(Werke 3) Erich Kästner - Möblierte Herren - Romane I
(Werke 3) Erich Kästner - Möblierte Herren - Romane I
(Werke 3) Erich Kästner - Möblierte Herren - Romane I
Möblierte Herren
Romane I
HANSER
Erich Kästner • Werke
Band III
Erich Kästner
Möblierte Herren
Romane I
HERAUSGEGEBEN VON
BEATE PINKERNEIL
7 Fabian
369 Anhang
371 Nachwort
385 Kommentar
443 Inhaltsverzeichnis
FABIAN
ERSTES KAPITEL 9
»Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!«
»Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen.«
»Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?«
»Dann auch. Bitte zahlen!«
»Das versteh ich nicht«, erklärte der Kellner ärgerlich.
»Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?«
»Wenn ich das wüßte«, antwortete Fabian.
»Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig,
neunzig Pfennig«, deklamierte der andere.
Fabian legte eine Mark auf den Tisch und ging. Er hatte kei
ne Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am Wittenbergplatz
auf den Autobus i klettert, an der Potsdamer Brücke in eine
Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwan
zig Minuten später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau
drinsitzt, die Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich
nicht wissen, wo man ist.
Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet,
über Holzbohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stun
denhotels entlang, zum Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug hol
te er die Adresse heraus, die ihm Bertuch, der Bürochef, auf
geschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau Sommer. Er fuhr bis
zum Zoo. Auf der Joachimstaler Straße fragte ihn ein dünn
beiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er be-
schied das Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und
entkam.
Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten wa
ren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel
konnten sich schämen. Ein Flugzeug knatterte über die Dä
cher. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die Passanten blick
ten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an
jenes Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hoch
hebt, um das Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt.
Dann holte er von der steifen Krempe eines fremden Hutes ei
nen Taler herunter. »Besucht die Exotikbar, Noliendorfplatz 3,
Schöne Frauen, Nacktplastiken, Pension Condor im gleichen
Hause«, stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vor
stellung, er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hin
10 FABIAN
unter, auf den jungen Mann in der Joachimstaler Straße, im Ge
wimmel der Menge, im Lichtkreis der Laternen und Schaufen
ster, im Straßengewirr der fiebrig entzündeten Nacht.
Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er
überquerte den Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte
eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge war es, mit den elektrischen
Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen Fabians Stiefelabsatz.
Er drehte sich mißbilligend um. Es war die Straßenbahn gewe
sen. Der Schaffner fluchte.
»Passense auf!« schrie der Polizist.
Fabian zog den Hut und sagte: »Werde mir Mühe geben.«
ERSTES KAPITEL II
»Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?«
»Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu
Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe ge
hört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig.
Lassen Sie die Rubrik frei.«
Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame
erhob sich und erklärte ernst: «Ich darf Sie, bevor wir hin
eingehen, mit den wichtigsten Statuten bekanntmachen. An
näherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übel
genommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben
Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und
den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen
Herrschaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichten
des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort
zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hat keins der Paare
Anspruch darauf, respektiert zu werden. Paare, die ungestört
zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen.
Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen,
nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vor
übergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, wer
den ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise
Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden,
Herr Fabian?«
»Vollkommen.«
»Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.«
Dreißig bis vierzig Personen mochten anwesend sein. Im er
sten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde getanzt.
Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an,
sagte, daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und
verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner
Kognaksoda und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsge
sellschaft?
»Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind«, bemerk
te ein kleines schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben
ihn. Fabian bot ihr zu rauchen an.
»Sie wirken sympathisch«, sagte sie. »Sie sind im Dezember
geboren.«
12 FABIAN
»Im Februar.«
»Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann.
Ziemlich kalte Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?«
»Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Sub
stanzpartikel bestünden aus umeinander kreisenden elektri
schen Energiemengen. Halten Sie diese Ansicht für eine Hy
pothese oder für eine Anschauung, die dem wahren Sachver
halt entspricht?«
»Empfindlich sind Sie auch noch?« rief die Person. »Aber es
macht nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?«
Er hob die Schultern. »Ist das ein förmlicher Antrag?«
»Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig.
Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür
interessieren mich die Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den
ich sehe und der mir gefällt, als Ehemann vor.«
»In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen.«
Sie lachte, als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf
sein Knie. »Richtig gehofft! Man behauptet, ich litte an stel
lungssuchender Phantasie. Sollten Sie im Verlauf des Abends
das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen, meine Woh
nung und ich sind klein, aber stabil.«
Er entfernte die fremde und unruhige Hand von seinem
Knie und meinte: »Möglich ist alles. Und jetzt will ich mir das
Lokal ansehen.« Er kam nicht dazu. Wie er sich erhob und um
wandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame
vor ihm und sagte: »Man wird gleich tanzen.« Sie war größer
als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige Schwadro-
neuse befolgte die Statuten und verschwand. Der Kellner setz
te das Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewe
gung. Man tanzte.
Fabian betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatte ein blas
ses infantiles Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie,
ihrem Tanze nach, zu sein schien. Er schwieg und spürte, daß
in wenigen Minuten jener Grad von Schweigsamkeit erreicht
wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines belanglosen dazu,
unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den Fuß. Sie
wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander
ERSTES KAPITEL 13
neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufge
rissen hatten. Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis
mit dem grünen Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich
diese Liaison nicht auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob
er noch bleiben wolle; sie breche auf. Er ging mit.
14 FABIAN
gramm. Das bringt die Wirtin ins Zimmer und rüttelt mich, bis
ich aufwache.«
»Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhal
ten wirst?«
»Ich weiß sogar, was drinsteht.«
»Nämlich?«
»Es wird heißen: »Scher dich aus dem Bett. Dein treuer
Freund Fabian.< Fabian, das bin ich.« Er blinzelte in das Laub
der Bäume und freute sich über den gelben Glanz der Later
nen. Die Straße lag ganz still. Eine Katze lief geräuschlos ins
Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser entlangspazieren
könnte!
»Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?«
»Nein, aber das ist der pure Zufall«, sagte er.
»Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konse
quenzen nichts liegt?« fragte sie ärgerlich und schloß die Tür
auf.
»Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig.«
»Also hopp!« sagte sie. »Der Neugier sind keine Schranken
gesetzt.« Die Tür schloß sich hinter ihnen.
ERSTES KAPITEL 15
Zweites Kapitel
Es gibt sehr aufdringliche Damen
Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen
Betteln verdirbt den Charakter
Was hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig
Jahre alt und hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser
Abend begann ihn zu reizen. Er trank den dritten Kognak und
rieb sich die Hände. Er betrieb die gemischten Gefühle seit lan
gem aus Liebhaberei. Wer sie untersuchen wollte, mußte sie
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haben. Nur während man sie besaß, konnte man sie beobach
ten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt.
»So, nun wird der kleine Junge geschlachtet«, sagte die Blon
dine. Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen.
Er trat einen Schritt zurück. Sie aber rief »Hurra!« und sprang
ihm derart an den Hals, daß er die Balance verlor, kippte und
samt der Dame auf den Fußboden zu sitzen kam.
»Ist sie nicht schrecklich?« fragte da eine fremde Stimme.
Fabian blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit
einem Pyjama bekleidet, ein dürrer, großnasiger Mensch und
gähnte.
»Was wollen Sie denn hier?« fragte Fabian.
»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wis
sen, daß Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen.«
»Mit Ihrer Frau?«
Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vor
wurfsvoll: »Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schie
fe Lage bringen! Wenn du schon wünschst, daß ich mir deine
Neuerwerbungen anschaue, kannst du sie mir wenigstens ge
sellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das wird dem
Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als
du mich wecktest... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsan
walt und außerdem«, er gähnte herzzerreißend, »und außer
dem der Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen
breitmacht.«
Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und
ordnete seinen Scheitel. »Hält sich Ihre Gattin einen männli
chen Harem? Mein Name ist Fabian.«
Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Es freut
mich, einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen.
Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich. Das
ist Ansichtssache. Aber falls Sie der Gedanke beruhigt: ich bin
daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz.«
Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne,
streichelte ihn und sagte zu ihrem Mann: »Wenn er dir nicht
gefällt, brech ich den Kontrakt.«
»Aber er gefällt mir ja«, antwortete der Rechtsanwalt.
ZWEITES KAPITEL 17
»Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen
oder ein Rodelschlitten«, meinte Fabian.
»Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!« rief die Frau
und preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte
Brust.
»Himmeldonnerwetter!« schrie er. »Lassen Sie mich gefäl
ligst in Ruhe!«
»Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene«, erklär
te Moll. »Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und
ihm dort alles Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die
Situation als merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir
dann wieder herüber. Gute Nacht.« Der Rechtsanwalt gab sei
ner Frau die Hand.
Sie stieg in ihr niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwi
schen den Kissen und sagte: »Gute Nacht, Moll, schlaf gut.
Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch.«
»Ja, ja«, antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort.
Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zün
dete sich eine Zigarre an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke
über die Knie und blätterte in einem Aktenbündel.
»Mich geht zwar die Sache nichts an«, begann Fabian, »aber
was Sie sich von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Wer
den Sie oft von ihr aus dem Bett geholt, um die Liebhaber zu
taxieren?«
»Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese
Begutachtung als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr un
serer Ehe setzten wir einen Kontrakt auf, dessen Paragraph 4
lautet: >Die Vertragspartnerin verpflichtet sich, jeden Men
schen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht,
zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen.
Spricht sich dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Ire
ne Moll angewiesen, unverzüglich auf die Ausführung ihres
Vorhabens zu verzichten. Jedes Vergehen gegen den Paragra
phen wird mit einer hälftigen Kürzung der finanziellen Mo
natszuwendung geahndet.< Der Kontrakt ist sehr interessant.
Soll ich ihn in extenso vorlesen?« Moll holte den Schreibtisch
schlüssel aus der Tasche.
18 FABIAN
»Bemühen Sie sich nicht!« Fabian wehrte ab. »Wissen möch
te ich nur, wieso Sie auf den Gedanken verfielen, einen solchen
Kontrakt überhaupt aufzusetzen.«
»Meine Frau träumte so schlecht.«
»Wie?«
»Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. Es war offen
sichtlich, daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehe
dauer zunahmen und Wunschträume erzeugten, von deren In
halt Sie, mein Herr, sich glücklicherweise noch keine Vorstel
lung machen können. Ich zog mich zurück, und sie bevölkerte
ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und Tänzerin
nen. Was blieb mir übrig? Wir schlossen einen Vertrag.«
»Meinen Sie nicht, daß eine andere Behandlung erfolgrei
cher und geschmackvoller gewesen wäre?« fragte Fabian un
geduldig.
»Zum Beispiel, mein Herr?« Der Rechtsanwalt setzte sich
aufrecht.
»Zum Beispiel: pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?«
»Ich hab’s versucht. Es tat mir zu weh.«
»Das kann ich gut verstehen.«
»Nein!« rief der Rechtsanwalt, »das können Sie nicht ver
stehen! Irene ist sehr kräftig, mein Herr.«
Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der
Schreibtischvase, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich,
lief im Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermut
lich hatte es dem alten langen Kerl auch noch Vergnügen ge
macht, von seiner Frau übers Knie gelegt zu werden.
»Ich will gehen«, sagte er. »Geben Sie mir den Hausschlüs
sel!«
»Ist das Ihr Ernst?« fragte Moll ängstlich. »Aber Irene er
wartet Sie doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird
außer sich geraten, wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie
wird denken, ich hätte Sie weggeschickt. Bleiben Sie, bitte! Sie
hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie ihr doch das kleine
Vergnügen!«
Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am
Jackett. »Bleiben Sie doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie
ZWEITES KAPITEL 19
werden wiederkommen. Sie werden unser Freund bleiben. Und
ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie’s mir zu Ge
fallen.«
»Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Monats
einkommen garantieren?«
»Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unver
mögend.«
»Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich! Ich
eigne mich nicht für den Posten.«
Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gab Fa
bian einen Schlüsselbund und sagte: »Jammerschade, Sie waren
mir von Anfang an sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein
paar Tage. Vielleicht überlegen Sie sich’s. Ich würde mich je
denfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen.«
Fabian knurrte: »Gute Nacht«, ging leise durch die Diele,
nahm Hut und Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hin
ter sich zu und galoppierte die Treppe hinunter. Auf der Straße
holte er tief Atem und schüttelte den Kopf. Da spazierten die
Menschen hier unten vorüber und hatten keine Ahnung, wie
verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafte Gabe,
durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, war eine
Kleinigkeit gegen die Leistung, das, was man dann sähe, zu er
tragen.
»Ich bin sehr neugierig«, hatte er der blonden Person er
zählt, und nun lief er auf und davon, statt seine Neugier mit
dem Ehepaar Moll zu füttern. Dreißig Mark war er losgewor
den. Zwei Mark hatte er noch in der Tasche. Aus dem Abend
essen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und quer
durch düstere unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor
den Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er
in die Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam
in der Spichernstraße aus der Unterwelt wieder hinauf unter
den freien Himmel.
Er ging in sein Stammcafe. Nein, Doktor Labude sei nicht
mehr da. Er habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, be
stellte Kaffee und rauchte.
Der Wirt, ein gewisser Herr Kowalski, erkundigte sich nach
20 FABIAN
dem werten Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr
Komisches passiert. Kowalski lachte, daß die falschen Zähne
blitzten. Der Kellner Nietenführ habe es zuerst beobachtet.
»Dort drüben am runden Tisch saß ein junges Paar. Die bei
den unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand
des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Ziga
rette an und war von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig
ist.«
»Das ist doch nicht komisch.«
»Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die
Frau - hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte
gleichzeitig mit einem Herrn vom Nebentisch! Und das in ei
ner Weise! Nietenführ holte mich unauffällig heran. Der An
blick war toll. Der Kerl steckte ihr schließlich einen Zettel zu.
Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen Wisch und warf ihn auf
den Nebentisch. Währenddem sprach sie aber auch auf ihren
Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute -
ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Si
multanspielerin übertraf alle.«
»Warum ließ er sich denn das gefallen?«
»Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt so
fort! Also, wir wunderten uns natürlich auch, warum er sich
das bieten ließ. Er saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig,
legte den Arm um ihre Schulter, und währenddem nickte sie
dem Mann vom Nebentisch zu. Der nickte zurück, machte
Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging dann
hinüber, weil sie zahlen wollten.« Herr Kowalski streckte den
massigen Kopf hoch und lachte himmelwärts.
»Nun, woran lag’s?«
»Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!« Der
Wirt machte eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fa
bian blickte erstaunt hinterher. Der Fortschritt der Menschheit
war unverkennbar.
An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfs
kellner waren damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann
hinauszudrängen. »Scheren Sie sich auf der Stelle fort. Den gan
zen Tag diese Bettelei, das ist ekelhaft«, sagte Nietenführ zi-
ZVEITES KAPITEL 21
sehend. Und der Hilfskellner zerrte den Menschen, der blaß
war und kein Wort sprach, hin und her.
Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern
zu: »Lassen Sie sofort den Herrn los!« Die zwei gehorchten
widerstrebend.
»Da sind Sie ja«, meinte Fabian und gab dem Bettler die
Hand. »Es tut mir außerordentlich leid, daß man Sie gekränkt
hat. Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch.« Er
führte den Mann, der nicht wußte, wie ihm geschah, in seine
Ecke, hieß ihn Platz nehmen und fragte: »Was möchten Sie es
sen? Wollen Sie ein Glas Bier trinken?«
»Sie sind sehr freundlich«, sagte der Bettler. »Aber ich wer
de Ihnen Ungelegenheiten machen.«
»Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich; bitte, etwas aus.«
»Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und
hinausschmeißen.«
»Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen!
Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der Magen
knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu sitzen? Sie sind
ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends durch die Tür läßt.«
»Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders dar
über«, sagte der Mann. »Ich schlafe am Engelufer in der Her
berge. Zehn Mark zahlt mir die Fürsorge. Mein Magen ist
krank vom vielen Kaviar.«
»Was sind Sie von Beruf?«
»Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Ge
fängnis war ich auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Das
einzige, was ich noch nicht erlebt habe, ist der Selbstmord.
Aber das läßt sich nachholen.« Der Mann saß auf der Stuhl
kante und hielt die Hände zitternd vor den Westenausschnitt,
um das dreckige Hemd zu verbergen.
Fabian wußte nicht, was er sagen sollte. Er probierte, im
Kopf, viele Sätze. Keiner war am Platz. Er stand auf und sag
te: »Einen Augenblick, der Kellner wünscht, von einer Abord
nung geholt zu werden.« Er lief nach dem Büfett, stellte den
Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn
durchs Lokal.
22 FABIAN
Der Bettler war fort.
»Ich zahle morgen!« rief Fabian, stürzte aus dem Cafe und
sah sich um. Der Mann war verschwunden.
ZWEITES KAPITEL 23
Drittes Kapitel
Vierzehn Tote in Kalkutta
Es ist richtig, das Falsche zu tun
Die Schnecken kriechen im Kreis
24 FABIAN
bekannt: Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor
sich, Irrgang ist der Künstlername. Herr Fabian.« Die beiden
gaben einander die Hand.
»Aber«, sagte Herr Irrgang betreten, »nun sind doch in der
Spalte fünf Zeilen frei.«
»Was tut man in einem so außergewöhnlichen Fall?« fragte
Münzer.
»Man füllt die Spalte«, erklärte der Volontär.
Münzer nickte. »Steht nichts im Satz?« Er wühlte in den
Bürstenabzügen. »Ausverkauft«, erklärte er. »Saure Gurken
zeit.« Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt
hatte, und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein«, schlug
der junge Mann vor.
»Sie hätten Säulenheiliger werden sollen«, sagte Münzer.
»Oder Untersuchungsgefangener oder sonst ein Mensch mit
viel Zeit. Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfin
det man sie. Passen Sie mal auf!« Er setzte sich hin, schrieb
rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab das Blatt
dem jungen Mann.
»So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn’s nicht reicht, ein Vier
tel Durchschuß.«
Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz
leise: »Allmächtiger Vater« und setzte sich, als sei ihm plötz
lich schlecht geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen
knisternden Berg ausländischer Zeitungen.
Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs
Hand zitterte, und las: »In Kalkutta fanden Straßenkämpfe
zwischen Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl
die Polizei der Situation sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote
und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe ist vollkommen wie
derhergestellt.« Ein alter Mann schlurfte in Pantoffeln ins Zim
mer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer
hin. »Kanzlerrede, Fortsetzung«, murmelte er. »Den Schluß ge
ben sie in zehn Minuten durch.« Dann schleppte er sich wie
der davon. Münzer klebte die sechs Blätter, aus denen die Rede
vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein mittelalterliches
DRITTES KAPITEL *5
Spruchband aussahen, dann begann er zu redigieren. »Mach
hurtig, Jenny«, sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang.
»Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattge
funden«, entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er
den Kopf und meinte fassungslos: »Vierzehn Tote.«
»Die Unruhen haben nicht stattgefunden?« fragte Münzer
entrüstet. »Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta
finden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im
Stillen Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken
Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder
erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und
nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie matern und
der Stadtausgabe beilegen.« Der junge Mann ging.
»Und so was will Journalist werden«, stöhnte Münzer und
strich aufseufzend und mit einem Bleistift in der Rede des
Reichskanzlers herum. »Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten,
das wäre was für den Jüngling. Gibt’s aber leider nicht.«
»Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zwei
undzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkut
ta?« fragte Fabian.
Münzer bearbeitete den Reichskanzler. »Was soll man ma
chen?« sagte er. »Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leu
ten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kernge
sund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist
nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.« Und dabei
strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede
heraus. »Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldun
gen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten da
durch, daß man weder das eine noch das andere bringt. Die be
quemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche
Meinungslosigkeit.«
»Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein«,
meinte Fabian.
»Und wovon sollen wir leben?« fragte Münzer. »Außerdem,
was sollten wir statt dessen tun?«
Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die
Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. »Die vierzehn
26 FABIAN
toten Inder sollen leben!« rief er und trank. Dann fiel er wie
der über den Kanzler her. »Einen Stuß redet unser hehres
Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!« erklärte er. »Das
ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in
dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Un
tersekunda kriegte er dafür die Drei.« Er drehte sich zu Fabian
herum und fragte: »Und wie überschreibt man den Scherz
artikel?«
»Ich möchte lieber wissen, was Sie drunterschreiben«, sagte
Fabian ärgerlich.
Der andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im
Mund, schluckte hinter und antwortete: »Keine Silbe. Nicht ein
Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rük-
ken zu fallen. Wenn wir dagegen schreiben, schaden wir uns,
wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Fabian. »Schrei
ben Sie dafür!«
»O nein«, rief Münzer. »Wir sind anständige Leute. Tag
Malmy.«
DRITTES KAPITEL 27
denes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnah
men naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicher
weise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz,
und ich bin außerdem ...«
»Ein Zyniker«, warf Münzer ein, ohne aufzublicken.
Malmy hob die Schultern. »Ich wollte sagen, ein Feigling.
Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Verstand
in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ich
tue nichts mehr dagegen.«
Doktor Irrgang, der junge Mann, trat ein und besprach mit
Münzer an Hand der Postauflage, welche Meldungen sie aus
dem Blatt werfen und welche sie statt dessen in die Stadtaus
gabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat zwei Dach
stuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige nebu
löse Worte gefallen, die der deutschen Minderheit in Polen gal
ten. Den ostelbischen Großgrundbesitzern waren vom Land
wirtschaftsminister Zollerhöhungen in Aussicht gestellt wor
den. Die Untersuchung gegen die Direktoren des Städtischen
Beschaffungsamtes hatte eine einschneidende Wendung erfah
ren.
»Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?«
fragte Münzer. »Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine
gute Schlagzeile. Die Sache muß in Satz. Wenn die Matern zu
spät kommen, kriegen wir wieder Krach mit dem Maschinen
meister.«
Der junge Mann dachte so angestrengt nach, daß seine Stirn
schwitzte. »Der Kanzler fordert Vertrauen«, schlug er vor.
»Mäßig«, urteilte Münzer. »Nehmen Sie sich ein Wasserglas,
und trinken Sie erst einen Schluck Wein!« Der junge Mann be
folgte den Rat, als sei er ein Befehl.
»Deutschland oder Die Trägheit des Herzens«, sagte Malmy.
»Reden Sie keinen Unsinn!« rief der politische Redakteur.
Dann schrieb er eine Zeile groß mit dem Blaustift über das Ma
nuskript und erklärte: »Der Groschen gehört mir.«
»Was haben Sie denn geschrieben?« fragte Fabian.
Münzer drückte auf den Klingelknopf und erklärte pathe
tisch: »Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!« Der Bote
28 FABIAN
holte die Papiere. Der Handelsredakteur griff in die Tasche
und legte wortlos ein Zehnpfennigstück auf den Schreibtisch.
Sein Kollege blickte verwundert hoch.
»Ich eröffne hiermit eine Aktion, die umgehend notwendig
wird«, behauptete Malmy.
»Um welche Aktion handelt es sich?«
»Darum, Ihnen Ihr Schulgeld zurückzuerstatten«, sagte
Malmy; und Irrgang, der politische Lehrling, lachte in Gren
zen. Dann stürzte er ans Telefon. Es hatte geläutet. »Ein Abon
nent möchte etwas wissen«, bekundete er nach einiger Zeit und
überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. »Sie sitzen am
Stammtisch und haben gewettet, ob es die Tür oder die Türe
heißt.« Münzer nahm ihm den Hörer weg. »Einen Augen
blick«, sagte er. »Wir sagen Ihnen sofort Bescheid, mein Herr.«
Dann winkte er Irrgang und flüsterte: »Feuilleton.«
Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die
Achseln.
»Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte schön.
Guten Abend.« Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüt
telte den Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der
Nähe des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich
von einem Setzer, der nach Hause ging, das Blatt bringen las
sen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. Er hatte sich über
ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile auf der er
sten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der Theater
kritiker, an den Tisch gekommen.
Nun tranken sie fleißig. Irrgang, der junge Mann, war schon
fast hinüber. Strom, der Kritiker, verglich einige namhafte Re
gisseure mit Schaufensterdekorateuren, das Theater der Ge
genwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramati
ker, behauptete Strom, es gebe welche.
»Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr«, bemerkte Mün
zer schwerzüngig, und Strom lachte ohne Anlaß.
DRITTES KAPITEL 29
Fabian ließ sich inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. »Erstens werden Reich
und Wirtschaft in wachsendem Maße überfremdet«, behaup
tete der Redakteur. »Zweitens genügt ein Riß, und die ganze
Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in großen Posten abgerufen
wird, sacken wir alle ab, die Banken, die Städte, die Konzerne,
das Reich.«
»Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon«, sagte Irrgang.
»Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, was gi
gantische Formen annimmt, kann imponieren, auch die Dumm
heit.« Malmy musterte den jungen Mann. »Gehen Sie mal rasch
hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter im Anzug.« Irrgang
legte den Kopf auf den Tisch. »Werden Sie Sportredakteur«,
riet Malmy. »Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt nicht so
große Anforderungen.« Der Volontär stand auf, schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. »Ich bin ein
Schwein«, murmelte er.
»Eine ausgesprochen russische Atmosphäre«, stellte Strom
fest.
»Alkohol, Selbstquälerei, Tränen bei erwachsenen Männern.«
Er war ergriffen und streichelte dem Politiker die Glatze.
»Ich bin ein Schwein«, murmelte der andere. Er blieb dabei.
Malmy lächelte Fabian zu. »Der Staat unterstützt den un
rentablen Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerindu
strie. Sie liefert ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland,
aber sie verkauft sie innerhalb unserer Grenzen über dem
Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu teuer;
der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt den
Schwund der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besit
zenden nicht aufzubürden wagt; das Kapital flieht ohnedies
milliardenweise über die Grenzen. Ist das etwa nicht konse
quent? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!«
»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer und fing mit vor
geschobener Unterlippe die Tränen auf.
»Sie überschätzen sich, Verehrter«, sagte der Handelsredak
30 FABIAN
teur. Münzer zog, während er weiter weinte, ein gekränktes
Gesicht. Er war entschieden beleidigt, daß man ihn daran hin
dern wollte, das zu sein, wofür er sich, wenn auch nur im be
trunkenen Zustand, hielt.
Malmy fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären.
»Die Technik multipliziert die Produktion. Die Technik dezi
miert däs Arbeitsheer. Die Kaufkraft der Massen hat die ga
loppierende Schwindsucht. In Amerika verbrennt man Getrei
de und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In Frankreich
jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor! Die Menschen sind verzweifelt, weil der Bo
den zu viel trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu
fressen! Wenn in so eine Welt kein Blitz fährt, dann können
sich die historischen Witterungsverhältnisse begraben lassen.«
Malmy stand auf, wankte ein wenig und schlug ans Glas. Die
Umsitzenden sahen ihn an.
»Meine Herrschaften«, rief er, »ich will eine Rede halten.
Wer dagegen ist, stehe auf.«
Münzer erhob sich mühsam.
»Der stehe auf«, rief Malmy, »und verlasse das Lokal.«
Münzer setzte sich nieder, Strom lachte.
Nun begann Malmy seine Rede: »Wenn das, woran unser
geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt,
sagt man schlicht, sie habe die Paralyse. Und sicher ist Ihnen
allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mit
samt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es
um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus?
Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht
weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet
die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist.«
»Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Verglei
che!« rief Strom. »Ich bin nicht fest auf dem Magen.«
»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy.
»Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitge
nossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß ei
nige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch
DRITTES KAPITEL 31
sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen
Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß- es
sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. »Wozu
sind die andern da?< denkt jeder und wiegt sich im Schaukel
stuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist,
dahin Geld, wo wenig ist Die Schieberei und das Zinszahlen
nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang.«
»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer, hob sein Glas und
hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
»Der Blutkreislauf ist vergiftet«, rief Malmy. »Und wir be
gnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der
sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann man
eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es nicht. Der Patient
geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, ka
putt!«
Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn
und sah den Redner bittend an.
»Lassen Sie die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy.
»Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin
ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne
eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu
wollen, ist Quacksalberei!«
»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, behauptete
Münzer und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf.
Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Maßstab.
Und Malmy mußte,um den Kollegen zu übertönen, noch lau
ter sprechen. »Sie werden einwenden, es gebe ja zwei große
Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts oder
links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem
sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Aller
dings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren,
aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit trei
ben.«
Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig ge
nug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein
dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzuwen
den, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er in verkehrter
3* FABIAN
Richtung: »Mediziner hätten Sie werden sollen.« Dann plump
ste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die
helle Wut, und er brüllte: »Geld brauchen wir. Geld. Und wie
der Geld!«
Münzer nickte und flüsterte: »Montecuccoli war auch ein
Schwein.« Dann weinte er wieder weiter.
Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. »Ein
fach lächerlich«, knurrte er. »Geistige Erneuerung, Trägheit
des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund.
Das wäre ja gelacht wäre das ja!«
Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war
wie er, fragte: »Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Ar
thur?«
»Hab ich dich gefragt?« schrie er, schon wieder aufgebracht.
Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vor
beiging, am Rockschoß fest und sagte: »Noch ein Sülzkotelett,
und Essig und Öl.«
Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: »Habe
ich recht? Wegen solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten?
Ich denke nicht daran. Es wird weitergelogen. Es ist richtig,
das Falsche zu tun.«
Münzer hatte sich’s bequem gemacht, lag auf dem Sofa und
schnarchte schon, obwohl er noch gar nicht schlief. »Und Ihr
Auto habe ich doch«, grunzte er und drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sie kamen
Arm in Arm daher und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht.
»Ich vertrage keinen Alkohol«, erläuterte Irrgang entschul
digend. Die zwei nahmen Platz. »Ein Kriegsprodukt«, sagte
Strom. »Eine bedauernswerte Generation.« Dieser Theaterkri
tiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten Din
ge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie un
glaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in sei
nem Pathos von der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier,
Fabian hätte plötzlich an der Richtigkeit der Rechnung ge
zweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und betrachtete
Malmy. Der saß steif auf dem Stuhl und war mit dem Blick
DRITTES KAPITEL 33
sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen
Ruck, sah Fabian an und sagte: »Man sollte sich mehr zusam
mennehmen. Schnaps zerfrißt den Maulkorb.«
Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Fabi
an erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt dem
Handelsredakteur.
»Aber vielleicht haben Sie recht«, meinte Malmy und lächel
te traurig.
»Ich bin nicht mehr ganz nüchtern«, sagte Fabian, als er vor der
Tür stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der
Trunkenheit, das einen glauben machen will, man spüre die
Umdrehungen der Erde. Die Bäume und Häuser stehen noch
ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als Zwil
linge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es ein
mal! Doch heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seinem
Schwips her und tat, als kennten sie einander nicht. Was war
das für eine komische Kugel, ob sie sich nun drehte oder nicht!
Er mußte an eine Zeichnung von Daumier denken, die »Der
Fortschritt« hieß. Daumier hatte auf dem Blatt Schnecken dar
gestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im
Kreis!
Und das war das Schlimmste.
34 FABIAN
Viertes Kapitel
VIERTES KAPITEL 35
terhaltung an. »Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigun
gen bevor.«
»Schon möglich«, sagte Fabian.
»Was fangen Sie an«, fragte der andere, »wenn man Sie hier
vor die Tür setzt?«
»Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation da
mit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu
machen? Wenn ich hier fliege, such ich mir einen neuen Beruf.
Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an.«
»Erzählen Sie mal was von sich«, bat Fischer.
»Während der Inflation hab ich für eine Aktiengesellschaft
Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte jeden Tag zweimal den Ef
fektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute wußten,
wie groß ihr Kapital war.«
»Und dann?«
»Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen
gekauft.«
»Warum gerade einen Grünwarenladen?«
»Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Dok
tor Fabians Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch
dunkel war, zogen wir mit einem wackligen Handwagen in die
Markthalle.«
Fischer stand auf. »Wie? Doktor sind Sie auch?«
»Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich
beim Messeamt als Adressenschreiber angestellt war.«
»Wie hieß denn Ihre Dissertation?«
»Sie hieß >Hat Heinrich von Kleist gestottert?«. Erst wollte
ich an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans
Sachs Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu
lange. Genug. Dichten Sie lieber!« Er schwieg und ging vor
dem Plakat auf und ab. Fischer schielte neugierig zu ihm hin.
Doch er wagte nicht, das Gespräch zu erneuern. Seufzend
drehte er sich im Stuhl herum und musterte seine Reimnotizen.
Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration ver
trauend, die Augen zu.
Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: »Ja, ist
36 FABIAN
hier. Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort.« Und
zu Fabian meinte er: »Ihr Freund Labude.« Fabian nahm den
Hörer. »Tag, Labude, was gibt’s?«
»Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?« fragte der
Freund.
»Ich habe aus der Schule geplaudert.«
»Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?«
»Ich komme.«
»In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Labude.« Er hängte ab. Fischer hielt ihn
am Ärmel fest.
»Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen
Sie ihn eigentlich nicht beim Vornamen?«
»Er hat keinen«, meinte Fabian. »Die Eltern haben seiner
zeit vergessen, ihm einen zu geben.«
»Er hat überhaupt keinen Vornamen?«
»Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich
einen beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht.«
»Sie veralbern mich ja«, rief Fischer gekränkt.
Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte:
»Sie merken alles.« Dann widmete er sich von neuem dem
Kölner Dom, schrieb ein paar Schlagzeilen auf und brachte sie
zu Direktor Breitkopf.
»Sie können sich mal ein kleines hübsches Preisausschreiben
ausdenken«, meinte der Direktor. »Ihr Prospekt für Detail
händler hat uns ganz gut gefallen.«
Fabian verbeugte sich leicht.
»Wir brauchen etwas Neues«, fuhr der Direktor fort. »Ein
Preisausschreiben oder was Ähnliches. Es darf aber nichts ko
sten, verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich ge
äußert, er müsse den Reklame-Etat möglicherweise um die
Hälfte reduzieren. Was das für Sie bedeuten würde, können Sie
sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die Arbeit! Bringen
Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie
möglich, ’n Morgen.«
Fabian ging.
Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaf
VIERTES KAPITEL 37
fee inbegriffen, Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er
einen Brief von seiner Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er
nicht. Das warme Wasser war kalt. Er wusch sich nur, wech
selte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den Brief
seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten
Etage übte jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebil
dete Oberrechnungsrat seine Frau an. Fabian öffnete das Ku
vert und las:
»Mein lieber, guter Junge!
Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor
hat gesagt, es ist nichts Schlimmes. Es ist wohl was mit den
Drüsen. Und kommt bei älteren Leuten öfter vor. Mach Dir
also meinetwegen keine Sorgen. Ich war erst sehr nervös. Aber
nun wird es schon wieder werden mit dem alten Lehmann. Ge
stern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne ha
ben Junge. Im Parkcafe verlangen sie siebzig Pfennig für die
Tasse Kaffee, so eine Frechheit.
Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase sagte
im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich.
Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den
Karton zur Post. Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als
das letzte Mal. Wie leicht kann unterwegs was wegkommen.
Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie hat eben ein Stück Gur
gel gefressen und nun stößt sie mich mit dem Kopf und will
mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie vergan
gene Woche, Geld in den Brief steckst, reiß ich Dir die Ohren
ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber.
Macht es Dir denn wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame zu
machen? Die Drucksachen, die Du schicktest, haben mir gut
gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein Jammer, daß Du
solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht seine Schuld.
Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der
kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den
Schornstein fällt. Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur
ein Übergang.
Der Vater hat halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der
38 FABIAN
Wirbelsäule zu sein. Er geht ganz krumm. Tante Martha brach
te gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten. Die Hühner le
gen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur nicht so
viel Arger mit dem Mann hätte.
Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach
Hause kommen könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit
vergeht. Da hat man nun ein Kind und hat eigentlich keins. Die
paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am liebsten setzte ich
mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher war
das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich
mir die Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt du noch, wenn
wir den Rucksack nahmen und loszogen? Einmal kamen wir
mit einem ganzen Pfennig zurück. Da muß ich gleich lachen,
während ich dran denke.
Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten
wird es ja wohl nicht werden. Gehst Du immer noch so spät
schlafen? Grüß Labude. Und er soll auf Dich aufpassen. Was
machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater läßt Dich
grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter.«
Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hin
unter. Warum saß er hier in dem fremden gottverlassenen Zim
mer, bei der Witwe Hohlfeld, die das Vermieten früher nicht
nötig gehabt hatte? Warum saß er nicht zu Hause, bei seiner
Mutter? Was hatte er hier in dieser Stadt, in diesem verrückt
gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen Unsinn
schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauch
te als bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort ab
warten, wo er geboren worden war. Das hatte er davon, daß er
sich einbildete, der Globus drehe sich nur, solange er ihm zu
schaue. Dieses lächerliche Bedürfnis, anwesend zu sein! Ande
re hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten, ließen ihre
Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zu
sehen und ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause.
Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden.
Der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen.
Das Ziel keiner Klasse!
VIERTES KAPITEL 39
Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte:
»Pardon, ich dachte, Sie wären noch nicht da.« Sie kam näher.
»Haben Sie gestern nacht den Krach gehört, den Herr Tröger
veranstaltet hat? Er hatte wieder Frauenzimmer mit oben. Das
Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das noch einmal vor
kommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im an
dern Zimmer wohnt?«
»Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu hel
fen.«
»Aber Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Abstei
gequartier!«
»Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem
gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im
Widerspruch zur Moral der Vermieterinnen stehen.«
Die Wirtin wurde ungeduldig. »Aber er hatte mindestens
zwei Frauenzimmer bei sich!«
»Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird
sein, Sie teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine
Dame mitbringen. Und wenn er sich nicht danach richtet, las
sen wir ihn von der Sittenpolizei kastrieren.«
»Man geht mit der Zeit«, erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne
Stolz und rückte noch näher. »Die Sitten haben sich geändert.
Man paßt sich an. Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja
auch noch nicht so alt.«
Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich
wogte ihr unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag
schlimmer. Fand sich denn wirklich niemand für sie? Nachts
stand sie vermutlich, auf bloßen Füßen, vor dem Zimmer des
Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs Schlüsselloch, sei
nen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Frü
her war diese Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und
sagte: »Schade, daß Sie keine Kinder haben.«
»Ich gehe schon.« Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zim
mer. Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek.
Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Sta
peln darauf. Darüber, an der Wand, hing eine Stickerei mit der
40 FABIAN
Inschrift: »Nur ein Viertelstündchen.« Er hatte, als er einzog,
den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern ange
bracht. Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem
der Bücher. Geschadet hatte es fast nie.
Er griff zu. Es war Descartes. »Betrachtungen über die Grund
lagen der Philosophie«, so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre
waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in
der mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jah
re waren mitunter eine lange Zeit. Auf der anderen Straßensei
te hatte ein Schild gehangen: »Chaim Pines, Ein- und Verkauf
von Fellen.«
War das alles, was er von damals wußte? Bevor er vom Ex
aminator aufgerufen wurde, war er, mit dem Zylinder eines an
deren Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore spa
ziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war
dann durchgefallen und nach Amerika gegangen.
Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes
ihm mitzuteilen? »Schon Vorjahren bemerkte ich, wieviel Fal
sches ich von Jugend auf als wahr hingenommen hatte und wie
zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete. Darum
war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund
auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je
irgend etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses
schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so war
tete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen an
gemessene Alter ab. Darum habe ich so lange gezögert, daß ich
jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die Zeit, die mir zu
handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei,
und ich habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich
mich in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen
allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen unternehmen.«
Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen
nach, die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kais'erallee ent
langfuhren, und schloß vorübergehend die Augen. Dann blät
terte er und überflog die Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war
Descartes alt gewesen, als er seine Revolution ankündigte. Am
VIERTES KAPITEL 41
Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein bißchen beteiligt. Ein
kleiner Kerl, mit immensem Schädel. »Von allen Sorgen frei.«
Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm
Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog
den Mantel an. Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem
Reisenden mit dem starken Frauenverbrauch. Sie zogen die
Hüte.
42 FABIAN
nommen und zusammengesetzt! Auch eine Beschäftigung für
einen erwachsenen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!«
Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte
sich ein.
Labude blickte vor sich hin. »Heute morgen war ich dabei,
wie sie in der Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Ei
nen Sinologen. Er hat seit einem Jahr seltene Drucke und Bil
der der Bibliothek gestohlen und verkauft. Er wurde blaß wie
eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich erst mal auf
die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde
er abtransportiert.«
»Der Mann hat den Beruf verfehlt«, sagte Fabian. »Wozu
lernt er erst Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt?
Es steht schlimm. Jetzt räubern schon die Philologen.«
»Trink aus und komm!« rief Labude.
Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheuß
liche Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
»Wir fahren zu Haupt«, sagte Labude.
VIERTES KAPITEL 43
Fünftes Kapitel
44 FABIAN
nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen?
Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funk
tion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist
nicht da, und nichts hat Sinn.«
»Doch, man verdient beispielsweise Geld.«
»Ich bin kein Kapitalist!«
»Eben deshalb.« Labude lachte ein bißchen.
»Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich
habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen?
Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß
man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Pla
kate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist über
haupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen
Menschen? Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Un
terschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will
keine Zinsen, ich will keinen Mehrwert.«
Labude schüttelte den Kopf. »Das ist Indolenz. Wer Geld
verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen.«
»Was fang ich mit der Macht an?« fragte Fabian. »Ich weiß,
du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht
mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind
Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt.«
»Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden.«
»Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an, jener für seine
Familie, der eine für seine Steuerklasse, der andere für diejeni
gen, die blonde Haare haben, der fünfte für solche, die über
zwei Meter groß sind, der sechste, um eine mathematische For
mel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld und
Macht!« Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber die
war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb
stumm.
»Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich
brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir
ein Lebensziel einpflanzen!« Labude war ernstlich bekümmert
und legte die Hand auf den Arm des Freundes.
»Ich sehe zu. Ist das nichts?«
»Wem ist damit geholfen?«
FÜNFTES KAPITEL 45
»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht ha
ben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und
führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat
einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat auf
zubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich
sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse
vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen
wird ... Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte
helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen.
Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche
Eignung hin anzuschauen.«
Labude hob sein Glas und rief: »Viel Vergnügen!« Er trank,
setzte ab und sagte: »Erst muß man das System vernünftig ge
stalten, dann werden sich die Menschen anpassen.«
Fabian trank und schwieg.
Labude fuhr erregt fort: »Das siehst du ein, nicht wahr?
Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von ei
nem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvoll
kommenen zuzustreben, das sich verwirklichen läßt. Es ist dir
bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme.«
»Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Ar
beitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unter
stützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!«
Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die
eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem
Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, und ihr
Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. »Schenkt uns ’ne
Zigarette«, sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin. La
bude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen
Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer
Pause mit verrosteter Stimme: »Na ja, so ist das.«
»Wer spendiert ’nen Schnaps?« fragte die Dicke.
Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige
Weintrauben, alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setz
ten sich in eine Ecke. Die Wand war mit der Pfalz bei Caub be
malt. Fabian dachte an Blücher, Labude bestellte Likör. Die
Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten sie die
46 FABIAN
zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke
Blonde den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und
tat wie zu Hause. Die Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer,
zupfte Labude an der Nase und kicherte blöde. »Oben sind
Nischen«, sagte sie, strich die blauen Trikothosen von den
Schenkeln zurück und zwinkerte.
»Woher haben Sie so rauhe Hände?« fragte Labude.
Sie drohte mit dem Finger. »Nicht, was du denkst«, rief sie
und verschluckte sich vor Schelmerei.
»Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet«, sag
te die Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so
lange über die Brüste, bis die Brustwarzen groß und fest wur
den. »Gehen wir dann ins Hotel?« fragte sie.
»Ich bin überall rasiert«, erläuterte die Magere und war nicht
abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie müh
sam vor dem Äußersten zurück.
»Man schläft nachher besser«, sagte die Blondine zu Fabian
und reckte die festen Beine.
Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tran
ken, als hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang
gedämpft herüber. An der Bar saß ein riesenhafter Kerl und
gurgelte mit Kirschwasser. Der Scheitel reichte ihm bis ins
Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte eine elektrische
Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
»Oben sind Nischen«, sagte die Magere wieder, und man
stieg hinauf. Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller
mit Fleisch und Wurst vor den Mädchen stand, vergaßen sie al
les übrige und kauten darauflos. Unten im Saal wurde die
schönste Figur prämiert. Die Frauen drehten sich mit ihren
knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und die
Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie
auf dem Viehmarkt.
»Der erste Preis ist eine große Bonbonniere«, erklärte die
kauende Paula, »und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim
Geschäftsführer wieder abliefern.«
»Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu
dick«, sagte die Blondine. »Dabei sind dicke Beine das beste,
FÜNFTES KAPITEL 47
was es gibt. Ich war einmal mit einem russischen Fürsten zu
sammen, der schreibt mir noch jetzt Ansichtskarten.«
»Quatsch!« knurrte Paula. »Jeder Mann will was anderes.
Ich habe einen Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lun
genkranke. Und Viktorias Freund hat einen Buckel, und sie
sagt, das braucht sie zum Leben. Da mach was dagegen. Ich
finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram.«
»Gelernt ist gelernt«, behauptete die Dicke und angelte das
letzte Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde ge
rade die schönste Figur ausgerufen. Die Kapelle spielte einen
Tusch. Der Geschäftsführer überreichte der Siegerin eine gro
ße Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt, verneigte sich vor
den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie’s ins Büro zurück.
»Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konser
venfabrik?« fragte Labude, und seine Frage klang recht vor
wurfsvoll.
Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Ma
gen und erzählte: »Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und
zweitens wurde ich abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was
über den Direktor. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen ver
führt. Verführt ist übertrieben. Aber er glaubte den Zimt. Und
dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse fünfzig Mark
haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag
ging ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab.«
»Das ist ja Erpressung!« rief Labude.
»Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals
schickte, fand das auch. Ich mußte einen Wisch unterschrei
ben, bekam hundert Mark, und aus war’s mit der Lebensrente.
Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in den Mund.«
»Es ist furchtbar«, sagte Labude zu Fabian, »es ist schreck
lich, wie viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrau
chen.«
Die Dicke rief: »Ach, Mensch, was redest du da. Wenn ich
ein Mann wäre, und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd
Angestelltenverhältnisse.« Dann fuhr sie Fabian in die Haare,
48 FABIAN
Versetzte ihm einen Kuß, ergriff seine Hand und legte sie platt
auf ihren satten Magen. Labude und Paula tanzten miteinan
der. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
In der Nachbarnische sang eine Frau laut und mit betrun
kener Stimme:
Die Dicke sagte: »Die nebenan ist ’ne Marke. Sie gehört gar
nicht hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter
trägt sie was ganz Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus
dem Westen sein, sogar verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in
die Nische, bezahlt für sie und gibt an, daß die Wände rot wer
den.« Fabian erhob sich und blickte über die halbhohe Zwi
schenwand hinweg nebenan.
Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große gut
gewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, da
bei, einen Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte,
auszuziehen. »Kerl!« rief sie, »mach nicht einen so schlappen
Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!« Aber der brave Infanterist
stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte ägyptische Mini
stergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel Abra
hams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, pack
te ein Sektglas und taumelte zur Brüstung.
Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene
Moll, deren Schlüssel er im Mantel hatte.
Schwankend stand sie an der Balustrade, hob das spitze Glas
hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem
Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanz
paare hoben erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Ni
sche hinauf.
Frau Moll streckte die Hand aus und rief: »Männer nennt
sich das! Wenn man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Mei
ne sehr verehrten Damen, ich schlage vor, die Bande einzu
sperren. Meine sehr verehrten Damen, wir brauchen Männer
bordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!« Sie schlug sich
FÜNFTES KAPITEL
49
emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im
Saal wurde gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs.
Irene Moll fing an zu weinen. Das Schwarz der getuschten
Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen liniierten ihr Ge
sicht. »Laßt uns singen!« schrie sie schluchzend und schluk-
kend. »Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!« Sie brei
tete beide Arme aus und brüllte:
5° FABIAN
Sechstes Kapitel
Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: »Hast
du mit dieser Verrückten etwas gehabt?«
»Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich
aus. Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr
verehelicht zu sein, ich solle mich aber nicht stören lassen.
Dann deklamierte er einen ungewöhnlichen Kontrakt, den die
beiden geschlossen haben. Dann ging ich.«
»Warum nahmst du die Schlüssel mit?«
»Weil die Haustür verschlossen war.«
»Ein schauderhaftes Weib«, sagte Labude. »Sie hing besof
fen überm Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die
Handtasche.«
»Sie hat dir nicht gefallen?« fragte Fabian. »Sie ist doch sehr
eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandenge
sicht obendrauf wirkt so wunderbar unpassend.«
»Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim
Portier abgegeben.« Labude zog den Freund weiter. Sie bogen
langsam in eine Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal,
auf dem Herr Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen
Museum vorbei, der Steinerne Roland lehnte finster in einer
Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein Dampfer. Oben auf
der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Uber der Fried
richstadt brannte der Himmel.
»Lieber Stephan«, sagte Fabian leise, »es ist rührend, wie du
dich um mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als
unsere Zeit. Willst du mich glücklicher machen, als sie es ist?
Und wenn du mir einen Direktorenposten, eine Million Dollar
oder eine anständige Frau, die ich lieben könnte, verschaffst,
oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht gelingen.« Ein
kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck,
SECHSTES KAPITEL $1
trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schul
ter des Freundes. »Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit
damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Ta
lent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so her
umtreibe, hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich her
um, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wuß
ten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir
schrieben Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es
war gleichgültig, ob wir es taten oder unterließen. Wir sollten
ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus
der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt?
Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Über
mut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich?
Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährli
chen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahl
zeit.«
Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hin
unter. Fabian ging erregt hin und her, als liefe er in seinem Zim
mer auf und ab. »Erinnerst du dich?« fragte er. »Und ein hal
bes Jahr später waren wir marschbereit. Ich bekam acht Tage
Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind ein
mal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief me
lancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder.
Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen.
Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief
ich. Die nächste Zukunft hatte den Entschluß gefaßt, mich zu
Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin tun? Bücher
lesen? An meinem Charakter feilen? Geld verdienen? Ich saß
in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage
später fährt der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr und
was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt
sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa!
Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben
provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!«
»Zum Donnerwetter!« rief Labude, »wenn alle so denken
wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den pro
visorischen Charakter der Epoche nicht? Ist dieses Mißver-
5* FABIAN
gnügen dein Privileg? Aber ich sehe nicht zu, ich versuche, ver
nünftig zu handeln.«
»Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen«,
sagte Fabian, »und die Gerechten noch weniger.«
»So?« Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit
beiden Händen am Mantelkragen. »Aber sollten sie es nicht
trotzdem wagen?«
In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen
Aufschrei und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung.
Labude rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Muse
um zu. Wieder klang ein Schuß. »Viel Spaß!« sagte Fabian zu
sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz
schmerzte, Labude zu erreichen.
Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuch
telte mit dem Revolver und brüllte: »Warte nur, du Schwein!«
Und dann schoß er wieder über die Straße weg auf einen un
sichtbaren Gegner. Eine Laterne zerbrach. Glas klirrte aufs Pfla
ster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der Hand, und Fa
bian fragte: »Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?«
»Weil mich’s am Bein erwischt hat«, knurrte der Mann. Es
war ein junger stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. »So
ein Mistvieh!« brüllte er. »Aber ich weiß, wie du heißt.« Und
er drohte der Dunkelheit.
»Quer durch die Wade«, stellte Labude fest, kniete nieder,
zog ein Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Not
verband.
»Drüben in der Kneipe ging’s los«, lamentierte der Ver
wundete. »Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich
sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren.
Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpf
te auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er
schon.«
»Sind Sie nun wenigstens überzeugt?« fragte Fabian und
blickte auf den Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß,
weil Labude an der Schußwunde hantierte.
»Die Kugel ist nicht mehr darin«, bemerkte Labude. »Kommt
denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf.«
SECHSTES KAPITEL 53
»Nicht einmal ein Schutzmann ist da«, stellte Fabian be
dauernd fest.
»Der hätte mir gerade noch gefehlt!« Der Verletzte ver
suchte aufzustehen. »Damit sie wieder einen Proleten einsper
ren, weil er so unverschämt war, sich von einem Nazi die Kno
chen kaputtschießen zu lassen.«
Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden
und befahl dem Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte
davon, quer über die Straße, um die Ecke, den nächtlichen
Uferweg entlang.
In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem
Chauffeur den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren,
am Roland gäbe es eine Fuhre. Das Auto verschwand. Fabian
folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam. Das Herz schlug wie
verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es
pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die
Stirn. Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein
krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinde
rei, aber Fabian genügte das Andenken. In der Provinz zer
streut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer ver
stümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer
mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Kran
kenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen
entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren,
die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher
einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und
sprechen und schreien können.
Fabian bog um die Ecke. Drüben war das Museum. Das
Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich schreck
licher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in sei
nen Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen
Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der
Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und muß
ten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber es
war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern
und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären
54 FABIAN
vermißt. Das war nun fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten
wieder geheiratet. Und der Selige, der irgendwo in der Mark
Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hau
se nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen
im Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ
sich’s schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es
wieder soweit sein?
Plötzlich rief jemand »Hallo«! Fabian öffnete die Augen
und suchte den Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den
Ellenbogen gestützt und preßte seine Hand aufs Gesäß.
»Was ist denn mit Ihnen los?«
»Ich bin der andere«, sagte der Mann. »Mich hat’s auch er
wischt.« Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von
der anderen Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte
ein Echo mit.
»Entschuldigen Sie«, rief Fabian, »meine Heiterkeit ist nicht
gerade höflich.« Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Gri
masse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren, und sagte
verbissen: »Wie’s beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das
Lachen vergeht.«
»Warum stehst du denn da herum?« schrie Labude und kam
ärgerlich über die Straße.
»Ach Stephan«, sagte Fabian, »hier sitzt die andere Hälfte
des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten.«
Sie riefen den Chauffeur und transportierten den National
sozialisten ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefähr
ten. Die Freunde kletterten hinterdrein und gaben dem Chauf
feur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen.
Das Auto fuhr los.
»Tut’s sehr weh?« fragte Labude.
»Es geht«, antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig
und musterten sich finster.
»Volksverräter!« sagte der Nationalsozialist. Er war größer
als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein
Handlungsgehilfe aus.
»Arbeiterverräter!« sagte der Kommunist.
»Du Untermensch!« rief der eine.
SECHSTES KAPITEL 55
»Du Affe!« rief der andere.
Der Kommis griff in die Tasche.
Labude faßte sein Handgelenk. »Geben Sie den Revolver
her!« befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waf
fe heraus und steckte sie ein.
»Meine Herren«, sagte er. »Daß es mit Deutschland so nicht
weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und
daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhalt
bare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre
Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie ein
ander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen.
Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins Leichen
schauhaus führen, statt ihn die Klinik, wäre auch nichts Be
sonderes erreicht. Ihre Partei«, er meinte den Faschisten, »weiß
nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau.
Und Ihre Partei«, er wandte sich an den Arbeiter, »Ihre Par
tei ...«
»Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats«, er
klärte dieser, »und Sie sind ein Bourgeois.«
»Freilich«, antwortete Fabian, »ich bin ein Kleinbürger, das
ist heute ein großes Schimpfwort.«
Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite ge
neigt, auf der heilen Sitzhälfte und hatte Mühe, mit seinem
Kopf nicht an den des Gegners zu stoßen.
»Das Proletariat ist ein Interessenverband«, sagte Fabian.
»Es ist der größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt,
ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben den
selben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer
Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn
Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit
im Verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht
gut und klug, bloß weil man arm ist.«
»Unsere Führer ...« begann der Mann.
»Davon wollen wir lieber nicht reden«, unterbrach ihn La
bude.
Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Kranken
hauses. Der Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen
56 FABIAN
die Verletzten aus dem Wagen. Der wachhabende Arzt gab den
Freunden die Hand.
»Sie bringen mir zwei Politiker?« fragte er lächelnd. »Heu
te nacht sind insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer
mit einem schweren Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Ange
stellte. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um
Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander ken
nen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzboden
schlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort
um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat
man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken,
indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbst
hilfe.«
»Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist«, meinte Fa
bian.
»Ja, natürlich.« Der Arzt nickte. »Der Kontinent hat den
Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren
und um sich zu schlagen. Leben Sie wohl!« Das Portal schloß
sich.
Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen
weg. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb La
bude stehen und sagte: »Ich kann jetzt noch nicht nach Hause
gehen. Komm, wir fahren ins Kabarett der Anonymen.«
»Was ist das?«
»Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halb
verrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt
ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum
beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar
nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch ver
ständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen,
daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber.«
Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum
Krankenhaus zurück, über dem der Große Bär funkelte. »Wir
leben in einer großen Zeit«, sagte er, »und sie wird jeden Tag
größer.«
SECHSTES KAPITEL 57
Siebentes Kapitel
Verrückte auf dem Podium
Die Todesfahrt von Paul Müller
Ein Fabrikant in Badewannen
S8 FABIAN
Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Bei
ne weh tun mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug,
landete in einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner
als vorher und breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smo
king stand auf. »Gut, sehr gut! Sie können morgen zum Tep
pichklopfen kommen!«
Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste
wieder und wieder.
Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich
heftig sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
»Bravo, Caligula!« rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wand
te sich an den Herrn, der neben der Ruferin saß. »Ist das Ihre
Frau?« fragte er.
Der Herr nickte.
»Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!«
sagte Caligula. Man applaudierte. Der Mann in der ersten Tisch
reihe wurde rot. Seine Frau fühlte sich geschmeichelt.
»Ruhe, ihr Armleuchter!« rief Caligula und hob die Hände.
Es wurde ruhig. »War die Tanzdarbietung nicht geradezu ein
Erlebnis?«
»Jawohl«, brüllten alle.
»Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus,
der Paul Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sach
sen. Paul Müller spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu
sein. Er wird Ihnen eine Ballade vortragen. Machen Sie sich auf
das Äußerste gefaßt. Paul Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht
alles täuscht, verrückt. Ich habe keine Kosten gescheut, diese
wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn ich kann
es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind.«
»Das geht entschieden zu weit!« rief ein Besucher, dessen
Gesicht mit Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen
und zog sich empört das Jackett straff.
»Hinsetzen!« sagte Caligula und verzog den Mund. »Wis
sen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!«
Der Akademiker rang nach Luft.
»Im übrigen«, fuhr der Kabarettinhaber fort, »im übrigen
SIEBENTES KAPITEL 59
meine ich Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Cha
rakteristikum.«
Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmis
sen und der Empörung wurde von seinen Bekannten auf den
Stuhl gezogen und beschwichtigt. Caligula nahm eine Klingel
in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und rief: »Paul
Müller, erscheine!« Dann verschwand er.
Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, unge
wöhnlich blasser Mensch in abgerissener Kleidung.
»Tag, Müller!« brüllte man.
»Er ist zu schnell gewachsen«, meinte jemand.
Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst
im Gesicht, fuhr sich durch die Haare und preßte dann die
Hände vor die Augen. Er sammelte sich. Plötzlich zog er die
Hände vom Gesicht fort, streckte sie weit von sich, spreizte die
Finger, riß die Augen auf und sagte: »Die Todesfahrt von Paul
Müller.« Dann trat er noch einen Schritt vor.
»Fall nicht runter!« rief die Dame, der von Caligula eigent
lich befohlen war, die Schnauze zu halten.
Paul Müller machte aus Trotz-noch ein Schrittchen, blickte
verächtlich auf das Publikum da unten und begann wieder:
»Die Todesfahrt von Paul Müller.«
60 FABIAN
Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen
Stammgäste in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künst
ler Rechnung trugen. Andere Gäste folgten dem Beispiel, und
allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement zustande,
dem Müller nur dadurch zu begegnen wußte, daß er sich dau
ernd bückte.
Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen.
Auch mit aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zu
fliegenden Zucker aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer dro
hender. Seine Stimme klang immer schwärzer. Man entnahm
der Rezitation, daß in jener schrecklichen Nacht nicht nur die
Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier zu ge
langen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen un
terwegs war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein
vermutete, während sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei
Liebenden die gleiche Landstraße benutzten, da es sich ferner
um eine ausgesprochen regnerische, neblige Nacht handelte,
und da das Gedicht »Todesfahrt« hieß, war mit großer Wahr
scheinlichkeit zu befürchten, daß die beiden Autos Zusammen
stößen würden. Paul Müller beseitigte auch den letzten Zwei
fel darüber.
»Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem
Schädel!« brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war
nicht mehr aufzuhalten.
»Das macht nach Adam Riese zwei!« schrie jemand. Die Leute
johlten und klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und
waren auf den Ausgang der Tragödie nicht länger neugierig.
Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund
bewegte. Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der
SIEBENTES KAPITEL 61
Überlebenden unter. Da packte den dürren Balladendichter die
blasse Wut. Er sprang vom Podium und rüttelte eine Dame
derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus dem Mund
und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als
belle ein Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß
er in den Stuhl zurücktaumelte.
Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem
knirschenden Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an
der Krawatte und führte ihn ins Künstlerzimmer.
»Pfui, Teufel«, sagte Labude, »unten Sadisten und oben Ver
rückte.«
»Dieser Sport ist international«, meinte Fabian, »in Paris
gibt es dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: >Tue-le!<,
und dann schiebt sich eine riesengroße hölzerne Hand aus der
Kulisse und schaufelt den Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er
wird weggefegt.«
»Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar
in der römischen Geschichte.« Labude stand auf und ging. Er
hatte genug. Auch Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand
derb auf die Schulter. Er drehte sich um. Der Mann mit den
Schmissen stand vor ihm, strahlte über das ganze Gesicht und
rief vergnügt: »Alter Junge, wie geht’s dir denn?«
»Danke, gut.«
»Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzuse
hen!« Der Akademiker gab Fabian einen Freudenstoß vor den
Brustkasten, genau auf einen der Hemdknöpfe.
»Kommen Sie«, meinte Fabian, »prügeln wir uns draußen
weiter!« Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in
den Vorraum. »Mein Lieber«, sagte er zu Labude, der sich den
Mantel anzog, »wir wollen schnell machen. Eben hat mich ei
ner ununterbrochen geduzt.« Sie nahmen die Hüte. Aber es war
schon zu spät.
Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige
Frau vor sich her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu
ihr: »Siehst du, Meta, der Herr war auf dem Pennal unser Pri
mus.« Und zu Fabian sagte er: »Das ist meine Frau, alter Kna
62 FABIAN
be, Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben in Rem
scheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin
im Geschäft meines Schwiegervaters. Wir machen Badewan
nen. Wenn du mal eine brauchen solltest, kannst du sie zum
Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut. Danke, glückli
che Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer Garten
dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber
noch nicht lange.«
»Es ist erst so groß«, entschuldigte sich Meta und zeigte mit
den Händen, wie klein das Kind war.
»Es wird schon noch wachsen«, tröstete Labude. Die Frau
blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
»Also, alter Schwede«, fing der Akademiker wieder an,
»nun erzähle mal, was du die ganze Zeit über gemacht hast.«
»Nichts Besonderes«, bemerkte Fabian. »Augenblicklich
bastle ich an einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond
ansehen.«
»Ausgezeichnet«, rief der Mann, der in die Badewannen ein
geheiratet hatte. »Deutschland allen voran! Und wie geht’s dei
nem Bruder?«
»Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr«,
sagte Fabian. »Ein Brüderchen habe ich mir schon lange ge
wünscht. Nur eine bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie ei
gentlich aufs Gymnasium gegangen?«
»In Marburg natürlich.«
Fabian hob bedauernd die Schultern. »Es soll eine bezau
bernde Stadt sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht.«
»Dann entschuldigen Sie vielmals«, knarrte der andere. »Klei
ne Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut.«
Er knallte die Absätze zusammen, befahl: »Komm, Meta!« und
entfernte sich. Meta blickte Fabian verlegen an, nickte Labude
zu und folgte dem Gemahl.
»So ein dämlicher Affe!« Fabian war entrüstet. »Spricht wild
fremde Leute an und tut familiär. Ich habe diesen Caligula im
Verdacht, daß die Anpöbelei zu seiner Kabarettregie gehört.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Labude. »Die Badewannen
waren sicher echt, und das entsetzlich kleine Kind auch.«
SIEBENTES KAPITEL 63
Sie gingen heimwärts, Labude schaute trübselig aufs Pfla
ster. »Es ist eine Schande«, sagte er nach einer Weile. »Dieser
gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen Be
ruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und
unsereins vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land,
man hat noch keinen festen Beruf, man hat kein festes Ein
kommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal eine feste
Freundin.«
»Du hast doch Leda.«
»Und was mich besonders aufbringt«, fuhr Labude fort, »so
ein Kerl hat ein eigenes, selbstgemachtes Kind.«
»Sei nicht neidisch«, sagte Fabian, »dieser juristisch vorge
bildete Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von
den Leuten, die heute dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der
eine ist arbeitslos, der andere verliert morgen seine Stellung.
Der dritte hat noch nie eine gehabt. Unser Staat ist darauf, daß
Generationen nachwachsen, momentan nicht eingerichtet. Wem
es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau und Kind
an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotz
dem andere mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig.
Ich weiß nicht, von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid
halbes Leid sei, aber wenn der Quatschkopf noch leben sollte,
dann wünsche ich ihm zweihundert Mark monatlich und eine
achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch acht
dividieren, bis er schwarz wird.« Fabian sah den Freund von
der Seite an. »Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater
gibt dir doch Geld. Und wenn du die Venia legendi hast, wirst
du noch ein paar Groschen dazuverdienen. Dann heiratest du
Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts mehr im Wege.«
»Es gibt ja auch noch andere Schwierigkeiten, außer den
ökonomischen«, sagte Labude, blieb stehen und winkte einem
Taxi. »Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt allein sein will. Kannst
du mich morgen bei meinen Eltern abholen? Ich muß dir Ver
schiedenes erzählen.« Er drückte dem Freund etwas in die
Hand und stieg in den wartenden Wagen.
»Handelt es sich um Leda?« fragte Fabian durchs offene
Fenster.
64 FABIAN
Labude nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der
andere blickte dem Wagen nach. »Ich komme!« rief er. Doch
das Auto war schon weit weg, und das rote Schlußlicht konn
te ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und stellte
fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.
SIEBENTES KAPITEL 65
Achtes Kapitel
Studenten treiben Politik
Labude sen. liebt das Leben
Die Ohrfeige an der Außenalster
66 FABIAN
Fabian kam nicht gern in die Grunewaldvilla. Er empfand
den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als al
bern. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mit
ten in derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch,
jemals loswerden könne. Und er fand es, von allen anderen
Gründen abgesehen, schon deshalb vollkommen in der Ord
nung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum entfrem
det hatten.
»Schrecklich«, sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch
saß, »jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir
euer Diener Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßfüh
rung beginnt. Falls du mir erzählen solltest, daß der Große
Kurfürst auf diesem Stuhl hier in die Schlacht von Fehrbellin
geritten ist, könnte ich mich bereiterklären, es zu glauben. Im
übrigen danke ich dir für das Geld.«
Labude winkte ab. »Du weißt, daß ich mehr davon habe, als
notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir
erzählen will, was mir in Hamburg passiert ist.«
Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er
sich hinter Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn
während des Sprechens nicht anzusehen. Sie blickten beide zum
Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf rote Villendächer.
Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel, spazier
te auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehal
tenem Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zu
rück. Außerdem hörte man, wie jemand mit einem Rechen die
Kieswege harkte.
Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. »Ras-
sow schrieb mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maxi
mum, vor Studenten aller Richtungen, über das Thema »Tradi
tion und Sozialismus«. Und er schlug mir vor, als Korreferent
oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen Plä
nen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Ras-
sow berichtete den Studenten von seiner Rußlandreise und von
seinen Erfahrungen und Gesprächen mit russischen Künstlern
und Wissenschaftlern. Er wurde von den Vertretern der sozia
listischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen. Anschlie
ACHTES KAPITEL 67
ßend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den
Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzier
te die kapitalistische Situation Europas und stellte die Forde
rung auf, daß die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und
daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv
oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. Diese Jugend,
sagte ich, sei im Begriff, in absehbarer Zeit die Führerschaft in
Politik, Industrie, Grundbesitz und Handel zu übernehmen,
die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere Aufgabe,
den Kontinent zu reformieren: durch internationale Abkom
men, durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zu
rückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre
vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unter
richts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der
Klassen, sei möglich, da die Jugend, wenigstens ihre Elite, den
hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug
genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem
unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen.
Wenn es schon ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich,
dann solle man sich für das Regime unserer Altersklasse ent
scheiden. Bei den Vertretern der extremen Gruppen erntete
mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den An
trag zur Bildung der radikalbürgerlichen Initiativgruppe ein
brachte, fand das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir
entwarfen einen Aufruf, der an alle europäischen Universitä
ten verschickt werden wird. Rassow, ich und ein paar andere
wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialisti
schen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn
wir an allen Universitäten Gruppen gebildet haben, werden
von diesen auch andere intellektuelle Körperschaften bearbei
tet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern nichts da
von erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne.«
»Ich freue mich«, sagte Fabian, »ich freue mich sehr, daß du
nun an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst.
Hast du dich schon mit der Gruppe der Unabhängigen Demo
68 FABIAN
kraten in Verbindung gesetzt? In Kopenhagen ist ein >Club
Europa« gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere dich nicht
zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend.
Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Ver
nunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich lei
der um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für
die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt.
Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man
ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil
mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus
Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das gött
lichste System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was
meinte Leda dazu?«
»Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht da
bei.«
»Warum denn nicht?«
»Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war.«
Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wie
der hin.
Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken
der Schreibtischplatte fest. »Ich wollte Leda überraschen. Ich
wollte sie heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch ge
worden. Wenn man in jedem Monat nur zwei Tage und eine
Nacht beisammen ist, dann wird die Beziehung unterminiert,
und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang dauert, geht
die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der Part
ner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich
machte dir vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich
verändert habe. Sie fing an, sich zu verstellen. Sie markierte.
Die Begrüßung auf dem Bahnhof, die Zärtlichkeit des Ge
sprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch Theater.«
Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise.
»Natürlich entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche
Sorgen der andere hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er
findet. Man sieht nicht, daß er sich verwandelt, und weswegen
er’s tut. Briefe sind zwecklos. Und dann reist man hin, gibt sich
ACHTES KAPITEL 69
einen Kuß, geht ins Theater, fragt nach Neuigkeiten, verbringt
eine Nacht miteinander und trennt sich wieder. Vier Wochen
später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe, anschlie
ßend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in
der Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die
Liebe krepiert an der Geographie.«
Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz so
behutsam an, als fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. »Ich
habe in den letzten Monaten vor jeder dieser Zusammenkünf
te Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit geschlossenen
Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen
mögen. Sie log. Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder
sich selber auch? Da sie, obwohl ich sie brieflich wiederholt
dazu aufforderte, Erklärungen vermied, mußte ich tun, was ich
tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in der wir die Initia
tivgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen sehr
bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die
Fenster waren dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war
nicht nach Logik zumute. Ich wartete.«
Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch,
nahm mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den
Händen. Das hölzerne, klappernde Geräusch begleitete den
Fortgang des Berichts. »Die Straße ist breit und nur an einer
Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an Blumenbeete, Wiesen,
Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die Außenalster. Dem
Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich mich, rauch
te zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die Straße
entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich von
zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Ge
spräche und böse Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei
bog ein Taxi in die Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer
schlanker Mann stieg aus und bezahlte den Chauffeur. Dann
sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte zur Tür, schloß auf, trat
ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann gefolgt war, und schloß
von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die Stadt zurück.«
Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den
7° FABIAN
Schreibtisch, ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in
der äußersten Ecke, dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das
Tapetenmuster und zeichnete es mit dem Finger nach. »Es war
Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah, wie sich zwei
Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer
wurde wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die
Balkontür stand halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen.
Du entsinnst dich, sie lacht so merkwürdig hoch. Manchmal
war es ganz still, droben im Haus und unten auf meiner Straße,
und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug.«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat
Labude trat ein, ohne Hut und Mantel. »Tag, Stephan!« sagte
er, kam näher und gab seinem Sohn die Hand. »Lange nicht ge
sehen, was? War paar Tage unterwegs. Mußte mal ausspannen.
Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie geht’s?
Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben?
Mag noch ein paar Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso,
das Nest. Hat’s die Frau gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gesprä
che, wie? Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? Im Vertrauen
gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode erledigt werden.
Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht.«
»Fritz, nun komm aber endlich!« rief im Treppenhaus eine
Frauenstimme.
Der Justizrat zuckte die Achseln. »Da habt ihr’s. Kleine
Sängerin, großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche
Opern auswendig. Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiederse
hen. Amüsiert euch lieber, statt die Menschheit zu erlösen. Wie
gesagt, das Leben muß noch vor dem Tode erledigt werden. Zu
näheren Auskünften gern bereit. Nicht so ernst, mein Junge.«
Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins Schloß. La
bude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den Schreib
tisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzäh
lung fort: »Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach
sechs hörte es auf. Der Himmel wurde hell, und der Tag fing
an. In dem Schlafzimmer brannte noch immer Licht. Das sah
im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben verließ der Mensch
ACHTES KAPITEL 71
das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und blickte nach
oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Bal
kon und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock
für einen Moment noch einmal auseinander, damit er ihren
Körper noch einmal sehe. Er warf ein Kußhändchen, es war
zum Speien. Er ging pfeifend die Straße hinunter. Ich senkte
den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen.«
Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb sit
zen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust
auf den Schreibtisch. »Diese Kanaille!« schrie er. Fabian sprang
vom Sofa auf, aber der andere winkte ab und sagte ganz ruhig:
»Schon gut. Höre weiter. Mittags telefonierte ich. Sie war er
freut, daß ich wieder einmal bei ihr sei. Warum ich nicht ge
schrieben habe. Ob ich um fünf kommen wolle. Die wissen
schaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf.
Ich lief durchs Hafenviertel, bis es so weit war. Dann fuhr ich
hin. Sie hatte Tee und Kuchen zurechtgestellt und begrüßte
mich zärtlich. Ich trank eine Tasse Tee und sprach über gleich
gültige Dinge. Dann begann sie, sich automatisch zu entklei
den, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch. Da
fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung
lösten. Sie fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausge
macht, daß wir heirateten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob
ich sie nicht mehr liebe. Ich erklärte, daß es sich darum jetzt
nicht handle. Die zunehmende Entfremdung, an der sie die
Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam erscheinen.
Sie räkelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite
zu gleiten, und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt.
Und die Entfremdung scheine, wie die unzweideutige Situa
tion eindeutig beweise, eher an mir als an ihr zu liegen. Sie gab
zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen Hamburg und Ber
lin seelisch zu überbrücken. Und auch in sexueller Beziehung
gebe es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da,
und wenn ich da sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erle
digt werden, ob man Hunger hat oder nicht. Aber wenn wir
erst verheiratet wären, würde das anders. Ich solle übrigens
nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen ärztli
72 FABIAN
chen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als
meine Frau zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie
mir diesen kleinen Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen.
Sie sei aber wieder auf dem Posten, und ich solle mich nun end
lich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
>Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?< frag
te ich. Sie setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
»Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief?«
fragte ich weiter.
>Du siehst Gespenster«, sagte sie. >Du bist eifersüchtig, es ist
geradezu albern.«
Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter
mir her, die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie,
nackt im wehenden Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und
rief, ich solle bleiben. Aber ich rannte davon und fuhr zur
Bahn.«
Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schul
tern des Freundes. »Warum hast du mir das nicht schon gestern
erzählt?«
»Na, ich komme schon darüber weg«, sagte Labude. »Mich
so zu belügen.«
»Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?«
»Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei
ich schwer krank gewesen.«
»Du bist noch krank«, meinte Fabian. »Du hast sie noch
lieb.«
»Das ist wahr«, sagte Labude. »Aber ich bin schon mit ganz
anderen Kerlen fertig geworden als mit mir.«
»Wenn sie dir nun schreibt?«
»Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht,
unter einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das
Schlimmste habe ich dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht,
und sie hat mich noch nie lieb gehabt! Erst jetzt, nach dem
Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung auf. Erst als sie ne
ben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die ver
gangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Ak
ten!« Labude schob den Freund zur Tür. »Jetzt gehen wir.
ACHTES KAPITEL 73
Ruth Reiter hat uns eingeladen. Komm, ich habe Verschiede
nes nachzuholen.«
»Wer ist Ruth Reiter?«
»Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bild-
hauert, wenn man ihr glauben darf.«
»Modellstehen wollte ich schon immer mal«, sagte Fabian
und zog den Mantel an.
74 FABIAN
Neuntes Kapitel
Sonderbare junge Mädchen
Ein Todeskandidat wird lebendig
Das Lokal heißt »Cousine«
»Endlich ein paar Männer!« rief die Reiter. »Macht’s euch be
quem. Die Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter.
Sie hat zwei Tage keinen Mann gehabt, und der letzte war auch
bloß ein Verkehrsunfall. Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl
hätte ihr, ohne die kleine Gegenleistung, keinen Auftrag gege
ben. Ein beinahe impotenter Lebegreis war’s, sagte sie.«
»Das sind die Schlimmsten«, meinte Labude. »Sie probieren
ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Schaden inzwi
schen behoben hat.« Er blickte sich nach dem Mädchen um,
das Kulp hieß. Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf ei
ner Chaiselongue und winkte ihm.
Labude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete un
schlüssig. Das Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, un
ter der Lampe, vor einer Reihe von Skulpturen, stand ein holz
gezimmerter Tisch, und auf dem Tisch saß eine nackte, dun
kelhaarige Frau. Die Reiter kauerte sich auf einen Schemel,
nahm den Skizzenblock und zeichnete. »Abendakt«, erläuterte
sie, ohne sich umzusehen. »Heißt Selow. Neue Position, mein
Schatz! Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen.
So, Hände im Nacken verschränken. Halt!« Die nackte Frau,
die Selow hieß, hatte sich aufgerichtet und stand nun breit
beinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich gebaut und blickte
gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin. »Baron,
was zu trinken, mich friert«, sagte sie plötzlich.
»Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut«, pflich
tete Fabian bei. Er war näher getreten und stand vor dem Mo
dell wie ein Kunstkenner vor einer weiblichen Bronze.
»Berühren verboten!« Die Stimme der Bildhauerin klang
äußerst unfreundlich.
Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem
Badewasser dehnte, rief Fabian zu: »Hand von der Butter. Der
NEUNTES KAPITEL 75
Baron ist eifersüchtig. Sie hat mit dem Abendakt ein gutge
hendes Verhältnis.«
»Halt den Rand!« knurrte die Reiter. »Labude, wenn Sie mit
der Kulp etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren
Sie sich nicht. Ich habe nur diesen Raum, aber der ist an Kum
mer gewöhnt.«
Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
»Was es so alles gibt«, meinte die Kulp traurig.
Die Reiter blickte vorübergehend von ihrem Block hoch
und sah Fabian an.
»Falls Sie sich an der Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich
ran! Ihr braucht weiter nichts dazu als einen Groschen. Labu
de wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den Gro
schen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Und wer oben
liegt, hat den Vortritt.
»Welche tiefe Wahrheit!« rief die Kulp. »Aber einen Gro
schen? Du verdirbst mir die Preise!«
Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen.
Die nackte Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Was zu trin
ken!«
»Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen,
und auf dem Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber.«
»Gern«, sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es.
Dann trat ein fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe
und reichte dem Abendakt ein gefülltes Glas.
Fabian war überrascht. »Wie viele weibliche Wesen sind ei
gentlich hier?« fragte er.
»Ich bin das einzige«, erklärte Fräulein Battenberg und lach
te. Fabian sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das
Milieu. Sie spazierte wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr.
Sie setzte sich in den Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Dia
na aus Gips, legte den Arm um die Hüfte der trainierten Göt
tin und schaute durch das Atelierfenster auf die Bogen und Ve
duten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron komman
dieren. »Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts,
Knie einknicken, Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!«
Und aus der vorderen Hälfte des Ateliers klangen kleine, zu
76 FABIAN
gespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt vorübergehend an Atem
not.
»Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?« fragte Fa
bian.
»Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen
in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der
Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie
mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier
oben. Die Information hat genügt.«
»Das freut mich«, sagte er. »Ich bin kein ausgesprochener
Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich se
hen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.«
Sie sah ihn ernst an. »Ich bin kein Engel, mein Herr. Unse
re Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn
wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir tren
nen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. >Da
bin ich<, sagen wir freundlich lächelnd. >Ja<, sagt er, >da bist du<,
und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun hab
ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was
wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst
flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie
zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Män
nern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm,
den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offen
heit?«
»Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sor
gen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht
für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkei
ten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Ent
weder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und
wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es,
aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die
Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück
gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwor
tungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab.«
Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein
NEUNTES KAPITEL 77
Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer.
Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und
ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte
schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und ver
ließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und
starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz
langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes
Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das
neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben
im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.
»Schon wieder ein verhinderter Engel«, meinte er.
»Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte«, sag
te sie leise, »ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um
einen Brief in den Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hin
unter und kam nicht wieder.« Sie schüttelte den Kopf, als ver
stehe sie das Erlebnis noch immer nicht. »Ich wartete drei Mo
nate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre. Komisch,
nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit
vielen herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: >Du bist eine
Dirne!<, und als ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten
Mann mit achtzehn Jahren und das erste Kind mit neunzehn
Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: >Das war etwas ganz an
deres!« Freilich, das war etwas ganz anderes.«
»Warum sind Sie nach Berlin gekommen?«
»Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk
bewahrt. Heute wird man bezahlt und eines Tages, wie jede be
zahlte und benutzte Ware, weggetan. Bezahlung ist billiger,
denkt der Mann.«
»Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware.
Heute ist das Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Die
se Billigkeit macht den Käufer mißtrauisch. Sicher ein faules
Geschäft, denkt er. Und meist hat er recht. Denn später prä
sentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er den mo
ralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Va
luta. Als Lebensrente zu zahlen.«
»Genau so ist es«, sagte sie. »Genau so denken die Männer.
Aber warum nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall?
78 FABIAN
Hier sind doch die Frauen so ähnlich, wie ihr sie haben wollt!
Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch zu eurem Glück noch
fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es wollt.
Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sol
len selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharak
ter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem be
rechtigt und zu nichts verpflichtet, wir zu allem verpflichtet
und zu nichts berechtigt, so sieht euer Paradies aus. Doch das
geht zu weit. Oh, das geht zu weit!« Fräulein Battenberg putz
te sich die Nase. Dann fuhr sie fort: »Wenn wir euch nicht be
halten dürfen, wollen wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns
kaufen wollt, dann sollt ihr teuer dafür bezahlen.« Sie schwieg.
Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht. »Sie sind deswegen nach
Berlin gekommen?« fragte Fabian. Sie weinte geräuschlos.
Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. »Sie verstehen
auch nichts von Geschäften«, sagte er und blickte zwischen
zwei Gipsfiguren in den anderen Teil des Ateliers. Der Abend
akt saß auf dem Tisch und trank Gin. Die Bildhauerin beugte
sich über die nackte Frau und küßte sie auf den wenig gewölb
ten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank inzwischen das
Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den Rücken.
Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen
die Kulp und Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und
ging mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümp
fe an. Ein riesiger Mann kam durch die Tür. Er atmete keu
chend, hatte ein Holzbein und ging an einem Stock.
»Ist die Kulp da?« fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein
paar Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und
sagte: »Ihr andern solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow
kannst du mir eventuell noch dalassen.« Er sank auf einen
Stuhl und lachte schwerfällig. »Nein, nein, Baron, es war nur
Spaß.«
Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid
glatt und gab dem Mann die Hand. »Tag, Wilhelmy, noch im
mer nicht tot?«
NEUNTES KAPITEL 79
Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und
schüttelte den Kopf.
»Lange kann’s aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld
früher zu Ende als ich.« Er gab auch ihr ein paar Geldscheine.
»Selow!« rief er, »sauf den Gin nicht aus! Und zieh dich
schneller an.«
»Geht in die »Cousine«. Ich komme nach«, sagte die Kulp.
Dann rüttelte sie Labude munter. »Mein Lieber, du wirst raus
geschmissen. Hier ist einer, dem die Ärzte erzählt haben, daß
er noch in diesem Monat stirbt. Er lauert auf den Tod wie un
sereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß ein Viertelstündchen
warten. Später treff ich euch wieder.«
Labude stand auf. Die Reiter holte ihren Mantel, Fabian
kam mit Fräulein Battenberg hinter den Plastiken vor. Die Se
low war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der Todeskandidat
und die Kulp blieben zurück.
»Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie am letzten
Mal«, sagte die Bildhauerin auf der Treppe. »Es bringt ihn auf,
daß andere länger leben dürfen als er.«
»Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile«, meinte die Se
low. »Und außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht le
ben und nicht sterben.«
»Feine Berufe haben wir!« Die Reiter lachte wütend.
Die »Cousine« war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frau
en verkehrten. Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm
auf kleinen grünen Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen.
Sie tranken Schnaps, und manche trugen Smokingjacken und
hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht ähnlich zu
sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze Zi
garren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu
Tisch, begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff
wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schä
men. Er tanzte mit dem Abendakt, setzte sich dann mit der
Frau an die Theke und drehte dem Freund den Rücken. Ruth
Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte
ganz selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken.
80 FABIAN
Später schob sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich
dort mit einer älteren Dame, die schrecklich geschminkt war
und, wenn sie lachte, derartig gackerte, daß man dachte: Gleich
legt sie ein Ei.
»Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen«, sagte Fa
bian zu Fräulein Battenberg. »Halten Sie wirklich alle Frauen,
die hier versammelt sind, für gebürtige Abnormitäten? Die
Blondine da drüben war jahrelang die Freundin eines Schau
spielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann ging sie ins
Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und
verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das
Kind wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue
Stellung. Aber sie hat, vielleicht für immer, mindestens vor
übergehend, von den Männern genug, und mancher, die außer
ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine findet keinen Mann,
die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor den Fol
gen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse
sind. Die Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt,
gehört auch zu dieser Sorte. Sie ist nur lesbisch, weil sie mit
dem anderen Geschlecht schmollt.«
»Wollen Sie mich nach Hause bringen?« fragte Fräulein Bat
tenberg.
»Es gefällt Ihnen hier nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem
Tisch, an dem die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffne
te den Mund. Sie schrie nicht, sie sprach nichts. Sie brach zu
sammen. Die Frauen drängten sich neugierig um die Ohn
mächtige. Die Cousine brachte Whisky. »Der Wilhelmy hat sie
wieder geschlagen«, sagte die Reiter.
»Ein Hoch auf die Männer!« schrie ein Mädchen und lach
te hysterisch.
»Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!« rief die Cousi
ne. Man rannte durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso
witzig wie betrunken war, intonierte den Trauermarsch von
Chopin.
»Das soll der Doktor sein?« fragte Fräulein Battenberg.
NEUNTES KAPITEL 81
Durch die Seitentür trat eine große, magere Dame im Abend
kleid, das Gesicht glich einem weißgepuderten Totenkopf.
»Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann«, sagte Fa
bian. »Er war sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmis
se unterm Puder? Jetzt ist er Morphinist und hat polizeiliche
Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt davon, daß er
Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn er
wischen, dann vergiftet er sich.«
Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der Doktor im Abend
kleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die Bild
hauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin
eng an sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig
betrunken, hörte kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß
sie sich los, überquerte schwankend das Parkett, schlug den
Klavierdeckel zu, daß das Instrument jammerte, und brüllte:
»Nein!«
Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der
Tanzfläche und hatte die Hände ineinandergekrampft.
»Nein!« brüllte die Selow noch einmal. »Ich habe genug da
von! Bis dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will
ich haben! Steig mir doch den Buckel runter, du geile Ziege!«
Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab ihm einen Kuß, hieb
sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann, kaum
daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. »Es lebe der
kleine Unterschied!« schrie sie. Dann waren die beiden ver
schwunden.
»Es ist wirklich besser, wenn wir gehen.« Fabian erhob sich,
legte Geld auf den Tisch und half der Battenberg beim Anzie
hen. Als sie gingen, stand Ruth Reiter, auch der Baron genannt,
noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand wagte es, sich ihr
zu nähern.
82 FABIAN
Zehntes Kapitel
»Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?« fragte sie auf der
Straße.
»Sie kennen ihn doch gar nicht!« Er ärgerte sich über ihre
Frage und ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schwei
gend nebeneinander. Nach einer Weile sagte er: »Labude hat
Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren und hat zugese
hen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert
gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die
fünfte Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt
sich über Nacht heraus, es war alles falsch. Er will das rasch
vergessen und versucht es zunächst auf horizontale Art.«
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz
der nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und
Blusen und Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern
wie auf einer kleinen, von der Sonne beschienenen Insel.
»Können Sie mir sagen, wie spät es ist?« fragte jemand ne
ben ihnen. Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ih
res Begleiters. »Zehn nach Zwölf«, sagte Fabian.
»Danke schön. Da muß ich mich beeilen.« Der junge Mann,
der sie angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständ
lich an einem Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf
und fragte verlegen lächelnd: »Haben Sie zufällig fünfzig Pfen
nige, die Sie entbehren könnten?«
»Zufällig, ja«, antwortete Fabian und gab ihm ein Zwei
markstück.
»Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da
brauche ich nicht bei der Heilsarmee zu übernachten.« Der
Fremde zuckte entschuldigend die Achseln, lüftete den Hut
und lief hastig davon.
»Ein gebildeter Mensch«, meinte Fräulein Battenberg.
»Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte.«
ZEHNTES KAPITEL 83
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mäd
chen wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend bes
ser kannte als sie. »Das Schlimmste an der ganzen Geschichte
ist das«, sagte er, »Labude hat, allerdings fünf Jahre zu spät, be
merkt, daß ihn Leda, eben jene Frau aus Hamburg, niemals lieb
hatte. Sie hatte ihn nicht betrogen, weil er zu selten bei ihr war.
Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr nur indivi
duell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umge
kehrten Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den richtigen
Typus verkörpert, aber man kann seine Individualität nicht lei
den.«
»Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt
das nicht vor?«
»Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen«, erwiderte Fa
bian. »Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz,
nach Sodom und Gomorrha?«
»Ich bin Referendar«, erklärte sie. »Meine Dissertation be
traf eine Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große
Berliner Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung
volontieren lassen. Hundertfünfzig Mark im Monat.«
»Werden Sie doch Filmschauspielerin!«
»Wenn es sein muß, auch das«, sagte sie entschlossen. Und
beide lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten
durchquerte ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufte
ten Blumenbeete. In einer Haustür streichelte sich ein Liebes
paar.
»Sogar der Mond scheint in dieser Stadt«, bemerkte die
Kennerin des internationalen Filmrechts.
Fabian drückte ihren Arm ein wenig. »Ist es nicht fast wie
zu Hause?« fragte er. »Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im
Torbogen sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein
Cafe, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen,
nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homose
xuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Eng
ländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekannt
geben, und zum Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte
84 FABIAN
Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein
Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restau
rant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen
oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen
gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gym
nasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor
einem halben Jahr gab es einen Skandal, der nur schlecht ver
tuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem Zimmer, das er zu
Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte, ein
sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider
seine Tochter, und das hatte er nicht erwartet ... Soweit diese
riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hin
sichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im
Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im
Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Him
melsrichtungen wohnt der Untergang.«
»Und was kommt nach dem Untergang?«
Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter
hing, und gab zur Antwort: »Ich fürchte, die Dummheit.«
»In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon ein
getroffen«, sagte das Mädchen. »Aber was soll man tun?«
»Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melan
choliker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige
ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der
andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu ren
nen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte
auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Ver
fügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf
Wunder. Liebes Fräulein, ich kenne Sie noch nicht. Trotzdem,
oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich Ihnen für den Um
gang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht
richtig zu sein braucht. Aber sie führt in der Praxis zu ver
wendbaren Ergebnissen.«
»Und wie lautet Ihre Hypothese?«
»Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder
und der Greise, bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich be
ZEHNTES KAPITEL 85
wiesen ist, für verrückt. Richten Sie sich danach, Sie werden
bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann.«
»Soll ich bei Ihnen damit beginnen?« fragte sie.
»Ich bitte darum«, meinte er.
Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein
Auto bremste dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gin
gen in die Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten
schrien Katzen. An den Rändern der Fußsteige standen Allee
bäume, bedeckten den Weg mit Dunkelheit und verbargen den
Himmel.
»Ich bin angelangt«, sagte sie und machte vor dem Hause
Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian wohnte!
Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wieder
sehen dürfe.
»Wollen Sie es wirklich?«
»Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen.«
Sie nickte und legte einen Augenblick lang den Kopf an sei
ne Schulter. »Ich will es auch.« Er drückte ihre Hand. »Diese
Stadt ist so groß«, flüsterte sie und schwieg unschlüssig. »Wer
den Sie mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine hal
be Stunde zu mir hinaufzukommen? Das Zimmer ist mir noch
so fremd. Kein Wort klingt nach und keine Erinnerung, denn
ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts ist
da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern
schwanken des Nachts schwarze Bäume.«
Fabian sagte lauter, als er wollte: »Ich komme gern mit.
Schließen Sie nur auf.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch
einmal zu ihm. »Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverste
hen.« Er drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbe
leuchtung ein. Dann ärgerte er sich, daß er sich dadurch verra
ten haben könnte. Aber sie wurde nicht stutzig, schloß hinter
ihm ab und ging voraus. Er folgte und amüsierte sich über die
Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat. In welcher
Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür sei
ner Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öff
nete.
86 !■ AB I AN
Im Flur brannte Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemd
höschen spielten mit einem grünen Luftballon Fußball. Sie er
schraken und begannen vor Schreck zu kichern. Fräulein Bat
tenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und Herr Trö
ger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
»Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß«, brumm
te Fabian. Herr Tröger grinste, trieb die Mädchen in seinen
Serail und riegelte ab. Fabian legte die Hand versehentlich auf
die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
»Um Gottes willen«, flüsterte Fräulein Battenberg. »Da
wohnt jemand anderes.«
»Pardon«, sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor
in den letzten Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie
hängte ihren Mantel in den Schrank. »Eine fürchterliche Bude«,
sagte sie lächelnd. »Und achtzig Mark im Monat.«
»Ich zahle genausoviel«, tröstete er.
Nebenan wurde gelärmt. Die Sprungfedern knirschten un
willig. »Die Nachbarschaft habe ich gratis«, meinte sie.
»Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Ein
tritt.«
»Ach, ich bin froh«, sie rieb sich die Hände wie vor einem
Kamin. »Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häß
licher. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die
schaurigen Bäume anschaun?«
Sie traten ans Fenster. »Heute sind sogar die Bäume freund
licher«, stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: »Das
macht, weil ich sonst allein bin.« Er zog sie behutsam an sich
und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder. »Nun wirst du
denken, daß ich dich deshalb bat, mitzukommen.«
»Freilich denke ich das«, gab er zur Antwort. »Aber du
wußtest es selber noch nicht.«
Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte er.
»Cornelia.«
Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich beküm
mert, während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und
dabei die Augen schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spü
ZEHNTES KAPITEL 8/
ren: »Weißt du noch, daß wir heute abend einmal in einem Ate
lier saßen, hinter Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest,
wie du die Männer für ihren Egoismus bestrafen willst?«
Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann hol
te sie tief Atem und antwortete: »An dem Vorsatz hat sich
nichts geändert, wirklich nicht. Aber mit dir mach ich eine
Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich liebhabe.«
Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab.
»Vorhin, als wir uns umarmten, habe ich geweint«, flüsterte sie.
Und als sie sich dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen
in die Augen, aber sie lächelte unter diesen Tränen, und er war
seit langem wieder einmal beinahe glücklich. »Ich habe ge
weint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich dich liebhabe, das
ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du sollst
kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst,
will ich mich freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig
sein. Das versprech ich dir.« Sie drängte sich an ihn und preß
te ihren Körper an den seinen, daß beiden der Atem verging.
»So«, rief sie, »und jetzt hab ich Hunger!« Er zog ein so ver
dutztes Gesicht, daß sie lachte.
Sie erklärte ihm die Sache. »Das ist so: wenn ich wen lieb
habe, ich meine, wenn mich jemand liebgehabt hat, aber du
verstehst mich schon, ja?, dann hab ich hinterher immer fürch
terlichen Hunger. Der Hunger hat nur einen Haken. Ich habe
nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich in dieser
fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme.« Sie lag
auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engels
köpfe aus Stuck inbegriffen.
Fabian stand auf und meinte: »Da müssen wir eben einbre
chen.« Dann hob er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog
die widerstrebende Cornelia in den Korridor. Sie sträubte sich,
aber er faßte sie unter, und sie spazierten, Adam und Eva zum
Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor Fabians Tür.
»Das ist ja entsetzlich«, jammerte sie und wollte entfliehen.
Aber er drückte die Klinke nieder und transportierte das Mäd
chen in sein Zimmer. Sie klapperte kläglich mit den Zähnen. Er
machte Licht, verbeugte sich und äußerte feierlich: »Herr Dok
88 I'ABIAN
tor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor Battenberg in seinen
Gemächern willkommen zu heißen.« Dann warf er sich auf
sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
»Nein!« sagte sie hinter ihm, »das ist nicht möglich.« Aber
dann glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
Er stand auf und sah ihr zu. »Du darfst dir nicht so laut hin
tendrauf klatschen«, erklärte er würdevoll.
»Das ist beim Schuhplattler nicht anders«, meinte sie und
tanzte weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie ge
messen zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob
sie ihr Kleid glattstriche, obwohl sie, augenfällig genug, nichts
Derartiges anhatte, und sagte: »Bitte, die Speisekarte.«
Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und
Keks herbei und markierte, während sie aß, den aufmerksamen
Oberkellner. Später stöberte sie auf seinem Bücherbrett her
um, klemmte sich Lektüre unter den Arm, bot ihm den linken
und befahl majestätisch: »Bringen Sie mich unverzüglich in
mein Appartement zurück.«
Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß
sie ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich
dafür, daß sie ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde.
Abends wollten sie sich dann wieder in der Wohnung treffen.
Wer zuerst da wäre, würde neben seine Türklinke ein Bleistift
kreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld nach
Möglichkeit nichts merken zu lassen.
Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben
ihn und sagte: »Komm!« Er streichelte ihren Körper. Sie nahm
seinen Kopf in ihre Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und
flüsterte: »Komm! Was rief die Selow? Es lebe der kleine Un
terschied!«
ZEHNTES KAPITEL 89
Elftes Kapitel
Die Überraschung in der Fabrik
Der Kreuzberg und ein Sonderling
Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit
90 FABIAN
an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit diesem In
halt:
»Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen
unter dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das
am Monatsende zahlbare Gehalt wird Ihnen schon heute an
der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns erlaubt, aus freien
Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagan
distische Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kün
digung ist eine bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat be
schlossenen Senkung des Reklamebudgets. Wir danken Ihnen
für die dem Unternehmen geleistete Arbeit und wünschen Ih
nen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste.« Unterschrift.
Aus.
Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er
auf, zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu
Fischer: »Auf Wiedersehen. Lassen Sie sich’s gut gehen.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Man hat mir eben gekündigt.«
Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. »Was Sie nicht
sagen! Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!«
»Ihr Gehalt ist kleiner«, meinte Fabian. »Sie dürfen blei
ben.«
Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte
ihm mit feuchter Hand sein Bedauern aus. »Na, zum Glück
läßt Sie die Sache kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens
haben Sie keine Frau auf dem Hals.«
Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als
er sah, daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich
einen Guten Morgen.
»Guten Morgen, Herr Direktor«, grüßte Fischer und ver
beugte sich zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht,
wandte sich dem Kollegen zu und sagte: »Auf dem Schreib
tisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich vermach es Ih
nen.« Damit verließ Fabian seine Wirkungsstätte und holte
sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos rat
EI.FTES KAPITEL 91
terten vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte
ins gegenüberliegende Gebäude. Das Nebenhaus war von ei
nem Gerüst vergittert. Maurer standen auf den Laufbrettern
und verputzten den grauen, bröckligen Bewurf. Eine Reihe
bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der
Depeschenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr
weiter. Fabian stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das
Geld noch darin sei, und dachte: »Was wird mit mir?< Dann
ging er, da er nicht arbeiten durfte, spazieren.
Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag,
Hunger hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und
setzte sich von neuem in Bewegung, obwohl er sich lieber trau
rig in den tiefen Wald verkrochen hätte. Aber wo war hier ein
tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den Kummer an
den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte er
das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student ge
lebt hatte. Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange
nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn
grüßen wird oder nicht. Fabian ging die Treppen hinauf und
sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier woh
ne. Aber es war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um.
Die alte Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen.
Er entsann sich des regelmäßigen dummen Greisinnengesichts.
Im Inflationswinter hatte er kein Geld zum Heizen gehabt. Er
hatte, im Mantel vergraben, dort oben gehockt und an einem
Vortrag über Schillers moralästhetisches System gearbeitet.
Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mit
tagessen eingeladen und über die familiären Vorgänge in ih
rem umfangreichen Bekanntenkreis aufgeklärt worden. Vor
her, damals und heute, er war stets ein armes Luder gewesen,
und er hatte große Aussichten, eines zu bleiben. Seine Armut
war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen das
Krummsitzen oder das Nägelkauen.
Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht:
Vielleicht sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in die
ser Stadt, wo Ehrgeiz so rasch Früchte trug; vielleicht sollte
man sich doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackli
92 l-'ABI AN
gen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige
Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das
Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben.
Cornelia, der weibliche Referendar, hatte daneben gelegen und
ihm noch im Schlaf die Hand gedrückt. Mitten in der Nacht,
hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie zusammengefahren
und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und ener
gisch erklärt: »Ich werde die Annoncen leuchten lassen!« Dann
sei er wieder zurückgesunken.
Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setz
te sich auf eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen
war. Auf einem Schild stand: »Bürger, schont eure Anlagen!«
Der Magistrat hatte den außerordentlich zweideutigen Satz
unterschrieben, der Magistrat mußte es wissen. Fabian betrach
tete den riesigen Stamm eines Baumes. Die Rinde war von tau
send senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume hatten
Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der
eine, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte
gerade empört: »Soll man sich das gefallen lassen?« Der ande
re ließ sich mit der Antwort Zeit. »Gegen die Bande kannst du
gar nichts machen«, meinte er schließlich. Was sie weiter spra
chen, war nicht mehr zu hören.
Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merk
würdige Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart
und mit einem schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels
trug er eine grünliche, verschossene Pelerine, und der Kopf
gipfelte in einem steifen grauen Hut, der vor Jahren schwarz
gewesen sein mochte. Der Pelerinenträger steuerte auf die Bank
zu, ließ sich, eine Begrüßungsformel murmelnd, neben Fabian
nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm
Kreise in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahn
rad, brachte dessen Mittelpunkt mit dem Zentrum eines ande
ren Kreises durch eine Gerade in Verbindung, komplizierte die
Skizze durch Kurven und Linien immer mehr, schrieb For
meln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete
von neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: »Verste
hen Sie was von Maschinen?«
ELFTES KAPITEL 93
»Bedaure«, sagte Fabian. »Wer mich sein Grammophon auf
ziehen läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktioniert. Me
chanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befasse, brennen
nicht. Bis zum heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom,
wie mir der Name zu bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit.
Und wie es möglich ist, auf der einen Seite geschlachtete Och
sen in elektrisch betriebene Metallgehäuse zu sperren und auf
der Rückseite Corned beef herauszudestillieren, werde ich nie
mals begreifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an mei
ne Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen
Pelerinen und mit grünen Mützen nach der Martin Luther-
Kirche zum Gottesdienst. Während der Predigt schliefen wir
alle bis auf den, der die anderen wecken mußte, wenn der Or
ganist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die
Empore kam.« Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn
und spürte, wie dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alar
mierte. Er sah den blassen, dicken Direktor vor sich, wie der
jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor er sich setzte und
das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sün
dige Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends
durchs Tor der Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Stra
ßen, an den Kasernen vorbei, über den Exerzierplatz rennen,
die Treppe eines Mietshauses hinaufjagen und auf eine Klingel
drücken. Er hörte die zitternde Stimme seiner Mutter hinter
der Tür: »Wer ist denn draußen?« Und er hörte sich, außer
Atem, rufen: »Ich bin’s, Mama! Ich wollte bloß nachsehen,
ob’s dir heute besser geht.«
Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten
Schirmes so lange über den Sand, bis die Rechnung wegge
wischt war. »Vielleicht verstehen Sie mich, da Sie von Maschi
nen nichts verstehen«, sagte er. »Ich bin ein sogenannter Er
finder, Ehrenmitglied von fünf wissenschaftlichen Akade
mien. Die Technik verdankt mir erhebliche Fortschritte. Ich
habe der Textilindustrie dazu verhülfen, pro Tag fünfmal soviel
Tuch herzustellen wie früher. An meinen Maschinen haben vie
le Leute Geld verdient, sogar ich.« Der alte Herr hustete und
94 FABIAN
zupfte sich nervös am Spitzbart. »Ich erfand friedliche Ma
schinen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das kon
stante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Be
triebe nahm zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Ar
beiter nahm ab. Meine Maschinen waren Kanonen, sie setzten
ganze Armeen von Arbeitern außer Gefecht. Sie zertrümmer
ten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als ich in
Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte los
ritt. Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mäd
chen wurde von einem Pferd niedergetrampelt. Und ich war
daran schuld.« Der alte Herr schob den steifen Hut aus der
Stirn und hustete. »Als ich zurückkam, stellte mich meine Fa
milie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld weg
zuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Ma
schinen nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort.
Sie haben zu leben, sie wohnen in meinem Haus am Starnber
ger See, ich bin seit einem halben Jahr verschollen. Vorige Wo
che las ich in der Zeitung, daß meine Tochter ein Kind geboren
hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie ein
Strolch durch Berlin.«
»Alter schützt vor Klugheit nicht«, sagte Fabian. »Leider
sind nicht alle Erfinder so sentimental.«
»Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur
Verfügung zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber.
Und wenn man meinen Namen erfährt, hält man mich erst
recht zurück. In meiner Brusttasche sind Skizzen und Berech
nungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen Textilma
schinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in mei
ner geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern.« Der
alte Herr schlug sich stolz an die Brust und hustete wieder.
»Heute abend übernachte ich Yorckstraße 93. Kurz bevor das
Tor geschlossen wird, betrete ich das Haus. Wenn der Portier
fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche Grünbergs. Die
Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist Oberpost
schaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Fa
milie Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort set
ze ich mich auf die Treppe. Vielleicht ist die Bodentür offen.
ELFTES KAPITEL 95
Manchmal liegt gar eine alte Matratze in irgendeiner Ecke.
Morgen früh verschwinde ich dann wieder.«
»Woher kennen Sie Grünbergs?«
»Aus dem Adreßbuch«, antwortete der Erfinder. »Ich muß
doch einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Por
tier nach meinen Absichten erkundigt. Am nächsten Morgen
kommt der Schwindel häufig raus. Aber die jahrtausendalte Auf
forderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen und die Alten
zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab. Au
ßerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte
ich an einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein
Aufklärungskursus gegen die Wunder der Technik daraus. Das
gefiel weder den Schülern noch dem Direktor. Ich zog es vor,
mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen. Jetzt brau
che ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich
stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu,
die fortreisen, ankommen und Zurückbleiben. Das ist alles sehr
unterhaltend. Ich sitze da und bin froh, daß ich lebe.«
Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann.
»Heben Sie sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Por
tier vorzeitig von der Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie kön
nen auf meinem Sofa schlafen.«
Der alte Herr las den Zettel und fragte: »Was wird Ihre Wir
tin dazu sagen?«
Fabian zuckte die Achseln.
»Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängsti
gen«, meinte der Alte. »Wenn ich nachts in den dunklen Trep
penhäusern sitze, huste ich überhaupt nicht. Ich nehme mich
dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu erschrecken.
Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen,
ich war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer
Teufel, es spielt keine Rolle. Wie’s kommt, wird’s gefressen. Ob
mich die Sonne auf meiner Terrasse in Leoni bescheint oder
hier auf dem Kreuzberg, das ist mir so egal wie der Sonne.« Der
alte Herr hustete und streckte die Beine weit von sich. Fabian
stand auf und sagte, er müsse weiter.
»Was sind Sie eigentlich von Beruf?« fragte der Erfinder.
96 1ABIAN
»Arbeitslos«, erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu,
die in die Straßen Berlins zurückführte.
Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die
Wohnung betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Mal
heur berichten. Schon die bloße Vorstellung von der kommen
den Szene rührte ihn tief. Vielleicht hatte er auch nur Hunger.
Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand
im Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war
ihre Art, Labude sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und
hatte offensichtlich Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu
entschuldigen, weil er gestern nacht ohne Gruß den Tisch und
das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er etwas ganz ande
res. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der Selow
dachte.
Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon
sein Ehrgeiz gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und
ohne Fehler gleich ins Reine zu schreiben. Er hatte als Kind
niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für Moral war eine
Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungssystem und in der Folge seine
Moral lädiert. Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem
Charakter fehlte das Geländer. Nun kam er, der die Ziele lieb
te und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der Planlosigkeit.
Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und
trotzdem ruhig bleiben kann.
»Du siehst schlecht aus«, sagte Fabian.
»Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht«, gestand der
Freund. »Diese Selow ist schwermütig und ordinär, beides in
einem Atem. Sie kann stundenlang auf dem Diwan sitzen und
Schweinereien vor sich hinmurmeln, als bete sie eine Litanei.
Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in solchen Men
gen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann fällt
ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung
ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei
empfindet sie bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für les
bisch halte ich sie aber auch nicht. Ich glaube, obwohl das ko
misch klingt, sie ist homosexuell.«
ELFTES KAPITEL 97
Fabian ließ den Freund reden. Und weil er sich über nichts
wunderte, wurde der andere ruhig. »Morgen fahre ich auf zwei
Tage nach Frankfurt«, erzählte Labude noch, bevor er sich ver
abschiedete. »Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine
Initiativgruppe einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der
Wohnung Nummer Zwei bleiben. Ihr ist’s in den letzten Mo
naten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich mal ausschla
fen. Auf Wiedersehen, Jakob.« Dann ging er.
Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kün
digung sagen? Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah
elend aus, war gar nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und re
sümierte, was sie der Battenberg ausführlich schon berichtet
hatte: Die kleine Kulp war in die Charite gebracht worden. Sie
hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy, der
Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im
Atelier, kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit
Sterben.
Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ih
rem Koffer geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch
hübsch garniert. Sogar eine weiße Decke und ein Blumen
strauß waren vorrätig. Die Reiter sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe
sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo der junge Labude
wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war. Sie
hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und
durch Fabian Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Per
sonal der Grunewaldvilla keine Auskunft hatte geben können.
»Ich weiß, wo er wohnt«, meinte Fabian. »Außerdem hat er bis
vor wenigen Minuten nebenan in meinem Zimmer gesessen.
Die Adresse darf ich nicht sagen.«
»Er war hier?« rief die Bildhauerin. »Auf Wiedersehen!« Sie
rannte davon.
»Ihr fehlt die Selow«, sagte Cornelia.
»Ihr fehlt die schlechte Behandlung«, sagte Fabian.
»Mir nicht.« Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere. »Gefällt dir
das?« fragte sie.
»Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir
98 FABIAN
immer, wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein
neues Kleid an? Kenne ich diese Ohrringe schon? Trugst du
auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was mir gefällt, merke
ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf stoßen.«
»Du hast nichts als Fehler«, rief sie. »Jeden einzelnen deiner
Fehler könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb.«
Während des Essens erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten
antreten solle. Sie war heute einer Reihe von Kollegen, Dra
maturgen, Produktionsleitern und Direktoren vorgestellt wor
den und beschrieb das merkwürdige, weitläufige Haus, in dem
bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz in
die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Le
ben sauer machten. Fabian verschob die Mitteilung auf spä
ter.
Als sie mit dem Essen fertig waren, stellte sie einen Teller mit
zwei belegten Broten beiseite und sagte lächelnd: »Die eiserne
Ration.«
»Du bist rot geworden«, rief er.
Sie nickte. »Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas
zum Bewundern gibt.«
Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er
überlegte inzwischen, wie er ihr die Kündigung beibringen soll
te. Aber der Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem
Haus standen, hustete jemand hinter ihnen, und ein fremder
Mann wünschte Guten Abend. Es war der Erfinder mit der Pe
lerine. »Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und
Dachböden verdorben«, erzählte er. »Ich habe um die Yorck-
straße einen Bogen gemacht und bin hierhergekommen. Ei
gentlich mache ich mir Vorwürfe, daß ich Sie behellige, denn
schließlich sind Sie selber arbeitslos.«
»Arbeitslos bist du?« fragte Cornelia. »Ist das wahr?«
Der alte Herr entschuldigte sich umständlich, er habe ge
dacht, die junge Dame wisse Bescheid.
»Heute morgen hat man mir gekündigt.« Fabian ließ Cor
nelias Arm los. »Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig
Mark in die Hand gedrückt. Wenn ich meine Miete vorausbe
ELETES KAPITEL 99
zahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig Mark. Gestern
hätte ich darüber gelacht.«
Als sie den alten Herrn aufs Sofa gepackt und ihm die Steh
lampe danebengestellt hatten, denn er wollte an seiner gehei
men Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm Gute Nacht
und gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal
zurück und brachte dem Gast ein paar belegte Brote.
»Ich verspreche, nicht zu husten«, flüsterte der Alte.
»Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch
ganz anderen Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine
gewisse Frau Hohlfeld, die es früher nicht nötig gehabt hat,
deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie wir’s morgen früh ma
chen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre Möbel rei
zend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa
biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich
wecke Sie morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passen
des einfallen.«
»Gute Nacht, junger Freund«, bemerkte der Alte und holte
seine kostbaren Papiere aus der Tasche. »Empfehlen Sie mich
dem Fräulein Braut.«
Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte.
Eine Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. »Ach,
ist das Leben schön!« sagte sie. »Wie denkst du über die
Treue?«
»Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!« Er
saß neben ihr, hielt sein Knie umschlungen und blickte auf das
ausgestreckte Mädchen nieder. »Ich glaube, ich warte nur auf
die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich
wäre dafür verdorben.«
»Das ist ja eine Liebeserklärung«, sagte sie leise.
»Wenn du jetzt heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!« sag
te er.
Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen
Schlüpfer an und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter
Tränen. »Ich heule«, murmelte sie. »Nun halte auch du dein
Versprechen.« Dann bückte sie sich. Er zog sie aufs Bett. Sie
sagte: »Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine Sorgen.«
ioo l'ABIAN
Zwölftes Kapitel
Der Erfinder im Schrank
Nicht arbeiten ist eine Schande
Die Mutter gibt ein Gastspiel
102 FABIAN
»Ich liebe das Leben«, gestand der Alte und wurde fast ver
legen. »Ich liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manch
mal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hineinbeißen,
oder in die Luft, die in den Parks weht. Wissen Sie, woran das
liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das heute? Nie
mand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie von einem Eisenbahnzusammenstoß oder einer anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen
geworden. Ich denke täglich an ihn, denn täglich kann er win
ken. Und weil ich an ihn denke, liebe ich das Leben. Es ist eine
herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich sachverständig.«
»Und die Menschen?«
»Der Globus hat die Krätze«, knurrte der Alte.
»Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten,
das geht selten gut aus«, sagte Fabian und stand auf. Er verließ
den Gast, der noch immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfeld, den
Onkel nicht zu stören, und ging zum Arbeitsamt seines Be
zirks.
Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach
zwei Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine
westliche Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroange
stellte bestimmt war. Er fuhr mit dem Autobus zum Witten
bergplatz und ging in das angegebene Lokal. Die Auskunft war
falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser Kran
kenschwestern, Kindergärtnerinnen und Stenotypistinnen und
erregte, als einziger männlicher Besucher, die größte Aufmerk
samkeit.
Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar
Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines
Konsumvereins aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeits
amts darstellte, in der er sich melden sollte. Hinter dem ehe
maligen Ladentisch saß ein Beamter, davor standen, in langer
Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach dem ande
ren, die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen
Kontrollvermerk.
Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen ge
kleidet waren, manche konnten geradezu elegant genannt wer
104 FABIAN
möglicherweise um Ärzte, Juristen, Ingenieure, Diplomland
wirte und Musiklehrer handelte. »Ich bin jetzt bei der Krisen
fürsorge«, sagte ein kleiner Herr. »Ich kriege 24,50 Mark. Auf
jeden Kopf meiner Familie kommen in der Woche 2,72 Mark,
und auf einen Tag für einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es
in meiner chronischen Freizeit genau ausgerechnet. Wenn das
so weitergeht, fange ich nächstens an einzubrechen.«
»Wenn das so leicht wäre«, seufzte sein Nachbar, ein kurz
sichtiger Jüngling. »Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe
ein Jahr im Gefängnis gesessen. Also, es gibt erfreulichere Mi
lieus.«
»Es ist mir egal, wenigstens vorher«, erklärte der kleine Herr
erregt. »Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück
Brot in die Schule mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit
an.«
»Als ob Stehlen Sinn hätte«, sagte ein großer, breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. »Wenn der Kleinbürger nichts zu fres
sen hat, will er gleich zum Lumpenproletariat übergehen. War
um denken Sie nicht klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur?
Merken Sie noch immer nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie
die politische Revolution vorbereiten.«
»Bis dahin sind meine Kinder verhungert.«
»Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhun
gern Ihre werten Herren Kinder noch rascher«, sagte der
Mann am Fenster. Der kurzsichtige Jüngling lachte und schau
kelte entschuldigend mit der Schulter.
»Meine Sohlen sind völlig zerrissen«, sagte der kleine Herr.
»Wenn ich jedesmal hierherlaufe, sind die Schuhe in einer Wo
che hin, und zum Fahren habe ich kein Geld.«
»Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?« fragte der
Kurzsichtige.
»Ich habe so empfindliche Füße«, erklärte der kleine Herr.
»Hängen Sie sich auf!« meinte der Mann am Fenster.
»Er hat einen so empfindlichen Hals«, sagte Fabian.
Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt
und zählte sein Vermögen. »Die Hälfte des Geldes geht regel
mäßig für Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man.
106 FABIAN
Fabian nickte.
»Dann kommen Sie mal in vierzehn Tagen wieder«, schlug
der andere vor. »Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungs
schreiben probieren. Lesen Sie die Stellenangebote in den Zei
tungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll’s nicht beschreien.«
»Glückliche Reise«, sprach Fabian, nahm die Papiere in
Empfang und begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar
Brötchen verzehren wollte. Zu guter Letzt verfütterte er sie
aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im Neuen See spa
zierenfuhren.
Als er gegen Abend das Zimmer betrat, fand er seine Mut
ter vor. Sie saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte:
»Da staunst du, mein Junge.«
Man umarmte sich. Sie fuhr fort: »Ich mußte nachsehen, was
du machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Ge
schäft kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest
meine Briefe nicht mehr. Zehn Tage hast du nicht geschrieben.
Es ließ mir keine Ruhe, Jakob.«
Er setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und
erklärte, es gehe ihm gut.
Sie betrachtete ihn prüfend. »Komme ich dir ungelegen?« Er
schüttelte den Kopf. Sie stand auf. »Die Wäsche habe ich dir
schon in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal rei-
nemachen. Ist sie noch immer zu fein dazu? Was denkst du,
was ich mitgebracht habe?« Sie öffnete den Spankorb und leg
te Pakete auf den Tisch. »Blutwurst«, sagte sie, »ein Pfund, aus
der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel. Leider
kann man hier nicht in die Küche, sonst würde ich’s aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grü
ßen. Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus
dem Laden. Wenn das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge.
Ich glaube, die Leute waschen sich nicht mehr. Und hier eine
Krawatte, gefällt sie dir?«
»Du bist so gut«, sagte Fabian. »Aber du sollst nicht so viel
Geld für mich ausgeben.«
»Quatsch mit Sauce«, sagte die Mutter und legte die Eßwa
ren auf einen Teller. »Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, dei
108 1-ABI A N
Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich wieder einmal
ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen.«
Fabian steckte den Briefumschlag ein. »Man will Sie ins Ir
renhaus sperren?«
»Ich habe nichts dagegen«, bemerkte der Alte. »Man hat sei
ne Ruhe dort. Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist
ein erträglicher Kerl, selber ein bißchen verrückt und spielt
ausgezeichnet Schach. Ich war schon zweimal dort. Wenn mir’s
zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen Sie, meine
Dame«, sagte er zu der Mutter. »Ich mache Ihnen Ungelegen
heiten. Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird
gleich klingeln. Ich bin soweit. Die Papiere sind gut aufgeho
ben. Verrückt bin ich übrigens nicht, ich bin meinen werten
Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund, schreiben Sie mir
ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt.«
Es klingelte.
»Da sind sie schon«, rief der Alte.
Frau Hohlfeld ließ zwei Herren eintreten.
»Ich bitte, die Störung zu entschuldigen«, sagte der eine und
verbeugte sich. »Vollmachten, die Sie gern einsehen können,
veranlassen mich, Herrn Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise
zu entfernen. Unten wartet mein Auto.«
»Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner ge
worden. Ich merkte es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur
wart. Tag, Winkler. Da wollen wir mal in Ihren Wagen klettern.
Wie geht’s meiner lieben Familie?«
Der Arzt hob die Schultern.
Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein
und schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm
dessen Hand. »Ich danke Ihnen sehr.« Er schritt zur Tür. »Sie
haben einen guten Sohn«, sagte er zu der alten Frau. »Das kann
nicht jeder von sich behaupten.« Dann verließ er das Zimmer.
Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und seine Mut
ter blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die
drei Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten
Erfinder in einen Staubmantel. Die Pelerine wurde verstaut.
i io FABIAN
Eine Minute später kam er wieder. »Sie schläft schon«, flü
sterte er und bestieg sein Sofa.
»Früher wäre das nicht möglich gewesen«, bemerkte Frau
Fabian.
»Das hat ihre Mutter auch gesagt«, meinte der Sohn und
drehte sich nach der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschla
fen, stand er noch einmal auf, tappte durchs dunkle Zimmer,
beugte sich über das Bett und sagte wie einst: »Schlaf gut,
Muttchen.«
»Du auch«, murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte
das nicht sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.
ZWÖLFTES KAPITEL II I
Dreizehntes Kapitel
112 FABIAN
Die Mutter sah ihn nicht an. Sie machte sich am Sofa zu
schaffen. »Ich hielt es drüben nicht mehr aus«, murmelte sie.
»Aber nun geht’s schon wieder, du mußt nur länger schlafen,
und du darfst das Leben nicht so schwer nehmen, mein Junge.
Es wird dadurch nicht leichter.«
»Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu
spät«, sagte er.
Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte
und lachte und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen
war. Dann verlangsamte er den Schritt und blieb schließlich
stehen. Ein hübsches Versteckspiel trieb er da mit der alten
Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu tun hatte.
Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen Zimmer, ob
wohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm Zusam
mensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro ab
holen. Er mußte ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht
wissen, daß er entlassen war. Der Anzug, den er trug, war der
einzige, den er sich in zweiunddreißig Jahren selber gekauft
hatte. Ihr Leben lang hatte sie seinetwegen geschuftet und ge
spart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens
spazieren. Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Ab
sicht liegt, außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und
keinen Schirm haben, Unterhaltung zu bieten. Er hörte einer
Verkäuferin zu, die sehr gewandt Klavier spielte. Aus der Le
bensmittelabteilung vertrieb ihn der Fischgeruch, den er seit
seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer embryonalen Erin
nerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank ver
kaufen. Das Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwieder
bringlich. Fabian entzog sich der unerhörten Zumutung und
wanderte in die Buchabteilung. Er geriet an einem der An
tiquariatstische über einen Auswahlband von Schopenhauer,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten
Onkels der Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heil
praxis zu veredeln, war freilich eine Kateridee, wie bisher alle
DREIZEHNTES KAPITEL ”3
positiven Vorschläge, ob sie nun von Philosophen des neun
zehnten oder von Nationalökonomen des zwanzigsten Jahr
hunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte un
übertrefflich. Fabian fand eine typologische Erörterung und
las:
»Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Aus
drücke eüxokog und övoxoXog bezeichnete. Derselbe läßt sich
zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr ver
schiedene Empfänglichkeit für angenehme und unangenehme
Eindrücke, infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was
den anderen fast zur Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die
Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer
zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und umgekehrt.
Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglücklichen
Ausgangs einer Angelegenheit wird der öuoxokog bei dem un
glücklichen sich ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich
aber nicht freuen; der evxoXog hingegen wird über den un
glücklichen sich nicht ärgern noch grämen, aber über den
glücklichen sich freuen. Wenn dem övoxoXog von zehn Vor
haben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern
ärgert sich über das eine mißlungene: der eüxokog weiß, im
umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trö
sten und aufzuheitern.
Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensatio
nen ist, so ergibt sich auch hier, daß die öuoxokoi, also die fin
steren und ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre,
dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehen ha
ben werden als die heiteren und sorglosen; denn wer alles
schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und demnach
seine Vorkehrungen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet ha
ben, als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht
leiht.«
»Was darf ich Ihnen verkaufen?« fragte ein ältliches Fräu
lein. »Haben Sie baumwollene Socken?« fragte Fabian.
Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte:
»Im Erdgeschoß.« Fabian legte das Buch auf den Tisch und
stieg eine Treppe abwärts. Hatte Schopenhauer damit recht,
114 FABIAN
daß er, gerade er, jene zwei menschlichen Gattungen als einan
der ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte nicht gerade er in sei
ner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei nichts an
deres als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in die
sem Satz die Anschauung der öuoxoXot wider besseres Wissen
verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und kerami
sches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käu
fer, Verkäuferinnen und Bummler umstanden ein kleines ver
heultes Mädchen, das zehn Jahre sein mochte, einen Schulran
zen trug und ärmlich angezogen war. Das Kind zitterte am
ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen, aufgeregten
Gesichter der Erwachsenen ringsum.
Der Abteilungschef kam. »Was ist los?«
»Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschenbe
cher stahl«, erklärte eine alte Jungfer. »Hier!« Sie hob eine klei
ne bunte Schale hoch und zeigte sie dem Vorgesetzten.
»Marsch zum Direktor!« kommandierte der Cutaway.
»Jugend von heute«, sagte eine aufgetakelte Gans.
»Marsch zum Direktor!« rief eine der Verkäuferinnen und
packte die Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
Fabian schob sich durch die Versammlung. »Lassen Sie auf
der Stelle das Kind los!«
»Erlauben Sie mal«, meinte der Abteilungsleiter.
»Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?« fragte jemand.
Fabian gab der Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß
sie das Kind losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine
Seite. »Warum hast du denn ausgerechnet einen Aschenbecher
weggenommen?« fragte er. »Rauchst du schon Zigarren?«
»Ich hatte kein Geld«, sagte das Mädchen. Dann hob es sich
auf die Zehenspitzen. »Mein Papa hat heute Geburtstag.«
»Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer
schöner«, bemerkte die aufgetakelte Gans.
»Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus«, sagte Fabian zu
der Verkäuferin. »Wir behalten den Aschenbecher.«
»Das Kind verdient aber Strafe«, behauptete der Abtei
lungsleiter.
Fabian trat auf den Mann zu. »Wenn Sie sich meinem Vor
DREIZEHNTES KAPITEL ”5
schlag widersetzen sollten, schmeiße ich Ihnen den ganzen
Porzellanladen kaputt.«
Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin
schrieb einen Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur
Auslieferung. Fabian ging zur Kasse, zahlte und nahm das
Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind bis zum
Ausgang. »Hier hast du deinen Aschenbecher«, sagte er. »Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein klei
ner Junge, der kaufte einen großen Kochtopf, um ihn seiner
Mutter am Heiligen Abend zu schenken. Als es soweit war,
nahm er den Topf in die Hand und segelte durch die halb offe
ne Tür. Der Christbaum schimmerte großartig. >Da, Mutter, da
hast du ...<, sagte er und wollte sagen: >Da hast du den Topf.«
Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür. >Da,
Mutter, da hast du den Henkels sagte der Junge nun, denn er
hatte nur noch den Henkel in der Hand.«
Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit bei
den Händen fest und meinte: »Mein Aschenbecher hat ja gar
keinen Henkel.« Sie knickste und lief fort. Dann drehte sie sich
noch einmal um, rief: »Danke schön!« und verschwand.
Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte
sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen
hielt. Eine alte Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwer
fällig vom Sitz und wollte aussteigen. Fabian öffnete den Wa
genschlag, half der Dame vom Trittbrett, zog höflich den Hut
und trat zur Seite. »Da!« sagte jemand neben ihm. Es war die
alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging
ins Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Gro
schen. Er hatte unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er
bereits wie ein Bettler aus?
Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand
und öffnete einen zweiten Wagen. »Da!« sagte jemand und gab
ihm wieder einen Groschen. »Das wächst sich zu einem Beruf
aus<, dachte Fabian und hatte eine Viertelstunde später fünf
undsechzig Pfennig verdient. »Wenn jetzt Labude vorbeikäme
und den literarhistorisch vorgebildeten Autoöffner sähe«, über
legte er. Aber der Gedanke erschreckte ihn nicht. Nur der
116 FABIAN
Mutter hätte er nicht begegnen mögen, und auch Cornelia
nicht.
»Eine milde Gabe gefällig?« fragte eine Frau und gab ihm
ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene Moll. »Ich habe
dich lange Zeit beobachtet, mein Junge«, sagte sie und lächelte
schadenfroh. »Wir begegnen einander, wo wir können. Geht’s
dir so dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines
Mannes ablehntest, und auch die Schlüssel hättest du behalten
können. Ich wartete darauf, dich in meinem Bett wiederzuse
hen. Deine Zurückhaltung macht sinnlich. Hier, hilf mir die
Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon.«
Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
»Was kann ich für dich tun?« fragte sie nachdenklich. »Stel
lung eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist
leider nicht mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich
oder sonstwohin. Und jetzt wohnt die Kriminalpolizei bei uns.
Moll hat die seinem Notariat übergebenen Gelder unterschla
gen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut. Wir ha
ben ihn unterschätzt.«
»Wovon leben Sie denn nun?« fragte Fabian.
»Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind
jetzt billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter geschenkt,
das heißt, die Bekanntschaft ist jung, der Bekannte ist alt. Ihm
gehören nur ein paar Gucklöcher in den Türen.«
»Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?«
»Junge Männer, mein Herr. Wohnung und Verpflegung gra
tis. Außerdem erhalten sie dreißig Prozent der Einnahmen.«
»Welcher Einnahmen?«
»Mein Verein unchristlicher junger Männer wird von Da
men der besten Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft fre
quentiert. Die Damen sind nicht immer schön und schlank,
und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein Mensch. Aber
sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder er
morden sollten, sie kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der
Möbelhändler sieht zu. Die Damen gehen ihren Passionen
nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft worden. Sie
118 FABIAN
Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte,
nochmals grüßend, seinen Weg fort.
Frau Moll wandte sich Fabian zu. »Du willst wieder nicht?«
Sie nahm ihm die Pakete ab. »Ich gebe dir eine Woche Be
denkzeit. Die Adresse weißt du nun. Überlege dir’s. Verhun
gern ist Geschmackssache. Außerdem tätest du mir einen per
sönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich sträubst, um so
mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib habe
ich mittlerweile genug.« Sie ging ins Haus.
»Das grenzt an Zwangsläufigkeit«, murmelte Fabian und
kehrte um.
Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu
las er die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich
Stellenangebote. Dann kaufte er in einem muffigen Papierla
den Schreibmaterial und verfaßte vier Bewerbungsschreiben.
Als er sie in den Kasten gesteckt hatte, fand er, es sei Zeit. Und
pilgerte, recht müde, zu der Zigarettenfabrik.
»Sieht man Sie auch mal wieder?« fragte der Portier.
»Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen«, antwortete
Fabian. Der Portier kniff ein Auge zu. »Verlassen Sie sich ganz
auf mich.«
Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu
durchschauen schien. Er ging rasch ins Verwaltungsgebäude,
setzte sich in eine Fensternische und sah alle fünf Minuten auf
die Uhr. So oft er Schritte hörte, drückte er sich dicht an den
Fensterrahmen. In zehn Minuten war Büroschluß. Die Ange
stellten hatten es eilig. Sie bemerkten ihn nicht. Er wollte sein
Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und Stimmen
vernahm, die sich näherten.
»Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preis
ausschreiben berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fi
scher«, sagte die eine Stimme. »Der Vorschlag ist beachtlich,
man wird Sie würdigen lernen.«
»Herr Direktor sind sehr gütig«, erwiderte die andere Stim
me. »Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Doktor
Fabian geerbt.«
»Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!«
120 FABIAN
»Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?«
fragte sie. »Ich koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein
anderes, und wir gehen zu Tante Martha in den Garten. Im Ge
schäft ist ja so wenig los.«
»Ich komme, sobald ich kann«, versicherte er.
Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: »Bleib
recht gesund, Jakob. Und wenn’s hier nicht vorwärtsgehen
will, pack dein Bündel und komm heim.«
Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf
Bahnsteigen zu lächeln pflegt, ähnlich wie beim Fotografen,
nur daß weit und breit kein Fotograf zu sehen ist. »Laß dir’s
gut gehen«, flüsterte er. »Es war schön, daß du da warst.«
Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öff
nete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel.
»Wenig mit Liebe, Deine Mutter«, war daraufgeschrieben. In
der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. »Iß das Schnitzel
zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere
Tage.«
Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter
im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein
finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch
gesehen, war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen bei
de dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich
nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als
die arithmetische.
122 FABIAN
Vierzehntes Kapitel
124 FABIAN
sei. Es trug eine Hornbrille und hielt einen schlechtgerollten
Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück.
Fabian fuhr von neuem den Hof entlang und wartete unter den
schwankenden Bessemerbirnen, daß sein alter Freund, erneut
verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selber, ein zweiter
Fabian, aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der ge
waltigen Kippkästen, stellte sich zu den anderen Figuren und
starrte, gleich ihnen, auf die Spiegelbilder. An seinen Sohlen,
mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild, ein dritter Fabian,
im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins Ge
sicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Ma
schine und sagte: »Mechanische Seelenwanderung, Patent Koll-
repp.« Dann schritt er auf den wirklichen Fabian zu, der im
Hofe stand, ging mitten in ihn hinein und war nicht mehr da.
»Wie angegossen«, gestand Fabian, nahm dem Maschi
nenmenschen, der ihn unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog
die Pelerine zurecht und war wieder das einzige Exemplar sei
ner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Menschen
versanken plötzlich darin wie in einem durchsichtigen Sumpf.
Sie rissen die Münder auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber
es war nichts zu hören. Sie sanken völlig unter die Spiegel
fläche. Ihre Abbilder flohen,wie Fische, mit dem Kopf voran,
wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen
die wirklichen Menschen unten, und es war, als seien sie in
Bernstein gefangen. Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spie
gelbild mehr, was er sah. Uber den untergegangenen Wesen lag
eine bloße Glasplatte, und die Leute lebten weiter. Fabian knie
te nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib,
saßen an Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbrochene
Strümpfe und im Genick geflochtene Hütchen. Armbänder
und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten Weiber hatte sich ei
nen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen Ti
schen saßen dicke Männer, halbnackt, behaart wie Gorillas, mit
126 FABIAN
te in ihrer Tüte. »Das ist Makart, ein Filmfabrikant, Geld wie
Heu. Seine Frau hat sich vergiftet.« Cornelia wankte und stürz
te neben Makart in den Tumult.
»Spring ihr doch nach«, sagte die Moll. »Aber du hast Angst,
das Glas zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du
hältst die Welt für eine Schaufensterauslage.«
Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah Fabi
an den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke
Bein war eine Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und
fuhr wie ein Wellenreiter über das Gezappel der Menschen. Er
schwang seinen Krückstock und schlug die Kulp, die sich an
dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis
das Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geld
schein ans Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die
Menschen unter ihm sprangen wie Fische in die Luft, schnapp
ten nach der Banknote, fielen ermattet zurück und schnellten
wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge
durchbohrt. Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte
sich, verzerrten Gesichts, dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die
Bildhauerin auf, umschlang die Freundin mit beiden Armen
und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit aus dem Mund.
Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger,
lang wie ein rotes Gummiband, und sie war zum Reißen ge
spannt. Wilhelmy rang nach Luft und lachte.
»Wunderbar!« rief Irene Moll. »Das grenzt an Tauziehen.
Wir leben im Zeitalter des Sports.« Sie zerknüllte die leere Tüte
und sagte: »Jetzt freß ich dich.« Sie riß ihm die Pelerine herun
ter. Ihre Finger griffen wie Scheren ineinander und zerschnit
ten Fabians Anzug. Er schlug ihr mit der Schirmkrücke auf den
Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los. »Ich liebe dich doch«, flü
sterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie kleine Seifen
blasen aus ihren Augenwinkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
128 FABIAN
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in
die Tiefe. Aus den Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Gie
belkante rangen zwei athletische Männer. Sie würgten und bis
sen einander, bis der eine taumelte und beide abstürzten. Man
hörte den Aufschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge schwirrten
unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser.
Die Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus
den Fenstern.
»Warum machen das die Leute?« Das kleine Mädchen aus
dem Kaufhaus faßte Fabians Hand.
»Sie wollen neue Häuser bauen«, erwiderte er. Dann nahm
er das Kind auf den Arm und stieg, über die Toten kletternd,
die Stufen hinunter. Auf halbem Weg begegnete er einem klei
nen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen Block und
rechnete mit den Lippen. »Was machen Sie da« fragte Fabian.
»Ich verkaufe die Restbestände«, war die Antwort. »Pro
Leiche dreißig Pfennige, für wenig getragene Charaktere fünf
Pfennig extra. Sind Sie verhandlungsberechtigt?«
»Gehen Sie zum Teufel«, schrie Fabian.
»Später«, sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am
Fuß der Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin. »Nun
geh nach Hause«, meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. »Ich verdiene keinen Pfen
nig«, murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam.
Fabian beeilte sich. Oben brachen die Häuser zusammen.
Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen. Glühende Balken
neigten sich und sanken um, als tauchten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelte Schüsse. Menschen mit Gasmas
ken krochen durch die Trümmer. So oft sich zwei begegneten,
hoben sie Gewehre, zielten und schossen. Fabian sah sich um.
Wo war Labude? »Labude!« schrie er. »Labude!«
»Fabian«, rief eine Stimme. »Fabian!«
»Fabian!« rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. »War
um rufst du Labude?« Sie strich ihm über die Stirn.
»Ich habe geträumt«, sagte er. »Labude ist in Frankfurt.«
»Soll ich Licht machen?« fragte sie.
13° FABIAN
Fünfzehntes Kapitel
FÜNFZEHNTES KAPFTEL Ui
Die Wirtin wurde gesprächig. »In der Zeitung schlug ge
stern ein Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmee
res um zweihundert Meter senken, dann kämen große Lände
reien ans Licht, wie vor der Eiszeit, und man könne sie besie
deln und Millionen von Menschen darauf ernähren. Außerdem
sei, mit Hilfe kurzer Dämme, eine durchgehende Eisenbahn
verbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!« Frau Hohlfeld
war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs eingenom
men und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub
tanzte. »Na also!« rief er. »Auf ans Mittelmeer! Laßt uns sei
nen Spiegel senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlfeld?«
»Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort.
Eine herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris
liegt übrigens nicht am Mittelmeer.« Sie gab dem Gespräch
eine Wendung: »Da war das Fräulein Doktor wohl sehr trau
rig?«
»Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können.«
»Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie
ähnelt der Königin von Rumänien, als sie noch jung war.«
»Erraten.« Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur
Tür. »Es soll eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht
weitersagen.«
B2 FABIAN
sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen.
Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des Menschenge
schlechts sei eine fragwürdige These; die Eignung des Propa
gandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers
zum Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft
könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen bei
bringen, und die sei schon vernünftig. Zacharias und er hatten
sich förmlich gestritten, bis sie fanden, der Meinungsstreit tra
ge allzu akademischen Charakter, denn beide möglichen Re
sultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen Auf
klärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe
keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge.
Papphülsen fielen klappernd aus Metallröhren. Das Telefon
des Aufsichtsbeamten klingelte fortwährend. Besucher kamen
und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer ins andere.
Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
»Herr Zacharias läßt bitten.«
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian tem
peramentvoll die Hand. Es war die hervorstechendste Eigen
schaft dieses jungen Mannes, alles, was er tat, außerordentlich
lebhaft zu besorgen. Er kam aus der Begeisterung nicht heraus.
Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er debattierte, ob er
Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge mach
te, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wur
de von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein
Gespräch über das Binden von Krawatten zum aufregendsten
Thema der Gegenwart. Und die Vorgesetzten merkten, wenn
sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie ungeheuer
wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrscheinlich. Er diente dem
Betrieb als Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als
Stimulanz. Er wurde unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit
achtundzwanzig Jahren, ein Monatsgehalt von zweitausend
fünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu erzählen gab.
134 IA B I A N
»Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung Übelnehmen«,
sagte Fabian. »Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine
Talente nicht eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern.
Und so schlecht, daß ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir
erst in vierzehn Tagen.« Zacharias stand auf und begleitete den
Besucher betont bis zur Treppe. »Rufen Sie mich morgen mal
an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine Konferenz, sagen
wir nach Zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein. Servus.«
136 FABIAN
mal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich lasse Dich
schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir ein
bilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir be
schäftigen, es muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck her
aus, wenn man sich dreckig macht. Und wir wollen doch her
aus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich gehe jetzt von
Dir fort, um mit Dir zusammenzubleiben. Wirst Du mich lieb
behalten? Wirst Du mich noch anschauen wollen und umar
men können trotz dem anderen? Morgen nachmittag werde
ich, von vier Uhr ab, im Cafe Schottenhaml auf Dich warten.
Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst? Cornelia.«
Fabian saß ganz still. Es wurde immer finsterer. Das Herz
tat weh. Er hielt die Knäufe des Sessels umklammert, als weh
re er sich gegen Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm
sich zusammen. Der Brief lag unten auf dem Teppich und
glänzte im Dunkel.
»Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!« sagte Fabian.
138 FABIAN
Nichtstun hatte. Sie schenkte ihm großmütig jene Freiheit wie
der, von der sie ihn befreit hatte. Der Zufall hatte ihm einen
Menschen in die Arme geführt, für den er endlich handeln
durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, ver
fluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun
war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit
Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und
weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.
Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch
hoffte, war das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß
gefüllt. Er hatte sich darüber geneigt und endlich trinken wol
len. >Nein<, hatte da das Schicksal gesagt, »nein, du hieltest ja
den Becher nicht gern<, und das Gefäß war ihm aus den Hän
den geschlagen worden, und das Wasser war über seine Hände
zur Erde geflossen.
Hurra! Nun war er frei. Er lachte so laut und böse, daß die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er
stieg aus. Es war ja gleichgültig, wo er ausstieg, er war frei,
Cornelia erschlief sich, weiß der Teufel wo, eine Karriere oder
eine Verzweiflung oder beides. Auf der Chausseestraße, am
Trakt der Polizeikasernen, sah er in den geöffneten Toren grü
ne Autos, Scheinwerfer blitzten. Polizisten kletterten auf die
Wagen und standen, entschlossen, in stummer Kolonne. Eini
ge Autos ratterten in nördlicher Richtung davon. Fabian folg
te ihnen. Die Straße war voller Menschen. Zurufe flogen den
Wagen nach. Zurufe, als wären es schon Steine. Die Mann
schaften blickten geradeaus.
Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße
ab, auf der Arbeitermassen näherzogen. Berittene Polizei war
tete hinter der Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu wer
den. Uniformierte Proletarier warteten, den Sturmriemen un-
term Kinn, auf proletarische Zivilisten. Wer trieb sie gegenein
ander? Die Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand
von Mann zu Mann. Der Gesang wurde von wütendem Ge
brüll abgelöst. Man spürte, ohne die Vorgänge sehen zu kön
140 IA BIA N
alte Frauen mit Kopftüchern, Kinder, die längst hätten im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
Ein Glücksrad rasselte. Die Menschen standen dicht zusam
mengedrängt, die Augen hingen an der rotierenden Scheibe.
Sie lief langsamer, überwand noch ein paar Nummern, hielt
still.
»25!« schrie der Ausrufer.
»Hier, hier!« Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob
ihr Los. Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen?
Ein Pfund Würfelzucker.
Wieder schnurrte das Rad. »17!«
»Hallo, das bin ich!« Ein junger Mann schwenkte sein Los.
Er bekam ein Viertelpfund Bohnenkaffee. »Was für Muttern«,
sagte er zufrieden und zog ab.
»Und jetzt folgt die große Prämie! Der Gewinner darf sich
aussuchen!« Das Rad schwankte, tickte, stand still, nein, es
rückte noch eine Nummer weiter.
» 9!«
»Mensch, hier!« Ein Fabrikmädchen klatschte in die Hände.
Sie las die Lotteriebestimmungen. »Der Hauptgewinn besteht
aus fünf Pfund prima Weizenmehl oder einem Pfund Butter
oder dreiviertel Pfund Bohnenkaffee oder eindreiviertel Pfund
magerem Speck.« Sie verlangte ein Pfund Butter. »Allerhand
für einen Groschen«, rief sie. »Das kann man mitnehmen.«
»Es folgt die nächste Ziehung!« brüllte der Ausrufer. »Wer
hat noch nicht, wer will noch mal? Sie da, Großmutter! Hier
ist das Monte Carlo der armen Luder! Keine Mark, keine hal
be Mark, sondern einen Groschen!«
Gegenüber war ein ähnliches Unternehmen. Aber die Tom
bola bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete dop
pelt soviel.
»Der Hauptgewinn, meine Herrschaften, der Hauptgewinn
besteht diesmal aus einer halben Hamburger Gans!« kreisch
te eine Schlächtersgattin. »Zwanzig Pfennige, nur Mut, mein
Volk!« Ihr Gehilfe schnitt mit einem Riesenmesser dünne
Scheiben von einer Schlackwurst und verteilte an die Loskäu
fer Kostproben. Den anderen lief das Wasser im Munde zu
142 l-A B1 AN
daß er ihre körperlichen Vorzüge nicht übersehen konnte. Sein
Blick blieb auf der Figur haften, und da erwachte sein Schmerz
aus der Narkose. Wo war Cornelia? War ihr die Umarmung, in
der sie jetzt lag, zuwider? Empfand sie, während er hier saß, in
einem fremden Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht,
ihre Augen wurden groß, der Mund krümmte und öffnete sich
leicht, die Zungenspitze fuhr feucht an der Oberlippe ent
lang.
»Kommen Sie mit?« fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie
gingen, ohne viel zu reden, ins »Theater«. Das war eine elende
Bretterbaracke. »Auftreten der renommierten Rheingoldsän
ger. Rauchen erlaubt. Zu den Abendvorstellungen haben Kin
der keinen Anspruch auf Sitzplätze.« Die Bude war halbvoll.
Die Zuschauer hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen und
verlogenen Romantik, die ihnen für dreißig Pfennige vorge
setzt wurde, bis zu Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit
dem verkitschten Kulissenzauber dort oben als mit ihrer eige
nen Not.
Fabian legte den Arm um die fremde Frau. Sie schmiegte
sich an ihn und atmete schwer, damit er es höre. Das Stück war
tieftraurig. Ein flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaa
rig und über fünfzig Jahre alt, spielte die Rolle persönlich -
kam jeden Morgen betrunken nach Haus. Das lag an dem ver
dammten Sekt. Er Sang Studentenlieder, bestellte einen sauren
Hering, wurde von der Portierfrau abgekanzelt und schenkte
einer alten gichtkranken Hofsängerin, daß sie das Singen lasse,
seinen letzten Taler.
Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte
Hofsängerin war, wer hätte sie sonst sein sollen?, niemand an
ders als die Mutter des fünfzigjährigen Studenten! Zwölf Jah
re lang hatte er sie nicht gesehen, erhielt allmonatlich Geld von
ihr und glaubte, sie sei noch immer, wie einst, Hofopernsänge
rin. Natürlich erkannte er sie nicht. Aber Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte sofort: der oder keiner. Jedoch, die Zuspit
zung des Dramas verzögerte sich. Eine Liebesaffäre brach her
»Hier wohne ich«, erklärte sie vor einem großen Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: »Ich komme mit hin
auf.«
Sie sträubte sich, es klang nicht überzeugend. Er drückte sie
in den Hausflur. »Was werden bloß meine Wirtsleute sagen?
Nein, sind Sie stürmisch. Aber recht leise, ja?« An der Tür
stand: Hetzer.
»Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?« fragte er. »Pst,
144 FABIAN
man kann uns hören«, flüsterte sie. »Die Wirtsleute haben kei
nen Platz zum Abstellen.«
Er zog sich aus. »Mach nicht so viel Umstände«, sagte er.
Sie schien Koketterie für unerläßlich zu halten und zierte
sich wie eine späte Jungfrau. Schließlich lagen sie nebeneinan
der. Sie löschte das Licht, und erst jetzt entkleidete sie sich völ
lig. »Einen Moment«, flüsterte sie, »nicht böse sein.« Sie knip
ste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über sein Gesicht
und untersuchte ihn im Schein der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. »Entschuldigen Sie, man kann heutzutage nicht
vorsichtig genug sein«, erklärte sie anschließend. Und nun stand
nichts mehr im Wege.
»Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft«, berich
tete sie etwas später. »Willst du bis morgen früh bleiben?« frag
te sie nach einer weiteren halben Stunde. Er nickte. Sie ver
schwand in der Küche, er hörte, wie sie spülte. Sie brachte war
mes Seifenwasser, wusch ihn sorgfältig, mit hausfraulichem
Eifer, und stieg wieder ins Bett.
»Stört es deine Wirtsleute nicht, wenn du in der Küche Was
ser wärmst?« fragte er. »Laß das Licht brennen!«
Sie erzählte belanglose Dinge, fragte, wo er wohne, und
nannte ihn »Schatz«. Er musterte die Zimmereinrichtung. Au
ßer den Betten war noch ein leidenschaftlich geschwungenes
Plüschsofa anwesend, ferner ein Waschtisch mit Marmorplat
te, ein scheußlicher Farbendruck, woselbst eine junge mollige
Frau, im Nachthemd auf einem Eisbärenfell hockend, mit ei
nem rosigen Baby spielte, und ein Schrank mit einem Türspie
gel, der schlecht funktionierte. >Wo ist Cornelia?« dachte er
und fiel wieder über die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
»Man sollte Angst vor dir haben«, flüsterte sie danach.
»Willst du mich umbringen? Aber es ist wunderbar.« Sie knie
te sich neben ihn, betrachtete aus geweiteten Augen sein
gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
Als sie todmüde eingeschlafen war, lag er noch immer wach,
allein in einem fremden Zimmer, blickte angespannt ins Dun
kel und dachte: »Cornelia, was haben wir getan?«
146 l;ABI AN
sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch, und ob
er ein halbes Pfund frische Kalbsleber mitbringen wolle, ohne
Flechsen. Dann gab sie ihm Geld, öffnete vorsichtig die Vor
saaltür, und weil die Treppe leer war, durfte er aus der Woh
nung.
»Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flechsen«,
sagte er im Fleischerladen. Dann rief er, während man ihn be
diente, Zacharias an. Das Telefon war fettig.
»Nein«, erklärte Zacharias, »mir ist nichts eingefallen. Aber
ich gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch gelacht, mein
Lieber. Wissen Sie was, kommen Sie morgen wieder mal vor
bei. Es geht manchmal schnell. Schlimmstenfalls plaudern wir
ein bißchen. Ist es Ihnen recht? Wiedersehen.«
Fabian nahm die Kalbsleber in Empfang. Das Papier blute
te. Er zahlte und trug das Fleischpaket vorsichtig ins Haus.
Weil die Nachbarin die Türklinke putzte, stieg er bis zur vier
ten Etage hinauf. Nach einigen Minuten kam er wieder herun
ter. Die Frau, mit der er die Nacht zusammengewesen war, öff
nete, ohne daß er zu klingeln brauchte, und zog ihn in die
Wohnung. »Gott sei Dank«, flüsterte sie. »Ich dachte schon,
die Klatschtante würde uns erwischen. Setz dich ins Wohn
zimmer, Schatz. Willst du Zeitung lesen? Ich räume inzwischen
auf.«
Er legte das Geld, das er zurückbekommen hatte, auf den
Tisch, setzte sich ins Wohnzimmer und las die Zeitung. Er hör
te die Frau singen. Nach einer Weile brachte sie ihm Zigaretten
und Kirschwasser und blickte ihm über die Schulter. »Um eins
wird gegessen«, sagte sie. »Hoffentlich fühlst du dich recht be-
.«
Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er las
den Polizeibericht über den Krawall in der Reinickendorfer
Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten hatte,
war im Krankenhaus gestorben.Von den Demonstranten wa
ren drei schwer verletzt worden. Einige andere hatte man ver
haftet. Die Redaktion schrieb von unverantwortlichen Elemen
ten, welche die Arbeitslosen immer wieder aufzuwiegeln ver
suchten, und von der bedeutenden Aufgabe, die der Polizei
148 FABIAN
und empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr
zum Großen Stern, durchquerte den Tiergarten bis zum Bran
denburger Tor, verlor sich wieder in den Anlagen, die Rhodo
dendren blühten. Er geriet in die Siegesallee. Die Dynastie der
Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen unverwüstlich.
Vor dem Cafe Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ
sich hier noch besprechen? Es war zu spät zum Reden. Er ging
weiter, kam auf die Potsdamer Straße, stand unentschlossen
auf dem Potsdamer Platz, lief die Bellevuestraße hinauf und
befand sich wieder vor dem Cafe. Und jetzt trat er ein. Corne
lia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
Er setzte sich. Sie nahm seine Hand. »Ich glaubte nicht, daß
du kämst«, sagte sie schüchtern. Er schwieg und sah an ihr vor
bei. »Es war nicht recht von mir, nicht wahr?« flüsterte sie und
senkte den Kopf. Tränen fielen in ihren Kaffee. Sie schob die
Tasse beiseite und trocknete sich die Augen.
Er blickte vom Tisch fort. Die Wände zwischen den zwei
Treppen, die, barock gedrechselt, in das Obergeschoß führten,
waren mit vielen bunten Papageien und Kolibris bevölkert.
Die Vögel waren aus Glas. Sie hockten auf gläsernen Lianen
und Zweigen und warteten auf den Abend und seine Lampen,
damit der zerbrechliche Urwald zu leuchten beginne.
Cornelia flüsterte: »Warum siehst du mich nicht an?« Dann
preßte sie das Taschentuch vor den Mund. Und ihr Weinen
klang, als wimmere weit entfernt ein verzweifeltes Kind. Das
Lokal war leer. Die Gäste saßen draußen vor dem Haus, unter
großen roten Schirmen. Nur ein Kellner stand in der Nähe. Fa
bian blickte ihr ins Gesicht. Ihre Augen zitterten vor Aufre
gung. »Sprich endlich ein Wort«, sagte sie mit rauher Stimme.
Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammenge
preßt. Er schluckte mühsam.
»Sprich ein Wort«, wiederholte sie ganz leise und faltete auf
dem Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände.
Er saß und schwieg.
»Was soll bloß aus mir werden?« flüsterte sie, als spreche sie
zu sich selber und er sei gar nicht mehr da. »Was soll bloß aus
mir werden?«
150 IABIAN
»Aber die Zukunft ist nicht mein Thema«, sagte er und
machte eine abschließende Handbewegung, als erdroßle er den
Gedanken. »Zu besprechen bleibt die Vergangenheit. Du frag
test gestern nicht, als du gingst. Warum interessiert dich nun
meine Antwort? Du wußtest, daß du mir lästig warst. Du wuß
test, daß ich dich los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf
brannte, eine Geliebte zu haben, die in anderen Betten das
Geld verdient, das ich nicht besitze. Wenn du recht hattest, war
ich ein Halunke. Wenn ich kein Halunke war, war alles, was du
tatest, falsch.«
»Es war alles falsch«, sagte sie und stand auf. »Leb wohl, Fa
bian.«
Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränkte sie,
weil er ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der
Tiergartenstraße holte er sie ein. Sie gingen schweigend und ta
ten sich und einander leid. Er dachte noch: »Wenn sie jetzt fragt,
soll ich zu dir zurückkommen, was werde ich antworten? Ich
habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche.«
»Es war so schrecklich gestern«, sagte sie plötzlich. »Er war
so widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich
nicht mehr magst? Nun brauchten wir keine Sorgen zu haben,
und sie sind größer als zuvor. Was fange ich an, wenn ich weiß,
du willst mich nicht mehr sehen?«
Er faßte ihren Arm. »Vor allem, nimm dich zusammen. Das
Rezept ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt,
gib acht, daß es wenigstens nicht umsonst war. Und entschul
dige, daß ich dich vorhin so gekränkt habe.«
»Ja, ja.« Sie war noch traurig und schon wieder froh. »Und
darf ich morgen nachmittag zu dir kommen?«
»Es ist gut«, sagte er.
Da umarmte sie ihn mitten auf der Straße, küßte ihn, flü
sterte: »Ich danke dir«, und rannte aufschluchzend davon.
Er blieb stehen. Ein Spaziergänger rief: »Sie können la
chen!« Fabian wischte mit der Hand über den Mund und ekel
te sich. Was hatten Cornelias Lippen inzwischen berührt? Half
es ihm, daß sie sich die Zähne geputzt hatte? War seinem Ab
scheu mit Hygiene beizukommen?
SIEBZEHNTES KAPITEL Ui
Er überschritt die Straße und trat in den Park. Moral war die
beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln ge
nügte nicht. Und erst jetzt fiel ihm ein, wo er in der vergange
nen Nacht gewesen war.
IJ2 FABIAN
ständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank
und meinte hinterher: »Die Züge sind um diese Zeit schreck
lich überfüllt.«
Fabian nickte zustimmend.
»Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?« fragte
der Mann.
»Ich mache mir nicht viel aus Weißwein«, erklärte Fabian
und stand auf.
Der andere folgte ihm. »Sie wollen schon gehen?« fragte er.
»Ich möchte nicht länger stören«, erwiderte Fabian.
Plötzlich sprang ihm der Reisende an den Hals und würgte
ihn. Fabian gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann
ließ los, setzte sich und hielt die Backe.
»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte Fabian betrübt. Der
Mann winkte ab, spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf
mit sich beschäftigt.
Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hinge
hen? Er fuhr nach Hause.
154 I-AB1AN
Er riß die Tür auf und jagte die Treppe hinunter. Am Nürn
berger Platz hielt er ein Auto an, nannte die Adresse und sag
te: »Fahren Sie, so schnell Sie können!« Der Wagen war alt und
gebrechlich und holperte sogar auf dem Asphalt. Fabian zerr
te das Schiebefenster auf: »Fahren Sie doch schneller!« rief er.
Dann versuchte er zu rauchen, aber seine Hand zitterte, und
der Wind blies ihm die brennenden Streichhölzer aus. Er lehn
te sich zurück und schloß die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnete
er sie und sah nach, wo sie waren. Tiergarten, Tiergarten, Tier
garten, Brandenburger Tor. Unter den Linden. An jeder Stra
ßenecke mußten sie halten. An jeder Verkehrsampel glühte,
kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als füh
ren sie durch zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Fried
richstraße wurde es besser. Universität, Staatsoper, Dom und
Schloß lagen endlich im Rücken. Das Auto bog rechts ein. Es
hielt. Fabian zahlte und lief gehetzt ins Haus.
Ein fremder Mann öffnete. Fabian nannte seinen Namen.
»Endlich«, sagte der fremde Mann. »Ich bin Kriminalkommis
sar Donath. Wir kommen ohne Sie nicht weiter.«
Im ersten Zimmer saßen fünf junge Damen, ein Polizist
stand dabei. Fabian erkannte die Selow und die Bildhauerin.
»Endlich«, sagte die Selow. Das Zimmer war demoliert, Gläser
und Flaschen lagen am Boden.
Im nächsten Zimmer stand ein junger Mann vom Schreib
tisch auf. »Mein Assistent«, erklärte der Kommissar. Fabian
blickte sich um und erschrak. Auf dem Sofa lag Labude, kalk
weiß, mit geschlossenen Augen. Labude hatte ein Loch in der
Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare.
»Stephan«, sagte Fabian leise und setzte sich neben die Lei
che. Er legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes
und schüttelte den Kopf.
»Aber Stephan«, sagte er, »das macht man doch nicht.« Die
zwei Beamten traten ans Fenster.
»Doktor Labude hat für Sie einen Brief hinterlassen«, be
richtete der Kommissar. »Wir bitten Sie, den Brief zu lesen und
uns über den Inhalt, soweit er uns interessiert, zu unterrichten.
Wir teilen Ihre Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord
ACHTZEHNTES KAPITEL US
handelt, und die fünf jungen Damen, die wir vorläufig in der
Wohnung zurückbehalten haben, behaupten, im Nebenzim
mer gewesen zu sein, als der Schuß fiel. Aber ganz aufgeklärt
scheint der Vorfall nicht. Sie werden vielleicht bemerkt haben,
daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat es damit
für eine Bewandtnis?«
Der Kriminalassistent reichte Fabian ein Kuvert. »Wollen
Sie so freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen be
haupten, das Zimmer sei im Laufe einer privaten Meinungs
verschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor Labude habe
damit nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen,
sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben, und dann
sei er in das Zimmer hier gegangen.«
»Die Damen stehen, wie sich aus Andeutungen entnehmen
ließ, in einigermaßen ungewöhnlichen Beziehungen zueinan
der. Ich vermute, es gab eine Art von Eifersuchtsszene zwi
schen ihnen«, erläuterte der Kommissar. »Sie haben, und auch
das spricht gegen ihre konkrete Mittäterschaft, sofort die Poli
zei verständigt und uns hier erwartet, anstatt davonzulaufen.
Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?«
Fabian öffnete das Kuvert und nahm den gefalteten Brief
bogen heraus. Dabei fiel ein Banknotenbündel zur Erde. Der
Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa.
»Wir warten nebenan«, sagte der Kommissar rücksichtsvoll,
und sie ließen Fabian allein. Er erhob sich und brannte das
Licht an. Dann setzte er sich wieder und sah auf den toten
Freund, dessen gelbes, in Müdigkeit erfrorenes Gesicht genau
unter der Lampe lag. Der Mund war ein wenig geöffnet, der
Unterkiefer gab nach. Fabian faltete den Briefbogen auseinan
der und las:
»Lieber Jakob!
Als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal
zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da.
Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, mei
ne Habilitationsschrift sei abgelehnt worden. Der Geheimrat
habe sie als völlig ungenügend charakterisiert und erklärt, sie
der Fakultät weiterzugeben, halte er für Belästigung. Außer
156 l-ABI AN
dem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu ma
chen. Fünf Jahre hat mich diese Schrift gekostet, es war die
fünfjährige Arbeit an einer Blamage, die man nur aus Barm
herzigkeit im engsten Kreise begraben will.
Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte mich.
Ich habe kein Talent zum Trostempfänger, auch hierin bin ich
talentlos. Das Gespräch über Leda, das wir vor Tagen mitein
ander hatten, überzeugte mich davon. Du hättest mich über die
mikroskopische Bedeutung meines wissenschaftlichen Unfalls
aufgeklärt, ich hätte Dir zum Schein recht gegeben, wir hätten
einander belogen.
Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und psycholo
gisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zu
rück, die Universität weist mich zurück, von allen Seiten er
halte ich die Zensur Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht
aus, das bricht meinem Kopf das Herz und meinem Herzen
das Genick, Jakob. Mir hilft keine historische Statistik, wie-
viele bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche
Liebhaber waren.
Mein politischer Ausflug nach Frankfurt war auch zum Be
speien. Am Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wieder-
kam, lag die Selow mit der Bildhauerin in meinem Bett, ein
paar andere Frauenzimmer gaben Hilfsstellung. Und jetzt,
während ich schreibe, schmeißen sie im Nebenzimmer mit
Gläsern und Blumenvasen. Ich kann, wenn ich meinen augen
blicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt
mir nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich
aus. Dort, wo man mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei
mir nicht böse, mein Guter, ich haue ab. Europa wird auch
ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat mich nicht
nötig. Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuh
handel nichts ändert, er wird den Zusammenbruch nur be
schleunigen oder vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen
geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung
konstituiert werden muß, alles andere ist nutzlos. Ich habe
nicht mehr den Mut, mich von den politischen Fachleuten aus
lachen zu lassen, die mit ihren Mittelchen einen Kontinent zu
FABIAN
»Ich habe ein Faible für Tote.« Die fünf Frauen drängten sich
durch die Tür und standen schweigend vor dem Sofa.
»Man müßte ihm die Kinnlade hochbinden«, sagte schließ
lich ein Mädchen, das Fabian nicht kannte. Die Bildhauerin lief
ins andere Zimmer und kehrte mit einer Serviette wieder. Sie
band Labude den Unterkiefer hoch, so daß der Mund sich
schloß, und knüpfte die Enden der Serviette auf seinem Kopf
haar zu einem Knoten.
»Ein Toter mit Zahnschmerzen«, bemerkte die Selow und
lachte bösartig.
Ruth Reiter sagte: »Es ist eine Schande. Bei mir im Atelier
sitzt Wilhelmy und wird von Tag zu Tag gesünder, das Schwein,
obwohl die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben haben. Und die
ser kräftige junge Kerl hier bringt sich um die Ecke.«
Dann schob der Assistent die Frauen aus dem Zimmer. Der
Kommissar setzte sich an den Schreibtisch und entwarf einen
Polizeibericht. Der Assistent kam zurück. »Ist es nicht das Be
ste, wenn wir einen Wagen bestellen und den Toten in die Vil
la der Eltern bringen lassen?« fragte er. Dann bückte er sich.
Die Geldscheine waren vom Sofa gefallen und lagen wieder auf
der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche.
»Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?« fragte Fa
bian.
»Sie sind leider nicht erreichbar«, erwiderte der Assistent.
»Justizrat Labude befindet sich auf einer kleinen Reise, das
Hauspersonal weiß nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano.
Man hat ihr depeschiert.«
»Also gut«, sagte Fabian. »Bringen wir ihn nach Hause!«
Der Assistent telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann
warteten sie alle drei stumm, bis der Wagen kam. Sanitäter
packten Labude auf eine Bahre und trugen ihn die Treppe hin
unter. Vor dem Haus standen Neugierige aus der Nachbar
schaft. Die Bahre wurde in den Wagen geschoben, Fabian setz
te sich neben den ausgestreckten Freund. Die Beamten verab
schiedeten sich. Er gab ihnen die Hand. Ein Sanitäter klappte
die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian und Labude fuhren
zum letzten Mal gemeinsam durch Berlin.
160 !■ A B I A N
Neunzehntes Kapitel
Fabian verteidigt den Freund
Ein Lessingporträt geht entzwei
Einsamkeit in Halensee
162 l'ABI AN
aufhängen. Dich hätte man nicht einmal gehängt, dich hätte
man totgelacht. Du warst kein Reformator und du warst kein
Revolutionär. Mach dir nichts draus.«
Labude lag, als höre er zu. Aber er tat nur so. Die Anspra
che verhallte, Fabian wurde müde. »Warum genügte es dir
nicht, schön zu finden, was schön ist ?< dachte er. »Dann hätte
dich das Pech mit Herrn Lessing nicht so gekränkt. Dann
säßest du vielleicht in Paris, statt hier zu liegen. Dann hättest
du die Augen offen und blicktest glücklich von Sacre Coeur
hinunter auf die schimmernden Boulevards, über denen die
Luft kocht. Oder wir beide spazierten durch Berlin. Die Bäu
me sind ganz frisch gestrichen, der blaue Himmel ist mit Gold
ausgelegt; die Mädchen sind appetitlich zubereitet, und wenn
die eine bei einem Filmdirektor übernachtet, sucht man sich
eine bessere. Mein alter Erfinder, der liebte das Leben! Ich habe
dir noch gar nicht erzählt, wie er bei mir im Schranke stand. Er
hatte den Hut auf und hielt den Schirm in der Hand, als habe
er Angst, es könne im Schrank regnen.«
164 FABIAN
Arbeiten, die ich kenne«, erwiderte Fabian. »Hier ist sie.« Er
nahm eine Kopie des Manuskripts vom Bücherbord und legte
sie auf den Schreibtisch.
Der Justizrat blätterte darin, dann klingelte er, ließ das Tele
fonbuch bringen und suchte eine Nummer. »Es ist zwar sehr
spät«, sagte er und ging ans Telefon, »aber das kann nichts hel
fen.« Er bekam Anschluß. »Kann ich den Geheimrat spre
chen?« fragte er. »Dann holen Sie die gnädige Frau an den Ap
parat. Ja, auch wenn sie schon schläft. Hier spricht Justizrat
Labude.« Er wartete. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte
er. »Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs ist. In Weimar? So, zur
Tagung der Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zu
rück? Ich werde mir erlauben, ihn morgen im Institut aufzu
suchen. Sie wissen nicht, ob er die Habilitationsschrift meines
Sohnes schon gelesen hat?« Er hörte lange Zeit zu, dann ver
abschiedete er sich, legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich
zu Fabian herum und fragte: »Verstehen Sie das? Der Geheim
rat hat neulich während des Essens gesagt, die Arbeit über Les
sing sei außerordentlich interessant, und er sei auf die Schluß
folgerung, also auf das Ende der Arbeit, sehr gespannt. Von
Stephans Tod scheint man noch nichts zu wissen.«
Fabian sprang erregt auf. »Er hat die Arbeit gelobt? Lehnt
man Arbeiten ab, die man gelobt hat?«
»Daß man Arbeiten, die man schlecht findet, annimmt, ist
jedenfalls häufiger«, antwortete der Justizrat. »Wollen Sie mich
jetzt allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde
sein Manuskript lesen. Fünf Jahre hat er daran gesessen, nicht?«
Fabian nickte und gab ihm die Hand. »Da hängt ja die Todes
ursache«, sagte der alte Labude und zeigte auf das Lessingpor
trät. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und zer
schlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann
klingelte er. Der Diener erschien. »Kehre den Dreck fort und
bringe Heftpflaster«, befahl der Justizrat. Er blutete an der
rechten Hand.
Fabian blickte noch einmal auf den toten Freund. Dann ging
er hinaus und ließ die beiden allein.
166 FABIAN
erschienen ihm vollkommen sinnlos. Ein kleiner illuminierter
Zeppelin, auf dem in großer Leuchtschrift »Trumpfschokola
de« stand, flog über den Köpfen der Stadt zu. Ein Zug mit hel
len Fenstern fuhr unter der Brücke hin. Autobusse und
Straßenbahnen passierten in langer Kette die Straße. Am Ne
bentisch erzählte ein Mann, dem der Nacken über den Kragen
gerutscht war, Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm saßen,
kreischten, als hätten sie Mäuse unterm Rock.
>Was soll das alles?< dachte er, zahlte rasch und ging nach
Hause.
Auf dem Tisch lagen etliche Briefe. Die Bewerbungsschrei
ben waren zurückgekommen. Nirgends war ein Posten frei,
man bedauerte hochachtungsvoll. Fabian wusch sich. Später
ertappte er sich dabei, daß er regungslos, mit dem Handtuch
vor dem nassen Gesicht, auf dem Sofa saß und, an der unteren
Kante des Tuches vorbei, auf den Teppich stierte. Er trockne
te sich ab, warf das Handtuch fort, legte sich um und schlief
ein. Das Licht brannte die ganze Nacht.
168 FABIAN
Wagen. Stör ich dich?« Dann senkte sie die Stimme. »Der
Schofför paßt auf.« Lauter fragte sie: »Wo willst du hin?«
»Zur Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit
abgelehnt worden ist. Ich muß den Geheimrat sprechen.«
»Ich bringe dich hin. Darf ich?« fragte sie. »Fahren Sie uns
bitte zur Universität«, sagte sie zu dem Schofför, sie stiegen in
den Wagen und fuhren stadtwärts.
»Und wie war es gestern abend bei dir?« fragte Fabian.
»Sprich nicht davon«, bat sie. »Ich hatte immer das Gefühl,
dir drohe ein Unheil. Makart erzählte mir von der Rolle, die
ich spielen soll, ich hörte kaum zu, so bedrängte mich meine
Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter.«
»Was für eine Rolle?« Auf Cornelias Vorahnungen ging er
nicht ein. Er haßte die Angewohnheit, die Zukunft wie eine
Bettdecke zu lüpfen, und noch mehr haßte er den nachträgli
chen Stolz, schon vorher recht gehabt zu haben. Wie plump
vertraulich war diese Art des Umgangs mit dem Schicksal! Sei
ne Abneigung hatte damit, ob Vorahnungen möglich seien oder
nicht, nichts zu tun. Er empfand es als Anmaßung, sich mit
dem, was noch verhüllt war, herumzuduzen. So passiv er auch
zu sein pflegte: mit einer Fügung in Unvermeidliches hatte das
nichts zu schaffen.
»Eine sehr merkwürdige Rolle«, sagte sie. »Stell dir vor, daß
ich in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um
seiner verschrobenen Phantasie Genüge zu tun, von mir ver
langt, daß ich mich unablässig verwandle. Er ist ein pathologi
scher Mensch und nötigt mich, bald ein unerfahrenes Mädchen
und bald eine raffinierte Frau zu spielen, bald ein ordinäres
Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf.
Dabei stellt sich, für mich später als für ihn und die Zuschauer,
heraus, daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glau
be. Beide, er und ich, werden überrascht sein, denn ich werde
mich unaufhaltsam, schließlich gegen seinen Willen, verändern
und erst dadurch das geworden sein, was ich schon immer war.
Gemein und herrschsüchtig, stellt sich heraus, bin ich im
Grunde, und in dem Konflikt, den er durch seine Befehle be
schwor, wird er tragisch unterliegen.«
17° FABIAN
»Auch die Grundlagen der Untersuchungen sind in Ord
nung«, meinte Fabian. »Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur
der Geheimrat käme!«
Frau Labude weinte vor sich hin. »Warum wollt ihr ihm,
nun er tot ist, die Ursache rauben, deretwegen er starb?« frag
te sie. »Kommt, wir wollen von hier fortgehen!« Sie stand auf
und packte die zwei Männer. »Laßt ihn in Frieden!«
Aber der Justizrat sagte: »Setz dich hin, Luise.«
Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altvä
terlicher Eleganz, außerdem standen ihm die Augen etwas zu
weit aus dem Kopf. Der Institutsdiener kletterte hinter ihm die
Treppe hoch und trug einen Handkoffer. »Das ist ja fürchter
lich«, erklärte der Geheimrat und ging, mit seitlich geneigtem
Kopf, auf Labudes Eltern zu. Die Frau des Justizrates weinte
lauter, als er ihr die Hand drückte, und auch der Justizrat war
ergriffen. »Wir kennen uns«, sagte der alte Literaturhistoriker
zu Fabian. »Sie waren sein Freund.« Er schloß die Tür zu sei
nem Zimmer auf, bat näher zu treten, entschuldigte sich für ei
nen Augenblick und wusch sich, während die andern stumm
um den Tisch saßen, die Hände, wie vor einer ärztlichen Ordi
nation. Der Diener hielt das Handtuch bereit.
Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: »Ich bin
für keinen Menschen zu sprechen.« Der Diener entfernte sich,
der Geheimrat nahm Platz. »Ich kaufte mir heute morgen in
Naumburg eine Zeitung«, berichtete er, »und das erste, was ich
las, war die Meldung von dem tragischen Geschick Ihres Soh
nes. Ist es allzu indiskret, wenn ich die nächstliegende Frage an
Sie stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu die
sem äußersten Schritt bewogen?«
Der Justizrat ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, zur
Faust. »Können Sie sich das nicht denken?«
Der Geheimrat schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die ge
ringste Ahnung.«
Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft.
Ihr Blick bat die Männer, innezuhalten.
Aber Labudes Vater beugte sich weit vor. »Mein Sohn hat
sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben.«
172 IABIAN
und in der Kartothek zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kra
gen, zerrte ihn vom Stuhl und stieß ihn zur Tür hinaus.
»Was erlauben Sie sich eigentlich?« fragte er. Aber Fabian
schlug ihm, statt zu antworten, mit der Faust ins Gesicht.
Weckherlin hob den Arm, um sich zu schützen, und stolperte,
ohne länger zu widersprechen, die Treppe hinauf. Vor dem
Zimmer des Geheimrats zögerte er wieder, aber Fabian riß die
Tür auf. Der Geheimrat und Labudes Eltern fuhren zusam
men. Der Assistent blutete aus der Nase.
»Ich muß in Ihrer Gegenwart einige Fragen an diesen Herrn
richten«, sagte Fabian. »Doktor Weckherlin, haben Sie gestern
mittag meinem Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abge
lehnt worden? Haben Sie erzählt, der Geheimrat habe ge
äußert, die Arbeit der Fakultät weitergeben, heiße die Profes
soren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat wolle
ihm außerdem durch diese private Ablehnung eine öffentliche
Blamage ersparen?«
Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig vom Stuhl. Kei
ner der Männer kümmerte sich um sie. Weckherlin war bis zur
Tür zurückgewichen. Die drei anderen Männer standen vor
geneigt und warteten auf Antwort.
»Weckherlin«, flüsterte der Geheimrat und stützte sich
schwer auf eine Stuhllehne.
Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als wolle er
lächeln, er öffnete wiederholt den Mund.
»Wird’s bald?« fragte der Justizrat drohend.
Weckherlin legte die Hand auf die Klinke und sprach: »Es
war nur ein Scherz!«
Da schrie Fabian, es war ein unartikulierter Laut, er klang
wie der Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er
vor und schlug auf den Assistenten ein, mit beiden Fäusten,
unablässig, ohne zu überlegen, wohin er traf. Besinnungslos,
wie ein automatischer Hammer, schlug er zu, immer wieder.
»Du Schuft!« brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste
mitten ins Gesicht. Weckherlin lächelte noch immer, als wolle
er sich entschuldigen. Er hatte vergessen, daß er die Hand auf
der Klinke hielt und aus dem Zimmer fliehen wollte. Er sank
174 1- A B I A N
Einundzwanzigstes Kapitel
Juristin wird Filmstar
Eine alte Bekannte
Die Mutter verkauft Schmierseife
176 l'ABIAN
stehen und liegen. Er besuchte Zacharias nicht mehr, diesen
eitlen, verlogenen Menschen. Er ging zum Bahnhof.
Der D-Zug fuhr in einer Stunde. Fabian besorgte sich eine
Fahrkarte, kaufte Tageszeitungen, setzte sich in den Wartesaal
und durchflog die Blätter.
Auf einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkom
men großen Stils gefordert worden. War dergleichen nur Schön
rederei? Oder begriff man allmählich, was alle wußten? Erkann
te man, daß die Vernunft das Vernünftigste war? Vielleicht hat
te Labude recht gehabt? Vielleicht war es wirklich nicht nötig,
auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu warten?
Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war,
tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? War
die moralische Forderung nur deswegen uneinlösbar, weil sie
sinnlos war? War die Frage der Weltordnung nichts weiter als
eine Frage der Geschäftsordnung?
178 FABIAN
repräsentiere als ehemaliger Referendar einen neuen Modetyp,
die intelligente deutsche Frau.
»Alles Gute«, wiederholte Fabian und starrte auf das Foto.
Wie lange war das her! Er blickte auf das Bild, als betrachtete
er ein Grab. Eine unsichtbare gespenstische Schere hatte sämt
liche Bande, die ihn an diese Stadt fesselten, zerschnitten. Der
Beruf war verloren, der Freund war tot, Cornelia war in frem
der Hand, was hatte er hier noch zu suchen?
Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen, ver
wahrte die Ausschnitte im Notizbuch und warf die Zeitungen
fort. Nichts hielt ihn zurück, er verlangte dorthin, woher er ge
kommen war: nach Hause, in seine Vaterstadt, zu seiner Mut
ter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin, obwohl er noch
immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er wiederkom
men? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten,
stand er auf, durchschritt die Sperre und setzte sich in den Zug,
der auf das Signal zur Abfahrt wartete.
Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr
rückte weiter. Nur fort!
Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die Felder und
Wiesen schwangen wie auf einer Drehscheibe. Die Telegrafen
stangen machten Kniebeugen. Manchmal standen kleine bar
füßige Bauernkinder mitten in der tanzenden Landschaft und
winkten mechanisch. Auf einer Weide graste ein Pferd. Ein
Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den Kopf.
Dann fuhren sie durch einen düsteren Fichtenwald. Die Stäm
me waren von grauen Flechten bewachsen. Die Bäume standen
da, als seien sie aussätzig und als habe man ihnen verboten, den
Wald zu verlassen.
Ihm war, als suche jemand seine Augen. Er wandte sich um
und blickte ins Abteil. Die Mitreisenden, gleichgültige, gleich
gültig dasitzende Leute, waren mit sich beschäftigt. Wer sah
ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie
rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht
rührte, winkte sie. Er trat hinaus.
»Es ist skandalös, wie wir beiden einander nachlaufen«, sag
te sie. »Wo fährst du hin?«
180 I' A B 1A N
Es war gegen sechs Uhr abends, als er ankam. Er trat aus dem
Bahnhof und sah die Dreikönigskirche. Ihm schien, sie mu
sterte ihn von oben herunter: Warum holt dich heute niemand
ab, und warum kommst du ohne Koffer?
Er ging den Dammweg entlang und durchschritt den alten
Viadukt. Ein endloser Güterzug ratterte drüber hin, die Stein
wölbung dröhnte. Das Haus, in dem früher der Lehrer Schan
ze gewohnt hatte, war frisch gestrichen. Die anderen Häuser
standen unverändert in ihrer grauen, ihm seit der Kindheit be
kannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme Schröder
gehörte, war ein neues Geschäft eröffnet worden, ein Flei
scherladen, noch standen die Blumenstöcke im Schaufenster.
Langsam näherte er sich dem Haus, in dem er geboren war.
Wie vertraut ihm die Straße war. Er kannte die Fassaden, er
kannte die Höfe, Keller und Böden, überall war er hier behei
matet. Aber die Menschen, die aus den Häusern und in die
Häuser traten, waren ihm fremd. Er blieb stehen. »Seifenge
schäft« stand über einem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster.
Er las: »Nun auch Feinseifen herabgesetzt. Hausmarke Laven
del zwanzig statt zweiundzwanzig Pfennige. Torpedoseife fünf
undzwanzig statt achtundzwanzig Pfennige.« Er ging bis zur
Tür.
Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen stan
den davor. Die Mutter bückte sich gerade und stellte ein Paket
Waschpulver auf den Tisch, dann schnitt sie einen Riegel Kern
seife mittendurch. Dann nahm sie einen Bogen Packpapier und
einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem Faß, wog sie
ab und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch bis auf die
Straße.
Dann klinkte er die Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die
alte Frau sah auf und ließ erschrocken die Hände sinken.
Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: »Mutter,
Labude hat sich erschossen.« Und plötzlich liefen ihm die Trä
nen aus den Augen. Er öffnete die Tür, die ins Hinterzimmer
führte, schloß sie wieder, setzte sich in den Lehnstuhl vorm
Fenster, blickte in den Hof hinaus, legte langsam den Kopf aufs
Fensterbrett und weinte.
182 FABIAN
Helm auf dem Kopf, gerüstet zur feldgrauen Predigt, sieb
zehnjährig, bereit zu hören, was der deutsche Gott seinen Ar
meen mitteilen ließ? Er blieb am Tor der ehemaligen Fußar
tilleriekaserne stehen und lehnte sich an die Eisenstäbe. Antre
ten zum Dienstverlesen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum
Nachtdienst, Vortrag über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was
war alles auf diesem öden Hof geschehen. Hatte er hier nicht
gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie zum dritten und vierten
Male feldmarschmäßig abgeführt wurden, miteinander um ein
Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück sein werde?
Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform
wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung
am Leibe? Fabian ließ das Gitter los und ging weiter an den al
ten protzigen Grenadier- und Infanteriekasernen vorbei. Hier
war der Park und die Schule, in der er jahrelang gesessen und
gelebt hatte, ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr und Lafet
tenschwanz bekannt gemacht wurde. Die Straße, die sich zu
der Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlang
gerannt, nach Hause, zur Mutter, auf wenige Minuten. Ob
Schule, Kadettenanstalt, Lazarett oder Kirche, an der Periphe
rie dieser Stadt war jedes Gebäude eine Kaserne gewesen.
Noch immer lag das große graue Gebäude mit den schiefer
gedeckten spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit
Kindersorgen angefüllt. Die Fenster der Direktionswohnung
waren noch immer mit weißen Gardinen geziert, im Gegensatz
zu den vielen schwarzen schmucklosen Fenstern, hinter denen
die Klassenzimmer, die Wohnräume der Schüler, die Schrank
zimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer ge
glaubt, das riesige Haus müsse nach der Seite, auf der die Di
rektorwohnung lag, tief in die Erde sinken, so schwerwiegend
war ihm die Tatsache erschienen, daß hier Gardinen an den
Fenstern hingen. Er ging durch das Tor und stieg die Stufen hin
auf. Aus den Klassenzimmern drangen dunkle und helle Stim
men. Der leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Eta
ge wehten Chorgesang und Klavierspiel. Fabian verschmähte
die breite Freitreppe, er kletterte im Seitenflügel die schmalen
Stufen hinan, zwei kleine Schüler kamen ihm entgegen.
184 !■ A B 1 A N
horsame Staatsbeamte und bornierte Bürger machte? Es war
manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die
Aula und stieg die düstere Wendeltreppe zu den Wasch- und
Schlafsälen hinauf. In langer Front standen die eisernen Bett
stellen. An den Wänden hingen die Nachthemden militärisch
ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren die Primaner
aus dem Park heraufgekommen und hatten sich zu erschrok-
kenen Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die Klei
nen hatten geschwiegen. Ordnung mußte sein. Er trat ans Fen
ster. Unten im Flußtal schimmerte die Stadt mit ihren alten
Türmen und Terrassen. Wie oft war er, wenn die anderen
schliefen, hierher geschlichen, hatte hinabgeblickt und das
Haus gesucht, in dem die Mutter krank lag. Wie oft hatte er den
Kopf an die Scheiben gepreßt und das Weinen unterdrückt. Es
hatte ihm nicht geschadet, das Gefängnis nicht und das unter
drückte Heulen nicht, das war richtig. Damals hatte man ihn
nicht klein gekriegt. Ein paar hatten sich erschossen. Es waren
nicht viele gewesen. Im Krieg hatten schon mehr daran glau
ben müssen. Später waren noch etliche gestorben. Heute war
die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen hinunter, ver
ließ das Gebäude und ging in den Park. Mit Reisigbesen und
Schaufeln und spitzen Stöcken waren sie hinter einem Hand
wagen hergetrabt, hatten welkes Laub zusammengekehrt und
Papier, das herumlag, aufgespießt. Der Park war groß, er senk
te sich zu einem kleinen Bach hinab.
Fabian lief auf den alten, vertrauten Pfaden, setzte sich auf
eine Bank, blickte in die Wipfel der Bäume, ging weiter und
wehrte sich vergeblich dagegen, daß ihn das, was er sah, zu
rückverwandelte. Die Säle und Zimmer und Bäume und Bee
te, die ihn umgaben, waren keine Wirklichkeit, sondern Erin
nerungen. Hier hatte er seine Kindheit zurückgelassen, und
nun fand er sie wieder. Sie sank von den Zweigen und Wänden
und Türmen auf ihn herab und bemächtigte sich seiner. Er
schritt immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er
kam zur Kegelbahn, die Kegel standen schußfertig. Fabian sah
sich um, er war allein, da nahm er eine Kugel aus dem Kasten,
holte aus, lief vor und ließ die Kugel über die Bahn rollen. Sie
186 IABIAN
rocks und sagte: »Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für
Sie? Gehen Sie hin und bilden Sie Ihren Charakter, junger
Mensch! Wozu haben wir Geschichte getrieben? Wozu haben
wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre Persönlichkeit ab!«
Auf der Straße traf er Eva Kendler. Sie kam mit zwei Kindern
daher und war ziemlich dick geworden. Er wunderte sich, daß
er sie überhaupt erkannte.
»Jakob!« rief sie und wurde rot. »Du hast dich gar nicht ver
ändert. Sagt dem Onkel Guten Tag!« Die Kinder gaben ihm die
Hand und machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sa
hen ihrer Mutter ähnlicher als sie sich selber.
»Wir sind uns mindestens zehn Jahre nicht begegnet«, sagte
er. »Wie geht’s dir? Wann hast du geheiratet?«
»Mein Mann ist Oberarzt im Carolahaus«, erzählte sie. »Da
kann man keine großen Sprünge machen. Zu einer eigenen
Praxis reicht es nicht. Vielleicht geht er mit Professor Wands-
beck nach Japan. Wenn es sich lohnt, fahre ich mit den Kindern
nach.« Er nickte und betrachtete die beiden kleinen Mädchen.
»Damals war es schöner«, sagte sie leise. »Weißt du noch,
wie meine Eltern verreist waren? Siebzehn Jahre war ich alt.
Wie die Zeit vergeht.« Sie seufzte und strich den kleinen Mäd
chen die Matrosenkragen glatt. »Ehe man recht dazu kommt,
sein eigenes Leben zu haben, trägt man schon wieder Verant
wortung für seine Kinder. Dieses Jahr fahren wir nicht einmal
an die See.«
»Das ist natürlich schrecklich«, meinte er.
»Ja«, sagte sie, »da wollen wir mal gehen. Auf Wiedersehen,
Jakob.« »Auf Wiedersehen.«
»Gebt dem Onkel die Hand!«
Die kleinen Mädchen machten Knickse, drängten sich an die
Mutter und zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch eine Wei
le stehen. Die Vergangenheit bog um die Ecke, mit zwei Kin
»Wie war’s?« fragte die Mutter. Sie standen, nach dem Mittag
essen, im Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus.
»Ich war oben bei den Kasernen. In der Schule war ich auch.
Und dann habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat
sie. Der Mann ist Arzt.«
Die Mutter zählte die Pakete, die sie ins Regal geräumt
hatte. »Die Eva? Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie
war das gleich? Du kamst doch damals zwei Tage nicht nach
Hause.«
»Ihre Eltern waren verreist, und ich mußte einen mehrtägi
gen Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und ich lö
ste meine Aufgabe sehr gewissenhaft und mit wahrhaft sitt
lichem Ernst.«
»Ich war damals in Sorge«, sagte die Mutter.
»Aber ich schickte dir doch eine Depesche!«
»Depeschen sind etwas Unheimliches«, erklärte sie. »Über
eine halbe Stunde saß ich davor und traute mich nicht, sie zu
öffnen.«
Er reichte die Pakete, die Mutter schichtete auf. »Wäre es
nicht besser, wenn du hier eine Stellung suchtest?« fragte sie.
»Gefällt es dir gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die
Wohnstube ziehen. Hier sind auch die Mädchen netter und
nicht so verrückt. Vielleicht findest du doch eine Frau.«
»Ich weiß noch nicht, was ich mache«, sagte er. »Es kann
sein, daß ich hierbleibe. Ich will arbeiten. Ich will mich betäti
gen. Ich will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich
keines finde, erfinde ich eines. So geht es nicht weiter.«
»Zu meiner Zeit gab es das nicht«, behauptete sie. »Da war
Geldverdienen ein Ziel, und Heiraten und Kinderkriegen.«
»Vielleicht gewöhne ich mich daran«, meinte er. »Wie sagst
du immer?«
Sie hielt im Packen inne und sagte mit Nachdruck: »Der
Mensch ist ein Gewohnheitstier.«
188 l-ABI AN
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Pilsner Bier und Patriotismus
Türkisches Biedermeier
Fabian wird gratis behandelt
190 FABIAN
»Flasche Sekt!« rief Wenzkat. »Ist die Lilly noch bei euch?«
»Nein, aber die Lotte. Ihr Hintern ist breit genug für dich.
Nehmt Platz!«
Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und
in türkischem Biedermeier eingerichtet. Die Lampe gab rotes
Licht. Die Wände waren getäfelt und mit ornamentalen Intar
sien und nackten Frauen geschmückt, und zu beiden Seiten zo
gen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich.
»Anscheinend schlechter Geschäftsgang«, sagte Fabian.
»Kein Mensch hat Geld«, erkärte Wenzkat. »Außerdem hat
sich die Branche überlebt.«
Dann traten zwei junge Frauen ins Zimmer und begrüßten
den Stammgast. Fabian saß in einer Ecke und betrachtete die
Szene. Die Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief
»Prost!«, und man trank.
»Lotte«, sagte Wenzkat, »zieht euch aus!«
Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. »Gut«, er
klärte sie und ging mit den anderen aus dem Zimmer. Eine Mi
nute später kamen sie nackt zurück und setzten sich zwischen
die Gäste.
Wenzkat sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf
Lottes Hinterteil. Sie kreischte, küßte ihn und drängte ihn, Be
schwörungen murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwan
den.
Nun saß Fabian mit der Haushälterin und zwei nackten
Frauen am Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. »Ist hier im
mer so wenig los?« fragte er.
»Neulich, zum Sängerfest, waren wir gut besucht«, sagte die
Blondine und spielte nachdenklich mit ihren Brustwarzen.
»Da hatte ich an einem Tag achtzehn Männer. Aber sonst ist es
zum Sterben langweilig.«
»Wie im Kloster«, meinte die kleine Dunkle verloren und
schob sich näher.
»Noch eine Flasche?« fragte die Haushälterin.
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich habe nur ein paar Mark
eingesteckt.«
»Ach Quatsch!« rief die Blondine. »Gustav hat Geld genug.
192 FABIAN
sät. Die Bilder an der Wand waren sehr lächerlich. Ein elektri
scher Ofen erwärmte die Luft. Das Fenster war offen. Drei
blühende Blumenstöcke standen davor.
Die Frau schloß das Fenster, trat zu Fabian, umarmte ihn
und streichelte sein Gesicht.
»Was wolltest du mir denn zeigen?« fragte er. Sie zeigte
nichts. Sie sagte nichts. Sie sah ihn an.
Er klopfte ihr freundlich den Rücken. »Ich habe doch aber
kein Geld«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf, knöpfte ihm die
Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend,
ohne sich zu rühren.
Er zuckte die Achseln, zog den Anzug aus und legte sich zu
ihr. Sie umfing ihn aufatmend. Sie gab sich ganz behutsam hin,
und ihre Augen hingen ernst an seinem Gesicht. Er wurde ver
legen, als habe er eine Jungfer zur Leichtfertigkeit überredet.
Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich ihr Mund, und
sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung.
Hinterher brachte sie Wasser, träufelte aus zwei Flaschen
Chemikalien in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Hand
tuch bereit.
Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabi
an zu und war müde. Sie tranken die Flasche leer und verab
schiedeten sich. Fabian drückte der kleinen Dunkelhaarigen
zwei Zweimarkstücke in die Hand. »Ich habe nicht mehr bei
mir«, sagte er leise. Sie sah ihn ernst an.
Dann gingen alle miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde
wieder laut, er war beschwipst. Plötzlich spürte Fabian eine
Hand in seiner Tasche und fand seine zwei Zweimarkstücke
wieder.
»Hältst du das für möglich?« fragte er den anderen. »Ich
habe der Kleinen ein paar Mark gegeben, und nun hat sie mir
das Geld wieder zugesteckt.«
Wenzkat gähnte laut und sagte: »Wo die Liebe hinfällt. Sie
hat es wahrscheinlich nötig gehabt. Übrigens, Jakob, wenn du
zur Klassenzusammenkunft kommen solltest, daß du nichts
erzählst! Und vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller.« Dann
ging er.
194 I ABI AN
Vierundzwanzigstes Kapitel
Herr Knorr hat Hühneraugen
Die Tagespost braucht tüchtige Leute
Lernt schwimmen!
Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro
von Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht.
Fabian fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten
zu vergeben hätte.
»Geh doch mal zu Holzapfel«, meinte Wenzkat. »Der ist in
der >Tagespost<.«
»Was treibt er denn dort?«
»Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Musik
kritiken. Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag
abend. Auf Wiedersehen.«
Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die
Altstadt zu Holzapfel, der sei bei der »Tagespost« Redakteur.
Vielleicht könne ihm der behilflich sein. Die Mutter stand im
Laden und wartete auf Kunden. »Das wäre sehr schön, mein
Junge«, sagte sie. »Geh mit Gott!«
Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve,
mit einem baumlangen Herrn. Sie sahen einander mißgelaunt
an. »Wir kennen uns doch«, meinte der Herr und streckte die
Hand hin. Es war ein gewisser Knorr, ehemaliger Oberleut
nant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener Einjährigen-
Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die
Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge
er von Tod und Teufel Tantieme.
»Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg«, sagte Fabian,
»oder ich spuck Ihnen drauf.«
Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstge
meinten Rat und lachte betreten. Denn sie waren nicht allein
auf der Plattform.
»Was hab ich Ihnen denn getan?« fragte er, obwohl er das
wußte.
»Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine
196 FABIAN
te der Direktor. »Sie haben Literaturgeschichte studiert? Au
genblicklich ist keine Stellung frei. Doch das besagt nichts.
Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer brau
chen. Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache
Sie mit dem Feuilletonchef bekannt. Wenn der Ihre Beiträge
ablehnt, haben Sie Pech gehabt. Sonst sind Sie mir als externer
Mitarbeiter willkommen.« Er wollte auf die Klingel drücken.
»Einen Moment, Herr Direktor«, sagte Fabian. »Ich danke
Ihnen für die Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist
arbeiten. Man könnte beispielsweise eine Beratungsstelle für
Inserenten einrichten, der Kundschaft zugkräftige Texte Vor
schlägen und eventuell ganze Werbefeldzüge organisieren. Man
könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und syste
matische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in
Kompagnie mit Großinserenten, lohnende Preisausschreiben
durchführen. Man könnte für die Abonnenten Boxabende und
ähnliche Volksfeste veranstalten.«
Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Unsere
Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden.«
»Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!«
»Nicht mit Hilfe von Fisimatenten«, erklärte der Direktor.
»Immerhin, ich werde mit unserem Insertionschef sprechen.
In bescheidener Dosierung sollte man vielleicht doch Maß
nahmen ergreifen, denen wir uns auf die Dauer nicht völlig
werden entziehen können. Kommen Sie morgen um elf wieder.
Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten
mit. Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager ha
ben.«
Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Inter
esse.
»Wenn wir Sie engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten
Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heu
te sehr viel Geld.«
»Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig.
»Nein«, sagte der Direktor, »für die Aktionäre.«
198 r A B 1A N
Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo
sollte er zupacken, und mit wem sollte er sich verbünden? Er
wollte in die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her
zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und de
nen, die ihm glichen.
Er trat aus dem Cafe. Aber war das nicht Flucht, was er vor
hatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit
und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Viel
leicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und
geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im
Welttheater?
Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt
sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Ver
schiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen
Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andre Frauen her
umlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man,
temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal
Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu er
wähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Be
merkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schwein
igel.
Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!
Durch Erfahrungen am eignen Leibe und durch sonstige
Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daß die Erotik in sei
nem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte. Nicht,
weil er das Leben fotografieren wollte, denn das wollte und tat
er nicht. Aber ihm lag außerordentlich daran, die Proportionen
des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein Respekt vor dieser
Aufgabe war möglicherweise ausgeprägter als sein Zartgefühl.
Er findet das in Ordnung. Die Sittenrichter, die männlichen,
weiblichen und sächlichen, sind wieder einmal sehr betriebsam
geworden. Sie rennen, zahllos wie die Gerichtsvollzieher, durch
die Gegend und kleben, psychoanalytisch geschult, wie sie
sind, ihre Feigenblätter über jedes Schlüsselloch und auf jeden
Spazierstock. Doch sie stolpern nicht nur über die sekundären
Geschlechtsmerkmale. Sie werden dem Autor nicht nur vor
werfen, er sei ein Pornograph. Sie werden auch behaupten, er
sei ein Pessimist, und das gilt bei den Sittenrichtern sämtlicher
Parteien und Reichsverbände für das Ärgste, was man einem
Menschen nachsagen kann.
Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat.
Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, um so mehr suchen
sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt,
was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon gibt, und
weil ihnen das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit
200 FABIAN
längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde,
fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten
der Phantasie, die Schriftsteller? Der Autor erwidert hierauf:
Ich bin ein Moralist!
Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht,
daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen,
einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtli
che Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe anderer
vor ihm und außer ihm: Achtung! Beim Absturz linke Hand
am linken Griff!
Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar je
der höchstselber, nicht immer nur der andere) und wenn sie es
nicht vorziehen, endlich vorwärts zu marschieren, vom Ab
grund fort, der Vernunft entgegen, wo, um alles in der Welt, ist
dann noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der ein
anständiger Kerl ebenso aufrichtig schwören kann wie beim
Haupt seiner Mutter?
Der Autor liebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit. Er
hat mit der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand ge
schildert, und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahr
heit, eine Meinung dargestellt. Darum sollten sich die Sitten
richter, ehe sie sein Buch im Primäraffekt erdolchen, dessen er
innern, was er hier wiederholt versicherte.
Er sagte, er sei ein Moralist.
202 I ABIAN
ans falsche Ziel. Weil es viele Möglichkeiten gibt, und nur eine
davon kann Tatsache werden, verwirklicht sich das Unwahr
scheinliche. Die Vernunft ging ins Exil. Der verworrene Zu
stand und der ratlose Mensch blieben übrig. Wie ließ sich bei
des am treffendsten auf den Leser übertragen? Wie konnte es,
wenn überhaupt, gelingen, den Leser so zu mobilisieren, daß
er nach der Lektüre womöglich aufsprang und auf den Tisch
schlug und ausrief: Dieser Zustand muß anders werden!
Das Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen
Aufbau und keine sinngemäß verteilten Akzente und keinen
befriedigenden Schluß.
Man vermutet richtig, ob man es nun für richtig hält oder
nicht: Es war so die Absicht!
Fabian stellte sich vor dem Chef auf. »Sie wollen mir eine Ge
haltszulage aufdrängen?«
»Machen Sie keine Witze. Der Arzt hat mir das Lachen ver
boten, weil sonst die Narbe platzen könnte.«
Fischer fand, die Gelegenheit sei günstig. Er kam näher und
erkundigte sich nach dem Befinden.
»Die Geschichte heilt sehr schwer«, bemerkte der Direktor
gemessen. »Das liegt am Bauch, lieber Fischer. Seien Sie froh,
daß Sie keinen Bauch haben. Sie mit Ihrer Konstitution kön
nen einer Blinddarmentzündung gefaßt ins Auge sehen.«
Fischer lachte geschmeichelt. Breitkopf wurde rege. Die
Wunde sei noch immer nicht geheilt. Täglich müsse er zum
Arzt. Der Schnitt reiche von hier bis da. Er zeigte die Entfer
nung auf der Weste. Und dann fragte er die beiden: »Wollen Sie
sich die Sache mal ansehen?«
Fischer dienerte. Fabian machte eine einladende Handbe
wegung. Breitkopf ging zur Tür und schob den Riegel vor.
Dann zog er Jackett und Weste aus, warf sie aufs Sofa, streifte
die Hosenträger ab, ließ die Hosen herunter und knöpfte die
Unterhosen auf. »Sie wissen ja ungefähr, wie ein Mann aus
sieht«, sagte er, hob das Hemd hoch und klemmte es unters
Kinn.
»Sie haben ein Korsett an, Herr Direktor!« rief Kollege Fi
scher.
»Das trage ich nur, damit der Leib zusammengehalten wird.
Sonst hängt er herunter, und dann wäre die Heilung noch
schwieriger als jetzt. Los, haken Sie mal die Ösen auf! Aber
vorsichtig!«
Fischer waltete seines Amtes. Das Korsett lockerte sich.
Breitkopf nahm es fort, schmiß es zu Jackett und Weste und er
klärte befehlend: »Nun sehen Sie sich mal die Schweinerei an!«
Die Bezeichnung war nicht unzutreffend. Quer über Breit
kopfs Bauch, auf der südlichen Hälfte und dem Inhaber nicht
sichtbar, klebten Wattebäusche und ein vergilbter Gazestrei
Karl verriegelte die Tür seines Zimmers. Dann sah er sich um.
Was blieb zu tun? Draußen regnete es unaufhörlich, und die
Scheiben zitterten. Wer heute aus dem Fenster springen woll
te, durfte den Schirm nicht vergessen. Karl ergriff die Wasser
karaffe, trat zu seinen Topfblumen und begoß sie. Die weiße
Azalee, die Dutzende schneeweißer Blüten trug, schluckte das
Wasser wie ein dürstender Mund. Nun war die Karaffe leer.
Karl stellte sie aufs Fensterbrett, nickte den Blumen zu und
setzte sich auf das dunkelrote Plüschsofa. Auf der gehäkelten
Tischdecke lagen einige Briefe. Die Wirtin würde sie morgen
in den Briefkasten werfen.
In diesem Augenblick klopfte es. Es klopfte dreimal. »Wer
ist da?« fragte Karl.
»Maximilian Seidel«, antwortete eine tiefe, schwerfällige
Stimme. »Ich bin Weinreisender und habe Ihnen ein Angebot
zu machen.«
»Kommen Sie ein ander Mal!«
»Ein ander Mal ist es zu spät«, erwiderte die tiefe, schwer
fällige Stimme. »Ich muß Sie sprechen.«
»Scheren Sie sich fort!«
»Nein«, sagte die Stimme, und die verriegelte Tür öffnete
sich. Ein großer, bauchiger Mann trat ins Zimmer. Er schaute
sich suchend um, nahm den Hut ab und erklärte: »Hübsch ha
ben Sie’s hier!« Dann setzte er sich umständlich in einen der
dunkelroten Plüschsessel und legte eine Ledermappe auf den
Tisch. Den Hut schob er auf die Mappe.
»Was wollen Sie?« fragte Karl. »Ich bin nicht gewöhnt, mich
mit Menschen zu unterhalten, vor denen verriegelte Türen auf
springen.«
Der andere schien nicht zuzuhören. Nachdenklich, beinahe
traurig, betrachtete er ein Glas Wasser, das mitten auf dem
Tisch stand, holte asthmatisch Luft, lächelte langsam und sag
te: »Die Sache ist die - Gott schickt mich zu Ihnen.«
Ein Fragment
Erstes Kapitel
ZWEITES KAPITEL M3
Der Fremde fuhr nach einer Pause, anscheinend über sich
selber belustigt, fort: »Manchmal ist es ungleich schwerer, zu
bekennen, wer man ist, als zu erklären, wer man nicht ist!« Er
nagte an der Unterlippe und blickte nachdenklich in den stahl
blauen Himmel, der sich über der tiefverschneiten, glitzern
den Landschaft wolkenlos heiter ausspannte. In diesem Au
genblick fuhr der Zug in einen Berg hinein. Die Lampe an der
Decke des Abteils glomm auf. Die Tunnelwände glänzten vor
Nässe.
Stumm saßen die beiden Männer einander im Halbdunkel
gegenüber. Der Fremde hatte den Kopf gesenkt und starrte auf
seine Schuhe.
Allmählich verfärbte sich die künstliche Dämmerung, bis
dann, am Ausgang des Tunnels, die Sonne wieder, und nun mit
noch mehr Gewalt, über die Erde herfiel.
Mintzlaff schloß geblendet die Augen. Hinter seinen Lidern
kreisten funkelnde Transmissionen, und goldene Garben stie
gen wie bei einem phantastischen Feuerwerk empor.
»Sehen Sie den einsamen Baum?« fragte der andere.
Mintzlaff öffnete die Augen halb und blinzelte zum Fenster
hinaus. Der Zug fuhr soeben in einer weiten Schleife um eine
weiße Bergkuppe herum, auf deren höchstem Punkt eine riesi
ge Tanne stand. »Menschen sind nicht in der Nähe«, sagte der
falsche Baron so leise, als spreche er mit sich selber. »Man kann
es wohl riskieren.« Lauter fügte er hinzu: »Schenken Sie dem
Baum, bitte, eine Minute lang Ihre Aufmerksamkeit!«
Mintzlaff faßte die Tanne fest ins Auge.
Plötzlich war ihm, als zucke ein greller Blitz aus dem
wolkenlosen Himmel zur Erde nieder. Konnte das möglich
sein?
Und da! Der Tannenwipfel wankte, als komme Sturm auf.
Schneewolken stoben aus den Zweigen. Der Riesenbaum neig
te sich zur Seite. Die Verbeugung wurde immer tiefer. Und
dann fiel er schließlich, als werde er von unsichtbaren Wald
arbeitern gefällt, langsam und lautlos in das weiße Feld. Der
Schnee stieg wie brauender Nebel hoch und sank wie eine
Fontäne, die abgedreht worden ist, zur Erde zurück.
ZWEITES KAPITEL
sich sofort und unangekündigt in Davos einzufinden. Habe ich
recht?«
»Wozu fragen Sie noch?« Mintzlaff zögerte. »Stammte die
Depesche etwa von Ihnen?«
»Ich kenne Sie doch erst seit gestern. Wie hätte ich Ihnen
denn, Tage zuvor, telegrafieren können?«
»Mich nähme auch das nicht wunder«, sagte Mintzlaff. »Und
nun, wenn Sie gestatten, eine weitere Frage: Auf welchem un
gewöhnlichen Wege verschafften Sie sich Einblick in mein Pri
vatleben? Ich muß bekennen, daß es mich nachgerade eher be
ruhigen als noch mehr beunruhigen würde, wenn ich nun end
lich erführe, mit wem ich das Vergnügen habe! Sie verbieten
einer Kupeetür der Schweizer Bundesbahn, sich zu öffnen. Sie
zeigen mir einen Baum und fällen ihn, indem Sie ihn im Vor
überfahren anschauen. Sie kennen, obwohl ich Ihnen erst ge
stern über den Weg gelaufen bin, meinen Lebensweg, als hätten
Sie seit Monaten ein Dutzend Detektive hinter mir hergejagt!
Gestern noch hielt ich Sie für einen Mann mit ungewöhnlichen
Fähigkeiten, aber heute ...«
Der Herr, der nicht Baron Lamotte hieß, beugte sich ver
bindlich vor. »Aber heute?«
»Aber heute glaube ich das nicht mehr. Sondern ich bin,
höchst widerwillig, zu einer Überzeugung gelangt, die sich mit
meiner Weltanschauung leider nicht vereinen läßt.« Mintzlaff
blickte dem anderen beinahe finster ins Gesicht und sah, daß
sich dessen Pupillen eng zusammengezogen hatten. »Es liegt
mir fern, Sie zu beleidigen. Trotzdem muß ich folgendes be
haupten: Herr Baron, Sie sind kein ungewöhnlicher Mensch -
Sie sind, so unsinnig das klingen mag, überhaupt kein Mensch!«
Lamotte sagte: »Auch das vorurteilsfreie Denken bringt
Vorurteile mit sich. Wer das nicht weiß, ist übel dran. Also, Sie
halten auf Grund einiger sonderbarer, aus dem Rahmen fallen
der Wahrnehmungen für möglich, daß ich, trotz meines
menschlichen Äußeren, gar kein Mensch bin. Sie werden sich,
will mir scheinen, genötigt sehen, einen Schritt weiterzugehen.«
Mintzlaff nickte traurig. »Ich werde wohl müssen. Denn es
ist nicht meine Art, mich übermäßig lange bei negativen Fest
Mittwoch! Mittwoch!
Auf Einladung der Kunstgesellschaft
und des Verkehrsvereins Davos findet
im Großen Saal des Kurhauses
ein einmaliger Vortrag des bekannten Kunstgelehrten
Prof. Dr. Alfons Mintzlaff statt.
Das Thema des Vortrags lautet
>DER HUMOR ALS WELTANSCHAUUNG«
Anschließend Diskussion!
Kartenverkauf in den Geschäftsstellen
der veranstaltenden Vereine.
Beginn des Vortrags 9 Uhr abends
Mittwoch! Mittwoch!
Mintzlaff rieb sich die Augen und trat einen Schritt näher.
Dann las er das Plakat, das ihn so in Erstaunen gesetzt hatte,
noch einmal. Darnach sagte er nur: »Das verstehe, wer will.«
Der Baron führte den Fassungslosen die Stufen zum Kur
hauscafe hinauf, schob ihn durch die Tür, half ihm sogar aus
dem Mantel und drückte ihn in einen Stuhl.
Nachdem er zwei Hennessy bestellt hatte, sagte er: »So, und
nun erleichtern Sie Ihr vom Donner gerührtes Gemüt!«
DER ZAUBERLEHRLING
tisch abgelegene Täler, frühstückt dort in Sonne und Schnee
und fotografiert mich nach Herzenslust. Wenn ich allein sein
will, um in Ruhe nachzudenken, kann ich, mit Freifahrkarten
ausgestattet, die Drahtseilbahnen benützen und von dort aus
einsame Skitouren unternehmen.«
»Was wollen Sie mehr?« fragte der Baron. »Die Leute geben
sich doch wirklich alle erdenkliche Mühe.«
»Abends bin ich sehr viel eingeladen. Denn die gebildeten
Kreise hierorts sind künstlerisch ungewöhnlich interessiert.
Und außerdem gelte ich als guter Gesellschafter.«
»Welch angenehme Überraschung!« sagte der Baron. »Und
was gedenken Sie nun zu tun?«
»Genau weiß ich das noch nicht. Aber wenn mich nicht al
les trügt, gedenke ich auf der Stelle ins Grandhotel zu gehen,
um mir dort selber einen Besuch abzustatten und bei dieser
Gelegenheit eins hinter die Ohren zu hauen!«
»Das dürfen Sie nicht! Gerade Sie dürfen das nicht!«
»Weshalb nicht?«
»Weil Sie, als berufener Erforscher der Komik, des Witzes
und des Humors, die verdammte Pflicht und Schuldigkeit ha
ben, über der Situation zu stehen.«
»Sie verlangen ein bißchen viel von mir!« Mintzlaff schlug
mit dem Zeigefinger mehrmals auf die Tischkante. »Sie müssen
wissen ...«
»Daß Sie, weil Sie vom Davoser Verkehrsverein eingeladen
worden sind, nur wenig Geld bei sich haben.« Der Baron
klopfte dem anderen auf die Schulter. »Wenn Sie jetzt zum
Verkehrsverein stürzen und den Direktor aufklärten, verdür
ben Sie sich selber und auch mir den Spaß. Stellen Sie sich doch
vor, wie lustig das sein wird, wenn wir am Mittwoch, hier im
Kurhaus, oben im Großen Saal, unter den Zuschauern sitzen
und den lichtvollen Ausführungen Ihres anderen Ichs lauschen
werden!«
»Aber ...«
»Es gibt kein Aber«, erklärte Lamotte kategorisch. »Da
ich ein Zauberer bin, spielt Geld keine Rolle. Sie können
sich im nobelsten Hotel einquartieren - ich hexe Ihnen je
Der Baron, der kein Baron war, hatte es sich nicht nehmen las
sen, Mintzlaff, der nun Jennewein hieß, in ein ruhiges Hotel,
das vorwiegend von Engländern und Engländerinnen bewohnt
schien, zu begleiten und dort in einem netten Zimmer unter
zubringen, zu dem eine geräumige Südloggia und ein Bad ge
hörten.
Dann erst hatten sich die Herren getrennt, nicht ohne sich
für später in der Bar des Hotels, das zu Ehren der langlebigen
englischen Königin »Hotel Victoria« hieß, verabredet zu haben.
Nachdem Lamotte seinen Schützling hinreichend versorgt
wußte, war er mit einem Pferdeschlitten davongefahren. Nä
heres hatte er nicht mitgeteilt, und Mintzlaff hatte nicht weiter
gefragt; denn seine Neugier war vorläufig besänftigt. Die Rät
sel der letzten Tage und Stunden beschäftigten ihn vollauf.
Außerdem mußte er die Koffer auspacken, den Smoking
zum Bügeln geben, dem Schweizer Stubenmädchen klarma
chen, daß er erstaunlicherweise kein Angelsachse sei, und ba
den mußte er auch. Schließlich erwuchs ihm die keineswegs
leichte Aufgabe, den Anmeldezettel auszufüllen. So schwer es
ihm ein Leben lang gefallen war, sich mit dem Namen Mintz
laff abzufinden, so viel Mühe machte es nun wieder, plötzlich
anders zu heißen.
Endlich war das Formular vollgelogen.
Er war nun also ein Dr. phil. Ludwig Jennewein, von Beruf
Verlagsbuchhändler, in Leipzig wohnhaft. Er nahm sich noch
vor, falls das Gespräch gelegentlich auf den Zweck seiner Rei
se kommen sollte, beiläufig zu erklären, daß er Davos besuche,
um, wenn möglich, neues Material über Robert Louis Steven
son zu sammeln, dessen bündige Biographie herauszugeben
ihn seit langem beschäftige.
Stevenson war, das wußte Mintzlaff, in den achtziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts wiederholt in Davos gewesen, hatte
hier, hoch oben im Gebirge, Heilung gesucht und »The Sil-
verado Squatters« zu schreiben begonnen. Daß ein gründlicher
VIERTES KAPITEL
Verleger nach Davos kam, um Ermittlungen anzustellen, moch
te durchaus plausibel erscheinen.
Als er später, auf dem Weg zum Speisesaal, von dem freund
lichen Hotelier begrüßt wurde, brachte er kurz entschlossen
die Sprache auf die angebliche Absicht seiner Reise.
Kaum daß ihm vom Oberkellner ein kleiner Tisch angewie
sen worden war, tauchte der Herr des Hauses von neuem auf
und legte ihm strahlend ein Buch neben den Suppenteller. Das
Buch hieß: »Robert Louis Stevenson at Davos< und stammte
von einem Mann namens Lockett, der über dreißig Jahre in
Davos als englischer Konsul gelebt hatte.
Mintzlaff tat natürlich so, als ob er diese Quelle längst ken
ne, versprach aber, gelegentlich darin zu blättern.
Das besorgte er dann auch schleunigst, und zwar während
der ganzen Mahlzeit. Denn wenn er schon für einen Kenner
Stevensons gelten wollte, konnte ihm eine solche Lektüre nur
nützlich sein.
Er blätterte noch darin, als er in der Bar saß und auf Lamot
te wartete.
Die englischen Gäste - die meisten in Abendkleidern, ande
re noch im Sportdreß - tranken Whisky und warfen mit spit
zen Metallbolzen nach einer an der Wand hängenden hölzer
nen Scheibe. Das Spiel schien, so einfach es aussah, nicht ganz
leicht zu sein.
Die Gattin und der Sohn des Hoteliers kamen, um zu fra
gen, ob Herr Doktor Jennewein an der Tischtenniskonkurrenz
des Hotels teilnehmen wolle. Nachmeldungen würden noch
angenommen. Seiner Versicherung, daß er für einen Wettbe
werb zu schlecht spiele, wurde wenig Glauben geschenkt. Sie
erkundigten sich anschließend höflich nach den sonstigen
sportlichen Absichten des neuen Gastes.
Als er ihnen erklärt hatte, daß er wegen eines organischen
Herzleidens nicht skifahren, höchstens eislaufen dürfe und
sich am ehesten darauf freue, allein durch verschneite Wälder
zu spazieren oder irgendwo in der Sonne zu liegen, maßen sie
seine große, kräftige Gestalt mit unverhohlener Anteilnahme.
Nun verstanden sie wohl, daß er Bücher verlegte.
Der Traum hatte ihn in eine weite, karg bewachsene Ebene ent
führt. Mitten in dieser Ebene weidete eine große Schafherde,
und neben der Herde stand ein schwarzlockiger, antik gewan
deter Hirt. Er hatte beide Hände auf einen hohen Krummstab
gestützt und blickte in ruhiger Melancholie über die grauwol
lige Welle der grasenden Tiere hin.
Von fern dröhnte die Erde.
Am Horizont tauchte ein Reiter auf und näherte sich in ei
ner wallenden Staubwolke.
Der Hirt blickte hoch. Schützend legte er eine Hand über
die Augen.
Es war kein Reiter. Es war ein Kentaur!
Er sprengte in gestrecktem Galopp auf die Herde zu, pa
rierte sich scharf durch und stand. Merkwürdigerweise trug er
auf dem Bronzeschädel eine schöne blaue Postmütze; und quer
über den nackten, zottigen Oberkörper spannte sich ein roter
Ledergurt, an dem eine rote Tasche hing. Es war offensichtlich
eine Depeschentasche.
»Ist das der richtige Weg zum Olymp?« fragte der atemlo
se, nervös mit den Hufen stampfende Kentaur.
Der Hirt hob wortlos den Krummstab und zeigte auf einen
Hallo und Mintzlaff waren aus dem Kurhaus in eine Bar über
siedelt, die >Chez nous< hieß und in der eine aus Negern und
Mulatten bestehende Tanzkapelle am Werke war. Der Geiger
benutzte als Fiedelbogen einen mit Wollfäden umwickelten
Kleiderbügel.
Im >Chez nous< saßen vorwiegend Angelsachsen. Man sagt
ihnen bekanntlich nach, daß sie wegen des nebligen Klimas ih
rer Heimat, also aus Gesundheitsrücksichten, viel Alkohol
trinken müssen. Auch hier oben, fern vom Inselnebel, betrie
ben sie ihre traditionelle Vorsorge mit Bewunderung abnöti
gender Gewissenhaftigkeit.
Die Trinkpausen benutzten sie zum Tanzen. Manche von ih
nen, auch weibliche Vertreter Albions, hatten die übermensch
liche Fähigkeit, bis weit nach Mitternacht energisch gegen die
bedenklichen Folgen des heimatlichen Nebels anzukämpfen
und dennoch früh um acht wie ausgeruhte Teufel vom Weiß
fluhjoch nach Küblis abzufahren. Es war wohl Übungssache.
Das Wort »Training« ist nicht zufällig englischen Ursprungs.
Hallo und Mintzlaff tanzten natürlich auch. Sie hatten seit
Jahren die liebe Gewohnheit, immer wieder unübliche Schrit
ZEHNTES KAPITEL 3”
Art hatte, banale Wahrheiten knapp und doch blumig auszu
drücken.«
»Aha, wieder eine deiner dreisten Erfindungen!«
»Du sagst es, großer Häuptling. Meine neueste Schöpfung.«
»Kennst du noch andere seiner Aussprüche?«
»Aber Alfons! Ich bin doch die einzige Expertin! Ich besit
ze sogar einige seiner in parsischer Stenographie geschriebenen
Manuskripte! Von ihm stammt auch der fundamentale Satz:
Wenn es keine hohen Berge gäbe, gäbe es keine tiefen Täler!«
»Ein offener Kopf, dein Kaschmirutti.«
Hallo nickte seriös. Aber weitere Lebensweisheiten des ste
nographierenden Parsen konnte sie nicht mehr vorbringen.
Denn auf dem Podium erschien der Vorsitzende der Davoser
Kunstvereinigung.
Man setzte sich. Stühle wurden gerückt. Man hustete. Ganz
allmählich wurde es stilF.
Mintzlaff blickte bedauernd auf den leeren Stuhl zu seiner
Linken.
»Dein Baron wird schon noch kommen«, murmelte Hallo.
»Alfons, bist auch du so aufgeregt?«
Zärtlich drückte er ihre Hand.
Und dann begann der Vorsitzende der Kunstvereinigung die
Begrüßungsworte abzuwickeln. Der Mann hatte ein barsches
Gesicht mit einem buschigen Schnurrbart.
Es sei eine Freude - so behauptete er -, zu sehen, welches
Interesse die Veranstaltungen der Kunstvereinigung fänden.
Sogar der Vortrag eines im Trubel der heutigen Welt denkbar
überflüssigen Menschen, eines Kunsttheoretikers, habe den Saal
gefüllt. Das bereite ihm eine besondere Genugtuung. Denn
einem internationalen Publikum vom Humor zu sprechen, er
scheine ihm, dem Mediziner, keineswegs überflüssig. Die
Menschheit habe den Humor, diese vitaminreichste Frucht der
Heiterkeit, bitter nötig. Vielleicht seien sogar theoretische
Erörterungen brauchbar, den Sinn für Humor bei Anfängern
zu wecken und bei Fortgeschrittenen zu pflegen. Er hoffe es je
denfalls von Herzen und erteile nunmehr Herrn Professor
Mintzlaff das Wort. Mintzlaff wollte sich, als er seinen Namen
ZEHNTES KAPITEL 3U
generationen zur Perspektive verschieden verhielten. In man
chen Kunstepochen wurde die Wirklichkeit so darzustellen
versucht, wie sie ist. Das bedeutet, um bei unserer eben er
wähnten Allee zu bleiben: alle Bäume waren gleich groß. In an
deren Zeiten wurde dagegen die Wirklichkeit so abgebildet,
wie sie vom Standpunkt des Betrachters aus erscheint, und das
heißt: die Bäume im Vordergrund waren groß, die am Hori
zont jedoch klein. Nun kann man auch heute noch die Mei
nung hören, das perspektivische Malen sei ein Zeichen künst
lerischen Fortschritts. Demnach wäre die unperspektivische
Malweise die Folge einer noch unentwickelten Sehweise. Denn
niemand wird mir einreden können, daß ein Maler, der per
spektivisch sieht, nicht imstande sei, die Gegenstände des Bild
vordergrunds größer darzustellen als die im Hintergrund! Das
perspektivische Sehen mag ein in prähistorischen Zeiten lang
sam errungener Fortschritt des Menschen sein. Und vielleicht
teilte der Zeitgenosse der Saurier noch nicht die Auffassung
des Alleebaums im Epigramm eines meiner Freunde, das »Mit
leid und Perspektive oder die Ansichten eines Baumes* über
schrieben ist und folgendermaßen lautet:
ZEHNTES KAPITEL
ausgesprochen konkreten Weg wählen, der Sie dem Wesen des
Humors zuführen soll.«
Seine Stimme hatte sich wieder gesenkt und klang nun nie
derträchtig salbungsvoll. Er hob sich auf die Zehenspitzen und
beugte sich weit vor. »Beispiele für Humor«, sagte er, »sind
schwer beizubringen, da sich der Humor, so wie er verstanden
sein will, nicht in der Anekdote, der Replik oder der Situation
darstellt. Insofern ist der Humor beispiellos. Da ich nun aber
genötigt bin, mit Beispielen zu arbeiten, werde ich von ande
ren Kategorien der Heiterkeit ausgehen. Vielleicht gelingt es
mir, Ihnen durch Beispiele, die nichts mit Humor zu tun ha
ben, näherungsweise klarzumachen, inwiefern sie das Komi
sche, das Satirische oder das Witzige exemplarisch vertreten
und, von hier aus, wie im Gegensatz dazu der Humor wesent
lich beschaffen ist. Doch ich verliere mich schon wieder in für
nicht alle Anwesenden verständliche Abstraktionen.«
Hallo fragte leise: »Soll ich ein Pfund faule Äpfel besorgen?«
»Zu spät«, flüsterte Mintzlaff. »Die Geschäfte haben schon
geschlossen.«
»Oder soll ich ihm das Monokel aus dem Auge spucken?«
»Sei schön brav!« mahnte Mintzlaff.
»Das erste Beispiel, das ich Ihnen geben will, betrifft das
spezifisch Komische«, sagte der falsche Professor. »Stellen Sie
sich, bitte, folgendes vor: Morgen früh würde Ihnen, die Sie
samt und sonders unterwegs sein werden, um in Sonne und
Schnee Sport zu treiben, auf der Straße ein verlegen drein
blickender Herr in Smoking und Lackschuhen begegnen!«
Durch Mintzlaff ging ein Ruck.
»Wenn dieser Herr am hellen Morgen in Smoking und
Lackschuhen absichtlich über die sonnenbeschienenen Stra
ßen von Davos spazierte, wäre er vielleicht ein Narr, und so
mit hätte die Situation gar nichts Komisches an sich.«
Hallo krampfte die Hände ineinander. Ihr frisches, lustiges
Gesicht war blaß geworden.
»Doch wenn der Herr in der Nacht vorher, sagen wir, ver
sehentlich in ein falsches Hotel gegangen und dort in einem
fremden Zimmer, wiederum aus Versehen, eingeschlafen wäre,
Vorhin klingelte der Postbote und brachte den Brief. Und nun,
nachdem ich, ein bißchen verlegen, gelesen habe, was ich mir
gestern nacht schrieb, muß ich mir recht geben. Ich sollte wirk
lich mehr Umgang haben, mindestens mit mir, und wenigstens
schriftlich!
Es tut wohl, von jemandem, dem man nahesteht, Briefe zu
erhalten. Und, zum Donnerwetter, ich stehe mir doch nahe?
Oder bin sogar ich mir selber fremd geworden? Mitunter habe
ich dieses Gefühl. Dann wird mir unheimlich zumute, und es
hilft nichts, daß ich vor den Spiegel draußen im Flur hintrete
und mir eine kleine Verbeugung mache. »Gestatten, Kästner«,
sagt der Spiegelmensch. Mein rechtes Auge lächelt aus seiner
linken Augenhöhle. Es ist zuweilen nicht ganz einfach, gute
Miene zu bewahren.
Ich werde mich wieder mit mir befreunden müssen. Wenn
es nicht anders geht, meinetwegen auf brieflichem Wege.
Schlimmstenfalls erhöhe ich bloß den Markenumsatz der
Reichspost. Ich will nicht vergessen, stets einen Briefumschlag
mit getippter Anschrift bei mir zu tragen. Es wäre doch recht
fatal, wenn die Sekretärin dahinterkäme, daß ich mir selber
schreibe.
Es läßt sich zwar kaum vermeiden, daß Schriftsteller etwas
verrückt sind. Aber die meisten sind noch stolz darauf und tra
gen ihren Spleen im Knopfloch. Diese Leute sind mir zuwider.
Man hat die verdammte Pflicht, sich nicht gehen zu lassen.
Kollegen, denen die Schöpfung einen sogenannten Künstler
kopf beschert hat, tun mir leid, weil sie ihn nicht umtauschen
können; und ich wundere mich immer wieder, daß sie, statt
sich ihrer auffälligen Gesichter insgeheim zu schämen, sie eitel
zur Schau tragen, wie Barfrauen ein gewagtes Dekollete.
PS. Vergiß nicht, der Sekretärin aufzutragen, daß sie ein paar
Blumen besorgt und auf Deinen Schreibtisch stellt! Ich weiß,
wie sehr Du es liebst, über Flieder oder Tulpen hinweg auf die
verschneiten Dächer zu blicken.
Ja, und an dem braunen Jackett fehlt ein Knopf. Du hast ihn
in die rechte Außentasche gesteckt. Die Aufwartung soll ihn
sofort annähen.
Übrigens: daß eine Aufwartefrau auch eine »Aufwartung«
genannt wird, ist recht bezeichnend. Das Verbalsubstantiv, das
die im Zeitwort enthaltene Handlung ausdrückt, genügt of
fensichtlich, da man eine solche Angestellte, unbeschadet ihrer
weiblichen Eigenschaften, zwar als eine personifizierte Tätig
keit, dagegen als Frau eigentlich gar nicht zur Kenntnis nimmt.
Gute Nacht, mein Junge!
Das, was ich erzählen will, erlebte ich vor zwei Jahren wäh
rend eines Winteraufenthaltes in einem großen Gebirgshotel.
Seitdem ist viel Neuschnee über die Sache gewachsen. Ich traue
mich langsam mit der Sprache heraus.
Ich begegnete dort einem Mann - er mochte Anfang der
Vierzig sein -, von dem die jungen Mädchen und die jungen
Frauen behaupteten, sie seien ihm »verfallen«. Sie hatten die
verschiedensten Charaktere, Haarfarben, Erfahrungen und Fi
guren, und sie waren verschieden klug, verschieden alt, ver
schieden gebildet. Aber darin stimmten sie überein: sie seien
ihm, wenn er nur wolle, ausgeliefert. Und es war deutlich zu
sehen, daß er meistens wollte. Er hatte Sinn für Vollständigkeit,
und wenn er durch die Hotelhalle ging, glaubte man, alle Frau
enherzen schlagen zu hören.
Die Männer waren, soweit sie ihren Aufenthalt mit kleinen
Abenteuern auszuschmücken suchten, in bedauerlicher Lage.
Es befand sich, das fühlten sie schnell heraus, einer in ihrer
Mitte, der ihnen, noch dazu auf geheimnisvolle Art, überlegen
war. Was da vor sich ging, grenzte an unlauteren Wettbewerb.
Und es gab keine Instanz, vor der sie hätten Beschwerde füh
ren dürfen. Die Situation war eigentlich zu unheimlich, um ko
misch genannt zu werden. Und doch war es für den neutralen
Beobachter erheiternd, zu sehen, wie Angst und Erwartung
wuchsen, sobald der Mann auftauchte, und wie sich Angst und
Erwartung mit ihm durch den Saal bewegten.
Man darf mir glauben, daß ich nicht ohne weiteres gesonnen
war, den Zauber, von dem die Frauen und Mädchen benom
men flüsterten, als erwiesen hinzunehmen. Ich wagte denen
gegenüber, die mich ein wenig zu ihrem Vertrauten gemacht
hatten, Zweifel zu äußern. Es ist ja ausreichend bekannt, daß
die Besucherinnen winterlicher Sporthotels nicht eigentlich
mit ausgesprochen klösterlichen Plänen ins Gebirge geraten.
Und ich ließ mir, nahezu über die Grenzen der Höflichkeit
hinaus, anmerken, daß ich in dieser Richtung Verdacht hegte.
Eines Tages war eine der mir bekannten Damen sehr vergnügt.
Sie erzählte, eine ihrer Freundinnen werde am Nachmittag ein
treffen, und zwar handle es sich um eine ungewöhnlich selbst
sichere und schlagfertige Person. Daß auch sie dem Don Juan
unterliegen werde, sei wohl ausgeschlossen. Die ungewöhnli
che Person erschien. Der Mann - er war auf alle Neuerschei
nungen abonniert - bat sie sofort um einen Tanz. Sie lächelte
uns, ehe sie sich erhob, listig zu. »Jetzt werde ich euch alle
rächen«, besagte der Blick. Sie tanzte mit ihm. Er betrachtete
sie aufmerksam, unterhielt sie und sich und brachte sie an un
seren Tisch zurück.
Sie war blaß, lehnte sich tief in den Sessel und sagte: »Das
hätte ich nie für möglich gehalten!« Dann berichtete sie etwas
ausführlicher. Er habe sie forschend angesehen. Er habe, ohne
daß sie Anlaß gegeben hätte, Reden geführt, wie sie beim er
sten Tanze nicht erlaubt sind. Sie sei außerstande gewesen, ihn
in die Schranken zu weisen. Sie habe es nicht einmal vermocht,
Empfindungen in sich zu unterdrücken, die sie bisher in ihrer
Gewalt geglaubt hatte. Ja, sie erklärte, und diese Offenherzig
keit machte der an ihr gerühmten Klugheit Ehre: »Wenn er
mich aufgefordert hätte, sofort den Saal zu verlassen und ihm,
wohin auch immer, zu folgen, hätte ich’s getan.« Dann schüt
telte sie sich vor nachträglichem Schreck und meinte: »Ent
Wenige Tage danach reiste er ab. Er fuhr nach Davos, und an
schließend wollte er nach Afrika, um Löwen und andere wilde
Tiere totzuschießen. Die Abenteuer in Europa waren ihm zu
gefährlich. Und außerdem lebte er als jüngerer Sohn und Mit
erbe von beachtlichen Einkünften einer Fabrik im Rheinland.
Die Frauen atmeten hörbar auf. Mehrere Ehen renkten sich
wieder ein. Ein paar junge Mädchen bekamen wieder rote
Backen. Und alle gestanden sie: Sie hätten vor dem Mann
Angst gehabt, unbeschadet aller sonstiger Begleitgefühle. Sie
hatten Angst gehabt, bevor er sich ihnen näherte. Sie hatten
Angst gehabt, wenn er sich mit ihnen beschäftigte. Sie hatten
noch Angst gehabt, wenn er sie schon wieder ignorierte.
Jetzt war er fort, und ich habe nur noch von einem kleinen
Nachspiel zu berichten, an dem er, wenn auch unfreiwillig,
nicht schuldlos war. Eine Kaufmannsgattin, die ohne den da
zugehörigen Kaufmann im Gebirge war, kam zum Hotel
direktor und teilte empört mit, daß man ihr die erlesensten
Stücke ihrer Leibwäsche entwendet habe. Es war von Dessous
aus Paris, von Nachthemden aus Brüsseler Spitzen und von an
deren hauchdünnen Dingen die Rede. Und es lag nahe und war
in diesem Falle wohl auch richtig, das Hotelpersonal zu ver
dächtigen.
Der Direktor zitierte den Chef d’Etage, die Gouvernante,
die Stubenmädchen und Hausburschen, suchte anschließend
die Bestohlene auf und erklärte rundheraus, er könne, obwohl
der Verdacht fortbestehe, nichts unternehmen. Die Dame war
»Er fing mich ab, als ich gerade fort wollte, und ließ mich nicht
weg. Er würde jetzt jeden Abend mit mir in den Garten gehen
und aufpassen, daß ich bliebe, und beantragen, daß mir für ei
nen ganzen Monat der Ausgang entzogen würde. Ich wüßte
nicht, was Pflichtgefühl sei. Ob ich ihm was borgen könnte.
Aber ich hatte wirklich nichts. Bei allem, was er sagt, sieht er
mir ins Gesicht, als warte er, daß ich weine.
Er will Muttchen einen Brief schreiben, das darf er nicht
tun! Lieber soll er mich schlagen oder anderes. Aber das nicht.
Sie soll ihn mit ihrer Unterschrift wieder zurückschicken. Ich
habe nicht einschlafen können.
Ich muß nach Hause. Morgen abend lauf ich wieder fort. Ich
habe solche Angst um sie. Wenn er mich einsperrt, springe ich
einfach aus dem Fenster.«
An jenem Abend, an dem der kleine Klarus lieber aus dem Fen
ster springen wollte als in der Schule bleiben, stahl er sich trotz
des Primaners fort, rannte wie so oft durch die dunklen Straßen
der Vorstadt, über einsame Plätze und Brücken, an jenem Abend
sah er seine Mutter sterben, an jenem Abend zerrte man ihn
von dem Bette Windischs, als es für beide bereits zu spät war.
Das Cafe ist, am zeitigen Nachmittag, noch recht leer. Ein paar
Zeitungsleser sitzen herum. Der Boy gießt heißes Wasser aus
einem Kännchen auf die Ränder des Teppichläufers, weil sie
sich gerollt haben. Die Garderobenfrau steht hinter ihrer The
ke und sortiert kleine Münzen. Neben ihr lehnt der Kellner
und liest, möglichst unauffällig, die Rennberichte. Schlechte
Geschäfte. Ein gewisser Herr Dubschek wird am Telefon ver
langt. Nein, nicht hier. Da betritt eine kleine alte Dame das Lo
kal. Unter ihrem komischen Husarenhütchen steckt ein Ge
sicht, das dem Alten Fritz nachgemacht ist. Blaß, großnasig
und zerknittert sitzt es auf der dünnen, kurzen Figur, die in
dem Plüschmantel viel zuviel Raum hat. Die Frau bleibt vor
dem Kellner stehen und sieht ihn abwartend an, bis er, ungern
gestört, den Kopf hebt. Da lächelt sie ein bißchen und sagt mit
lauter, angerosteter Stimme: »Entschuldigen Sie, verkehrt hier
ein Herr Stobrawa?«
»Was soll er denn?« fragt der Kellner. Er hat gegen Leute,
die nichts verzehren, von vornherein begründetes Mißtrauen.
»Man hat mir gesagt, er spiele hier jeden Tag Billard.«
»Jetzt sind die Spielzimmer noch geschlossen.«
»Verzeihen Sie, bringt Herr Stobrawa immer seine Geliebte
mit hierher?«
Die Gäste werden aufmerksam. Die Garderobenfrau ver
zählt sich. Der Boy kriegt rote Ohren. »Ich dachte«, bettelt die
kleine, alte Dame, »Sie könnten mir vielleicht Genaueres sagen.
Früher verkehrten sie in einem anderen Cafe. In der Stralauer
Straße. Nun ist sie aber umgezogen. Sie muß ganz in der Nähe
wohnen. Und abends säße sie gewöhnlich hier. Ich habe ihre
Spur verloren ... Verzeihen Sie ... Und da ... ja, so ist das.«
Wahrscheinlich hat die Geliebte des fraglichen Herrn Stob
rawa früher bei ihr gewohnt und ist Geld schuldig geblieben.
Man kennt das. Aber ob es nötig ist, deswegen vor fremden
Menschen die Geheimnisse der Familie Stobrawa auszugra
ben?
Plötzlich entsann ich mich seiner wieder, als ich im Cafe eine
Provinzzeitung absichtslos durchblätterte. Mit seinem Na
men, den ich las, wurde vieles, was endgültig vergessen schien,
aufgerufen und forderte nachdenkliches Erinnern.
Brant, der an eine Seelenwanderung glaubte, hatte sicher
recht gehabt: der kleine Herr Stapf war früher einmal ein
Zwergrattler gewesen. Auf dem beängstigend dünnen Körper
chen saß ein großer, schwerer, runder Kopf, dessen Rückseite
an einen Schulglobus herausfordernd erinnerte: das spärliche
weiche Haar, unter dem die Kopfhaut verschiedentlich deut
lich hervorschimmerte, ließ an Golfströme und Schiffahrtslini
en, an Passatwinde und Meridiane denken. Das Gesicht be
stand fast nur aus einer zwergenhaft verwitterten Stirn, unter
der sich Augen, Nase und Mund winzig und listig zusammen
drängten.
Aus gänzlich unbekannten Gründen war er zu der Ansicht
gelangt, daß er außergewöhnlich klug sei, obwohl wir damals
- ein Kreis spottlustiger Studenten - nichts unversucht ließen,
ihn von der Berechtigung der entgegengesetzten Meinung zu
überzeugen. Er besaß die Gabe, jeder Art Ironie und Geläch
ter mit solch metaphysischer Nachsicht zu begegnen, daß es
allmählich zu einem aufreibenden Sport für uns wurde, ihn aus
seinem erstaunlich törichten Gleichgewicht zu bringen. Es war
ein hoffnungsloses Unterfangen. Denn je mehr er belacht wur
de, um so inniger fühlte er sich geschmeichelt. Da somit unse
re vergnügliche Absicht zu einer ernsthaften Leistung wurde,
begannen wir den kleinen Herrn Stapf zu vernachlässigen. Es
zeigte sich bald, wie sehr es ihn schmerzte, nicht länger Ge
genstand unserer spöttischen Anteilnahme zu sein. Er begann
schon, die drollige Korrektheit seines Anzuges zu ignorieren.
Unausdenkbar traurig hockte er zwischen uns. Und nur so
lange wir ihn einem mitunter grausamen oder zumindest ge
schmacklosen Hohn aussetzten, leuchtete sein altes Gesicht
glücklich auf.
1. Akt
Er mißfiel mir von Herzen. Vielleicht lag es daran, daß das jun
ge Mädchen an seiner Seite dunkelbraunes Haar und blaue Au
gen hatte. Sie war viel zu hübsch, ihre Wimpern waren viel zu
schattig, und ihre schmalen Hände waren viel zu behutsam für
so einen Burschen. Außerdem schien er sich zu ärgern, daß ich
sie betrachtete, als sei sie ein berühmtes Bild. Er mißfiel mir,
wie gesagt, rechtschaffen, und auch ich war wohl nicht ganz
sein Typ.
Die zwei saßen am Nebentisch, tranken Kaffee, siezten ein
ander noch und redeten infolgedessen nur über Kunst, Thea
ter und Literatur. Nicht daß die Unterhaltung sonderlich hö
renswert gewesen wäre - aber plötzlich nannte sie den Titel ei
nes meiner Bücher, und das machte meine Ohren neugierig.
Nachdem er ihr über meine schriftstellerischen Erzeugnisse
ein paar Löffel einschlägiger Bemerkungen verabreicht hatte,
fragte sie: »Kennen Sie Kästner persönlich?« Da sagte er in al
ler Gemütsruhe: »Und ob ich ihn kenne! Ich und Erich sind oft
zusammen!«
»Wie sieht er denn aus?« Er kniff die Augen klein. »Ganz
nett soweit«, meinte er schließlich, »aber das ist auch alles.« Sie
nickte verständig.
Ich musterte meinen guten alten Bekannten, den ich noch
nie im Leben gesehen hatte, ziemlich düster und überlegte, ob
ich ihn ein bißchen in die Tinte reiten sollte. Ich hatte jedoch
einen edlen Tag. Die Sonne schien. Das Gute siegte. Ich schwieg.
2. Akt
3. Akt
Dann kam das junge Mädchen zurück, und das Gespräch der
beiden nahm seinen Fortgang. Sie tauschten ihre Ansichten
über Alfred Döblin aus. Den kannte mein Freund vom Ne
bentisch übrigens nicht persönlich. Er wollte mich wohl nicht
reizen. Ich stellte fest, daß er des öfteren zu mir herüberschiel
te. Ihm war nicht geheuer, und er bemühte sich redlich, aus den
Gefilden der Literatur in freundlichere Bezirke zu entwischen.
Er suchte unter anderem das Thema »Sport« zu erreichen, und
gestand in schöner Offenheit, daß er den Linksaußen einer Li
gamannschaft duze und selbigem erst vorgestern erklärt habe,
4. Akt
Als ich vom Telefon wiederkehrte, saß mein Don Juan verbie
stert in der Ecke und haderte sichtbar mit dem Zufall und dem
Schicksal. »Pech, alter Freund!« murmelte ich. »Künstlerpech!«
Meine Kondolation schien ihn nicht sonderlich zu trösten. Ich
hatte eher den Eindruck, daß er mir am liebsten die Zunge her
ausgestreckt hätte. Dann tat er’s aber doch nicht, sondern stand
abrupt auf, nahm Hut und Mantel und verließ die ungastliche
Gaststätte.
Der Kellner bemerkte es zu spät. »Er hat nicht bezahlt!«
jammerte er aufgeregt, »Ich erledige das schon«, sagte ich. »Es
ist ein guter alter Bekannter von mir.«
5. Akt
NACHWORT 371
nicht - die einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit
der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und der Stille
entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben [...]. Man
lief den Rattenfängern nach, hinein in den Abgrund« (III, 440),
erinnert sich Kästner fast 20 Jahre nach Erscheinen seines Ro
mans.
II
Es passiert nicht viel im Buch, außer daß ein junger Mann sich
erschießt, ein anderer junger Mann sich verliebt und ihm die
Liebe wieder abhanden kommt und er wenig später ertrinkt.
Das ist beinahe schon die ganze Handlung, kurz gefaßt. »Bei
de Herren kommen gewissermaßen aus Versehen ums Leben«,
ihr Tod ist ein grotesker, tragischer Witz. Das macht ihren Tod
nicht leichter, sondern gibt ihm das unerträgliche Gewicht ei
nes absurden Zufalls, eines Sterbens ohne Sinn. Der Autor
schwindelt nicht, die Zeit ist schwarz, und er macht seinen Le
sern nichts weis. Er glaubt nicht an Helden, weder im Leben
noch in der Fiktion; deshalb kreiert er mit seiner Titelfigur Fa
bian einen prototypischen Antihelden; einen jungen Mann, 31,
aus dem Kleinbürgertum, der sich stolz zu seiner Herkunft be
kennt, nach verschiedenen Tätigkeiten als Reklamefachmann
arbeitet - bis er seine Arbeit verliert -, sich im fiebrigen Berlin
Ende der zwanziger Jahre herumtreibt, hellhörig und hellwach,
und mit gemischten Gefühlen das besinnungslose Treiben in
seiner Umgebung beobachtet. Fabian ist Reflektor der zeitge
schichtlichen Zustände. Er hat das Empfinden, wie schon ein
mal in einem großen Wartesaal zu sitzen, und der heißt Euro
pa. Wieder weiß er nicht, was geschehen wird (»Wann gab es
wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?« III, >5) Er
lebt provisorisch und verzweifelt schließlich als »Fachmann
der Planlosigkeit« ratenweise.
Dieser Jakob Fabian ist kein anderer als Erich Kästner, wie
er sich mit Anfang dreißig sah und als gebürtiger Dresdner und
Wahlberliner die Metropole erlebte. Die Großstadt liefert dem
Romancier die Sujets frei Haus: Milieu, Atmosphäre und die
372 NACHWORT
Grundfarben des Geschehens. Mehr als zwei Dutzend Perso
nen treten auf und verschwinden wieder - Redakteure, Ar
beitslose, Huren, Verrückte, Gebildete -, ohne daß sie zusam
mengeführt oder ihre Schicksale verbunden würden. Sie blei
ben in ihrer Existenz so fragmentarisch wie die Epoche, die
zugrunde geht. Das ist Kästners literarisches Konstruktions
prinzip, in Analogie zum Großstadtdschungel. Nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, bei seiner ersten Wiederbegegnung mit
Berlin im September 1946, schreibt Kästner: »Diese Stadt ist
zwar nicht meine Heimat. Doch ich habe die schönsten und
schlimmsten Jahre darin verbracht. Sie ist sozusagen meine Bu
senfreundin. Ich will den etwas heiklen Vergleich nicht tothet
zen, sondern nur bemerken, daß man sich mit solchen Freun
dinnen manchmal besser versteht als mit der eigenen Frau.«
(Vgl. VI, 567) Dieses Berlin erfährt der Großstadtseismograph
Fabian als ein Panoptikum der Illusionen und Neurosen. Es
taumelt zwischen Not, Arbeitslosigkeit, Krawallen, zwischen
den zwei großen Massenbewegungen von rechts und links,
zwischen sadistischen Vergnügungen und sexuellen Perversio
nen hin und her. Anstand und Vernunft sind mehrheitlich im
Ruhestand oder Exil. Sodom und Gomorrha (von Kästner als
Romantitel erwogen, nachdem Der Gang vor die Hunde vom
Verlag abgelehnt worden war) halten ihren Platz besetzt. Hin
sichtlich seiner Bewohner gleicht Berlin »längst einem Irren
haus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gau
nerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in al
len Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.« (III, 8j) Ein
Tanz auf dem Vulkan von Dummheit, Sadismus und Bewußt
losigkeit spielt sich vor aller Augen ab, ohne daß dies von den
Beteiligten bemerkt würde. Dem Zaungast Fabian schwindelt
es. Er gleicht einem Chirurgen, der die verruchte Seele der Stadt
aufschneidet und ihr krankes Gewebe seziert. »Wer ein Opti
mist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann
nicht viel passieren. [...] Ich sehe zu und warte. Ich warte auf
den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfü
gung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf
Wunder.« (III, 85)
NACHWORT 373
Der Agnostiker Fabian wartet also zu, wohl wissend, daß
seine Hoffnung, die Menschen könnten sich bessern, kein
Fundament in der Realität hat. Genau das zeigt die Gespal-
tenheit des bürgerlichen Moralisten Fabian. Seine ethischen
Prinzipien der Vernunft, Aufklärung und Gerechtigkeit
schweben im Raum, ohne Bodenhaftung; sie existieren nur in
seiner Vorstellung und werden tagtäglich durch die histori
schen Witterungsverhältnisse, die politisch und ökonomisch
auf die Katastrophe zusteuern, widerlegt. »Wollte er die Bes
serung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen.
[...] Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut,
wenn es ihm gut ginge? [...]. War das Elysium, mit zwanzig
tausend Mark Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein men
schenwürdiger Abschluß?« (III, /77J Ist die Moral, grübelt
der skeptische Moralist Fabian, also in erster Linie eine Fra
ge der Ökonomie? Und damit auch »die Frage der Weltord
nung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung?«
('ZZZ, 177)
Bertolt Brecht sowie Fabians Freund und intellektueller Ge
genspieler Labude hätten dem bedenkenlos zugestimmt. Der
Lessing-Experte Labude ist davon überzeugt, daß man erst das
System vernünftig gestalten müsse, dann würden sich die Men
schen schon entsprechend anpassen. Sein revolutionäres hu
manistisches Programm setzt auf eine Verbindung von wirt
schaftlicher Macht und kultureller Moral in den Händen einer
jugendlichen Elite als politischer Führerschaft, und zwar quer
durch alle sozialen Klassen. Individualismus und Sozialismus
sind für Labude versöhnbare Gegensätze. Zur Rettung der
Menschheit setzt er sie auf die Tagesordnung. Raus aus der so
zialen Misere und rein ins sozialistische Paradies, heißt sein
politisches Einmaleins.
III
Hier wie in anderen Episoden zeigt sich die prophetische Kraft
des Romans. Fabian, der notorisch hellsichtige Schwarzseher,
ist den Entwicklungen seiner Zeit voraus. Das verbindet Käst
374 NACHWORT
ner-Fabian mit einigen wenigen zeitgenössischen Intellektuel
len, mit Tucholsky, Feuchtwanger, Kesten und Ossietzky
etwa. Er wittert die bevorstehenden Totalitarismen von rechts
und von links. Auf Labudes utopischen Geschichtsentwurf ei
nes sozialistischen Paradieses reagiert Fabian mit höhnischem
Sarkasmus: »Ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie
sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zu
stande kommen wird ...« (III, 46) Und den Faschisten, die sich
mit den Kommunisten heftige Straßenschlachten liefern, hält
Fabian entgegen: »Ihre Partei [...] weiß nur, wogegen sie
kämpft, und auch das weiß sie nicht genau.« (III, 36) Der me
lancholische Außenseiter Fabian dagegen besitzt als einzige
Gewißheit, daß es mit Deutschland so nicht weitergehen kann,
weil man versucht, »mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare
Zustände zu verewigen.« (III, 36)
Diese Einsichten aus den Jahren 1930/31 zeugen von ver
blüffender historischer Weitsicht. Als zeitkritische Bestands
aufnahme ist Kästners Fabian eine chronique scandaleuse der
auf ihren Untergang zusteuernden Weimarer Republik. Der
Kapitalismus kulminiert durch sein eigenes System in der
Weltwirtschaftskrise. Er leitet damit seinen Zusammenbruch
ein und liefert die Bevölkerung mehrheitlich dem ökonomi
schen und psychischen Ruin aus. Totalitäre Heils- und Erlö
sungsideologien haben als Folge zwangsläufig Konjunktur.
Ihre Schrecken und Grausamkeiten antizipiert Kästner in ei
nem visionären Traum Fabians (III, 123-130); eine propheti
sche Apokalypse, die auf die kommende Barbarei beklemmend
vorausweist. Kästners Reflexion, »Dichter merken manches
früher, weil sie, im Gegensatz zu uns, um die Ecke sehen kön
nen« (VI, 341), ist hier erzählerisch beglaubigt. »Eine Maschi
ne, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen auf. Halb
nackte Arbeiter standen davor, mit Schaufeln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von kleinen Kindern in einen rie
sigen Kessel, in dem ein rotes Feuer brannte. [...] Fabian fuhr
auf dem laufenden Band zurück [...]. >Es ist ein Unglück pas
siert!*, schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu. Da pur
zelte ein Kind aus dem Kessel. [...] Der Arbeiter nahm den
NACHWORT 375
Säugling auf die Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden
Kessel zurück.« (III, 124-125)
Nahezu das gesamte epische Personal ist in Fabians mon
strösem Alptraum, der Überwältigungs- und Untergangsäng
ste eindringlich beschwört, versammelt: Lesben und Schwule,
dicke, geile Männer, junge Transvestiten, die von fetten Wei
bern begehrt werden. Auch Fabians Geliebte und sein Freund
Labude tauchen in diesem Szenario aus Gewalttätigkeit und
Endzeitwahn wieder auf. Im Angesicht der taumelnden Mas
sen verkündet der Menschenfreund Labude: »Die Vernunft
wird siegen, auch wenn ich untergehe.« (III, 128)
Sein humanistischer Fortschrittsglaube wird in einem Ku
gelhagel aus Maschinengewehren beerdigt. »Man hörte den
Aufschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge schwirrten unter der
Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die Dä
cher begannen zu brennen.« (III, 129)
Der Todestrieb der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Ohn-
machts- und Selbstauslöschungsphantasien wird von Kästner
in drastischen Bildern gebannt, die an Breughels Höllenpan
oramen erinnern. Das alte Europa zeigt sich nur noch in per
vertierter Form, mit rasender Geschwindigkeit bewegt es sich
auf seinen Umsturz zu. Und versinkt in geistig-moralischer
Umnachtung.
IV
Mit karikaturistischer Schärfe, mit satirischen Mitteln der Über
treibung und Vereinfachung legt Kästner den Kern der realen
wie irrationalen Zustände bloß. Die Methode grotesker Ver
zerrung bleibt nicht an den Zuständen kleben, sondern kehrt
deren Wahrheit hervor. Wer vernünftig handelt wie der Ma
schinenerfinder, der sich von den Wundern der Technik verab
schiedet, weil durch sie Hunderttausende arbeitslos wurden,
gilt als verrückt und wird in eine Heilanstalt verfrachtet. Und
wer, wie Paul Müller aus Tolkewitz, die öffentliche Todesfahrt
auf der Bühne vorträgt, gilt als ein Wahnsinniger. Sein To
destanz geht im sadistischen Gebrüll der Zuschauer unter.
376 NACHWORT
Die zeithistorische Wirklichkeit sowie Kästners Kritik an
ihr verzehnfachen sich hier durch die Genauigkeit der Über
treibung. Kästner hält seiner Epoche einen Zerrspiegel vor.
»Die Karikatur«, schreibt er in seinem Vorwort, »ist das Äu
ßerste, was der Moralist vermag. Wenn auch das nichts hilft,
dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft,
ist - damals wie heute - keine Seltenheit.« (Vgl. III, 440)
Die Weimarer Verhältnisse werden heraufbeschworen, ohne
daß sie geschildert würden. Und gewaltig ertönt die Anklage,
gerade weil sie nicht erhoben wird. Fabian ist Kästners bester
Roman, sowohl was seine zeithistorische Luzidität betrifft, als
auch seine erzählerische Stimmigkeit. Kästners Stil ist elegant,
von höchster Einfachheit und atmosphärischer Dichte. Ver
gleichbares hat der Romancier nicht mehr zustande gebracht,
weder in seinen Romanen und Erzählungen der dreißiger Jahre
noch in seiner Nachkriegsprosa.
Kästner, dessen Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt wur
den und der während der Hitlerdiktatur als »unerwünschter
und politisch unzuverlässiger Schriftsteller« verboten war, emi
grierte indessen nicht. Der Antifaschist sah es als seine Berufs
pflicht an, in schlimmen Jahren Augenzeuge zu bleiben, um
später darüber berichten zu können. Obwohl ihn die Nazis
mit inländischem Publikationsverbot belegt hatten, konnten
Kästners Werke dennoch in der Schweiz und - bis 1938 - in
Österreich erscheinen. Daneben überwinterte er mit Hilfe von
Pseudonymen, als Autor der Unterhaltungsindustrie, und
schrieb u.a. Filmdrehbücher für die Ufa, und zwar mit einer
Sondergenehmigung der Reichsfilmkammer, die 1942 auf Be
treiben des Führerhauptquartiers zurückgezogen wurde (vgl.
Notabene 4$, VI, 441).
NACHWORT 377
men. Vielleicht schrieb er deshalb den geplanten Roman über
das verbrecherische Regime nicht mehr. Vielleicht siegte des
halb im Nachkriegsdeutschland der Melancholiker endgültig
über den satirischen Schriftsteller.
V
Die großen humanistischen Ideale von einst krepieren im Fa
bian konsequent an der ökonomischen Misere. Selbst die Lie
be wird von wirtschaftlicher Not verschlungen. Fabian, der für
einen kurzen Moment das Glück erfährt, der jungen Cornelia
Battenberg zu begegnen, die er festhalten möchte, scheitert
auch hier; freilich nicht an seiner seelischen Indolenz, sondern
an den realen Antinomien der Epoche. »Der Zufall hatte ihm
einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich han
deln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, ver
fluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und
nun war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die
Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit.
Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.« (III, 139)
Wie Labude ist auch Fabian zuletzt ein in den Fächern Be
ruf und Liebe durchgefallener Menschheitskandidat. Die Zeit
ist zwar für sexuelle Vergnügungen geschaffen (von denen der
Roman ausgiebig berichtet), aber die Liebe liegt im Sterben.
Ebenso die Familie. Wer liebt, übernimmt Verantwortung für
die Existenz und Zukunft des anderen. Wie aber soll jemand
Verantwortung übernehmen, wenn er von Beruf arbeitslos ist?
Fabian, den es in der Begegnung mit der Geliebten wenigstens
einmal von seinem Beobachterposten weg und zum Handeln
treibt, sieht sich zur Erwerbslosigkeit verurteilt. Sein vorhan
denes Talent reicht gerade zum Verhungern. Cornelia dagegen
will nicht zugrunde gehen. Anders als der Moralist Fabian, der
sein Gewissen nicht durch politisch oder persönlich korrum
pierende Tätigkeit, um des nackten Überlebens willen, betäu
ben mag, schlägt Cornelia den krummen Weg ein. Sie »er-
schlief sich [...] eine Karriere oder eine Verzweiflung oder bei
des« (III, ijy) mit einem alten verfetteten Filmproduzenten.
378 NACH'K) KT
Sie handelt nach der pragmatischen Devise: »Man kommt nur
aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht.« (III, 137)
Sie verkörpert die Haltung von Mitläufern, Opportunisten,
Zynikern, die um jeden Preis mit dem Leben davonkommen
wollen, selbst um den Preis psychischen Bankrotts. Ihr Cha
rakter ist ihrem Verstand nicht gewachsen, was sie sehr wohl
weiß. Dennoch gibt es einen aufblitzenden elysischen Augen
blick, bevor sich das Dunkel wieder um die Liebenden schließt
und sie voneinander trennt. Am Grab ihrer entschwundenen
Hoffnung bleiben als Hinterbliebene: Trauer, Verzweiflung,
Vergeblichkeit. Kästner hat in lakonischen Episoden eine der
schönsten zeitgenössischen Liebesgeschichten geschrieben.
VI
Fabians Tragödie ist in Grundzügen die Tragödie seines Au
tors Kästner. An ihm wird stellvertretend das Desaster der bür
gerlichen Intellektuellen seiner Zeit kenntlich. Die Stärke jener
Aufklärer und Humanisten ist paradoxerweise auch ihre Schwä
che. Sie besteht im Festhalten an der Idee eines konsequenten
historischen und moralischen Fortschritts der Menschheit,
selbst in Zeiten, in denen ihr teleologisches Weltbild durch die
politischen Verhältnisse in zynischer Weise widerlegt wird.
Statt entschieden gegen totalitäre Entwicklungen anzukämp
fen, beharren jene Intellektuellen auf ihrer realitätsfernen es-
chatologischen Maxime, daß die schlechte Wirklichkeit nur ein
historisches Übergangsstadium sei, das im dialektischen Pro
zeß aus sich selber überwunden werde, um danach an die voll
kommene Idee heranzureichen. Im historischen Ernstfall ver
wandelt sich ihr Menschen- und Gesellschaftsideal in eine hö
here Instanz; es erhält die Autorität des Glaubens. Der Glaube
aber entlastet von der Notwendigkeit eingreifenden Handelns.
Zwischen Überzeugung und Tat klafft ein unüberbrückbarer
Graben. Das ist die Ursache für das politische Versagen der
bürgerlichen Intelligenz.
NACHWORT 379
Kästner-Fabian ist das Muster dieses Intellektuellentyps in
Krisenzeiten oder auch in totalitären Regimen. Im Besitz der
höheren Wahrheit, fern aller politischen Niederungen, glaubt
er entschlossen an den letztendlichen Sieg der Vernunft und
Anständigkeit im Menschen. Sein unbeirrbarer Fortschritts
glaube macht ihn wehrlos, passiv, handlungsunfähig, zum er
schrockenen und verzweifelten Beobachter des katastrophalen
Epochenbruchs. Wer von Beruf Aufklärer und Erzieher des
Menschengeschlechts ist, für den sind Macht und Moral, Poli
tik und Ethik unversöhnbar; der denkt nicht dialektisch, son
dern in Gegensätzen. Und hält es vorzugsweise mit Goethe:
daß der politisch Handelnde immer gewissenlos sei, und Ge
wissen nur der reine Betrachter und Außenstehende besitze.
Walter Benjamin hat diese Geisteshaltung der Kästner, Meh
ring, Tucholsky 1931 in seinem Essay Linke Melancholie scharf,
aber pauschal kritisiert, mit dem Argument, daß »ihr über
haupt keine politische Aktion mehr entspricht.« (Walter Ben
jamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M.
1966, S. 457-461) Er meint, die Schwermut des Lyrikers Käst
ner stamme aus Routine; er habe »die Gabe, sich zu ekeln,
preisgegeben.« Seine Verse dienten nur noch dem Amüsement
und Konsum. »Sicher hat das Kollern in diesen Versen mehr
von Blähungen als vom Umsturz. Von jeher gingen Hartlei
bigkeit und Schwermut zusammen«, urteilt Benjamin verächt
lich.
Sein Grundirrtum: Er mißt den Lyriker Kästner mit der Elle
revolutionärer Geschichtsdialektik ä la Brecht, mit der Kästner
indes gar nichts zu tun hat. So mißversteht Benjamin ihn gründ
lich: als linksradikalen Intellektuellen (der Kästner nicht war,
sondern allenfalls ein Linksliberaler), der zum Konjunkturrit
ter literarischer Moden mutiert sei und in der Folge zum Fata
listen und Nihilisten.
Tatsächlich aber ist Kästner wegen seiner idealistischen
Überzeugungen kein Tatmensch, sondern ein Zweifelnder.
Sein moralischer Kompaß droht an den Zeitverhältnissen, an
der »Dreistigkeit, [...] sechzig Millionen Menschen den Un
tergang zuzumuten« (III, 189) zu Bruch zu gehen. Wie alle
380 NACHWORT
hamletischen Naturen ist er in seiner düsteren Melancholie
überaus hellsichtig. Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen,
für die Theodor Lessing eintrat, hat für den Intellektuellen ide
alistischen Zuschnitts ausgespielt. Er kann es nicht ertragen,
daß das Böse mitten in der Welt existiert, also muß er an die
Vernunft glauben. Hier klafft der Riß zwischen Erkenntnis
und Vision, Kritik und Utopie, den er nicht wahrhaben will. Er
scheitert an dem Wunsch, beide zu versöhnen. Das heißt, er
scheitert beispielhaft am emanzipatorischen Gedanken der
Aufklärung; was der Satiriker Kästner übrigens am Gedan
kenrebell Labude verdeutlicht, der die Menschen liebt, aber
kein Verhältnis zum Leben hat. Der Aufklärer Lessing, das un
erreichbare Ideal, ist deshalb die groteske Ursache für Labudes
Selbstmord. Der realitätsblinde Fortschrittsglaube, diese Trotz-
und Ersatzreligion des Intellektuellen, begeht im Roman Frei
tod; aus der skeptischen Einsicht, daß die Dummheiten wech
seln, aber die Dummheit bleibt.
VII
Kästners Fabian ist eine zeitgeschichtliche und sozialpatholo
gische Fallstudie, die Nationalsozialismus und Faschismus blitz
lichtartig vorausbeleuchtet. Das Panorama der zivilen Gesell
schaft pervertiert hier zu einem gegenaufklärerischen Panopti
kum. Fabian, alias Kästner, stellt seiner Zeit die Diagnose. Eine
Therapie weiß er nicht. Deshalb bleibt er untätig, wenn auch
nicht teilnahmslos. Er verharrt im Wartestand. Die eigentliche
Frage, die an die Titelfigur zu stellen ist, lautet: Was passiert
dem Moralisten, wenn mit ihm nichts passiert? Bis zum 23. Ka
pitel heißt die Antwort: Er kam zur Welt und lebte trotzdem
weiter. Als er sich schließlich, einmal nur, zur eingreifenden
Aktion entschließt, bewirkt dies seinen Untergang. Denn zum
Handeln ist Hamlet-Fabian nicht bestimmt. Der Tod des Nicht
schwimmers Fabian, der einen kleinen Jungen retten will, hat
fast mathematische Konsequenz. Fabians Ertrinken folgt schlüs
sig aus der Abwendung von seinem Lebensprinzip. Metaphy
sische Deutungen - in Parallele zu Büchners Danton, der sich
NACHWORT 381
»zernichtet fühlt unter dem gräßlichen Fatalismus der Ge
schichte« die in der F^wn-Forschung überwiegen, sind da
her abwegig.
Auch wissen wir, daß Bücher von Moralisten in der Regel
keine moralischen Bücher sind. Wie auch? Moralisten sind kei
ne Illusionisten oder Schönfärber, sie nehmen gewöhnlich kein
Blatt vor den Mund. Im Fabian wird ausschweifend Unzucht
getrieben, Sado-Maso-Sex ist auf dem Vormarsch, ein Män
nerbordell, von Damen der besseren Gesellschaft frequentiert,
wird zum florierenden neuen Wirtschaftszweig. Die Sittlich
keit hat Urlaub genommen. Und da der Moralist alles andere
als ein Sittenwächter oder gar Sittenrichter ist, zeigt er, was der
Fall ist, mehr nicht. Die einzigen Antitoxine, mit denen er ope
riert, heißen Satire und Elegie, Zorn und Gelächter, Verzweif
lung und Melancholie. Es sind Antitoxine, die man nicht zur
Therapie des Einzelnen oder der Gesellschaft in Flaschen ab
füllen kann. Dem Moralisten genügen Erkenntnis und Kritik
der Epochenkrankheit.
Beim Fabian haben wir es mit einem sonderbaren Phäno
men zu tun: mit dem politischen Roman eines unpolitischen
Intellektuellen. Nicht nur hat Kästner sich zeitlebens jeder po
litischen Praxis enthalten; er war auch prinzipiell mißtrauisch
gegenüber jeder politischen Machtausübung. Weil er Macht
nur in Schablonen zu denken vermochte, d.h. in Kategorien
der Korruption. »Die Macht liebt den, der sie entehrt«, heißt
es programmatisch in einem Gedicht (vgl. /, 224).
Vor allem aber ist Fabian der Roman eines Satirikers, der
weiß, daß der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch
ist. Und der dennoch, im verstecktesten Winkel seines Her
zens, »die törichte, unsinnige Hoffnung« kultiviert, »daß die
Menschen vielleicht doch ein wenig, ein ganz klein wenig bes
ser werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bit
tet, beleidigt [...].« (Gesammelte Schriften für Erwachsene
[GSE] VIII, 200). Da Satiriker meistens auch Idealisten sind,
gibt es bei ihnen nichts zu lachen.
382 NACHWORT
VIII
NACHWORT 383
delt sich um literarische Gelegenheitsarbeiten unterschiedli
cher Qualität, die jedoch teilweise autobiographisch interes
sant sind; etwa Die Kinderkaserne und Duell bei Dresden, in
denen der Antimilitarist Kästner mit sadistischer Erziehungs
folter und menschenverächtlichem Drill abrechnet. Hier wie
auch in den übrigen Erzählungen zeigen sich thematische
Querverbindungen mit den beiden Prosabänden dieser Aus
gabe.
Bei der Suche nach entlegenen Zeitschriften- und Zeitungs
artikeln Kästners sowie zeitgenössischen Rezensionen seiner
Werke war die Kölner Universitätsbibliothek behilflich; vor
allem aber Jutta Bendt vom Deutschen Literaturarchiv in Mar
bach.
Das Erich-Kästner-Archiv (Dr. Ulrich Constantin) stellte
wichtige Texte aus dem Nachlaß zur Verfügung, und Lena
Kurzke unterstützte mich tatkräftig bei der Recherche, die Ty
poskriptfassungen der Romane und Erzählungen zutage för
derte. Allen Genannten danke ich.
384 NACHWORT
Kommentar
I. Fabian
I. FABIAN 385
Verlagsgutachten vom io. (!) Juli 1931 formuliert (Typoskript im
Erich-Kästner-Archiv, das sich in Marbach befindet). Die von den
Muttchen-Briefen abweichende Zeitangabe läßt darauf schließen,
daß Kästner dem Verlag eine erste Fassung des Romans bereits
früher eingereicht hatte. Wellers Kritik trifft nicht nur den Roman
titel, sondern insbesondere die ersten neun Kapitel, in denen dem
Leser »mitunter abstoßende und erschreckende Situationen« zuge
mutet würden (vgl. III, 4J7). Auch die beiden Nachworte, in denen
der Moralist Kästner die erotische Freizügigkeit einzelner Szenen
gegen rigorose Sittenwächter verteidigt - »Er trägt nicht einmal Be
denken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen.«
(Fabian und die Sittenrichter, III, 200), beanstandet Weller zurück
haltend, in der Sache aber entschieden.
Fazit der langwierigen Auseinandersetzungen (über die erst die
noch nicht edierten Muttchen-Briefe im einzelnen Auskunft geben
können):
386 KOMMENTAR
Helga Bemmann: Erich Kästner. Leben und Werk. Berlin 1994,
S. 23 8 f.). In die spätere Gesamtausgabe (Gesammelte Schriften.
Bd. 2. Zürich 1959, S. 193-198) fügte Kästner die Episode als
vom Fabian getrennte Erzählung ebenfalls ein (vgl. III, 20$ bis
2/0). Alle übrigen Abweichungen zwischen Typoskript und
Erstausgabe werden kapitelweise dokumentiert.
3. Ebenfalls verzichtet Kästner - durch die Verlagsattacken offen
bar zermürbt - auf den Druck der beiden inkriminierten Nach
worte Fabian und die Sittenrichter und Fabian und die Kunst
richter. Es sind Herzstücke des Romans, in denen der Verfasser
Idee, Absichten und episches Verfahren seines Werks erläutert.
Außerdem polemisiert er gegen die bigotte zeitgenössische Li
teraturkritik, die er durch ein satirisches Selbstporträt aus den
Angeln hebt.
Die mit dem Typoskript identische Fassung Fabian und die Sitten
richter erschien als Erstdruck in: Die Weltbühne, 43, 27.10.1931,
S. 642-643; später auch in der Gesamtausgabe von 1959 (vgl. III,
200). Das zweite Nachwort Fabian und die Kunstrichter, das bis
lang als verschollen galt, fand sich im Erich-Kästner-Archiv. Es
wird in dieser Ausgabe erstmals gedruckt (vgl. III, 202).
Die zeitkritisch wie politisch entschärfte Erstausgabe des Ro
mans erschien Ende Oktober 1931. Fabian wurde überraschend
zum Publikumserfolg. Binnen vier Wochen waren drei Auflagen
(15 000 Exemplare) verkauft, und im März 1932 erreichte der Ro
man in der 5. Auflage das 25000 Ts. (AfwttcAen-Brief, 21.3.1932).
Auch das Interesse an Übersetzungsrechten war beträchtlich. In
nerhalb von eineinhalb Jahren lag das Buch in neun Ländern vor: in
England, Frankreich, Italien, den Niederlanden, den USA, der So
wjetunion, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei (vgl. Helga
Bemmann: Erich Kästner, a. a.O., S. 223).
Abgesehen von polemischen Angriffen der rechtsgerichteten
Presse, die dem Verfasser eine pessimistische und nihilistische Weit
sicht vorwarf, reagierte die zeitgenössische Kritik überwiegend po
sitiv. Monty Jacobs (Vossische Zeitung, 20.10.1931) bescheinigte
Kästner, das geistig-moralische Klima der Zeit exakt getroffen zu
haben. »Es ist nicht die Stimmung eines Einzelgängers, sondern der
gewaltigen Marschkolonne einer ganzen Generation. Daß sein Ro
man einmal den Wert eines Dokuments haben wird, [...] ist Erich
Kästners Lohn.« Hermann Hesse (1877-1962) rühmte im Rahmen
einer kontroversen Zeitschriften-Debatte (Der Bücherwurm 2, Fe
I. I AB1AN 387
bruar 1932) Herz, Verstand und Menschlichkeit der Titelfigur:
»Das Zeitgemäße konnte nicht zeitloser gesagt werden als hier, es
ist von Hölle und Irrenhaus die Rede, aber es klingt wie Musik, es
ist durch den Filter der Kunst gegangen und voll Anmut gewor
den.« Die erzählerische Form, in de^der Lyriker Kästner zu spüren
ist, bemerkt als erster Kurt Pinthus: »Alle Personen sprechen nicht
berlinisch, nicht individuell, sondern alle sprechen wie Fabian, und
Fabian spricht wie der Dichter Kästner, der die blutende Wunde
seines zerrissenen [...] Herzens mit dem Heftpflaster der kühlen
Ironie zuklebt.« {Acht-Uhr-Abendblatt, Berlin, 22.12.1931) Und
Heinrich Mann (1871-1950) teilt Kästner in einem persönlichen
Schreiben mit, wie sehr ihn der Roman berührt habe (unveröffent
lichter Brief vom 22.11.1931, Kopie im Erich-Kästner-Archiv;
vgl. III, 439). Die luzideste Kritik stammt von Hermann Kesten
{Abrechnung mit der Moral, in: Das Tage-Buch, 47, 21.11. 1931,
S. 1833-1834). Er arbeitet nicht nur die Ambivalenz der Titel
figur heraus (»bei allem Pessimismus ist dieser schwache Held ein
starker Moralist«), sondern er zeigt, wie an einem Einzelschick
sal die Tragödie einer ganzen Epoche und Generation versinnlicht
wird. Darin besteht für ihn Kästners eminente literarische Lei
stung.
Unentschieden in ihren Urteilen - bei allem Respekt vor der Ge
nauigkeit und Tiefenschärfe der Darstellung - sind Rudolf Arn
heim {Die Weltbiihne, 47, 24.11.1931, S. 787-791), Alfred Kan
torowicz {Der Querschnitt, Dezember 1931, S. 866) und Hans Na-
tonek {Neue Leipziger Zeitung, 15.11.1931). Ihr Hauptvorwurf
zielt auf den mangelnden epischen und historischen Zusammen
hang einzelner Szenen sowie die fragmentarischen Beobachtungen
der Hauptfigur. Die Fabel sei nicht die Stärke des Romans (Nato-
nek), der Held werde nicht recht Fleisch, sondern diene nur dazu,
Teilgeschichten mittels seiner Person zu verknüpfen (Arnheim), die
einzelnen Kapitel hätten lediglich die Qualität wohlangelegter Ent
würfe von Dramenszenen (Kantorowicz). Zwischen den Zeilen
macht sich bei allen drei Kritikern ein prinzipielles Unbehagen an
Fabians skeptischer Moralität bemerkbar, deren Wurzeln mit Zy
nismus, Charakterschwäche und sentimentaler Resignation um
schrieben werden. »Ein Moralist, der Pessimismus mit Moral ver
wechselt«, lautet stellvertretend Natoneks Verdikt.
Kästner ist von der Rezension des Feuilleton-Chefs der Neuen
Leipziger Zeitung nicht eben begeistert: »Natonek hat den Fabian
halblapperig besprochen. Immer gelobt und dann wieder gebremst,
388 KOMMENTAR
er kann nun mal nicht aus seiner Haut heraus.« (AfnttcZien-Brief,
15. ii.1931)
Fast dreißig Jahre nach Erscheinen wurde Fabian unter der Re
gie von Wolf Gremm verfilmt. Das Drehbuch stammt von Hans
Borgelt und Wolf Gremm. Die Hauptdarsteller waren Hans-Peter
Hall wachs (Fabian), Hermann Lause (Labude), Silvia Janisch (Cor
nelia) und Mijanou van Baarzei (Irene Moll). Die Verfilmung war
künstlerisch ziemlich grobschlächtig, sie wurde dem Stil, Tempo
und Geist des Romans in keiner Weise gerecht. Dabei gebraucht
Kästner über weite Strecken filmästhetische Erzähltechniken wie
Montage, Wechsel von Nahaufnahmen und Totalen, schnelle Schnit
te etc. Der Berlin-Roman, heute auf die Leinwand gebracht, wäre
von frappierender politischer Brisanz.
Die zwei Kästner-Ausgaben (Gesammelte Schriften. 7 Bände.
Berlin, Köln 1959 und Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bän
de. München 1969) enthalten ein Vorwort des Verfassers vom Mai
1950, in dem er sich engagiert mit der Rezeptionsgeschichte des Fa
bian auseinandersetzt. (Vgl. III, 440)
Erstes Kapitel
9 erfolglose Ministerpräsidentenwahl: Gemeint ist die schwieri
ge Regierungsbildung in Sachsen nach der Landtagswahl vom
22. Juni 1930. Das Besondere dieser Wahl waren die enormen
Stimmengewinne der NSDAP, die sich von 5 Prozent (1929)
auf 14,4 Prozent steigern konnte. Alle anderen Parteien bis auf
die KPD (13,6 Prozent statt 12,8 Prozent) mußten Stimmenver
luste hinnehmen. Die Wahl sollte sich als Vorbote der Reichs
tagswahl vom 14. September 1930 erweisen mit erdrutscharti
gen Gewinnen der NSDAP (107 Sitze) und beachtlichen Zu
wächsen der KPD (76 Sitze), bei Verlusten fast aller anderen
Parteien. Im Sommer 1930 kam es in Sachsen zu wiederholten
Versuchen, einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Als
am 22. Juli die Wahl des früheren Finanzministers Weber von
der Wirtschaftspartei scheiterte, weil sich der Partner NSDAP
im letzten Augenblick verweigerte, titelte die Frankfurter Zei
tung am 23. Juli auf Seite 2 des zweiten Morgenblattes: »Die
verworrene Lage in Sachsen. Wiederum ergebnislose Minister
präsidentenwahl«.
Ruhrkohleabsatz: Ein Alarmsignal der wachsenden Wirt
schaftskrise war die seit August 1930 täglich sinkende Kohle
I. 1-A BI AN 389
förderung im Ruhrbergbau. Wegen der erforderlichen Feier
schichten drohten Massenunruhen.
9 Clara Bow: Die Amerikanerin Clara Bow (1905-1965) war in
den 20er Jahren ein Star des Stummfilmkinos und eine typi
sche Vertreterin der libertären jungen Generation der Nach
kriegszeit, die durch ihren exzessiven und unkonventionellen
Lebenswandel auffiel. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere
Ende der 20er Jahre spielte sie in bis zu 14 Filmen in einem
Jahr. 1930/31 kam es durch Enthüllungen ihrer früheren Se
kretärin Daisy De Voe zu einem Skandal um die Schauspiele
rin. Popularitätsverlust und ein Nervenzusammenbruch wa
ren die Folgen. Nach ihrer Heirat im Jahre 1931 versuchte sie
ein Comeback, das jedoch fehlschlug. 1932 zog sie sich aus
dem Filmgeschäft zurück.
Streik: Am 15. Oktober 1930 streikten 126 000 Metallarbeiter
gegen die beabsichtigte Herabsetzung der Mindesttariflöhne.
Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970) hatte kurz zu
vor, unterstützt von Finanzminister Hermann Dietrich (1879
bis 1954) und Arbeitsminister Adam Stegerwald (1874-1945)
das neue Sanierungsprogramm seiner Regierung verkündet.
Nach wochenlangen Verhandlungen unter Einbeziehung eines
Schiedsgerichts für die Berliner Metallindustrie kam es zu ei
ner Einigung. Die Gewerkschaft stimmte erstmals in ihrer Ge
schichte einer Lohnsenkung von acht bzw. sechs Prozent zum
Januar 1931 zu.
Starhembergjäger: Eine von Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg
(1899-1956) Ende der 20er Jahre in Wien gegründete austro-
faschistische Kampforganisation, die aus den österreichischen
Heimwehren hervorging und für einen autoritären Ständestaat
eintrat. Starhemberg hatte 1923 am Hitlerputsch in München
teilgenommen. 1934 wurde er nach der Ermordung von Bun
deskanzler Engelbert Dollfuß (1892—1934) Führer der Vater
ländischen Front, die sich mit dem sogenannten Anschluß an
Deutschland 1938 auflöste.
10 Friedrich der Große: (1712-1786); preußischer König seit 1740,
der Preußens Großmachtstellung im 18. Jahrhundert begrün
dete. Er war ein Freund der Künste und der französischen Phi
losophie und korrespondierte jahrzehntelang mit Voltaire, der
ihn in Potsdam besuchte. Kästner beschäftigte sich während
seines Studiums mit der preußischen Geschichte, insbesonde
re mit der von aufklärerischen Ideen bestimmten Politik Fried
390 KOMMENTAR
richs II. 1925 promovierte Kästner in Leipzig zum Dr. phil.
mit der Arbeit Die Erwiderung auf Friedrich des Großen
Schrift >De la litterature allemande<. Untertitel: Ein Beitrag
zur Charakteristik der deutschen Geistigkeit um 1/80.
10 Die Stadt glich einem Rummelplatz: Über die Berliner Ver-
gnügungs- und Unterhaltungsindustrie sowie seine Beobach
tungen in einschlägigen Etablissements und auf Jahrmärkten
und Hippodromen berichtete Kästner regelmäßig für die
Neue Leipziger Zeitung. Diese journalistischen Arbeiten dien
ten Kästner als Material für seine Romanepisoden aus der Ber
liner Subkultur.
Märchen: Anspielung auf das Märchen Die Sterntaler der Brü
der Jacob und Wilhelm Grimm, in der ein kleines Mädchen das
Wenige, was es besitzt, Bettlern und Armen schenkt. »Und
wie cs so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die
Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler: Und
ob es gleich sein Hemdlein weggegeben hatte, so hatte es ein
neues an [...]. Da sammelte es sich die Taler hinein und war
reich für sein Lebtag.« (In: Die Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm. Hrsg. v. F. Panzer. Wiesbaden o. J. [Fassung
von 1812]).
11 Fabian, Jakob: Die Angaben zur Person Fabians stimmen im
wesentlichen mit denen des Autors überein. Kästner schrieb
den Roman mit 32, er war seit seiner Übersiedlung nach Ber
lin 1927 freier Mitarbeiter für Zeitungen und Zeitschriften und
Berliner Korrespondent der Neuen Leipziger Zeitung. Nach
seiner Einberufung zum Militär 1917 zog er sich ein lebens
langes Herzleiden zu (vgl. Kästners Gedicht Sergeant Wau-
rich: »Der Mann hat mir das Herz versaut / das wird ihm nie
verziehn«, I,
15 Telegramm: Die Idee, daß Fabian ein Telegramm an sich sel
ber schickt, wird Kästner 1940 in variierter Form aufgreifen:
in den nicht-fiktiven Briefen an mich selber (III, 325-332).
Zweites Kapitel
16 Megäre: In der griechischen Mythologie ist Megäre, die Nei
dische, eine der drei Erinnyen, der göttlichen Rächerinnen von
Freveln und Bluttaten. Alltagssprachlich: ein böses Weib.
19 »von deren Inhalt Sie [...] sich [...] keine Vorstellung machen
können«: Die folgende Äußerung des Rechtsanwalts Moll
1. i abian 391
»Mir wuchs der Unterleib meiner Frau sozusagen über den
Kopf« (Typoskript, S. 16) wurde von Kästner in der Erstaus
gabe und allen späteren Druckfassungen eliminiert. Die Strei
chung geht vermutlich auf die verlegerische Intervention in
Sachen Anstößigkeit zurück.
20 Gegen die Leistung: Abweichend im Typoskript: »Gegen die
Fähigkeit«. (S. 17)
23 Wen suchen Sie denn?: Der so beginnende Absatz bis zum
Ende des zweiten Kapitels ist im Typoskript nicht enthalten,
dagegen in allen AiZzMW-Ausgaben. Kästner fügte die erste Be
gegnung Fabians mit dem politischen Redakteur Münzer hier
ein, um so die Neufassung des dritten Kapitels vorzubereiten.
Drittes Kapitel
Dieses Kapitel schrieb Kästner (wohl auf Druck des Verlags) für die
Erstausgabe vollkommen neu. Da das Manuskript im Erich-Käst-
ner-Archiv nicht vorliegt, bleibt ungeklärt, ob es sich um die Ori
ginalversion handelt, oder ob Kästner auch hier zu Änderungen
veranlaßt wurde. Nur geringe Teile des Typoskripts vom dritten
Kapitel konnte Kästner aufgrund der neuen Komposition ins vier
te Kapitel der Erstausgabe hinüberretten.
Abweichend von der Erstausgabe lauten die handschriftlichen
Unterkapitel im Typoskript: »Vorgesetzte sind streng, aber ge
recht/Ein ehemaliger Blinddarm erregt Aufsehen / Gibt der Klü
gere nach?« (3. Kapitel, S. 21). Insgesamt fielen zwei Drittel derTy-
poskriptfassung dieses Kapitels den erforderlichen Streichungen
zum Opfer, wobei die für den Druck verweigerte Blinddarm-Vpi-
sode den größten Anteil ausmacht (vgl. III, 205-210). Die nicht
veröffentlichten Kapitelabschnitte werden nachfolgend zitiert. So
beginnt das 3. Kapitel. (S. 22-23):
392 KOMMENTAR
»Ich wollte Ihnen nur einen plausiblen Entschuldigungsgrund in
die Hand geben.« Breitkopfs Stimme vibrierte.
»Das geht entschieden zu weit«, meinte Fabian höflich, aber be
stimmt. »Wohin soll das führen, wenn Sie jedem Angestellten,
der zu spät kommt, Entschuldigungen soufflieren, Herr Direk
tor?« Er schüttelte bekümmert den Kopf.
»Ich fürchte, Sie werden unverschämt!« rief der Direktor.
»Wer wird denn gleich ans Äußerste denken, Herr Direktor«,
sagte Fabian, ließ den dicken Mann stehen und ging den Korri
dor entlang, an vielen Türen vorbei, in sein Zimmer.
Fischer, der alberne Kollege, war schon beim zweiten Frühstück.
»Vom Alten geschnappt worden?« fragte er neugierig.
»So ziemlich.«
»Woran liegt das bloß, daß Sie nie pünktlich sind?«
»Die Menschheit zerfällt«, dozierte Fabian, »in zwei Katego
rien.«
»In Männer und Frauen.«
»Ihre unsittliche Unterscheidung ist, an meiner Einteilung ge
messen, nebensächlich. Die Menschheit zerfällt in Frühaufsteher
und Langschläfer. Ich gehöre zu der zweiten Sorte. Guten Mor
gen, Herr Fischer!«
»Guten Morgen.«
»Ein moderner Kinderphysiologe hat sich meine Ansicht, ohne
sie zu kennen, zu eigen gemacht und fordert deshalb die Verle
gung des Schulbeginns auf neun Uhr. Die Langschläfer sind,
trotz Fleiß und Ehrgeiz, in den zeitigen Morgenstunden arbeits
unfähig. Testprüfungen haben es bestätigt.«
Den anschließenden Dialog zwischen Fabian und seinem Redak
tionskollegen Fischer integrierte Kästner, wie erwähnt, ins vierte
Kapitel der Erstausgabe (vgl. III, j y), wobei er allerdings folgenden
Abschnitt eliminierte (Typoskript, 3. Kapitel, S. 24):
Da erschien Direktor Breitkopf im Türrahmen, nickte milde und
sagte zu Fabian, der unermüdlich den Kölner Dom fixierte:
»Wozu wollen wir uns streiten, mein Lieber?«
»An mir hat es nicht gelegen, Herr Direktor.«
»Schwamm drüber! Ihr Prospekt für Detailhändler hat außer
ordentlich gefallen. Ich weiß es von mehreren Direktionsmit
gliedern. Sie haben Phantasie und Geschmack, wird behauptet.
Ihre Fähigkeit, durch Text Interesse zu wecken, sei beträchtlich.«
I. FABIAN 393
Das Wegfällen der höhnischen Pointe am Schluß der Blinddarm-
Episode geht offenbar aufs Konto der verlegerischen Eingriffe.
Dieser Passus ist in keiner Fabian-Ausgabe enthalten und lautet
(3. Kapitel, S. 28):
Der Direktor nickte, wurde noch röter, schob den Riegel zurück,
riß die Tür auf, trat hinaus und warf sie zu.
»Da wackelt die Wand«, bemerkte Fabian und widmete sich er
neut der Betrachtung des Kölner Doms und der daneben errich
teten Zigarette.
Fischer schlug, nachträglich, die Hände überm Kopf zusammen
und rief: »Mensch, das grenzt ja an Majestätsbeleidigung. Dafür
wurde man früher eingesperrt.«
»Dafür wird man heute ausgesperrt«, sagte Fabian.
»Na, Sie haben ja vorgebeugt. Er hat sicher eine Heidenangst, Sie
könnten, wenn er Sie rausschmeißt, weitererzählen, daß er die
Mädchen vom Büro langlegt. Ich dachte, ihn trifft der Schlag. Sie
sind ein freches Luder! Aber was machen Sie, wenn er Ihnen
trotzdem kündigt?«
394 KOMMENTAR
Präsidialkabinetten und setzte entscheidende Maßnahmen zur
Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstän
de mit Hilfe von Notverordnungen in Kraft, die Reichspräsi
dent Paul von Hindenburg (1847-1934) erließ.
28 deutschen Minderheit in Polen: Gemeint ist die Genfer Kon
ferenz des Völkerbundes vom September/Oktober 1930. Dort
kam es auf Antrag der deutschen Delegation zu einer heftigen
Aussprache über die polnischen Übergriffe auf die deutsche
Minderheit in Oberschlesien. Anschließend folgte ein Rede
duell zwischen dem deutschen Außenminister Julius Curtius
(1877-1948) und seinem polnischen Amtskollegen August
Zaleski (1883-1972), der indes die deutschen Anträge ablehn
te. Erst nach einer Intervention Brünings beim Völkerbund im
Januar 1931 erreichte er eine Verurteilung Polens durch das in
ternationale Gremium.
ostelbischen Großgrundbesitzern Zollerhöhungen in Aussicht
gestellt: Reichsernährungsminister Martin Schiele (1870 bis
1939) war ein Interessenvertreter der Landwirtschaft. Er be
trieb im Rahmen seines besonders auf den Osten gerichteten
Agrarprogramms eine Stützungspolitik der Getreidepreise.
Nachdem der gezielte Aufkauf den Preisverfall nicht verhin
dern konnte, erhöhte die Regierung im Herbst 1930 verschie
dene Getreidezölle, die zum Teil ein Vielfaches des Weltmarkt
preises betrugen.
30 kurzfristige Anleihen: Die Ausweitung der Anleihen war eine
Folge der Deflationspolitik Brünings. Die Regierung verband
mit der drastischen Reduzierung der Staatsausgaben die Auf
forderung an die Betroffenen, sich das fehlende Geld am Ka
pitalmarkt zu verschaffen.
Der Staat unterstützt den unrentablen Großbesitz. Der Staat
unterstützt die Schwerindustrie: Anspielung auf die gängigen
Schlagworte, mit denen die politische Linke die Regierung zu
kritisieren pflegte.
Schwund der Massenkaufkraft durch Steuern: Neben der Sen
kung der Staatsausgaben war die Erhöhung von Steuern und
Abgaben die zweite Säule der Deflationspolitik Brünings. Sein
Versuch, im Juli 1930 eine allgemeine Bürgersteuer (6 Mark
jährlich für jedermann) einzuführen, stieß auf Ablehnung ei
ner Mehrheit im Parlament unter Führung der Sozialdemo
kraten. Folge war der Erlaß einer Notverordnung des Reichs
präsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) zur Durchset
I. FABIAN 395
zung dieser Maßnahme, die das Parlament jedoch ablehnte.
Nach der Abstimmungsniederlage gab Brüning die Auflösung
des Reichstags durch Hindenburg und einen Termin für Neu
wahlen bekannt. Der Übergang von der »verdeckten« zur »of
fenen« Präsidialregierung war damit vollzogen.
30 Hat der Wahnsinn etwa keine Methode?: Anspielung auf Shake
speares Hamlet (II, 2): »Though this be madness, yet there is
method in’t«; »ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode«.
31 einige Zeitgenossen besonders niederträchtig: In der Erstaus
gabe ist das Urteil schärfer formuliert: »Wir werden nicht dar
an zugrundegehen, daß einige Zeitgenossen besonders nieder
trächtig sind und nicht daran, daß andere besondere dämlich
sind.« (S. 44) Der Zusatz fehlt in allen sonstigen Werkaus
gaben. Kästner greift hier stellvertretend die Dummheit seiner
Zeitgenossen im Zusammenhang mit ihrer Amoralität an.
32 Es ist der Geist, der sich den Körper baut: Anspielung auf Fried
rich Schillers Trauerspiel Wallensteins Tod (1799). In Wallen
steins Monolog heißt es: »Noch fühl ich mich denselben, der
ich war! / Es ist der Geist, der sich den Körper baut« (III, 13).
33 Montecuccoli: Italienisch-österreichisches Adelsgeschlecht aus
Modena. Bekannt ist Graf Raimund von Montecuccoli (1609
bis 1680), der 1625 in den österreichischen Kriegsdienst trat
und neben dem französischen Marschall Henri de Turenne
(1611-1675) als der bedeutendste Militärschriftsteller des
17. Jahrhunderts gilt. Nur im Brockhaus von 1932 findet sich
außerdem der Sproß einer Nebenlinie, Graf Rudolf von Mon
tecuccoli degli Erri (geb. 1843). Er befehligte u.a. die öster
reichische Flotte in Ostasien während des Boxeraufstandes
(1899-1901). »Schweinereien« beider Herren konnten nicht
ermittelt werden.
34 Daumier: Honore Daumier (1808-1879), französischer Kari
katurist und Maler. Den Ruhm des überzeugten Republika
ners begründeten seine politischen Karikaturen und gesell
schaftskritischen Darstellungen, zu denen die Zeichnung Der
Fortschritt zählt.
Viertes Kapitel
Abweichend von der Erstausgabe fehlt im Typoskript das erste Un
terkapitel. Statt dessen heißt das dritte handschriftliche Unterkapi
tel, das schwer zu entziffern ist, vermutlich Der verirrte Autobus.
396 KOMMENTAR
3 j Den Anfang des vierten Kapitels verfaßte Kästner im Zuge der
revidierten bzw. gekürzten Textpassagen neu. Ein Typoskript
existiert nicht.
Fischer rutschte unruhig: Die Unterredung zwischen Fischer
und Fabian stammt aus dem dritten Kapitel des Typoskripts,
S. 23/24.
Er tat seine Pflicht, obwohl er nicht einsah, wozu: Die knappe
Schilderung von Fabians Distanz gegenüber seinem politisch
indifferenten und angepaßten Kollegen fügte Kästner hier neu
ein. Der im Typoskript nicht enthaltene Zusatz reicht bis zur
Frage Fischers: »Wenn man Sie hier vor die Tür setzt?« (III,36)
Anschließend übernimmt Kästner aus der Typoskriptfassung
Fabians zynische Attacken auf den Kollegen Fischer (III,
27-29). Sie enden in der Erstausgabe mit Fabians Bemerkung:
»Sie merken alles« (III, 37).
36 Inflation: Im Sommer und Herbst 1923 erreichte die Inflation -
Folge der astronomischen Verschuldung des Deutschen Reichs
mit 154 Milliarden Mark, u.a. durch Kriegsanleihen, Repa
rationszahlungen an die Siegermächte und durch den Ruhr
kampf - groteske Höhepunkte. Anfang Oktober kostete ein
Liter Milch 5,4 Millionen Mark, im November bereits 360 Mil
liarden Mark. Die Geldentwertung galoppierte derart voran,
daß jeder versuchte, ohne Bargeld auszukommen und Güter
nur noch gegen Güter zu tauschen (vgl. Hagen Schulze: Wei
mar. Deutschland 1917-7933. Berlin 1982, S. 38). Mitte Novem
ber 1923 endete die Inflation durch Ausgabe der Rentenmark.
Börsenpapiere verwaltet: Während seiner Leipziger Studien
zeit arbeitete Kästner im Nebenjob als Buchhalter bei einer
Städtischen Baugesellschaft, wo er den täglich wechselnden
Wert der Firmenaktien ausrechnen mußte. Darüber schrieb er
eine satirische Glosse Max und sein Frack, die das Leipziger
Tageblatt (es ging 1926 in den Besitz der Neuen Leipziger Zei
tung über) veröffentlichte. Richard Katz, Verlagsdirektor, en
gagierte den journalistisch begabten Studenten auf der Stelle.
Dank der Inflation wurde Kästner 1923 im Nebenberuf Zei
tungsredakteur mit einem Anfangsgehalt von 200 Mark (vgl.
Muttchen-H>r\e(, 4. 2.1923).
Heinrich von Kleist: (1777-1811), Dramatiker, Erzähler und
Lyriker zwischen Klassik und Romantik. Der zerbrochne
Krug ist eine der wenigen gelungenen deutschen Komödien. -
Wie Fabian spottet auch der Lyriker Kästner im Gedicht Die
. FABIAN 397
Entstehung der Menschheit über die Dummheit seiner Zeitge
nossen: »Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,/daß
Cäsar Plattfüße hatte« (vgl. I, 17
36 beim Messeamt Adressenschreiber: Hier greift Kästner auf ei
gene Erfahrungen zurück. Während der Leipziger Messe ver
diente der Student sich 1922/23 als Adressenschreiber beim
Messeamt etwas Geld.
37 Fabian [...]Direktor Breitkopf: Die knappe Unterredung zwi
schen Fabian und Direktor Breitkopf ist im Typoskript nicht
enthalten; ausgenommen der stilistisch etwas veränderte Satz:
»Ihr Prospekt für Detailhändler hat außerordentlich gefallen.«
(3. Kapitel, S. 24)
Als er sein Zimmer [...] betrat: Damit beginnt das vierte Kapi
tel im Typoskript. Bevor Fabian den Brief der Mutter liest,
entnimmt er den Zeitungsberichten Meldungen über Überfäl
le und Morde jugendlicher Banden. Diese Beschreibung muß
te in der Erstausgabe und allen sonstigen Druckfassungen ent
fallen. Sie lautet im Typoskript (4. Kapitel, S. 32-33):
er überflog die Zeitung: Ein sechzehnjähriges Mädchen war ver
haftet worden. Sie hatte eine Bande junger Burschen organi
siert, zum Stehlen angehalten, mit allen zehn Jungen geschla
fen und alle zehn angesteckt. Ein Uhrmacher aus dem Norden
war vor einer Woche von zwei Mitgliedern der Bande im Bett
erstickt worden. Olga, die Sechzehnjährige, hatte nackt dane
ben gelegen und ein Küchenbeil, für alle Fälle, bereitgehalten.
Der Mann war fünfzig Jahre alt gewesen, viele Mädchen der
Gegend hatten ihn gekannt. Er hatte sie alle im Bett gehabt und
nackt photographiert. Die Photos waren beschlagnahmt und
ein Schrank voller Seidenwäsche, Strumpfbänder und Strümp
fe war gefunden worden.
Olga hatte die Freunde am Abend, eine Stunde vor dem Mord,
eingelassen. Diese Stunde hatte man gebraucht, ehe der Uhr
macher, mit dem Gesicht in die Kopfkissen gedrückt, erstickt
war. Dann hatten sie sein Geld und die von ihm sorgfältig an
mehreren Stellen der Wohnung versteckten Schmucksachen
geraubt.
Übrigens sei, teilte das Polizeipräsidium mit, das Mädchen
schwanger, im fünften Monat. Gestanden hätten sie. Bereut
hätte niemand.
Fabian warf die Zeitung in den Papierkorb.
398 KOMMENTAR
38 nahm den Brief seiner Mutter: Die folgenden Schilderungen
bis zum Ende des vierten Kapitels der Erstausgabe (S. 44)
stimmen wörtlich mit dem Typoskript überein (4. Kapitel,
S. 33-39; vgl. III, 38-43). Entfallen ist lediglich in der Typo
skriptfassung der Schlußsatz des 4. Kapitels (III, 43).
Wenn Du mir [...] Geld in den Brief steckst: Wie die Titelfigur
schrieb ihr Verfasser fast täglich Briefe und Karten an seine
Mutter. Und oft fügte er Ida Kästner Geldscheine bei (vgl.
Muttchen-Priele, 22.7.1931, 21.3.1932, 6.6.1935).
39 wenn wir den Rucksack nahmen: Der fiktive Brief der Mutter
beruht in allen Details auf realen Begebenheiten, die Kästner
in seiner Autobiographie Als ich ein kleiner Junge war (1957)
festgehalten hat. So bezieht sich etwa die Erinnerung an ge
meinsame Wanderungen auf eine wunderbare Kindheitsepiso
de, die ausführlich beschrieben ist (vgl. VII, 133-142).
zusehen und ratenweise verzweifeln: In Kästners Autobiogra
phie heißt es: »Meine Laufbahn als Zuschauer begann sehr
früh [...]. Als Zuschauer bin ich nicht zu übertreffen.« (VII, 77)
Zur Übereinstimmung zwischen der Titelfigur und ihrem Au
tor vgl. III, 379-381.
41 Descartes: Rene Descartes (1596-1650), französischer Philo
soph und Mathematiker; Begründer der neuzeitlichen Philo
sophie, die das Subjekt zum Fundament jeder Erkenntnis
erklärt. »Cogito, ergo sum«, »Ich denke, also bin ich« ist die
erste Gewißheit der Metaphysik, auf der alle übrigen Gewiß
heiten ruhen. Descartes erörtert sie in seiner Schrift Discours
de la methode (1637), Abhandlung über die Methode. - Des
cartes’ Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie
(1641) setzen seinen Discours fort. Kästner-Fabian zitiert dar
aus Reflexionen über den »methodischen Zweifel«. (In: Me
ditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hrsg. v. Lü-
der-Gäbe u. a. Stuttgart 1976.)
Driesch: Hans Driesch (1867-1941), Biologe und Professor
der Philosophie in Leipzig, bei dem Kästner im Winterseme
ster 1923/24 die Vorlesung »Geschichte der Philosophie von
Descartes bis Leibniz« hörte. Als Gegner des mechanistischen
Weltbilds vertrat Driesch eine vitalistische Lehre, wonach das
Entstehen von Leben durch Chemie und Physik nicht hinrei
chend erklärbar sei.
Dreißigjährigen Krieg: (1618-1648); er begann als Religions
krieg in Deutschland und weitete sich durch politische Macht
I. FABIAN 399
interessen zu einem europäischen Krieg aus, der mit dem
Westfälischen Frieden 1648 beendet wurde. - Descartes hatte
1618 in den Niederlanden eine militärische Ausbildung absol
viert, sich aber nicht, wie Fabian-Kästner meint, am Krieg be
teiligt.
42 Revolution in der Einsamkeit. In Holland: Hinweis auf Des
cartes’ Emigration nach Holland im Herbst 1628 aus Furcht
vor Schwierigkeiten mit Theologen, denen seine Theorien su
spekt waren. In ländlicher Einsamkeit, »Tulpenbeete vorm
Haus«, verbrachte Descartes dort die nächsten 20 Jahre.
dem Reisenden mit starkem Frauenverbrauch: Grundzug des
Fabian ist, daß dem Romancier immer wieder der Lyriker Erich
Kästner in die Quere kommt. Ein Porträt des fiktiven Han
delsreisenden Tröger findet sich etwa im Gedicht Möblierte
Melancholie (vgl. I, //2).Teile des Romans lesen sich wie Ver
se in Prosa. Formulierungen wie »Das Schicksal hatte Aus
gang« (III, 14), »Sogar die Bäume hatten Sorgen« (III, 93),
»Der Globus hat die Krätze« (III, 103), »Die Telegrafenstan
gen machten Kniebeugen« (III, 179) u.s.f. stammen aus der
Feder des Lyrikers.
Lessing: Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Dramatiker,
Kunsttheoretiker, literarischer Repräsentant der deutschen
Aufklärung. Kästner hatte ursprünglich über Lessings Ham
burgische Dramaturgie (1767-1769) promovieren wollen.
Der Dichter »mit der streitbaren Feder« wurde Vorbild des
Lyrikers und Essayisten Kästner. Vgl. sein Gedicht Lessing-.
»Er schlug den Feind mit Worten nieder,/und keinen gab’s,
den er nicht zwang« (I, 232). Über sich selber bekennt Kästner
in Anspielung auf Lessing: »Er ist ein Moralist. Er ist ein Ra
tionalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung.« (II, 326)
Und 1958 nennt er den »alten Sachsen« einen »Mann mit dem
Herzen im Kopf«, er komme aus dem »Nicht mehr« und mar
schiere ins »Noch nicht«; wie Lessing sieht Kästner sich als
Schriftsteller »zwischen zwei extremen Epochen«.
43 zur Autobushaltestelle: Hier folgt im Typoskript Fabians Bus
fahrt mit Labude durch Berlin. Sie bildet dort das Ende des
vierten Kapitels und blieb bislang unveröffentlicht. Zu mut
maßen ist, daß der Verlag die Verhöhnung der Berliner Kul
turdenkmäler zurückwies. Der Abschnitt lautet (4. Kapitel,
S. 39-42):
400 KOMMENTAR
Der Wagen war voll. Sie mußten stehen. Plötzlich fragte La
bude sehr laut: »Was ist das für ein Gebäude, Jonathan?« und
zeigte auf den Dom. Fabian blickte ihn erstaunt an. Der Freund
kniff ein Auge zu. Aha, er wollte wieder einmal, wie früher,
Unfug stiften. Sein Galgenhumor kam ins Rollen.
Fabian zeigte auf den Dom: »Das da? Das ist die Hauptfeuer
wache.«
»Was ist das?« fragte der Andere und hielt die Hand ans Ohr.
Er stellte sich auch noch schwerhörig.
»Die Hauptfeuerwache!« schrie Fabian.
Labude nickte lächelnd und meinte: »So, so. Freilich. Ich hät
te es mir denken können.«
Die Insassen des Wagens sahen zum Fenster hinaus, schauten
sich betroffen an und musterten die beiden jungen Männer be
denklich. Der Wagen hielt. Der Wagen fuhr weiter. »Und das
da?« Labude zeigte auf die Universität.
»Das ist eine Anstalt für schwachsinnige Kinder!«
Der Andere nickte freundlich dankend und sagte: »Schön ha
ben sie’s hier, die kleinen Idioten.« Humanes Lächeln vergol
dete seine Züge. Die Fahrgäste wurden unruhig. »Ist ja ein
Riesengebäude, Jonathan«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Ja, der Schwachsinn ist hier sehr verbreitet. Da kommt übri
gens das Rathaus.« Fabian zeigte auf die Staatsbibliothek.
»Das Rathaus? Liegt so still, nicht?«
»Die Herren vom Magistrat sind viel unterwegs. Ein paar er
holen sich in der Schweiz, ein paar lassen sich operieren, und
die Mehrzahl hat Gerichtsferien.« Ein Fahrgast lacht durch die
Nase. Die Übrigen scheinen tief gekränkt.
»Wir stören die Herrschaften. Du mußt leiser sprechen«, brüll
te Labude.
»Jawohl Vereingetorix ...!« rief Fabian, »ich fürchte nur, du
verstehst mich dann nicht.«
Der blonde Freund lächelt gewinnend. »Ganz wie du wünschst.
Du kennst die Stadt ja wie deine Westentasche. Findest du nicht
auch, daß sich mein Gehör verbessert hat?«
»Ganz bedeutend gebessert«, sagte Fabian.
»Ja. Fleischessen bekommt mir nicht. Der Arzt riet davon ab.
Es erzeuge Rheumatismus.«
Die Fahrgäste hockten versteinert. Man hatte den Eindruck,
sie versäumten vor Empörung ihre Haltestellen. Der Autobus
fuhr durchs Brandenburger Tor.
-ABI AN 401
»Wer wohnt denn hier?« fragte Labude und zeigte auf die ver
witterten Säulen.
»Das ist ein Verkehrsturm!«
»Und die Pferdchen obendrauf?«
»Ein Denkmal für die letzten Droschken.«
»Interessant, der Kutscher hat fast nichts an.«
»Das ist symbolisch zu verstehen«, brüllte Fabian. »Wegen der
Steuern.«
Ein ernster würdiger Herr mit Kneifer hustete und wurde
blau. Eine dicke Dame rutschte auf ihrem Sitz hin und her, als
werde sie geröstet, und sagte aufklärend zu Labude: »Das Bran
denburger Tor.«
Er lächelte ihr zu und rief: »Verzeihung, gnädige Frau. Hat es
sehr weh getan?«
»Das Brandenburger Tor!« schrie die dicke Dame, und Tränen
füllten ihre Augen.
»Mein Gott, muß ich sie getreten haben«, sagte Labude zu Fa
bian. Dieser hatte große Lust auszusteigen und antwortete:
»Wir sind gleich da.«
»Was stellt das dar?« fragte Labude und zeigte auf den Tier
garten.
In dem Moment erhob sich jemand, fuchtelte Fabian mit dem
Schirm vor der Nase herum und brüllte: »Wenn Sie ihm jetzt
erzählen, das sei die Nationalgalerie, dann haue ich Ihnen
Eins hinter die Ohren, daß Sie taubstumm werden. Verstan
den?«
»Danke schön!« Labude verbeugte sich freundlich und wohl
erzogen vor dem schäumenden Herrn.
»Aber beruhigen Sie sich doch«, sagte Fabian, »ich werde doch
noch wissen, daß dies das Tempelhofer Feld ist.«
Plötzlich waren alle Sitzplätze frei, sämtliche Fahrgäste waren
aufgesprungen und schrien wütend durcheinander. Labude
setzte sich und lächelte.
»Bei dem Dom ging dieses Affentheater los!« kreischte ein blas
ses Fräulein.
»Und die Universität wäre eine Anstalt für schwachsinnige
Kinder!«
»Und die Staatsbibliothek wäre das Rathaus!«
»Und das Brandenburger Tor wäre ein Verkehrsturm!« brüll
te die dicke Dame und trocknete gerührt ihre Tränen.
Fabian trat auf die Plattform. »Herr Ober«, sagte er zu dem
402 KOMMENTAR
Schaffner, »wollen Sie, bitte, die Herrschaften im Wagen zur
Ordnung rufen«, und sprang ab.
An der nächsten Haltestelle wartete Labude schon. »War sehr
nett«, erklärte er. »Welch ein Temperament! Ein prächtiges
Volk! Aber sie wissen alles besser.« Sie gingen die Budapester
Straße entlang. An der Voßstraße trat Labude an ein warten
des Auto und fragte die darin sitzende, von kleinen schnee
weißen Pekinghündchen umgebene Dame: »Können Sie mir,
bitte, sagen, wie spät es ist?«
»Ich habe keine Uhr bei mir«, antwortete sie streng.
»Schade«, sagte Labude und blieb neben ihr stehen.
Da trat Fabian vor ihn hin, zog den Hut und fragte: »Können
Sie mir, bitte, sagen, wie spät es ist?«
»Einen Augenblick!« Labude holte seine Uhr aus der Tasche
und sagte: »Sieben vor Acht, mein Herr!«
»Danke schön«, antwortete Fabian, hakte bei dem Freund un
ter und beide gingen langsam zum Potsdamer Platz.
»Das war Frau Generaldirektor Roth«, sagte Labude. »Mor
gen früh weiß es meine Mutter. Nein, ich glaube, sie ist ver
reist.«
Fünftes Kapitel
46 das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern: Zur
Kontroverse Fabian-Labude, vgl. III, J74.
Arbeitslose: Im Dezember 1930 stieg die Zahl der Arbeitslosen
in Deutschland auf knapp vier Millionen. Im Februar 1931
wurden bereits 4,9 Millionen Erwerbslose gemeldet. - In der
Anmerkung zum Gedicht Das Riesenspielzeug spricht Käst
ner von mehr als einer Million jugendlicher Erwerbsloser vor
033 (vgl. I, 189).
Blücher: Gebhard Leberecht Blücher (1742-1819), seit 1813
preußischer Generalfeldmarschall, nachdem er als Oberkom
mandeur der Schlesischen Armee zusammen mit Generalstabs
chef August Wilhelm von Gneisenau (1760-1831) in der Völ
kerschlacht bei Leipzig 1813 Napoleon I. besiegt hatte. 1813/14
überquerte er mit seinen Truppen bei Kaub den Rhein und
trieb die Napoleonische Armee nach Paris zurück. In der
Schlacht bei Waterloo 1815 warf er Napoleon endgültig nie
der.
49 Potiphar: Ägyptischer Hofbeamter des Pharao, dessen Frau
I. FABIAN 403
Josef, den Urenkel Abrahams, zu verführen suchte. »Weil Jo
sef sehr schön war, zog er die Blicke von Potiphars Frau auf
sich. Eines Tages forderte sie ihn auf: »Komm, schlaf mit mir!»
Josef wies sie ab.« (i Mos 39)
Sechstes Kapitel
51 Schulze-Delitzsch: Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883),
Sozialpolitiker, Begründer des deutschen Genossenschaftswe
sens, der maßgeblich an der Genossenschaftsgesetzgebung be
teiligt war.
Ein kleines schwarzes Boot[...]trieb den Fluß entlang: Im Ty
poskript steht der Zusatz: »der noch schwärzer war als das
schwarze Boot auf ihm. Niemand schien zu steuern.« (S. 55)
52 ich warte wieder, wie damals im Krieg: Zu Fabians Kriegser
lebnissen vgl. Kästners Gedichte Jahrgang 1899 und Kurzge
faßter Lebenslauf (vgl. /, 9, tj6).
die Krise nimmt kein Ende: Im Typoskript steht statt dessen:
»die Inflation nimmt kein Ende« (S. 56).
54 Ein krankes Herz dabei erwischt: Zu Kästners Herzleiden in
folge seines Militärdienstes: vgl. Anmerkung zu III, 11.
y? politische Schießereien: Nach den Reichstagswahlen vom
14. September 1930, die einem politischen Erdrutsch glichen,
kam es, nicht nur in Berlin, zu vermehrten Straßenschlachten
zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Furcht vor
wirtschaftlicher Verelendung und Untergangsstimmung mach
ten sich breit. »Die Demokratie verschwindet tief unten; der
Aufstieg in die Stratosphäre beginnt«, schrieb Carl von Os
sietzky (1889-1938) im selben Jahr in der Weltbiihne.
Kabarett der Anonymen: Im Artikel Das Kabarett der >Un-
möglichen< (Neue Leipziger Zeitung, 30.6.1928) schildert Käst
ner das zwielichtige Milieu der Schauspieler und Sänger in der
Berliner Katakombe »Toppkeller«: »Die Wände sind mit quat-
schigen und unanständigen Inschriften beschmiert, die man
hier nicht wiedergeben kann [...]. Hier sollen nur Bluff und
Geld gemacht werden [...]. Was geboten wird, taugt nicht das
mindeste. Aber es ist frech und vorlaut« (vgl. VI, 14J). Käst
ners Beschreibungen im Fabian (III, 5 8ff.) beruhen zum Teil
auf diesem Artikel.
404 KOMMENTAR
Siebentes Kapitel
61 Den letzten Zweifel: Statt dessen im Typoskript: »den leisesten
Zweifel« (S. 68).
62 Caligula: Römischer Kaiser (12-41 n.Chr.); Caligula hieß ei
gentlich Iulius Cäsar Germanicus, als Caligula (deutsch: Sol
datenstiefel) ging er in die Geschichte ein. Nach dem Tod von
Kaiser Tiberius errichtete er in Rom eine Schreckensherr
schaft, seine Gegner ließ er foltern und auf grausame Weise öf
fentlich hinrichten.
64 geteiltes Leid: »Geteiltes Leid ist halbes Leid«, seit Mitte des
18. Jahrhunderts gebrauchtes Sprichwort, das ursprünglich
hieß: »Geteilte Freud’ ist doppelte Freude, / Geteilter Schmerz
ist halber Schmerz.«
Achtes Kapitel
67 der Große Kurfürst: Friedrich Wilhelm I. (1620-1688), Kur
fürst von Brandenburg (seit 1640). Seinen Ruhm als Feldherr
begründete die erste allein von Brandenburg ausgetragene
Feldschlacht gegen die Schweden. In der Schlacht von Fehr
bellin 1675 gelang es der Brandenburgischen Reiterei (mit
5700 Mann) unter Führung des Kurfürsten und seines Gene
ralfeldmarschalls Georg von Derfflinger (1606-169$) die
Schweden (ca. 11 000 Mann) niederzureiten und die Mark von
schwedischen Truppen zu befreien.
Rußlandreise: Im April 1930 reiste Kästner mit seinem Freund,
dem satirischen Zeichner Erich Ohser (1903-1944) (unter
dem Künstlernamen e.o. plauen bekannt, vor allem durch sei
ne Serie Vater und Sohn) zum ersten Mal nach Rußland. »Man
muß ja mal anfangen, es kennenzulernen. Ist ja heute das in
teressanteste Land«, schrieb Kästner im März 1930 (Mutt-
chen-Brief, 22.3. 1930).
68 radikalisieren: Labudes revolutionäres Programm (vgl. III,
374) hat Kästner im wesentlichen dem Roman Die Welt des
William Clissold (1928) von H. G. Wells (1866-1946) ent
nommen. In seiner enthusiastischen Buchkritik zitiert er Wells:
»Die neue Epoche der Zivilisation wird das Werk einer intel
ligenten Minderheit sein. [...] Ihre Revolution wird Erfolg
haben, weil sie die Macht haben.« (VI, 123). Auch Labudes
Hoffnung auf eine Verbindung zwischen dem bürgerlich
individuellen und dem sozialistischen Lager ist bei Wells vor
I. I- A B 1 A N 405
gezeichnet. Die Lektüre des Buchs war für Kästner, wie er be
kennt, von unerhörter Bedeutung. Die Romanfigur Labude be
weist dies. Zur gefährlichen Politikferne solcher utopischen
Entwürfe vgl. III, 379-381.
70 Die Liebe krepiert an der Geographie: Labudes Erzählung des
Scheiterns seiner Beziehung zur Geliebten Leda stimmt teils
wörtlich mit Kästners Gedicht Die Ballade vom Mißtrauen
überein (vgl. I, 176).
72 unzweideutige Situation: Im Typoskript statt dessen: »eindeu
tige Situation« (S. 82).
73 Sie liebt mich nicht: Kästners zahlreiche unglückliche Liebes
affären, die er in seinen Gedichten verarbeitet hat, sind auch
der Stoff für seine beiden Romanprotagonisten. Das zeigen
fast wörtliche Übereinstimmungen zwischen Kästners Briefen
und den Erfahrungen der beiden fiktiven Hauptfiguren; dort
heißt es: »Zwischen Ilse und Erich ist’s aus. Ich sagte: Du hast
mich nie liebgehabt [...]. Und seit 6 Jahren weißt Du, daß Du
mich nicht liebst und nie geliebt hast. Ich habe 8 Jahre verlo
ren.« (Muttchen-Brief, 14.11.1926) Gemeint ist hier Ilse Ju
lius, mit der Kästner während seiner Dresdner und Leipziger
Jahre eng befreundet war. Auch sein Gedicht Sachliche Ro
manze bezieht sich diskret auf das Ende der Affäre mit Ilse Ju
lius. »Als sie einander acht Jahre kannten / (und man darf sa
gen, sie kannten sich gut),/kam ihre Liebe plötzlich abhan
den. /Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.« (Vgl. I,
Neuntes Kapitel
78 Bezahlung ist billiger: Im Typoskript statt dessen: »Barzah
lung ist billiger« ( S. 89).
80 Die >Cousine< war ein Klublokal: Im Gedicht Ragout fin du
siecle beschreibt der Lyriker Kästner in Anlehnung an den Ro
mancier Clubs, wo Homosexuelle, Lesben, Transvestiten etc.
verkehren (vgl. I, 127).
Budiker: Berliner Ausdruck für den Wirt einer kleinen Knei
pe; vom französischen »boutique« = Laden.
82 Korpsstudent: Angehöriger einer schlagenden Verbindung.
406 KOMMENTAR
Zehntes Kapitel
84 Sodom und Gomorrha: Zwei biblische Städte (Genesis 19) am
Toten Meer, die von Gott wegen des sündigen Lebens ihrer
Bewohner durch Schwefel- und Feuerregen vernichtet wur
den; umgangssprachlich: chaotische Zustände. Sodom und
Gomorrha war einer der abgelehnten Titelvorschläge des Au
tors für den Fabian-, (vgl. III, j8j-j86).
88 daß ich dich liebhabe, [...] es geht dich nichts an: Anspielung
auf Philines Worte in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehr
jahre (1795 /9Ö): »wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an!«
(4. Buch, 9. Kapitel)
89 klemmte sich Lektüre unter den Arm: Im Typoskript ergän
zend: »unter den rechten Arm« (S. 103).
am Ohr zupfen werde: Zusätzlich im Typoskript Fabians Be
merkung: »Werden sich die Leute freuen, wenn ich mit dem
Glockenschlag ins Büro trete, sagte er begeistert.« (S. 104)
Elftes Kapitel
90 Am andern Morgen [...] erwartete: Der Anfang des Kapitels
wurde für die Erstausgabe gestrafft. Im Typoskript (S. 106)
heißt es:
Punkt acht Uhr durchquerte Fabian, stolz wie ein Marathon
sieger im Ziel, die Toreinfahrt, nickte dem Portier vergnügt zu
und rief: »Der Direktor schon da?« Der Portier legte den Fin
ger an die Schirmmütze und schüttelte schläfrig den Kopf. Fa
bian strahlte vor Selbstbewußtsein. Er sprang die Treppe hoch,
rannte durch die leeren Korridore und segelte ins Reklame
büro. Fischer, der seinen Begabungsmangel durch Pünktlich
keit zu ersetzen pflegte, war auch noch nicht da. Die Tatsache
glich einem Rekord.
Fabian nahm an seinem Schreibtisch Platz. Er wollte der Di
rektion ein Preisausschreiben vorschlagen und überflog die
Notizen dazu.
Preisausschreiben: Die Neue Leipziger Zeitung, bei der Käst
ner als freier Mitarbeiter engagiert war, veranstaltete häufig
Preisausschreiben für ihre Leser, die Kästner zu bearbeiten
hatte, was er als lästig empfand: »Die Prüfungen der Einsen
dungen zum Preisausschreiben hab ich auch auf dem Hals.«
(Muttchen-H>r\ei, 22.6. und 29.6.1927)
1. 1-ABI AN 407
90 Fischer zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug:
Abweichend von der Erstausgabe folgt hier im Typoskript der
kurze Dialog: »Wie wollen Sie das machen? - Ich habe seit ge
stern einen neuen schönen Wecker, meinte Fabian. - Teuer? -
Nein. - Keinen Garantieschein gekriegt? - Auch nicht. - Das
ist bedenklich! Fischer wiegte den Kopf.« (S. 107)
91 Kündigung: Kästner rekurriert hier auf eigene Erfahrungen.
Die Veröffentlichung seines erotischen Gedichts Nachtgesang
des Kammervirtuosen in der Plauener Volkszeitung, von Erich
Ohser illustriert, löste einen Skandal aus. Die Verse, anläßlich
von Beethovens 100. Todestag 1927 verfaßt (vgl. /, jj), wur
den als obszöne Parodie auf Beethovens 9. Sinfonie verstan
den. Die Konkurrenzzeitung der Neuen Leipziger Zeitung,
die Leipziger Neuesten Nachrichten, empörte sich gegen den
Verfasser. Daraufhin entließ der Verlagsdirektor und Chefre
dakteur der Neuen Leipziger Zeitung, Georg Marguth, seinen
Mitarbeiter Kästner fristlos. Die Kündigung sollte sich für ihn
als Glück erweisen. Im Sommer 1927 zog Kästner nach Berlin,
wo er schon bald zu schriftstellerischem Ruhm und Erfolg ge
langte. Nach seiner Übersiedlung wurde er Berliner Korre
spondent der Neuen Leipziger Zeitung.
Er war grün im Gesicht: Ergänzend im Typoskript: »Das hat
Ihnen Breitkopf eingebrockt. So ein Ignorant. - Intrigant,
meinen Sie, verbesserte Fabian.« (11. Kapitel, S. 108)
zweitens haben Sie keine Frau auf dem Hals: Zusätzlich im
Typoskript: »Aber Ihren neuen Wecker können Sie nun nicht
brauchen. - Das bedauere ich am meisten, sagte Fabian und
setzte den Hut auf.« (S. 108)
92 Inflationswinter: Vgl. Anmerkung zu III, j6.
Schillers moralästhetisches System: Friedrich Schiller (1759 bis
1805), Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Essayist. In Auseinan
dersetzung mit Immanuel Kants (1724-1804) Kritik der Ur
teilskraft {1790) und seinen moralisch-philosophischen Schrif
ten entwickelte Schiller in Über Anmut und Würde Ü79Ü und
Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793-1795)
eine ästhetische Theorie, in der Kants Dualismus von Sinn
lichkeit und Vernunft überwunden wurde. Im »Reich des
schönen Scheins«, der Kunst, sei der Gegensatz von Natur
und Vernunft aufgehoben, schrieb Schiller.
93 Pellerine: Vom französischen: »pelerin«, Pilger; ursprünglich:
Schulterkragen des Pilgers, später: ärmelloser, weiter Umhang.
408 KOMMENTAR
9 5 »Ich erfand friedliche Maschinen und merkte nicht, daß es Ka
nonen waren«: Kästner beschreibt hier das grundsätzliche
Problem der individuellen moralischen Verantwortung im Zu
sammenhang mit der Anwendung naturwissenschaftlicher
Forschungen. Eine heute aktuelle Frage, z. B. in der Gentech
nologie. Friedrich Dürrenmatts (1921-1990) Die Physiker
(1962) und Heinar Kipphardts (1922-1982) In der Sache
J. Robert Oppenheimer (1964) zeigen die fatalen Konsequen
zen naturwissenschaftlicher Entdeckungen für die Mensch
heit.
98 Charite: Bekanntes Klinikum der Berliner Humboldt-Uni
versität.
Zwölftes Kapitel
103 Weil ich an ihn [den Tod] denke, liebe ich das Leben: Vgl. hier
zu Kästners Epigramm Die zwei Gebote: »Liebe das Leben,
und denk an den Tod« (vgl. I, 295).
104 Verboten, politische Debatten hervorzurufen: Anspielung
auf eine der zahlreichen Notverordnungen der Regierung
Brüning, die dem wachsenden politischen Extremismus von
rechts und links Einhalt geboten. Das Versammlungsrecht
und die Pressefreiheit wurden Anfang 1931 erheblich einge
schränkt.
105 chronischen Freizeit: Statt dessen steht im Typoskript (S. 127):
»reichlichen Freizeit«.
Ich habe ein Jahr im Gefängnis gesessen: Ergänzend im Typo
skript: »Ich habe wegen literarischen Hochverrats ein Jahr ge
sessen.« (S. 127) - Mit Ausnahme der Erstausgabe fehlt der
Zusatz in allen späteren Fabian-Editionen.
107 Tante Martha läßt grüßen: In seiner Autobiographie Als ich
ein kleinerJunge (1957) erzählt Kästner ausgiebig von den
Lebensgeschichten seiner Verwandten, darunter auch von Tan
te Martha, der Schwester seiner Mutter Ida Kästner.
108 »Du hast viel durchgemacht mit Deiner Mutter«: Fabian ist
auch hier das alter ego seines Verfassers. In seiner Autobio
graphie berichtet er von den häufigen Nervenkrisen der Mut
ter, die bis zur vollkommenen Erschöpfung für ihren Sohn ar
beitete und manches Mal verzweifelte. Dann fand der kleine
Junge Erich Zettel auf dem Küchentisch vor: »Ich kann nicht
mehr! [...] Leb wohl, mein lieber Junge. [...] Und die Woh
1. IABIAN 4°9
nung war leer und tot.« (VII, ioj) Kästner war in seiner Kind
heit Retter der Mutter, er fand sie jedesmal wieder, bewahrte
sie vor dem Freitod.
Dreizehntes Kapitel
113 Schopenhauer: Arthur Schopenhauer (1788-1860), Philo
soph, der trotz (oder gerade wegen) der großen Verbreitung
seiner Werke in der akademischen Philosophie ein Außensei
ter blieb. Sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung
(1819) verwirft die Idee einer subjektunabhängigen Welt. »Die
Welt ist meine Vorstellung«, mit dieser erkenntnistheoreti
schen Maxime entmachtet Schopenhauer die rationalistische
Philosophie. Der Mensch ist für ihn einem irrationalen, blin
den Willen unterworfen, aus dem sogar die Vernunft hervor
geht.
114 Platon: Griechischer Philosoph (428-384 v. Chr.), Schüler des
Sokrates, neben Aristoteles der bedeutendste Philosoph der
Antike. Seine Werke sind überwiegend in Dialogen überlie
fert. In Kästners Zitat aus Die Welt als Wille und Vorstellung
bezieht Schopenhauer sich auf Platons Symposion (203 b).
Nicht die glückseligen Götter philosophierten, heißt es dort,
vielmehr entstünden alle Fragen nach Grund und Zweck der
Welt aus menschlichen Erfahrungen des Mangels und Leidens,
der Furcht und Sorge.
eukolos: Griechisch »EÜxokog« = heiterer, sorgloser Mensch.
dyskolos: Griechisch »övoxoXog« = finsterer, ängstlicher
Mensch.
120 »Meister muß sich immer plagen«: Zitat aus Friedrich Schillers
Gedicht Das Lied von der Glocke (1800); die entsprechende
Strophe lautet: »Bis die Glocke sich verkühlet,/Laßt die
strenge Arbeit ruhn,/Wie im Laub der Vogel spielet,/Mag
sich jeder gütlich tun./Winkt der Sterne Licht,/Ledig aller
Pflicht, / Hört der Pursch die Vesper schlagen, / Meister muß
sich immer plagen.«
Vierzehntes Kapitel
124 Bessemerbirnen: Technisches Verfahren zur Herstellung von
schweißbarem Stahl, wobei in einem mit Roheisen beschick
ten Konverter (horizontal drehbarer Industrieofen), der Bes
semerbirne, eine schwefelfreie Schmelze entsteht. Der engli-
410 KOMMENTAR
sehe Ingenieur Sir Henry Bessemer (1813-1898) erfand das
Verfahren 1855.
125 Seelenwanderung: Idee der Reinkarnation, Metempsychose,
Palingenese. Bei vielen Naturvölkern, in den indischen Reli
gionen, bei den Pythagoräern, Orphikern, bei Platon, den
Stoikern und in neueren theosophischen Richtungen herr
schende Vorstellung, daß die Seele nach dem Tod in anderer
Gestalt (auch in Tieren oder Pflanzen) wiedergeboren wird. -
Der Ausdruck »mechanische Seelenwanderung« führt diese
Idee ad absurdum.
126 Napolitains: Nach der italienischen Stadt Napoli (Neapel) be
nannte Schokoladentäfelchen.
127 das Glas zwischen dir und den anderen: Statt dessen steht im
Typoskript: »die Glasscheibe [...]« (S. 155).
129 Ich verkaufe die Restbestände: Statt dessen steht im Typo
skript und in der Erstausgabe:: »ich kaufe [...]« (S. 158).
Fünfzehntes Kapitel
132 H. G. Wells: Englischer Schriftsteller (1866-1946), Verfasser
sozialkritischer und utopischer Romane (vgl. Anmerkung
III, 68). Wells’ Idee zur Ethik der Reklame sieht Kästner als
Anwendungsfall der politischen Überzeugungen des Roman
helden William Clissold. In seinem Artikel Reklame und Welt
revolution (Gebrauchsgraphik 3, März 1930) setzt Kästner
sich mit den moralischen Geboten der Propaganda auseinan
der: »Der Begriff der Propaganda gehört [...] zu den großen
und größten Ideen der Menschheit. Ohne Propaganda kann
gar nichts mehr verbreitet werden, keine Philosophie und kei
ne Seife. Propaganda ist das Medium aller Werte geworden.«
Kästner verteidigt die Propaganda als pädagogisch-aufkläreri
sches Instrument einer zivilisierten Gesellschaft, wobei er die
Gefahren ideologischer, die Massen manipulierender Propa
ganda außer acht läßt. Hier zeigt sich ein sonderbarer Wider
spruch zwischen dem Essayisten und dem Romancier und Ly
riker Kästner. In seinen Essays erweist sich Kästner überwie
gend als Idealist, Träumer und Utopist, in seinen Romanen
und Gedichten dagegen als nüchterner Skeptiker, der an der
Erziehbarkeit der Gattung Mensch grundsätzlich zweifelt;
nur wenigen Vernünftigen sei Vernunft beizubringen. Vgl. die
Gedichte Ansprache an Millionäre: »Der Mensch ist schlecht.
I . FABIAN 411
Er bleibt es künftig.« (vgL I, rjj)und Genesis der Niedertracht:
»Doch die Bosheit ist unheilbar, / und die Güte stirbt als
Kind.« (vgl. I, 166)
135 begleitete den Besucher betont bis zur Treppe: Ergänzend im
Typoskript und in der Erstausgabe: »betont verträglich bis zur
Treppe.« (S. 164)
Sechzehntes Kapitel
140 Onkel Pelles Nordpark: In seiner Reportage Hauptgewin
j Pfund prima Weitzenmehl! (VI, 107) beschreibt Kästner seine
Beobachtungen im »Berliner Nordpark - Zum Onkel Pelle«.
Die Romanepisode stimmt teils wörtlich mit dem Feuilleton
artikel überein.
143 sie gingen ins »Theater« eine elende Bretterbaracke: Was
sich nachfolgend in der Szene mit der alten Hofsängerin ab
spielt, die dasselbe Duett singt, hat Kästner wiederum seinen
publizistischen Arbeiten entnommen; auch hier in teils wört
lichen Übernahmen aus dem genannten Artikel (vgl. Anmer
kung zu III, 140).
144 Couplet: Aus dem Französischen: amüsantes, oft satirisches
Lied mit Refrain.
Siebzehntes Kapitel
149 Hohenzollern: Schwäbisches Adelsgeschlecht (1601 erstmals
erwähnt), das seit 1192 die Burggrafschaft Nürnberg besaß.
Diese fränkische Linie erhielt 1417 die Brandenburgische
Kurwürde und war bis 1918 preußische Herrscherdynastie.
Begas: Karl Begas (1794-1854), Maler, der vor allem religiöse
und historische Motive, auch Genrebilder und Porträts im ro
mantischen Stil der Düsseldorfer Schule gestaltete.
150 »Wer haben will, muß hingeben, was er hat«: Abweichend im
Typoskript und in der Erstausgabe: »Wer haben will, muß hin
geben, was ist.« (S. 184)
151 Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid: Eine
ähnliche Situation schleichender, unwiderrufbarer Entfrem
dung hält Kästner im autobiographischen Gedicht Ein Mann
gibt Auskunft (1930) fest (vgl. /, 131).
Neunzehntes Kapitel
162 Gotthold Ephraim Lessing: Vgl. Anmerkung zu III, 42.
als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte: Anspielung auf
Lessings unglückselige Lebensgeschichte. Er heiratete 1776
mit 47 Jahren Eva König, die zwei Jahre später im Kindbett
starb. Lessing starb kurz darauf im Alter von 5 2 Jahren.
Titanen: In der griechischen Mythologie die sechs Söhne und
sechs Töchter des Himmelsgottes Uranos und der Erdgöttin
Gaia, die von Zeus in einem gewaltigen Kampf, derTitanoma-
chie, besiegt wurden.
166 Rathenau: Walther Rathenau (1867-1922), Industrieller, Poli
tiker und Publizist. Er war Präsident des Aufsichtsrates der
AEG, trat 1918 der Deutschen Demokratischen Partei (DDP)
bei und wurde 1922 Außenminister im zweiten Kabinett Jo
I. FABIAN 40
seph Wirth (1879-1956). Als Architekt des Vertrages von Ra
pallo (April 1922) wurde er von der politischen Rechten als
»Komplize des Bolschewismus« gebrandmarkt und als Jude
diskriminiert. Er fiel einem Attentat von Mitgliedern der
rechtsextremen »Organisation Consul« zum Opfer.
166 »Er mußte sterben«: Der NS-Schriftsteller, von dem das rassi
stische Urteil über Rathenau stammt, konnte nicht ermittelt
werden.
Zwanzigstes Kapitel
171 Der Justizrat ballte die Hand [...] zur Faust: Abweichend im
Typoskript und in der Erstausgabe: »faltete die Hand [...] zur
Faust.« (S. 214)
Einundzwanzigstes Kapitel
177 Fabian [...] durchflog die Blätter: Ergänzend im Typoskript
(S. 222) ein Absatz, in dem Kästner auf den Hoover-Plan ein
geht. - Der US-amerikanische Präsident Herbert Clark Hoo
ver (1874-1964) schlug im Juli 1931 ein einjähriges Moratori
um für die Rückzahlung interalliierter Kriegsschulden und
Reparationen vor. Er reagierte damit auf die schlechte Finanz
lage des Deutschen Reichs, die eine Erfüllung der Forderun
gen des Young-Plans (1929) unmöglich machte. Nach harten
Verhandlungen mit Frankreich trat der Hoover-Plan 1931 in
Kraft. Interessant ist, daß Kästner die aktuelle zeitgeschichtli
che Diskussion in der Erstausgabe strich (was übrigens deut
lich macht, daß der Autor Anfang Juli 1931 kurz vor Abschluß
seines Romans stand), und statt dessen auf eine zurückliegen
de internationale Tagung einging. - Der Passus lautet im Ty
poskript (S. 222):
Der Präsident der Vereinigten Staaten schlug Europa ein Re
parationsfeierjahr vor. Amerika entdeckte, daß man mit einem
Volk, dem man die Kehle zudrückt, keine Geschäfte machen
kann. Amerika war geneigt, den Griff vorübergehend ein we
nig zu lockern. Deutschland sollte Luft schöpfen, ehe man es
weiter würgte. Noch sträubte sich Frankreich gegen den Plan.
Es befürchtete, man werde es hindern, im Geld zu ersticken.
Trotzdem, sagte die Zeitung, bestehe Hoffnung, daß das Pro
jekt zustandekomme.
414 KOMMENTAR
177 2ze/ der Moralisten, wie Fabian einer war: Abweichend in der
Erstausgabe und im Typoskript: »Ziel der Moralisten, wenn
Fabian einer war.« (S. 223)
Ihn hätte so etwas begeistert: Statt dessen im Typoskript: »Ihn
hätte die Botschaft des amerikanischen Präsidenten begeistert.
In seine Pläne hätte sie sich eingefügt.« (S. 223)
Er wollte die Besserung der Menschen: Fabians Ziele treffen
mit denen des skeptischen Lyrikers überein: »War dein Plan
nicht: irgendwie/alle Menschen gut zu machen?/Morgen
wirst du drüber lachen./Aber bessern kann man sie.« (War
nung vor Selbstschüssen, I, 83)
der Mensch würde gut, wenn es ihm gut ginge: Distanzierung
Kästners von Bertolt Brechts materialistischen Überzeugun
gen, die der Essayist Erich Kästner in der Formel »Erst kommt
das Fressen, dann kommt die Moral« zusammengefaßt sieht
(vgl. VI, 346; III,38o).
179 Als er sich nicht rührte, winkte sie: Ergänzend im Typoskript:
»Ein Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den
Kopf.« (S. 225)
181 Er blieb stehen: Im Typoskript: »Er stand still.« (S. 227)
Zweiundzwanzigstes Kapitel
183 Fußartilleriekaserne: In seinen autobiographischen Gedichten
kommt der Pazifist Kästner oft auf seinen Militärdienst und
sein Kriegstrauma zurück: »Dann gab es Weltkrieg, statt der
großen Ferien. / Ich trieb es mit der Fußartillerie. / Dem Glo
bus lief das Blut aus den Arterien. / Ich lebte weiter. Fragen Sie
nicht, wie.« (Kurzgefaßter Lebenslauf, I, 136); oder: »Der
Rektor dankte Gott pro Sieg./Die Lehrer trieben Latein./
Wir hatten Angst vor diesem Krieg. / Und dann zog man uns
ein.« (Primaner in Uniform, I, 139)
Lafettenschwanz: Fahrbare Untergestelle von Geschützen; sie
dienen dem Ausrichten und Transport von Waffen.
184 Kaisers Geburtstag: Gemeint ist Wilhelm II. (1859-1941),
deutscher Kaiser und König von Preußen. Sein Geburtstag am
27. Januar war ein nationaler Feiertag.
Sedanfeier: Bei Sedan, einer französischen Stadt an der Maas,
siegten am 2. September 1870 zwei deutsche Armeen über die
französische Armee Mac-Mahons durch Einkreisung. Napo
leon III. (1808-1873) geriet in Gefangenschaft.
1. I A B 1 A N 415
184 Schlacht bei Tannenberg: In der Schlacht von Tannenberg 1410
schlug das Heer der Polen und Litauer unter König Jagiello
(1351 — 1434) das Aufgebot des Deutschen Ritterordens. Der
Sieg leitete die Herrschaft Polens über das deutsche Ordens
land ein (Thorner Frieden, 1466).
Einigkeit und Recht und Freiheit: Anfang der dritten Strophe
des von Hoffmann von Fallersleben 1841 gedichteten Lieds
der Deutschen zur Melodie der österreichischen Kaiserhymne
von Joseph Haydn. Von 1922 bis 1945 war es die National
hymne der Weimarer Republik. Seit 1952 gilt nur die dritte
Strophe als offizielle Hymne der Bundesrepublik Deutsch
land. Sie heißt vollständig: »Einigkeit und Recht und Frei
heit/Für das deutsche Vaterland! / Danach laßt uns alle stre
ben/Brüderlich mit Herz und Hand!/Einigkeit und Recht
und Freiheit / Sind des Glückes Unterpfand - / Blüh im Glan
ze dieses Glückes, / Blühe, deutsches Vaterland!«
186 »Die Gerechten müssen viel leiden«: Anspielung auf die Psal
men im Alten Testament, wo es heißt: »Der Gerechte muß viel
leiden.« (Psalm 34, 20)
Dreiundzwanzigstes Kapitel
189 Stahlhelm: Antirepublikanischer Bund ehemaliger Frontsol
daten, 1918 von Franz Seldte (1882-1947) gegründet. Anfangs
ein Interessenverband, der den Wiedereintritt der Frontkämp
fer ins Berufsleben erleichtern sollte, wurde er bald zu einer
politischen paramilitärischen Organisation, die gegen das
Diktat von Versailles, gegen Marxismus und Pazifismus, gegen
Demokratie und Parlamentarismus kämpfte. Der erbitterte
Widerstand gegen den Young-Plan (vgl. Anmerkung zu
III, 177) führte den Stahlhelm-Führer Seldte 1929 mit dem
Weimarer Pressezar Alfred Hugenberg (1865 -1951) und Hit
ler zusammen. Gemeinsam bildeten sie 1931 die »Harzburger
Front«. 1933 wurde der Stahlhelm in die SA eingegliedert.
Dreistigkeit, [...], sechzig Millionen Menschen den Untergang
zuzumuten: Den militaristischen Brüllgeist der Nazi-Anhän
ger nimmt Kästner im Gedicht Marschliedchen aufs Korn:
»Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen / in die Kasernen
der Vergangenheit. / Glaubt nicht, daß wir uns wundern, wenn
ihr schreit. / Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schrei
en. /[...] //Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht er-
416 KOMMENTAR
wachen./Denn ihr seid dumm, und seid nicht auser
wählt. / Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt: / Mit die
sen Leuten war kein Staat zu machen!« (Vgl. I, 220)
191 »zieht euch aus!«: Abweichend im Typoskript (S. 241-242),
wo die Bordellszene drastischer und ausführlicher geschildert
wird:
»Zieh dich aus!« sagte Wenzkat zu der Dritten, die zurückge
blieben war. Sie stand auf, ging aus dem Zimmer, kam, eine Mi
nute später, nackt zurück und setzte sich zwischen die Gäste.
Sie war groß, hatte überall blonde Haare und schlug die Beine
übereinander. Wenzkat ergriff ihre Brüste, kniff hinein und
trank ihr zu. »Prost!« sagte sie, trank auch. Und dehnte sich.
Da erschien Lotte. Sie trug Männerkleidung und behauptete
kichernd: »Ich komme von einer langen Reise. Wo ist denn
meine Frau?« Dann kam ihre Kollegin, in einen Spitzenschal
gehüllt, durch die Tür und rief: »Endlich, geliebter Gatte! Ich
bin vor Sehnsucht zerflossen.«
Und nun wurden sie handgemein, wie sich das für Eheleute,
die einander endlich wiedersehen, schickt. Es fielen harte Wor
te, die gesamte erotische Terminologie wurde abgewickelt,
Lotte zog die Männerhose aus, man sah, sie hatte sich ein
Gummiglied umgebunden. Wenzkat lachte und schlug sich und
der nackten Nachbarin auf die Schenkel. Die zwei Frauen exe
kutierten dies und jenes, allmählich wurde aus dem albernen
Spiel Ernst.
192 Nun erschien auch Lotte: Zusätzlich im Typoskript: »Sie war
nackt und hielt mit beiden Händen ihre Sitzfläche«. (S. 243)
Vierundzwanzigstes Kapitel
196 Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß: Teils wörtliche
Übereinstimmungen mit Kästners Gedicht Zeitgenossen, hau
fenweise (1929): »Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,/
fast als benutzten sie es als Gesäß. / Sie werden rot, wenn sie
mit Kindern spielen./Die Liebe treiben sie programmge
mäß.« (Vgl. I, 70)
197 die Auflageziffer: Abweichend im Typoskript: »Die Auflagen
höhe des Blattes.« (S. 249)
I. FABIAN 4J7
II. Fabian und die Sittenrichter
V. Die Doppelgänger
»Es handelt sich um die ersten Kapitel eines Romans, den der
Autor nach dem Fabian niederzuschreiben begann und dann,
nach 1933, beiseitelegte. Ob es schicklich sei, Fragmente selber
zu veröffentlichen, statt sie eines Tages veröffentlichen zu lassen,
mag eine strittige Frage sein. Der Autor hält, im vorliegenden
Fall und in einigen weiteren Fällen, den Vorgriff für statthaft.«
Etwa im Jahr 1947 beschäftigt sich Kästner noch einmal mit den po
litischen Zeitverhältnissen, die ihn 1933, beziehungsweise 1935 zur
Aufgabe des Romanprojekts veranlaßt hatten. Seine späte Recht
fertigung, überschrieben »Vorbemerkung zu Die Doppelgänger«
(Typoskript Erich-Kästner-Archiv), wird hier erstmals gedruckt.
420 KOMMENTAR
prompt und höflich beantwortet. Herr Pratt hat nämlich zwei
bedeutende Posten inne: den des Stadtsekretärs und den des Se
kretärs der Baptistenkirche.
Nun geschieht es häufig, daß die Stadtverwaltung mit den Maß
nahmen der Baptistenkirche und die Baptistenkirche mit den Maß
nahmen der Stadtverwaltung nicht einig ist; da muß denn Herr
Pratt, der Stadtsekretär, an Herrn Pratt, den Baptistensekretär,
schreiben, bitten, fordern, wünschen oder erklären, beschwich
tigen, gestatten oder auch verweigern. Letzter Tage kam die Stadt
verwaltung überein, die Tennisplätze des Schloßparks auch Sonn
tags offenzuhalten. Darauf erfolgte ein Protest der Baptistenkir
che, die um die geheiligte Sonntagsruhe besorgt war. Herr George
Pratt richtete also als Sekretär der Kirche einen Brief an sich
selbst, den Stadtsekretär, und gab seinen Einspruch zu erkennen.
Am nächsten Tage erhielt er von seiner Hand eine höfliche Ant
wort, in der er sich mitteilte, daß sein Protest dem Stadtrate zur
wohlwollenden Erwägung vorgelegt werden würde.
Die Typoskriptfassung des Romanfragments ist mit der Erstaus
gabe von 1959 identisch.
422 KOMMENTAR
Der Zauberlehrling (hs.: Von Erich Kästner, ohne Jahresangabe)
Das in den Gesammelten Schriften von 1959 abgedruckte Ro
manfragment (Kapitel 1-4) aus dem Jahr 1936 entläßt den Leser
ebenso verwirrt wie seinen Helden: den Kunstgelehrten Dr. Al
fons Mintzlaff, der, wenig mehr als dreißig Jahre alt, Professur
und Privatleben aufgegeben hat, um sich ganz der Theorie der
Künste zu widmen. Als er, in München, eine Vortragsreise nach
Davos unterbricht, setzt sich im Cafe ein merkwürdiger Mann
zu ihm und erklärt ungefragt, daß er Baron Lamotte heiße und
Gedanken lesen könne. Wenigstens das zweite ist wahr. Der Ba
ron, wie wir ihn jetzt noch nennen müssen, gibt Proben seiner
Kunst, indem er nicht nur auf Mintzlaffs Gedanken antwortet,
noch ehe der ein Wort gesagt hat, sondern indem er auch eine
höchst peinliche Szene am Nachbartisch dadurch provoziert,
daß jeder der drei Leute dort auf einmal »sehen« kann, was die
beiden anderen planen und von ihm denken. Zu früh ist Mintz
laff beruhigt, das unheimliche Gegenüber wieder los zu sein. Am
nächsten Tag, als sein Zug Zürich passiert hat, tritt der Baron ins
Abteil und kann das Zaubern auch diesmal nicht lassen: Die
Coupetür, durch die Mintzlaff entfliehen will, öffnet sich nicht,
und ein riesiger Baum, auf den der Baron den Doktor Mintzlaff
aufmerksam macht, wird aus heiterem Himmel von einem Blitz
gefällt. Lamotte, stellt sich heraus, ist kein Baron und heißt nicht
Lamotte; er ist überhaupt kein Mensch. Aber wer oder was ist er
dann? Dreimal darf Mintzlaff raten und errät es nicht. - Noch
geheimnisvoller wird alles bei der Ankunft in Davos. Mintzlaff
findet dort seinen Vortrag auf einem Plakat angekündigt, - aber
zu einem anderen Termin und über ein anderes Thema, als aus
gemacht war. Bei der Kurverwaltung erfährt er, Professor Mintz
laff sei schon seit einer Woche in Davos und amüsiere sich hier
aufs beste. Der Baron bringt den echten Mintzlaff - der sich jetzt
Jennewein nennt, da der Ort an einem Mintzlaff genug haben
mag - in einem kleinen vornehmen Hotel unter, und auch bei
dieser Gelegenheit stiftet er durch Zauberei Verwirrung. Auf ei
nem nachdenklichen Spaziergang durch das nächtliche Davos
hält er dem Professor vor, wie falsch es sei, das Herz der Vernunft
unterordnen zu wollen. - Damit schließt das Fragment, im Le
ser den Verdacht zurücklassend: zu diesem Anfang konnte der
Autor wohl das Ende selber nicht mehr finden; da hängen mehr
Fäden offenbar beziehungslos herum, als sich je wieder aufneh
men und in ein Muster knüpfen lassen. - Als ich erfuhr, daß der
Erstes Kapitel
229 Indolenz: Aus dem Lateinischen für: Unempfindlichkeit ge
gen Sinneseindrücke; Trägheit, Lässigkeit, Gleichgültigkeit.
apollinische Haltung: Apollon ist in der griechischen Mytho
logie der Gott der Sühne, der Heilkunde und der Weissagun
gen, des Lichts und der musischen Künste. Gemeint ist hier ein
von Form und Ordnung bestimmtes künstlerisches Schaffen.
- Das Apollinische und Dionysische sind ästhetische Begriffe,
die Friedrich Nietzsche (1844-1900) in seiner Schrift: Die Ge
burt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) definiert
hat. Mit Nietzsche setzte sich der Essayist Kästner mehrfach
auseinander.
230 Linne: Carl von Linne (1707-1778), schwedischer Naturfor
scher, der in seinem Hauptwerk Systema naturae (1735) eine
umfassende Systematik des Pflanzen- und Tierreichs entwik-
kelte.
Zweites Kapitel
239 Bergsons Untersuchung über »Das Lachen«: Henri Bergson
(1859-1941), französischer Philosoph, der eine spiritualisti
sche Lebensphilosophie begründete: eine Metaphysik aus dem
Geist der Psychologie. Sein Buch Le rire (1900, Das Lachen)
enthält eine philosophische Definition des Komischen: »Ko
misch ist jede Verkettung von Handlungen und Ereignissen,
die uns die Illusion des Lebens und das deutliche Gefühl eines
mechanischen Arrangements zugleich verschafft.« {Das La
chen. Zürich 1972, S. 41)
247 Übermensch: Ein zentraler Gedanke in der Philosophie Fried
rich Nietzsches (1844-1900) ist die Lehre vom Übermen
schen, entwickelt in seinem Hauptwerk Also sprach "Zarathu
stra (4 Bände, 1883-1885). Der Übermensch ist der Mensch,
der sich nicht mehr als logisches Wesen definiert, sondern sich
als offenen »Versuch« bejaht. Kästner spielt hier versteckt auf
424 KOMMENTAR
die NS-Ideologie an, die den Begriff von Nietzsche übernahm.
In seinem Tagebuch Notabene 45 schreibt Kästner: »Daß
Nietzsche krank war, ist sein Verhängnis. Uns wurde zum
Verhängnis, daß Bücher anstecken können.« (Vgl. W, j6y)
Drittes Kapitel
249 Kavalkade: Zug geschmückter Reiter; auch: Pferdeschau.
2 5 5 Sumatra: zweitgrößte der Sundainseln in Indonesien.
Viertes Kapitel
257 Victoria: Britische Königin (1819—1901) und Kaiserin von In
dien. Sie wurde durch ihre lange Amtszeit, in der sie ihr Mann
Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha (1819-1861) beriet,
zu einer epochalen Figur der britischen Geschichte (Viktoria
nisches Zeitalter).
Robert Louis Stevenson: Schottischer Schriftsteller (1850 bis
1894), bekannt durch seine exotischen und phantastischen Ro
mane, u. a. Die Schatzinsel (1883) und Dr. Jekyllund Mr Hyde
(1886).
259 Jason: Held der griechischen Sage, Anführer der Argonauten.
Mithilfe seiner Gemahlin Medea entwendete er das Goldene
Vlies.
Theseus: Held der griechischen Sage. Er erschlug im Labyrinth
von Kreta den Minotaurus, um seine Vaterstadt Athen von den
auferlegten Tributen des Königs Minos (Kreta) zu befreien;
mit Hilfe von Ariadnes langem Faden konnte er dem Laby
rinth entkommen.
Amazone: In der griechischen Mythologie sind die Amazonen
ein kriegerisches Frauenvolk in Kleinasien, das Nachbarvölker
zur Zeugung aufsucht, nur Mädchen als Kämpferinnen groß
zieht und ihnen die beim Bogenschießen hinderliche rechte
Brust entfernt. Heinrich von Kleist hat diesen Stoff in seinem
Drama Penthesilea aufgegriffen.
260 Lots Weib: Lot, Figur des Alten Testaments, Neffe Abrahams.
Als Gerechter wurde er bei der Vernichtung von Sodom und
Gomorrha verschont, während seine Frau sich gegen die Wei
sung bei der Flucht umdrehte und daraufhin zur Salzsäule er
starrte. Vgl. Gen 19.
261 Mauer aus [...] Glas: Das Motiv der Glaswand taucht auch in
Fabians visionärem Traum auf (vgl. III, 124 f.), ebenso das
Fünftes Kapitel
264 Maurice Chevalier: französischer Schauspieler und Chanson
nier (1888-1972).
268 Wer nicht lacht, [...] ist nur ein halber Mensch: 1958 schreibt
Kästner einen poetologischen Essay mit dem Titel Gedanken
über das Lachen. Darin beklagt er die Einäugigkeit der deut
schen Literatur. Ihr fehle »das lachende Auge«, die deutschen
Dichter nähmen nur den Ernst ernst. »Am rarsten jedoch ist
der Humor in der deutschen Literatur«, heißt es dort. Der ein
zige humoristische Dichter und Denker, auf den sich Kästner
als seinen Lehrmeister bezieht, ist Jean Paul. (Vgl. GSE VIII,
291-300)
Sechstes Kapitel
277 invitieren: Einladen.
282 Zenon: Griechischer Philosoph (ca. 490-430 v. Chr.), ver
trat die Lehre von der Einheit und Unveränderlichkeit des
Seins.
283 Zeus: Göttervater in der griechischen Mythologie (römisch:
Jupiter); ursprünglich war er Himmels- und Berggott, dann
Gott des Donners und der Blitze, Hüter des Rechts und der
Familie. Er ist Vater zahlreicher Götter.
Siebentes Kapitel
284 Loggia: Säulenhalle, von Pfeilern oder Säulen getragene offe
ne Bogenhalle; auch: nach einer Seite hin offener Gang oder
Raum in einem Haus.
Kentaur: Fabelwesen in der griechischen Mythologie mit
menschlichem Oberkörper und Pferdeleib.
Olymp: in der griechischen Mythologie der Sitz der Götter.
285 Hephaistos: Griechischer Gott des Erdfeuers, Schutzgott der
Schmiedekunst; er wird mit Hammer oder Zange dargestellt.
Akropolis: Oberstadt, hochgelegener Tempelbezirk. Bekannt
ist die klassische Akropolis in Athen, auf der zahlreiche Tem
pel erhalten sind.
Hermen: Griechisches Kultmai; ein vierkantiger Pfeiler, der
426 KOMMENTAR
vom bärtigen Kopf des Gottes Hermes gekrönt wird und der
einen Phallus und Armansätze trägt.
285 Hermes: Griechischer Gott des Handels und Verkehrs, auch
der Diebe. Er wurde als Götterbote mit Flügelhelm, Flügel
schuhen und Heroldstab dargestellt.
286 Hera: Griechische Erd- und Muttergöttin, Schutzgöttin von
Ehe und Geburt; als eine der zwölf Olympier von den Grie
chen als Himmelskönigin verehrt.
287 Apollon: Vgl. Anmerkung zu III, 229.
Leto: Griechische Muttergöttin, Tochter des Titanenpaares
Koios und Phoibe und Mutter der Zwillinge Apollon und Ar
temis.
Herakles: Sohn des Zeus und der Alkmene. Durch zwölf hero
ische Taten erlangte er die Aufnahme unter die Götter. Er ver
körpert Kraft, Mut, Tapferkeit.
Cagliostro: Alessandro Graf von Cagliostro (1743 — 1795), ita
lienischer Abenteurer, der als Wunderheiler und Geisterbe
schwörer durch ganz Europa reiste und mit seinen Scharlata
nerien höchste Gesellschaftskreise beeindruckte. 1785 war er
in die französische »Halsbandaffäre« verwickelt und starb
schließlich im Kerker.
288 Hebe: Griechische Göttin der Jugend, Tochter des Zeus und
der Hera, Gemahlin des Herakles.
289 Alkmene: In der griechischen Mythologie Ehefrau des Am-
phitryon und Mutter des Herakles, den Zeus, als Amphitryon
verkleidet, mit ihr zeugte. Heinrich von Kleist verarbeitete
den Stoff in seiner Komödie Amphitryon (1807).
Achtes Kapitel
295 beschloß er, [...] ein Engel zu werden: Kästner nimmt hier das
Hauptmotiv aus den Doppelgängern wieder auf, wo ein Engel
einen jungen Mann vor dem Selbstmord rettet (vgl. III, 213 bis
216).
Fortuna: Römische Glücksgöttin, meist mit Glücksrad oder
Füllhorn dargestellt; sie symbolisiert die Wechselhaftigkeit des
Schicksals.
Peloponnesischen Krieg: Konflikt zwischen Athen und Sparta
um die Hegemonie in Griechenland (431-404 v. Chr.). Die
Vernichtung der attischen Flotte in der Schlacht bei Aigospo-
tamoi (405) führte zur Niederlage und schließlich zur Kapitu
Neuntes Kapitel
304 Leda: Griechische Muttergöttin; Zeus, als Schwan verkleidet,
soll mit ihr zwei Eier gezeugt haben: Aus einem entstand He
lene, aus dem anderen gingen die Dioskuren hervor.
Antiope: Geliebte des Zeus, der sie in Gestalt eines Satyrs
schwängerte.
Alkmene: Vgl. Anmerkung zu III, 289.
Danae: Tochter des Königs Akrisios und seiner Gemahlin
Eurydike. Zeus schwängerte sie in Gestalt eines Goldregens,
und sie gebar den Perseus.
Demeter: Griechische Göttin der Erdfruchtbarkeit und des
vegetativen Lebens. Sie gehört zu den zwölf Olympiern und
ist eine Hauptgestalt in den Eleusinischen Mysterien.
Semele: Griechische Erdgöttin. Zeus zeugte mit ihr Dionysos,
den Gott des Weines und des Rausches sowie der dramati
schen Spiele.
Kallisto: Griechische Bärengöttin, später Nymphe im Jagd
troß der Artemis.
Leto: Vgl. Anmerkung zu III, 287.
Metis: Griechische Göttin der Klugheit und Weisheit; erste
Gemahlin des Zeus, der die von ihm Schwangere aus Furcht
vor einem mächtigen Sohn verschlang. Das Kind Athene ent
sprang nach neun Monaten aus dem Haupt des Zeus.
Maia: Griechische Göttin des Wachstums, später eine Nym
phe. Zeus zeugte mit ihr Hermes (vgl. Anmerkung zu III, 283).
Persephone: Griechische Göttin der Unterwelt, später Göttin
der Fruchtbarkeit und des vegetativen Lebens. Tochter des
Zeus und der Demeter (vgl. Anmerkung zu III, 304).
428 KOMMENTAR
304 Themis: Griechische Göttin der Gerechtigkeit, des Rechts und
der Sittlichkeit, über deren Einhaltung bei Göttern und Men
schen sie wachte.
Mnemosyne: Griechische Göttin, die Gedächtnis und Erinne
rung verkörpert. Durch Zeus gebar sie die neun Musen.
307 Wischnu: Eine der Hauptgottheiten des Hinduismus; er ver
körpert das Prinzip der Welterhaltung.
Ödipus: Sohn des griechischen Königs Laios und der Joka-
ste; er wuchs bei Pflegeeltern auf und heiratete später als
König von Theben die Witwe seines Vorgängers, den er er
mordet hatte, nicht wissend, daß dieser sein Vater und jene
seine Mutter war. Als Ödipus dies später erkannte, blendete er
sich.
308 Hesiod: Griechischer Schriftsteller aus dem 8. Jahrhundert
v. Chr. Er begründete die lehrhafte epische Dichtung mit sei
ner Theogonie, in der er in 1022 Versen die Entstehung der
Welt und die Genealogie der Götter beschrieb.
Zehntes Kapitel
3 11 weiser Parse: Anhänger der persischen Lehre des Zarathustra,
die besonders in der Sassanidenzeit (224-642) vorherrschte.
Grundzug des Parsismus ist der Dualismus zwischen bösen
und guten Geistern. Mit Hilfe des »Heiligen Buchs«, der Awe-
sta, soll der Mensch den Weg zum Guten finden. Nach der is
lamischen Eroberung Persiens wanderten die meisten Parsen
nach Indien aus, wo heute noch etwa 120000 Anhänger der
Lehre leben.
313 jenem Esel: Genteint ist der Esel Buridan, der sich zwischen
zwei Heuhaufen nicht entscheiden kann und verhungert. Die
se gleichnishafte Geschichte wird dem Scholastiker Jean Buri
dan (1300-1358) zugeschrieben.
314 >Mitleid und Perspektive oder die Ansichten eines Baumes<:
Beim von Mintzlaff zitierten Epigramm eines seiner Freunde
spielt Kästner selbstironisch auf ein Gedicht aus seiner Samm
lung Kurz und bündig (1950) an (vgl. /, 276)
318 Friedrich von Ofterdingen: Die Schwindeleien des angebli
chen Professor Mintzlaff steigert Kästner hier zu einem gro
tesken Scherz: mit der Anspielung auf den Roman Hein
rich von Ofterdingen (1802) und seinen Verfasser Novalis
(1772-1801), der eigentlich Friedrich Freiherr von Harden
432 KOMMENTAR
VIII. Kurze Geschichten und Kurzgeschichten
Erstausgabe: Gesammelte Schriften. 7 Bände. Zürich, Berlin, Köln
1959, Band 2 (8 Erzählungen)
und Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bände. München,
Zürich, 1969, Band. 4(11 Erzählungen).
Von den elf publizierten Erzählungen werden in diesem Band acht
gedruckt. Die übrigen drei finden sich aus systematischen Gründen
hier in VIII341, 347,383, da es sich (zumindest vorrangig) um Ge
schichten für Kinder handelt.
Kästners Kurzgeschichten sind von unterschiedlicher Qualität,
er schrieb sie für diverse Tageszeitungen, manche sind offenbar zum
schnellen Verzehr bestimmt. Von schulischen Erziehungstraumata
und militärisch-sadistischem Drill handeln die durch eigene Erfah
rungen gestützten und literarisch geglückten Erzählungen Die Kin
derkaserne und Duell bei Dresden. Aus allen Geschichten aber ragt
eine in ihrer sprachlichen und epischen Verknappung, Dichte und
Lakonie heraus: Verkehrt hier ein Herr Stobrawa? Es ist die Schil
derung einer ganz alltäglichen Begebenheit; eine kleine, alte Dame
wird von ihrem deftigen, lärmend-lebenslustigen Ehemann mit ei
ner jungen Geliebten betrogen. Eines Tages versichert sie sich des
sen, was sie ohnehin weiß. Sie bewahrt ihre Würde vor aller Öf
fentlichkeit, und nicht gedemütigt verläßt sie schweigend den Ort
der Tat, wo sie zur Augenzeugin des Betrugs wurde.
Die Kinderkaserne
Erstdruck: Neue Leipziger Zeitung, 18.10.192 5, S. 29; Nachdruck:
Beyers für Alle, Kinderzeitung, Jahrgang 2, Heft 23, 8. März 1928,
S. 4- 5 und Nachdruck: Junge deutsche Dichtung. Hrsg. v. Kurt Fir
neberg und Helmut Hurst. Berlin 1930, S. 199-203.
342 Beranger: Pierre Jean de Beranger (1780-1857), französischer
Schriftsteller. Er rühmte in seinen populären Gedichten Na
poleon I.
344 Punische Kriege: Die Kriege zwischen Rom und Karthago
fanden 264-241, 218-201 und 149-146 v. Chr. statt. Nach
zeitweiligen Erfolgen, vor allem durch Hannibal (247-183
v. Chr.), endeten sie mit der Niederlage der Punier, und Rom
konnte seine Herrschaft über den westlichen Mittelmeerraum
sichern.
La cigale et la fourmi: Die Grille und die Ameise-, bekannte
Fabel des französischen Dichters Jean de La Fontaine (1621
bis 1695), der mit seinen rund 240 lehrhaft-vergnüglichen Fa
beln die in der Antike von Asop begründete Gattung wieder
belebte.
434 KOMMENTAR
349 Soffitten: Vom Schnürboden herabhängendes Dekorations
stück, das eine Bühne nach oben abschließt.
dionysische Seligkeit: Vom griechischen Gott Dionysos (vgl.
Anmerkung zu III, 229) abgeleitete Bezeichnung für rausch-
hafte Zustände.
Puccini: Giacomo Puccini (1858-1924), italienischer Kompo
nist, der vor allem spätromantische Opern schuf.
Mimi: Gemeint ist die weibliche Hauptfigur in Puccinis Oper
La Boheme.
350 Korps: Hier: studentische Verbindung.
Ladnerin: Veraltete Bezeichnung für Verkäuferin.
436 KOMMENTAR
inneres Verhältnis, obwohl kein Wort darüber gesprochen wird, je
dem Leser nahe geht, streifen durch das »Leben dieser Zeit«. Das
Milieu gibt Berlin und Dresden. In ihren Köpfen wird die Not die
ser Zeit bewußt, in ihren Herzen ringt sie mit Sehnsucht und Hoff
nung (s. hierzu den prächtigen Schluß des fünfzehnten Kapitels und
Abschiedsbrief Labudes). Auch diese Freundschaft kann keine po
sitiven Ergebnisse zeitigen. Beide Freunde sterben - gewissermaßen
aus Versehen.
Daß der grundehrliche Charakter Kästners dem Leser mitunter
abstoßende und erschreckende Situationen zumutet, ist nicht Schuld
des Verfassers, sondern Schuld der Zeit. Kästner will bessern, indem
er die Wahrheit aufdeckt. Darauf basiert sein ganzes Schaffen und
dessen Notwendigkeit. In des Verfassers Ehrlichkeit liegt die Ehr
lichkeit des Buches und seine Absicht begründet. Sie wird deutlich,
wenn dieser keusche Jakob Fabian seinem guten Herzen die Frei
heit gibt, sich zu zeigen. So wird das Buch zu einer Anklage größ
ten Stils - zu einem Menetekel.
Das Buch will nicht Dichtung sein - es will wahr sein. Man wird
an der Phantasie des Verfassers keinen Trost suchen können. Es sind
Beobachtungen und Erlebnisse - auch der Selbstmord Labudes und
seine Ursache sind erlebt (aber genügend kaschiert). Ob die Kom
position oder gewisse Einzelheiten der ersten neun Kapitel nicht
gemildert werden können, darüber wäre wohl noch mit Kästner zu
korrespondieren - aber vielleicht ist es notwendig, das Folgende so
vorzubereiten.
Der Titel ist noch eine ernsthafte Sorge. Kästner bezeichnete ur
sprünglich das Buch »Saustall«, aber dieser Titel trifft zu höchstens
für die ersten neun Kapitel. (Und Kästner weiß, daß dieser Titel
buchhändlerisch nicht möglich ist.) Ein anderer Gedanke von ihm:
»Saustall ohne Herkules« ist treffender, denn es ist ein Bestandteil
des Buches, aufzuzeigen, daß die Kraft und Fähigkeit, den Saustall
zu säubern, noch fehlt. Aber auch dieser Titel ist noch nicht umfas
send (s. Fabian mit der Mutter, Fabian mit dem Erfinder, Fabian mit
dem Kind im Warenhaus, Fabian mit Cornelia).
Wieder ein Gedanke Kästners ist der Titel »Jugend im Vacuum«.
Er ist zweifellos treffend, aber Kästner glaubt, daß er nicht gut ge
nug klinge und aussehe.
Den besten Titel hat Stefan Zweig vorweggenommen. »Verwir
rung der Gefühle« wäre treffend. Schlachthaus des Herzens, in das
Europa geraten ist, Wartesaal, Provisorium ... aber auch das sind
noch keine Titel.
2 Brief von Curt Weller an Erich Kästner vom i o. Juli 1931 (Typo
skript, Erich-Kästner-Archiv).
Lieber Herr Kästner,
das Manuskript ist gelesen. Ich beglückwünsche Sie aufrichtig
und von ganzem Herzen zu dieser ersten größeren epischen Arbeit.
Wer nicht an dem Geschehen hängen bleibt, muß erschüttert sein.
Und daraus erwächst mein Vertrauen zu diesem Buch.
Ich sende Ihnen anliegend die erste Formulierung meines Ein
drucks, die natürlich noch nicht umfassend ist. Sie werden daraus
ersehen, daß ich einige Bedenken gegen die ersten neun Kapitel
habe. Ich gestehe ein, daß ich direkt aufgeatmet habe, als im zehn
ten Kapitel Menschlichkeit (wenigstens was man darunter verste
hen möchte) in Erscheinung tritt. Diese nüchternen Schilderungen
der Erlebnisse in den ersten neun Kapiteln wirken geradezu erkäl
tend. Vielleicht war es aber Ihre Absicht und ich wäre Ihnen dank
bar, wenn Sie mir dazu Einiges schreiben wollten.
Die Nachworte halte ich für sehr angebracht. Aber sind sie in
dieser Form endgültig?
Die Titelfrage ist in der Tat schwer zu lösen, aber ich werde mich
weiter damit beschäftigen. Schade, daß Stefan Zweig den besten
Titel vorweggenommen hat. Herr Lang, der eben mit der Lektüre
Ihres Romans beschäftigt ist, weil er nächste Woche in Urlaub geht,
nannte auch einen Titel »Herz unter Null«. Aber ich weiß nicht, ob
Sie nach »Herz auf Taille« dazu den Mut hätten, und er trifft auch
nicht ganz. Ich zweifle aber nicht, daß gemeinsame Bemühungen
doch noch zu einem Titel führen werden.
Herrn Dr. Kilpper werde ich morgen das Manuskript geben. Sie
wissen ja, daß die Annahme von ihm abhängen wird.
Ich zweifle nicht an dem Erfolg des Buches und würde mich
438 KOMMENTAR
freuen, für Ihr neues Werk mich ganz besonders einsetzen zu kön
nen. Freilich, es wird heftig angegriffen werden, aber dagegen steht
Ihre leidenschaftliche Ehrlichkeit, die durch Ihre Lyrik bekannt ge
nug geworden ist (- und wie der Vortrag zeigte, selbst in Stuttgart
Verständnis fand).
Wenn Ihr Buch allen so viel gibt wie mir, so hat es seinen Zweck
erfüllt. Und außerdem bin ich vergnügt darüber, Kästner noch bes
ser kennen gelernt zu haben.
Grüßen Sie Ihre gute und so echte Mutter vielmals von mir. Was
wird sie zu diesem Buche sagen?
Im übrigen geben Sie mir bald Ihre nächste Adresse und seien Sie
herzlich gegrüßt von
Ihrem dankbaren
Curt Weller
Ihnen ergeben
Heinrich Mann
440 KOMMENTAR
Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der
verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch
hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!
7 Fabian
9 Erstes Kapitel
16 Zweites Kapitel
24 Drittes Kapitel
35 Viertes Kapitel
44 Fünftes Kapitel
51 Sechstes Kapitel
58 Siebentes Kapitel
66 Achtes Kapitel
75 Neuntes Kapitel
83 Zehntes Kapitel
90 Elftes Kapitel
101 Zwölftes Kapitel
112 Dreizehntes Kapitel
123 Vierzehntes Kapitel
131 Fünfzehntes Kapitel
138 Sechzehntes Kapitel
146 Siebzehntes Kapitel
154 Achtzehntes Kapitel
161 Neunzehntes Kapitel
168 Zwanzigstes Kapitel
175 Einundzwanzigstes Kapitel
182 Zweiundzwanzigstes Kapitel
189 Dreiundzwanzigstes Kapitel
195 Vierundzwanzigstes Kapitel
200 Fabian und die Sittenrichter
202 Fabian und die Kunstrichter
INHALTSVERZEICHNIS 443
211 Die Doppelgänger
444 INHALTSVERZEICHNIS
369 Anhang
371 Nachwort
385 Kommentar
436 Die Entstehungsgeschichte des
Fabian in Dokumenten
INHALTSVERZEICHNIS 445
FABIAN
FABIAN UND DIE SITTENRICHTER
FABIAN UND DIE KUNSTRICHTER
DER HERR OHNE BLINDDARM
DIE DOPPELGÄNGER
DER ZAUBERLEHRLING
BRIEFE AN MICH SELBER
KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN
“Fabian, der notorisch hellsichtige Schwarzseher, ist seiner Zeit voraus. Das
verbindet Kästner mit einigen wenigen zeitgenössischen Intellektuellen, mit
Tucholsky, Feuchtwanger, Kesten und Ossietzky. Er wittert die bevorstehenden
Totalitarismen von rechts und links. Vor allem aber ist Fabian der Roman eines
Satirikers, der weiß, daß der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch ist. Und
der dennoch, im verstecktesten Winkel seines Herzens ‘die törichte, unsinnige
Hoffnung’ kultiviert, ‘daß die Menschen vielleicht doch ein ganz klein wenig besser
werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt’.”
Aus dem Nachwort von Beate Pinkemeil