklungen sowie die operative Vorbereitung – Sprachregelungen, vor-
formulierte Statements und Posts, Textbausteine, Darksites, Manuals mit vorab
definierten Abläufen und Verantwortlichkeiten sowie Handynummern von relevanten
internen wie externen Ansprechpartnern (IT, Anwält:innen usw.).
Noch einen Schritt vorher setzt die wirkungsvollste Abwehrmaßnahme an: der Auf-
bau einer Community. Fürsprecher:innen, Multiplikator:innen und Fans der Marke, die
über Social Media organisiert sind, können schon im Vorfeld kritische Fragen abfedern,
ein Frühwarnindikator sein und einen verteidigenden Schutzschirm aufspannen. Eine
lebendige Community hat neben einer Krisenpräventionsfunktion weitere für ein Unter-
nehmen positive Auswirkungen, weswegen der systematische Aufbau und die kontinuier-
liche Pflege eines solchen Netzwerks unbedingt thematisiert werden sollten.
25 Ein Firestorm – was tun? Krisenkommunikation … 423
01
Schnelle und proakve Kommunikaon
Rechtzeiges Agieren gibt die Chance durch
Richgstellung, Entschuldigung oder auch mit Witz einen
Prävenon Firestorm zu entschärfen, aufzuhalten oder zu erscken.
02
Wahrhaige Kommunikaon
Der Einsatz von Notlügen verschlimmert die Situaon nur
– sie werden immer aufgedeckt und dann ist jede
Sympathie verspielt.
03
Au au einer Community
Fürsprecher, Mulplikatoren und Verständliche und zielgruppenorienerte Ansprache
Fans der Marke können im Vorfeld Um Stakeholder tatsächlich zu erreichen, ist das Akvieren von
krische Fragen abfedern und ein Verbündeten hilfreich – idealerweise eine vorhandene
Frühwarnindikator sein. Community, aber auch externe Experten.
04
Sensibilisierung Konsistente Kommunikaon
Konsistenz in der Kommunikaon aller Protagonisten, Formate
Entscheidungen des Managements und Kanäle ist erforderlich. Dabei ist darauf zu achten, dass
sollten nicht nur wirtschaliche, der Firestorm nicht ohne Not größer gemacht wird.
sondern auch öffentliche
05
Konsequenzen berücksichgen. Einsatz jurisscher Miel
Jurissche Miel können den Firestorm in den wenigsten Fällen
Konnuierliches eindämmen. Dennoch sollten im Falle von Falschmeldungen etc.
Screening & operave Beweise in Form von Screenshots gesichert werden.
Vorbereitung
06
Krisensituaon nachbereiten
Sprachregelungen, Darksites, Ein klarer Neustart mit adäquaten und sichtbaren
definierte Abläufe und Maßnahmen ist wichg. Wer aus einer Krise nichts lernt,
Verantwortlichkeiten etc. läu Gefahr, Fehler erneut zu machen.
Ist dennoch ein Krisenfall eingetreten, gilt es, erstens schnell und proaktiv zu
kommunizieren. Wer rechtzeitig agiert, hat die Chance, durch eine Richtigstellung,
Entschuldigung oder auch mit Witz einen Firestorm zu entschärfen, aufzuhalten bzw.
ihn im Keim zu ersticken. Zweitens ist eine wahrhaftige Kommunikation unerlässlich;
nichts ist schlimmer, als vermeintliche Notlügen einzusetzen, um sich Luft zu ver-
schaffen; sie werden immer aufgedeckt und dann ist jede Sympathie verspielt. Um
die Stakeholder auch tatsächlich zu erreichen, ist drittens eine verständliche und ziel-
gruppenorientierte Ansprache nötig; hilfreich ist hier das Aktivieren von Verbündeten –
dies kann eine idealerweise vorhandene Community sein, aber es können auch externe
Experten sein. Schließlich ist viertens Konsistenz in der Kommunikation aller eigenen
Protagonist:innen, Formate und Kanäle erforderlich; wobei hier wiederum darauf zu
achten ist, einen Social Media Firestorm nicht ohne Not selbst größer zu machen, als er
es verdient, und erst einmal dort zu reagieren, wo er begonnen hat.
Der Einsatz juristischer Mittel kann Firestorms in den wenigsten Fällen eindämmen;
allein ihre Ankündigung heizt sie tendenziell noch an. Nichtsdestotrotz sollten im Falle
von Falschmeldungen, Verleumdungen und Beleidigungen Beweise, etwa in Form von
Screenshots, gesichert werden.
Nach überstandener Krise ist zum einen ein klarer Neustart wichtig, der mit
adäquaten und vor allem auch sichtbaren Maßnahmen einhergeht. Zum anderen ist die
Krisensituation nachzubereiten – was ist gut und was ist schlecht gelaufen und warum?
Wer aus einer Krise nichts lernt, läuft Gefahr, Fehler erneut zu machen.
424 N. Hansen und J. Arweck
Abgesehen von der bewussten Provokation eines Firestorms kann sich ein unbe-
absichtigter Firestorm auch als Chance erweisen. Das Hauptaugenmerk sollte aber
mangels der Beherrschbarkeit von Firestorms auf ihrer Vermeidung liegen. Unerlässlich
ist dafür eine gründliche Vorbereitung. Negativ konnotierte Aufmerksamkeit in Form
eines Firestorms durch eine kluge Kommunikation ins Positive zu wenden und am Ende
nicht nur eine gesteigerte Bekanntheit, sondern auch eine verbesserte Reputation zu
erreichen, ist die Königsdisziplin.
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Prof. Dr. Nele Hansen ist Professorin für Medienmanagement an der IU International Uni-
versity of Applied Sciences. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl
für Marketing & Medien der Universität Münster und als Redakteurin der WirtschaftsWoche. Ihr
Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Gebiet Social und News Media.
Prof. Dr. Josef Arweck ist Professor für Medienmanagement an der IU International University
of Applied Sciences. Seine Schwerpunkte sind Krisen-PR und Reputationsmanagement. Der
gelernte Journalist arbeitete vorher für McKinsey sowie den Porsche-Konzern, wo er seit 2015
Leiter der weltweiten Konzernkommunikation war. Seit 2020 ist er als Investor im Start-up-
Bereich und Kommunikationsberater tätig.
Potenziale von Podcasts für die digitale
Marketingkommunikation 26
Lisa-Charlotte Wolter und Elisa Dorothee Adam
Zusammenfassung
Digitales Marketing erfordert ein Umdenken von „Push“ zu „Pull“, von „Reichweite“
zu Relevanz und Aufmerksamkeit und von Promotion zu Conversation. Podcasts
werden immer beliebter – bei Mediennutzern und Werbetreibenden. Denn Podcasts
können vieles: informieren, anregen, unterhalten, begeistern – kurzum: Relevanz
erzeugen. Der vorliegende Beitrag liefert einen Überblick zu den Potentialen von
Podcasts im digitalen Marketing-Mix sowie literaturbasierte und empirisch gestützte
Erkenntnisse zu Podcast-Wirkungsweisen in der Marketingkommunikation. Ein
besonderer Fokus liegt auf den emotionalen Qualitäten von Podcasts, welche für die
Erzeugung von Relevanz und Aufmerksamkeit nützlich sein können.
L.-C. Wolter
IU Internationale Hochschule, Hamburg – Schönberg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
E. D. Adam (*)
IU Internationale Hochschule, Bad Oeynhausen, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 427
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_26
428 L.-C. Wolter und E. D. Adam
tät und Individualität in der Kommunikation (Schreyer, 2019) können mit digitalen
Marketinginstrumenten erfüllt werden: einerseits durch mobile, unabhängige Nutzungs-
möglichkeiten; andererseits durch eine gezielte und individuelle Zielgruppenansprache,
was die persönliche Relevanz von Inhalten steigert und Streuverluste minimiert (von
Rüden et al., 2020).
Die digitale Marketingkommunikation ist durch hohe Medienvielfalt bei gleich-
bleibender Aufnahme- und Verarbeitungskapazität von Konsumenten geprägt (Bruce
& Jeromin, 2016; Redler, 2019). Der Einsatz neuer Kommunikationsinstrumente
erfolgt im Kontext einer permanenten und ortsunabhängigen Interaktion mit Inhalten
bei gleichzeitig geringerer Kontrollierbarkeit von Kommunikationsmustern, was es
für Werbetreibende erschwert, Relevanz zu erzeugen (Redler, 2019). Unidirektionales
„Push“-Marketing, bei der die Initiative vom Sender ausgeht, erweist sich angesichts von
Vermeidungstendenzen gegenüber Werbung von Konsumenten als weniger effektiv (von
Rüden et al., 2020). Komplementär zur „Push“-Kommunikation werden heute verstärkt
„Pull“-Strategien eingesetzt. Hierbei kann der Konsument Content danach selektieren,
ob, wann, mit wem und wie er in Kontakt treten möchte (Redler, 2019). Insofern eignen
sich „Pull“-Strategien, um Nutzerbedürfnisse anzusprechen und Relevanz zu erzeugen
(von Rüden et al., 2020).
Ein einseitiges Bewerben von Marken und Produkten/Services (Promotion) wird im
digitalen Marketing-Mix abgelöst durch Conversation mittels Content-Marketing – „das
Erstellen, Kuratieren, Verteilen und Verstärken interessanter, relevanter Inhalte, um bei
der Zielgruppe Gespräche über die Inhalte zu initiieren“ (Kotler et al., 2017a, S. 147).
Conversation ermöglicht es, durch ein Narrativ Relevanz zu generieren. Audio-Content,
der Nutzern einen Mehrwert bietet, erzeugt Relevanz, positive Reaktionen und Aufmerk-
samkeit (Schreyer, 2019) und initiiert das Weitertragen von Geschichten (Kotler et al.,
2017a).
Zwar weckt die Allgegenwärtigkeit digitaler Kommunikation ein neues Bedürfnis
nach Geborgenheit und Intimität (Pietzcker, 2014), doch erweisen sich digitale Kanäle
als weniger geeignet, um echte Nähe und eine emotionale Bindung zu Rezipienten auf-
zubauen. Anders das Medium Podcast, welches verspricht, speziell im Herstellen von
Nähe zum Nutzer besonders geeignet zu sein. Doch halten Podcasts ihr Versprechen?
Und wie sind sie im Marketing-Mix einzuordnen? Darauf soll im Beitrag näher ein-
gegangen werden.
26.2.1 Hintergrund
Die Historie von Podcasts erstreckt sich von den frühen 2000er-Jahren, über die durch die
Verbreitung des Smartphones und des mobilen Internets beförderte „zweite Podcast-Welle“
zwischen 2008 und 2011 bis hin zur „dritten Welle“ ab dem Jahr 2016 (Schreyer, 2019).
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 429
u „Podcaster“ sind Akteure, die Podcasts produzieren und ins Netz stellen. Ihre Auf-
gaben umfassen Aufnahme, Konzept, Organisation, Moderation, Interviews, Produktion
und Verbreitung von Podcasts (podcast.de, 2010). Podcaster lassen sich nach Grad der
Professionalität unterteilen in Hobbypodcaster, die private Podcasts zu diversen Themen
erstellen und dabei die gesamte Produktion (Vorbereitung, Aufnahme, Postproduktion)
übernehmen, und professionelle Podcaster, welche Podcasts im Auftrag von Unternehmen,
Sendern, Agenturen, oder sonstigen Institutionen produzieren (podcast.de, 2010).
26.2.2 Podcast-Nutzung
Podcast ist das Audio-Medium, welches das stärkste Wachstum verzeichnet (The
Guardian, 2022). Laut „Convergence Monitor 2021“ (AGF/Kantar) hat der Podcast-
Konsum im Vergleich zum Vorjahr stark zugelegt (+43 %). Hörte im Jahr 2020 noch
jeder vierte Deutsche (24 %) Podcast zumindest selten, ist es 2021 bereits jeder dritte
(30 %) (OAM, 2021). Immerhin ein Fünftel (17 %) der Deutschen nutzen Podcasts
mindestens einmal pro Monat (Herrmann, 2021), 8 % sogar täglich (Bitkom, 2020).
Eine Steigerung zeigt sich auch bei der Nutzungsintensität: Die durchschnittliche
Nutzungsdauer hat sich innerhalb eines Jahres von 18 auf 20 bis 30 min im Jahr 2020
erhöht (Bitkom, 2020; Ad Alliance, 2021). Zwar ist der Zuwachs in der Nutzungsdauer
am stärksten bei den Über-50-Jährigen (+34 % zu 2020) (OAM, 2021), doch sind Pod-
casts nach wie vor am beliebtesten bei jüngeren hochgebildeten Menschen, von denen
knapp die Hälfte Podcasts zumindest gelegentlich nutzt (14–29-Jährige: 52 %) (OAM,
2021). Da diese eine relevante, aber herausfordernd zu erreichende Marketingzielgruppe
430 L.-C. Wolter und E. D. Adam
darstellen (OMR, 2020), ist zu beachten, dass für sie bei der Podcastnutzung soziale
Motive ausschlaggebend sind (Magna & Spotify, 2021).
Die Podcast-Nutzungssituationen sind vielfältig: ob als Berieselung bei Alltagstätig-
keiten, als Zeitvertreib, als Medium für konzentriertes Zuhören spezieller Inhalte und/
oder zur Entspannung (OAM, 2021). Dabei hat sich die Rolle digitaler Audio-Medien
während der Pandemie verändert: Audio und speziell Podcasts werden intensiver
genutzt, da sie helfen, Stress zu reduzieren, und eine Auszeit von der visuellen Über-
reizung durch andere Medien bieten (Magna & Spotify, 2021). Der Hörerzuwachs
zeigt sich themenübergreifend (OAM, 2021): von Nachrichten- über Gesprächs- und
Themen-Podcasts (z. B. Gesundheit, Reisen) bis hin zu fiktionalen Podcasts. Tab. 26.1
illustriert die vielfältigen Podcast-Formate, die sich durch unterschiedlichen Fokus (z. B.
journalistisch, Themen-Fokus, fiktionaler Content, alltägliche Geschichten, Marken-
Fokus) und Qualitätsanspruch aus Nutzersicht voneinander abgrenzen. Mittlerweile sind
Podcasts besonders zu einem relevanten Informationsmedium geworden (IQ Media,
2020; OAM, 2021), nicht zuletzt bedingt durch die Corona-Pandemie (Bitkom, 2020).
Informationsformate werden gegenüber Unterhaltungspodcasts von älteren Nutzern
favorisiert; Jüngere bevorzugen eher Unterhaltung (Ad Alliance, 2021; OAM, 2021).
Als Bestandteil der „Pull“-Kommunikation lassen sich Podcasts gemäß Kellers (2010)
Klassifikation von Kommunikationskanälen (direkt vs. indirekt; persönliche vs. Massen-
ansprache) als Massenmedium aufgreifen (Abb. 26.1).
432 L.-C. Wolter und E. D. Adam
Ebenso vielfältig wie die Formen von Podcasts für die Nutzer im Sinne des Pull-
Marketings sind auch die Einsatzmöglichkeiten in der Marketingkommunikation
hinsichtlich Werbeausspielung (statisch vs. dynamisch, Position als Pre-/Mid- oder
Post-Roll), Kampagnentypen (z. B. Branded Podcast, Sponsoring) und Werbeformaten
(Native vs. Audio-Spots), wie im folgenden Abschnitt erläutert und in Tab. 26.2
zusammengefasst.
Je nach Formen bzw. Schnittstelle lassen sich Podcasts gemäß Luttrells (2014) PESO-
Modell untergliedern in Paid, Earned, Shared oder Owned Media (Abb. 26.2).
Paid Media
Paid Media beschreibt klassische kommerzielle Kommunikationskanäle, „die von der
Marke für die Verbreitung von Inhalten honoriert werden“ (Kotler et al., 2017a, S. 160).
Über Paid Media kommunizierte Werbung kann auch im Rahmen von Podcasts unter-
schiedlich genutzt werden.
Abb. 26.2 Verortung von Podcasts im PESO-Modell (basierend auf Luttrell, 2014)
u In Native Ads ist die Werbung stärker inhaltlich in den Podcast-Content eingebunden.
Dies geschieht in sogenannten Host- oder Announcer-/Presenter-Reads, d. h. vom
Host oder von weiteren Stimmen eingesprochene Produktempfehlungen. Hierbei wird
durch optimale Integration in den Kontext des Umfeldes ein Audio-Audience-Flow
erzeugt. Eine Kennzeichnung als Werbung erfolgt durch Anmoderation und/oder einen
Sound. Das etwa zweiminütige Endorsement beinhaltet eine persönliche Erzählung
rund um Produkt oder Marke, wobei der persönliche Bezug Glaubwürdigkeit erzeugt.
Abschließend erfolgt oft ein Call-to-Action (BVDW, 2020). Native Ads haben oft eine
Mid-Roll-Position inne, können aber auch als Pre-Roll bzw. Post-Roll Ads erscheinen.
Owned Media
Darüber hinaus können Unternehmen bzw. Marken unternehmenseigene Kanäle mit
eigenem Media Content bespielen.
u Der sogenannte Branded Podcast wird von einer Marke präsentiert; der Inhalt handelt
weniger von bestimmten Produkten oder Services, sondern ist thematisch eingegliedert
(BVDW, 2020). Vorteilhaft daran ist die Kontrollierbarkeit des Contents. Im Vergleich
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 435
u Dagegen dreht sich ein Corporate Podcast um ein spezifisches Produkt oder Thema
der eigenen Marke. Eine Unterform stellt der Mitarbeiter-Podcast dar. Dieser dient der
Weiterbildung oder der Bindung der eigenen Mitarbeiter an das Unternehmen und wird
zudem im Rahmen des Employer Brandings eingesetzt (Schreyer, 2019).
Im Rahmen des Content-Marketing zielen diese beiden Podcast-Formen primär auf eine
emotionale Bindung der Nutzer an die Marke ab und dienen nicht als klassischer Werbe-
kanal (BVDW, 2020).
Earned und Shared Media Earned und Shared Media sind Medienformate, bei denen die
Inhalte außerhalb der Kontrolle des Unternehmens liegen.
u Earned Media beschreibt „verdiente“ Medien, bei denen die Berichterstattung über
die Marke durch z. B. Mundpropaganda, Empfehlungen oder Public Relations erfolgt
(Kotler et al., 2017a). Auch Podcasts können hierbei eine Rolle spielen, wenn sie z. B.
von Podcastern für die Promotion der eigenen Produkte genutzt werden.
u Shared Media stellen eine Ergänzung zu Podcasts dar, insofern sie Nutzern eine Platt-
form bieten, Inhalte zum Podcast beizutragen oder zu kommentieren (Macnamara et al.,
2016). Hierbei können die Nutzer mit anderen Hörern in der Community sowie mit dem
Host interagieren.
über Bedürfnisse der Nutzer grundlegend. Höhere Aufmerksamkeit kann dadurch erzielt
werden, indem entweder der Nutzergeschmack der breiten Masse oder aber ein Nischen-
publikum mit spezifischen Formaten und Themen angesprochen wird.
26.4.1 Podcast-Wirkung
26.4.3 Podcast-Potenziale
Kurzum: Podcasts erfreuen sich steigender Beliebtheit bei Mediennutzern und folglich
bei Werbetreibenden (BVDW, 2021). Was das Medium als Kommunikationstool für das
digitale Marketing auszeichnet, sei abschließend anhand von sieben Podcast-Potenzialen
aus Nutzer- und Podcastersicht umrissen (Abb. 26.4).
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 439
Für Nutzer
Zum „Pull“-Medium der Markenkommunikation werden Podcasts dank einer Reihe von
Vorteilen für die Nutzer:
• Podcasts sind partizipativ: Bei Podcasts – speziell bei Fiction – zeigt sich ein Trend
vom Massenmedium hin zu einer transmedialen, partizipativen und fan-orientierten
Form des Storytellings (Yeates, 2020). Nutzer schätzen die freie Zugänglichkeit und
kostenlose Nutzung (Absatzwirtschaft, 2022).
• Podcasts sind praktisch: Podcast sind mobil, zeitversetzt und kontrollierbar (Perks &
Turner, 2019). Dank geringer Dateigröße sind sie unproblematisch auf Smartphones
abrufbar und flexibel einsetzbar (Lammenett, 2021). Damit dienen Podcasts als All-
tagsbegleiter – unterwegs, in Wartesituationen oder bei der Hausarbeit (BVDW, 2020;
OAM, 2021).
• Podcasts sind präsent: Ein Großteil der Nutzer hört Podcasts gezielt für bestimmte
Programme und schenkt ihnen im Nutzungsmodus mit Kopfhörern die volle Auf-
merksamkeit im Hier und Jetzt (BVDW, 2020; Ad Alliance, 2021) – nicht zuletzt, da
Podcasts informativ sein können (IQ Media, 2020).
Für Podcaster
Für Podcaster stehen ökonomische, technische und handwerkliche Faktoren im Vorder-
grund:
26.5 Fazit
Podcasts eignen sich für die Kommunikation mit sämtlichen internen und externen
Stakeholdern (Oltarzhevskyi, 2019). Als Werbekanal können sie Konsumenten, als
Unternehmenspodcasts (potenzielle) Mitarbeiter ansprechen. Entscheidend ist, die
Wünsche und Bedürfnisse der Stakeholder zu kennen und darauf einzuzahlen. Im
crossmedialen Vergleich bauen Podcasts eine Brücke zwischen einer digitalisierten
Marketingkommunikation und einer Rückbesinnung auf traditionelle Konzepte wie
Geschichtenerzählen durch „Digital Brand Storytelling“ (Heun, 2020; Dowling & Miller,
2019). Insofern sind Podcasts ein optimaler Kanal für „Conversational Marketing“.
Ein hohes Level an Aufmerksamkeit und Engagement bei Podcasts wirkt als Treiber
von Loyalität zu Podcast/Marke und Kaufintention. Um die Podcast-Potenziale auszu-
schöpfen, kann das Medium effektiv mit anderen Werbeformaten kombiniert werden
(The Guardian, 2022).
Zu beachten ist, dass Podcast-Werbung eine thematische Ankoppelung bzw.
Integration an den Editorial Content liefern muss, um Reaktanz zu vermeiden (BVDW,
2020). Wesentlich ist hierbei die Balance zwischen Integrität des Inhalts (hinsichtlich
26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 441
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26 Potenziale von Podcasts für die digitale Marketingkommunikation 443
Prof. Dr. Lisa-Charlotte Wolter ist Professorin und Studiengangsleiterin für Online Marketing
und Customer Centricity an der IU (Internationale Hochschule) und forscht am College of
Journalism & Communications der University of Florida (UF) u. a. zu Media Sustainability,
Media & Consumer Engagement sowie Vertrauen in Marken und Medien. Im Laufe ihrer Karriere
implementierte sie an verschiedenen Instituten neurowissenschaftliche Forschungsmethoden
zur Erweiterung bestehender Methoden der Medien- und Kommunikationsforschung. Mit
interdisziplinären Forschergruppen initiiert sie zudem Grundlagenstudien, aktuell unter anderem
zum Thema „Development and Validation of the Media Brand Trust Scale“.
444 L.-C. Wolter und E. D. Adam
Zusammenfassung
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) ist längst kein Thema mehr, das nur
im Maschinenbau, in der Robotik oder im Finanzwesen diskutiert und angewendet
wird. Zunehmend nutzen Medienunternehmen und PR-Agenturen KI, um Trends zu
erkennen, Artikel zu verfassen oder große Datenmengen zu analysieren. KI kann Ent-
scheidungshilfe bieten, die Produktionseffizienz erhöhen und somit Kosten sparen.
Dieser Aufsatz will zunächst den Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ aus
der Perspektive der PR definieren und technologische Möglichkeiten aufzeigen.
Schließlich wird der konkrete Einsatz von KI im Medienbereich und insbesondere in
der PR thematisiert. Dabei geht es sowohl um positive Aspekte als auch um Risiken
und ethische Fragen. Anhand mehrerer Praxis Cases wird dargestellt, wie KI bereits
aktuell in der Kommunikationsbranche eingesetzt wird und welche Potenziale sich in
diesem Feld für die Zukunft auftun.
Künstliche Intelligenz ist eine neue und spannende Chance für die Öffentlichkeitsarbeit.
Die PR-Branche hat in den letzten zehn Jahren ein massives Wachstum erlebt. Laut
dem jüngsten Statistikbericht der Public Relations Society of America (PRSA) betrug
J. Arweck (*)
IU Internationale Hochschule, München, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 447
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_27
448 J. Arweck
das durchschnittliche jährliche Wachstum zwischen 2009 und 2013 5,6 %. Bei einer so
großen Anzahl von Unternehmen, die PR-Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ist es
wahrscheinlich, dass dieser Trend in den kommenden Jahren anhalten wird.
Künstliche Intelligenz wird allgemein als die Fähigkeit einer Maschine oder Soft-
ware definiert, intelligentes menschliches Verhalten zu imitieren. Es gibt sie schon seit
Jahrzehnten und sie hat sich auf viele Branchen ausgewirkt, von der Fertigung bis zum
Gesundheitswesen.
Ich glaube, dass die Öffentlichkeitsarbeit die am stärksten von der künstlichen
Intelligenz betroffene Branche sein wird. Wie ich bereits in meinem einleitenden Absatz
erwähnt habe, hat es in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg gegeben. Der Einsatz
von künstlicher Intelligenz in der Öffentlichkeitsarbeit wird immer lukrativer und not-
wendiger. In der Tat ist es wahrscheinlich, dass künstliche Intelligenz in einigen Jahren
eher die Norm als die Ausnahme sein wird.
Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, in der Öffentlichkeitsarbeit sehr nützlich
zu sein. Sie kann Aufgaben ausführen, für die Menschen Stunden oder Tage brauchen,
und das in nur wenigen Minuten. So kann sie beispielsweise die sozialen Medien über-
wachen und dann relevante Berichte erstellen, in denen die öffentliche Meinung über den
Kunden oder seine Konkurrenten detailliert dargestellt wird.
Fällt Ihnen etwas auf? Nein? Die vier Absätze, die Sie eben gelesen haben, stammen
nicht wirklich vom Autor dieses Aufsatzes – und doch werden Sie diese Zeilen
nirgendwo anders finden und es wurde auch kein Urheberrecht verletzt.
Dieser Textabschnitt wurde mithilfe von Künstlicher Intelligenz erzeugt. Und zwar
in zweifacher Hinsicht: Als erstes wurde die frei zugängliche Text-KI „Philosopher AI“
mit dem Titel dieses Aufsatzes „use of artificial intelligence in public relations“ gefüttert;
auf Knopfdruck hat die Technologie für 30 US-Cent innerhalb von wenigen Sekunden
den Text generiert. Im zweiten Schritt wurde mit einer kostenlosen Version der Über-
setzungssoftware „DeepL“ der englische Originaltext ins Deutsche übersetzt. Die vor-
liegende Textfassung wurde bewusst nicht redigiert und enthält vor dem Hintergrund
auch keine Quellenangaben.
Die Text-KI nutzt wiederum die Software GPT-3, ein neuronales Netzwerk, das von
OpenAI trainiert und gehostet wird. GPT-3 ist ein Sprachmodell, das auf Basis eines
Textinputs Vorhersagen darüber generiert, welche Inhalte als nächstes kommen könnten.
In erstaunlichem Maße gelingt es der Software, den Rahmen für den intendierten Inhalt
zu antizipieren. Mindestens genauso bemerkenswert ist es, dass die Software bei jeder
Wiederholung ein anderes Ergebnis generiert. Dabei hat die KI keine vorgefertigte
Meinung und kein Wissen.
Auch wenn der vorliegende, automatisch erstellte Text an der einen oder anderen
Stelle noch inhaltlich und sprachlich überarbeitungsbedürftig ist, so zeigt er doch sehr
gut, was KI schon heute kann. Vor allem aber weist er die Möglichkeiten, die noch vor
uns liegen.
Der Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) / „Artificial Intelligence“ (AI) ist in
aller Munde – in der medial-öffentlichen Diskussion sowie im wissenschaftlichen Dis-
27 Künstliche Intelligenz in der PR 449
kurs; und doch ist er nicht leicht zu erfassen. Arief und Gustomo (2020) beschreiben KI
als fortschrittliche und hochkomplexe „application of technology by which a machine
demonstrates cognitive function, such as learning analysis and problem solving“
(S. 1067). KI hat die Fähigkeit, als Maschine Algorithmen zu nutzen, die von ein-
gespeisten Daten lernen und den Lernerfolg in zukünftigen Entscheidungsprozessen
anwenden (ebd.). Von Rammer et al. (2020) wird sie als eine der „Schlüsseltechno-
logien“ (S. 2) der Zukunft bezeichnet, Zerfaß et al. (2020) gehen davon aus, dass sich die
künstliche Intelligenz als Teil unseres Alltags etablieren wird (S. 377).
Allgemein definiert, ist die Anwendung von KI der Praxis-Einsatz von Software-
Robotern, also Computerprogrammen, zur Ausführung von Tätigkeiten, die normaler-
weise Menschen erfordern. So kommt KI bereits im Fahrzeug- und Maschinenbau, dem
IKT-Sektor (Informations- und Kommunikationstechnik), für Finanzdienstleistungen
und auch im Medienbereich zum Einsatz (ebd. S. 10 ff.). Dies ermögliche umfassendere
Angebote für Nutzer:innen, hochwertigere Medienprodukte auf der einen sowie eine
Kostenersparnis auf der anderen Seite (Spanner-Ulmer & Bruder, 2019, S. 26).
In einer Welt, in der dank Internet und Social Media immer häufiger, immer schneller
und immer mehr kommuniziert wird, ist damit auch die Motivation für den Einsatz von
KI im Medienbereich und respektive der PR klar: schnellere Ergebnisse in besserer
Qualität mit weniger Aufwand zu produzieren.
Eine Befragung unter Journalist:innen aus dem Jahr 2021 ergab den wenig über-
raschenden Befund, dass mehr als zwei Drittel (69 %) der Umfrageteilnehmer der
Ansicht sind, dass KI-Technologien in den nächsten fünf Jahren den größten Einfluss auf
den Journalismus haben werden, noch vor 5G (18 %) und neuen Geräten und Schnitt-
stellen (9 %) (Newman, 2021).
Das ist nicht verwunderlich, denn Medien analysieren schon jetzt mit Software
kommunale Bilanzen, um potenzielle Korruption zu erkennen. Chatbots beantworten
Fragen zum Coronavirus. Tools generieren Grafiken aus Big Data und erkennen
gefälschte Nachrichten. Und im Journalismus können heute Spielberichte aus dem
Sport, Wetterberichte oder Börsen-Notizen mit KI-Unterstützung erstellt werden. Die
Anwendungsfälle von KI im Journalismus reichen von der personalisierten Verbreitung
von Inhalten über die effizientere, automatisierte Produktion von Inhalten bis hin zu
einer verbesserten Bild- und Videosuche (Montal und Zvi 2017).
Die britische Rundfunkanstalt BBC erprobt ebenfalls die Chancen der Technologie:
KI-gestützt werden Texte in Social-Media-freundliche Grafiken umgewandelt, und mit
einem Text-to-speech-Tool wird ein menschlicher Sprecher simuliert (XPLR Media,
2021).
Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, auf den sich dieser Aufsatz konzentriert, über-
nimmt KI ebenfalls schon jetzt unterstützende Aufgaben und hilft Kommunikatoren
450 J. Arweck
bei der Verarbeitung immer größer werdender Datenmengen. Erste Studien analysieren
den potenziellen Einsatz von AI und Wissen unter Medienschaffenden (z. B. Stray, 2021;
Zerfaß et al., 2020; Kehl, 2020). Kehl (2020) sieht drei zentrale Aspekte, in denen KI
in der PR eingesetzt werden kann und sollte: automatisierte Analyseprozesse, Unter-
stützung bei der Konzeption und Umsetzung von Maßnahmen (Abb. 27.1).
Geplant ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der PR vor allem in den
Feldern Monitoring und Analyse. Das zeigt eine Befragung von Fach- und Führungs-
kräften in deutschen Pressestellen und PR-Agenturen. In der klassischen Pressearbeit, im
Reputationsmanagement sowie in der Krisenkommunikation wird dagegen kein größeres
Potenzial für KI gesehen (PR Report, 2020).
Durch automatisierte Prozesse der Datenanalyse kann KI frühzeitig erkennen,
„welche Trends sich in der PR abzeichnen, um darauf basierend aktuellsten Content zu
erarbeiten“ (Kehl, 2020), und bei dringenden Themen zeitnah reagieren. So wird heute
KI im PR-Umfeld vor allem schon in der Suchmaschinenoptimierung (Search Engine
Optimization/SEO), -Analyse und -Vorhersage sowie in der Trend- und Marktrecherche
eingesetzt. Auch bei Assistenzsystemen wie Chatbots, Contenterstellung (Text, Bild,
Video) sowie Rankings und Listenerstellung findet KI heute Anwendung.
Schließlich kann KI bei der operativen Umsetzung von Kommunikationsmaßnahmen
unterstützen – der automatisierte Datenjournalismus bereitet beispielsweise Rohdaten zu
Schaubildern oder Grafiken auf, die in Pressemitteilungen kommuniziert werden können
(Kehl, 2020), beim Content Marketing empfiehlt die KI „zielgruppengerechte Themen-
bereiche“ (ebd.). Und auch Social-Media-Posts, inklusive Text, Bild und Hashtags,
lassen sich bereits via KI-Software automatisieren bzw. optimieren – wie das Praxisbei-
spiel Fyrfeed zeigt.
Beispiel
Die Fyrfeed GmbH – gegründet 2020 in Berlin – will mit seinem innovativen Service
nichts weniger als die etablierten Marketingagenturen disruptieren.
Der Unternehmensidee liegt eine simple Erkenntnis zugrunde: Die aktuellen
Möglichkeiten für Unternehmen, ihre verschiedenen digitalen Kanäle (soziale Netz-
werke, Webseiten, Blogs, Werbung) mit Inhalten zu füllen, führen zumeist über kost-
spielige Agenturen. Diese erstellen in mühevoller Kleinarbeit Texte und Grafiken
und kümmern sich um das Management von Paid-Marketing-Kampagnen. Weil die
Kommunikation über einzelne Ansprechpartner;innen läuft, die per E-Mail und Tele-
fon miteinander in Verbindung stehen, brauchen Abstimmungsprozesse oftmals viel
Zeit. Die daraus resultierenden Kosten und langwierigen Prozesse gehen zulasten der
Kunden.
Fyrfeed denkt diesen Prozess neu: Über eine Online-Plattform beziehen Kunden
mit wenigen Klicks alle für sie relevanten Inhalte. Im Hintergrund arbeitet eine
von Fyrfeed entwickelte KI, die auf das Erstellen hochwertiger Texte und Bilder
optimiert ist, Menschen zu. Diese Kombination von Mensch und Maschine führt zu
schnelleren und besseren Ergebnissen, die zudem nur 20 % der Kosten verursachen,
die Agenturen aufrufen.
Der Clou dabei: Alle über Fyrfeed erstellten Inhalte fließen in die KI zurück und
trainieren das System fortlaufend. Das digitale Gehirn hinter Fyrfeed wird somit
jeden Tag ein bisschen schlauer. Dadurch ermöglicht Fyrfeed den einfachen und
kostengünstigen Zugriff auf hochwertige Inhalte. Kunden setzen ihre Content-Kanäle
effektiv auf Autopilot.
Künftig will Fyrfeed weitere Felder des Contentmarketings vereinfachen. Neben
der Erstellung der Inhalte werden auch das direkte Versenden von Newslettern, das
Veröffentlichen von Unternehmensblogs und das Schalten von Werbeanzeigen über
Fyrfeed möglich gemacht. ◄
Spürbare Vorteile ergeben sich als erstes bei Unternehmen, die sehr international
aufgestellt sind. Für sie wird KI auch früher wichtiger, weil hier die Vorteile von KI-
gestützten Prozessen in der Analyse der Medienarbeit, aber auch in der Umsetzung sehr
viel schneller signifikant werden. Ein Beispiel dafür ist die Mehrsprachigkeit bei Texten,
aber auch Bewegtbild, die schon heute von zahlreichen Tools unterstützt wird.
Aber nicht die Analyse und Produktion von Inhalten wird durch KI in ganz
anderen Dimensionen möglich, auch individuelle Kommunikationstrainings sind ein
Anwendungsgebiet, wie das Start-up vCoach zeigt.
452 J. Arweck
Beispiel
vCOACH wurde Anfang 2020 in München gegründet und bietet einen KI-basierten,
digitalen Trainer für Soft Skills. Aufgrund deutlich geringerer Kosten sind die
Trainings mehr Menschen zugänglich, gleichzeitig wird das Training effektiver.
Nutzer trainieren zeitunabhängig und selbstbestimmt mit Smartphone oder Laptop
und erhalten trotzdem individuelles Feedback. Im Rahmen des Trainings filmen sich
die Teilnehmer;innen bspw. beim Präsentieren. Die KI analysiert anschließend die
Präsentation auf Basis objektiv messbarer KPIs und erstellt automatisiert einen
individuellen Feedback-Report inklusive spezifischer Tipps und Übungen zur Ver-
besserung. Durch wiederholte Feedback-Runden lässt sich so die Präsentationsfähig-
keit schnell und nachhaltig verbessern.
Die Methode ist so einfach skalierbar wie E-Learning, aber gleichzeitig so effektiv
wie Präsenztraining – jedoch ganz ohne Trainer. Kunden sind vor allem Unter-
nehmen, die ihre Mitarbeiter:innen im Bereich Kommunikation trainieren möchten,
wie z. B. souveränes Auftreten bei Präsentationen oder in Interviews. ◄
Programm zusammenstellen. Das ist dann bereits die Vorstufe zur KI-gestützten oder
perspektivisch sogar KI-gesteuerten Kommunikationsberatung.
Im dritten Schritt könnte hinter den ausgewählten Maßnahmen dann eine Ver-
knüpfung zu Software-Tools, die die operative Umsetzung übernehmen, liegen. Auch
hier gibt es erste Praxisansätze, wie über aggregierende Plattformen die relevanten
Services zentral verfügbar gemacht werden und für den Anwender ein durchgängiges
Nutzererlebnis geschaffen wird.
Vielfach wird KI missverstanden und überschätzt – etwa als Maschine, die Ent-
scheidungen über unseren Kopf hinweg trifft und uns die schwierigsten Entscheidungen
mit objektiver Intelligenz abnehmen könnte. Unter dem Etikett der KI verbergen sich
allzu oft einfache Algorithmen. Stand jetzt ist KI vor allem dazu geeignet, uns bei Ent-
scheidungsprozessen zu unterstützen sowie komplexe Auswertungen schnell und präzise
auszuführen.
KI ist nur ein Werkzeug und an sich auch nicht wirklich intelligent – aber präzise und
konsequent. Sie hat auch keinen eigenen Willen und kann nur das tun, was der Mensch
ihr aufträgt. Damit liegen die Risiken der KI nicht in der Technologie selbst, sondern
hängen eher mit dem menschlichen Verhalten zusammen.
Und doch stellen sich ethisch-moralische Fragen: Wer trägt die Verantwortung für das
Handeln der Maschine? Nach welchen Maximen handelt die Maschine? Wie kann Dis-
kriminierung verhindert werden, wenn die KI auf Basis einer Bias-Verzerrung trainiert
wird? Schließlich: Inwiefern wird der Mensch von der Maschine überflüssig gemacht
bzw. wie sehr kann sich der Mensch auf die Maschine verlassen?
Auch Themen wie aktiver Datenmissbrauch, kriminelle Deepfakes, Manipulation und
eine bewusste Verletzung der Privatsphäre sind nicht wegzudiskutieren – sondern aktiv
anzugehen. Immerhin sind 80 % der Führungskräfte besorgt über die ethischen Risiken,
die sich aus KI ergeben, wie eine Untersuchung ergab (CCS Insight, 2020).
Eine erschöpfende Diskussion der ethisch-moralischen Fragen sprengt den Rahmen
an dieser Stelle. Exemplarisch sei auf die Arbeiten von D’Onofrio/Portmann (2022),
Funk (2022) und Lauer (2021) verwiesen.
Die europäische Expert:innengruppe „AI4people“ hat fünf ethische Prinzipien für den
KI-Einsatz formuliert, die bei der Bewertung helfen: Schadlosigkeit, Nützlichkeit, Auto-
nomie, Gerechtigkeit und Erklärbarkeit (AI4People, 2019). Wer seine KI-Lösung nach
diesen Kriterien prüft, hat zumindest gute Voraussetzungen, eine verantwortungsvolle
Software einzusetzen.
454 J. Arweck
27.4 Fazit
Wer sich diese Fragen ehrlich beantwortet, kann eine erste KI-Roadmap für sein Unter-
nehmen oder seine Organisation entwickeln. Basis für diese Überlegungen können diese
sechs Thesen des Autors zur Zukunft von KI in der PR sein:
Literatur
AI4People (2019). AI4People’s ethical framework for a good AI society. Opportunities, risks,
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456 J. Arweck
Prof. Dr. Josef Arweck Arweck ist Professor für Medienmanagement an der IU International
University of Applied Sciences. Seine Schwerpunkte sind Krisen-PR und Reputationsmanagement.
Der gelernte Journalist arbeitete vorher für McKinsey sowie den Porsche-Konzern, wo er seit
2015 Leiter der weltweiten Konzernkommunikation war. Seit 2020 ist er als Investor im Start-up-
Bereich und Kommunikationsberater tätig.
Den Marketing-Mix auf die Straße
bringen: Implementierung im digitalen 28
Marketing
Rico Manß
Zusammenfassung
R. Manß (*)
IU Internationale Hochschule, Leipzig, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 457
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_28
458 R. Manß
28.1 Einleitung
In der unternehmerischen Praxis zeigt sich eine enorme Diskrepanz zwischen einer-
seits der Erarbeitung bzw. Formulierung von Zielbildern und Strategien im Rahmen
von strukturierten (Marketing-)Strategieprozessen und andererseits der Umsetzung
eben jener Strategien in Implementierungsprozessen. Die Misserfolgsrate von solchen
Strategieprojekten liegt je nach Studienkontext zwischen 44 % und 90 % (Cândido &
Santos, 2015). Dieser Misserfolg ist gekennzeichnet durch eine fehlende pünktliche
Umsetzung der geplanten Aktivitäten, dem fehlenden Erreichen der Zielvorgaben oder
der fehlenden Akzeptanz der Ergebnisse durch die Organisation (Miller, 1997).
Einen wesentlichen Grund dieses Phänomens sehen Meffert et al. (2019, S. 882)
darin, dass Unternehmen der Umsetzung von Strategien zu wenig Aufmerksamkeit
widmen. Insbesondere bei Projekten im strategischen Marketing wird die Notwendig-
keit nach Konzepten und strukturierten Prozessen für die Implementierung häufig nicht
erkannt (Vgl. Hungenberg, 2014, S. 553). Folglich wird auch der etwaige Misserfolg
von Strategieprozessen im Marketing nicht auf mögliche Fehler in der Implementierung
projiziert, sondern auf Fehler in der Konzepterarbeitung und der Ausgestaltung des
Marketing-Mix.
Eine Besonderheit von Implementierungsprozessen liegt im Marketing darin,
dass aufgrund der inhaltlichen Vielfalt der Dimensionen des Marketing-Mix zahl-
reiche Stakeholder aus unterschiedlichen Funktionen eines Unternehmens von
Veränderungsmaßnahmen betroffen sein können. Diese Komplexität ist durch die
digitale Anreicherung des Marketing-Mix noch ausgeprägter, da zahlreiche Wirkungs-
beziehungen zwischen digitalen und klassischen Elementen des Marketing-Mix
bestehen. Solche Wirkungsbeziehungen implizieren, dass nur durch eine umfassende
Umsetzung von geplanten Maßnahmen entlang aller digitalen und klassischen
Marketing-Dimensionen der erwartete Gesamterfolg eintreten kann. Hierdurch ent-
steht eine hohe Relevanz für Konzepte für die funktionsübergreifende Koordination und
Detaillierung der Maßnahmen im (digitalen) Marketing.
Trotz dieser Relevanz hat die bisherige Literatur die Implementierung von
Projekten im digitalen Marketing noch nicht ausreichend aufgegriffen. Generell wird
die Implementierung in der Literatur eher als ein strategisches ex-post-Anhängsel
gesehen. Daher soll im Folgenden dediziert auf die Spezifika der Implementierung
im digitalen Marketing eingegangen werden. Hierzu wird ein etabliertes Modell, das
Vorgehensmodell von Kolks, auf das digital angereicherte Marketing angewendet.
Dazu werden die Besonderheiten des digitalen Marketings herausgearbeitet, den
Vorgehensschritten zugeordnet und ein adaptiertes Modell abgeleitet.
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 459
Im folgenden Abschnitt werden einerseits die für diesen Abschnitt wesentlichen Begriffe
„Digitales Marketing“ sowie „Implementierung“ erläutert. Andererseits wird entlang der
vorhandenen Literatur ein Implementierungskonzept als Grundlage eingeführt.
Mit dem Aufstieg von digitalen Technologien in den vergangenen Jahrzehnten und deren
Anwendung als Medien zur Kundeninteraktion wurden insbesondere in der Marketing-
praxis eine ganze Reihe an Termini entwickelt, um die neuen, digitalen Phänomene
zu beschreiben. Unabhängig von diesen diversen Termini stehen im Kern dieser Ent-
wicklung die um digitale Technologien angereicherten Möglichkeiten der Interaktion
mit Zielgruppen sowie das Zusammenspiel, bzw. die Integration, solcher Technologien
mit der klassischen Landschaft an Interaktionskanälen (Manß, 2020). Mit dem Begriff
digitales Marketing soll im Folgenden die gesamte Vielfalt solcher digitalen Interaktions-
kanäle (bspw. Display, Search, Mobile, E-Mail) abgedeckt werden. Zentral für den
Begriff digitales Marketing in diesem Kontext ist dabei, dass unabhängig vom Medium
bzw. der Technologie, die definierten Marketingziele durch den Einsatz digitaler Inter-
aktionskanäle erreicht werden (Vgl. Chaffey & Ellis-Chadwick, 2019, S. 10).
Hierbei stellt die Implementierung, vom Lateinischen „implementum“ gleich-
bedeutend mit „Erfüllung“ (Hilker, 1993, S. 2), einen integralen Bestandteil zur Ziel-
erreichung dar. Dies folgt dem entscheidungsorientierten Managementprozess (Vgl.
Wöhe et al., 2020 für betriebswirtschaftlichen Managementprozess) sowie dem
Marketing-Managementprozess (Vgl. Meffert et al., 2019 für Marketing-Management-
prozess). Als Phase nach der strategischen Planung, bzw. als Phase nach der Erarbeitung
von Strategien und Maßnahmen entlang des Marketing-Mix geht es um die Einführung,
Durchsetzung bzw. Anwendung von vorher konzeptionell und planerisch erstellten
Sachverhalten (Marr & Kötting, 1992, S. 827; Meffert et al., 2019). Hierbei werden
in der Managementliteratur zwei Merkmale eines solchen Prozesses unterschieden:
Pläne bzw. erarbeitete Maßnahmen werden einerseits in aktionsfähige Aufgaben trans-
formiert und es wird andererseits gewährleistet, dass diese Aufgaben auch umgesetzt
werden (Cespedes & Piercy, 1996, S. 4608). Darauf aufbauend unterscheiden Kolks
(1990, 78–80) und Raps (2017, S. 30) zwei Teilbereiche der Implementierung: Einer-
seits wird die sachliche Konkretisierung der Strategie verfolgt, also die Definition
und Koordination von umsetzungsfähigen Aufgaben inklusive der Anpassung von
Strukturen und Systemen, bezeichnet als Umsetzung. Andererseits die Schaffung von
organisatorischer Akzeptanz der Strategie bei den Anspruchsgruppen insbesondere inner-
halb eines Unternehmens, bezeichnet als Durchsetzung.
460 R. Manß
6RIHUQ$EZHLFKXQJHQLQGHU=LHOHUUHLFKXQJJJI5¾FNNRSSOXQJXQG
$QSDVVXQJGHU,PSOHPHQWLHUXQJV]LHOHXQG0D¡QDKPHQ
Den Erläuterungen zum Konzept der Implementierung folgend, ist die Implementierung
bezogen auf das Marketing als ein Prozess zu verstehen, bei dem die Marketingziele,
die Marketingstrategien und die Maßnahmen des Marketing-Mix in umsetzungs-
fähige Aufgaben übersetzt werden und deren Durchsetzung sichergestellt wird
(Vgl. auch Kotler et al., 2007, S. 1167). Für die Begleitung der Implementierung von
digital-angereicherten strategischen Marketingprojekten ist das Konzept jedoch auf
die Besonderheiten des digitalen Marketings anzupassen. Im Folgenden werden diese
Besonderheiten, u. a. basierend auf den Erkenntnissen zum digitalen Marketing von
Chaffey und Ellis-Chadwick (2019), zu den drei erläuterten Implementierungsphasen
nach Kolks (1990) zugeordnet.
Für die Implementierungsplanung ist von besonderer Relevanz, dass es im Gegen-
satz zum strategischen Management im digitalen Marketing häufig an klaren Ziel-
vorgaben mangelt. Ziele werden häufig nicht ausreichend spezifisch formuliert oder
operationalisiert. Dies mündet in unklaren Erfolgsaussichten, weshalb den betroffenen
Maßnahmen oder Projekten dann nicht ausreichend Ressourcen zugeordnet werden.
Hieraus folgt, dass Budgets sehr knapp bemessen werden und Tools sowie Arbeits-
kraft für die Umsetzung fehlen. Ein solcher Ressourcenmangel lässt sich insbesondere
in kleinen und mittelgroßen Unternehmen beobachten, bei denen digitales Marketing
eher als bloßer weiterer Kanal betrachtet wird und digitale Angebote noch immer
eine geringe Akzeptanz erfahren. In solchen Konstellationen sind zudem häufig ver-
schwendete Budgets festzustellen, weil, getrieben durch die fehlende zentrale Akzeptanz,
462 R. Manß
Der Ansatz von Kolks dient als Ausgangspunkt für die Erarbeitung eines
Implementierungskonzeptes im digitalen Marketing. Der generelle Aufbau des
Konzeptes, visualisiert in Abb. 28.2, besteht jedoch aus zwei Abschnitten. Im ersten
Abschnitt erfolgt die vorbereitende Implementierungsplanung. Diese wird, im Gegensatz
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 463
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dies umfasst neben dem Initiator oder der Initiatorin der Maßnahme beispielsweise auch
die Erstellenden des Contents sowie etwaige Zuliefernde von Technologien oder Medien
und Formaten. Basierend auf den Abhängigkeiten und Fristen können die Maßnahmen
dann in einer Zeitleiste sortiert werden.
Um eine ausreichende Transparenz und Priorisierung sowie eine adäquate Ver-
teilung von Budgets zu ermöglichen, sollten die Maßnahmen zudem bewertet und
darauf basierend priorisiert werden. Für jede Maßnahme sollte der Effekt, also die
Erfolgsaussichten, der Aufwand, also die Kosten und benötigten Ressourcen, sowie das
Umsetzungsrisiko, also die potenzielle Unsicherheit des Erfolgseintritts, abgeschätzt
werden. Dies hilft einerseits für die Priorisierung und Erfolgskontrolle der Maßnahmen,
andererseits der Motivation der Betroffenen durch das Inaussichtstellen des Einflusses
bei erfolgreicher Umsetzung. Sofern eine monetäre Quantifizierung schwer umsetzbar
ist, können vereinfachend auch Skalen verwendet werden. Basierend auf der Bewertung
und der Aufwandsschätzung sollten dann feste Budgets zugewiesen werden.
In der akzeptanzbezogenen Implementierungsplanung steht die Sicherstellung
der Durchsetzung von digitalen Marketingmaßnahmen im Vordergrund. Widerstände
erfährt digitales Marketing häufig aus emotionalen Gründen, also beispielsweise aus
Angst vor der Digitalisierung des persönlichen Aufgabenbereichs. Solche Gründe
können aber durch eine konstruktive Kommunikation der Inhalte geschwächt werden
(Welge et al., 2017, S. 827–828). Mitarbeitende sollten dazu einzelne Maßnahmen in
das Große und Ganze einsortieren können. Dazu sollten einerseits etablierte Tools wie
Präsentationen, Schulungen, informelle Veranstaltungen, interne Handbücher, Intranet-
Beiträge oder Infografiken verwendet werden. Andererseits sollten zur Erhöhung der
Transparenz und Verbesserung der unternehmensinternen Kommunikation bezüglich
digitaler Marketingmaßnahmen regelmäßige zentrale Abstimmungsrunden einberufen
werden. Hierzu sollten Unternehmen einen Jour Fixe für digitale Marketingmaßnahmen
ins Leben rufen, an dem sowohl Kanalverantwortliche als auch Maßnahmeninitiierende
sowie CRM-Verantwortliche bzw. zentrale Datenverantwortliche teilnehmen. Da beim
digitalen Marketing insbesondere die Verknüpfung von Kanälen zur Bereitstellung
von Inhalten ein Problem bei der Realisierung von Marketingstrategien darstellt, sollte
eine solche Meeting-Struktur die Abstimmung zwischen Kanälen stärken und die
Maßnahmenrealisierung verbessern.
Solche akzeptanzfördernden Strukturen sind dann Bestandteil der fortlaufenden
Kommunikation im Rahmen der Implementierungsrealisation. Zusätzlich sollte im
Rahmen dieser Kommunikation jedoch auch das inhaltliche Verständnis im Umgang
mit digitalen Angeboten fortlaufend erhöht werden. Dazu können regelmäßige Briefings
des gesamten Unternehmens und ein breites Schulungsangebot für Mitarbeitende auch
außerhalb der Marketing-Projektteams dienen. In der Umsetzungsphase erfolgt dann
die Erfüllung der einzelnen geplanten Handlungen. Entscheidend ist hier neben der
Kontrolle und Steuerung des Fortschritts der einzelnen Maßnahmen insbesondere die
funktionsübergreifend abgestimmte Umsetzung. Aufgrund der oftmals vielfältigen
Wirkungsbeziehungen zwischen klassischen und digitalen Kanälen (Meffert et al., 2019,
28 Den Marketing-Mix auf die Straße bringen: Implementierung … 465
S. 892) sollten diese auch während der Umsetzung nicht losgelöst voneinander betrachtet
werden und Projektteams möglichst interdisziplinär besetzt werden.
In der Implementierungskontrolle steht die Überprüfung der Zielerreichung im
Vordergrund. Aufgrund der zahlreichen technischen Möglichkeiten kann diese parallel
zur Implementierungsrealisation ablaufen. Zum Aufbau eines zielgerichteten Kontroll-
konzeptes dienen folgende drei Schritte (Vgl. Chaffey & Ellis-Chadwick, 2019):
Im ersten Schritt, der Kennzahlendefinition, sollten die benötigten Kennzahlen fest-
gelegt werden. Hierbei sollten Kennzahlen aus unterschiedlichen Ebenen bedacht
werden: (1) jene potentialbezogenen Kennzahlen, die sich an den konkreten Zielen
der einzelnen Maßnahme oder an der konkreten Kundeninteraktion in den Kanälen
orientieren (beispielsweise Referrals, Verweildauer oder Absprungraten auf der Web-
site); (2) jene markterfolgsbezogenen Kennzahlen, die sich an dem Kundenergebnis
orientieren (beispielsweise Kundenzufriedenheit mit der Qualität, Informationsdichte,
Convenience oder Performance des Kanals, Leads, Conversion Raten, Neukunden,
Umsatz); sowie (3) jene ökonomische Kennzahlen, die sich an dem Beitrag zum Unter-
nehmenserfolg orientieren (beispielsweise Profitabilität, Deckungsbeitrag).
Im zweiten Schritt, der Erhebungsprozessdefinition, sollte ein Prozess für die Daten-
erhebung erarbeitet werden. Hierfür stehen insbesondere für die digitalen Kanäle eine
Reihe an Analysetools zur Verfügung (beispielsweise Google Analytics, SEM Rush,
Adobe Analytics, Matomo). Zentraler Erfolgsfaktor für die Nutzung solcher Tools ist
die Gestaltung von klaren Prozessen. Ein solcher Prozess sollte mindestens aus den vier
Schritten bestehen: (1) angestrebte Kennzahlen für die zu verwendenden Tools über-
setzen, (2) Daten sammeln und Kennzahlen bestimmen, (3) Abweichungen identifizieren
und Kennzahlen interpretieren, (4) Informationen berichten und Folgemaßnahmen ein-
leiten (Vgl. Chaffey & Ellis-Chadwick, 2019 sowie Kotler et al., 2007). Hierfür müssen
Verantwortlichkeiten für den Prozess benannt werden, Kapazitäten zur Verfügung
gestellt werden und Berichtswege definiert werden.
Im dritten Schritt, dem Datenmanagement, sollten die Daten aus unterschiedlichen
Quellen harmonisiert werden. Ein dafür geeignetes System sollte Daten aus digitalen
Kanälen mit traditionell erhobenen Marktforschungsdaten zusammenführen und diese
aggregiert auswerten und visualisieren können. Lösungen hierfür, meist als Marketing
Technology (kurz: MarTech) bezeichnet, arbeiten häufig browserbasiert und nutzer-
freundlich, wodurch die Verantwortlichkeit für das Datenmanagement direkt in die Fach-
abteilungen gelegt werden kann. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass nicht durch
unterschiedliche Fachabteilungen unterschiedliche Systeme in Form eines „Flicken-
teppichs“ implementiert werden und dadurch Datensilos für Kunden/Kundinnen,
Interaktionskanäle oder Produkte entstehen. Daher empfiehlt es sich, für das Daten-
management im digital angereicherten Marketing entlang aller Kundenkontaktpunkte
bzw. Kanäle eine zentrale Verantwortlichkeit im Fachbereich zu definieren. Dort sollten
passende MarTech Lösungen ausgewählt und in Form eines sogenannten MarTech Stack
zusammengeführt werden. Für das Datenmanagement sind insbesondere CDP-Lösungen
466 R. Manß
28.4 Fazit
Literatur
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468 R. Manß
Prof. Dr. Rico Manß ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere
Marketing, an der IU Internationale Hochschule am Campus Leipzig. Herr Manß promovierte im
Multichannel-Marketing und setzt sich in seinen Forschungsarbeiten mit der Integration von ana-
logen und digitalen Kundenkontaktpunkten auseinander.
Customer Relationship Management im
digitalen Zeitalter: Kundenbeziehungen 29
entlang der Customer Journey aufbauen
und stärken
Uta Scheunert
Zusammenfassung
Insbesondere in den gesättigten B2C-Märkten gilt der Aufbau und Erhalt mög-
lichst langfristiger Kundenbeziehungen als Schlüssel zum Unternehmenserfolg. Die
Digitalisierung mit Big Data und dem Internet of Things bietet dabei Unternehmen
die Chance, Kundendaten zu generieren, zu analysieren und für eine kontinuier-
liche und zielgenaue Kundenansprache zu nutzen sowie eine aus Kundensicht wahr-
nehmbare und einmalige Customer Experience zu erreichen. Demgegenüber stehen
die Herausforderungen, im Kampf um die zunehmend weniger loyalen Kund:innen
immer neu zu überzeugen und immer neue Kundenerlebnisse zu schaffen, sowie
die generierten Daten nicht nur zu sammeln, sondern erfolgsversprechend einzu-
setzen. Neben der Begriffsabgrenzung und Einordnung von Customer Relation-
ship Management (CRM), Customer Journey Management (CJM) und Customer
Experience Management (CXM) liefert dieser Beitrag Anregungen, wie Unternehmen
CJM effizient anwenden und CXM in der zunehmend digitalisierten Welt einsetzen
können. Durch den daraus resultierenden kontinuierlichen Informationsaustausch
zwischen Unternehmen und Kund:innen sowie der Schaffung von Kundenerlebnissen,
welche auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten sind, wird die langfristige Kunden-
beziehungen gestärkt und der Unternehmenserfolg positiv beeinflusst.
U. Scheunert (*)
IU Internationale Hochschule, Erfurt, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 469
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_29
470 U. Scheunert
29.1 Einleitung
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts orientierten sich Definitionen des Begriffs Customer
Relationship Management primär an der sog. Erfolgskette der Kundenbindungen
(Abb. 29.2).
Im Fokus steht dabei die Erkenntnis, dass der Aufbau einer Kundenbeziehung zu
einer Kundenloyalität führt. Loyale Kund:innen – so die Argumentation – sind ihrer-
seits für das Unternehmen profitabler als nicht-loyale Kund:innen (vgl. Dowling, 2002,
S. 87). Gründe dafür liegen in der geringeren Wechselbereitschaft loyaler Kund:innen
und der erhöhten Verhaltensabsicht des Wiederkaufs, der Weiterempfehlung oder des
Cross-Sellings. Wenn sich diese Absicht in einem tatsächlichen Verhalten niederschlägt,
was vor allem bei (freiwillig an das Unternehmen) gebundenen Kund:innen gegeben ist,
steigt der Unternehmenserfolg (vgl. Homburg & Bucerius, 2008, S. 55 ff.; Bruhn, 2016,
S. 73).
Neben dieser eher verhaltens- und erfolgsorientierten Auffassung von CRM, ent-
wickelte sich in den nachfolgenden Jahren eine rein bzw. vordergründig technisch-
fokussierte Betrachtungsweise (z. B. Stone & Woodcock, 2001). Dabei wird häufig CRM
(zu) stark vertriebsseitig diskutiert und z. B. als „Verkaufen mit System“ mit einem
„methoden- und systemgestützten Vertrieb“ gleichgesetzt (Winkelmann, 2013, S. 183).
Der Auffassung Winkelmanns (2013, S. 183) folgend sollen „kundenorientierte Prozesse
[…] mit Hilfe von Datenbanken und Vertriebssteuerungs-Software in optimaler Weise
unterstützt werden.“
Seit den 2010er Jahren münden beide Begriffsauffassungen in einen ganzheitlichen
Definitionsansatz, welcher der Ganzheitlichkeit und Komplexität der Thematik am
ehesten gerecht wird. Entsprechend umfasst nach Hippner et al. (2011, S. 18) Customer
Relationship Management (CRM) „den Aufbau und die Festigung langfristig profitabler
Kundenbeziehungen durch abgestimmte und kundenindividuelle Marketing-, Sales-
und Servicekonzepte mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationstechno-
logien.“ Helmke et al. (2017, S. 17) verdeutlichen, dass unter CRM die „ganzheitliche
Bearbeitung der Beziehung eines Unternehmens zu seinen Kunden [zu verstehen ist].
Kommunikations-, Distributions- und Angebotspolitik sind nicht weiterhin losgelöst
voneinander zu betrachten, sondern integriert an den Kundenbedürfnissen auszurichten.
Zentrale Messgröße des CRM-Erfolges ist die Kundenzufriedenheit, die einen Indikator
472 U. Scheunert
Der Begriff „Digitalisierung“ ist aus dem täglichen Sprachgebrauch des 21. Jahrhunderts
nicht mehr wegzudenken und findet Verwendung in verschiedenen gesellschaftspolitischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Strömungen. Unbestritten beeinflusst die Digitalisierung
zunehmend alle Gesellschaftsbereiche und das vor allem in Industriestaaten bzw. der
westlichen Welt. Allerdings ist Digitalisierung (ähnlich wie der Begriff CRM) nicht ein-
deutig definiert und kann (ebenfalls ähnlich der Begriffsabgrenzung CRM) vorder-
gründig aus der technischen Sichtweise mit einem Wechsel von analogen zu digitalen
Daten, Automatisierung von Prozessen oder aus dem Verständnis heraus resultieren, dass
Digitalisierung aufgrund der digitalen Vernetzung neue Wege in der Information und
Kommunikation bietet, wodurch Geschäftsmodelle und Prozesse grundlegend beeinflusst
werden (Faber, 2019, S. 4 ff.; Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018, S. 13 f. und 24 f.). Aus
Sicht des Marketings und dabei insbesondere im Kontext des CRM sind im Zusammen-
hang mit der (zunehmenden) Digitalisierung besonders folgende Aspekte von Relevanz:
Big Data tangiert primär die technische Sichtweise des CRM. Entsprechend gilt es für
Unternehmen geeignete Formen und technische Lösungen zu entwickeln und/oder zu
implementieren, welche die Sammlung der Vielzahl von Informationen ermöglicht
und darüber hinaus vor allem aber deren Verarbeitung und damit auch deren Nutzung
effizient unterstützt, um in der Folge die gewonnenen und gespeicherten Daten erfolgs-
steigernd einzusetzen. Dies kann nicht zuletzt durch eine zielgruppengerichtete Aus-
steuerung und personalisierte Ausgestaltung von Marketing-Mix-Maßnahmen erfolgen.
Das Internet of Things, d. h. das Internet der Dinge kann als ein „Netzwerk aus ver-
bundenen Dingen [physische Objekte, wie Computer, Chips, Sensoren] mit Beziehungen
zwischen verschiedenen Menschen, zwischen Menschen und Dingen sowie zwischen
Dingen untereinander“ verstanden werden (Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018, S. 27; Zare
& Honarvar, 2021, S. 1). Neben der Kommunikation, Informationsspeicherung und Ver-
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 473
netzung kennzeichnet sich das IoT zudem durch eine quasi überall gegebene Verfügbar-
keit von smarten/intelligenten Objekten sowie deren Fähigkeit zur Selbststeuerung und
zum selbständigen Lernen (Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018, S. 35).
Zusammengefasst kann die optimale Nutzung von Big Data als Unterstützung der
(personalisierten) Ausgestaltungsmöglichkeiten, die sich durch das Internet of Things
ergeben, angesehen werden, um Customer Experience entlang der Customer Journey
zu erreichen und somit das Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter
erfolgreich zu gestalten.
Beispiel
Wenn im Jahr 2022 ein Kunde den Bedarf nach einer neuen wärmenden, wasser-
abweisenden Winterjacke hat, sucht er i. d. R. nicht das eine große Warenhaus der
Stadt auf, schaut sich dort um, lässt sich beraten, entscheidet sich direkt vor Ort und
beendet die Kaufentscheidung an der Kasse durch Barzahlung. ◄
Beispiel
Steht der oben beschriebene potenzielle Käufer der Winterjacke bereits an der Kasse,
so kann er während der Wartezeit Preise der Jacke bei anderen Anbietern vergleichen
und sich bspw. für das Angebot eines Online-Händler entscheiden, oder der Kunde
öffnet das Direct Mailing seiner Lieblingsbekleidungsmarke und findet Gefallen an
einem Alternativprodukt. In beiden Fällen wird die Kaufentscheidung durch den
Kunden abgebrochen, in letzterem Beispiel werden die Möglichkeiten des lang-
fristigen Beziehungsmanagements deutlich. ◄
Die (potenziellen) eigenen Kund:innen zu kennen und zu verstehen, wie diese sich in
Kaufentscheidungssituationen verhalten, welche Medien diese nutzen, wofür sie sich
begeistern und was sie ablehnen, ist der Schlüssel zum Erfolg marktorientierter Unter-
nehmensführung, denn nur so kann die Customer Journey an allen relevanten Kontakt-
punkten aus Kundensicht optimal gestaltet und ein kontinuierlicher Austausch von
Informationen im Sinne eines Beziehungsmanagements erreicht werden.
Die Erarbeitung einer oder mehrerer Customer Journeys startet in Unternehmen
mit der Auswahl bereits bekannter oder der Entwicklung neuer bzw. geeigneter Buyer
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 475
Abb. 29.4 Prozessmodell der Customer Journey und Customer Experience. Quelle: In
Anlehnung an Lemon und Verhoef (2016, S. 77)
Personas. Eine Buyer Persona ist ein/e typische/r Vertreter:in der relevanten Zielgruppe.
Ein einheitliches Schema zur Beschreibung von Buyer Personas existiert nicht, jedoch
ist empfehlenswert, dass die Buyer Persona einen Namen, ein Alter und ein Gesicht in
Form eines Fotos/Bildes erhält. Um sich für die Entscheidungen möglichst gut in die
Buyer Persona hineinversetzen zu können, empfehlen sich zudem Angaben zur Persön-
lichkeit – mit Angaben zur emotionalen Persönlichkeitsstruktur, zu Wünschen und
Interessen, Werten, aber auch zu Ängsten und Barrieren. Diese Pain Points gilt es bei der
Ausgestaltung von CX-Maßnahmen unbedingt zu vermeiden. Darüber hinaus finden sich
auf den Buyer-Persona-Steckbriefen meist soziokulturelle Angaben (z. B. Lebensphase,
Lebenssituation), aber auch sozioökonomische (monatliches Nettoeinkommen, monat-
lich verfügbares Haushaltseinkommen) und kulturelle Informationen (Einstellungen,
Normen, Religion) wieder (z. B. Häusel & Henzler, 2018, S. 27 ff.). Für die Ableitung
geeigneter marketingspezifischer Maßnahmen entlang der CJ ist zudem das präferierte
Mediennutzungsverhalten unbedingt zu ergründen und zu dokumentieren. Die bevor-
zugten Medien – und in Angrenzung dazu die nicht genutzten Medien – liefern wichtige
Erkenntnisse zu den Kanälen, über welche die Kommunikation zur Kundenbeziehungs-
pflege stattfinden sollte sowie über die Art (offline/online/mobile) der Touchpoints
entlang der CJ. „Häusel und Henzler 2018“ ist im Text zitiert, fehlt aber im Literatur-
verzeichnis. Bitte in das Verzeichnis aufnehmen oder Zitat aus dem Text streichen.in Lit-
verzeichnis ergänzt - Danke für den Hinweis!
476 U. Scheunert
Customer Journey Management und dabei die Reise der Kund:innen nicht
ausschließlich entlang einer einzelnen Entscheidungssituation, sondern im Rahmen eines
langfristigen ausgelegten Beziehungsmanagements mit einem steten Informations- &
Kommunikationsaustausch mit den Kund:innen zu verstehen, greifen Siebert et al. (2020)
auf. Die Autoren beschreiben die langfristige Kundenbeziehung mit mehreren Kaufent-
scheidungssituationen zum einen in Form von „Smooth Journey Models“, wobei Loyali-
tätsschleifen die Kundenentscheidungen unterstützen, zu Wiederkäufen und einem
Zuwachs an (positiven) Erfahrungen mit den Angeboten anregen und somit die Ent-
scheidungsfindung und das Leben der Kunden erleichtern. Zum anderen beschreiben die
Autoren die ebenfalls den Unternehmenserfolg steigernden „Sticky Journey Models“.
Unternehmen, welche entlang dieser CJ agieren, beziehen die Kunden mit ein und lassen
diese an der Gestaltung des individuellen Kaufentscheidungsprozesses partizipieren, in
denen eine große Bandbreite an Variationen aufgezeigt wird, und der Kunde die Möglich-
keit erhält, schnell in entscheidungsspezifische CJ einzusteigen, aber diese auch ebenso
schnell wieder verlassen kann. Als Beispiele werden hierbei die Dating-App Tinder aber
auch das Fitnessunternehmen Cross Fit oder Spotify genannt (Siebert et al., 2020, S. 49 f.).
Ganz gleich, welche Form der Customer Journey ein Unternehmen wählt, es ist
essentiell, dass sich Unternehmen mit der oder den Customer Journey(s) seiner Kund:innen
auseinandersetzen, relevante Touchpoints identifizieren sowie das Kundenverhalten entlang
der CJ beschreiben und verstehen, um somit potenzielle und bestehende Kund:innen ent-
lang deren Reise zu begleiten, mit ihnen zu kommunizieren, selbst aktiv in der Kundenbe-
ziehung zu agieren und für die Kunden wahrnehmbare Kundenerlebnisse zu schaffen.
Mit dem Wissen um das „Wer?/Mit wem?“ und „Wann?“ steht beim Customer
Experience Management (CXM) die Frage nach dem „Wie?“ im Mittelpunkt der
Betrachtung. Die Schaffung von Kundenerlebnissen, welche für den Kunden wahr-
nehmbar sind und einen Erlebnisnutzen stiften, sind die Basis eines erfolgreichen
Customer Relationship Managements. Die Rahmenbedingungen in den vielfach
gesättigten Märkten mit austauschbaren Angeboten, in denen Kund:innen eine möglichst
individuelle Ausrichtung auf deren Ansprüche entlang der Kaufentscheidung erwarten,
stellen dabei eine besondere Herausforderung an die Unternehmen dar.
Gemeinsam mit dem „Wie?“ sind Unternehmen mit der Entscheidung einer geeigneten
Priorisierung konfrontiert. Die Ausgestaltung von CX-Maßnahmen bedarf finanzieller
und humaner Ressourcen und sollte entsprechend gezielt erfolgen. Nachfolgend werden
ausgewählte und als besonders relevant erachtete Schlüsselfaktor für den Aufbau und
Erhalt einer langfristigen sowie erfolgsorientierten Kundenbeziehung aufgeführt. Weitere
Ansatzpunkte liefern z. B. (Keller & Ott, 2017; Kruse Brandaõ & Wolfram, 2018 oder
Robra-Bissantz & Lattemann, 2019). „Keller 2017“ wurde entsprechend den Angaben im
Literaturverzeichnis zu „Keller und Ott 2017“ geändert. Bitte bestätigen.Danke!
29 Customer Relationship Management im digitalen Zeitalter… 477
Beispiele
Beispiele hierfür sind die offline und digital umgesetzten Multivendor Loyalty
Programme, wie z. B. Payback oder Deutschland Card oder Multichannel Distribution
Partners (Marketplaces) wie z. B. Amazon oder Zalando. ◄
• Kunden und dabei typische Showroomer, die ein stationäres Ladengeschäft betreten,
vor dem Kauf – häufig direkt im Geschäft oder in der Umkleidekabine – aber online
die Konditionen vergleichen oder online im favorisierten Shop bestellen und die Ware
nach Hause liefern lassen wollen, kann auf der einen Seite der Händler mit Bestpreis-
versprechen entgegnen oder mobile Bestellterminals für den Kauf im hauseigenen
Online-Shop zur Verfügung stellen. Auf der anderen Seite kann ein Webshop, dem
es gelungen ist, Kunden langfristig zu binden, ebenfalls durch geeignete Maßnahmen
zum Kauf im Shop bewegen, z. B. durch verlängerte Rückgabefristen.
Literatur
(FSU) Jena, mit ihrer Promotion zum Thema „Das subjektive Alter von Konsumenten – Ent-
wicklung, empirische Überprüfung und Wertung eines Messansatzes zur Evaluation des gefühlten
Alters von Personen als Basis für eine erfolgreiche Segmentierung und Strategieentwicklung
im Marketing“ den akademischen Grad Dr. rer. pol. Seit Oktober 2019 hat Uta Scheunert die
Professur für ABWL, insbesondere Marketing & Kommunikation an der IU Internationale Hoch-
schule GmbH am Campus Erfurt inne.
Digitale Marketingmöglichkeiten in der
Arztpraxis 30
Cordula Kreuzenbeck und Gabriele Schuster
Zusammenfassung
Digitales Marketing hat in den letzten Jahren viele neue Ausprägungen erhalten. Sei
es die Nutzung von sozialen Medien zum Marketing oder eine neue Art von digitaler
Mund-zu-Mundpropaganda über Bewertungsplattformen. Auch vor dem Gesund-
heitswesen macht diese Entwicklung nicht halt. Ärzt:innen und Krankenhäuser finden
sich in den sozialen Medien wieder, Jameda.de und Klinikbewertungen.de bieten
maßgeschneiderte Bewertungsplattformen für Krankenhäuser und Ärzt:innen an.
Nach einem Versuch, die Bewertungen zu unterbinden, und völligem Unverständnis
hierfür bei den niedergelassenen Ärzt:innen, gibt es inzwischen einige wenige, die
diese Seiten aktiv bewirtschaften und für ihr digitales Marketing nutzen. Gerade im
Niedergelassenenbereich zeigt sich anhand der Altersstruktur und Digitalkompetenz
der Ärzt:innen und der Patienten, wie sich die Digitalisierung am zielgruppen-
orientierten Marketing der Ärzt:innen aufreibt. Ein niedriger Wettbewerbsdruck und
strenge gesetzliche Regulierungen sorgen nur für ein vereinzeltes Aufbrechen der
bekannten und gelebten Marketingstrategien.
C. Kreuzenbeck (*)
IU Internationale Hochschule, Velbert, Deutschland
E-Mail: [email protected]
G. Schuster
IU Internationale Hochschule, Campus Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 485
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_30
486 C. Kreuzenbeck und G. Schuster
30.1 Einleitung
Die Produktpolitik ist für niedergelassene Ärzt:innen durch den gesetzlichen Leistungs-
katalog eingeschränkt. Auch der Bereich von IGeL-Leistungen1 ist beschränkt. Damit
kann die Produktpalette als Marketinginstrument dahingehend wirken, dass der Arzt
gewisse Spezialisierungen oder Fortbildungen aufweist, die das entsprechende Klientel
1 IGeL sind Leistungen, die nicht zum festgeschriebenen Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenkassen gehören. Dies können z. B. Atteste und Reiseimpfungen sein, die per Gesetz
nicht zu den Aufgaben der GKV gehören. Meist sind IGeL medizinische Maßnahmen zur Vor-
sorge, Früherkennung und Therapie von Krankheiten, deren Nutzen bisher nicht bewiesen werden
konnte. (GKV Spitzenverband, 2020).
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 487
anziehen. Hierüber wird in der Regel sowohl auf dem Praxisschild als auch im Internet-
auftritt aufmerksam gemacht. Selten gibt es Alleinstellungsmerkmale, die eine so starke
Spezialleistung darstellen, dass die Patienten überregional angezogen werden, z. B. im
plastischen Bereich beim Ohrmuschelaufbau.
Preispolitik
u „Die Entscheidungen im Rahmen der Preispolitik umfassen die Vereinbarungen über
das Entgelt des Leistungsangebotes, über mögliche Rabatte und darüberhinausgehende
Lieferungs-, Zahlungs-, und Kreditierungsbedingungen sowie der Preisdurchsetzung am
Markt. Diese Instrumente der Preispolitik sind im Hinblick auf die Marketingziele aus-
zugestalten.“ (Meffert et al., 2019, S. 489).
Da entweder Kassen- oder Privatpatienten als Kunden auftreten, spielt der Preis immer
dann eine Rolle, wenn die Leistungen aus eigener Tasche bezahlt werden müssen und
nicht erstattet werden (IGeL-Leistungen – Individuelle Gesundheitsleitungen). Sonder-
stellung haben hier wieder plastische Operationen und zahnmedizinische Behandlungen,
bei denen die Preise durchaus variieren können. Hierfür müsste eine entsprechende
Preiselastizität auf Seite der nachfragenden Patienten bestehen, um ein wettbewerbs-
orientiertes Marketing zu betreiben. Bisher ist dies kaum festzustellen.
Distributionspolitik
u „Die Distributionspolitik bezieht sich auf die Gesamtheit aller Entscheidungen
und Handlungen, welche die Verteilung (engl. Distribution) von materiellen und/oder
immateriellen Leistungen vom Hersteller zum Endkäufer und damit von der Produktion
zur Konsumtion bzw. gewerblichen Verwendung betreffen.“ (Meffert et al., 2019,
S. 579).
Bei Arztpraxen ist der Point-of-Sale in der Regel die Arztpraxis. Gemeint sind hier auch
alle Maßnahmen, die zur Ausstattung der Praxis gehören. Angefangen bei der Rezeption,
über das Wartezimmer bis zum Behandlungsraum. Bei vielen Arztpraxen wird Wert auf
die räumliche Ausgestaltung gelegt. Da sich die Patienten in der Regel allerdings nicht
übermäßig lange in der Praxis aufhalten, dürfte dies neben der fachlichen Eignung des
Arztes und der Freundlichkeit des Personals nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Durch die Covid-19-Pandemie bieten einige wenige Ärzt:innen/Therapeut:innen
inzwischen auch Online-Sprechstunden an. Hierbei betritt der Patient die Praxisräume
nicht, sondern Arzt und Patient sehen sich virtuell über eine Videoplattform. Dies kann
gerade bei weiten Anfahrtswegen oder bei Einschränkungen, die die Anreise erschweren,
einiges an Erleichterung für Patient aber auch Arzt bedeuten. Allerdings liegt dieser
Anteil im Bereich der Hausärzt:innen bei weit unter einem Prozent. (Kreuzenbeck 2022,
eigene Auswertung).
488 C. Kreuzenbeck und G. Schuster
Lediglich eine negative Marketingwirkung könnte sich allerdings durch eine eher
heruntergekommene Einrichtung ergeben, von dieser können die Kunden vermeintliche
Rückschlüsse auf die Fähigkeit des Arztes oder mangelnde Hygiene ziehen. Gleichzeitig
wäre allerdings das Anbieten einer Videosprechstunde eine Chance, gezielt digitalaffine
Patienten zu gewinnen.
Kommunikationspolitik
u „Aus Marketingperspektive versteht man unter Kommunikation das Senden von
verschlüsselten Informationen, um beim Empfänger eine Wirkung zu erzielen. Dem-
entsprechend umfasst die Kommunikationspolitik die systematische Planung,
Ausgestaltung, Abstimmung und Kontrolle aller Kommunikationsmaßnahmen des Unter-
nehmens in Hinblick auf alle relevanten Zielgruppen, um die Kommunikationsziele und
damit die nachgelagerten Marketing- und Unternehmensziele zu erreichen.“ (Meffert
et al., 2019, S. 633).
Personal Wie wir später noch sehen werden, ist die Freundlichkeit und Professionalität
der Sprechstundenhilfen, Telefonistinnen, des Arztes und der medizinischen Fachange-
stellten zu mindestens aus Sicht der Ärzt:innen ein relevanter Wettbewerbsfaktor. Die
Freundlichkeit der Mitarbeiter und des Arztes findet sich auch in sämtlichen Bewertungs-
plattformen wieder. Die emotionale und soziale Ebene bildet hier einen nicht unwesent-
490 C. Kreuzenbeck und G. Schuster
Prozesse Die Prozesse einer Arztpraxis sind für Patient:innen primär über die Dauer
der Wartezeiten spürbar. Hierzu gehört aber alles von der Terminvereinbarung über
Wartezeiten, Raumbesetzung, Behandlung, Nachbehandlung, Rezepte bis hin zur Über-
weisung. Ob Prozesse gut laufen und organisiert sind, ist für Patient:innen neben Warte-
zeiten oder Absagen geplanter Termine kaum nachvollziehbar, da sie den Ablauf der
Praxis in der Regel nicht einschätzen können und medizinische Dringlichkeit als Argu-
ment nicht bewerten können. Zumindest über Wartezeiten kann sich der Patient über
unterschiedliche Bewertungsportale informieren. Das Zustandekommen der Wartezeiten
bleibt jedoch unklar. Entstehen diese, weil der Arzt sehr gut und damit viel besucht ist?
Weil der Arzt sich für seine Patienten die nötige Zeit nimmt und eine gründliche Unter-
suchung macht? Oder tatsächlich, weil die Praxis schlecht organisiert ist?
In Tab. 30.1 lassen sich die Marketingmaßnahmen der Ärzt:innen erkennen, die sich
offensichtlich an den Zielen der Praxisinhaber ausrichten. Als Überblick werden diese in
Tab. 30.1. zusammengefasst. (Stiftung Gesundheit, 2015, S. 42).
Auffällig hierbei ist, dass nur etwa 38 % überhaupt das Bedürfnis haben, neue
Patienten hinzuzugewinnen. Der Hauptfokus der Ärzt:innen liegt grundsätzlich in der
Informationsübermittlung, bzw. hier auch der Herausstellung von Alleinstellungs-
merkmalen, z. B. besonderer Behandlungsmöglichkeiten.
Die wichtigste Marketingmaßnahme war 2015 noch die Präsenz im Internet mit 68 %
der von der Stiftung Gesundheit befragten Ärzt:innen. Dies bedeutete primär die Praxis-
Homepage mit 56,6 %. Als weitere Haupt-Marketingmaßnahme wird das Praxispersonal
mit 55,4 % genannt. Dieses lässt sich wiederum mit einem starken Bezug zum WoM
erklären. 43,6 % setzten weiterhin auf die Visitenkarte als klassisches Marketingmittel.
Marketingmittel wie Services z. B. einer Online-Terminvereinbarung über eine Plattform
30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 491
Tab. 30.1 Marketingziele
Ich möchte Patienten konkret über mein besonderes Behandlungsspektrum informieren 53,6 %
Ich möchte meine Patienten ganz allgemein informieren 40,4 %
Ich möchte neue Patienten hinzugewinnen 38,2 %
Ich habe das Gefühl, so etwas wird heute von den Patienten erwartet 28,9 %
Ich möchte Geld damit verdienen 27,7 %
Ich möchte mich von anderen Leistungsanbietern abgrenzen 25,2 %
Ich möchte auch den Kollegen meine Kompetenzen vermitteln 15,5 %
Ich habe keine konkreten Zielvorstellungen 12,5 %
Eigene Darstellung nach Stiftung Gesundheit (2015)
wie Jameda nutzten 2015 nur 21 % der befragten Ärzt:innen. Über 47 % schlossen eine
Online-Terminvereinbarung grundsätzlich aus. (Stiftung Gesundheit, 2015, S. 19). Das
Endfazit der Studie ist ernüchternd, nur jeder 10te Arzt befasste sich gezielt mit seinem
Praxismarketing. (Stiftung Gesundheit, 2015, S. 45).
Eine aktuell nicht veröffentlichte Untersuchung von Sekundärdaten einer großen
Krankenkasse zeigte, dass auch die Anzahl der Videosprechstunden über die Covid-19-
Pandemie zwar absolut anstieg, aber auf einem Niveau von 2,75/10,000 Behandlungen
irrelevant gering blieb. Zudem war nach der Hauptphase und dem ersten Lockdown der
Covid –19-Pandemie die Zahl der Videosprechstunden wieder rückläufig. (Kreuzenbeck
2021, eigene Auswertung) Die signifikante Abhängigkeit vom Alter bestätigt auch die
Untersuchung von Scherer et al., nach der eher jüngere Menschen die Videosprechstunde
in Anspruch nehmen. (Scherer et al., 2021).
Auch neuere Marketingkanäle wie Soziale Netzwerke werden gerade mal von 7 % der
niedergelassenen Ärzt:innen verwendet. (Berg, 2021) Es könnte argumentiert werden,
dass solche Angebote schlicht nicht zielgruppengerecht sind.
Wo kein Bedarf der Niedergelassenen besteht, wird aber wohl ein Bedarf der
Patientinnen und Patienten sichtbar. Der niedergelassene Bereich ist ungewollt an zahl-
reiche Stellen im Internet vertreten. Hier wird in von den Ärzt:innen nicht forcierten
Webauftritten über Leistungsspektrum, Fachlichkeit und Zufriedenheit der Patienten
mit Ihrem Arzt informiert. 2007 hielten noch rund 20 % der Ärzt:innen solche Arzt-
bewertungsportale für unzulässig. (Stiftung Gesundheit, 2019, S. 7).
Gegen Jameda erreichte die Ärzteschaft 2018 vor dem BGH eine Stärkung ihrer
Rechte im Kampf gegen negative Behauptungen. Die freie Meinungsäußerung wurde
492 C. Kreuzenbeck und G. Schuster
damit aber nicht eingeschränkt, sondern nur klare rufschädigende oder beleidigende
Äußerungen. (Düsberg, 2019).
Gleichzeitig wird das Webportal auch ein wenig von ärztlicher Seite genutzt. Nur
1,58 % aller Ärzt:innen antworten, bzw. kommentieren Bewertungen. Obwohl die
Bewertungsanzahl mit über einer Million von 2010–2015 nicht unerheblich ist. (Emmert,
2017). Inzwischen stellt sich Jameda als größtes Portal für Arztempfehlungen mit nach
eigenen Angaben 6 Mio. Patienten dar, die jeden Monat über dieses Portal einen Arzt
suchen. (Jameda, 2020).
Eine Konkurrenz sind qualitätsgesicherte Portale, worüber primär die Versicherungen
ihre Arzt-Empfehlungen darstellen. Zu nennen ist hier auch der 2008 gegründete
Empfehlungspool der primär auf der Website arzt-auskunft.de zu finden ist. Bei einer
entsprechenden Auswertung der Portale aus dem Empfehlungspool kommt die Stiftung
Gesundheit auf eine Weiterempfehlung der Arztpraxen von 80,11 %. (Stiftung Gesund-
heit, 2019, S. 7) Im Vergleich zu den bekannten Portalen wie Jameda und Google ist die
Bewertungsanzahl auf arzt-auskunft.de allerdings verschwindend gering.
In einer aktuellen noch nicht veröffentlichten Auswertung der Internet-Bewertungen
von 383 gynäkologischen Praxen in München zeigt, dass bei Jameda 65 % dieser Arzt-
gruppe gerundet mit sehr gut bewertet werden und nur ca. ein Drittel vergab Noten von
1,5 und schlechter erhalten. Die Durchschnittsnote im Schulnotensystem bei Jameda
beträgt 1,47. Bei Google.de wurden die Ärzt:innen durchschnittlich mit 4,25 Sternen von
maximal 5 Sternen bewertet. Das Bewirtschaften eines Premiumaccounts bei Jameda
zeigte keine signifikante Verbesserung der Bewertung. (Kreuzenbeck, 2022, eigene Aus-
wertung).
Im Gegensatz zu Hotelbewertungsplattformen zeigt sich, dass die aktive Nutzung von
digitalen Arztbewertungen im Gesamtkonzept des Marketings der Arztpraxis trotz der
bundesweit hohen Bewertungszahlen eine untergeordnete Rolle spielen.
30.4 Hinderungsgründe
In diesem Abschnitt befassen wir uns damit, warum das Marketing gerade in Bezug auf
die digitalen Möglichkeiten im Bereich der niedergelassenen Ärzt:innen hinter anderen
Branchen zurückbleibt.
scheinen demnach die geringste Bereitschaft zu haben, sie zu nutzen. Frauen hatten
grundsätzlich eine geringeren Nutzungswunsch solcher Geräte als Männer. Einen signi-
fikanten Unterschied bei ländlichen und städtischen Patienten scheint es nicht zu geben.
Bezieht sich die Werbung nicht auf den Arzt selbst, sondern auf entsprechende
medizinische Verfahren, gilt zudem das Heilmittelwerbegesetz mit seinen Ein-
schränkungen. (Bundesärztekammer, 2021).
Das heißt, die erlaubte Werbung bezieht sich maßgeblich auf die Information der
Patienten.
30.5 Fazit
Abschließend zeigt sich aktuell eine Minimalstrategie vieler Ärzt:innen beim Marketing.
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung im niedergelassenen Bereich scheint
ebenso aktuell nur ein geringes Potenzial für Marketing vorzuliegen, und auch weniger
in digitaler Form. Die Auslastung der Arztpraxen wird in den nächsten Jahren weiter
zunehmen und gezieltes Marketing eher im Kontext der Privat- oder Zusatzversicherten
relevant werden, bzw. in Sonderbereichen wie z. B. plastischer Chirurgie. Gleichzeitig ist
der Verzicht auf eine starke Digitalisierungsstrategie mitunter auch von den Ärzt:innen,
die bald ihre Praxis abgeben wollen, zu kurz gedacht. Denn in der Nachfolge der Praxis
und in dem wachsenden Digitalisierungsgrad aller Bevölkerungsgruppen kann sich die
Digitalisierung der Praxis als Wettbewerbsvorteil für die Suche eines Nachfolgers deut-
lich bemerkbar machen. Gerade in Bezug auf Praxen in ländlichen Gebieten, deren
Attraktivität von Technologien wie der Videosprechstunde deutlich profitieren könnten.
Langfristig ist ohnehin auch in der niedergelassenen Struktur und deren Ziel-
gruppe eine Verjüngung zu erwarten, die wie gezeigt mit einer anderen Einstellung zur
Digitalisierung einhergeht und damit zumindest im Bereich der Serviceangebote und der
Kommunikation über die eigene Homepage hinaus Potenzial bietet. Bis dahin wird die
496 C. Kreuzenbeck und G. Schuster
Digitalisierung durch staatliche Eingriffe, wie bei den Strukturen der Telematikinfra-
struktur, per Gesetz angeschoben. Besonders spannend könnte es sein, ausgerechnet die
Marketingaktivitäten zu identifizieren, die sich trotz der ungünstigen Bedingungen im
Niedergelassenenbereich bislang durchsetzen.
Auch lohnt sich ein Blick in die Fachbereiche, die über Zusatzentgelte oder private
Abrechnung über die Regelvergütung hinaus Leistungen anbieten. Viele Zahnärzt:innen,
plastische Chirurg:innen oder Privatpraxen haben aktuell vermehrt in die digitale Trans-
formation investiert.
Trotz der hohen grundsätzlichen Bedeutung von Mund-zu-Mund-Propaganda in
dem niedergelassenen Bereich ist die digitale Variante, obwohl von den Patienten
häufig genutzt, bislang kein integraler Bestandteil des Marketingkonzeptes von Arzt-
praxen. Kombinieren die Bewertungsplattformen allerdings ihre Angebote mit digitalen
Angeboten wie der direkten Terminbuchung beim gewünschten Arzt, könnten sich hier
langfristig die Zuweisungsstrukturen und die Patientenautonomität maßgeblich ver-
ändern.
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30 Digitale Marketingmöglichkeiten in der Arztpraxis 497
Zusammenfassung
E. Ghazari-Arndt (*)
IU Internationale Hochschule, Marburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 499
Teil von Springer Nature 2023
C. Lucas und G. Schuster (Hrsg.), Innovatives und digitales Marketing in der Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38210-0_31
500 E. Ghazari-Arndt
Aus dem ersten Erwägungsgrund der DS-GVO geht bereits hervor, dass der Schutz
natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ein Grundrecht ist.
Gem. Art. 8 der EU-Grundrechtecharta1 sowie Art. 16 Abs. 1 AEUV2 hat jede Person das
Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. Insofern hat das Daten-
schutzrecht im digitalen Zeitalter, wo es insbesondere die Technik ist, die es ermöglicht,
dass Behörden und private Unternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten in einem noch nie
dagewesenen Umfang auf personenbezogene Daten zurückgreifen und diese zu nutzen,3
an Bedeutung gewonnen. Tendenziell wird die rasche technologische Entwicklung auch
weiterhin dafür sorgen, dass der Verkehr personenbezogener Daten innerhalb der Union,
aber auch die Datenübermittlung weiter ansteigen.4 In Bewusstsein dieses Fortschritts
und dem Ziel der Förderung eines funktionierenden Binnenmarktes soll der Anstieg des
grenzüberschreitenden Verkehrs personenbezogener Daten einem hohen Datenschutz-
niveau begegnen, wo sowohl natürliche Personen, als auch die Wirtschaft und der Staat
in rechtlicher und praktischer Hinsicht über mehr (Rechts-)Sicherheit verfügen.5 Die
DS-GVO, die als VO (EU) 2016/679 vom 27.04.2016 verabschiedet wurde, soll dieses
Schutzniveau erreichen und das Datenschutzrecht in der EU vereinheitlichen. Denn die
Datenschutzrichtlinie (Richtlinie 95/46/EG)6, die vor dem DS-GVO in diesem Bereich
galt und mit Wirkung vom 25.05.2018 aufgehoben wurde (vgl. Art. 94 Abs. 1 DS-GVO),
konnte die Vereinheitlichung nicht hinreichend realisieren, weil damit nicht verhindert
werden konnte, dass der Datenschutz in der EU unterschiedlich gehandhabt wurde.7 Dies
lag vor allem in der Natur des Rechtsakts, da eine europäische Richtlinie gem. Art. 288
Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, nur hinsichtlich des zu
erreichenden Ziels verbindlich ist. Eine Verordnung hingegen hat nach Art. 288 Abs. 2
4 ebd.
6 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum
Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Daten-
verkehr, ABl. EG L 281/31 v. 23.11.95.
7 Erwägungsgrund Nr. 9 der DS-GVO.
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 501
AEUV allgemeine Geltung und ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar
in jedem Mitgliedstaat.
Diesem Grundsatz folgend, wird auch das Verhältnis der DS-GVO zum deutschen
Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)8 deutlich, wonach gem. § 1 Abs. 5 BDSG die Vor-
schriften des nationalen Gesetzes keine Anwendung finden, soweit das Recht der EU
unmittelbar gilt. Diese Regelung entspricht dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs
des EU-Rechts und hat damit eine deklaratorische Wirkung. Besonders für die DS-GVO
ist es jedoch, dass sie in Form einer sog. „Grundverordnung“ als Hybrid zwischen einer
Richtlinie und einer Verordnung gesehen wird, die im Vergleich zu einer herkömmlichen
Verordnung nicht zwangsläufig gewährleistet, dass die durch sie getroffenen Regelungen
einen Sachverhalt auch abschließend decken.9 Die DS-GVO enthält damit mehr als 70
sog. Öffnungsklauseln, die es den Mitgliedstaaten erlauben, die Bestimmungen dieser
Verordnung auszugestalten, d. h. die mitunter sehr komplexen Regelungen der DS-GVO
zu konkretisieren und an ihren nationalen datenschutzrechtlichen Traditionen festzu-
halten.10 Im Allgemeinen orientieren sich datenschutzrechtliche Fragen jedoch mit
Inkrafttreten der DS-GVO nach diesem europäischen Rechtsakt.
Die Frage, wann die DS-GVO Anwendung findet, lässt sich anhand des sachlichen und
des räumlichen Anwendungsbereichs beantworten.
Der sachliche Anwendungsbereich der DS-GVO ist gem. Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2
Abs. 1 DS-GVO bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten natürlicher Personen
eröffnet, unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder des Aufenthalts- bzw. Wohn-
ortes der natürlichen Person.11 Sie gilt hingegen nicht für die Verarbeitung von Daten
juristischer Personen (z. B. von Gesellschaften wie etwa einer GmbH oder AG).12 Die
Verordnung richtet sich jedoch an all diejenigen, obgleich juristische oder natürliche
8 Bundesdatenschutzgesetz vom 30. Juni 2017 (BGBl. I S. 2097), das durch Artikel 10 des Grund-
gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858) geändert worden ist.
9 Guys/Eichenhofer in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, § 1 Rn. 32.
10 ebd.
12 ebd.
502 E. Ghazari-Arndt
Personen, die in der Lage sind, personenbezogene Daten zu verarbeiten.13 Der Begriff
der „Verarbeitung“ wird dabei in Art. 4 Nr. 2 DS-GVO definiert.
u „Verarbeitung“ meint „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren aus-
geführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personen-
bezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die
Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Ver-
wendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der
Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen
oder die Vernichtung“.
Hinsichtlich der Datenverarbeitung gilt nach Art. 2 Abs. 1 DS-GVO, dass die Ver-
arbeitung entweder ganz oder teilweise automatisiert bzw. nichtautomatisiert sein
muss. Der Begriff der Automatisierung ist dabei weit zu verstehen. Automatisierte Ver-
arbeitungen sind daher solche, die automatisierte Mittel verwenden, d. h. „sämtliche
heute gebräuchlichen rechnergestützten Verarbeitungen personenbezogener Daten“,14
bzw. „alle Verfahren, bei denen ein Datenverarbeitungsvorgang anhand eines vor-
gegebenen Programms ohne weiteres menschliches Zutun selbständig erledigt wird“.15
Dabei ist die Digitalisierung der verarbeiteten Daten eine hinreichende, aber keine not-
wendige Bedingung der Automatisierung.16
Beispiel
13 vgl. in etwa Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 5 Rn. 1; vgl. dazu auch die
Definition des Verantwortlichen i. S. d. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO.
14 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 2 Rn. 3.
16 ebd.
u Personenbezogene Daten meint alle Informationen, die sich auf eine identifizierte
oder identifizierbare natürliche Person beziehen.
Dabei ist jede lebende Person eine natürliche Person im Sinne der DS-GVO, die in der
Verordnung als „betroffene Person“ bezeichnet wird. Die personenbezogenen Daten
Verstorbener fallen hingegen nicht darunter; die Mitgliedstaaten können jedoch Vor-
schriften für die Verarbeitung personenbezogener Daten Verstorbener gesondert vor-
sehen.21 Zudem wird durch eine weite Auslegung des Begriffs „natürliche Person“ in
der Literatur davon ausgegangen, dass der Datenschutz auch bereits beim Nasciturus
ansetzt.22
u Als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die gem. Art. 4 Nr. 1 DS-
GVO „direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie
einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder
zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physio-
logischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität
dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann“.
Beispiel
Die bloße Entfernung von Identifikationsmerkmalen wie etwa Name oder Personal-
nummer genügt beispielsweise nicht.28 Ausreichend wäre aber zum Beispiel, dass der
Personenbezug derart aufgehoben wird, dass auch eine Re-Identifizierung praktisch
unmöglich wird, weil der Personenbezug nur mit einem unverhältnismäßigen Auf-
wand an Zeit und Kosten wiederhergestellt werden kann.29 ◄
23 „Pseudonymisierung“ meint „die Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, dass die
personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezi-
fischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen
gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die
gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren
natürlichen Person zugewiesen werden“, vgl. Art. 4 Nr. 5 DS-GVO.
24 Klabunde in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 4 Rn. 19.
Der räumliche Anwendungsbereich der DS-GVO wird durch Art. 3 DS-GVO bestimmt.
Ganz allgemein muss die Datenverarbeitung im Sinne der Verordnung einen hin-
reichenden Unionsbezug aufweisen, um dem Schutzbereich der DS-GVO zu unter-
fallen.31 Insofern ist die DS-GVO nach dem sog. Sitzlandprinzip gem. Art. 3 Abs. 1
DS-GVO anwendbar, soweit diese Verarbeitung im Rahmen der Tätigkeiten einer
Niederlassung einer oder eines Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiterin bzw. Auf-
tragsverarbeiters in der Union erfolgt, unabhängig davon, ob die Verarbeitung in der
Union stattfindet oder außerhalb der Union.32 Demzufolge stellt die DS-GVO bei der
Frage ihrer Anwendbarkeit weder auf den Ort der Verarbeitung noch auf den Ort der
personenbezogenen Daten ab; allein das Vorhandensein einer EU-Niederlassung, in
deren Rahmen die Datenverarbeitung erfolgt, ist ausschlaggebend für die Anwendbar-
keit.33
Neu ist hingegen die Einführung des sog. Marktortprinzips, wonach die Grund-
verordnung gem. Art. 3 Abs. 2 DS-GVO anwendbar ist, wenn ein:e nicht EU-
Niedergelassene:r personenbezogene Daten von in der EU befindlichen betroffenen
Personen verarbeitet, um diesen Personen Waren oder Dienstleistungen anzubieten oder
deren Verhalten zu beobachten.34 Dabei kommt es auf den tatsächlichen Ort der Daten-
verarbeitung (z. B. den Ort der Server) nicht an.35 Die DS-GVO soll schlicht immer
auch dann gelten, wenn Unternehmen mit Sitz in einem Drittland Waren oder Dienst-
leistungen in der EU anbieten oder das Verhalten von Privatpersonen in der EU ver-
folgen.36
Der Wille des europäischen Gesetzgebers ist es zum einen, einen umfassenden Schutz
der Rechte von natürlichen Personen, die sich in der Union befinden, zu gewährleisten,37
aber auch Wettbewerbsbedingungen für EU- und Nicht-EU-Unternehmen zu schaffen,
um Wettbewerbsverzerrungen zwischen EU- und Drittstaatsunternehmen, die aber in der
EU tätig sind oder Verbraucher in der EU als Zielgruppen haben, zu vermeiden.38
Die DS-GVO findet gem. Art. 3 Abs. 3 DSGVO ferner auch dann Anwendung, wenn
nach den Regelungen des Völkerrechts das Recht eines Mitgliedstaates anwendbar ist,
auch wenn der oder die Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter:in in einem Drittstaat
34 Zerdick in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO, Art. 3 Rn. 13; Borges in: Borges/Hilber, BeckOK IT-
Treu und
Glauben
Rechen-
Trans-
schas-
parenz
pflicht
Integrität
und DS-GVO Zweck-
Vertrau- Grundsätze bindung
lichkeit
Speicher- Daten-
begren- mini-
zung mierung
Daten-
richgkeit
sitzt.39 Von diesen Vorgaben sind gem. dem Erwägungsgrund Nr. 25 der Verordnung ins-
besondere diplomatische und konsularische Vertretungen von Mitgliedstaaten im Aus-
land betroffen.40
In Art. 5 DS-GVO sind die Grundsätze (Abb. 31.1) für die Verarbeitung personen-
bezogener Daten geregelt, die Grundbedingung für jede Datenverarbeitung darstellen.41
Beispiel
Der Einsatz und die Verwendung verborgener Techniken wie etwa einer Spyware
dürfte bei der Verarbeitung personenbezogener Daten diesen Grundsätzen wider-
sprechen.45 ◄
Zweckbindungsprinzip
Auch das Erfordernis, dass die personenbezogenen Daten nur für festgelegte Zwecke
erhoben werden dürften, stellt einen Grundsatz im Rahmen der Verarbeitung dar. Dem-
entsprechend müssen personenbezogene Daten gem. Art. 5 Abs. 1 lit. b) DS-GVO „für
festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer
mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden“. Dieses
Zweckbindungsprinzip stellt im Datenschutzrecht einen zentralen Grundsatz dar,46 weil
sich danach z. B. die Erforderlichkeit der Verarbeitung, die Rechtsgrundlagen sowie die
Informationspflichten ausrichten.47
Datenminimierungsgrundsatz
An dem Zweckbindungsprinzip anknüpfend müssen gem. Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS-GVO
personenbezogene Daten „dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die
Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein“. Der nunmehr damit auch
angesprochene Grundsatz der Datenminimierung führt zu einer weiteren Eingrenzung
des Datenverarbeitungsvorgangs, weil die Datenverarbeitung auf das absolute Minimum
51 Nach Art. 4 Nr. 4 DS-GVO bedeutet Profiling „jede Art der automatisierten Verarbeitung
personenbezogener Daten, die darin besteht, dass diese personenbezogenen Daten verwendet
werden, um bestimmte persönliche Aspekte, die sich auf eine natürliche Person beziehen, zu
bewerten, insbesondere um Aspekte bezüglich Arbeitsleistung, wirtschaftliche Lage, Gesundheit,
persönliche Vorlieben, Interessen, Zuverlässigkeit, Verhalten, Aufenthaltsort oder Ortswechsel
dieser natürlichen Person zu analysieren oder vorherzusagen“.
52 Schantz in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 5. Rn. 27.
55 „Verantwortlicher“ i. S. d. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO ist „die natürliche oder juristische Person,
Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke
und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet […]“.
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 509
worden und besagt, dass personenbezogene Daten in einer Weise verarbeitet werden
müssen, die eine angemessene Sicherheit der Daten gewährleistet.56 Dazu gehört bei-
spielsweise auch, „dass Unbefugte keinen Zugang zu den Daten haben und weder die
Daten noch die Geräte, mit denen diese verarbeitet werden, benutzen können“.57
Rechenschaftspflicht
In Art. 5 Abs. 2 DS-GVO wird schließlich noch die Rechenschaftspflicht geregelt,
die besagt, dass der oder die Verantwortliche für die Einhaltung der vorgenannten
Grundsätze verantwortlich ist und deren Einhaltung nachweisen muss. Art. 24 DS-
GVO konkretisiert diese Verantwortung und besagt, dass es in erster Linie „geeignete
technische und organisatorische Maßnahmen“ sind, durch die sichergestellt werden soll,
dass die Verarbeitung gemäß den Vorgaben der DS-GVO erfolgt.58
All diese Grundsätze der DS-GVO vorangestellt, werden die Konfliktpunkte, die
bei der Anwendung der DS-GVO im Bereich Digital Marketing entstehen, deut-
lich. Auf der einen Seite bieten riesige Datenmengen (Stichwort: Big Data) gute
Möglichkeiten, um positiv Einfluss auf das Digitale Marketing zu nehmen, z. B.
durch intelligente Analysen und die Zusammenführung von Datenmassen der Inter-
netuser, auf der anderen Seite stehen die Grundsätze der DS-GVO, wie etwa der
Grundsatz der Datenminimierung und das Zweckbindungsprinzip, die dem Ganzen
schnell Grenzen setzen.59 Auch ist im Bereich Digital Marketing für die Nutzer von
Social Media beispielsweise nicht immer eindeutig ersichtlich, für welche einzelne
Marketingstrategien, auf Grundlage welcher Kooperationen und für wie lange die
erhobenen Daten im Ergebnis genutzt bzw. gespeichert werden sollen.60 Damit
könnten Handlungen in diesem Bereich sowohl dem Zweckbindungsprinzip als
auch dem Grundsatz der Speicherbegrenzung widersprechen.61 Insofern ist es für
den Einzelfall unumgänglich, die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von personen-
bezogenen Daten genau zu prüfen. ◄
Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine
der in Art. 6 Abs. 1 lit. a) bis f) DS-GVO genannten Bedingungen erfüllt ist. Damit ist
Art. 6 DS-GVO die zentrale Vorschrift in diesem Bereich und statuiert in Abs. 1 lit. a),
dass die Verarbeitung rechtmäßig ist, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung zur
Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere
bestimmte Zwecke gegeben hat. Über diesen Verwendungszweck muss die betroffene
Person gem. Erwägungsgrund Nr. 42 der DS-GVO entweder vorher oder bei der Ein-
holung der Einwilligung i. S. d. Art. 13 ff. DS-GVO informiert werden.62 Zudem
enthalten Art. 7 und 8 DS-GVO weitere Bestimmungen und Bedingungen für die Ein-
willigung, sodass aufgrund der gestiegenen Anforderungen an die Wirksamkeit der Ein-
willigung vermehrt empfohlen wird, die Verarbeitung personenbezogener Daten für
Werbezwecke auf berechtigte Interessen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO zu
stützen.63 Danach ist die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, sofern die
Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des oder der Verantwortlichen
oder einer oder eines Dritten erforderlich ist und nicht die Interessen oder Grundrecht
und Grundfreiheiten der betroffenen Person überwiegen. Ob ein berechtigtes Interesse
vorliegt, ist auf Grundlage der Zweckbestimmung zu bestimmen, wonach rechtliche,
wirtschaftliche oder ideelle Interessen in Betracht kommen könnten.64 Die Norm enthält
damit die zentrale Interessenabwägungsklausel der DS-GVO und rechtfertigt die Daten-
verarbeitung im Wege einer Interessenabwägung zwischen dem oder der Verantwort-
lichen und dem oder der Betroffenen.65
Beispiel
65 Albers/Veit in: Brink/Wolff, BeckOK DS-GVO, Art. 6 Rn. 63; Borges/Steinrötter in: Borges/
Die unweigerliche Folge eines Verstoßes gegen die DS-GVO ist zum einen ein persön-
liches Recht auf Schadensersatz (vgl. Art. 82 DS-GVO), aber auch die Verhängung
von Geldbußen, die gem. Art. 83 Abs. 1 DS-GVO „wirksam, verhältnismäßig und
abschreckend“ sein müssen mit einer maximalen Grenze, die bei 20 Mio. Euro bzw. bei
bis zu 4 % des gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des Unternehmens liegt, je
nachdem, welcher Wert der höhere ist.71 Dementsprechend musste zum Beispiel das
Unternehmen H&M72 in Deutschland bereits eine sehr hohe Geldbuße von etwa 35 Mio.
EUR zahlen, weil es personenbezogene Daten seiner Mitarbeiter unbefugt gespeichert
hatte.73 Auch das Unternehmen Amazon74 in Frankreich, das Cookies ohne Einwilligung
der Nutzer gesetzt hatte, zahlte im Ergebnis eine Geldbuße in Höhe von 35 Mio. EUR.75
67 Bierekoven in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, Teil XI, Kap. 1 Rn. 89;
69 ebd.
70 Bierekoven in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, Teil XI, Kap. 1 Rn. 89.
71 Gola in: Gola, DS-GVO, Art. 83 Rn. 22; Hakenberg, Wege zu besserer Normbefolgung im
holm.
73 Hakenberg, Wege zu besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonder-
Washington, USA.
75 Hakenberg, Wege zu besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonder-
Zuständig für die Verhängung der Geldbußen sind jedoch auch weiterhin die nationalen
Aufsichtsbehörden (vgl. Art. 55 DS-GVO).
Ausblick
Auch wenn insbesondere mit Art. 6 Abs. 1 lit. f) DS-GVO eine Grundlage für die
Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten durch
verschiedene Techniken im Bereich Digital Marketing geschaffen wurde, so wird
zunehmend auch die Rechtsunsicherheit in diesem Bereich beklagt. Zum einen
wird beispielsweise kritisiert, dass obwohl ein in der Praxis relevanter Fall der
Weiterverarbeitung personenbezogener Daten die „Big-Data-Analysen“ sind und
diese eine zentrale Herausforderung des Datenschutzes im 21. Jahrhundert bilden,
„Big Data“ dennoch keine Erwähnung in der DS-GVO findet.76 Zum anderen
wird vorgebracht, dass die derzeitige Rechtslage für den Einsatz von Cookies
und Tracking so unübersichtlich sei, dass es in der Praxis zu erheblichen Rechts-
unsicherheiten führt.77 Vor diesem Hintergrund wird derzeit auch zunehmend die
sog. E-Privacy-VO78 diskutiert, die spezifische Regelungen für den Bereich der
elektronischen Kommunikation einführen, die allgemeine Regelungen der DS-
GVO präzisieren und ergänzen sowie den Schutz der Privatsphäre und die Ver-
arbeitung von Daten mit und ohne Personenbezug vereinheitlichen soll.79 Die
Entwicklungen im Datenschutzrecht sind demnach gewiss nicht stagnierend,
sodass mit Blick auf die technischen Entwicklungen auch die Einführung von
datenschutzrechtlichen Ergänzungen erwartet wird.
Literatur
Auer-Reinsdorff, Astrid/Conrad, Isabell. (Hrsg.). Handbuch IT- und Datenschutzrecht (3. Aufl.,).
C. H. Beck. (zitiert: Verfasser:In in: Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutz-
recht).
Borges, Georg/Hilber, Marc. (Hrsg.). BeckOK IT-Recht, 5. Ed., Stand: 01.01.2022, C. H. Beck.
(zitiert: Verfasser:In in: Borges/Hilber, BeckOK IT-Recht).
76 vgl.näher dazu Schulz in: Gola, DS-GVO, Art. 6 Rn. 254, 255.
77 Schumacher/Sydow/von Schönfeld, Cookie Compliance, quo vadis?, MMR 2021, 603 (603).
78 Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten in der
elektronischen Kommunikation und zur Aufhebung der RL 2002/58/EG, COM (2017) 10 final,
2017/0003 (COD) vom 10.01.2017 (E-Privacy-VO-E).
79 Schumacher/Sydow/von Schönfeld, Cookie Compliance, quo vadis?, MMR 2021, 603 (605).
31 Die DS-GVO im Lichte des digitalen Marketings 513
Brink, Stefan/Wolff, Heinrich Amadeus. (Hrsg.). BeckOK Datenschutzrecht, 38. Ed., Stand:
01.11.2021. C. H. Beck. (zitiert: Verfasser:In in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht).
Caldarola, Maria Cristina/Schrey, Joachim. (2019). Big Data und Recht, Einführung für die Praxis,
C. H. Beck. (zitiert: Caldarola/Schrey, Big Data und Recht).
Ehmann, Eugen/Selmayr, Martin (Hrsg.) (2018). DS-GVO, Datenschutzgrundverordnung,
Kommentar (2. Auf.,). C. H. Beck. (zitiert: Verfasser:In in: Ehmann/Selmayr, DS-GVO).
Forgó, Nikolaus/Helfrich, Marcus/Schneider, Jochen (Hrsg.) (2019). Betrieblicher Datenschutz,
Rechtshandbuch (3. Aufl.,). C. H. Beck (Verfasser:In in: Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieb-
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KI-gestützter Kommunikations-Tools und Profiling-Maßnahmen, Zeitschrift für Datenschutz
(ZD), Heft 8/2019 (zitiert: Grausling, Künstliche Intelligenz im digitalen Marketing, ZD 2019).
Gola, Peter (Hrsg.) (2018). Datenschutz-Grundverordnung, Kommentar (2. Aufl.,). C. H. Beck
(zitiert: Verfasser:In in: Gola, DS-GVO).
Hakenberg, Waltraud, Wege zu besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, Zeit-
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besserer Normbefolgung im europäischen Wirtschaftsrecht, ZEuS Sonderband 2021).
Hoffmann, Raphael/Schmidt, Facebook-Profiling zu Marketingzwecken – datenschutzkonform?,
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR), Heft 5/2021 (zitiert: Hoffmann/
Schmidt, Facebook Profiling zu Marketingzwecken – datenschutzkonform?, GRUR 2021).
Remmertz, Frank, DSGVO ante portas: Aktuelle Brennpunkte im Online-Marketing, Gewerblicher
Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis im Immaterialgüter und Wettbewerbsrecht (GRUR
Prax), Heft 11/2018 (zitiert: Remmertz, DSGVO ante portas: Aktuelle Brennpunkte im Online-
Marketing, GRUR Prax 2018).
Schumacher, Pascal/Sydow, Lennart/von Schönfeld, Max, Cookie Compliance, quo vadis?, Daten-
schutzrechtliche Perspektiven für den Einsatz von Cookies und Webtracking nach TTDSG und
ePrivacy-VO, Multimedia und Recht (MMR), Heft 8/2021 (zitiert: Schumacher/Sydow/von
Schönfeld, Cookie Compliance, quo vadis?, MMR 2021).