Lorenzen 1954

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ZUR BEGRtYNDUNG

DER ZWEIWERTIGEN AUSSAGENLOGIK

VON PAUL LORENZEN, BONN

Die Miflverstiindnisse tiber das tertium non datur scheinen oft dadurch zu
entstehen, daft der eine an Aussagen denkt, wie ,,Sokrates ist weise" (bier
ist die sinnvolle Forderung mSglich, sidl zwischen der Beurteilung mit
,,weise" und ,,nicht weise" zu entscheiden), wiihrend der andere an arith-
metische Formeln denkt wie
Vx, y, z xn -1- yn = zn
(ftir gewisse n ist bisher weder ein Beweis noch eine Widerlegung ge-
lungen). Wie man in der Arithmetik das tertium non datur in allen Fiillen
als zweckm'iillige Fiktion aufrechterhalten kann, habe ich an anderer
Stelle gezeigt (P. Lorenzen, Konstrukfi,ce Begrtindung der Mathematik,
Math. Z. 53 (1950) - zitiert als L). Zur Begrtindung der zweiwertigen Aus-
sagenlogik kann man jedoch selbstverstiindlich die Arithmetik aus dem
Spiele lassen.
Um zum Ursprung der Aussagenlogik zu kommen, mull man den Bereich
der eigentlichen Mathematik, den Bereich des formalen Operierens, ver-
lassen und sein Augenmerk auf eine andere Fiihigkeit des Menschen (in-
sofern er ein rationales Wesen ist) richten, auf das VermSgen zur deskrip-
riven Sprache. Der Mensch hat zuniichst das u gewisse Dinge mit
Eigennamen zu benennen, z.B. Personen. Bei Sachen ist der Gebrauch yon
Eigennamen seltener (Schiffe. . . . ), er ist jedoch bei jedem Ding mSglich.
WSrter wie ,,diese Blume", ,dieses H a u s " , . . . in Verbindung mit einer
hinweisenden Geste ersetzen in der Umgangsspradle oft Eigennamen. Als
Variable fiir Eigennamen seien im folgenden e, e1. . . . gebraudlt.
Der Mensch hat weiterhin das VermSgen, gewisse Dinge mit Pradikaten
zu beurteilen. Neu zu lehrende Priidikate k S n n e n - die erforderliche
Intelligenz vorausgesetzt - durch hinreidiend viele Beispiele, evth auch
Gegenbeispiele gelehrt werden. Man stelle sidl etwa vor, einen Ausliinder
lehren zu wollen, weldle Situationen der Deutsche , , g e m i i t l i d l " nennt. Bei
Gelegenheit des gemeinsamen Erlebens yon Situationen wird man sagen:
,,Dies i s t ( = beurteilen wit als) gemiittich" bzw. ,,Dies ist nicht (= beur-
teilen wit nicht als) gemtitlich".
Es ist bekannt, wie schwer oft t:rbereinstimmung im Gebrauch solcher
Pradikate (sie mSgen genauer deskriptive Priidikate heillen) zu erreichen
ist - andererseits enthalt jede Umgangssprad~e eine fast untibersehbare
Fiille yon deskriptiven Pr~idikaten, bei denen hinreichende t~bereinstim-
mung besteht, so daft jeder abweichende Gebrauch als ttbnorm auller
Betracht bleiben kann.
30 Paul Lorenzen

Als Variable fiir deskriptive Priidikate seien im folgenden P, P1 . . . . ge-


braucht. D a der Gebrauch yon P darin besteht, zu entscheiden, ob ein
Ding e als P beurteilt werden kann oder nicht - das Yerm6gen zu dieser
Entscheidung heiflt das UrteilsvermSgen - hat derjenige, der den Gebrauch
yon P geIernt hat, die F~ihigkeit, diese Entscheidung im Aussagen, z.B.
,,e, P: jal" bzw. ,,e, P: neinl" mitzuteilen. Wir schreiben statt dessen e e~P
bzw. d~P. Der Gebrauch der Kopulas e,~ erfordert aber kein zusiitzliches
VermSgen, man kann kein Priidikat gebrauchen lernen ohne Bejahung
und Verneinung. Wir beschriinken uns im folgenden auf einstellige Prii-
dikate, da die u auf mehrstellige Pr~dikate mit Aussagen
(el, ..., *n)e P bzw. (el . . . . , r
keinerlei Schwierigkeit macht.
Ks ist trivial, daft man mit den beiden Kopulas e, "~ auskommen kann - es
ist jedoch der Erwiigung weft, ob man i n vielen Fiillen nicht gut daran
tut, andere Kopulas zu benutzen. Beim Anblick einer hellwerdenden Gliih-
lampe e kSnnte man sagen: ~e e hellwerdend" und k~nnte die Zustands-
priidikate wie hell, rot . . . . yon den Vorgangspriidikaten wie hellwerdend,
rotwerdend . . . . unterscheiden. Diese Verdoppelung der Pr~idikate erspart
man sich bet Benutzung der Kopulas a = wird, "o = wird nlcht. W~ihrend
die deutsche Sprache das Wort ,,werden" fiir den ~bergang yon e ~ ' P z u
e r P zur u stellt, fehlt ein Wort fiir den umgekehrten ~bergang
yon e e P zu e ~ P - es set denn, man griffe auf das mystische ,,entwerden"
zuriick. Wit schreiben 5 = entwird, ~ = entwird nicht. Als Variable fiir
die Kopulas e, ~, a, "~, b. $'seien im folgenden z, zl . . . . gebraucht.
Zeichen yon der Form e z P mSgen Aussagen - genauer deskriptive Aus-
sagen - heiflen. Als Variable fiir deskripfive Aussagen seien im folgenden
A, A 1. . . . gebraucht.
Setzen wit ~-~e e, ~a= a, ~ = b, dann ist zu jeder Kopula ~ eine Kopula ~-
definiert.
Fiir A = e KP setzen wir A. = e ~ P .
Ein System (n-Tupel) yon deskriptiven Aussagen A 1. . . . . An mijge eine
Deskription heiflen. Eine Deskription D mSge miderspruchsfrei heiflen,
wenn fiir keine Aussage A die in D vorkommt, auch A in D vorkommt.
Die Forderung nut widerspru~sfreie Deskriptionen zu gebrauchen - man
kSnnte das Prinzip yore ausgesehlossenen Widerspruch der tradionellen
Logik als diese Forderung interpretieren - ist dann eine selbstverst~ind-
liche Forderung an jede verantwortungsvolle Rede (man stelle sich etwa
einen Richter vor, der bei der Urteilsverkiindigung nicht dieser Forderung
gentigtel). Kommt A in D vor bzw. nicht vor, dann schreiben wir A L D
bzw. A ~ D.
Jede widerspruchsfreie Deskription D benutzen wir jetzt auf folgende
Weise zur Konstituierung eines Kalkiils (D):
Aussagen yon (D) seien die folgenden Zeichen:
(t) Die deskriptive Aussage A, wenn A t D oder A t D
(2) Mit At, A2 auch A1 ^ A_~ und At v A2
Zur Begrfindun8 der zmeimertigen Aussagenlogik 31

Wir erweitern den Variabilitiitsbereich yon A, A1. . . . auf alle Aussagen


yon (D). Zur Ableitung yon Siitzen yon (D) m~gen folgende Regeln gelten:
(Rx) A ~ D - - ~ A
(1~) A 1, A 2 --,. A 1 ^ A 2
(R~) A i ~ A I v A~
(R4) A~ ~ A 1 v A~
I ~ - R 4 sind die Definition der K o n j u n k t i o n ^ und der Dis]unktion v in
der positiven Logik - - vgl. L.
Start ,,A ist ein Satz yon (D)" schreiben wit - indem wit die Abhiingigkeit
yon (D) nicht mehr zum Ausdruck b r i n g e n - co (A) -~ V
(A hat den Wahrheitswert V = verum)
Start , A ist kein Satz yon (D)" schreiben wit co (A) -= A
(A hat den Wahrheitswert A - f a l s u m )
r (A) - V steht also fiir die Ableitbarkeit yon A nach R 1 - - R4, r (A) = A
fiir die Unableitbarkeit yon A had: R 1 - - R 4.
Satz 1: Fiir kein A ist co (A) = V u n d co (A) ffi A beweisbar.
Beweis: Es ist zu widerlegen, dalt fiir einen Satz A zugleich A u n a b l e i t b a r
ist. Da die Unableitbarkeit einer Aussage definiert ist dutch die Ungleich-
heit mit allen S~itzen, wiirde aus der Unableitbarkeit eines Satzes A folgen
A ~ A. Diese Formel ist aber u n a b l e i t b a r (vgl. Ss~176$12~176
in L).
Satz 2: Fiir jedes A ist co (A) = V oder co (A) = A beweisbar.
Beweis: Fiir jede deskriptive Aussage A yon (D) ist A oder .~ ein Satz
yon {D). Dies folgt ^us der Definition yon ,,Aussage" gem~ilt (1) u n d der
Definition yon ,,Satz" gem/i/~ R r Ist A ein Satz, dann folgt o~ (A) = V, ist
A ein Satz, d a n n ist - auf G r u n d der Widerspruchsfreiheit yon D - - A
kein Satz, d.h. es folgt co (A) = A. Bemerkenswerterweise ist fiir dieses
tertium non datur aulter der Widerspruchsfreiheit keine weitere Forderung
an D zu steUen.
Ist ferner ,,co (A1) = V oder co (Ax) = A" u n d ,,co (Ae) = V oder co (A~) = A"
schon bewiesen, d a n n folgt wegen
co (A1) = V, co (A2) = V.-~ co (A1 ^A..) = Y
(R) ~ (Ai) = h -+ ~ (A~ ^ A 2) = h
co (A~) = A--~ o: (AI^A2) = A
aud: o~ (A1 ^ A 2 ) = V oder co (A i v A 2 ) = A (vgl. den Beweis yon (I) f i i r
kleine Aussagen in L. S. 196).
Die Regeln R sind n u t eine andere Schreibweise fiir
A 1, A 2 ~ A 1^ A2
AI^A~--~ A t
A 1^ A~ - + A 2
Auf die beiden letzten (vgl. $1~ Se~ ^us L) ist die Kontraposition (vgl. $12~
anzuwenden.
Entspre&end folgt mit den Regeln
co (At) = Y --+ co (A 1 v A2) = Y
(R) co (A2) -- V - ' - co (A1 v A~) = V
co (A1) = A co (Ar == h "+ co (A1 v A~) = A
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(vgl. fiir die letzte Regel *Ds~ aus L)


auch oJ (A 1 v A 2) --- V oder o~ (A 1 v A 2) = A. Induktion tiber alle Aussagen
,con (D) ergibt jetzt Satz 2.
Nach Satz i u n d Satz 2 hat jede Aussage genau einen der Wahrheitswerte
V, A und dieser berechnet sich nach den Regeln
(~) { A t D ---> co (A) = V
AtD ~ co(A)=A
zusammen mit den Regeln ~t, 1~.
Fiir jede deskriptive Aussage A ist Schon .~ definiert. Der Wahrheitswert
berechnet sich - auf Grund der Widerspruchsfreiheit yon D - nach
- / ~o ( h ) = Y - + r (h) = h
(R) / o~ (A) = V ~ co (s = V
Es liegt daher nahe, den Bereich der Aussagen yon (D) dadurch zu er-
weitern, daft zu (1), (2) noch die Regel
(3) mit A auch ~_
hinzugenommen wird. Fiir die neuhinzukommenden Aussagen werden jetzt
die Regeln R zur Definition eines Wahrheitswertes benutzt, und man erhiilt
wieder fiir jede Aussage genau einen Wahrheitswert.
Man kann Regelsysteme wie 1~, 1~ audl durch Matrizen mitteilen:

VA ~ VA
V V A V V V
A A A A V A

und sieh aueh andere Matrizen, z.B.

V A

V V A
A V V

ausdenken - hierdureh wird das Regelsystem

(R) r (A2) = V ~ r (A 1-7 Ar = V


co (A1) = V, ~ (A2) = a ~ ~o (A1 ~ As) = h
mitgeteilt - abet solche Matrizen kSnnen nicht als Grundlage der Logik
dienen.
Zum Umgang mit den durch dic Matrizen mitgeteilten Regelsystemen muff
man n~imlich schon fiber die (operative) Logik v e r f i i g e n - ebenso wie
zum Beweis des Satzes, d a f jede Aussage genau einen yon zwei Wahr-
heitswerten hat.

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