შესავალი ნარატოლოგიაში
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შესავალი ნარატოლოგიაში
Michael Scheffel
Einführung in die
Erzähltheorie
C.H.Beck
Für F. M. B.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
a) Ordnung (In welcher Reihenfolge?) . . . . . . . . . . . 34
b) Dauer (Wie lange?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
c) Frequenz (Wie oft?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2. Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
a) Distanz (Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?) . 50
Erzählung von Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . 52
Erzählung von Worten und Gedanken . . . . . . . . . 54
b) Fokalisierung (Aus welcher Sicht wird erzählt?) . . . . 67
3. Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
a) Zeitpunkt des Erzählens (Wann wird erzählt?) . . . . . 73
b) Ort des Erzählens (Auf welcher Ebene wird erzählt?) . 79
c) Stellung des Erzählers zum Geschehen (In welchem
Maße ist der Erzähler am Geschehen beteiligt?) . . . . 85
d) Subjekt und Adressat des Erzählens (Wer erzählt wem?) 89
1. Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
a) Ereignis – Geschehen – Geschichte . . . . . . . . . . . 113
b) Motivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
c) Die doppelte Zeitperspektive des Erzählens . . . . . . 125
d) Handlungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
3. Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4. Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
a) Diegetischer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
b) Semantisierung des Raums (Lotmans Konzept der
Grenzüberschreitung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Die Erzähltheorie gehört seit den frühen sechziger Jahren zu den zen-
tralen Anliegen der internationalen Literaturwissenschaft. Damals ent-
standen die maßgeblichen Entwürfe im Rahmen des Strukturalismus
und der Semiotik. Zur selben Zeit wurden wichtige ältere Arbeiten
(von Michail Bachtin, Vladimir Propp, den Russischen Formalisten)
durch erste Übersetzungen in die westliche Diskussion eingeführt. In
den folgenden Jahren kamen zahlreiche Termini und Systeme für die
Analyse erzählender Texte auf, die eine schwer überschaubare Konkur-
renz alternativer Methoden, Begriffe und Nomenklaturen entstehen
ließen – auch wenn sich die zugrundeliegenden Einsichten der Sache
nach häufi g ähnelten. Viele Beiträge stützten sich zudem auf Modelle
und Paradigmen, die inzwischen in den Hintergrund der literaturwis-
senschaftlichen Diskussion gerückt sind. Diese Entwicklung führte zu
der unbefriedigenden Situation, dass sich die Erzähltheorie zwar im
Bewusstsein des Faches und in den Lehrplänen der philologischen Stu-
diengänge und der gymnasialen Oberstufe als eine der wenigen Grund-
lagendisziplinen der Literaturwissenschaft – neben der Metrik, Rhe-
torik und Stilistik – etablieren konnte, sie aber bis heute weder eine
einheitliche Begriffl ichkeit noch eine überzeugende Systematik hervor-
gebracht hat. In den letzten Jahren ist nun zu beobachten, dass sich
die Forschungsdiskussion im Zuge der allgemeinen Hinwendung der
Philologien zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen verlangsamt hat.
Das scheint uns ein geeigneter Moment zu sein, um die vorgelegten
Ansätze für eine möglichst umfassende und relevante Theorie des lite-
rarischen Erzählens kritisch auszuwerten und dabei auf Einsichten auf-
merksam zu machen, die bislang nicht zum narratologischen Main-
stream gehören. Auch die Öffnung der Literaturwissenschaften
gegenüber anderen Disziplinen soll in diesem Zusammenhang berück-
sichtigt werden, denn einige der interessantesten Beiträge der letzten
Jahre zum Phänomen des Erzählens sind in der Soziolinguistik, der
Kognitionspsychologie, der Anthropologie und der Geschichtswissen-
schaft zu fi nden.
8 Vorwort
Für die zehnte Auflage wurden kleinere Versehen korrigiert und in ge-
gebenem Ausmaß die Angaben zur Forschungsliteratur aktualisiert.
Frau Maria Blechmann-Antweiler und Frau Gabriella Paterson danken
wir für hilfreiche Verbesserungshinweise.
schied und für fiktiv erklärte. Diesem Prozess entsprechen zwei gegen-
sätzliche Beurteilungen des Geschäftes der Dichter. Innerhalb der abend-
ländischen Kultur lässt sich ihr Einfl uss bis in die Gegenwart hinein
beobachten. Auf der einen Seite steht der auf Platon zurückgehende Vor-
wurf, dass Dichtung nichts als Täuschung und insofern überfl üssig,
wenn nicht gar schädlich sei – konsequenterweise wollte Platon die
Dichtung aus dem in seiner Schrift Der Staat (Politeia, um 370 v. Chr.)
entworfenen Idealstaat ausschließen (s. 2., 3. u. 10. Buch, bes. 398a u.
595a-607b). Auf der anderen Seite gibt es die erstmals von Aristoteles
vertretene These, dass die Dichtung nützlich und notwendig sei: Sie kul-
tiviere den Trieb zur Nachahmung – den Aristoteles als einen Urtrieb des
Menschen ansieht (Poetik, 1448b) –, und sie sei «etwas Philosophische-
res und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung», weil sie nicht, wie der
Geschichtsschreiber, «das Besondere» (also diesen oder jenen kontin-
genten historischen Einzelfall), sondern «mehr das Allgemeine» mitteile,
indem ihre Geschichten «nach der Wahrscheinlichkeit» und «nach der
Notwendigkeit» gebaut seien und damit allgemeine Prinzipien mensch-
lichen Handelns zu erkennen erlaubten (Poetik, 1451b).
Die Frage nach dem Wert der Dichtung, die, wie man wiederholt
behauptet hat, zwar nichts Wirkliches darstelle, wohl aber eine beson-
dere ‹Wahrheit› kundtue, wollen wir hier nicht weiter untersuchen. Für
unsere Zwecke sei allein das Verhältnis von ‹Dichten› und ‹Lügen› nä-
her betrachtet und verfolgt, mit welchen Argumenten sich die Dichter
gegen den Vorwurf der Lüge verteidigt haben. Schon die griechischen
Dichter haben diesem Vorwurf den Boden zu entziehen versucht, in-
dem sie den Fiktionscharakter ihrer Werke in diesen selbst offen ein-
gestanden. So beginnt z. B. Lukian das erste Buch seiner Wahren
Geschichten (um 180 n. Chr.) mit einer Vorrede, in der er sich wie folgt
von den Erzählungen seiner Kollegen abzugrenzen versucht:
Da ich nun der Eitelkeit nicht widerstehen kann, der Nachwelt auch ein
Werkchen von meiner Fasson zu hinterlassen, und wiewohl ich nichts
wahres zu erzählen habe, (denn mir ist in meinem Leben nichts denk-
würdiges begegnet) nicht sehe warum ich nicht eben so viel Recht zum
Fabeln haben sollte als ein andrer: so habe ich mich wenigstens zu einer
ehrenfestern Art zu lügen entschlossen als die meiner Herrn Mitbrüder
ist; denn ich sage doch wenigstens Eine Wahrheit, indem ich sage daß ich
lüge; und hoffe also um so getroster, wegen alles übrigen unangefochten
zu bleiben, da mein eignes freywilliges Geständniß ein hinlänglicher Be-
weis ist, daß ich niemanden zu hintergehen verlange. Ich urkunde also
1. Faktuales und fiktionales Erzählen 15
hiemit, daß ich mich hinsetze um Dinge zu erzählen, die mir nicht begeg-
net sind; Dinge, die ich weder selbst gesehen noch von andern gehört
habe, ja, was noch mehr ist, die nicht nur nicht sind, sondern auch nie
seyn werden, weil sie – mit Einem Worte – gar nicht möglich sind, und
denen also meine Leser (wenn ich anders welche bekommen sollte) nicht
den geringsten Glauben beyzumessen haben. (S. 88 f.)
(…) I think truly, that of all writers under the sun the Poet is the least
liar, and though he would, as a poet can scarcely be a liar. (…) the Poet,
he nothing affi rms, and therefore never lieth. For, as I take it, to lie, is to
affi rme that to be true, which is false. So as the other artists, and espe-
cially the historian, affi rming many things, can, in the cloudy knowledge
of mankind, hardly escape from many lies. But the Poet (as I said before)
never affi rmeth, the Poet never maketh any circles about your imagina-
tion, to conjure you to believe for true what he writes: he citeth not
authorities of other histories, but even for his entry, calleth the sweete
Muses to inspire into him a good invention; In truth, not labouring to
tell you what is or is not, but what should or should not be. And there-
fore, though he recount things not true, yet because he telleth them not
for true, he lieth not (…). (Defence, S. 52 f.)
oder Täuschen. Mit modernen Worten: Die Werke der Dichter sind
fi ktional in dem Sinne, dass sie grundsätzlich keinen Anspruch auf
unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d. h. Verwurzelung in einem em-
pirisch-wirklichen Geschehen erheben; wovon sie handeln, das ist –
mehr oder minder – fi ktiv, aber nicht fi ngiert. (Wir unterscheiden die
verwandten Begriffe ‹fingiert›, ‹fi ktional› und ‹fi ktiv› folgendermaßen:
Fingieren verwenden wir im Sinne von ‹[vor]täuschen›. Fiktional steht
im Gegensatz zu ‹faktual› bzw. ‹authentisch› und bezeichnet den prag-
matischen Status einer Rede. Fiktiv steht im Gegensatz zu ‹real› und
bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten.)
Sidneys These, dass Dichtung die Rede eines Dichters und die Rede
des Dichters in der Dichtung eine besondere, nämlich nicht-behaup-
tende Rede ohne unmittelbare Referenz in der Wirklichkeit sei, haben
neuzeitliche Theoretiker in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und
ihre Implikationen auf der Grundlage aussagentheoretischer, seman-
tischer und pragmatischer Ansätze begriffl ich differenzierter zu formu-
lieren versucht. In diesem Zusammenhang hat man auch den alten aris-
totelischen Gedanken, dass das in der Dichtung Dargestellte ‹fi ktiv›
und die Dichtung selbst ‹Nachahmung› von Handlungen sei, neu inter-
pretiert. So hat z. B. die amerikanische Literaturtheoretikerin Barbara
Herrnstein Smith die vielbeachtete These aufgestellt, dass Dichtung in
erster Linie nicht Nachahmung (d. h. Mimesis) von Welt, sondern von
Rede darstelle. «The essential fi ctiveness of novels», schreibt Smith,
niemand je geäußert hat und die sich auf keine außersprachliche Wirk-
lichkeit bezieht. Eine solche Sichtweise scheint einleuchtend, erfasst
jedoch nur die halbe Wahrheit, denn sie unterschlägt, was ganz offen-
sichtlich zur adäquaten Rezeption nicht nur dieses Romans, sondern
von Dichtung überhaupt gehört: Soll sie ihre Wirkung entfalten kön-
nen, müssen wir ihre Rede als die authentische (wenn auch fi ktive)
Rede eines bestimmten (wenn auch fi ktiven) Sprechers verstehen, die
nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch z. T. fi ktive) Dinge
referiert. In diesem Sinne bedeutet etwa die klassische Eingangsformel
‹Es war einmal› am Beginn eines Märchens wie «Es war einmal ein
Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter» für uns als
Rezipienten eben nicht nur ‹Glauben Sie nichts von dem, was Sie im
Folgenden hören bzw. lesen›, sondern immer auch so viel wie die Auf-
forderung: ‹Stellen Sie sich bitte vor, dass einmal ein Müller war, etc.›
Wer die Sätze der Blechtrommel als die Erinnerungen einer realen Per-
son versteht, nach Oskars Geburtshaus in einer Straße mit dem histori-
schen Namen Labesweg in Danzig sucht und Oskars Erzählung als
Ganzes oder auch nur in Teilen (wie z. B. die Geschichte von der ver-
geblichen Verteidigung der Polnischen Post) auf ihre historische Wahr-
haftigkeit hin überprüft, verwechselt die Geschäftsgrundlage und liest
einen Roman nach den pragmatischen Regeln einer realen Autobiogra-
phie. Wer sich aber in keinerlei Hinsicht die Existenz eines Trommlers
namens Oskar und die Echtheit seiner Erzählung vorstellt, kommt
nicht ins Spiel und bringt sich selbst um sein Lesevergnügen.
Bevor wir nun darauf zu sprechen kommen, welche Konsequenzen
die dargelegten Spezifika fi ktionaler Rede für eine literaturwissenschaft-
liche Theorie des Erzählens haben, sei noch eine letzte wichtige Frage
geklärt: Wie erkennt man, dass eine Rede in dem oben skizzierten Sinne
rezipiert werden soll?
Sidneys These, dass die Rede des Dichters in der Dichtung eine be-
sondere Form von Rede sei, hat unterdessen auch insofern eine Spezifi-
zierung erfahren, als der Begriff der literarischen Fiktion (samt seiner
Ableitungen) heute gemeinhin als ein relativer oder auch relationaler
verstanden wird (z. B. Gabriel, Fiktion, bes. S. 30). Fiktional ist ein
Text demnach nicht an und für sich, sondern in einem bestimmten his-
torischen und sozialen Kontext, d. h. er ist fi ktional für ein Individuum,
eine Gruppe, eine Gesellschaft, in einer bestimmten Situation, in einer
bestimmten Epoche. Erst als einem pragmatisch als fi ktional bestimm-
ten und rezipierten Text kommen ihm die Eigenschaften zu, die bereits
18 I. Merkmale fiktionalen Erzählens
1
Mit gutem Grund grenzt Searle die fi ktionale Verwendung von Wörtern von der
Lüge ab, denn die Lüge – und mit dieser Argumentation widerspricht Searle erklärter-
maßen Ludwig Wittgensteins Behauptung, Lügen sei ein Sprachspiel, das gelernt sein
wolle wie jedes andere – besteht in dem bloßen Verstoß gegen eine der Regeln für den
Vollzug von Sprechakten (und für einen solchen Verstoß bedarf es keiner eigenen Kon-
ventionen, denn jede Regel enthält bereits die Möglichkeit eines Verstoßes). Die Fiktion
hingegen, so argumentiert Searle, ist insofern raffi nierter, als das hier praktizierte Vorge-
ben illokutionärer Akte eigenen, nichtsemantischen Konventionen folgt.
1. Faktuales und fiktionales Erzählen 19
Eine Erzählung stellt eine Form der Rede dar, dank derer jemand je-
mandem ein Geschehen vergegenwärtigt – dieses Vorverständnis vom
Gegenstand einer Theorie des Erzählens hatten wir mit Hilfe eines
Wörterbuchs der deutschen Sprache formuliert. Wir wollen nun dieses
Vorverständnis mit Bezug auf die Besonderheit des fi ktionalen Erzäh-
lens präzisieren.
Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das
reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sät-
zen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsäch liche
Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind
ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer
Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden.
Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der
realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunika tionssituation
angehören. Die fi ktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären
als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt daher eine «kom-
munizierte Kommunikation» dar (Janik, Kommunikationsstruktur,
S. 12). Wie wir oben gesehen haben, traf bereits vor vier Jahrhunderten
Sir Philip Sidney die Feststellung, dass der Autor eines fi ktionalen Textes
20 I. Merkmale fiktionalen Erzählens
2
Dass B. H. Smith die Möglichkeit einer Unterscheidung von Erzählen und Er-
zähltem für den Fall des fiktionalen Erzählens leugnet, ist eine sachlich unbefriedigende
Konsequenz aus der Tatsache, dass ihr oben vorgestellter Ansatz den im realen Rezep-
tionskontext präsenten imaginären Kontext der fi ktionalen Rede ignoriert (s. dies., Ver-
sions; kritisch dazu Goodman, Telling, und Chatman, Reply). Auch Hamburgers vielzi-
tierte Bestimmung des Verhältnisses von Erzähltem und Erzählen im Sinne eines
«Funktionszusammenhangs» (Logik, bes. S. 121 ff.) berücksichtigt allein einen fiktions-
externen Standpunkt und unterschlägt die erzähllogische Konsequenz aus ihrer andern-
orts vorgenommenen Bestimmung der Fiktion als «Schein von Wirklichkeit» (ebd., S. 5)
im Sinne einer imaginären Objektivität.
3
Bedingt insofern, als auch der freien Imagination Grenzen gesetzt sind, um noch
verstehbar zu bleiben. Zum Problem der «Lesbarkeit eines Kunstwerkes», die sich für ein
bestimmtes Individuum in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit nach
der Distanz zwischen dem «Emissionsniveau» des Werks, verstanden als «Grad der
immanenten Komplexität und Verfeinerung des vom Werk erforderten Codes», und dem
eigenen «Rezeptionsniveau» bemisst, s. Bourdieu, Elemente, hier zit. S. 177. Zur Bindung
des Kunstwerks an jeweils geltende ästhetischen Konventionen s. auch Eco, Botschaft.
22 I. Merkmale fiktionalen Erzählens
Die Unterscheidung zwischen dem ‹Was› und dem ‹Wie› eines Erzähl-
textes wird häufi g mit dem im Russischen Formalismus formulierten
Gegensatz von ‹fabula› und ‹sjužet› in Zusammenhang gebracht. In sei-
ner Theorie der Literatur (1925) bestimmte Boris Tomaševskij ‹fabula›
als «die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausaltemporalen
Verknüpfung» und ‹sjužet› als «die Gesamtheit derselben Motive in
derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorlie-
gen» (S. 218). In den sechziger Jahren griff der struktu ralistische Er-
zähltheoretiker Tzvetan Todorov in Frankreich das Begriffspaar der
Formalisten auf und übersetzte es mit ‹histoire vs. discours›. Durch
diese Namengebung verknüpfte Todorov die formalistischen Begriffe
mit einer Unterscheidung des französischen Linguisten Émile Benve-
niste, der damit den im Tempussystem der franzö sischen Sprache auf-
weisbaren Gegensatz zwischen Formen des Erzählens ohne (‹histoire›)
und mit (‹discours›) deutlich hervortretender Sprecherinstanz beschrie-
ben hatte (Benveniste, Relations, bes. S. 238–242). In Todorovs Defini-
tion evoziert die in einem Text erzählte Geschichte (‹histoire›)
nicht nur das Geschehen, sondern das umfassende Kontinuum der er-
zählten Welt, innerhalb dessen das Geschehen stattfi ndet. Damit geht er
über Tomaševskijs ‹fabula› hinaus, die nur die handlungsrelevanten Teile
der erzählten Welt umfasst.
Wir wollen, ohne sie zu vermischen, sowohl Tomaševskijs ‹fabula›
als auch Todorovs ‹histoire› berücksichtigen und unterscheiden deshalb
die erzählte Welt (oder Diegese)4 von dem engeren Begriff der Hand-
lung, der sich nur auf die Gesamtheit der handlungsfunktio nalen Ele-
mente der dargestellten Welt bezieht. Die andere Seite der Opposition,
also die Art und Weise der Vermittlung der erzählten Welt, bezeichnen
wir als Darstellung.
Anstelle der Opposition von fabula / histoire vs. sjužet / discours hat der
französische Erzähltheoretiker Gérard Genette eine Dreiteilung vorge-
schlagen (Erzählung, S. 15 ff. u. S. 199 ff.). Er hält an Todorovs Begriff
der Geschichte (‹histoire›) fest, die Genette als «das Signifi kat oder den
narrativen Inhalt» (Genette, Erzählung, S. 16) bestimmt. Auf der anderen
Seite der Opposition ersetzt Genette aber den von ihm als heterogen kri-
tisierten ‹discours›-Begriff durch die beiden Termini Erzählung (‹récit›)
und Narration (‹narration›). Mit ‹Erzählung› meint Genette «den Signifi-
kanten, die Aussage [‹énoncé›], den narrativen Text oder Diskurs», wäh-
rend der Begriff der ‹Narration› dem «produzierenden narrativen Akt
sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten
sein soll, in der er erfolgt» (Genette, Erzählung, S. 16).5 Für den besonde-
ren Fall des fiktionalen Erzählens ist Genettes Dreiteilung in Form eines
gleichberechtigten Nebeneinanders von ‹Geschichte›, ‹Erzählung› und
4
Der Terminus Diegese (‹diégèse›) wurde 1951 von Etienne Souriau in die Filmtheorie
eingeführt zur Bezeichnung der im Film dargestellten Welt. Gérard Genette übernahm
ihn 1972 in die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie als «das raumzeitliche Univer-
sum der Erzählung» (Genette, Erzählung, S. 313). Souriaus und Genettes ‹Diegese› darf
nicht mit dem Begriff der Diegesis verwechselt werden, mit dem Platon in seinem Dialog
Der Staat (III , 393 f.) generell die dichterische Rede bezeichnet. Als ‹einfache Diegesis›
bezeichnet Platon dort eine Redeform, in welcher der Dichter, etwa im Dithyrambus, als
er selbst spricht – im Unterschied zur Redeform der ‹Mimesis›, in welcher der Dichter,
etwa im Drama, in direkter Rede die Äußerungen von Figuren wiedergibt. Der episch-
erzählende Dichter verwendet eine Mischform von ‹einfacher Diegesis› (wie in lyrischer
Dichtung) und ‹Mimesis› (wie in dramatischer Dichtung), indem er teils selber spricht
(Erzählerrede), teils die Rede anderer Sprecher zitiert (Figurenrede).
5
Genettes Trias ‹histoire-récit-narration› kehrt mit anderen Bezeichnungen, aber der
Sache nach weitgehend unverändert, bei Rimmon-Kenan, Fiction (‹story-text-narration›)
und Bal, Narratology (‹fabula-story-text›) wieder.
2. Das Erzählen und das Erzählte 27
(6) Erzählen: Die Präsentation der Geschichte und die Art und Weise
dieser Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien (z. B. rein sprach-
liche oder audio-visuelle) und Darstellungsverfahren (z. B. Erzählsitua-
tion oder Sprachstil).
1. Ereignis 2. Gesche- 3. Ge- 4. Hand- 5. Erzäh- 6. Erzählen
(Motiv) hen schichte lungs- lung
schema
Bal, Nar- event fabula story text
ratology
Barthes, fonctions + narration narration
Einführung actions
Benveniste histoire +
discours
Chatman, event story (plot) discourse
Story
Forster event story plot
Genette, Geschichte Erzählung Narration
Erzählung (histoire) (récit) (narration)
Lämmert Geschehen Geschichte Fabel
Lotman Sujet
(Ereignis)
Pfister Geschehen Geschichte Fabel
Prince, event narrated narrating
Narratology
Propp Funktion Handlungs- Komposition Struktur
kreis
Rimmon- event story text narration
Kenan
Schmid Geschehen Geschichte Erzählung Präsen-
tation der
Erzählung
Segre motivo fabula modello intreccio discors
narrativo
Sternberg, event story fabula plot sujet
Modes
Stierle, Geschehen Geschichte Text der Ge- Text der Ge-
Geschehen schichte 1 schichte 1
(Tiefen- (Ober-
diskurs) fl ächen-
diskurs)
Todorov, événement histoire discours discours
Catégories
Toma- Motiv Chronik fabula sjužet
ševskij
White, event chronicle story plot
Metahistory
II. Das ‹Wie›: Darstellung
II. Das ‹Wie›: Darstellung
(1) Vergangenheit
Es war Mittag. Die Fahrgäste stiegen in den Autobus. Wir standen ge-
drängt. Ein junger Herr trug auf seinem Kopfe einen mit einer Kordel
und nicht mit einem Bande umschlungenen Hut. Er hatte einen langen
Hals. Er beklagte sich bei seinem Nachbarn wegen der Stöße, die dieser
ihm verabreichte. Sobald er einen freien Platz erblickte, stürzte er sich
darauf und setzte sich.
Ich erblickte ihn später vor der Gare Saint-Lazare. Er trug einen Überzie-
her, und ein Kamerad, der sich dort befand, machte diese Bemerkung:
man müßte noch einen Knopf hinzufügen. (S. 49)
(2) Rückwärts
junge Mann war Träger eines lächerlichen Hutes. Dies geschah heute
Mittag auf der Plattform eines vollbesetzten S. (S. 12)
(3) Vorhersage
Wenn Mittag kommen wird, wirst du dich auf der hinteren Plattform
eines Autobusses befi nden, auf der viele Fahrgäste zusammengepfercht
sein werden, unter denen du einen lächerlichen Jüngling bemerken wirst:
knochiger Hals und kein Band am weichen Filz. Er wird sich nicht wohl-
fühlen, der Kleine. Er wird denken, daß ein Herr ihn absichtlich anrem-
pelt, sooft Leute vorbeikommen, die ein- oder aussteigen. Er wird es ihm
sagen, aber der andere, voller Verachtung, wird nicht antworten. Und
der lächerliche Jüngling, von Panik ergriffen, wird ihm vor der Nase
davonlaufen, einem freien Platz zu.
Du wirst ihn etwas später an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-
Lazare, wiedersehen. Ein Freund wird ihn begleiten, und du wirst diese
Worte hören: ‹Dein Überzieher schlägt nicht gut übereinander, Du mußt
noch einen Knopf daran anbringen lassen.› (S. 15)
Ich habe die Ehre, Ihnen folgende Begebenheit mitzuteilen, deren ebenso
unparteiischer wie entsetzter Zeuge ich sein durfte.
Um die Mittagszeit des heutigen Tages stand ich auf der Plattform eines
Autobusses, der die Rue de Courcelles in Richtung Place Champeret hin-
auffuhr. Besagter Autobus war besetzt, ich wage sogar zu sagen, er war
überbesetzt; der Schaffner hatte ohne triftigen Grund und befeuert von
übertriebener Herzensgüte, die ihn sich über die Dienstvorschrift hinweg-
setzen ließ und folglich an Nachsicht grenzte, den Wagen mit mehreren
Antragstellern überfüllt. Das Kommen und Gehen der ein- und ausstei-
genden Fahrgäste an den einzelnen Haltestellen führte zu einem gewissen
Gedränge, das einen der Fahrgäste dazu veranlaßte, nicht ohne Schüch-
ternheit allerdings, Einspruch zu erheben. Ich muß sagen, daß er sich hin-
setzte, sobald die Sache möglich war. Ich werde meinem kurzen Bericht
noch diesen Nachtrag hinzufügen: Ich hatte Gelegenheit, diesen Fahrgast
einige Zeit später in Begleitung einer Person zu erblicken, die ich nicht zu
identifi zieren vermochte. Die sehr lebhafte Unterhaltung, die sie führten,
schien sich auf Fragen ästhetischer Natur zu beziehen. In Anbetracht die-
ser Lage bitte ich Sie, sehr geehrter Herr, mir mitteilen zu wollen, welche
Konsequenzen ich aus diesen Tatsachen zu ziehen habe und welche Hal-
tung ich nach Ihrer Ansicht in der Führung meines zukünftigen Lebens
einnehmen soll. In Erwartung ihrer geschätzten Antwort versichere ich Sie
meiner zumindest diensteifrigen Hochachtung. (S. 36)
II. Das ‹Wie›: Darstellung 31
(5) Vulgär
’S war was über Mittag, als ich in’n Ess steigen konnte. Ch steig also ein,
ch zahl meinen Platz wie sichs gehört, und schon bemerk ich da so’n be-
kloppten Stenz mit nem Hals wie’n Teleskop und ner Art Schnur umn
Deckel. Ch glotznn an, weil ich n doof fi nde, als er so Knall und Fall
anfängt, seinen Nachbarn anzuquatschen. Sagn Se mal, fauchtern an,
können Se nich aufpassen, setzer hinzu, man könnte meinen, greinter,
daß Se’s absichtlich tun, blubberter, mir die ganze Zeit auf die Quanten
ze tretn, sagter. Drauf gehter stolz wie’n Spanier weg und knallt sich hin.
Wie’n Sack.
Später komm ich wieder an der Cour de Rome vorbei, und bemerkn,
wie’r mit nem andern Stenz von seiner Sorte rumdebattiert. Sag mal, hat
der Andre gemacht, du solltest, hater gesagt, nen andern Knopf anma-
chen, hater hinzugefügt, an deinen Überzieherdingsbums, hater gemeint.
(S. 64)
Bereits die wenigen hier zitierten Beispiele geben einen Einblick, wie
grundsätzlich verschieden ein Geschehen vermittelt werden kann und
welche Bedeutung damit dem ‹Wie› einer Erzählung zukommt. Die Bei-
spiele unterscheiden sich nach dem Umfang der Erzählung (viel Erzähl-
zeit in Beispiel 4 vs. wenig Erzählzeit in den Beispielen 1 und 2), dem
Erzähltempus (Futur in Beispiel 3 vs. Präteritum in den anderen Fäl-
len), der Reihenfolge der erzählten Ereignisse in der erzählerischen
Darstellung (Umkehr der chronologischen Ereignisfolge in Beispiel 2
vs. Übereinstimmung in den anderen Fällen), der Situation und Pers-
pektive des Erzählens (Erzählung in der zweiten Person in Beispiel 3 vs.
Erzählung in der ersten Person in den anderen Fällen; eine am
Geschehen nicht beteiligte, schwer fassbare na rrative Instanz in Bei-
spiel 3 vs. ein beteiligter, mehr oder minder als leibhaftige Person pro-
fi lierter Erzähler in den anderen Fällen) und der Gestaltung des Ver-
hältnisses von Erzähler und Leser (Entwurf eines Erzählrahmens und
dementsprechend motiviertes Erzählen in Beispiel 4 vs. Fehlen eines
Erzählrahmens und dementsprechend nichtmotiviertes Erzählen in den
anderen Fällen; Ansprache eines Lesers in Beispiel 3 und 4 vs. Nichtan-
sprache in den anderen Fällen). Auch die Wiedergabe von Figurenrede
innerhalb der Erzählung erfolgt auf sehr verschiedene Weise (direkte
Rede in Beispiel 3 und 5 vs. unterschiedliche Formen der vermittelten
Rede in den übrigen Fällen), und schließlich gibt es deutliche Unter-
schiede im Sprachstil der Erzählungen (u. a. Umgangssprache in Bei-
spiel 5 vs. Hochsprache in den übrigen Fällen).
32 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Nicht alle der genannten, für das ‹Wie› einer Erzählung relevanten
Merkmale sind nun allerdings Gegenstand einer narratologischen Ana-
lyse im engeren Sinn. Fragen, die vorrangig den Sprachstil einer Erzäh-
lung betreffen (also das Sprachniveau, das verwendete Vokabular, die
syntaktische Struktur der Sätze, Bildlichkeit, Redefi guren u. ä.), sind
nicht notwendig an das Phänomen des Erzählens gebunden, sondern
betreffen die Gestaltung von Rede überhaupt. Obwohl auch diese Fra-
gen für die Analyse einer Erzählung von Bedeutung sind (so trägt etwa
in Beispiel 5 die Verwendung einer bestimmten Art von Umgangsspra-
che wesentlich zur Profi lierung einer als leibhaftige Person vorstellba-
ren Erzählerfigur bei, während die Verwendung einer neutralen Hoch-
sprache in Beispiel 1 eine solche Profilierung gerade verhindert), gehört
ihre Untersuchung in erster Linie zu den Aufgaben von Stilistik und
Rhetorik. Alle anderen Unterschiede in der Präsentation des Erzählten,
die wir an den fünf Erzählungen beobachten konnten, führen dagegen
in das Zentrum all der Probleme, mit denen sich eine Untersuchung der
Erzählform, also der Art und Weise der Darstellung eines Geschehens,
beschäftigt. Im Folgenden behandeln wir diese Probleme in einer syste-
matischen Ordnung, wie sie in ähnlicher Form bereits von Gérard Ge-
nette entwickelt worden ist (Genette, Erzählung, bes. S. 17–20). Wir
differenzieren innerhalb der Erzählebene zwischen der Erzählung (oder
auch dem ‹Text der Geschichte›, verstanden als der schriftliche oder
mündliche Diskurs, der von einem Geschehen erzählt) und dem Erzäh-
len (verstanden als der Akt, der diesen Diskurs hervorbringt), 1 und
ordnen unser Beschreibungsmodell nach drei Kategorien:
– Zeit : Das Verhältnis zwischen der Zeit der Erzählung und der Zeit des Geschehens.
– Modus : Der Grad an Mittelbarkeit und die Perspektivierung des Erzählten.
– Stimme : Der Akt des Erzählens, der das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem
Erzählten sowie das Verhältnis von erzählendem Subjekt und Leser umfasst.
1
Wobei auch dieser ‹Akt› – daran sei noch einmal erinnert – im Fall des fiktionalen
Erzählens nur eine Fiktion im Rahmen der text- und fiktionsinternen pragmatischen
Dimension des Diskurses darstellt.
1. Zeit 33
1. Zeit
1. Zeit
Wie jedes Geschehen ist auch der Akt des Erzählens selbst ein zeit liches
Phänomen. Berücksichtigt man, dass Erzählen immer ein «Erzählen
von etwas» bedeutet, «das nicht selbst Erzählung ist» (Müller, Poetik,
S. 250), und dass die «Mittelbarkeit» als das Gattungsmerkmal der Er-
zählung betrachtet werden kann (Stanzel, Theorie, bes. S. 15–38), so
sind wir im Fall einer Erzählung per definitionem mit zwei grundsätz-
lich verschiedenen Zeitvorgängen konfrontiert. «Die Erzählung», so
lässt Thomas Mann seinen Erzähler in dem Roman Der Zauberberg
(1924) sagen,
hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren
Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die
perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imagi-
näre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusam-
menfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. (S. 817)
– In welcher Reihenfolge oder Ordnung wird das Geschehen in einer Erzählung ver-
mittelt?
– Welche Dauer beansprucht die Darstellung eines Geschehens oder einzelner Gesche-
henselemente in einer Erzählung?
– In welchen Wiederholungsbeziehungen stehen das Erzählte und das Erzählen, d. h.
mit welcher Frequenz wird ein sich wiederholendes oder nichtwiederholendes Ge-
schehen in einer Erzählung präsentiert?
(1) Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern
hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern,
in Sträfl ingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten
hinten, er war frei. (Döblin, Berlin Alexanderplatz , S. 13)
(2) ‹You did well›, said Miss Brodie to the class, when Miss Mackay had
gone, ‹not to answer the question put to you. It is well, when in difficul-
ties, to say never a word (…). Speech is silver but silence is golden. Mary,
are you listening? What was I saying?›
Mary Macgregor, lumpy, with merely two eyes, a nose and a mouth like
a snowman, who was later famous for being stupid and always to blame
and who, at the age of twenty-three, lost her life in a hotel fire, ventured,
‹Golden›. (Spark, Prime, S. 18)
oder Prolepse (Genette), dank derer wir noch vor Marys ebenso ge-
wagter wie misslungener Antwort in Muriel Sparks Roman The Prime
of Miss Jean Brodie (1961) erfahren, zu welcher Art Mensch Mary sich
entwickeln und wann, wo und bei welcher Gelegenheit sie etliche Jahre
später sterben wird.
Eine Anachronie tritt also in zwei grundsätzlich verschiedenen For-
men auf: In der Form der Analepse wird ein Ereignis nachträglich dar-
gestellt, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem,
den die Erzählung bereits erreicht hat; in der Form der Prolepse wird
ein noch in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt.
Unterteilt man die Zeitachse der erzählten Handlung in drei chrono-
logisch aufeinander folgende Ereignisse A, B, C, sieht die Form der
beiden Erzählverfahren so aus:
Analepse: B A C
Prolepse: A C B
Lässt man die seltenen Fälle außer Acht, in denen so erzählt wird, dass
sich aus den einzelnen erzählten Ereignissen keine chronologisch ge-
ordnete Gesamthandlung rekonstruieren lässt und wir insofern von
einer Achronie sprechen können (Genette, Erzählung, S. 57–59; Bal,
Narratology, S. 97–99), so bilden Analepse und Prolepse die beiden
möglichen Formen der Anachronie. Wir haben diese Formen bislang
nur in einer denkbar einfachen Gestalt vorgestellt und wollen unsere
Unterscheidung jetzt weiter differenzieren.
Betrachtet man die beiden oben zitierten Beispiele genauer, so fällt
zunächst auf, dass die Analepse in Beispiel (1) an den Wahrnehm ungs-
horizont des Protagonisten gebunden ist – es ist Franz Biberkopf, der es
als erstaunlich empfi ndet, plötzlich «vor» dem Tor des Gefängnisses zu
sein, und nur aus seiner Sicht sind die anderen Sträfl inge jetzt auf ein-
mal «hinten» –, während die Prolepse in Beispiel (2) nicht aus der Pers-
pektive der handelnden Figur, sondern aus der eines offenbar souverän
über seine Geschichte und einen größeren Zeitraum von erzählter Zeit
verfügenden Erzählers erfolgt. Solche Unterschiede in der Perspektivie-
rung des Erzählten wollen wir weiter unten im Rahmen der Kategorien
Modus und Stimme im Einzelnen behandeln. An dieser Stelle sei nur
darauf hingewiesen, dass die Anachronien an die Perspektive einer
Figur oder an die des Erzählers gebunden sein können und dass der mit
ihnen verbundene Einschub wahlweise in der Figurenrede oder aber
1. Zeit 37
der Rede des Erzählers erfolgen kann. (Beim gerade zitierten Anfang
von Berlin Alexanderplatz liegt eine Kombination von Figurenpers-
pektive und Erzählerrede vor, deren Voraussetzungen wir im Rahmen
der Kategorien Modus und Stimme ebenfalls noch genauer erläutern
werden.)
Im Fall der beiden oben zitierten Textausschnitte ist mit der ver-
schiedenen Perspektivierung auch ein aufschlussreicher Unterschied in
der konkreten Gestalt der beiden Formen von Anachronie verbunden.
Die Analepse in Beispiel (1) führt uns in der Chronologie der Ereignisse
nur um wenige Stunden vom gegenwärtigen Augenblick in der erzähl-
ten Geschichte zurück und umfasst überdies nur einen kleinen Zeit-
raum von erzählter Zeit: In der Gegenwart der erzählten Zeit steht
Biberkopf vor dem Tor des Gefängnisses; vierundzwanzig Stunden zu-
vor – und das gehört fast noch zu seiner Erlebnisgegenwart – hat er mit
den anderen Sträfl ingen Kartoffeln geharkt. Die Prolepse aus der Pers-
pektive des Erzählers in Beispiel (2) überspringt dagegen einen weit
größeren Abstand in der Chronologie der Ereignisse und umfasst auch
eine breitere Spanne von erzählter Zeit – in der Gegenwart der erzähl-
ten Zeit ist Mary ein zehnjähriges Mädchen, das seiner Lehrerin nicht
zugehört hat und die falsche Antwort gibt, viele Jahre später ist sie
berüchtigt für ihre Dummheit, und als Dreiundzwanzigjährige kommt
sie bei einem Hotelbrand ums Leben.
Aus den beobachteten Differenzen lassen sich zwei weitere Merk-
male von Anachronien gewinnen, nach denen sowohl Ana- als auch
Prolepsen unterschieden werden können. Zum einen die Reichweite,
d. h. der zeitliche Abstand zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub
bezieht, und dem gegenwärtigen Augenblick der Geschichte, sowie
zum anderen der Umfang, d. h. die im Rahmen des ent sprechenden
Einschubs erfasste, mehr oder weniger lange Dauer der Geschichte.
Wenn also in einer berühmten Passage im 19. Gesang (V. 393–466) von
Homers Odyssee (8. Jh. v. Chr.) daran erinnert wird, unter welchen
Umständen der junge Odysseus einst die Wunde empfi ng, an deren
Narbe die alte Magd Eurykleia den Heimkehrer jetzt wiedererkennt, so
hat diese Analepse, die in rund siebzig Versen erzählt wird, eine Reich-
weite von mehreren Jahrzehnten und einen Umfang von einigen Tagen.
Die Unterscheidung von Reichweite und Umfang ermöglicht eine
Reihe weiterer Abgrenzungen. So lässt sich die besondere Gestalt von
Ana- und Prolepsen u. a. auch danach bestimmen, ob das in den
jeweiligen Einschüben erzählte Geschehen zu dem von der Haupt-
38 II. Das ‹Wie›: Darstellung
2
Wenn das in einer Ana- oder Prolepse behandelte Geschehen zu dem in der Haupt-
geschichte behandelten Zeitabschnitt gehört, dann ist sie nach Genette intern, wenn
nicht, extern (Erzählung, S. 32 ff.). Die oben behandelten Ausschnitte aus Berlin Alexan-
derplatz, der Odyssee und The Prime of Miss Jean Brodie sind in diesem Sinn Beispiele
für externe Analepsen bzw. eine externe Prolepse (sofern man davon ausgeht, dass zum
Zentrum der in Muriel Sparks Roman erzählten Geschichte nur die Schulzeit der sechs
Schülerinnen von Miss Brodie gehört).
3
Genette schlägt für diesen Fall das Merkmalspaar komplett vs. partiell vor (Erzäh-
lung, S. 41 f.). Die oben zitierten Beispiele wären in diesem Sinne ‹par tiell›; eine ‹kom-
plette› Analepse läge dagegen vor, wenn etwa, während Eurykleia ihren gealterten Herrn
an seiner Narbe wiedererkennt, die Geschichte von der Irrfahrt des Odysseus bis zu
seiner Rückkehr nach Ithaka eingeschoben würde.
1. Zeit 39
in aller Regel am Ende einer Erzählung, und mit seiner Hilfe wird ein
bis dahin lückenhaft erzähltes Geschehen ergänzt, sodass sich aufklärt,
was bislang unverständlich war (oder auch missverstanden wurde). Da-
mit wird zugleich ein neuer Verstehenshorizont eröffnet, vor dessen
Hintergrund das bislang Gelesene oder Gehörte plötzlich in einem
neuen Licht erscheint. Dieser Form der Rückwendung begegnet man
etwa in den Kriminalromanen oder Detektivgeschichten, in denen –
nach dem berühmten Muster der Sherlock Holmes-Geschichten von
Arthur Conan Doyle – ein Detektiv am Ende der Erzählung einem
mehr oder minder erstaunten Publikum die wahren Zusammenhänge
eines bis zu diesem Augenblick rätselhaften Geschehens enthüllt. Eine
solche Form der Rückwendung kann, muss aber nicht mit dem Aufbau
einer besonderen Art von Spannung verbunden sein. Man fi ndet sie
auch in Erzählungen eines unspektakuläreren, weniger auf inhaltliche
Spannung angelegten Typs. So darf z. B. gegen Ende von Christoph
Martin Wielands Bildungsroman Geschichte des Agathon (1. Ausg.
1766 / 67) der zunächst enttäuschte Held Agathon eine «unverhoffte
Entdeckung» machen und zu seiner großen Freude erfahren, dass seine
Jugendliebe Psyche, die er nach vielen Jahren der Trennung ausgerech-
net in Gestalt der Gemahlin seines besten Freundes wiedertrifft, in
Wahrheit seine Schwester ist (Agathon, S. 840 –850).
Anders als die Rückwendung bezieht sich die Vorausdeutung defi ni-
tionsgemäß auf ein Geschehen, das im Augenblick des Erzählens noch
zur Zukunft der erzählten Geschichte gehört. Ein Fall von zukunfts-
gewisser Vorausdeutung (Lämmert, Bauformen, S. 143–175) liegt in
unserem Beispiel (2) vor, wo ein Erzähler – anders als der unmittelbar
mit dem Geschehen mitgehende Erzähler in Beispiel (1) – aus einem
größeren zeitlichen Abstand heraus erzählt und uns in diesem Fall zum
Mitwisser der Zukunft macht, indem er uns über den gegenwärtigen
Augenblick in der erzählten Geschichte erhebt. Solche zukunftsge-
wissen Vorausdeutungen sind an die Perspektive eines Erzählers ge-
bunden, der sozusagen über dem Geschehen steht und eine zeitliche
Position jenseits der in der erzählten Geschichte umfassten Zeit ein-
nimmt. Zu ihren standardisierten Formen zählt die einführende Vor-
ausdeutung. Sie fi ndet sich in allen Arten von vorausweisenden Inhalts-
angaben, wie sie in Vorreden, Kapitelüberschriften oder auch einem
Buchtitel, etwa nach dem barocken Muster von Hans Jakob Christoffel
von Grimmelshausens Simplicissimus (1668 / 71), erfolgen können:
DER ABENTHEURLICHE SIMPLICISSIMUS TEUTSCH / Das
40 II. Das ‹Wie›: Darstellung
gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek Bridge»
(Occurrence, S. 18).
Formal gesehen stellt Bierces Kurzgeschichte das Gegenmodell zu
Ilse Aichingers Spiegelgeschichte (1949) dar. Diese erzählt in wenigen
Sätzen vom Sterben einer jungen Frau und vergegenwärtigt in diesem
Rahmen auf einer zweiten Ebene, mit Hilfe einer rückwärts erzählten
Analepse von großer Reichweite und Umfang, das gesamte Leben die-
ser Frau, sodass am Ende der Erzählung Geburt und Tod unmittelbar
zusammenfallen. Neben der oben zitierten «Vorhersage» aus Queneaus
Stilübungen sind die Erzählungen von Aichinger und Bierce also wei-
tere Beispiele dafür, dass Anachronien in einer Erzählung nicht nur in
Gestalt von mehr oder minder langen Episoden auftreten, sondern
auch die gesamte oder fast die gesamte Erzählzeit beanspruchen kön-
nen. Für einen bestimmten Typ von Erzählung ist eine besondere Form
von Anachronie sogar konstitutiv. So sind viele Kriminalromane, aber
auch etwa die Chronik eines angekündigten Todes (Crónica de una
muerte anunciada, 1981) von Gabriel García Márquez oder Uwe
Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959) nach einem Modell gestal-
tet, dessen Grundform uns schon im Aufbau von Sophokles’ antikem
Drama König Ödipus (Oidipus Tyrannos , um 420 v. Chr.) begegnet.
Analog zum Fall des ‹analytischen› oder ‹Entdeckungsdramas› (As-
muth, Einführung, S. 146 f.) gehört zum Modell der analytischen
Erzählung (Weber, Theorie), dass sie mit einem rätselhaften Ereignis
beginnt und dann Schritt für Schritt das Geschehen vor diesem Ereig-
nis rekonstruiert (oder zumindest zu rekonstruieren versucht). Den Ge-
gentyp zu dieser Art von Erzählung bildet die grundsätzlich an keine
Form von Anachronie gebundene synthetische Erzählung nach dem
Muster von Theodor Fontanes Effi Briest (1895).4 Statt mit dem Tod
einer letztlich aus Kummer gestorbenen jungen Frau namens Effi Briest
einzusetzen und anschließend die Vorgeschichte ihres Todes im Rück-
blick zu entwickeln, beginnt die Erzählung in medias res mit den Vor-
bereitungen für das Ereignis, das – rückblickend betrachtet – die ent-
4
Fontane ist übrigens dem Schema der synthetischen Erzählung so stark verhaftet,
dass er sogar seine Kriminalerzählung Unterm Birnbaum (1885) an ihm orientiert. Dabei
wird das Schema der analytischen Erzählung zitiert und kunstvoll dekomponiert: Der
Fund einer halbverwesten Leiche, den ein Mann hier am Anfang der Erzählung macht,
wird nicht zum Anlass, die Vorgeschichte des Toten zu erforschen, sondern ermöglicht es
dem Finder, seinerseits einen für lange Zeit unaufgeklärten Mord zu begehen.
42 II. Das ‹Wie›: Darstellung
‹Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz nied-
rig, und zwei Junge drin.›
‹Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?›
‹Ich sag’ es nicht. Du mußt es raten.›
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbar-
gärten voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein
Mädchen und ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch sie
standen, so waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch
höher und wuchsen ihnen bis über die Brust.
‹Bitte, Valtin›, fuhr das Mädchen fort, ‹sag es mir.›
‹Rate.›
‹Ich kann nicht. Und ich will auch nicht.›
‹Du könntest schon, wenn du wolltest. Sieh nur (…)›. (S. 7)
Die Erzählung setzt in medias res mit dem zunächst kommentar losen
Zitat von Figurendialog ein, der in dieser Form auch einer Dramen-
szene entstammen könnte. Es folgen – und damit wird der Dialog in
den Rahmen einer Erzählung gestellt – eine sehr kurze Raffung in
Gestalt einer internen, kompletten Analepse mit einem minimalen
Maß an Reichweite und Umfang («Diese Worte waren […] gesprochen
worden») und ein Erzählerkommentar, der sich auf eine Situa-
tionsbeschreibung in der Art einer Bühnenanweisung beschränkt; an-
schließend wird die Darstellung des Figurendialogs fortgesetzt, und
noch auf den folgenden Seiten des ersten Kapitels hält sich der Erzähler
so weit zurück, dass man bis zum Ende des Gesprächs zwischen Grete
und dem Nachbarsjungen Valtin durchgängig den Eindruck einer rela-
tiv engen Übereinstimmung der Zeit von Erzählung und Geschichte
bekommt. Dieser Eindruck ändert sich auch dann nicht wesentlich, als
zu Beginn des zweiten Kapitels eine komplette Rückwendung mit
einem etwas größeren Maß an Reichweite und Umfang erfolgt und die
Erzählform in diejenige der summarischen Erzählung wechselt:
In den Gärten war alles still, und doch waren sie belauscht worden. Eine
schöne, junge Frau, Frau Trud Minde, modisch gekleidet, aber mit stren-
gen Zügen, war, während die beiden noch plauderten, über den Hof
gekommen und hatte sich hinter einem Weinspalier versteckt, das den
geräumigen, mit Gebäuden umstandenen Mindeschen Hof von dem
etwas niedriger gelegenen Garten trennte. (…) Nichts war ihr hier ent-
gangen, und die widerstreitendsten Gefühle, nur keine freundlichen,
hatten sich in ihrer Brust gekreuzt. (…)
44 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Sie wartete, bis Grete wieder diesseits war, und ging dann raschen
Schrittes über den Hof auf Flur und Straße zu, um nebenan ihre Muhme
Zernitz (…) aufzusuchen. (S. 11 f.)
Mägden, und nach einiger Zeit sah man ihn wieder über den grauen
gefrornen Boden davonreiten.
Ein Nothdach war gesetzt, Thore, Stiegen, Gemächer wieder eingerich-
tet, aber immer sah die Burg wie eine Ruine aus. Jahre kamen und ver-
gingen, und immer sah die Burg wie eine Ruine aus. Alle Zeichen
Ronald’s trogen, und der Krieg, statt ein Ende zu nehmen, dauerte noch
in die Jahre und Jahre, aber nie mehr erschien ein Feind vor Wittinghau-
sen. (S. 316 f.)
Nach dem stillen Abgang des Ritters Bruno wird die Form des zeit-
deckenden, szenischen Erzählens auch hier in die des zeitraffenden
bzw. summarischen Erzählens überführt. In einem gleitenden Über-
gang umfasst die Raffung in diesem Fall jedoch einen zunehmend grö-
ßeren Zeitraum, sodass am Ende nicht mehr Minuten oder Stunden,
sondern viele Jahre in einem einzigen Satz zusammengefasst werden
(«Er sprach mit (…), und nach einiger Zeit (…) Jahre kamen und
vergingen, (…) Jahre und Jahre, aber nie mehr erschien (…)»). Der
Wechsel von Szene und Raffung ermöglicht hier eine markante Be-
schleunigung des Erzähltempos, verbunden mit dem Eindruck einer
zunehmenden Distanz zum erzählten Geschehen (von diesem Phäno-
men soll weiter unten im Zusammenhang mit dem Modus noch aus-
führlicher die Rede sein). Vor dem Hintergrund einer entsprechend
starken Raffung der erzählten Zeit gewinnt schließlich nicht nur die
Szene der Heimkehr unmittelbar zuvor, sondern die gesamte bis dahin
erzählte Geschichte, die mit dem Bau eines Waldhauses als Versteck
für die beiden Mädchen begann, ihr Profi l als eine besondere, aus dem
gleichmäßigen Strom der Zeit herausragende Begebenheit.
Im Rahmen der starken Raffung in der zitierten Passage aus Stifters
Hochwald begegnen wir einer weiteren Grundform des narrativem
Tempos, die wir als die Extremform des zeitraffenden Erzählens be-
trachten können. Es handelt sich um den Zeitsprung (auch Ellipse oder
Aussparung genannt; Genette, Erzählung, S. 76–78; Lämmert, Bau-
formen, S. 23), der hier in zwei verschiedenen typischen Formen auf-
tritt. In dem Satz «Und er sprach mit (…) und nach einiger Zeit sah
man ihn wieder (…) davonreiten» wird die Spanne der ausgesparten
Zeit (also die Zeit, in der Bruno sein Gespräch mit Gregor, Raimund
und den Mägden beendet, sein Pferd aus dem Stall holt, es sattelt, be-
steigt etc.) in etwa benannt. Damit liegt ein Fall von Zeitsprung vor,
den wir mit Genette als bestimmte und explizite Ellipse bezeichnen
46 II. Das ‹Wie›: Darstellung
5
Derselbe Typ fi ndet sich übrigens auch in allen fünf oben auf S. 29 ff. zitierten
Erzählungen aus Queneaus Stilübungen, wo jeweils die Zeit zwischen Autobusfahrt und
Wiedertreffen an der Gare Saint-Lazare ausgespart bleibt und der Zeitsprung mit «spä-
ter» bzw. «nachdem» markiert wird.
1. Zeit 47
jeden Tag auf und unter (auch wenn das, konkret betrachtet, nicht
wirklich dasselbe Ereignis darstellt, weil kein einzelner Sonnenaufgang
oder -untergang dem anderen vollkommen gleicht). Wie oft werden
sich wiederholende oder nicht wieder holende Ereignisse in einer Erzäh-
lung dargestellt? Diese letzte für die Untersuchung der besonderen
Zeitverhältnisse in einer Erzählung wichtige Frage erfasst Genette
unter der von ihm in die Erzählforschung eingeführten Kategorie der
Frequenz (Erzählung, S. 81–114 u. S. 217 f.). Betrachtet man das Ver-
hältnis zwischen der Zahl der Wiederholungen eines Ereignisses im
Rahmen des erzählten Geschehens und der Zahl der Wiederholungen
seiner Darstellung im Rahmen der Erzählung, so sind für die beiden
verschiedenen Arten von Ereignissen jeweils zwei Möglichkeiten denk-
bar: Ein einmaliges Ereignis wird einmal oder wiederholt erzählt, ein
wiederholtes Ereignis wird wiederholt oder einmal erzählt. Aus diesen
insgesamt vier Möglichkeiten lassen sich wiederum drei Typen von
Wiederholungsbeziehungen ableiten.
(1) Im Rahmen der singulativen Erzählung besteht zwischen der Wie-
derholungszahl des Ereignisses und der seiner Erzählung ein Abbil-
dungsverhältnis von eins zu eins. In der Form ‹einmal erzählen, was
sich einmal ereignet hat›, ist dieser Typ in Erzählungen der Regelfall.
Ein Beispiel dafür finden wir etwa am Anfang von Georg Büchners
Erzählung Lenz (1839), die mit dem Satz beginnt: «Den 20. Januar ging
Lenz durch’s Gebirg.» Ungewöhnlich ist dieser Typ demgegenüber in
der Form ‹wiederholt erzählen, was sich wiederholt ereignet hat› (wo-
bei jeder Wiederholung des Ereignisses eine Wiederholung seiner Er-
zählung entspricht, d. h. es wird n-mal erzählt, was sich n-mal ereignet
hat). Wäre Lenz etwa mehrfach durchs Gebirge gegangen, also z. B. am
18., 19. und 20. Januar, dann würde die Erzählung des singulativen
Typs lauten: Am 18. Januar ging Lenz durch das Gebirge, am 19. Ja-
nuar ging Lenz durch das Gebirge, am 20. Januar ging Lenz durch das
Gebirge. Die Problematik dieser Art von buchstäblicher Reproduktion
im Rahmen des singulativen Erzählens ist offensichtlich, und schon in
Miguel de Cervantes’ Don Quijote (El ingenioso Hidalgo Don Quijote
de la Mancha, 1605 / 15) wird diese Erzählweise auf amüsante Weise
karikiert. Sancho Pansa erzählt hier die Geschichte eines Hirten, der
mit einer Herde von dreihundert Ziegen einen über die Ufer getretenen
Fluss überqueren will und der dafür nur ein winziges Fährboot mit
Platz für jeweils eine Ziege zur Verfügung hat. Sancho schickt sich an,
jede Überfahrt einzeln zu erzählen, als ihn Don Quijote unterbricht:
1. Zeit 49
‹Nimm an, er habe sie alle übergesetzt, (…) und fahre nicht ewig so hin-
über und wieder herüber, sonst wirst du in einem ganzen Jahr nicht fer-
tig mit dem Übersetzen deiner Ziegen.› (S. 171)
(2) Der Fall der repetitiven Erzählung wird durch die Formel ‹wieder-
holt erzählen, was sich einmal ereignet hat› bestimmt. Betrachtet
man Queneaus Stilübungen als einen zusammenhängenden Text,
dessen neunundneunzig Erzählungen sich auf die jeweils gleiche
Begebenheit beziehen, dann haben wir hier einen Extremfall der re-
petitiven Erzählung. Ein berühmtes Beispiel dafür, wie diese Form
des Erzählens in einen fi ktionalen Handlungsrahmen eingebettet
werden kann, findet sich in William Faulkners Roman Absalom, Ab-
salom! (1936), in dem das zentrale Ereignis, die Ermordung von
Charles Bon durch Henry Sutpen, neununddreißigmal teils mit, teils
ohne Erzähler- und Perspektivenwechsel erzählt wird. Weitere Bei-
spiele dafür, dass die Form der repetitiven Erzählung den Aufbau
eines gesamten Romans bestimmen kann, sind die Romane Mutmas-
sungen über Jakob (1959) von Uwe Johnson und Horns Ende (1985)
von Christoph Hein, in denen sich jeweils verschiedene Figuren auf
unterschiedliche Weise an die Vorgeschichte eines nicht eindeutig
geklärten Todesfalls erinnern.
(3) Die iterative Erzählung schließlich folgt der Formel ‹einmal erzäh-
len, was sich wiederholt ereignet hat›. Ein typisches Beispiel fi ndet sich
etwa in dem folgenden Auszug aus Honoré de Balzacs Roman Eugénie
Grandet (1834). Er stammt aus dem ersten Kapitel, in dem uns ein
scheinbar allwissender Erzähler die Vorgeschichte der Familie Gran-
det und die Lebensgewohnheiten in ihrem Haus erläutert. Im Zusam-
menhang mit der Beschreibung einer Fensternische in dem großen
Raum, der den Mittelpunkt des häuslichen Lebens bildet, heißt es hier
u. a.:
An diesem Platz waren für Mutter und Tochter seit fünfzehn Jahren alle
Tage von April bis November bei beständiger Arbeit friedlich dahinge-
gangen. Am ersten November durften sie dann ihren Winterplatz am
Kamin beziehen. Erst an diesem Tag erlaubte Grandet, daß im Saal Feuer
gemacht wurde, und am einunddreißigsten März ließ er es löschen, ohne
dabei auf die ersten Fröste des Herbstes oder die letzten des Frühlings
Rücksicht zu nehmen. (…)
Mitte November 1819, bei Einbruch des Abends, machte die Große Na-
non zum erstenmal Feuer. Der Herbst war sehr schön gewesen. (S. 24 ff.)
50 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Bevor der Erzähler in Balzacs Roman in der Form der singulativen Er-
zählung von den besonderen Ereignissen seiner «Mitte November
1819» einsetzenden Geschichte berichtet, schafft er für diese Ge-
schichte also eine Art Rahmen, indem er in der Form der iterativen
Erzählung von den Ereignissen erzählt, die sich seit fünfzehn Jahren
regelmäßig wiederholen. Dabei nimmt die Erzählung von der täg lichen
Handarbeit von Mutter und Tochter, dem alljährlichen Umzug von der
Fensternische an den Kamin sowie den entsprechenden Befehlen des
ungemein geizigen Grandet hier die Form der Raffung an – eine Form,
die meist zur iterativen Erzählung (mit Ausnahme des Typs ‹Ich erzähle
diese Szene jetzt stellvertretend für alle anderen, die nach demselben
Muster verliefen…›) gehört, während umgekehrt die Form der Raffung
durchaus nicht an diejenige der iterativen Erzählung gebunden ist.
2. Modus
2. Modus
Unter der Kategorie des Modus behandeln wir diejenigen Momente des
Erzählens, die den Grad an Mittelbarkeit und die Perspektivierung des
Erzählten betreffen. Es bietet sich an, nach zwei Leitfragen zu differen-
zieren und die unterschiedlichen Präsentationsformen des Erzählten
nach den beiden Parametern Distanz und Fokalisierung zu erfassen.
Charles Bovary, erstmals das Haus des Mannes besichtigt, mit dem sie
fortan zusammenleben wird:
Hinter der Tür hingen ein Mantel mit schmalem Kragen, ein Zügel und
eine schwarze Ledermütze, und in einer Ecke lagen ein Paar hohe Gama-
schen, noch ganz mit eingetrocknetem Schmutz überzogen, auf dem Bo-
den. Rechts war die große Stube, das heißt der Raum, in dem man aß und
sich gewöhnlich aufhielt. Eine kanarienvogelgelbe Tapete, oben durch
eine Girlande aus blassen Blumen abgeschlossen, wellte sich von oben bis
unten auf der liederlich gespannten Leinwand. Weiße, rote geränderte
Kattunvorhänge kreuzten sich an den Fenstern, und auf dem schmalen
Kaminsims glänzte eine Stutzuhr mit einem Hippokrateskopf zwischen
zwei versilberten Leuchtern unter ovalen Glasglocken. Auf der anderen
Seite des Hausflurs befand sich Charles’ Sprechzimmer, ein kleines Gelaß,
ungefähr sechs Schritte breit, mit einem Tisch, drei Stühlen und einem
Bürosessel. Auf den sechs Regalen eines Büchergestells aus Tannenholz
standen fast allein die Bände des Wörterbuchs der medizinischen Wissen-
schaften. Sie waren broschiert und noch unaufgeschnitten (…).
Emma stieg in die oberen Zimmer hinauf. Das erste war überhaupt nicht
möbliert; aber im zweiten, dem ehelichen Schlafzimmer, stand ein
Maha gonibett in einem Alkoven mit roten Vorhängen. Eine mit Mu-
scheln verzierte Schachtel prangte als Schmuckstück auf der Kommode,
und auf dem Schreibtischchen beim Fenster stand in einer Karaffe ein
Orangenblütenstrauß, mit weißen Seidenbändern umwunden. Es war
ein Brautbukett, der Hochzeitsstrauß der anderen! (S. 44)
trägt ebenfalls zum Eindruck der Gegenwart des Erzählten bei. Schließ-
lich wird die Illusion einer unmittelbar greifbaren ‹Wirklichkeit› auch
dadurch unterstützt, dass hier zahlreiche Gegenstände genannt und
detailreich beschrieben werden, die für die eigentliche Handlung im
Rahmen der erzählten Geschichte offenbar funktionslos sind und die
in einer Welt jenseits der Erzählung einfach ‹da› zu sein scheinen. Auf
diese Weise entsteht im Rahmen des ‹dramatischen Modus› der Erzäh-
lung, was Roland Barthes in einer berühmten Formulierung einen Re-
alitätseffekt (‹effet de réel›) genannt hat (Barthes, L’Effet) (s. u. S. 122).
1
Genette spricht in diesem Fall von «berichteter Rede» (ders., Erzählung, S. 120 ff.
u. S. 225 ff.), was uns aber missverständlich erscheint, da hier ja eben nicht berichtet,
sondern zitiert wird.
2. Modus 55
Der Graf setzte sich, indem er die Hand der Dame fahren ließ, nieder,
und sagte, daß er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr kurz fassen
müsse; daß er, tödtlich durch die Brust geschossen, nach P… gebracht
worden wäre; daß er mehrere Monate daselbst an seinem Leben verzwei-
felt hätte; daß während dessen die Frau Marquise sein einziger Gedanke
gewesen wäre; daß er die Lust und den Schmerz nicht beschreiben
könnte, die sich in dieser Vorstellung umarmt hätten; daß er endlich,
2. Modus 57
Der zitierte Ausschnitt ist ein typisches Beispiel dafür, wie Kleists Er-
zählung einerseits die Illusion einer gewissen Unmittelbarkeit erweckt,
die Figurenrede andererseits aber nahezu durchgängig durch den Filter
eines Erzählers präsentiert, der diese Rede ihrer individuellen Form
entkleidet und in der Form der indirekten Rede nach einem übergeord-
neten stilistischen Prinzip präsentiert (vgl. Anderegg, Leseübungen,
S. 35–54). Die zeitraffende, summarische Erzählung des Grafen wird in
der Rede des Erzählers nochmals gerafft und in eine lange Folge von
syntaktischen Parallelkonstruktionen mit fünfzehnmal wiederholtem
‹dass …› eingebunden. Damit wird ein bis zum entscheidenden vorletz-
ten Nebensatz reichender Spannungs bogen aufgebaut, der über den
Umweg der Narration ein mimetisches Abbild der Hast und der Unge-
duld des Grafen gibt.
Während Kleist in seiner Marquise von O… für die Erzählung von
Worten weitgehend nur eine Form verwendet, ist die folgende Szene
aus dem berühmten ersten Kapitel von Franz Kafkas Ame rikaroman
Der Verschollene (versch. Fassungen seit 1913) ein Beispiel dafür, wie
die verschiedenen Formen der Erzählung von Worten auf engstem
Raum verbunden und ihr Zusammenspiel für mimetische Effekte ge-
nutzt werden können.
Karl Roßmann, der Held des Romans, hat auf dem Schiff, das ihn
von Deutschland nach Amerika bringt, mit einem Heizer Freundschaft
geschlossen, dem man offenbar nur infolge der Verleumdung durch
seinen Vorgesetzten, eines gewissen Herrn Schubal, gekündigt hat. Zu-
sammen mit dem Heizer dringt er in die Kapitänskajüte des in New
58 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Was leistet solch ein nahtloser Übergang vom dramatischen zum narra-
tiven Modus, von der Unmittelbarkeit zur Mittelbarkeit der Narration?
Der auf den zitierten Abschnitt direkt folgende Kommentar «Immerhin
erfuhr man aus den vielen Reden nichts eigent liches» unterstreicht,
dass hier im Rahmen der szenischen Erzählung mit Hilfe eines wieder-
holten Wechsels in der Form der Erzählung von Worten eine zuneh-
mende Distanz und damit gleichsam mimetisch die nachlassende Wir-
kung der Rede des Heizers auf ihre Hörer dargestellt ist. In diesem
Sinne heißt es denn auch wenig später: «die Stimme des Heizers regierte
bald nicht mehr unumschränkt in dem Raum, was manches befürchten
ließ» (S. 26).
Was wir hier für die gesprochene Rede von Figuren entwickelt
haben, gilt im Wesentlichen auch für die Darstellung von Gedanken,
d. h. von unausgesprochener, innerer Rede von Figuren – also einen
Bereich, der, wie Käte Hamburger eindrücklich dargelegt hat (Logik,
bes. S. 78 ff.), weitgehend der fi ktionalen Erzählung vorbehalten ist (in
der faktualen Erzählung kann der Erzähler immer nur um seine eige-
nen Gedanken und Gefühle, nicht aber um diejenigen von anderen
Personen sicher wissen und mit entsprechender Gewissheit von ihnen
erzählen). Auch in diesem Fall fi nden wir drei Darstellungsformen, die
sich durch einen unterschiedlichen Grad an Mittelbarkeit und damit an
Distanz auszeichnen.
2. Modus 59
Dem Fall der erzählten Rede im Ansatz vergleichbar ist hier eine
Form, die Dorrit Cohn in ihrer detaillierten Studie zu den Formen der
narrativen Darstellung von Figurenbewusstsein Transparent Minds
(1978) als Psycho-Narration bezeichnet (ebd., S. 21–57). Im Unter-
schied zu der im Deutschen oft gebrauchten Wendung Gedankenbe-
richt ist dieser Terminus etwas weiter gefasst und berücksichtigt, dass
im Rahmen dieser Erzählform auch all die Vorgänge im Bewusstsein
von Figuren sprachlichen Ausdruck fi nden können, die sich jenseits von
klar formulierten Gedanken bewegen. Im Sinne von Schillers berühm-
tem Epigrammvers «Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele
nicht mehr» (Schiller, Epigramme, S. 145) liegt hier also nur bedingt
ein Fall von erzählter ‹Rede› vor. Im Anschluss an Cohn sprechen wir
deshalb von einem Bewusstseinsbericht.
Eine traditionelle Form von Bewusstseinsbericht enthält der fol-
gende Ausschnitt aus Christoph Martin Wielands Roman Der Sieg der
Natur über die Schwärmerei oder Die Abenteuer des Don Sylvio von
Rosalva (1. Ausg. 1764). Don Sylvio, dem jugendlichen Helden des
Romans, hat die Lektüre unzähliger Feenmärchen den Kopf verdreht,
und er ist in die Welt hinausgezogen, um selbst zu erleben, was dort
beschrieben wird. Dabei hat er entdecken müssen, dass jedenfalls eine
dieser Geschichten durchaus nicht wahr, sondern das reine Phantasie-
produkt eines Freundes ist. Kurz bevor er nun endgültig von seinem
Wunderglauben geheilt wird, heißt es in der Rede des Erzählers:
Don Sylvio hatte einen guten Teil der Nacht mit Betrachtungen zuge-
bracht, welche den Feen nicht sehr vorteilhaft waren. Die Wahrheit zu
sagen, seit dem kleinen Betrug, den ihm Don Gabriel mit dem Märchen
vom Prinzen Biribinker gespielt hatte, hatte sein Glaube an diese Damen
und ihre Geschichtschreiber keine geringe Erschütterung erlitten. Die
Geschichte des Herrn Biribinkers kam ihm jetzt selbst so abgeschmackt
vor, daß er nicht begreifen konnte, wie es zugegangen, daß er den Betrug
nicht augenblicklich gemerkt habe. Er fand endlich, daß die wahre Ur-
sache davon schwerlich eine andere sein könnte, als die Ähnlichkeit die-
ses Märchens mit den übrigen, und das Vorurteil, so er einmal für die
Wahrheit der letztern gefaßt hatte. Er konnte sich selbst nicht länger ver-
bergen, daß, wenn auch die Ungereimtheiten im Biribinker um etwas
weiter getrieben wären als in andern Märchen, dennoch die Analogie
zwischen dem ersten und den letztern groß genug sei, um ihm (…) alle
Märchen ohne Ausnahm verdächtig zu machen. Unter dergleichen Be-
trachtungen war er endlich eingeschlafen (…). (S. 352)
60 II. Das ‹Wie›: Darstellung
(…) Huguenau, der auf seinen Geschäftsreisen schon manch schöne alte
Stadt besucht, aber noch keine bemerkt hatte, wurde von einem Gefühl
erfaßt, einem zwar unbekannten Gefühl, das er weder benennen, noch
von irgendeinem Ursprung hätte ableiten können und das ihn dennoch
seltsam anheimelte: wäre es ihm als ästhetisches Gefühl bezeichnet wor-
den oder als ein Gefühl, das seine Quelle in der Freiheit besitzt, er hätte
ungläubig gelacht, gelacht wie einer, den noch nie Ahnung von der
Schönheit der Welt berührt hat, und er hätte insoweit sogar Recht damit
gehabt, als niemand entscheiden kann, ob die Freiheit es ist, in der die
Seele sich der Schönheit erschließt, oder ob es die Schönheit ist, die der
Seele die Ahnung ihrer Freiheit verleiht (…).
Derartigen Meditationen abgewandt, belegte Huguenau ein Zimmer in
dem Gasthof auf dem Marktplatz. (S. 14)
Während diese Passage zeigt, wie der mit einer Erörterung des Erzäh-
lers verbundene Bewusstseinsbericht aus einem entsprechend großen
Abstand heraus Sachverhalte zur Sprache bringen kann, die weit über
den Reflexionsgrad der Figur hinausreichen, ist die folgende Szene aus
Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1926) ein Beispiel dafür, dass sich
auch in der Form des Bewusstseinsberichts die Distanz zum Denken
und Fühlen der Figur relativ klein halten lässt. Der Arzt Fridolin hat
2. Modus 61
Er fand sich, mit einem Male, schon über sein Ziel hinaus in einer engen
Gasse, durch die nur ein paar armselige Dirnen auf nächtlichem Män-
nerfang umherstrichen. Gespenstisch, dachte er. Und auch die Studenten
mit den blauen Kappen wurden ihm plötzlich gespenstisch in der Erinne-
rung, ebenso Marianne, ihr Verlobter, Onkel und Tante, die er sich nun
alle, Hand in Hand, um das Totenbett des alten Hofrats gereiht vor-
stellte; auch Albertine, die ihm nun im Geist als tief Schlafende, die
Arme unter dem Nacken verschränkt, vorschwebte – sogar sein Kind,
das jetzt zusammengerollt in dem schmalen weißen Messingbettchen
lag, und das rotbäckige Fräulein mit dem Muttermal an der linken
Schläfe –, sie alle waren ihm völlig ins Gespenstische entrückt. Und in
dieser Empfi ndung, obzwar sie ihn ein wenig schaudern machte, war zu-
gleich etwas Beruhigendes, das ihn von aller Verantwortung zu befreien,
ja aus jeder menschlichen Beziehung zu lösen schien. (S. 448 f.)
2
Anders als gemeinhin üblich spricht Cohn allerdings grundsätzlich nicht von ‹er-
lebter Rede› bzw. ‹free indirect style›, sondern von einem auf die Wiedergabe von Figu-
renbewusstsein beschränkten ‹erzählten Monolog› (‹narrated monologue›). Zur Begrün-
dung vgl. dies., Minds, S. 109–112. Uns erscheint es dagegen sinnvoll, erst dann von
einem ‹erzählten Monolog› zu sprechen, wenn eine längere Passage von erlebter Rede
vorliegt.
2. Modus 63
Während der Wechsel in die erlebte Rede hier kaum erkennbar ist und
letztlich offen bleibt, ob die entsprechenden Worte (‹Ich habe, strafe
mich Gott, niemals eine schönere Braut gesehen›) gedacht oder gespro-
chen wurden, führt die folgende Szene vor, wie auch die erlebte Rede
durch einen entsprechenden Rahmen ein- und ausgeleitet und wie die
auf diese Weise ermöglichte Darstellung von Gedanken über einen län-
geren Zeitraum hinweg fortgeführt werden kann. Dabei wird die in
diesem Fall im Rahmen der szenischen Erzählform deutlich erkennbar
gesprochene Rede durch einen Blick in das Bewusstsein der sprechen-
den bzw. nicht mehr sprechenden Figur ergänzt. Die Szene stammt aus
einem der unvollendeten Kapitel aus Franz Kafkas Roman Der Proceß
(entst. 1914 / 15). Es geht um Josef K., der im Zimmer seines Vorgesetz-
ten soeben um zwei Tage Urlaub gebeten hat, um zu seiner Mutter fah-
ren zu dürfen. Die Frage des Vorgesetzten, ob die Mutter etwa krank
sei, irritiert K. so sehr, dass er nur einsilbig antwortet und über die
Gründe der geplanten Reise zu grübeln beginnt:
erlebten Rede hier die Form eines erzählten Inneren Monologs. Damit
nähert sich die erlebte Rede tendenziell der dritten Möglichkeit der
Darstellung von Gedanken an. Ein wichtiger Unterschied zu dieser
Möglichkeit bleibt allerdings bestehen, denn auch im Fall des erzählten
Inneren Monologs wird die Mittelbarkeit und damit ein gewisser Grad
an Distanz zur erlebenden Figur noch aufrechterhalten. Erst im zitier-
ten Inneren Monolog wird diese Distanz scheinbar auf Null reduziert.
Anders als der Bewusstseinsbericht und die erlebte Rede erlaubt es
diese Form, die Gedanken einer Figur im Präsens und in der direkten
Rede der ersten Person darzustellen und damit – wie im Fall der zitier-
ten Figurenrede – die Präsenz einer vermittelnden narrativen Instanz
scheinbar vollkommen auszuschalten.
In der Form des Gedankenzitats oder, im Fall der Darstellung eines
längeren Gedankengangs, des Selbstgesprächs wird diese Art der Ge-
dankenwiedergabe durch eine inquit-Formel in Gestalt eines verbum
dicendi oder credendi (‹er sagte zu sich›, ‹sie dachte› o.ä.) eingeleitet
und fi ndet sich in Erzähltexten ganz unterschiedlicher Epochen. Schon
Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (versch. Fassun-
gen seit 1766 / 67), der erste deutschsprachige Bildungsroman, enthält
ein ganzes Kapitel, das unter der bezeichnenden Überschrift «Ein
Selbstgespräch» aus einem über mehrere Seiten hinwegreichenden
zitierten Inneren Monolog des soeben von seiner Jugendliebe Psyche
getrennten Agathon besteht. Das Zitat dieses Monologs wird hier aller-
dings noch umständlich mit dem Hinweis begründet, der «Verfasser»
des «Manuscripts» habe Kenntnis einer «Art von Tagebuch» des Aga-
thon, und ist wie folgt eingeleitet:
Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wut des Schmerzens, wel-
che allezeit stumm und Gedankenlos zu sein pflegt, sich geleget, habe
Agathon sich umgesehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und
Wasser um sich her erblickt, habe er, seiner Gewohnheit nach, also mit
sich selbst zu philosophieren angefangen:
War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder sah ich sie würklich, hört’
ich würklich den rührenden Accent ihrer süßen Stimme, und umfingen
meine Arme keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum war, warum
ist mir von einem Gegenstand, der alle andern aus meiner Seele aus-
löschte nichts als die Erinnerung übrig? (…) (S. 398 f.)
risch und in der konsequenten Aufl ösung von nahezu jedem äußeren
Geschehen in dieser Form wohl einmalig ist diese Art der Bewusst-
seinswiedergabe im letzten Kapitel von James Joyces Roman Ulysses
2. Modus 67
(1922) verwirklicht. Ohne jede Interpunktion ist hier über fünfzig Sei-
ten hinweg der Assoziationsstrom der nachts in ihrem Bett liegenden
Molly Bloom dargestellt, der – kurz bevor Molly am frühen Morgen
endlich einschläft – mit der Erinnerung an ihre Jugend, an den jungen
Leopold Bloom und den vielzitierten Worten endet:
Yes and how he kissed me under the Moorish wall and I thought well as
well him as another and then I asked him with my eyes to ask again yes
and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and
fi rst I put my arms around him yes and drew him down to me so he could
feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and
yes I said yes I will Yes. (S. 1727)
Die Ausführungen zur Erzählung von Worten sind im Schema auf der
vorherigen Seite 66 zusammengefasst.
1. Nullfokalisierung : Erzähler > Figur (‹Übersicht› – der Erzähler weiß bzw. sagt mehr,
als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt)
2. Interne Fokalisierung : Erzähler ø Figur (‹Mitsicht› – der Erzähler sagt nicht mehr, als
die Figur weiß)
3. Externe Fokalisierung : Erzähler < Figur (‹Außensicht› – der Erzähler sagt weniger, als
die Figur weiß)
Ein Beispiel dafür, wie ein Geschehen nicht aus dem Blickwinkel einer
handelnden Figur, sondern aus der ‹Übersicht› einer am Geschehen
nicht unmittelbar beteiligten narrativen Instanz vermittelt werden
3
Die Begriffe ‹Übersicht›, ‹Mitsicht› und ‹Außensicht› fi nden sich in vergleichbarer
Form erstmals bei Jean Pouillon, der zwischen ‹vision par derrière›, ‹vision avec› und
‹vision du dehors› unterscheidet (Pouillon, Temps).
2. Modus 69
kann, ist etwa der Erzählerbericht am Ende des bereits zitierten Ge-
sprächs zwischen Valtin und Grete in Fontanes Grete Minde:
In den Gärten war alles still, und doch waren sie belauscht worden. Eine
schöne, junge Frau, Frau Trud Minde, modisch gekleidet, aber mit stren-
gen Zügen, war, während die beiden noch plauderten, über den Hof ge-
kommen und hatte sich hinter einem Weinspalier versteckt (…). Nichts
war ihr hier entgangen (…). (S. 11)
Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern
hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern,
in Sträfl ingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten
hinten, er war frei. (S. 13)
Das Fehlen jeglichen Hinweises auf das Äußere der Figur, die Verwen-
dung eines Personalpronomens statt eines generischen oder Eigen-
namens (‹Er stand…› statt ‹Franz Biberkopf stand …› oder ‹Ein Mann
stand…›) sowie die eindeutig auf die Wahrnehmung der in diesem
Augenblick vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses stehenden Figur
bezogenen Zeit- und Raumadverbien (‹vor – hinter›, ‹gestern – jetzt›)
unterstreichen, dass auch hier – trotz des epischen Präteritums und der
dritten Person – von einer aktorialen bzw. einer internen Fokalisierung
im Sinne einer ‹Mitsicht› gesprochen werden kann. Während der Foka-
70 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Ende Oktober 1829 betrat ein junger Mann das Palais-Royal, in dem
Augenblick, da die Spielhäuser öffneten (…). Ohne lange zu zögern, stieg
er die Treppe zu dem unter der Nummer 36 angezeigten Spielsaal hinauf.
‹Monsieur, Ihren Hut bitte!› rief mit trockener, mürrischer Stimme ein
kleiner bleicher Greis, der in der Finsternis eines Verschlages gekauert
hatte, sich nun aber plötzlich erhob und in seinem Gesicht die Züge eines
gemeinen Menschen zu erkennen gab.
(…) Das Erstaunen des jungen Mannes, als er im Austausch für seinen
Hut, dessen Ränder zum Glück schon etwas abgegriffen waren, einen
numerierten Zettel bekam, ließ deutlich eine noch unschuldige Seele er-
kennen. (S. 7 f.)
3. Stimme 71
3. Stimme
3. Stimme
Den 20. ‹Januar› ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Berg-
flächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen,
Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinun-
ter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab
in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so
dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht
durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es
lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er
keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem
72 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Kopf gehn konnte. (…) Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag
über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm
wehe tat; (…) Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich
nüchtern, fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen,
er wußte von nichts mehr. (S. 69 f.)
In der zitierten Passage aus dem Anfang von Georg Büchners Lenz
(1839) ist die Darstellung des Geschehens so eindeutig auf die Perspek-
tive der wahrnehmenden Figur Lenz konzentriert, dass wir von einem
typischen Fall von interner Fokalisierung sprechen können. Für den
durch das Gebirge gehenden Lenz dampft der Nebel «herauf» und ist
«Alles so dicht, (…) so träg, so plump», aus seiner persönlichen Sicht
liegt Lenz «über der Erde» und «wühlt» sich «in das All hinein». Auf
diese hier nur in Ausschnitten zitierte szenische Darstellung der beson-
deren Wahrnehmungszustände eines vom Wahnsinn Gezeichneten folgt
im Text der Erzählung allerdings ein bemerkenswerter Satz in der Form
der summarischen Erzählung: «Aber es waren nur Augenblicke, und
dann erhob er sich nüchtern, (…) er wußte von nichts mehr.» Von wem
und in welcher Situation wird uns hier so eindrücklich vermittelt, was
Lenz wahrnimmt, aber schon wenige Augenblicke später selbst nicht
mehr weiß? Wer spricht die Sätze einer Erzählung, die einerseits eng an
die Perspektive der erlebenden Figur gebunden ist und die andererseits
schon durch die Verwendung des epischen Präteritums und der dritten
Person deutlich macht, dass hier eine gewisse Distanz zum Wahrneh-
mungsstandort der erlebenden Figur besteht? Anknüpfend an die bereits
im letzten Kapitel vorgestellte Unterscheidung zwischen den Fragen ‹Wer
sieht?› und ‹Wer spricht?› wollen wir im Folgenden unter der Kategorie
der Stimme all die Probleme behandeln, die den Akt des Erzählens und
damit neben der Person des Erzählers auch das Verhältnis von Erzähler
und Erzähltem sowie von Erzähler und Leser / Hörer betreffen. Dabei
wollen wir auch in diesem Fall berücksichtigen, dass die fi ktionale Er-
zählung – anders als die faktuale Erzählung – per definitionem weder an
einen historischen Sprecher noch an einen realen raum-zeitlichen Zu-
sammenhang gebunden ist. Vom realen Kontext einer fi ktionalen Erzäh-
lung aus betrachtet1 gilt dement sprechend, dass sowohl der Erzähler als
1
Zur Bedeutung des Unterschiedes zwischen realem und imaginärem Kontext der
fi ktionalen Erzählung s. o. S. 19 ff.
3. Stimme 73
auch sein Erzählen eine Fiktion, d. h. nicht mehr als die text- und fi k-
tionsinterne pragmatische Dimension des Diskurses darstellen. So gese-
hen ist die historische Person Georg Büchner (1813–1837) der Autor,
nicht aber der ‹Sprecher› der zitierten, zwischen 1835 und 1836 geschrie-
benen Sätze der Erzählung Lenz. «Der Autor», so Jean-Paul Sartres
prägnante Begründung für die Notwendigkeit einer Unterscheidung
zwischen dem historischen Autor und dem fi ktiven Erzähler einer fi ktio-
nalen Erzählung, «erfi ndet und der Erzähler erzählt, was geschehen ist
(…). Der Autor erfindet den Erzähler und den Stil der Erzählung, welcher
der des Erzählers ist» (Sartre, Notes, S. 774).
Im Fall der fi ktionalen Erzählung bleibt es der freien Entscheidung
ihres historischen Autors überlassen, wie individuell und mit welchen
Kompetenzen er eine narrative Instanz im Sinne der fi ktiven ‹Person›
eines Erzählers gestaltet, in welches zeitliche und ontologische Verhält-
nis er seinen ‹Erzähler› zur erzählten Geschichte setzt und ob er nur
implizit oder auch explizit eine fi ktive Kommunikation zwischen ‹Er-
zähler› auf der einen und ‹Hörer› bzw. ‹Leser› auf der anderen Seite
entwirft. Diese Möglichkeiten des historischen Autors wollen wir nun
nach vier Kriterien untersuchen: 1. Zeitpunkt des Erzählens , 2. Ort
des Erzählens , 3. Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen,
4. Subjekt und Adressat des Erzählens.
2
Beispielsweise die ausführliche Erzählung des Bruders des Barbiers in Des Barbiers
Erzählung von seinem fünften Bruder, wie er zu großem Reichtum kommen und die
Tochter des Wesirs heiraten wird (Erzählungen, Bd. 1.2, S. 386–389).
3
Ein typisches Beispiel ist etwa die Prophezeiung einer «Zigeunerin» in Horst Langes
Roman Ulanenpatrouille (1940), dank derer dem Ulanenleutnant Friedrich von G. gegen
Anfang der Erzählung vorausgesagt wird, auf welche Weise er am Ende der erzählten
Geschichte ums Leben kommt: «‹Der Vogel!› schrie sie, indem sie die Arme neuerdings
kreisen und flattern ließ. ‹Großer Vogel… wird das Pferd scheu machen, wird wegfl iegen
und schreien wie ein böser Geist… Der Vogel!›» (Ulanenpatrouille , S. 66).
4
Dagegen berücksichtigt Harald Weinrich die Trennung von imaginärem und rea-
lem Kontext der fi ktionalen Rede nicht, wenn er z. B. das Präteritum in George Orwells
Utopie Nineteen Eighty-Four (1949) als einen Beleg für seine vieldiskutierte These be-
nutzt, dass dieses Tempus in erster Linie nicht auf eine zeitliche Vergangenheit verweise,
sondern «die Erzählsituation schlechthin» signalisiere (Weinrich, Tempus, S. 27).
3. Stimme 75
5
Wobei es zu den Eigenheiten der Zeitstruktur im Ofterdingen gehört, dass der Ab-
stand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem des Erzählten im Verlauf der Er-
zählung zu verschwinden scheint. Novalis’ Konzept einer Mythisierung der Zeit betrifft
nicht allein die offenbar für den unvollendeten zweiten Teil des Ofterdingen geplante
Aufhebung der herkömmlichen Zeitfolge im Rahmen der erzählten Geschichte, sondern
eben auch den gleitenden Übergang von einem deutlich späteren zu einem nahezu gleich-
zeitigen Erzählen.
3. Stimme 77
Ruhe gekommen ist und nun die Erzählung schreibt, die mit der Ge-
schichte seiner Jugend beginnt und nach vielen Abenteuern schließlich
mit den folgenden Sätzen in der Erzählgegenwart endet:
Ironisch zitiert fi ndet sich dieses Modell, das auch die Gattung des
Schelmenromans prägt, noch im 20. Jahrhundert in Die Blechtrom-
mel (1959) von Günter Grass: Der Held und Erzähler Oskar Matze-
rath ist zu Beginn seiner Erzählung noch keine 30 Jahre alt und nutzt
seine Zeit als Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, um die Geschichte
seines Lebens zu erzählen. Dabei wird hier neben der Zeit der
erzählten, den Zeitraum von Oktober 1899 bis September 1952
umfassenden Geschichte auch diejenige Zeit datiert und wiederholt
angesprochen, die Oskar benötigt, um seine Geschichte zwischen
September 1952 und September 1954 in der Form von drei «Büchern»
zu Papier zu bringen.
Sowohl im Robinson Crusoe als auch in der Blechtrommel ist der
zeitliche Abstand zwischen dem Erzählen und dem Erzählten zu Be-
ginn des Erzählens zunächst groß und verringert sich kontinuierlich
mit dem Fortschreiten des Erzählens, bis die Geschichte am Ende in
der Erzählgegenwart angelangt ist. Karikiert wird dieses traditionelle
Erzählmodell schon in Laurence Sternes Roman The Life and Opini-
ons of Tristram Shandy Gentleman (1759–67), in dem der Held und
Erzähler Tristram Shandy nach der Hälfte seines Versuchs einer Auto-
biographie resigniert feststellen muss, dass ihm – in Anbetracht seiner
nach einem Jahr des Schreibens nur um einen Lebenstag vorangeschrit-
tenen Lebensgeschichte – im Vergleich zum Beginn seines Schreibens
jetzt nicht etwa von weniger, sondern von noch mehr Lebenszeit zu
berichten bleibt:
I am this month one whole year older than I was this time twelve-month;
and having got, as you perceive, almost into the middle of my fourth
volume – and no farther than to my first day’s life – ’tis demonstrative
that I have three hundred and sixty-four days more life to write just now,
than when I fi rst set out; so that instead of advancing, as a common
writer, in my work with what I have been doing at it – on the contrary, I
78 II. Das ‹Wie›: Darstellung
am just thrown so many volumes back (…) as at this rate I should just live
364 times faster than I should write – It must follow, (…) that the more I
write, the more I shall have to write (…). (4. Buch, 13. Kap., S. 286)
Aus der Sicht des über sein Leben schreibenden und zugleich weiter-
lebenden Tristram Shandy wird hier refl ektiert, was eine wesentliche
Voraussetzung für den Typ des eingeschobenen Erzählens darstellt. In
seiner Idealform begegnet man diesem Typ vor allem in Erzählungen,
die, wie Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932), die Form
des Tagebuchs oder, wie Goethes Die Leiden des jungen Werthers
(1774), die Form des Briefs verwenden. Mit Beginn des Erzählens ist
das erzählte Geschehen hier nicht abgeschlossen, und der Zeitabstand
zwischen dem Erzählten und dem Erzählen ist in diesem Fall so weit
verringert, dass passagenweise von einem gleichzeitigen Erzählen
gesprochen werden kann. Der Erzähler unterbricht wiederholt sein
Schreiben und wird zur handelnden Figur, und als Schreibender hat er
eine so geringe Distanz zu seinem Erleben, dass er noch ganz unmittel-
bar von ihm gezeichnet ist. Anders als im Idealfall des gleichzeitigen
Erzählens gibt es hier also einerseits durchaus eine erklärte Zeitdiffe-
renz zwischen Schreiben und Erleben, während andererseits die Gren-
zen zwischen handelndem Helden und schreibendem Erzähler, zwi-
schen erlebendem und erzählendem Ich verschwimmen. Ein berühmtes
Beispiel dafür, wie auf diese Weise eine besondere Art von Spannung
erzeugt und der Erzählprozess selbst unterbrochen und problematisiert
werden kann, ist der folgende Brief Werthers an Wilhelm aus Goethes
Briefroman. Werther hat erstmals über einen längeren Zeitraum hin-
weg nicht an seinen Freund geschrieben und will ihm jetzt endlich von
seiner Seelenverwandtschaft mit Lotte berichten. Seine Erzählung über
die Umstände, unter denen er Lotte vor kurzem auf einem ländlichen
Ball kennengelernt hat, leitet Werther mit einem wiederholt neu
ansetzenden Bericht über seinen gegenwärtigen Seelenzustand ein; ein
zunächst verworfener und dann doch unternommener Besuch Lottes in
der Erzählgegenwart verzögert seinen Blick in die Vergangenheit er-
neut; erst in der Fortsetzung des zitierten Briefausschnitts, unmittelbar
nach Werthers Besuch bei Lotte und einer durch Gedankenstriche
sichtbar gemachten längeren Unterbrechung des Erzählens, steht bald
nur noch das erlebende Ich der Vergangenheit im Vordergrund, und es
folgt eine Erzählung, die zeitlich weiter zurückgreift und eindeutig dem
Typ des späteren Erzählens entspricht:
3. Stimme 79
Am 16. Junius.
Warum ich dir nicht schreibe? – Fragst du das und bist doch auch der
Gelehrten einer. Du solltest raten, daß ich mich wohl befinde, und zwar
– Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz
näher angeht. Ich habe – ich weiß nicht.
Dir in der Ordnung zu erzählen, wie’s zugegangen ist, daß ich eins der
liebenswürdigsten Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer halten.
Ich bin vergnügt und glücklich, und also kein guter Historienschreiber.
Einen Engel! – Pfui! das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch
bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie
vollkommen ist; genug, sie hat all meinen Sinn gefangengenommen.
So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und
die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit. –
Das ist alles garstiges Gewäsch, was ich da von ihr sage, leidige Abstrak-
tionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrücken. Ein andermal – nein,
nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir’s erzählen. Tu’ ich’s jetzt
nicht, so geschäh’ es niemals. Denn, unter uns, seit ich angefangen habe
zu schreiben, war ich schon dreimal im Begriffe, die Feder niederzu-
legen, mein Pferd satteln zu lassen und hinauszureiten. Und doch schwur
ich mir heute früh, nicht hinauszureiten, gehe doch alle Augenblick’ ans
Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht. – – –
Ich hab’s nicht überwinden können, ich mußte zu ihr hinaus. Da bin ich
wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben.
Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben,
muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen! –
Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange.
Höre denn, ich will mich zwingen, ins Detail zu gehen.
Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen,
und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder viel-
mehr seinem kleinen Königreiche zu besuchen. (…) (S. 19 f.)
6
Der Begriff ‹metadiegetisch› ist hier synonym zu dem ebenfalls gebrauchten Aus-
druck ‹hypodiegetisch› zu verstehen (Rimmon-Kenan, Narrative Fiction, S. 94–97; vgl.
dagegen Genette, Erzählung, S. 253 f.).
3. Stimme 81
der, und so haben wir hier zugleich einen Beleg dafür, dass in aller
Regel – sieht man von dem seltenen Fall einer bloßen Reihung von Ge-
schichten in Form einer additiven Verknüpfung ab – auch ein thema-
tischer Bezug zwischen Rahmen- und Binnengeschichte(n) besteht. Mit
Lämmert können wir hier die konsekutive und die korrelative Form
der Verknüpfung unterscheiden (Lämmert, Bauformen, S. 43–67).
Eine konsekutive oder auch kausale Form der Verknüpfung liegt in all
den Fällen vor, in denen der Binnengeschichte eine explikative Funk-
tion zukommt. Die Binnengeschichte soll hier erklären, welche Art von
Ereignissen die Situation herbeigeführt haben, in der die erzählende
Figur sich in diesem Augenblick befi ndet. Ein Beispiel für diesen Typ
ist die Erzählung des russischen Grafen in der oben (S. 56 f.) zitierten
Szene aus der Marquise von O… , der in aller Eile aufzuklären ver-
sucht, warum er noch am Leben ist, obwohl man ihn doch längst für
tot gehalten hat. Auch die Erzählung des alten Geigers in Grillparzers
Armem Spielmann, die erläutern soll, «wie es kam», dass er zum
Musiker wurde, gehört zu diesem Typ. Diese Lebensgeschichte eines
gescheiterten Bürgers und offenbar unfähigen, aber zufriedenen Künst-
lers, der die vollkommene Kunst gefunden zu haben glaubt, hat aller-
dings mehr als nur eine explikative Funktion. Sie steht im Gegensatz
zur Lebensgeschichte des angesehenen, als Künstler und Bürger erfolg-
reichen Rahmenerzählers und erfüllt hier neben der Aufklärung eines
Geheimnisses die Funktion einer Spiegelung. Insofern liegt auch eine
korrelative Form der Verknüpfung im Sinne einer Ähnlichkeits-
und / oder Kontrastbeziehung zwischen den beiden Erzählungen vor.
Liest man Grillparzers Erzählung in der Tradition der Künstlernovelle
und versucht, die in ihr gestaltete poetologische Position zu erfassen,
wird man sich also nicht auf die Figur und die Geschichte des armen
Spielmanns beschränken können, sondern die besonderen Spannungen
und das Zusammenspiel zwischen Binnen- und Rahmengeschichte be-
rücksichtigen müssen. Ähnliches gilt z. B. für Ludwig Tiecks Erzäh-
lung Das Zauberschloß (1830), in der die Binnen- und Rahmenge-
schichte ein im Ansatz vergleichbares Geschehen jeweils unterschiedlich
nach den poetologischen Mustern der Schauergeschichte und der rea-
listischen Erzählung präsentieren (Lämmert, Bauformen, S. 53 f.,
Scheffel, Formen, S. 78–83).
Ungeachtet der im Einzelfall sehr engen Beziehungen zwischen
Rahmen- und Binnengeschichte wird die Grenze zwischen dem Er-
zählen und dem Erzähltem in allen bislang vorgestellten Beispielen
84 II. Das ‹Wie›: Darstellung
ler erzählt von seinem Jugendfreund und Nachbarn Tom Trimble, der
unterdessen ein bekannter Schriftsteller geworden ist. Bei einem Be-
such offenbart ihm dieser Freund, dass nicht er selbst, sondern eine in
seinem Keller versteckte Rechenmaschine seine Bestseller schreibt.
Diese «automatische Schreibmaschine» kombiniert Tag und Nacht
Wörter nach dem Zufallsprinzip und entwirft alle mög lichen Arten
von Texten – darunter auch die erfolgreichen Romane. Als der Erzäh-
ler seinen Nachbarn wenige Tage nach dieser Enthüllung erneut be-
sucht, zeigt dieser ihm, was die Maschine als letztes schrieb – und der
Erzähler liest erschrocken den Anfang seiner eigenen Erzählung:
Ich las die ersten Zeilen, und (…) Angst durchdrang mich mit spitzer
Nadel, wie den aufgespießten Käfer in der Insektensammlung. Ich wußte
nicht, ob ich soeben erst erschaffen worden war oder in diesem Augen-
blick vernichtet werden sollte. Sicher war nur, daß irgendeine schreck-
liche Macht nach uns gegriffen hatte. Die Anfangszeilen des neuesten
Werkes der Maschine lauteten: ‹Tom Trimble und ich sind unser ganzes
Leben lang Nachbarn gewesen, obwohl zwischen unseren Häusern eine
Entfernung von sechs Meilen liegt. Unsere Farmen grenzen aneinander,
in jenem Teil von Texas, wo Zedern, Stechpalmen und Präriehunde die
Hauptübel sind und in einem trockenen Jahr fünfundzwanzig Morgen
Land benötigt werden, um eine einzige Kuh durchzubringen…› (S. 43 u.
S. 50)
(1) Erzählungen, in denen der Erzähler an der von ihm erzählten Geschichte als Figur
beteiligt ist (wobei diese Figur in diesem F all zwei unterschiedliche Rollen umfasst:
ein erzählendes und ein erzähltes bzw. erlebendes Ich ).
(2) Erzählungen, in denen der Erzähler nicht zu den Figuren seiner Geschichte gehört (in
diesem Fall gibt es kein erlebendes, sondern nur das erzählende, als leibliche Person
womöglich gar nicht fassbare Ich des Sprechers der Erzählrede).
Heterodiegetisch Homodiegetisch
(3. Person / keine Figur (1. Person / Figur der
der erzählten Welt) erzählten Welt)
● ● ● ● ● ●
1 2 3 4 5 6
1: Unbeteiligter Erzähler
2: Unbeteiligter Beobachter
3: Beteiligter Beobachter
4: Nebenfigur
5: Eine der Hauptfiguren
6: Die Hauptfigur (= autodiegetisch)
3. Stimme 87
Sieht man davon ab, dass in einer fi ktionalen Erzählung auch die
Grenze zwischen hetero- und homodiegetischem Erzähler durchlässig
sein kann (Flauberts Madame Bovary z. B. beginnt mit der Erzählung
eines anonymen Klassenkameraden von Charles Bovary in der ersten
Person Plural und fährt mit der Stimme eines unbeteiligten Erzählers
fort), so finden wir neben einem eindeutig heterodiegetischen Erzähler
(1) wie in Büchners Lenz fünf verschiedene Varianten eines homodie-
getischen Erzählers: 7 (2) ein unbeteiligter Beobachter wie in William
Faulkners Kurzgeschichte A Rose for Emily (1930), in der ein anony-
mer Mitbürger die Geschichte der Protagonistin erzählt; (3) ein betei-
ligter Beobachter wie im Fall des Rahmenerzählers in Grillparzers Der
arme Spielmann; (4) eine an der eigentlichen Handlung nur am Rande
beteiligte Nebenfi gur, deren Durchschnittscharakter etwa dazu beitra-
gen kann, die überdurchschnittlichen Fähigkeiten des von dieser Figur
bewunderten Protagonisten schärfer hervortreten zu lassen wie im Fall
der Ich-Erzähler Dr. Watson in den Sherlock Holmes-Geschichten von
Arthur Conan Doyle, Serenus Zeitblom in Thomas Manns Doktor
Faustus (1947) oder dem Benediktinermönch Adson in Umberto Ecos
Der Name der Rose (Il nome della rosa, 1980); (5) eine der Hauptfigu-
ren wie etwa Nick Carraway in Francis Scott Fitzgeralds Roman The
Great Gatsby (1925), der als Nachbar von Jay Gatsby, Studienkollege
von Tom Buchanan und Cousin von Daisy Fay in einer engen Bezie-
hung zu einer Gruppe von Hauptfi guren steht und am erzählten Ge-
schehen unmittelbar beteiligt ist; (6) die Hauptfi gur wie in Goethes
Werther oder in Defoes Robinson Crusoe, wo der Protagonist als ein
jeweils homo- und zugleich autodiegetischer Erzähler seine persön-
liche Geschichte erzählt. Berücksichtigt man, dass die Instanzen von
erzählendem und erlebendem Ich hier nahezu identisch sein können
(wie im Fall des Werther) oder aber weit auseinandertreten (wie im Fall
des Robinson Crusoe), so können wir im besonderen Fall der autodie-
getischen Erzählung überdies noch zwischen einer konsonanten und
einer dissonanten Form unterscheiden (Cohn, Minds, S. 145–161).
Max Frischs Roman Stiller (1954) ist im Übrigen ein berühmtes Bei-
spiel dafür, wie eine fi ktionale Erzählung mit verschiedenen Entwürfen
7
Die Varianten (2)–(4) entsprechen Stanzels Typ des ‹peripheren Ich-Erzählers›, die
Varianten (5) und (6) dem ‹autobiographischen Ich-Erzähler› (Stanzel, Theorie, S. 263–
267).
88 II. Das ‹Wie›: Darstellung
A
= = Autobiographie (Fontanes Meine Kinderjahre ) (homo- u. autodiegetisch)
E = F
A
= ≠ Historische Biographie (Golo Manns Wallenstein) (heterodiegetisch)
E ≠ F
3. Stimme 89
A
≠ ≠ Homodiegetische fiktionale Erzählung (Defoes Robinson Crusoe)
E = F
A
≠ ≠ Heterodiegetische fiktionale Erzählung (Büchners Lenz )
E ≠ F
die Zeit seiner Lektüre «aus dem engen Kreise gewöhnlicher Alltäg-
lichkeit» (Prinzessin Brambilla , S. 791) «willig» locken lassen soll
und den ein zuweilen auch als «Autor» auftretender Erzähler in zahl-
reichen Leseransprachen von seiner Sache zu überzeugen und zum
Weiterlesen zu bewegen versucht. Nahezu vollkommen abwesend
scheinen Erzähler und Leser dagegen in den Erzählungen des Realis-
ten Fontane zu sein. Im Rahmen einer Erzählweise, die das Gesche-
hen im Sinne einer von Friedrich Spielhagen propagierten «objektiven
Darstellungsweise» (Spielhagen, Beiträge, S. 134) in seinem chrono-
logischen Zusammenhang szenisch präsentiert, wird der Erzähl- oder
Leseprozess ebensowenig angesprochen wie die Kluft zwischen der
Zeit des Erzählten und der des Erzählens. Nicht explizit, wohl aber
implizit wird jedoch auch in diesem Fall eines scheinbar selbstverges-
senen Erzählens eine bestimmte Sprechsituation entworfen. Die rela-
tiv starke Bindung der narrativen Instanz an Raum und Zeit der
jeweils erzählten Szene, eine dominant externe Fokalisierung und
eine gleichwohl vorhandene offensichtliche Nähe zum Wahrneh-
mungshorizont der Figuren schwächen sowohl die Distanz zum Er-
zählten als auch die heterodiegetische Position des Erzählers ab und
suggerieren die homodiegetische Position eines am erzählten Gesche-
hen als Beobachter beteiligten Zeitgenossen. Da der Adressat der Er-
zählrede in diese Position offenbar umstandslos einbezogen wird,
schlüpft auch er in die Rolle einer Person, die sozu sagen ganz selbst-
verständlich zur erzählten Welt und ihren Figuren gehört.
Eine besondere Art von Sprechsituation fi nden wir schließlich im
Fall der im 20. Jahrhundert öfter verwendeten Erzählung in der zwei-
ten Person, der wir in unterschiedlichen Formen etwa in Ilse Aichin-
gers Spiegelgeschichte (1949), in Michel Butors Paris – Rom oder Die
Modifi kation (La Modifi cation, 1957) oder in Italo Calvinos Wenn
ein Reisender in einer Winternacht (Se una notte d’inverno un viag-
giatore, 1979) begegnen.
Calvinos Roman verwendet eine ebenso irritierende wie faszinie-
rende Mischform zwischen einer Erzählung in der dritten und der
zweiten Person. Die Erzählung beginnt unmittelbar mit der Anrede
eines scheinbar extradiegetischen Lesers durch eine unbestimmte nar-
rative Instanz:
Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer
Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich.
3. Stimme 93
In der Folge wird jedoch deutlich, dass in diesem Fall nicht etwa ein
extradiegetischer Erzähler die von diesem ‹Du› zu rezipierende Ge-
schichte einer dritten, intradiegetischen Figur erzählt, sondern dass
niemand anders als der angesprochene Leser der Protagonist der Hand-
lung ist, der allerlei Abenteuer erlebt und am Ende eine Leserin des
Romans Wenn ein Reisender in einer Winternacht liebt und heiratet.
Infolge einer narrativen Metalepse wird hier eine Leser figur konstru-
iert, bei der die Grenze zwischen extra- und intradiegetischer Position
aufgehoben ist. Mit demselben ‹Du› spricht hier also ein extradiege-
tisch-heterodiegetischer Erzähler zwei Gegenüber an, die normaler-
weise unterschiedlichen Ebenen der Erzählung ange hören: einen extra-
diegetischen Leser außerhalb der erzählten Geschichte und den auf
einer intradiegetischen Ebene handelnden Protagonisten.
Anders als Calvinos Roman, nämlich in zwei deutlich zu unterschei-
denden Textschichten, verbindet auch Aichingers Spiegelgeschichte Er-
zählungen in der zweiten und dritten Person, wobei sich in diesem Fall
sowohl die zweite als auch die dritte Person eindeutig auf eine intra-
diegetische Figur beziehen: Während anonyme Stimmen aus einer
Außensicht den Todeskampf der Protagonistin verfolgen, wird der
Sterbenden von einer extradiegetisch-heterodiegetischen Instanz in
einer rückwärts erzählten Analepse ihr gesamtes Leben vergegegen-
wärtigt. Eine reine Form der Erzählung in der zweiten Person fi nden
wir schließlich in Butors Roman Die Modifi kation, der mit den folgen-
den Sätzen beginnt:
Du hast den linken Fuß auf die Messingschiene gesetzt und versuchst
vergeblich, mit der rechten Schulter die Schiebetür etwas weiter aufzu-
stoßen.
Du zwängst dich durch die schmale Öffnung, dann ergreifst du deinen
dunklen, fl aschengrünen Koffer aus genarbtem Leder, diesen nicht zu
großen Koffer eines Mannes, der zu reisen gewohnt ist, ergreifst ihn mit
der linken Hand, die trotz seines geringen Gewichts warm geworden ist,
weil du ihn bis hierher getragen hast (…).
Nein, für diese ungewöhnliche Schwäche ist nicht nur die kaum noch
morgendliche Stunde verantwortlich, es ist auch das Alter, das dich von
seiner Herrschaft über deinen Körper zu überzeugen versucht, und doch
hast du gerade erst die Fünfundvierzig erreicht. (S. 7)
94 II. Das ‹Wie›: Darstellung
1
Stanzel stellte zunächst noch eine vorsichtige Korrelation zwischen den drei
‹Naturformen› (Goethe) bzw. ‹Grundbegriffen› (Staiger) der Dichtung und seinen drei
‹typischen Erzählsituationen› her (Erzählsituationen , S. 166 f.), die er später jedoch nicht
weitergeführt hat.
96 II. Das ‹Wie›: Darstellung
In Stanzels Typenkreis ist etwa der Weg von der auktorialen zur Ich-
Erzählsituation dadurch gekennzeichnet, dass sich der Erzähler der
erzählten Welt mehr und mehr annähert, um schließlich als Figur in sie
einzutreten (womit dann die Ich-Erzählsituation beginnt). Genau die
entgegengesetzte Bewegung zeigt sich dagegen, wenn man den Typen-
kreis in Richtung der personalen Erzählsituation abschreitet: Hier
zieht sich der Erzähler mit seinen Kommentaren und Refl exionen mehr
und mehr vom Erzählvorgang zurück, bis er schließlich so weit hinter
die Figuren zurückgetreten ist, dass die Illusion der Unmittelbarkeit
entsteht. Jede Form des Vermittlungsvorgangs in einer Erzählung, so
Stanzels These, hat einen bestimmten Platz auf dem Typenkreis, wobei
der besondere Vorzug dieser Art von kreisför miger Ordnung nicht in
der bloßen Zuordnung, sondern «im Aufweisen der Relation» des Ein-
zelfalls zu den «typischen Formen» zu sehen sei (Formen, S. 54).
In den siebziger Jahren hat Stanzel den Systemcharakter seines
Entwurfs zu festigen und zu einer Theorie des Erzählens (1978) auszu-
arbeiten versucht, indem er seinen aus der deutschen Tradition einer
morphologisch und phänomenologisch orientierten Literaturwissen-
schaft geborenen Typenkreis durch das Einbeziehen anderer Ansätze
differenzierte. Im Sinne der formalistischen Methode des Strukturalis-
mus sollen nun drei ‹Konstituenten› und ein System von binären Oppo-
sitionen die Orientierung auf dem Kreis erleichtern. Eingeführt werden
demnach 1. die Konstituente Person (Identität vs. Nichtidentität der
Seinsbereiche von Erzähler und Figuren; in unserer Terminologie ent-
4. Franz K. Stanzels Typologie von ‹Erzählsituationen› 97
doch notwendig eine Nichtiden tität der Seinsbereiche von Erzähler und
Figuren voraussetzt). In Albert Camus’ Der Fremde (L’Étranger, 1942)
dagegen ist im Rahmen einer durchgängigen Erzählung in der ersten
Person (also einer Ich-Erzählsituation nach Stanzel) der Einblick in die
Gefühle und Gedanken des im Vordergrund stehenden erlebenden Ichs
so weit reduziert, dass man hier von der ‹Außensicht› in der Art von
Hemingways The Killers sprechen kann – die Stanzels Typenkreis
jedoch nur in Kombination mit einer Mischform von auktorialer und
personaler Erzählsituation zulässt.
Im Gegensatz zu Stanzels geschlossenem, auf eine imaginäre
Totalität abzielenden Typenkreis sieht das von uns vorgestellte Be-
schreibungsmodell keine beschränkte Zahl typischer Erzählformen,
sondern einen grundsätzlich erweiterbaren Katalog von frei miteinan-
der kombinierbaren Merkmalen vor. Im Hinblick auf die Parameter
Ort, Stellung und Fokalisierung sprechen wir also im Fall des Sand-
manns von der Kombination eines extradiegetisch-homodiegetischen
Erzählers und einer fi xierten internen Fokalisierung und im Fall des
Fremden von einem extradiegetisch-homodiegetischen Erzähler in Ver-
bindung mit einer Tendenz zur externen Fokalisierung. Gleichwohl
können natürlich auch im Rahmen dieses offenen Systems, je nach An-
zahl der Parameter, mehr oder minder komplexe Typen gebildet wer-
den. Berücksichtigt man nur die beiden Parameter Fokalisierung und
Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen, so sind nach einem
von Genette vorgeschlagenen Schema (Erzählung, S. 273) die folgenden
sechs Typen einer Erzählsituation denkbar (was die Orientierung er-
leichtern, nicht aber ausschließen soll, dass auch Grenzfälle und
Mischformen möglich sind):
Stellung
Heterodiegetisch Wilhelm Meister Der Proceß The Killers
Homodiegetisch Tristram Shandy Werther L’Étranger
Ähnlich wie bei Stanzels älterer Version des Typenkreises kann die
Schlichtheit des Schemas auch hier den Blick auf bestimmte historische
Entwicklungen erleichtern. So hat sich z. B. sowohl eine dominante ex-
terne Fokalisierung als auch die Kombination eines heterodiegetischen
100 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Stellung ⬇
Fokalisie- Auktorial Aktorial Neutral Auktorial Aktorial Neutral
rung ➡
Heterodie- Wilhelm Der The Schehre- ? ?
getisch Meister Proceß Killers zâdes
Geschich-
ten in
Tausend
und eine
Nacht
Homodiege- Tristram Hunger L’Étranger ? Werther ?
tisch Shandy
5. Unzuverlässiges Erzählen
5. Unzuverlässiges Erzählen
In Kapitel I,1 haben wir ausgeführt, dass es nicht nur in faktualer, son-
dern auch in fiktionaler Rede sinnvoll ist, zwischen wahren und falschen
Aussagen zu unterscheiden. Im Gegensatz zu einigen Fiktionalitätstheo-
retikern, die fi ktionale Rede grundsätzlich als nicht wahrheitsfähig an-
sehen, stellen wir fest, dass die logische Struktur fi ktionaler Rede zwei
5. Unzuverlässiges Erzählen 101
Indem bekamen sie dreißig oder vierzig Windmühlen zu Gesicht, wie sie
in dieser Gegend sich fi nden; und sobald Don Quijote sie erblickte,
sprach er zu seinem Knappen: ‹Jetzt leitet das Glück unsere Angelegen-
heiten besser, als wir es nur immer zu wünschen vermöchten; denn dort
siehst du, Freund Pansa, wie dreißig Riesen oder noch etliche mehr zum
Vorschein kommen; mit denen denke ich einen Kampf zu fechten und
ihnen allen das Leben zu nehmen. Mit ihrer Beute machen wir den An-
fang, uns zu bereichern; denn das ist ein redlicher Krieg, und es geschieht
Gott ein großer Dienst damit, so böses Gezücht vom Angesicht der Erde
wegzufegen.›
‹Was für Riesen?› versetzte Sancho Pansa.
‹Jene, die du dort siehst›, antwortete sein Herr, ‹die mit den langen Ar-
men, die bei manchen wohl an die zwei Meilen lang sind.›
‹Bedenket doch, Herr Ritter›, entgegnete Sancho, ‹die dort sich zeigen,
sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Euch bei ihnen wie
Arme vorkommt, das sind die Flügel, die, vom Winde umgetrieben, den
Mühlstein in Bewegung setzen.›
‹Wohl ist’s ersichtlich›, versetzte Don Quijote, ‹daß Du in Sachen der
Abenteuer nicht kundig bist; es sind Riesen, und wenn Du Furcht hast,
mach dich fort von hier und verrichte dein Gebet, während ich zu einem
grimmen und ungleichen Kampf mit ihnen schreite.› (S. 67 f.)
Zwischen Don Quijote und Sancho entsteht ein Streit darüber, was in
ihrer Welt der Fall ist: Stehen sie Windmühlen oder Riesen gegenüber?
Zweifellos müssen wir annehmen, dass Sancho Recht hat,während Don
Quijote wieder einmal, nach der Lektüre allzu vieler Ritterromane, einer
102 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Nicht nur für Charon, sondern auch für den Leser hat sich mit diesen
Worten Vergils jeder Zweifel an der Erfüllung von Dantes Wunsch,
über den Fluss gesetzt zu werden, erübrigt.
Die Ausdehnung des logischen Erzählerprivilegs auf die Figurenrede
fi ndet man auch in Märchen, wenn beispielsweise ein Zauberer oder
eine Fee das künftige Geschehen prophezeien. In Dornröschen feiert
ein Königspaar die langersehnte Geburt der Tochter mit einem Fest,
lädt aber von den dreizehn «weisen Frauen» des Reiches nur zwölf ein.
Auf dem Fest schenken diese zwölf Frauen dem Kind nacheinander
Wundergaben.
Als elfe ihre Wünsche eben getan hatten, kam die dreizehnte herein, die
nicht eingeladen war, und sich dafür rächen wollte. Sie rief ‹die Königs-
tochter soll sich in ihrem funfzehnten Jahr an einer Spindel stechen, und
tot hinfallen›. Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch übrig
hatte: zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie
konnte ihn doch mildern, und sprach ‹es soll aber kein Tod sein, sondern
ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt›.
(Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 225 f.)
Die «weisen Frauen» sind gegenüber den anderen Figuren mit über-
natürlichen Fähigkeiten ausgestattet. In der Welt der Märchen sind
Vorausdeutungen solcher Figuren, die mit magischer Kraft ausgestattet
104 II. Das ‹Wie›: Darstellung
Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf
ihre eigene Art unglücklich.
Bei den Oblonskijs herrschte allgemeine Verwirrung. Die Frau des Hau-
ses hatte von der Liebschaft ihres Mannes mit der früheren Gouvernante
ihrer Kinder Kenntnis erhalten und erklärt, daß sie unter diesen Umstän-
den nicht länger mit ihm unter einem Dache leben könne. (S. 7)
5. Unzuverlässiges Erzählen 105
Der Erzähler behauptet in diesen ersten Sätzen des Romans zwei Sach-
verhalte. Erstens geht es um einen Unterschied zwischen glücklichen
und unglücklichen Familien. Zweitens wird von einem Vorfall bei den
Oblonskijs erzählt. Sind beide Behauptungen – im Rahmen der erzähl-
ten Welt – wahr? Sicherlich können wir annehmen, dass beide Sachver-
halte in der Welt von Anna Karenina zutreffen, und vielleicht sollen
wir das nach Absicht des Autors auch. Aber müssen wir beide Behaup-
tungen des Erzählers für wahr halten, um überhaupt ein sinnvolles
Textverständnis zu erzielen? Sind beide nicht nur wahr, sondern not-
wendig wahr? Wenngleich beide Behauptungen vom Erzähler aufge-
stellt werden, unterscheiden sie sich in ihrer logischen Form auf eine
Weise voneinander, die sich auch auf ihren Wahrheitsanspruch aus-
wirkt. Der Satz über glückliche und unglückliche Familien ist eine all-
gemeine moralische Sentenz, während die folgenden Sätze einen kon-
kreten, das heißt räumlich und zeitlich fi xierten Sachverhalt innerhalb
der erzählten Welt als wahr behaupten. Während der erste Satz eine
kommentierende Stellungnahme des Erzählers über die Welt überhaupt
enthält, vermitteln die folgenden Sätze elementare Informationen über
die konkrete Beschaffenheit und das Geschehen in der erzählten Welt.
Wir wollen Behauptungen des ersten Typs theoretische Sätze und
solche des zweiten Typs mimetische Sätze nennen. In fi ktionalen Er-
zählungen erstreckt sich das logische Privileg des Erzählers gegenüber
den Figuren vor allem auf seine mimetischen Sätze, während seine the-
oretischen Behauptungen in der Regel nur die Autorität einer nichtpri-
vilegierten Figur beanspruchen können – sie können für wahr gehalten
werden, müssen es aber nicht, damit ein elementares Textverständnis
gewährleistet ist. (Obwohl es sich nicht in einem strikten Sinne um
theoretische Sätze handelt, wollen wir unter theoretischer Unzuver-
lässigkeit auch solche Fälle fassen, in denen der Erzähler eine subjektiv
getönte Bewertung des Erzählten vornimmt.) Die fundamentale er-
zähllogische Funktion des Erzählers besteht in der Darstellung der
erzählten Welt in ihrer konkreten Individualität, und nur auf diese
Funktion erstreckt sich auch sein privilegierter Wahrheitsanspruch.
1
Manche Erzähltheoretiker wie W. C. Booth (Rhetoric, S. 70–76) und S. Chatman
(Terms, S. 74–109) sind der Auffassung, es müsse, gerade auch für die Erklärung ironi-
schen und unzuverlässigen Erzählens, neben dem Erzähler und dem realen Autor des
Textes als dritte Instanz noch ein impliziter Autor als die objektivierte Quelle der impli-
ziten Botschaft angenommen werden.
5. Unzuverlässiges Erzählen 107
Als die beiden Polizisten – kurz nach neun Uhr morgens [!] – den Hof des
Trödlerhauses in der Klettengasse betraten, war noch Leben in Stanis-
laus Demba.
108 II. Das ‹Wie›: Darstellung
2
Das von Perutz in Zwischen Neun und Neun verwendete Motiv des halluzinatori-
schen Abenteuers eines Sterbenden fi ndet sich bereits in Ambrose Bierces Erzählung An
Occurrence at Owl Creek Bridge (1891, s. o. S. 40) und später in den Erzählungen Der
Süden (El Sur, 1944) von Jorge Luis Borges und Die Nacht auf dem Rücken (La noche
boca arriba, 1956) von Julio Cortázar.
5. Unzuverlässiges Erzählen 109
Wir wollen das Kapitel über das unzuverlässige Erzählen mit einer Art
von Inkonsistenz abschließen, die sich von den bisher beschriebenen
grundsätzlich unterscheidet, weil sie zwar Teil des literarischen Textes,
aber nicht Teil des literarischen Kunstwerks ist. Ein Beispiel hierfür
entnehmen wir Cervantes’ Don Quijote. Im 23. Kapitel des ersten Teils
wird erzählt, wie Sancho Pansa der Esel geraubt wird, im 30. Kapitel,
wie Sancho ihn wieder zurückerhält. In den dazwischenliegenden
Kapiteln werden nun aber Episoden erzählt, in denen Sancho wie
selbstverständlich auf seinem Esel reitet. Wir verfügen über keinerlei
Indizien dafür, dass dieser Widerspruch im Gesamtaufbau des Romans
eine Funktion hätte. Vielmehr widerspricht eine solche Aufhebung
kausaler Folgerichtigkeit den generellen erzählerischen Konventionen
des Romans. Im Don Quijote ist es ja grundlegend, dass die Welt, in
der Don Quijote und Sancho Pansa sich bewegen, konsistent und stabil
ist – jedenfalls für den Leser, nicht unbedingt für die beschränkte
Wahrnehmung der Figuren – und dass die Erzählerrede zuverlässig ist.
Es handelt sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach schlicht um ein Ver-
sehen von Cervantes, das, so vermuten die Experten, durch eine Verän-
derung der Kapitel- und Episodenfolge im Manuskript im Verlauf der
Drucklegung verursacht wurde.
Während die wunderbare Rückkehr von Sanchos Esel den Lesern
des Don Quijote kein besonderes Kopfzerbrechen bereitet hat, ist viel
Interpretationsenergie auf einen Text Franz Kafkas gerichtet worden,
der zuerst von Kafkas Nachlassverwalter Max Brod 1946 unter dem
Titel Der Jäger Gracchus in dem Kafka-Sammelband Beschreibung
eines Kampfes veröffentlicht wurde. In der zweiten Hälfte des kurzen
Textes kommt es zu einem Dialog zwischen dem Jäger Gracchus und
dem Bürgermeister von Riva, in dem es u. a. heißt:
5. Unzuverlässiges Erzählen 111
‹(…) ‹Der große Jäger vom Schwarzwald› hieß ich. Ist das eine Schuld?›
‹Ich bin nicht berufen, das zu entscheiden›, sagte der Bürgermeister,
‹doch scheint auch mir keine Schuld darin zu liegen. Aber wer trägt denn
die Schuld?› ‹Der Bootsmann›, sagte der Jäger. ‹Niemand wird lesen, was
ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen (…)› (Kafka,
Jäger [Brod], S. 104)
Die Antwort des Jägers ist merkwürdig. Einerseits gehört sie zum Dia-
log mit dem Bürgermeister, andererseits impliziert sie eine monolo-
gische Schreibsituation («Niemand wird lesen, was ich hier schreibe»).
Dieser «Bruch der Erzählperspektive» (Nägele, Suche, S. 66) ist als
«unbefriedigende Perspektivgestaltung» (Binder, Jäger, S. 435) kritisiert
worden. Andere interpretierten ihn als Einbrechen der existentiellen
Schreibsituation Kafkas in die fi ktionale Sphäre seines eigenen Textes
(«Der Schreibende ist Kafka», Nägele, Suche, S. 66). Wieder andere er-
kannten darin einen bedeutsamen Kunstgriff («a highly charged narra-
tive signal with interpretive importance», Haase, Kafka’s, S. 321), der
gerade die künstlerische Geschlossenheit («completed composition»,
ebd., S. 319) der Erzählung herstelle, weil er den Dialog als Phantasie-
vorstellung des einsam schreibenden Gracchus enthülle. 1993 erschien
im Rahmen der historisch-kritischen Kafka-Ausgabe eine neue Edition
dieses Textes, die allererst zu erkennen erlaubte, dass er in dieser Form
gar nicht von Kafka stammt. Im sogenannten ‹Oktavheft B›, dem er
entnommen ist, bricht ein (titelloser) erster Text mit den Worten ab:
«‹Der Bootsmann›, sagte der Jäger» (Kafka, Schriften, S. 310). Ein spä-
terer Text, der vom ersten durch andere Prosastücke getrennt ist, be-
ginnt mit den Worten: «Niemand wird lesen, was ich hier schreibe,
niemand wird kommen, mir zu helfen» (ebd., S. 311). Dieser zweite
Text stellt, wie aus seinem weiteren Verlauf deutlich wird, einen inne-
ren Monolog des Gracchus dar. Brod hat also in seiner Rekonstruktion
des Jäger Gracchus aus dem Ma nuskriptmaterial verschiedene, thema-
tisch verwandte Prosastücke zu einem einzigen Text kompiliert, der in
alle folgenden Kafka-Ausgaben übernommen wurde. Die scharfsinni-
gen Deutungen der Interpreten des Jäger Gracchus haben mit Kafkas
Textentwürfen nichts zu tun. Der angebliche Perspektivwechsel von
einer dialogischen zu einer monologischen Erzählform in der gerade
zitierten Passage ist weder ein zurecht von Kafka verworfenes, weil
künstlerisch unbefriedigendes Erzählverfahren noch ein bedeutsames
Dokument der unaufl öslichen Verklammerung von Kafkas Biographie
112 II. Das ‹Wie›: Darstellung
und seinem literarischem Werk noch auch eine raffi nierte Modalisie-
rung des vermeintlichen Dialoges als das Phantasiegebilde eines einsam
Schreibenden, sondern schlicht der Missgriff eines Herausgebers.
Solche Inkonsistenzen, die durch ein Versehen des Autors, korrupte
Manuskripte, fehlerhafte Textüberlieferung oder eigenmächtige Ent-
scheidungen eines Editors entstanden sind, können dem intentionalen
Gebilde des literarischen Werkes nicht als funktionale Bestandteile zu-
gerechnet werden. Insofern gehören sie nicht mehr in den Bereich einer
– und sei es ironischen – Kommunikation zwischen Autor und Leser
und sind deshalb auch keine Fälle von unzuverlässigem Erzählen. Sie
sind zwar textgenetisch erklärbar, aber nicht textstrukturell interpre-
tierbar.3
Allerdings sind solche Feststellungen im Einzelfall nicht immer
leicht zu treffen und bleiben grundsätzlich revidierbar – sowohl, weil
sich der Kenntnisstand über die vermeintlich authentische Text gestalt
ändern kann, als auch, weil anscheinend unüberbrückbare Inkonsis-
tenzen eines Textes vielleicht doch noch durch eine ingeniöse Neuinter-
pretation hermeneutisch gerechtfertigt werden. In Heinrich von Kleists
Erzählung Die Verlobung in St. Domingo (1811) trägt die Hauptfigur
den Namen Gustav. In allen drei Druckfassungen zu Lebzeiten des Au-
tors wird Gustav jedoch viermal nacheinander als August bezeichnet,
ohne dass dieser Namenwechsel begründet würde. Die Herausgeber
glaubten bislang übereinstimmend an ein Versehen Kleists und emen-
dierten an diesen Stellen ‹August› zu ‹Gustav›. Diese communis opinio
der Kleist-Editoren wurde jüngst von Roland Reuß in Frage gestellt,
der darauf aufmerksam machte, dass ‹August› ein Anagramm von
‹Gustav› darstellt, und in einer (allerdings umstrittenen) Interpretation
dem Namenwechsel eine Bedeutung im Gesamtzusammenhang der
Erzählung zuwies (vgl. Reuß, «Verlobung», bes. S. 39–41).
3
Wir verwenden also einen Bedeutungsbegriff, der die Textbedeutung mit der
Autorintention verbindet (ohne sie mit dieser gleichzusetzen); zum Zu sammenhang
von Autorschaft, Intention, Interpretation und Textbedeutung s. Jannidis u. a. (Hg.),
Rückkehr.
III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
1. Handlung
III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
1. Handlung
Wir wenden uns nun dem Bereich des ‹Erzählten› zu und untersuchen
zunächst mit dem ‹Ereignis›, dem ‹Geschehen› und der ‹Geschichte›
drei Grundbegriffe der Handlung narrativer Texte.
1
Wir verwenden ‹Ereignis› und ‹Motiv› bedeutungsgleich, bevorzugen aber die Be-
zeichnung ‹Ereignis›, um die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ‹Motiv› zu vermeiden. Denn
außer im narratologisch-strukturellen Sinne der kleinsten Einheit einer Handlung wird
‹Motiv› in der folkloristischen und literarhistorischen Stoff- und Motivforschung auch
im thematischen Sinne eines Handlungselements verwendet, das sich wegen seiner Unge-
wöhnlichkeit und Prägnanz in der Tradition erhalten hat (z. B. ‹Die verfeindeten Brüder›,
‹Die verleumdete Gattin›) (s. Lüthi, Märchen, S. 19 u. 80 f.). Schließlich werden gelegent-
lich auch Elemente der Erzählung als ‹Motive› bezeichnet, die nichts mit der Handlung
zu tun haben, sondern die erzählerische Rede kennzeichnen – etwa, als gattungs typisches
Märchenmotiv, die Wendung ‹Es war einmal…›.
114 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
analog sind. Formal gesehen, sind sie nämlich aus Subjekt und Prädi-
kat zusammengesetzt, wobei als Subjekte Gegenstände oder Personen
und als Prädikate Geschehnisse oder Handlungen verwendet werden
können.
Ein Motiv, oder Ereignis, kann einerseits aus einem Geschehnis im
Sinne einer nicht intendierten Zustandsveränderung bestehen – bei-
spielsweise, in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1911),
der Ausbruch der Cholera: «Aber wahrscheinlich waren Nahrungs-
mittel [von der Cholera] infi ziert worden, Gemüse, Fleisch, oder
Milch, denn geleugnet und vertuscht fraß das Sterben in der Enge der
Gäßchen um sich, und die vorzeitig eingefallene Sommerhitze, welche
das Wasser der Kanäle laulich erwärmte, war der Verbreitung be-
sonders günstig» (S. 513). Die andere Gruppe von Motiven bilden
Handlungen im engeren Sinne von Figurenhandlungen. In diesem
Fall kommt die Situationsveränderung durch die Realisierung von
Handlungsabsichten menschlicher oder anthropomorpher Agenten
zustande, so wie hier: «Vor einem kleinen Gemüseladen kaufte er
[d. i. Gustav Aschenbach] einige Früchte, Erdbeeren, überreife und
weiche Ware, und aß im Gehen davon» (ebd., S. 520 f.). Ironischer-
weise verkehren sich in Manns Novelle bei genauerem Verständnis
fatale Zufälle und Handlungsautonomie in ihr Gegenteil: Die durch
Nahrungsmittelinfektion und Sommerhitze scheinbar zufällig verur-
sachte Ausbreitung der Cholera steht, so wird angedeutet, im Dienst
einer mythischen Macht, während Aschenbachs vermeintlich selbst-
bestimmter Erdbeerverzehr ihn ungewollt tödlich infi ziert. In jedem
Fall setzen situationsverändernde Motive offensichtlich die Existenz
von Situationen und damit statische Sachverhalte voraus. Anders
gesagt: Das Erzählen von Veränderungen ist ohne ein Beschreiben
von Sachverhalten nicht möglich. Solche Sachverhalte bestehen aus
Zuständen («Eine widerliche Schwüle lag in den Gassen», ebd.,
S. 480) oder Eigenschaften («Gustav von Aschenbach war etwas unter
Mittelgröße, brünett, rasiert», ebd., S. 456).
Durchläuft ein Subjekt nacheinander mehrere Ereignisse, bilden
diese Ereignisse ein Geschehen. Im Geschehen seriell aneinanderge-
reihte Ereignisse ergeben aber erst dann eine zusammenhängende Ge-
schichte, wenn sie nicht nur (chronologisch) aufeinander, sondern auch
nach einer Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander folgen. Der eng-
lische Romancier und Kritiker E. M. Forster hat den Unterschied zwi-
schen einer bloß chronologischen Abfolge von Ereignissen (‹story›) und
1. Handlung 115
2
Im Unterschied zu unserem weiten Begriff von ‹Motivierung› begrenzt z. B. Propp
den Begriff der Motivierung psychologisch auf «die verschiedenen Beweggründe als
auch die Absichten der Gestalten (…), die sie zu bestimmten Handlungen veranlassen»
(Morphologie , S. 75).
116 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
b) Motivierung
Die Motivierung (oder Motivation) des Geschehens, so wurde gesagt,
integriert das dargestellte Geschehen zum sinnhaften Zusammenhang
einer Geschichte. Es sind drei Arten von narrativer Motivierung zu un-
terscheiden. Die beiden ersten gehören der erzählten Welt fi ktionaler
Texte an. Die (1) kausale Motivierung erklärt ein Ereignis, indem sie es
als Wirkung in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einbettet,
der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt. Kausale
Motivierung umfasst nach dieser Bestimmung nicht nur Figurenhand-
lungen, sondern auch Geschehnisse – nicht intendierte Handlungsfol-
gen, Gemengelagen sich überkreuzender Handlungen, gänzlich nichtin-
tentionales Geschehen oder auch Zufälle. (Ein Ereignis wird nicht etwa
1. Handlung 117
Der Leser liest dann gewissermaßen ‹zwischen den Zeilen›, und ergänzt
unwillkürlich (…) manche von den Seiten der dargestellten Gegenständ-
lichkeiten, die durch den Text selbst nicht bestimmt sind. Dieses ergän-
zende Bestimmen nenne ich das ‹Konkretisieren› der dargestellten Ge-
genstände. (Ingarden, Erkennen, S. 47)
Auf die Motivation des Geschehens bezogen heißt das: Wenn im Text
die kausalen Verknüpfungen der dargestellten Ereignisse nicht explizit
gemacht sind, sind diese Verknüpfungen in der erzählten Welt nicht
etwa nicht vorhanden, sondern unbestimmt-vorhanden und werden
vom Leser im konkretisierenden Akt der Lektüre, gesteuert durch ent-
sprechende Textsignale, als gegeben vorausgesetzt und hinzuimaginiert.
Aus der Unbestimmtheit motivationaler Zusammenhänge können
Autoren besondere Effekte erzielen, indem sie das Konkretisieren der
Unbestimmtheitsstellen durch den Leser mit widersprüchlichen Signalen
steuern. In manchen Erzählwerken bleibt die gesamte Motivation des
Geschehens bis zum Schluss unentscheidbar mehrdeutig. So scheint
Manns Der Tod in Venedig zunächst eine realistische Geschichte über
den Schriftsteller Aschenbach zu erzählen, der von München aus zufällig
nach Venedig fährt, sich dort versehentlich mit der Cholera infi ziert und
schließlich daran stirbt. Doch enthält der Text von Anfang an versteckte
Signale, die Aschenbachs Ende als ein von vornherein festliegendes
Schicksal erscheinen lassen, das von einer numinosen Macht mittels
einer Reihe von scheinbaren Zufällen absichtsvoll herbeigeführt wird.
So scheitert beispielsweise Aschenbachs Versuch, aus dem choleraver-
seuchten Venedig abzureisen, daran, dass seine Koffer nicht nach Mün-
chen, sondern nach Como, also «zusammen mit anderer, fremder
Bagage, in völlig falsche Richtung geleitet» (S. 484) werden. Das liest
sich auf den ersten Blick wie ein zufälliges Missgeschick. Im Zusammen-
1. Handlung 119
Tomaševskij fordert hier, jedes Motiv und jedes Detail, die in einer
Erzählung erwähnt werden, müssten handlungsfunktional sein, indem
sie zum Fortgang der Handlung beitrügen. Aber auch in dieser Hin-
sicht irrelevante Motive sind kompositorisch motivierbar. In solchen
Fällen besteht eine semantische Relation zwischen dem einzelnen
Motiv und der Gesamtheit (oder zumindest größeren Teilen) der Hand-
lung. Bei den freien Motiven wollen wir unter Rückgriff auf Roman
Jakobson zwischen metaphorischer und metonymischer Verwendung
unterscheiden. Jakobson bestimmt metaphorische Relationen durch
Ähnlichkeit (d. h. durch eine partielle Merkmalsgleichheit) und meto-
nymische Relationen durch Kontiguität (d. h. durch eine räumliche,
zeitliche oder kausale Nähe oder eine synekdochische pars pro toto-
Beziehung der Relata) (Jakobson, Seiten, bes. S. 133–139).
(a) Betrachten wir zunächst ein Beispiel für ein Motiv in metaphori-
scher Verwendung. Über Effi Briest wird im zweiten Kapitel von Fonta-
nes gleichnamigem Roman (1895) erzählt, wie sie zusammen mit
Freundinnen im elterlichen Garten auf eine Schaukel steigt («wir wol-
len uns schaukeln, auf jeder Seite zwei, reißen wird es ja wohl nicht»,
Effi Briest, S. 16) – eine Schaukel, wie bereits im ersten Absatz des Ro-
mans beiläufi g erwähnt wird, «deren horizontal ge legtes Brett zu
Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing – die Pfosten der Balken-
lage schon etwas schief stehend» (ebd., S. 7). Am Ende des Romans,
nachdem ihre Ehe mit dem Baron von Innstetten gescheitert und sie
sozial geächtet ist, klettert die todkranke Effi noch einmal auf die
Schaukel.
Sie sprang hinauf mit einer Behendigkeit wie in ihren jüngsten Mädchen-
tagen, und ehe sich noch der Alte [i. e. der Pastor Niemeyer], der ihr zu-
sah, von seinem halben Schreck erholen konnte, huckte sie da zwischen
den zwei Stricken nieder und setzte das Schaukelbrett durch ein ge-
schicktes Auf- und Niederschnellen ihres Körpers in Bewegung. Ein paar
Sekunden noch, und sie fl og durch die Luft, bloß mit einer Hand sich
haltend, riß mit der andern ein kleines Seidentuch von Brust und Hals
und schwenkte es wie in Glück und Übermut. (ebd., S. 281)
nicht kausal oder fi nal, aber metaphorisch mit der Handlung ver-
bunden.3
(b) Für ein metonymisch verwendetes Motiv können wir das von
Tomaševskij erwähnte Cechovsche Beispiel eines Nagels an der Wand
nehmen. Die Hervorhebung eines solchen Details erscheint willkürlich,
bevor der Nagel für den Suizid des Helden gebraucht wird. In diesem
Moment jedoch wird der Nagel durch seine räum liche und kausale
Nähe zum Suizid des Helden metonymisch in die Handlung eingebun-
den.
Nicht immer jedoch sind Motive, sei es handlungsfunktional, meta-
phorisch oder metonymisch, in die Handlung integriert. Tomaševskijs
Forderung nach lückenloser Funktionalisierung aller «Requisiten» und
«Episoden» ist überpointiert und unterstellt eine Norm des Erzählens,
die vielen literarischen Texten nicht gerecht wird. Aber nicht nur bei
dem russischen Formalisten begegnet man einer solchen Forderung.
Auch sonst wird häufig eine fehlende oder unplausible Motivierung der
Handlung als ästhetischer Fehler getadelt. Vor dem Hintergrund unserer
Unterscheidungen wäre bei solchen Vorwürfen jedoch zu präzisieren, im
Hinblick auf welchen der drei Motivierungstypen die Begründung des
erzählten Geschehens als ungenügend erscheint und ob eine Erzählung
möglicherweise anhand eines Standards von narrativer Kohärenzbil-
dung verurteilt wird, dem sie gar nicht unterliegt.
Selbst realistische Erzählwerke des 19. Jahrhunderts, die in viel facher
Hinsicht die Erwartungshaltungen und Wertungsnormen geprägt ha-
ben, an denen wir uns intuitiv orientieren, wenn es um fi ktionales
Erzählen geht, genügen nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar der For-
derung nach einer totalen Funktionalisierung der verwendeten Motive.
Betrachten wir eine Passage aus Gustave Flauberts Erzählung Ein
schlichtes Herz (Un cœur simple, 1877). Es wird das Haus beschrie-
ben, in dem Madame Aubain mit ihrer Magd Félicité lebt.
Dieses Haus, das mit Schiefer bekleidet war, lag zwischen einem Durch-
gang und einer Gasse, die zum Fluß herablief. Die Böden im Innern des
Hauses waren uneben, was zum Stolpern Anlaß gab. Ein enger Flur
trennte die Küche von dem Saal, in dem Madame Aubain sich in der
3
Die Relation zwischen einem metaphorischen Motiv und der Erzählung als Gan-
zem wird gelegentlich als ‹Spiegelung› oder ‹mise en abyme› beschrieben (s. Scheffel,
Formen, S. 71–85).
122 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
Nähe des Fensters, in einem Strohsessel sitzend, den ganzen Tag über
aufhielt. Acht Mahagonistühle reihten sich an der weißgestrichenen
Täfelung entlang. Ein altes Klavier trug, unterhalb eines Barometers,
einen pyramidenartigen Haufen von Schachteln und Kartons. Zwei
gestickte Lehnsessel standen auf beiden Seiten des Kamins aus gelbem
Marmor und im Stil Louis XV. Die Uhr in der Mitte stellte einen Vesta-
tempel dar – und das ganze Zimmer hatte einen etwas modrigen Geruch,
denn der Fußboden lag tiefer als der Garten. (S. 9 f.)
Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was
selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch
natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umge-
kehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas folgt, und zwar notwen-
digerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr
eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als
auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen,
wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle ein-
setzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die
genannten Grundsätze halten. (1450b)
ten, die offensichtlich nach ganz anderen als den uns aus unserer
eigenen Lebenswelt vertrauten Gesetzen und Regeln funktionieren?
Mindestens in einer zentralen Hinsicht dürfte jeder narrative Text
etwas mit unserer alltäglichen Lebenswelt gemeinsam haben: Wir
nennen einen Text erst dann narrativ, wenn das dargestellte Gesche-
hen nicht nur Geschehnisse enthält, sondern auch von Handlungen
menschlicher oder anthropomorpher Agenten mitverursacht wird.
Das Verwittern eines Gesteins oder Wolkenbildungen am Himmel
kann man nicht, in einem normalen Sinn des Wortes, ‹erzählen› – es
sei denn, man anthropomorphisierte das Geschehen und verliehe ihm
so die intentionale Qualität von Handlungen. Der Begriff der Hand-
lung wiederum setzt den offenen Möglichkeitshorizont des Handeln-
den voraus, angesichts dessen er sich zwischen alternativen Hand-
lungsmöglichkeiten entscheidet. Der Handelnde unterstellt eine
kausale Beeinflussbarkeit des künftigen Geschehens durch «sinnvolle
Spontaneität», und zwar in der Über zeugung, «daß der projizierte
Zustand durch in die Außenwelt eingreifende Leibbewegungen her-
beizuführen ist» (Schütz / Luckmann, Strukturen, Bd. 1, S. 52). Beides,
die offene Zukunft und ihre kausale Beeinfl ussbarkeit, ist analytisch
im Begriff der Handlung enthalten: Zu handeln setzt voraus, dass
man vor dem Horizont einer offenen Zukunft zwischen verschiede-
nen Handlungsentwürfen wählt und dass man den gewählten Hand-
lungsentwurf in einen praxisbezogenen Kontext kausaler Regeln ein-
bettet. Dieser Begriff der Handlung dürfte als «unbefragter Boden
der natürlichen Weltanschauung» (ebd., S. 25) eine anthropologische
Konstante jeder menschlichen Lebenswelt darstellen. Weil narrative
Texte Darstellungen menschlicher Handlungen sind, müssen wir als
Leser den offenen Möglichkeitshorizont der Protagonisten rekonstru-
ieren, um ihre Handlungen als Handlungen überhaupt verstehen zu
können. In den letzten Jahren haben kognitionspsychologische Expe-
rimente über das Verstehen narrativer Texte diese Auffassung empi-
risch bestätigen können. So stellt etwa der Experimentalpsychologe
Gordon Bower fest: «Understand ing characters in stories and remem-
bering their actions is alleged to use methods and rules similar to
those invoked in actual person perception.» (Bower, Experiments,
S. 211; ähnlich Brewer, Story Schema)
Andererseits gehört zum besonderen Charakter narrativer Texte
auch, dass wir die erzählte Geschichte von einem notwendig retros-
pektiven Standpunkt erfassen. Eine Erzählung ist nicht einfach eine
1. Handlung 127
d) Handlungsschema
Wir lesen fi ktionale Erzählungen nicht zuletzt deswegen, weil uns die
dargestellten Figuren, Handlungen und Milieus interessieren. Aber ha-
ben diese fi ktiven Personen, ihre Taten und ihre Umgebungen über ihre
Individualität hinaus irgendeine Bedeutung? Hat jede literarische Er-
zählung ein Thema? Stellt sie eine These über die Welt auf? Will sie
eine bestimmte Weltanschauung oder Lebensform propagieren? Unter
den Ansätzen, die diese Fragen zustimmend beantworten und narrati-
ven Texten allgemeinere Bedeutungen zuweisen, greifen wir im Folgen-
den strukturalistisch-semiotische Modelle auf. Modellen mit dieser
Orientierung ist gemeinsam, dass sie die Exis tenz eines abstrakten Be-
deutungskerns in Form eines Handlungsschemas annehmen, das als
latente Tiefenstruktur der konkreten Handlung zugrunde liege. Um
diesen Bedeutungskern freizulegen, reduzieren sie die Handlung auf
abstrakte Tiefenstrukturen, aus denen die gesuchte Bedeutung bestehe.
In dieser Reduktion des komplexen Handlungsgefüges auf eine ein-
fache begriffl iche Struktur liegt die besondere Leistung, aber auch die
Begrenzung und Fragwürdigkeit solcher Modelle.
Wir unterscheiden zwischen ‹Handlungsschema› und ‹Erzählschema›.
Das Handlungsschema ist ein typischer, d. h. mehreren narrativen Tex-
ten (z. B. den Texten einer Gattung) gemeinsamer Handlungsverlauf.
In einem weiteren Sinne bezeichnet man mit ‹Handlungsschema› nicht
nur Strukturen der Handlung narrativer Texte, sondern typische Mus-
ter von Erzählungen und Erzählvorgängen insgesamt, einschließlich
der Darstellung und erzählpragmatischer Aspekte; für solche umfas-
senderen Strukturen des Erzählens (wie sie etwa der Soziologe William
Labov in seinen Untersuchungen zum Erzählen im Alltag beschrieben
hat, s. u. S. 165 ff.) sollte man jedoch besser den Ausdruck Erzähl-
schema verwenden.
Das Konzept des Handlungsschemas nimmt, auch unter Bezeich-
nungen wie ‹minimal story›, ‹motif›, ‹story schema›, ‹monomyth›,
‹arche type›, ‹Tiefen-› oder ‹Makrostruktur›, in der Erzähltheorie eine
zentrale Stellung ein. Die Versuche, narrative Texte mit Hilfe von
Handlungsschemata zu analysieren, scheiden sich in zwei Gruppen:
solche, die, wie Claude Bremond (in Logique) oder Algirdas J. Greimas
(in Sémantique und Du sens), universale Tiefenstrukturen narrativer
Texte beschreiben, und solche, die, wie Vladimir Propp (in Morpho-
logie), typische Handlungsmuster einzelner Werkgruppen oder Gat-
130 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
1. Der Zar gibt dem Burschen einen Adler. Dieser bringt den Burschen in ein anderes
Reich.
2. Der Großvater gibt Sucenko ein Pferd. Das Pferd bringt Sucenko in ein anderes Reich.
3. Der Zauberer gibt Ivan ein kleines Boot. Das Boot bringt Ivan in ein anderes Reich.
4. Die Zarentochter gibt Ivan einen Ring. Die Burschen, die in dem Ring stecken, bringen
Ivan in das fremde Zarenreich. (S. 25)
Propp erkannte, dass in diesen Passagen zwar die Namen und Gestalten
der Figuren variieren, aber stets dieselbe narrative (Teil-)Struktur vor-
liegt: die Versetzung des Helden in die Fremde durch die Gabe eines
Helfers. Ein solches invariantes Element, das im gesamten Textkorpus
konstant bleibt, nannte Propp eine Funktion:
Unter Funktion wird hier eine Aktion einer handelnden Person verstan-
den, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung
defi niert wird. (S. 27)
Für Propp ist die Funktion die grundlegende narrative Einheit. So wie
ein Molekül aus Atomen zusammengesetzt ist, so lasse sich eine Erzäh-
lung als eine Kombination von Funktionen beschreiben. Bei seiner
Untersuchung der hundert Zaubermärchen gelangte Propp zu der Ein-
sicht, dass ihnen allen eine einzige Handlungsstruktur zugrunde liegt,
deren vollständige Form aus einer Abfolge von 31 Funktionen besteht.
Um eine Vorstellung von Propps Analysen zu geben, führen wir die
wichtigsten der 31 Funktionen auf, ohne sie zu erläutern: Auslöser der
Handlung ist eine Schädigung, eine Verbotsverletzung oder eine Man-
gelsituation. Der Held wird mit der Beseitigung des Übels beauftragt.
Er verlässt das Haus. Er wird auf die Probe gestellt und gewinnt ein
Zaubermittel oder einen übernatürlichen Helfer. Der Held gelangt zum
Aufenthaltsort des gesuchten Gegenstandes. Der Held und sein Gegner
treten in einen Zweikampf. Der Gegner wird besiegt. Die anfängliche
Schädigung, Verbotsverletzung oder Mangelsituation wird behoben.
Der Held reist zurück, wird dabei verfolgt und vor seinen Verfolgern
gerettet. Der Held gelangt unerkannt nach Hause zurück. Ein falscher
134 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
2. Erzählte Welt
2. Erzählte Welt
Die Handlung eines narrativen Textes, auf die wir uns im vorigen
Kapitel konzentriert haben, ist Teil der erzählten Welt, in der sie statt-
fi ndet. Jeder fi ktionale Text entwirft eine eigene Welt. Wir haben da-
2. Erzählte Welt 135
Es war einmal ein Rotschopf, der hatte weder Augen noch Ohren. Er
hatte auch keine Haare, so daß man ihn an sich grundlos einen Rot-
schopf nannte. Sprechen konnte er nicht, denn er hatte keinen Mund.
Eine Nase hatte er auch nicht.
Er hatte sogar weder Arme noch Beine. Er hatte auch keinen Bauch, kei-
nen Rücken, er hatte keine Wirbelsäule, und er hatte auch keine Einge-
weide. Nichts hatte er! So daß unklar ist, um wen es hier eigentlich geht.
Reden wir lieber nicht weiter darüber. (Fälle, S. 207)
verhalte, die, ohne dass sie ausdrücklich behauptet worden oder aus
dem Ausgesprochenen analytisch ableitbar wären, doch als vom Erzäh-
ler mitgemeint zu verstehen sind. So ist es zwar nicht analytisch im
Begriff eines rothaarigen Menschen enthalten, dass er aktuell Arme
und Beine, Nase und Mund, Wirbelsäule und Eingeweide besitzt – er
könnte ja Gliedmaßen, das Gesicht und vielleicht sogar den Rumpf
(man verzeihe das Beispiel) bei einem Unfall verloren haben. Doch
würde der Erzähler wenn schon keine logischen Gesetze, so doch ele-
mentare pragmatisch-kommunikative Konventionen verletzen, wenn er
uns verschwiege, dass sein Protagonist nurmehr als isoliertes Gehirn
auf einer Intensivstation existiert. Solche pragmatischen Implikatio-
nen narrativer Texte können durch sogenannte konventionelle und
konversationelle Implikaturen erklärt werden, die zuerst vom Sprach-
philosophen H. P. Grice beschrieben wurden. Im Falle von Charms’
Rotschopf wird beispielsweise das konversationelle Prinzip der Quanti-
tät verletzt, demzufolge solche Umstände, die zum Verständnis einer
Aussage wichtig, aber aus dieser nicht ableitbar sind, ebenfalls recht-
zeitig mitgeteilt werden sollten.
Neuere empirisch-kognitionspsychologische Untersuchungen zu die-
sem Thema verwenden das Konzept der Inferenz. Sie beschreiben die
Lektüre narrativer Texte als einen dynamischen kognitiven Prozess, der
sowohl von Textsignalen (bottom-up) als auch von Inferenzen aus dem
Langzeitgedächtnis des Lesers (top-down) gesteuert wird (Bortolussi / Di-
xon, Psychonarratology, S. 97–132; Ryan, Possible Worlds, S. 124–147).
Im Prozess der Lektüre sammelt der Leser Stück für Stück einschlägige
Textinformationen, die er nach Schemata ordnet, die in seinem Lang-
zeitgedächtnis gespeichert sind. Die Zuordnung von Textelementen zu
kognitiven Kategorien fließt wiederum in den Lektüreprozess ein, indem
der Leser sein mentales Modell der Geschichte, die er gerade liest, mit
Hypothesen über implizite Sachverhalte der erzählten Welt und über den
zukünftigen Verlauf der Handlung ergänzt und verändert.
Dabei inferiert er nicht nur schematische scripts und frames aus sei-
ner alltäglichen Wirklichkeitserfahrung und seinem Weltwissen, son-
dern auch Vorkenntnisse über literarische Konventionen , insbesondere
von Gattungsregeln. Kausalitäten und Kohärenzen sind im Märchen
anders beschaffen als im realistischen Roman. Dass Frösche sprechen,
ist im Grimmschen Märchen erwartbar, wäre aber nach den Regeln
eines Romans von Theodor Fontane inkohärent. Entsprechend nimmt
der Leser unterschiedliche Inferenzen vor.
2. Erzählte Welt 137
Dann befragte er [i. e. der Gastwirt] ihn, ob er Geld bei sich führe. Don
Quijote entgegnete, er habe keinen Pfennig in der Tasche, denn er habe
nie in den Geschichten der fahrenden Ritter gelesen, daß irgendeiner
Geld mitgenommen hätte.
Darauf versetzte der Wirt, er sei im Irrtum; denn zugegeben, daß es in
den Geschichten nicht geschrieben stehe, weil deren Verfasser gemeint,
es sei unnötig, so selbstverständliche Dinge, die bei sich zu haben so
unerläßlich sei, wie Geld und reine Hemden, ausdrücklich zu erwähnen,
so müsse man darum nicht glauben, daß sie dieselben nicht bei sich führ-
ten. (S. 35)
4
Halten wir Don Quijote zugute, dass er Hartmanns von Aue mittelhochdeutschen
Ritterroman Erec (um 1180) nicht kennen konnte, in welchem Erec in einer fremden
Stadt zunächst aus Geldmangel keine Unterkunft fi ndet (s. Erec, V. 238).
138 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
I was born in the Year 1632, in the City of York, of a good Family, tho’
not of that Country, my Father being a Foreigner of Bremen, who settled
fi rst at Hull: He got a good Estate by Merchandise, and leaving off his
Trade, lived afterward at York, from whence he had married my Mother,
whose Relations were named Robinson, a very good Family in that
Country, and from whom I was called Robinson Kreutznaer ; but by the
usual Corruption of Words in England, we are now called, nay we call
our selves, and write our Name Crusoe, and so my Companions always
call’d me. (Bd. 1, S. 1) (Hervorhebungen im Original)
Defoe verknüpft die erzählte Welt seines Romans mit der realen Welt.
Er verwendet reale Zeitangaben («1632»), Orts- («York», «Bremen»)
und Ländernamen («England»). Wichtiger noch als solche punktuelle
Referenz auf die reale Welt mit Hilfe von Eigennamen und Jahreszah-
len ist für die Art der erzählten Welt jedoch ihr Grundcharakter oder
Stil, wie er sich in diesem ersten und den weiteren Sätzen des Textes
entfaltet. Crusoe lebt in einer Welt, in der es uns geläufi ge Familien-
strukturen, Handel und sprachliche Verballhornungen gibt. Wir wür-
den zwar vergeblich in Geburtsregistern der Stadt York aus dem Jahre
1632 nach einem Eintrag über Robinson Kreutznaer suchen – Defoe
beschreibt in seinem Roman, ungeachtet der teilweisen Verwendung
realer Eigennamen, eine fi ktive, nicht unsere reale Welt. Dennoch ent-
spricht die Welt von Robinson Crusoe in Bezug auf die fundamentalen
Modalkategorien des Notwendigen und des Möglichen ungefähr dem,
was wir auch für die reale Welt Englands zur Mitte des 18. Jahrhun-
derts als notwendig und möglich annehmen.
In Orwells satirischer Fabel lesen wir über den Esel Benjamin:
Benjamin was the oldest animal on the farm, and the worst tempered.
He seldom talked, and when he did it was usually to make some cynical
remark – for instance he would say that God had given him a tail to keep
the fl ies off, but that he would sooner have had no tail and no flies. (S. 2)
Anders als in der Welt von Robinson Crusoe ist es in derjenigen von
Animal Farm möglich, dass Esel wie Menschen sprechen und ironische
Bemerkungen über Gott machen. Die der Lektüre zugrundeliegende
Implikationsregel lautet hier: (1) Wenn es wahr ist, dass der Esel Benja-
min spricht, dann können Esel sprechen. (2) Der Esel Benjamin spricht.
(3) Also können Esel sprechen.
2. Erzählte Welt 139
5
Erst Hagen, der als Einziger am Wormser Hof Siegfried als Held ebenbürtig ist,
kann diesen auch ohne persönliche Bekanntschaft anhand seiner charismatischen Er-
scheinung identifi zieren: «der dort so herlichen gat» (Nibelungenlied, Str. 86.4). Unsere
Interpretation folgt Müller, Heldenepos, S. 94–100. Zur prekären Verbindlichkeit der
«heroischen Verhaltensschematik» im Nibelungenlied s. auch Haug, Idealität (Zitat:
ebd., S. 302).
2. Erzählte Welt 141
der traditionalen Sphäre des Wormser Hofes fremd. Hier sind persön-
liche Bekanntschaft, konventionelle Zeichen (z. B. Kleidung) oder
sozial codierte Verhaltensweisen notwendig, um jemanden als Führer-
figur zu erkennen.
(3) Stabile vs. instabile Welten. Kafkas Verwandlung präsentiert zwar eine
heterogene (realistisch-phantastische) Welt, aber zugleich eine stabile.
Die Vermischung von phantastischem Grundmotiv und realistischem
Kontext wird bereits im ersten Satz des Textes ein geführt und dauert bis
zum Ende an. Andere Texte präsentieren instabile Welten, insofern der
Leser im Verlauf der Lektüre sich die Handlung nach wechselnden Kri-
terien der Notwendigkeit und der Möglichkeit erklären muss. Tzvetan
Todorovs bekannte Definition der phantastischen Literatur als Un-
schlüssigkeit (‹hésitation›) zwischen dem Unheimlichen (‹étrange›) und
dem Wunderbaren (‹merveilleux›) ist eine Beschreibung solcher instabi-
len Welten: «Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch
empfi ndet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereig-
nis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatür lichen hat» (Todo-
rov, Einführung, S. 26). Diese Unschlüssigkeit kann sich entweder dahin-
gehend auflösen, dass das Ereignis als ein übernatürliches akzeptiert
wird – in diesem Fall ist die erzählte Welt durch neue, wunderbare
Natur gesetze bestimmt. Oder aber man entscheidet, das Ereignis sei nur
scheinbar übernatürlich, in Wahrheit aber eine Sinnestäuschung o.ä. –
dann handelt es sich um eine erzählte Welt, in der die Gesetze der Reali-
tät intakt bleiben. So fi ndet man in der Geschichte des eng lischen
Schauerromans (gothic novel) einerseits, wie in Horace Walpoles The
Castle of Otranto (1765), ein akzeptiertes Übernatür liches, andererseits,
wie in Ann Radcliffes The Mysteries of Udolpho (1794), ein empirisch
expliziertes Übernatürliches . Mit Todorovs Terminologie ausgedrückt,
enthüllt sich die Welt von Walpoles Roman als eine ‹wunderbare›, die-
jenige von Radcliffe hingegen als eine ‹unheim liche›. Während in den
gerade genannten Texten die erzählte Welt sich nur vorübergehend als
mehrdeutig, rückblickend aber als stabil erweist, bleibt in anderen Tex-
ten die Instabilität bestehen. So gelingt es Henry James in seiner Er-
zählung The Turn of the Screw (1898), mittels einer perspektivischen,
intern-fokalisierten Darstellungstechnik bis zum Schluss offenzulassen,
ob die beiden gespenstischen Erscheinungen der verstorbenen Hausan-
gestellten Quint und Jessel, die den Kindern Flora und Miles nachzustel-
len scheinen, objektiv vorhanden sind, oder ob sie nur der überreizten
Einbildungskraft der Gouvernante entspringen.
142 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
(4) Mögliche vs. unmögliche Welten. In den sechziger Jahren führte der
amerikanische Logiker Saul Kripke einen Begriff in die Modal logik ein,
der bereits in der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz eine wich-
tige Rolle gespielt hatte – ‹mögliche Welten›. So wie Leibniz’ Konzept
der möglichen Welten im 18. Jahrhundert von den Schweizern Johann
Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger für poetologische Fragen
fruchtbar gemacht wurde, so ist in den letzten Jahrzehnten auch Kripkes
Neuansatz von einigen Literaturtheoretikern aufgenommen worden.
Kripke verwendete den Begriff, um die Logik von kontrafaktischen
Bedingungssätzen (‹contrafactual conditionals›) zu erklären. Kontrafak-
tische Bedingungssätze stellen Behauptungen darüber auf, was der Fall
wäre, wenn sich ein Geschehen anders als in der Realität entwickelt
hätte. Wie hätte sich die Welt geschichte entwickelt, wenn Pontius Pila-
tus Jesus von Nazareth begnadigt hätte? Wenn die spanische Armada
1588 in England gelandet wäre? Wenn Adolf Hitler 1938 einem Attentat
zum Opfer gefallen wäre? Offensichtlich sind Antworten auf solche
Fragen nicht einfach sinnlos. Historische Untersuchungen über ‹unge-
schehene Geschichte› (z. B. in Demandt, Geschichte) belegen ebenso wie
unsere Alltags erfahrung, dass kontrafaktische Annahmen durchaus An-
spruch auf Plausibilität stellen können. Man kann mit Gründen dafür
argumentieren, dass bestimmte historische Entwicklungen zwar nicht
real eingetreten sind, aber doch gut möglich gewesen wären, andere als
eher unwahrscheinlich einzuschätzen sind, wieder andere als unmöglich
ausscheiden.
In der Literaturwissenschaft begegnet man dem Begriff der mög-
lichen Welten heute vor allem im Zusammenhang von einigen Fiktio-
nalitätstheorien (z. B. Doležel, Heterocosmica, S. 1–28, Pavel, Worlds,
Ronen, Worlds, Ryan, Worlds). Auf der Grundlage der in Kapitel I,1
entwickelten Bestimmung von fi ktionaler Rede erscheint es uns
allerdings grundsätzlich irreführend, das Phänomen der Fiktiona lität
mit Hilfe von ‹möglichen Welten› zu erklären. Auf diese Weise wird
nämlich der fundamentale Doppelcharakter fi ktionaler Sätze als ima-
ginär-authentische Rede eines Erzählers und, zugleich, real-inauthen-
tische Rede eines Autors unterschlagen (s. o. S. 19 ff.). In kontrafak-
tischen Bedingungssätzen entwirft man zwar einen imaginierten
Weltzustand; dies geschieht jedoch in real-authentischer (faktualer)
Rede. Die fi ktiven Welten der Literatur entstehen aber nicht durch
kontrafaktisch-faktuale Beschreibungen unserer realen Welt, sondern
durch fi ktionale Beschreibungen einer imaginierten Welt.
2. Erzählte Welt 143
Obwohl also das Konzept der möglichen Welten bei der Defi nition
von Fiktionalität auf erhebliche Probleme stößt, ist es doch nützlich
für eine Typologie erzählter Welten. Wir können nämlich auf der
Grundlage des Möglichkeitskriteriums in der fi ktionalen Erzähllite-
ratur drei Typen erzählter Welten unterscheiden: natürliche, über-
natürliche und unmögliche (i. e. S.). (a) Bei physikalisch mög lichen
Welten handelt es sich um natürliche Welten, die sich zwar, als erfun-
dene, von der realen Welt unterscheiden, in der aber keine physika-
lischen Gesetze verletzt werden, die wir für unsere reale Welt als
gültig annehmen – z. B. Defoes Robinson Crusoe. (b) Physikalisch
mögliche Welten bilden eine Teilmenge der logisch möglichen Welten.
Man trifft in der Literatur aber auch häufi g auf logisch mögliche
Welten, die physikalisch unmöglich sind. In diesen übernatürlichen
Welten gelten andere physikalische Gesetze als die unseren, hier kön-
nen Tiere sprechen, Menschen fl iegen, Götter existieren. Werke der
phantastischen Literatur, Märchen, Science-Fiction-Romane, Tier-
fabeln usw. gehören in diese Gruppe, darunter auch Orwells Animal
Farm. (c) Schließlich begegnet man in der Literatur, vor allem in der-
jenigen des 20. Jahrhunderts, auch logisch unmöglichen Welten. Hier
handelt es sich um Welten, in denen Widersprüche bestehen (in denen
also – auf der erzähllogisch privilegierten Ebene der Erzählerrede,
s. o. S. 107 f. – mimetische Behauptungen aufgestellt werden, welche
miteinander nicht vereinbar sind), die weder durch die Annahme
eines unzuverlässigen Erzählers noch durch Formen stilis tischer In-
konsistenz (‹Heterogenität›, ‹Pluriregionalität› oder ‹Instabilität›) auf-
lösbar sind. Solche (im engeren, logischen Sinne) unmöglichen Welten
fi nden wir beispielsweise in nouveaux romans wie Alain Robbe-Gril-
lets Die blaue Villa in Hongkong (La maison de rendez-vous , 1965).
Darin ist Hongkong einerseits der Schauplatz des Geschehens, ande-
rerseits aber nicht; es werden dieselben Ereignisse in unterschied-
lichen Versionen und in verschiedener chronologischer Reihenfolge
erzählt (a ➟ b ➟ c, aber auch c ➟ b ➟ a); dieselben Gegenstände
erscheinen in unterschiedlichen Existenzformen, als Tatsache, als Ge-
mälde, als Theateraufführung.
Eine ingeniöse Beschreibung unmöglicher erzählter Welten fi nden
wir in Jorge Luis Borges’ Geschichte Der Garten der Pfade, die sich
verzweigen (El jardín de senderos que se bifurcan , 1941). Der Titel
der Geschichte kehrt im Text wieder als der Titel eines rätselhaften
alten Romans des Chinesen Ts’ui Pên, dessen besondere Beschaffen-
144 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
‹Natürlich blieb ich an dem Satz [Ts’ui Pêns] hängen: Ich hinterlasse
den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade,
die sich verzweigen . Fast auf der Stelle begriff ich (…). Die Wendung:
verschiedenen Zukünften (nicht allen) brachte mich auf das Bild der
Verzweigung in der Zeit, nicht im Raum. (…) In allen erdichteten
Werken entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Mög-
lichkeiten für eine und scheidet die anderen aus; im Werk des schier
unentwirrbaren Ts’ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er
erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls
auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman.
Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis; ein Unbekannter klopft an seine
Türe; Fang beschließt, ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene
mögliche Lösungen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindring-
ling kann Fang töten; beide können davonkommen, beide können
sterben usw. Im Werk von Ts’ui Pên kommen sämtliche Lösungen vor;
jede einzelne ist der Ausgangspunkt weiterer Verzweigungen. Manch-
mal streben die Pfade dieses Labyrinths aufeinander zu; etwa so: Sie
kommen in dieses Haus, aber in einer der möglichen Vergangenheiten
sind Sie mein Feind gewesen, in einer anderen mein Freund (…).›
(S. 163 f.)
Borges evoziert in den Worten des Sinologen allerdings nicht nur eine
unmögliche erzählte Welt, sondern mehr noch ein unmögliches Erzäh-
len: einen Text nämlich, der nicht eine einzelne Geschichte erzählt,
sondern gleichermaßen alle möglichen Geschichten, die sich von einem
gegebenen Ausgangszustand aus entwickeln können und die einander
alternativ ausschließen. (Nicht zufällig beschreibt Borges ein solches
Erzählprojekt nur, ohne es selbst in seinem eigenen Text zu realisieren:
Es ist zwar möglich, unmögliche Welten zu erzählen; unmögliches Er-
zählen kann hingegen nur erwähnt werden.)
Auch wenn es unmöglich ist, die unendliche Zahl möglicher Ent-
wicklungen aus einem narrativen Kern zu verfolgen – das gilt sowohl
im Hinblick auf die Produktion wie auf die Rezeption –, hat es in der
Literatur der letzten Jahrzehnte immer wieder Versuche gegeben, die
lineare Ordnung von Handlungen in Erzähltexten aufzubrechen. An-
ders als Robbe-Grillets nouveaux romans verfahren dabei die soge-
2. Erzählte Welt 145
Von Zeit zu Zeit warf der Kutscher auf seinem Bock verzweifelte Blicke
nach den Kneipen. Er begriff nicht, welche Fortbewegungswut diese
Leute veranlaßte, gar nicht haltmachen zu wollen. Manchmal versuchte
er es, und sogleich hörte er, wie hinter ihm zornige Ausrufe laut wurden.
Dann schlug er noch mehr auf seine beiden schweißtriefenden Gäule ein,
ohne weiter auf das Geholper zu achten, hier und da anstoßend, ohne
daß es ihn kümmerte, niedergeschlagen, und den Tränen nahe vor Durst,
Ermüdung und Betrübnis. (S. 251)
Auch wenn der Leser hier nicht im Zweifel darüber belassen bleibt,
dass es während der Kutschfahrt zum sexuellen Kontakt zwischen
Emma und Léon kommt, ist es ein charakteristisches Merkmal des
Welt-Stils von Emma Bovary, dass dies lediglich angedeutet wird.
Noch verdeckter erzählt Fontane von Effis heimlichen Zusammen-
künften mit dem Major Crampas, die am Kessiner Strand stattfi nden.
Als die beiden nach einer längeren Trennung ihre Treffen wieder auf-
nehmen, heißt es im Text lediglich:
Die Spaziergänge nach dem Strand und der Plantage, die sie [i. e. Effi ],
während Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte, nahm sie nach seiner
Rückkehr wieder auf und ließ sich auch durch ungünstige Witterung
nicht davon abhalten. (S. 173 f.)
Zwischen Emma und Léon bzw. Effi und Crampas kommt es zweifel-
los zu sexuellen Handlungen. Deren ausdrückliche und detaillierte
Beschreibung würde jedoch einen krassen Bruch mit der immanenten
Poetik dieser Romane des Realismus bedeuten und den Stil ihrer er-
zählten Welten völlig verändern.
Thematischer Vordergrund vs. unthematischer Hintergrund . Die
beiden Beispiele von Flaubert und Fontane zeichnen sich durch eine
elliptische Erzähltechnik aus, die das zentrale Ereignis nur andeutet.
Die implikative Konstruktion einer erzählten Welt betrifft jedoch
nicht nur zentrale Ereignisse, die lediglich implizit thematisiert wer-
den, sondern auch eine vage (aber weder willkürliche noch hete-
rogene) Menge von Sachverhalten, die lediglich als unthematischer
Horizont des Geschehens gegeben sind. Auch wenn es nie angespro-
chen wird, dürfen wir annehmen, dass Figuren in Romanen des Rea-
lismus wie Emma oder Effi Schuhe und Kleidung tragen, wenn sie
außer Haus gehen, während die Protagonisten von Tierfabeln un-
3. Figur 147
3. Figur
3. Figur
6
Das Alltägliche konnte in der Epoche des Realismus allerdings in der Gattung des
komischen Romans thematisiert werden. Mit wohl einzigartiger Insistenz geschieht dies
in Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer (1879), dessen Hauptfigur von einer
endlosen Kette von Erkältungen, Hühneraugen, Verstopfungen, Ausrutschern, Stößen,
Irrtümern, Zerstreutheiten, Vergesslichkeiten usw. heimgesucht wird (s. Martínez, Dop-
pelte Welten, S. 109–150).
148 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
und ihre (b) Dynamik erfassen. (a) Eine Figur kann mehr oder weni-
ger komplex sein: Ein kleiner Merkmalssatz macht sie ‹fl ach› oder
einfach, eine Vielzahl und Vielfalt von Wesenszügen ‹rund› oder
komplex. (b) Außerdem kann eine Figur statisch oder dynamisch
sein, je nachdem, wie sehr sich ihre Merkmale im Laufe der Erzäh-
lung verändern. Die beiden Aspekte der Komplexität und Dynamik
sind oftmals miteinander verknüpft: Die Protagonis ten von Tier-
fabeln besitzen sowohl relativ wenige als auch konstante Merkmale,
d. h. es sind vergleichsweise fl ache und statische Figuren: Der Fuchs
ist und bleibt vor allem schlau, der Storch stolz und der Löwe stark.
Dagegen vereinigt etwa der Ich-Erzähler in Jonathan Littells Holo-
caust-Roman Les Bienveillants (Die Wohlgesinnten, 2006) eine sehr
heterogene Merkmalskombination von typischen Protagonisten des
Bildungsromans, der antiken Tragödie, der Farce, des Kriminal-
romans u. a. in sich, die nacheinander im Laufe der Handlung in
Erscheinung treten und die Figur dadurch auch stark dynamisieren.
In Gattungen mit schematischen Handlungsmustern werden F iguren
zu Aktanten. Zu dieser ‹Schemaliteratur› gehören etwa das Märchen,
die Fabel, der Kriminal- und der Abenteuerroman, aber auch antike
und mittelalterliche Gattungen wie der griechische Abenteuerroman,
die Heiligenlegende, der Artusroman, Fabliaux, Brautwerbungsdich-
tungen. Die Figuren sind hier durch ihre Funktion im Rahmen des
gattungsspezifi schen Handlungsschemas bestimmt. Über ihren hand-
lungsfunktionalen Wert hinaus besitzen sie kein eigenes Profi l. So
reduziert Vladimir Propp in seiner Morphologie des Märchens (1927)
die große Vielfalt der Handlungen und Figuren in hundert russischen
Zaubermärchen auf eine einzige, allen Texten gemeinsame abstrakte
Tiefenstruktur, in der die Figuren allein durch ihre Rolle für die Ge-
schichte bestimmt werden: «Unter Funktion wird hier eine Aktion
einer handelnden Person verstanden, die unter dem Aspekt ihrer Be-
deutung für den Gang der Handlung defi niert wird» (Morphologie,
S. 27). Propp prägte maßgeblich spätere strukturalistische Figuren-
konzeptionen. Die wohl radikalste Fortführung stammt von Algirdas
J. Greimas, der Propps Figurenarsenal zunächst auf die sechs ‹Aktan-
ten› (actants; der Ausdruck stammt von Greimas) Sender /Empfänger,
Subjekt / Objekt und Helfer / Opponent (in Greimas, Sémantique) und
später sogar auf vier Rollen (in Greimas, Du sens) reduzierte.
Figuren der Erzählliteratur können auch nach Mustern aus den lite-
rarischen Nachbargattungen Drama und Lyrik geformt sein – der miles
152 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
gloriosus, der falsche Höfl ing, die verlassene und die ferne Geliebte
usw. Außerdem stellen kulturelle (medizinische, psychologische, politi-
sche, soziologische u. a.) Vorstellungen stereotype Figurenkonzepte
und -rollen bereit – wie die vier Temperamente der antiken Humoral-
pathologie (Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker, Choleriker),
soziale Rollen (Adliger vs. Bürger, Arbeiter vs. Angestellter, reich vs.
arm), Geschlechteridentitäten (männlich vs. weiblich), Lebensalter (alt
vs. jung), nationale Stereotypen (deutsch vs. fran zösisch) usw.
Je weniger sich eine Figur einem Gattungsschema oder einem kultu-
rellen Stereotyp zuordnen lässt und je komplexer und dynamischer sie
konzipiert ist, desto stärker erscheint sie als ein singuläres Indi viduum.
Geringe Stereotypie erzeugt einen Individualitätseffekt. Allerdings wäre
es wohl unplausibel zu vermuten, dass ein hoher Grad an Individualität
die Bereitschaft des Lesers erhöht, sich mit der Figur emotional zu iden-
tifi zieren. Gerade ‹fl ache› Figuren der populären Schemaliteratur wie
Sherlock Holmes, Perry Rhodan oder Harry Potter laden besonders er-
folgreich dazu ein, identifikatorisch an ihnen Anteil zu nehmen.
4. Raum
a) Diegetischer Raum
4. Raum
Der Raum ist neben der Zeit, der Handlung und den Figuren ein kon-
stitutiver Bestandteil der erzählten Welt (Diegese). Wenn wir eine Er-
zählung lesen, ordnen wir den Ereignissen bestimmte Schauplätze zu.
Das gilt unabhängig davon, ob diese Schauplätze real oder erfunden,
ja sogar, ob sie möglich oder unmöglich sind. Die unvermeid lichen
räumlichen Implikationen literarischer Handlungen werden auch da-
ran deutlich, dass nicht nur von realen, sondern auch von erfundenen
Welten Illustrationen und Karten gezeichnet werden können. So
enthielten die jeweiligen Erstausgaben von Thomas Morus’ Utopia
(1516), Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), Johann Gottfried
Schnabels Insel Felsenburg, Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726),
Thomas Hardys The Return of the Native (1878), Robert Louis
Stevensons Treasure Island (1883), J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings
(1954) und Arno Schmidts Gelehrtenrepublik (1957) Illustrationen der
154 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, befand sich ein altes,
einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom
St. Gotthardt kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß
mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst auf Stroh,
das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor
der Thür ein gefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet
worden war. (S. 9)
Lebewesen nur Vögel überqueren können («ez ist nieman erkant / daz
iht lebendez dar über müge / wan ein vogel der dâ flüge», vv. 512–514).
Den einzigen Zugang durch das Gebirge bildet ein Tunnel, der jedoch
von einem riesigen Steinblock verschlossen ist. Daniel, der Held der
Geschichte, schlägt mit seinem Schwert ein Loch in den Stein, das aber
so eng ist, dass er sein Pferd nur hindurchziehen kann (vv. 3997–3999).
Als Daniel nach bestandenen Abenteuern am Ende der Geschichte mit
der Königin Gynovêr und einem großen Gefolge von 600 Rittern und
80 Hofdamen erneut in das Land Cluse reitet, ist keine Rede mehr von
einem unübersteigbaren Gebirge, einem unverrückbaren Steinblock
oder einem engen Durchgang – vielmehr verläuft die Reise angenehm
und ohne Zwischenfälle («hêrlîch», «âne vreise», vv. 8069 f.). In Fällen
wie diesen wird zwar ein «Handlungsraum […] entworfen und imagi-
niert, aber er überdauert in der fi ktionalen Welt die Handlungssequenz
nicht, für die er gedacht war, sondern er entsteht und erlischt mit ihr»
(Störmer-Caysa, Grundstrukturen , S. 76).
7
Tomaševskij scheint mit ‹Motiv› sowohl explizite Sätze des Textes («Der Abend
brach an») als auch aus Paraphrasen des Interpreten («Der Held starb») und sowohl
kleine («Ein Brief traf ein») als auch umfangreichere Partien der erzählten Handlung zu
bezeichnen (Tomaševskij, Theorie, S. 218).
4. Raum 159
1. ein semantisches Feld [i. e. eine erzählte Welt], das in zwei kom-
plementäre Untermengen aufgeteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen
Untermengen, die unter normalen Bedingungen impermeabel ist, im
vorliegenden Fall jedoch (der sujethaltige Text spricht immer von einem
vorliegenden Fall) sich für den die Handlung tragenden Helden als per-
meabel erweist; 3. der die Handlung tragende Held. (ebd.)
Aus diesen Elementen entsteht ein Ereignis, wenn der Held die Grenze
zwischen den beiden komplementären Teilräumen überschreitet. Die
Existenz einer klassifi katorischen Grenze verleiht dem Erzähltext also
allererst das Potenzial für eine narrative Dynamik, die durch das Über-
schreiten der Grenze entfaltet wird. Texte, die das Ereignis einer
Grenzüberschreitung aufweisen, nennt Lotman sujethaft, solche, die
keine Grenzüberschreitung aufweisen, sujetlos.
Der komplementäre Gegensatz der Teilräume entfaltet sich auf drei
Ebenen: (a) Topologisch ist der Raum der erzählten Welt durch Oppo-
sitionen wie ‹hoch vs. tief›, ‹links vs. rechts› oder ‹innen vs. außen›
unterschieden. (b) Diese topologischen Unterscheidungen werden im
literarischen Text mit ursprünglich nicht-topologischen semantischen
Gegensatzpaaren verbunden, die häufi g wertend sind oder zumindest
mit Wertungen einhergehen, wie z. B. ‹gut vs. böse›, ‹vertraut vs.
fremd›, ‹natürlich vs. künstlich›. (c) Schließlich wird die semantisch
aufgeladene topologische Ordnung durch topographische Gegensätze
der dargestellten Welt konkretisiert, z. B. ‹Berg vs. Tal›, ‹Stadt vs. Wald›
oder ‹Himmel vs. Hölle›.
Lotman nimmt an, dass die räumliche Ordnung der erzählten Welt
«zum organisierenden Element wird, um das herum auch die nicht-
räumlichen Charakteristika aufgebaut werden» (Struktur, S. 332). Die
Raumgestaltung ist dann eine «Sprache, die die anderen, nichträum-
lichen Relationen des Textes ausdrückt» ( Struktur, S. 347). So ist bei-
spielsweise der Raum in Dante Alighieris Göttlicher Komödie (Divina
Commedia, 1307–1321) topologisch durch den Gegensatz von ‹oben
160 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
vs. unten›, semantisch durch den Gegensatz von ‹gut vs. böse› (Tugend
vs. Sünde) und topographisch durch die Achse zwischen den beiden am
weitesten voneinander entfernten Punkten des Weltalls strukturiert:
An dem einen Ende liegt der Mittelpunkt der Erde mit der Hölle und
dem Sitz des Teufels Luzifer, an dem anderen Ende befi ndet sich die
zehnte und oberste Himmelssphäre mit dem Sitz Gottes. Die Handlung
der Commedia besteht aus der unerhörten Reise, die der Ich-Erzähler
Dante durch diesen Welt-Raum unternimmt. Zunächst steigt er immer
tiefer in die (kugelförmig gedachte) Erde hinein und gelangt durch die
verschiedenen Kreise der Hölle (inferno) hindurch bis zum Mittelpunkt
der Erde (der in Dantes geozentrischem Weltbild den Mittelpunkt des
Weltalls bildet), steigt dann durch die andere Seite der Erdkugel und
den Läuterungsberg (purgatorio) wieder hinauf und durchfl iegt
schließlich den Himmel (paradiso) bis an den höchsten Punkt des Alls.
Die Seelen der gestorbenen Sünder müssen durch das große Tor mit der
Aufschrift «Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate» (‹Laßt jede Hoff-
nung fahren, die ihr eintretet›, Inferno 3, V. 9) in die Hölle hinabstei-
gen und, je nach begangener Sünde, in einem bestimmten Höllenkreis
büßen. Die Seelen läuterungsfähiger Gestorbener dürfen durch ein an-
deres Tor treten und die Stufen des Läuterungsberges hinaufsteigen;
die von allen irdischen Sünden erlösten Seelen fi nden schließlich in
einer der zehn Himmelssphären des Paradieses Platz.
In Lotmans Modell sind die ‹klassifikatorischen› Grenzen ebenso
wie die (im Fall der Commedia: drei, sonst meist: zwei) Teilräume, die
sie unterteilen, und der Held, der sie überschreitet, dreifach bestimmt:
topologisch, evaluativ (‹semantisch› in Lotmans Sinne) und topogra-
phisch. Topographische Raumgrenzen werden erst dann zu einer
klassifi katorischen Grenze, wenn sie zusätzlich noch topologisch und
semantisch codiert sind. Die Überschreitung der klassifi katorischen
Grenze ist deshalb von lediglich topographisch defi nierten Bewegun-
gen im Raum der erzählten Welt zu unterscheiden. Topographisch wird
die durch das Höllentor markierte Grenze zwischen Lebenden und
Toten sowohl von Dante als auch von den Seelen der Toten überquert.
Eine topologisch und semantisch defi nierte Grenze aber wird hier
allein von Dante überschritten, weil er als Lebender eine Region be-
tritt, die normalerweise nur Tote erreichen. Nur die grenzüberschrei-
tende Bewegung Dantes, nicht die der toten Seelen zählt in Lotmans
strukturellem Sinn als ‹Ereignis›.
Lotman drückt sich häufi g so aus, als ob die Überschreitung einer
4. Raum 161
Dantes Commedia mag vielleicht als ein allzu naheliegendes Beispiel für
Lotmans Raummodell erscheinen, da in dem mittelalterlichen christ-
lichen Weltmodell, das ihr zugrunde liegt, semantische Relationen wie
‹christlich vs. heidnisch›, ‹gut vs. böse› und ‹Tugend vs. Sünde› von vorn-
herein auch topographisch (‹Himmel vs. Hölle›) geordnet sind. Um die
Fruchtbarkeit von Lotmans Modell auch für weniger offensichtliche
Fälle zu belegen, wollen wir deshalb noch einen modernen Text als Bei-
spiel nennen. Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig (1912) er-
zählt von den letzten Wochen im Leben des Schriftstellers Gustav von
Aschenbach. Die Handlung beginnt in Aschenbachs Wohnort München
und endet mit seinem Choleratod in Venedig. Die topographische Dis-
tanz zwischen den Städten München und Venedig wird im Text durch
eine Reihe von Oppositionen als ein Gegen satzpaar semantisiert, das
durch eine klassifi katorische Grenze voneinander getrennt ist. Der Ge-
162 III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt
In Kapitel I,2 stellten wir fest, dass man bei fiktionalen Texten, anders
als bei faktualen, nur über den Text selbst Zugang zur erzählten Welt
gewinnt, da diese ja im Text überhaupt erst konstituiert wird. Diese
Behauptung muss jedoch eingeschränkt werden. Das Verstehen fi ktiver
Welten und Handlungen wird nicht allein vom Text gesteuert, sondern
auch vom Kontext und von Erfahrungen, Kenntnissen, Dispositionen
und kognitiven Strukturen des Lesers. Ohne die konstruktive Aktivität
des Lesers, lediglich auf der Basis seiner Sprachkenntnis, würden nar-
rative Texte vermutlich sinnlos erscheinen. Nachdem sich die struktu-
ralistische Erzähltheorie zunächst weit gehend auf textinterne Aspekte
konzentriert hatte, richtete sich das Interesse in den letzten zwanzig
Jahren vermehrt auch auf die extratextuellen Faktoren narrativer Sinn-
bildung. Will man solche Faktore n erfassen, gelangt man in vielen Fäl-
len über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus. Wir wollen hier
einige erzähltheoretische Ansätze vorstellen, die für die literaturwis-
senschaftliche Narrativik von Interesse sind, aber anderen Disziplinen
angehören, nämlich der Soziolinguistik, der Kognitionspsychologie,
der Anthropologie und der Geschichtswissenschaft.
Schemas ist aus der praktisch notwendigen Sequenz der einzelnen Ak-
tionen, die eine Futtersuche konstituieren, ableitbar.
Eine kulturell fortgeschrittenere Variante der abenteuerlichen Suche
stellen Initiationsgeschichten dar, in denen der Held sich in der Fremde
zu bewähren hat, bevor er daheim soziale Verantwortung übernehmen
kann. Auf der Basis eines dreiphasigen Verlaufsschemas – Trennung
des Individuums von seiner sozialen Gemeinschaft, extraterritoriale
Bewährung und Reifung, Wiedereingliederung –, das der Ethnologe
Arnold van Gennep in Les rites de passage (1909) entwickelte, be-
schreibt etwa der bereits erwähnte Victor Turner Initiationsgeschichten
als ‹soziale Dramen› (z. B. Turner, Ritual, S. 34 f.).
Von solchen ‹männlichen›, durch das Schema der Suche geprägten
Initiationen lässt sich ein anderes Initiations- und Handlungsschema
unterscheiden, das Burkert Mädchentragödie nennt (Burkert, Kulte,
S. 89–100). Hier geht es um eine weibliche Form der Initiation, die sich
Burkert zufolge, in Anlehnung an Propps morphologische Märchen-
analysen, aus fünf Funktionen zusammensetzt (Kulte, S. 91 f.): (1) Das
Mädchen ist gezwungen, sein Zuhause zu verlassen. (2) Es lebt an
einem abgeschiedenen, abnormen Ort. (3) Ein Mann (Mensch, Gott,
Dämon) dringt ein und schwängert es. (4) Das schwangere Mädchen
durchlebt eine Phase des Leidens (Strafen, Gefangenschaft, Vertrei-
bung). (5) Das Mädchen wird gerettet und gebiert einen Sohn. Das
soziobiologische Fundament für das Handlungsschema der Mädchen-
tragödie sieht Burkert im Entwicklungsgang vom weib lichen Kind zur
Mutter mit den Zwischenstufen der einsetzenden Menstruation (der
Beginn der sexuellen Reife hebe die Familienstruktur auf) und des
Geschlechtsverkehrs bis zum Gebären von Nachkommen.
Das Märchen von Rapunzel ist ein Beispiel für eine solche Mäd-
chentragödie. In der Fassung der Grimmschen Kinder- und Hausmär-
chen (S. 75–78) muss die kleine Rapunzel von ihren Eltern fort in die
Obhut einer Zauberin (= 1). Mit zwölf Jahren verschließt diese sie in
einen abgelegenen Turm (= 2). Jahre später stößt ein Königssohn auf
den Turm, lernt Rapunzel kennen und schwängert sie (= 3). Die Zau-
berin entdeckt das Liebesverhältnis, schneidet Rapunzel ihr schönes
Haar ab und vertreibt sie in eine Wüstenei (= 4). Rapunzel gebiert einen
Knaben und ein Mädchen, wird nach langem Suchen vom Königssohn
gefunden und als Ehefrau in sein Reich gebracht (= 5).
176 IV. Ausblick: Kontexte des Erzählens
The historian arranges the events in the chronicle into a hierarchy of sig-
nifi cance by assigning events different functions as story elements in
such a way as to disclose the formal coherence of a whole set of events
considered as a comprehensible process with a discernible beginning,
middle, and end. (Metahistory, S. 7)
Unter den narratologischen Handbüchern und Lexika geben die Beiträge in Martí-
nez (Hg.), Handbuch Erzählliteratur, aktuelle Überblicke über systema tische
und historische Aspekte des Erzählens. Als knappes terminologisches Nach-
schlagewerk ist Prince, Dictionary, nützlich. Hilfreich sind auch Her-
mann / Jahn / Ryan (Hg.), Encyclopedia, und Hühn u. a. (Hg.), Handbook.
Als allgemeine Einführungen in die Erzähltextanalyse sind unter den deutschspra-
chigen Beiträgen Fludernik, Erzähltheorie, Stanzel, Theorie, Vogt, Aspekte (seit
der 7., neubearb. Aufl. 1990) und Weber, Erzählliteratur, zu nennen; bedeu-
tende, aber andernorts vernachlässigte russische und tschechoslo wakische Bei-
träge werden besonders von Schmid, Elemente, berücksichtigt.
Unter den englischsprachigen Einführungen empfehlen wir Chatman, Story
und Terms, und Rimmon-Kenan, Fiction; mit Abstrichen ist auch Bal, Narra-
tology, zu nennen. Zentrale erzähltheoretische Probleme diskutieren Culler,
Poetics und Pursuit, und Martin, Theories. Informativ ist die linguistisch ori-
entierte Einführung von Toolan, Narrative. Herman versucht eine Synthese
von literaturwissenschaftlichen, linguistischen und kognitionspsychologischen
Ansätzen in Story Logic und Basic Elements.
Aus der französischen Erzählforschung ist neben den beiden klassischen
Einführungen in die strukturalistische Erzähltextanalyse von Barthes, Einfüh-
rung, und Todorov, Poétique, vor allem Genette, Erzählung, zu nennen.
Knappe Überblicke über die ältere Erzählforschung geben die Untersuchun-
gen von Bauer, Romantheorie, Doležel, Occidental Poetics, Jahn, Narrato-
logie, Jahn/Nünning, Survey, und Pavel, Narratives.
In den letzten Jahren wurden Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der
klassischen, strukturalistisch orientierten Narratologie zu kontextorientierten
Modellen (contextual narratologies) erkundet. Damit rückt die Frage nach den
medialen, soziokulturellen und kognitionspsychologischen Voraussetzungen
des Erzählens, nach seinen Funktionen und nach seinem Wirklichkeitsbezug in
den Blick einer z. T. interdisziplinär, transgenerisch und transmedial und auch
außerhalb der herkömmlichen Grenzen der Literaturwissenschaft operieren-
den Narratologie. Informative und gut geordnete Überblicke geben hier Nün-
ning / Nünning (Hg.), Erzähltheorie und Neue Ansätze; für die internationale
Diskussion s. Alber / Fludernik (Hg.), Postclassical Narratology , Heinen / Som-
182 Hinweise zur Forschungsliteratur
mer (Hg.), Narratology, Herman (Hg.), Narratologies, und Olson (Hg.), Cur-
rent Trends. Hervorzuheben sind insbesondere Ansätze zur Verbindung von
Erzähltheorie und Kulturwissenschaft (Erll / Rigney [Hg.], Mediation; Müller-
Funk, Kultur), postcolonial studies (Bhabha, Nation; Gymnich, Metasprach-
liche Refl exionen; Hamann / Sieber [Hg.], Räume; Said, Kultur) und gender
studies (Lanser, Fictions; Nünning / Nünning [Hg.], Erzähltextanalyse ).
Einen aktuellen Überblick über Tendenzen der internationalen Erzähl-
forschung mit zahlreichen Literaturhinweisen geben die Beiträge in DIEGESIS 1
(2012), Heft 1: Erzählforschung im 21. Jahrhundert. Ein interdisziplinärer
Rückblick.
Über nichtliterarisches Erzählen in diversen sozialen Feldern (Journalismus,
Medizin, Naturwissenschaft, Politik, Psychotherapie, Rechtsprechung u. a.)
s. zuletzt Klein / Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen , und Koschorke,
Wahrheit und Erfindung.
Zum Erzählen in anderen Künsten wie comic strips, Film, Malerei, und Musik
informieren die betreffenden Artikel in Martínez (Hg.), Handbuch Erzähllite-
ratur. Eine umfassende Einführung in das Erzählen im Film gibt Kuhn, Filmnar-
ratologie.
Zur historischen Narratologie s. Fludernik, Diachronization, Haferland / Meyer
(Hg.), Historische Narratologie , und die Beiträge in DIEGESIS 3 (2014),
Heft 2: Historische Narratolgie .
1. Zeit
II. Das ‹Wie›: Darstellung
Die aktuelle Forschungslage zur literarischen Zeitgestaltung und zur Zeit als
Parameter der erzählten Welt (diegetische Zeit) wird in Werner, Zeit, und in
Scheffel / Weixler / Werner, Time, vorgestellt. Einen Überblick über die ältere, in
erster Linie deutschsprachige Forschung gibt Ritter in seiner Einleitung in ders.
(Hg.), Zeitgestaltung, S. 1–26; dieser Sammelband enthält Standardtexte zur
Zeitgestaltung u. a. von Emil Staiger, Käte Hamburger, Harald Weinrich und
Hans Robert Jauß; vgl. auch die Anthologie von Meister / Schernus (Hg.), Time.
Zum Zusammenhang von Zeit und Raum im sogenannten Chronotopos , s.
Bachtin, Formen. Als Einführung in die Zeitanalyse s. neben Vogt, Aspekte,
S. 95–142, auch Chatman, Story, S. 62–84, und Rimmon-Kenan, Fiction,
S. 45–60 (beide sind eng an Genette orientiert, wobei Chatman auch einen
knappen Überblick zur englischsprachigen Forschungsliteratur gibt).
2. Modus
3. Stimme
5. Unzuverlässiges Erzählen
ist eine Variante des epischen Gesetzes des ‹Achtergewichts› in volkstüm licher
Literatur, s. Olrik, gesetze, und Lüthi, Märchen, S. 26 u. 30.
Zum Begriff der Motivierung oder Motivation des Geschehens s. Martínez, Wel-
ten, S. 13–36.
Danto analysiert die narrative Struktur faktualer Erzähltexte in der Ge-
schichtsschreibung in Narration, S. 236 ff.
Zum Begriff des Motivs und seiner Forschungsgeschichte s. Bremond, Cri-
tique, und Doležel, Heterocosmica, S. 33–36 (mit Literaturhinweisen). Den
Zusammenhang zwischen Erzählen und Beschreiben diskutieren Barthes, Einfüh-
rung, S. 111–116, und Hamon, Introduction. Zur Unterscheidung von ver-
knüpften und freien Motiven s. Tomaševskij, Theorie, S. 219, Barthes, Einfüh-
rung, S. 111–116 (‹Kerne› vs. ‹Katalysen›), und Chatman, Story, S. 53–56
(‹kernels› vs. ‹satellites›). Der Motivbegriff ist wegen seiner Verbindung struk-
tureller und thematischer Aspekte schwer zu defi nieren, vgl. etwa die Kritik an
den vorgelegten Bestimmungen bei Bremond, Critique, und Smith, Versions.
Exakte Kriterien für seine Anwendung haben sich bis heute nicht durchgesetzt.
Ein besonderer Streitpunkt ist die Abgrenzung des Motivs gegenüber Begriffen
wie ‹Stoff› und ‹Thema›.
Roman Jakobsons Bestimmung von Metapher und Metonymie , die unter-
schiedliche strukturalistische und poststrukturalistische Theorien, auch au-
ßerhalb der Literaturwissenschaft und Linguistik (z. B. Jacques Lacan und
Claude Lévi-Strauss), beeinflusst hat, ist am besten in seinen Beiträgen Rand-
bemerkungen (mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt) und Seiten (mit
linguistischem Schwerpunkt) nachzulesen.
Eine exemplarische Analyse von Techniken der literarischen Beschreibung bei
Balzac und Flaubert vor dem Hintergrund von Barthes’ Konzept der Realitätsef-
fekte gibt Culler, Flaubert, S. 91–109. Zur ästhetischen Funktionalisierung des
‹bedeutungslosen› Details und des Zufalls am Beispiel von Vischers Roman
Auch Einer s. Martínez, Welten, S. 109–149. Die Integration von realen Details
in erzählenden Texten der deutschen Literatur seit dem 18. Jh. untersucht Sei-
ler, Tatsachen. Auf die eigenständige Ästhetik von Schemaliteratur hat, mit
Bezug auf mittelalterliche Texte, Jauß, Alterität, aufmerksam gemacht; für
moderne, populäre Literatur s. Zimmermann, Schemaliteratur.
Einen Überblick über strukturalistische Erzählmodelle und einige Vorläufer
geben Culler, Poetics, und Scholes, Structuralism. In Gülich / Raible, Text-
modelle, S. 192–305, werden die Modelle von Propp, Todorov, Bremond, van
Dijk und Wienold vorgestellt und diskutiert. Eine ausgezeichnete Zusammen-
fassung und Kritik der Modelle von Propp, Bédier, Lévi-Strauss, Dundes,
Todorov und Greimas gibt Bremond, Logique, S. 11–129.
Das Handlungsschema der gefährlichen Brautwerbung wird am Beispiel des
König Rother in Kiening, Arbeit, diskutiert.
Zum kognitionspsychologischen Konzept der narrativen Kompetenz oder Er-
zählkompetenz s. den Überblick von Becker, Erzählkompetenz.
Propp ergänzte seine systematische Morphologie des Märchens (1928) später
III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt 189
2. Erzählte Welt
3. Figur
Die Forschungsliteratur über die literarische Figur reicht von Ansätzen, die
Figuren als Artefakte kategorisch von ‹Personen› unterscheiden, bis hin zu Auf-
fassungen, die Figuren als fiktive Wesen in Analogie zu ‹Personen› verstehen (für
einen ausführlichen Überblick s. Heidbrink, Fictional Characters). Die erste
Auffassung fi ndet man vor allem bei formalistischen, strukturalistischen und
poststrukturalistischen Erzählforschern wie Vladimir Propp, Algirdas Julien
Greimas und Roland Barthes. Eine Figur ist demzufolge ein reines Artefakt,
das eine bestimmte Menge von textuellen Kennzeichnungen unter einem
Eigen namen bündelt. Am anderen Ende steht die Auffassung, dass Figuren fi k-
tive Wesen darstellen, die der Leser mit Hilfe seiner folk psychology versteht
und die ihn zur Anteilnahme und Identifi kation bewegen können (Überblicke
bei Eder, Figur, S. 202–218, 284–289, 565–582; Jannidis, Figur, S. 185–195).
Das gilt schon für ältere psychoanalytische Ansätze seit Sigmund Freud. In den
letzten Jahren sind vor allem empirisch-psychologische Arbeiten mit der Hypo-
these in den Vordergrund getreten, dass die Mechanismen der kognitiven Konst-
190 Hinweise zur Forschungsliteratur
ruktion von Figuren denen bei der Wahrnehmung realer Personen analog seien.
Es liegt nahe, diese Sichtweisen der Figur als Artefakt und als fi ktives Wesen
nicht als konkurrierende, sich gegenseitig ausschließende Ansätze zu verste-
hen, sondern als komplementäre Beschreibungen unterschiedlicher Aspekte
eines komplexen Phänomens. Dementsprechend berücksichtigen die meisten
aktuellen Theorien beide Konzeptionen (Eder, Figur, Jannidis, Figur, Margo-
lin, Character, Schneider, Grundriß).
Zu narrativen Charakterisierungsverfahren von Figuren s. Jannidis, Figur,
S. 198–207; Koch, Menschendarstellung, S. 156–196; Pfister, Drama, S. 250 –
264 (besonders zur Funktion von Kontrastrelationen). Einen auf das histo-
rische Beispiel des viktorianischen Romans bezogenen, aber systematisch an-
gelegten Entwurf einer kognitiven Theorie der Figurenrezeption bietet Schneider,
Grundriß; kognitiv orientierte Ansätze vertreten auch Bortolussi / Dixon,
Psychonarratology, und Jannidis, Figur (mit grundsätzlichen Erwägungen).
Zur Figur im Film s. Eder, Figur; zum Phänomen der Figur in unterschied-
lichen Medien zuletzt Eder / Jannidis / Schneider (Hg.), Characters.
4. Raum
a) Diegetischer Raum
Überblicke über die Forschung zum erzählten Raum in der Literatur fi ndet man
in Dennerlein, Narratologie, Dennerlein, Raum, Hallet / Neumann (Hg.),
Raum, Piatti, Geographie, und Ryan, Space. Das Verhältnis zwischen realen
und fiktiven Schauplätzen und Räumen untersucht Piatti, Geographie. Aspekte
einer kulturhistorischen Narratologie des Raumes diskutiert Störmer-Caysa,
Grundstrukturen, Kapitel 2 (S. 34–75). Grundlagentexte zum spatial turn in
den Kulturwissenschaften enthält Dünne / Günzel (Hg.), Raumtheorie. Eine an
Modellen der kognitiven Psychologie orientierte Untersuchung der Raumdarstel-
lung in narrativen Texten am Fall frühneuzeitlicher Reiseberichte, Pilgererzäh-
lungen und Prosaerzählungen bietet Jahn,Raumkonzepte. Ebenfalls kognitiv
orientierte, aber umfassender angelegte Typologien fi ndet man in Dennerlein,
Narratologie. Eine exemplarische Studie zur Präsenz realer Geographie im
Roman des 19. Jahrhunderts ist Morettis Atlas des europäischen Romans.
stellungen des Zusammenhangs von personaler Identität und Erzählen aus sozial-
psychologischer Sicht mit ausführlicher Erläuterung textanalytischer Verfahren
geben Deppermann / Lucius-Hoene, Rekonstruktion narrativer Identität , und
Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte . Zu den Versuchen, das fi k-
tionale Erzählen in der Literatur von Formen des faktualen (zumeist münd-
lichen) Erzählens abzuleiten, s. Fludernik, Narratology. Formen der inszenier-
ten Mündlichkeit in Schrifttexten behandelt Erzgräber / Goetsch (Hg.), Erzählen.
Literaturhinweise auf die Erzählforschung im Rahmen der Künst lichen-
Intelligenz-Forschung bei Ryan, Worlds; Ryan selbst versucht ihr generatives
Modell literarischen Erzählens mit Forschungen zur Künstlichen Intelligenz zu
verbinden.
Narratologies
http: // narratologie.ehess.fr
Project Narrative
http:// projectnarrative.osu.edu
Fremdsprachige Werke zitieren wir, mit Ausnahme der englischen, nach deut-
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sche Einheit der Handlung, die aus stimmt gegebenen Hintergrunds-
Figurenhandlungen oder Gescheh- raum. Er enthält fi ktive oder reale,
nissen bestehen kann. 27, 113 f., mögliche oder unmögliche Be-
158, 188 standteile und kann diese mitein-
Motivation (Motivierung) des Gesche- ander kombinieren. Der Raum
hens: Inbegriff der Beweggründe kann konsistent und stabil sein,
für das erzählte Geschehen. Es oder er ist in verschiedenen Episo-
sind kausale, fi nale und ästhe- den jeweils ad hoc handlungs-
tisch-kompositorische Arten der funktional motiviert. Wenn die
Motivation zu unterscheiden. 115– Topographie der erzählten Welt
125, 171, 188 semantisiert ist, bekommen Fi-
narrativer Modus: ➟ Distanz gurenbewegungen im Raum die
narrative Sätze: Aussagesätze über Er- Bedeutung revolutionärer oder
eignisse, deren Wahrheit auch von restitutiver ‹Ereignisse› (Lotman).
späteren Ereignissen abhängt. 127 153–163
Ordnung: Verhältnis zwischen der Realitätseffekt (effet de réel): Entsteht
Anordnung der Ereignisse in der durch das ausdrückliche Erwähnen
erzählerischen Darstellung und von konkreten Details der erzähl-
ihrer quasi-realen Chronologie. ten Welt, das scheinbar disfunktio-
Die Ordnung kann chronologisch, nal für die erzählerische Ökonomie
anachronisch oder achronisch ist und gerade dadurch zum Aus-
sein. 34–42 druck der Widerständigkeit des
Ort des Erzählens: Ebene, auf der der Faktischen wird. 54, 122, 188
Erzählakt stattfi ndet. Man unter- Reichweite: ➟ Anachronie
scheidet ➟ extradiegetisches, ➟ repetitives Erzählen: ➟ Frequenz
intradiegetisches und ➟ metadie- Rückwendung: ➟ Analepse
getisches Erzählen. 79–85 Schemaliteratur: Literatur, die weniger
Pause: Unterbrechung der fortlaufen- durch künstlerische Innovation als
den Darstellung des Geschehens durch Variation gattungstypischer
zugunsten von Reflexionen, Be- Handlungs- und Erzählschemata
schreibungen oder Kommentaren. bestimmt ist. 123 f., 131, 151 f.,
46 f. 171, 188
Prolepse (Vorausdeutung): Eine be- script: Mentale, nichtsprachliche Re-
stimmte Form der ➟ Anachronie; präsentation einer typischen Ereig-
ein in der Zukunft liegendes Ereig- nisfolge. 170 f.
nis wird vorwegnehmend erzählt, singulatives Erzählen: ➟ Frequenz
35 f. Man unterscheidet zukunfts- Stil: (1) Im Sinne von ‹Sprachstil› eine
gewisse und zukunftsungewisse Eigenschaft der Darstellungsebene
Prolepsen. 35–40, 103 f., 187 von Erzählungen. (2) Der Stil einer
psycho-narration: ➟ Bewusstseinsbe- erzählten Welt wird bestimmt
richt durch die spezifische Füllung der
Raffung (zeitraffendes oder summari- Modalkategorien des Möglichen,
sches Erzählen): Stark zusammen- Notwendigen und Wahrschein-
fassendes Erzählen eines umfang- lichen sowie durch das Verhältnis
reichen Geschehensabschnittes. zwischen explizit und implizit
43, 45, 50 Thematisiertem und dem Verhält-
Raum: Der erzählte (diegetische) Raum nis zwischen thematischem Vor-
besteht aus explizit thematisierten dergrund und unthematischem
Schauplätzen der dargestellten Er- Hintergrund. 145–147, 189
Lexikon und Register erzähltheoretischer Begriffe 221
Für die 10. Auflage wurde der Band von den Autoren gründlich überarbeitet
und aktualisiert.