(Werke 3) Erich Kästner - Möblierte Herren - Romane I

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ERICH KÄSTNER

Möblierte Herren

Romane I

HANSER
Erich Kästner • Werke
Band III
Erich Kästner

Möblierte Herren

Romane I

HERAUSGEGEBEN VON
BEATE PINKERNEIL

Carl Hanser Verlag


ISBN 3-446-19564-5 (Leinen)
ISBN 3-446-19563-7 (Broschur)

Alle Rechte an dieser Gesamtausgabe vorbehalten


© Carl Hanser Verlag München Wien 1998
Ausstattung: Bernd Pfarr
Gestaltung und Herstellung:
Hanne Koblischka und Meike Harms
Texterfassung: Randall L. Jones,
Brigham Young University, Provo/Utah
Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
Inhaltsübersicht

7 Fabian

200 Fabian und die Sittenrichter

202 Fabian und die Kunstrichter

205 Der Herr ohne Blinddarm

211 Die Doppelgänger

227 Der Zauberlehrling

325 Briefe an mich selber

333 Kurze Geschichten und Kurzgeschichten

369 Anhang

371 Nachwort

385 Kommentar

443 Inhaltsverzeichnis
FABIAN

Die Geschichte eines Moralisten


Erstes Kapitel
Ein Kellner als Orakel
Der andere geht trotzdem hin
Ein Institut für geistige Annäherung

Fabian saß in einem Cafe namens Spalteholz und las die


Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explo­
diert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjäh­
riges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolg­
lose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergar­
ten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche
Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die
Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf
dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal
um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000 Metall­
arbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Mos­
kau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das
tägliche Pensum. Nichts Besonderes.
Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das
Zeug schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das
her, in der Mensa am Oranienburger Tor dreimal wöchentlich
Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt hatte, verabscheute er
Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an und rief den Kell­
ner.
»Womit kann ich dienen?« fragte der.
»Antworten Sie mir auf eine Frage.«
»Bitteschön.«
»Soll ich hingehen oder nicht?«
»Wohin meinen der Herr?«
»Sie sollen nicht fragen. Sie sollen antworten. Soll ich hin­
gehen oder nicht?«
Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann
trat er von einem Plattfuß auf den anderen und meinte verle­
gen: »Das beste wird sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher,
mein Herr.« Fabian nickte. »Gut. Ich werde hingehen. Zah­
len.«

ERSTES KAPITEL 9
»Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!«
»Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen.«
»Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?«
»Dann auch. Bitte zahlen!«
»Das versteh ich nicht«, erklärte der Kellner ärgerlich.
»Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?«
»Wenn ich das wüßte«, antwortete Fabian.
»Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig,
neunzig Pfennig«, deklamierte der andere.
Fabian legte eine Mark auf den Tisch und ging. Er hatte kei­
ne Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am Wittenbergplatz
auf den Autobus i klettert, an der Potsdamer Brücke in eine
Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwan­
zig Minuten später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau
drinsitzt, die Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich
nicht wissen, wo man ist.
Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet,
über Holzbohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stun­
denhotels entlang, zum Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug hol­
te er die Adresse heraus, die ihm Bertuch, der Bürochef, auf­
geschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau Sommer. Er fuhr bis
zum Zoo. Auf der Joachimstaler Straße fragte ihn ein dünn­
beiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er be-
schied das Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und
entkam.
Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten wa­
ren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel
konnten sich schämen. Ein Flugzeug knatterte über die Dä­
cher. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die Passanten blick­
ten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an
jenes Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hoch­
hebt, um das Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt.
Dann holte er von der steifen Krempe eines fremden Hutes ei­
nen Taler herunter. »Besucht die Exotikbar, Noliendorfplatz 3,
Schöne Frauen, Nacktplastiken, Pension Condor im gleichen
Hause«, stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vor­
stellung, er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hin­

10 FABIAN
unter, auf den jungen Mann in der Joachimstaler Straße, im Ge­
wimmel der Menge, im Lichtkreis der Laternen und Schaufen­
ster, im Straßengewirr der fiebrig entzündeten Nacht.
Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er
überquerte den Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte
eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge war es, mit den elektrischen
Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen Fabians Stiefelabsatz.
Er drehte sich mißbilligend um. Es war die Straßenbahn gewe­
sen. Der Schaffner fluchte.
»Passense auf!« schrie der Polizist.
Fabian zog den Hut und sagte: »Werde mir Mühe geben.«

In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Liliputaner, er­


klomm eine zierliche Leiter, half dem Besucher aus dem Man­
tel und verschwand. Kaum war der kleine Grüne weg, rausch­
te eine üppige Dame, bestimmt Frau Sommer, durch den Vor­
hang und sagte: »Darf ich Sie in mein Büro bitten?« Fabian
folgte.
»Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bertuch
empfohlen.«
Sie blätterte in einem Heft und nickte. »Bertuch, Friedrich
Georg, Bürochef, 40 Jahre, mittelgroß, brünett, Karlstraße 9,
musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht über fünf­
undzwanzig Jahre alt.«
»Das ist er!«
»Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und war in die­
ser Zeit fünfmal anwesend.«
»Das spricht für das Institut.«
»Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch
kostet zehn Mark extra.«
»Hier sind dreißig Mark.« Fabian legte das Geld auf den
Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheine in eine
Schublade, nahm einen Federhalter und sagte: »Die Persona­
lien?«
»Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Re­
klamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun.
Was müssen Sie noch wissen?«

ERSTES KAPITEL II
»Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?«
»Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu
Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe ge­
hört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig.
Lassen Sie die Rubrik frei.«
Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame
erhob sich und erklärte ernst: «Ich darf Sie, bevor wir hin­
eingehen, mit den wichtigsten Statuten bekanntmachen. An­
näherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übel­
genommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben
Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und
den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen
Herrschaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichten
des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort
zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hat keins der Paare
Anspruch darauf, respektiert zu werden. Paare, die ungestört
zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen.
Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen,
nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vor­
übergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, wer­
den ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise
Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden,
Herr Fabian?«
»Vollkommen.«
»Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.«
Dreißig bis vierzig Personen mochten anwesend sein. Im er­
sten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde getanzt.
Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an,
sagte, daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und
verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner
Kognaksoda und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsge­
sellschaft?
»Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind«, bemerk­
te ein kleines schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben
ihn. Fabian bot ihr zu rauchen an.
»Sie wirken sympathisch«, sagte sie. »Sie sind im Dezember
geboren.«

12 FABIAN
»Im Februar.«
»Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann.
Ziemlich kalte Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?«
»Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Sub­
stanzpartikel bestünden aus umeinander kreisenden elektri­
schen Energiemengen. Halten Sie diese Ansicht für eine Hy­
pothese oder für eine Anschauung, die dem wahren Sachver­
halt entspricht?«
»Empfindlich sind Sie auch noch?« rief die Person. »Aber es
macht nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?«
Er hob die Schultern. »Ist das ein förmlicher Antrag?«
»Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig.
Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür
interessieren mich die Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den
ich sehe und der mir gefällt, als Ehemann vor.«
»In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen.«
Sie lachte, als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf
sein Knie. »Richtig gehofft! Man behauptet, ich litte an stel­
lungssuchender Phantasie. Sollten Sie im Verlauf des Abends
das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen, meine Woh­
nung und ich sind klein, aber stabil.«
Er entfernte die fremde und unruhige Hand von seinem
Knie und meinte: »Möglich ist alles. Und jetzt will ich mir das
Lokal ansehen.« Er kam nicht dazu. Wie er sich erhob und um­
wandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame
vor ihm und sagte: »Man wird gleich tanzen.« Sie war größer
als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige Schwadro-
neuse befolgte die Statuten und verschwand. Der Kellner setz­
te das Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewe­
gung. Man tanzte.
Fabian betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatte ein blas­
ses infantiles Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie,
ihrem Tanze nach, zu sein schien. Er schwieg und spürte, daß
in wenigen Minuten jener Grad von Schweigsamkeit erreicht
wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines belanglosen dazu,
unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den Fuß. Sie
wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander

ERSTES KAPITEL 13
neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufge­
rissen hatten. Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis
mit dem grünen Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich
diese Liaison nicht auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob
er noch bleiben wolle; sie breche auf. Er ging mit.

Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine


Adresse, stieg ein und nötigte ihn, neben ihr Platz zu nehmen.
»Aber ich habe nur noch zwei Mark«, erklärte er.
»Das macht fast gar nichts«, gab sie zur Antwort, und dem
Chauffeur rief sie zu: »Licht aus!« Es wurde dunkel. Der Wa­
gen ruckte an und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über
ihn her und biß ihn in die Unterlippe. Er schlug mit der Schlä­
fe gegen das Verdeckscharnier, hielt sich den Kopf und sagte:
»Aua! Das fängt gut an.«
»Sei nicht so empfindlich«, befahl sie und überschüttete ihn
mit Aufmerksamkeiten.
Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm
weh. Fabian war nicht bei der Sache. »Ich wollte eigentlich, be­
vor Sie mich erwürgen, noch einen Brief schreiben«, röchelte er.
Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu
verziehen, die Tonleiter hinauf und herunter und strangulierte
weiter. Seine Bemühung, sich der Frau zu erwehren, wurde zu­
sehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung führte zu neuen
Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere
Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang.
Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blonde ihr Ge­
sicht, bezahlte die Fahrt und äußerte, vor der Haustür: »Er­
stens ist dein Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst
du bei mir eine Tasse Tee.«
Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen und sagte:
»Ihr Antrag ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro
sein.«
»Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. Das Mädchen
wird dich wecken.«
»Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause
schlafen. Ich erwarte früh sieben Uhr ein dringendes Tele­

14 FABIAN
gramm. Das bringt die Wirtin ins Zimmer und rüttelt mich, bis
ich aufwache.«
»Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhal­
ten wirst?«
»Ich weiß sogar, was drinsteht.«
»Nämlich?«
»Es wird heißen: »Scher dich aus dem Bett. Dein treuer
Freund Fabian.< Fabian, das bin ich.« Er blinzelte in das Laub
der Bäume und freute sich über den gelben Glanz der Later­
nen. Die Straße lag ganz still. Eine Katze lief geräuschlos ins
Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser entlangspazieren
könnte!
»Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?«
»Nein, aber das ist der pure Zufall«, sagte er.
»Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konse­
quenzen nichts liegt?« fragte sie ärgerlich und schloß die Tür
auf.
»Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig.«
»Also hopp!« sagte sie. »Der Neugier sind keine Schranken
gesetzt.« Die Tür schloß sich hinter ihnen.

ERSTES KAPITEL 15
Zweites Kapitel
Es gibt sehr aufdringliche Damen
Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen
Betteln verdirbt den Charakter

Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog das Taschen­


tuch und rieb die roten Flecken aus dem Gesicht. Die Kra­
watte saß schief. Die Schläfe brannte. Und die blasse Blondine
sah auf ihn herunter. »Wissen Sie, was eine Megäre ist?« fragte
er. Sie legte den Arm um ihn. »Ich weiß es, aber ich bin hüb­
scher.«
Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öffnete.
»Bringen Sie uns Tee.«
»Der Tee steht in Ihrem Zimmer.«
»Gut. Gehen Sie schlafen!» Das Mädchen verschwand im
Korridor. Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradewegs ins
Schlafzimmer, schenkte Tee ein, stellte Kognak und Zigaret­
ten zurecht und sagte mit einer umfassenden Geste: »Bediene
dich!«
»Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!«
»Wo?« fragte sie. Er überhörte das. »Sie heißen Moll?«
»Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasialbildung etwas
zu lachen haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder.«
Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß.
»Na, es wird ja langsam«, meinte sie und entfernte sich. Er
trank einen Schluck Tee und ein Glas Kognak. Dann musterte
er das Zimmer. Das Bett war niedrig und breit. Die Lampe gab
indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt.
Er trank noch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittert
war es nicht.

Was hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig
Jahre alt und hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser
Abend begann ihn zu reizen. Er trank den dritten Kognak und
rieb sich die Hände. Er betrieb die gemischten Gefühle seit lan­
gem aus Liebhaberei. Wer sie untersuchen wollte, mußte sie

16 FABIAN
haben. Nur während man sie besaß, konnte man sie beobach­
ten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt.
»So, nun wird der kleine Junge geschlachtet«, sagte die Blon­
dine. Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen.
Er trat einen Schritt zurück. Sie aber rief »Hurra!« und sprang
ihm derart an den Hals, daß er die Balance verlor, kippte und
samt der Dame auf den Fußboden zu sitzen kam.
»Ist sie nicht schrecklich?« fragte da eine fremde Stimme.
Fabian blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit
einem Pyjama bekleidet, ein dürrer, großnasiger Mensch und
gähnte.
»Was wollen Sie denn hier?« fragte Fabian.
»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wis­
sen, daß Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen.«
»Mit Ihrer Frau?«
Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vor­
wurfsvoll: »Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schie­
fe Lage bringen! Wenn du schon wünschst, daß ich mir deine
Neuerwerbungen anschaue, kannst du sie mir wenigstens ge­
sellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das wird dem
Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als
du mich wecktest... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsan­
walt und außerdem«, er gähnte herzzerreißend, »und außer­
dem der Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen
breitmacht.«
Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und
ordnete seinen Scheitel. »Hält sich Ihre Gattin einen männli­
chen Harem? Mein Name ist Fabian.«
Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Es freut
mich, einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen.
Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich. Das
ist Ansichtssache. Aber falls Sie der Gedanke beruhigt: ich bin
daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz.«
Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne,
streichelte ihn und sagte zu ihrem Mann: »Wenn er dir nicht
gefällt, brech ich den Kontrakt.«
»Aber er gefällt mir ja«, antwortete der Rechtsanwalt.

ZWEITES KAPITEL 17
»Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen
oder ein Rodelschlitten«, meinte Fabian.
»Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!« rief die Frau
und preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte
Brust.
»Himmeldonnerwetter!« schrie er. »Lassen Sie mich gefäl­
ligst in Ruhe!«
»Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene«, erklär­
te Moll. »Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und
ihm dort alles Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die
Situation als merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir
dann wieder herüber. Gute Nacht.« Der Rechtsanwalt gab sei­
ner Frau die Hand.
Sie stieg in ihr niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwi­
schen den Kissen und sagte: »Gute Nacht, Moll, schlaf gut.
Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch.«
»Ja, ja«, antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort.
Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zün­
dete sich eine Zigarre an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke
über die Knie und blätterte in einem Aktenbündel.
»Mich geht zwar die Sache nichts an«, begann Fabian, »aber
was Sie sich von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Wer­
den Sie oft von ihr aus dem Bett geholt, um die Liebhaber zu
taxieren?«
»Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese
Begutachtung als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr un­
serer Ehe setzten wir einen Kontrakt auf, dessen Paragraph 4
lautet: >Die Vertragspartnerin verpflichtet sich, jeden Men­
schen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht,
zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen.
Spricht sich dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Ire­
ne Moll angewiesen, unverzüglich auf die Ausführung ihres
Vorhabens zu verzichten. Jedes Vergehen gegen den Paragra­
phen wird mit einer hälftigen Kürzung der finanziellen Mo­
natszuwendung geahndet.< Der Kontrakt ist sehr interessant.
Soll ich ihn in extenso vorlesen?« Moll holte den Schreibtisch­
schlüssel aus der Tasche.

18 FABIAN
»Bemühen Sie sich nicht!« Fabian wehrte ab. »Wissen möch­
te ich nur, wieso Sie auf den Gedanken verfielen, einen solchen
Kontrakt überhaupt aufzusetzen.«
»Meine Frau träumte so schlecht.«
»Wie?«
»Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. Es war offen­
sichtlich, daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehe­
dauer zunahmen und Wunschträume erzeugten, von deren In­
halt Sie, mein Herr, sich glücklicherweise noch keine Vorstel­
lung machen können. Ich zog mich zurück, und sie bevölkerte
ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und Tänzerin­
nen. Was blieb mir übrig? Wir schlossen einen Vertrag.«
»Meinen Sie nicht, daß eine andere Behandlung erfolgrei­
cher und geschmackvoller gewesen wäre?« fragte Fabian un­
geduldig.
»Zum Beispiel, mein Herr?« Der Rechtsanwalt setzte sich
aufrecht.
»Zum Beispiel: pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?«
»Ich hab’s versucht. Es tat mir zu weh.«
»Das kann ich gut verstehen.«
»Nein!« rief der Rechtsanwalt, »das können Sie nicht ver­
stehen! Irene ist sehr kräftig, mein Herr.«
Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der
Schreibtischvase, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich,
lief im Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermut­
lich hatte es dem alten langen Kerl auch noch Vergnügen ge­
macht, von seiner Frau übers Knie gelegt zu werden.
»Ich will gehen«, sagte er. »Geben Sie mir den Hausschlüs­
sel!«
»Ist das Ihr Ernst?« fragte Moll ängstlich. »Aber Irene er­
wartet Sie doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird
außer sich geraten, wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie
wird denken, ich hätte Sie weggeschickt. Bleiben Sie, bitte! Sie
hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie ihr doch das kleine
Vergnügen!«
Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am
Jackett. »Bleiben Sie doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie

ZWEITES KAPITEL 19
werden wiederkommen. Sie werden unser Freund bleiben. Und
ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie’s mir zu Ge­
fallen.«
»Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Monats­
einkommen garantieren?«
»Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unver­
mögend.«
»Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich! Ich
eigne mich nicht für den Posten.«
Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gab Fa­
bian einen Schlüsselbund und sagte: »Jammerschade, Sie waren
mir von Anfang an sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein
paar Tage. Vielleicht überlegen Sie sich’s. Ich würde mich je­
denfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen.«
Fabian knurrte: »Gute Nacht«, ging leise durch die Diele,
nahm Hut und Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hin­
ter sich zu und galoppierte die Treppe hinunter. Auf der Straße
holte er tief Atem und schüttelte den Kopf. Da spazierten die
Menschen hier unten vorüber und hatten keine Ahnung, wie
verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafte Gabe,
durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, war eine
Kleinigkeit gegen die Leistung, das, was man dann sähe, zu er­
tragen.
»Ich bin sehr neugierig«, hatte er der blonden Person er­
zählt, und nun lief er auf und davon, statt seine Neugier mit
dem Ehepaar Moll zu füttern. Dreißig Mark war er losgewor­
den. Zwei Mark hatte er noch in der Tasche. Aus dem Abend­
essen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und quer
durch düstere unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor
den Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er
in die Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam
in der Spichernstraße aus der Unterwelt wieder hinauf unter
den freien Himmel.
Er ging in sein Stammcafe. Nein, Doktor Labude sei nicht
mehr da. Er habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, be­
stellte Kaffee und rauchte.
Der Wirt, ein gewisser Herr Kowalski, erkundigte sich nach

20 FABIAN
dem werten Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr
Komisches passiert. Kowalski lachte, daß die falschen Zähne
blitzten. Der Kellner Nietenführ habe es zuerst beobachtet.
»Dort drüben am runden Tisch saß ein junges Paar. Die bei­
den unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand
des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Ziga­
rette an und war von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig
ist.«
»Das ist doch nicht komisch.«
»Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die
Frau - hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte
gleichzeitig mit einem Herrn vom Nebentisch! Und das in ei­
ner Weise! Nietenführ holte mich unauffällig heran. Der An­
blick war toll. Der Kerl steckte ihr schließlich einen Zettel zu.
Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen Wisch und warf ihn auf
den Nebentisch. Währenddem sprach sie aber auch auf ihren
Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute -
ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Si­
multanspielerin übertraf alle.«
»Warum ließ er sich denn das gefallen?«
»Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt so­
fort! Also, wir wunderten uns natürlich auch, warum er sich
das bieten ließ. Er saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig,
legte den Arm um ihre Schulter, und währenddem nickte sie
dem Mann vom Nebentisch zu. Der nickte zurück, machte
Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging dann
hinüber, weil sie zahlen wollten.« Herr Kowalski streckte den
massigen Kopf hoch und lachte himmelwärts.
»Nun, woran lag’s?«
»Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!« Der
Wirt machte eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fa­
bian blickte erstaunt hinterher. Der Fortschritt der Menschheit
war unverkennbar.
An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfs­
kellner waren damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann
hinauszudrängen. »Scheren Sie sich auf der Stelle fort. Den gan­
zen Tag diese Bettelei, das ist ekelhaft«, sagte Nietenführ zi-

ZVEITES KAPITEL 21
sehend. Und der Hilfskellner zerrte den Menschen, der blaß
war und kein Wort sprach, hin und her.
Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern
zu: »Lassen Sie sofort den Herrn los!« Die zwei gehorchten
widerstrebend.
»Da sind Sie ja«, meinte Fabian und gab dem Bettler die
Hand. »Es tut mir außerordentlich leid, daß man Sie gekränkt
hat. Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch.« Er
führte den Mann, der nicht wußte, wie ihm geschah, in seine
Ecke, hieß ihn Platz nehmen und fragte: »Was möchten Sie es­
sen? Wollen Sie ein Glas Bier trinken?«
»Sie sind sehr freundlich«, sagte der Bettler. »Aber ich wer­
de Ihnen Ungelegenheiten machen.«
»Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich; bitte, etwas aus.«
»Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und
hinausschmeißen.«
»Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen!
Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der Magen
knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu sitzen? Sie sind
ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends durch die Tür läßt.«
»Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders dar­
über«, sagte der Mann. »Ich schlafe am Engelufer in der Her­
berge. Zehn Mark zahlt mir die Fürsorge. Mein Magen ist
krank vom vielen Kaviar.«
»Was sind Sie von Beruf?«
»Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Ge­
fängnis war ich auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Das
einzige, was ich noch nicht erlebt habe, ist der Selbstmord.
Aber das läßt sich nachholen.« Der Mann saß auf der Stuhl­
kante und hielt die Hände zitternd vor den Westenausschnitt,
um das dreckige Hemd zu verbergen.
Fabian wußte nicht, was er sagen sollte. Er probierte, im
Kopf, viele Sätze. Keiner war am Platz. Er stand auf und sag­
te: »Einen Augenblick, der Kellner wünscht, von einer Abord­
nung geholt zu werden.« Er lief nach dem Büfett, stellte den
Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn
durchs Lokal.

22 FABIAN
Der Bettler war fort.
»Ich zahle morgen!« rief Fabian, stürzte aus dem Cafe und
sah sich um. Der Mann war verschwunden.

»Wen suchen Sie denn?« fragte jemand. Es war Münzer, Re­


dakteur Münzer. Er knöpfte den Mantel zu, brannte sich eine
Zigarre an und sagte: »So ein Blödsinn. Ich hätte die Partie glatt
gewonnen. Schmalnauer hat wie ein Rhinozeros gespielt. Aber
ich muß zum Nachtdienst. Das deutsche Volk will morgen
früh wissen, wieviel Dachstuhlbrände stattfanden, während es
schlief.«
»Sie sind doch politischer Redakteur«, entgegnete Fabian.
«Dachstuhlbrände gibt’s auf jedem Gebiet«, sagte Münzer.
»Gerade nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen
Sie was, kommen Sie mit! Sehen Sie sich mal unsern Zirkus an.«
Münzer stieg in einen kleinen Privatwagen. Fabian setzte
sich neben den Redakteur. »Seit wann haben Sie übrigens ein
Auto?« fragte er.
»Ich hab es unserm Handelsredakteur abgekauft. Dem wur­
de das Ding zu teuer«, erklärte Münzer. »Er ärgert sich immer
so schön, wenn er mich in sein ehemaliges Prachtstück klettern
sieht. Das ist der Spaß schon wert. Wissen Sie, daß Sie auf ei­
genes Risiko mitfahren? Sollten Sie sich das Genick brechen,
tun Sie’s auf Ihre Rechnung.«
Dann fuhren sie los.

ZWEITES KAPITEL 23
Drittes Kapitel
Vierzehn Tote in Kalkutta
Es ist richtig, das Falsche zu tun
Die Schnecken kriechen im Kreis

Der Korridor war leer. In der Handelsredaktion brannte


Licht, es saß niemand im Zimmer, die Tür stand offen. »Scha­
de, daß Malmy schon im Haus ist«, sagte Münzer verstimmt.
»Nun hat er sein Auto wieder nicht gesehen. Moment. Mal
horchen, was sich in der Weltgeschichte tut.« Er riß eine Tür
auf, Schreibmaschinen klapperten, aus den an einer Zimmer­
wand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Ferne,
die Stimmen der Stenotypistinnen.
»Was Wichtiges?« schrie Münzer in den Lärm hinein. »Die
Rede des Reichskanzlers«, antwortete eine Frau. »Richtig«,
sagte der Redakteur. »Der Kerl schmeißt mir mit seiner Quas­
selei die ganze erste Seite über den Haufen. Liegt der Text voll­
ständig vor?«
»Zelle Zwei nimmt das zweite Drittel auf!«
»Sofort in die Maschine damit, dann zu mir!« kommandier­
te Münzer, schlug die Tür zu und führte Fabian in die Räume
der politischen Redaktion. Während sie ablegten, zeigte er auf
den Schreibtisch. »Schauen Sie sich die Bescherung an! Erdbe­
ben aus Papier!« Er wühlte in dem Haufen neu eingegangener
Meldungen, schnitt mit einer Schere, wie ein Zuschneider, ei­
niges ab und legte es beiseite. Den Rest warf er in den Papier­
korb. »Marsch, ins Körbchen«, sagte er dabei. Dann klingelte
er, bestellte bei einem livrierten Boten eine Flasche Mosel mit
zwei Gläsern und gab Geld. Der Bote stieß in der Tür mit ei­
nem aufgeregten jungen Mann zusammen, der hereinwollte.
»Der Chef hat eben angerufen«, erzählte der junge Mann
atemlos. »Ich mußte im Leitartikel fünf Zeilen streichen. Sie
wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme gerade
aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen las­
sen.«
»Sie sind ein Tausendsassa,« erklärte Münzer. »Ich mache

24 FABIAN
bekannt: Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor
sich, Irrgang ist der Künstlername. Herr Fabian.« Die beiden
gaben einander die Hand.
»Aber«, sagte Herr Irrgang betreten, »nun sind doch in der
Spalte fünf Zeilen frei.«
»Was tut man in einem so außergewöhnlichen Fall?« fragte
Münzer.
»Man füllt die Spalte«, erklärte der Volontär.
Münzer nickte. »Steht nichts im Satz?« Er wühlte in den
Bürstenabzügen. »Ausverkauft«, erklärte er. »Saure Gurken­
zeit.« Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt
hatte, und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein«, schlug
der junge Mann vor.
»Sie hätten Säulenheiliger werden sollen«, sagte Münzer.
»Oder Untersuchungsgefangener oder sonst ein Mensch mit
viel Zeit. Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfin­
det man sie. Passen Sie mal auf!« Er setzte sich hin, schrieb
rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab das Blatt
dem jungen Mann.
»So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn’s nicht reicht, ein Vier­
tel Durchschuß.«
Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz
leise: »Allmächtiger Vater« und setzte sich, als sei ihm plötz­
lich schlecht geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen
knisternden Berg ausländischer Zeitungen.
Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs
Hand zitterte, und las: »In Kalkutta fanden Straßenkämpfe
zwischen Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl
die Polizei der Situation sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote
und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe ist vollkommen wie­
derhergestellt.« Ein alter Mann schlurfte in Pantoffeln ins Zim­
mer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer
hin. »Kanzlerrede, Fortsetzung«, murmelte er. »Den Schluß ge­
ben sie in zehn Minuten durch.« Dann schleppte er sich wie­
der davon. Münzer klebte die sechs Blätter, aus denen die Rede
vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein mittelalterliches

DRITTES KAPITEL *5
Spruchband aussahen, dann begann er zu redigieren. »Mach
hurtig, Jenny«, sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang.
»Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattge­
funden«, entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er
den Kopf und meinte fassungslos: »Vierzehn Tote.«
»Die Unruhen haben nicht stattgefunden?« fragte Münzer
entrüstet. »Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta
finden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im
Stillen Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken
Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder
erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und
nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie matern und
der Stadtausgabe beilegen.« Der junge Mann ging.
»Und so was will Journalist werden«, stöhnte Münzer und
strich aufseufzend und mit einem Bleistift in der Rede des
Reichskanzlers herum. »Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten,
das wäre was für den Jüngling. Gibt’s aber leider nicht.«
»Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zwei­
undzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkut­
ta?« fragte Fabian.
Münzer bearbeitete den Reichskanzler. »Was soll man ma­
chen?« sagte er. »Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leu­
ten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kernge­
sund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist
nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.« Und dabei
strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede
heraus. »Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldun­
gen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten da­
durch, daß man weder das eine noch das andere bringt. Die be­
quemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche
Meinungslosigkeit.«
»Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein«,
meinte Fabian.
»Und wovon sollen wir leben?« fragte Münzer. »Außerdem,
was sollten wir statt dessen tun?«
Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die
Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. »Die vierzehn

26 FABIAN
toten Inder sollen leben!« rief er und trank. Dann fiel er wie­
der über den Kanzler her. »Einen Stuß redet unser hehres
Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!« erklärte er. »Das
ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in
dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Un­
tersekunda kriegte er dafür die Drei.« Er drehte sich zu Fabian
herum und fragte: »Und wie überschreibt man den Scherz­
artikel?«
»Ich möchte lieber wissen, was Sie drunterschreiben«, sagte
Fabian ärgerlich.
Der andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im
Mund, schluckte hinter und antwortete: »Keine Silbe. Nicht ein
Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rük-
ken zu fallen. Wenn wir dagegen schreiben, schaden wir uns,
wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Fabian. »Schrei­
ben Sie dafür!«
»O nein«, rief Münzer. »Wir sind anständige Leute. Tag
Malmy.«

Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte


ins Zimmer.
»Sie dürfen ihm nichts Übelnehmen«, sagte der Handelsre­
dakteur zu Fabian. »Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und
glaubt bereits, was er lügt. Uber seinem Gewissen liegen zehn
weiche Betten, und obenauf schläft Herr Münzer den Schlaf
des Ungerechten.«
Der alte Bote brachte wieder Schreibmaschinenblätter. Mün­
zer griff nach dem Leimtopf, vervollständigte das Spruchband
des Reichskanzlers und redigierte weiter.
»Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?« fragte Fa­
bian Herrn Malmy. »Was tun Sie außerdem?«
Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund.
»Ich lüge auch«, erwiderte er. »Aber ich weiß es. Ich weiß, daß
das System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein
Blinder. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe.
Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein beschei­

DRITTES KAPITEL 27
denes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnah­
men naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicher­
weise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz,
und ich bin außerdem ...«
»Ein Zyniker«, warf Münzer ein, ohne aufzublicken.
Malmy hob die Schultern. »Ich wollte sagen, ein Feigling.
Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Verstand
in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ich
tue nichts mehr dagegen.«
Doktor Irrgang, der junge Mann, trat ein und besprach mit
Münzer an Hand der Postauflage, welche Meldungen sie aus
dem Blatt werfen und welche sie statt dessen in die Stadtaus­
gabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat zwei Dach­
stuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige nebu­
löse Worte gefallen, die der deutschen Minderheit in Polen gal­
ten. Den ostelbischen Großgrundbesitzern waren vom Land­
wirtschaftsminister Zollerhöhungen in Aussicht gestellt wor­
den. Die Untersuchung gegen die Direktoren des Städtischen
Beschaffungsamtes hatte eine einschneidende Wendung erfah­
ren.
»Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?«
fragte Münzer. »Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine
gute Schlagzeile. Die Sache muß in Satz. Wenn die Matern zu
spät kommen, kriegen wir wieder Krach mit dem Maschinen­
meister.«
Der junge Mann dachte so angestrengt nach, daß seine Stirn
schwitzte. »Der Kanzler fordert Vertrauen«, schlug er vor.
»Mäßig«, urteilte Münzer. »Nehmen Sie sich ein Wasserglas,
und trinken Sie erst einen Schluck Wein!« Der junge Mann be­
folgte den Rat, als sei er ein Befehl.
»Deutschland oder Die Trägheit des Herzens«, sagte Malmy.
»Reden Sie keinen Unsinn!« rief der politische Redakteur.
Dann schrieb er eine Zeile groß mit dem Blaustift über das Ma­
nuskript und erklärte: »Der Groschen gehört mir.«
»Was haben Sie denn geschrieben?« fragte Fabian.
Münzer drückte auf den Klingelknopf und erklärte pathe­
tisch: »Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!« Der Bote

28 FABIAN
holte die Papiere. Der Handelsredakteur griff in die Tasche
und legte wortlos ein Zehnpfennigstück auf den Schreibtisch.
Sein Kollege blickte verwundert hoch.
»Ich eröffne hiermit eine Aktion, die umgehend notwendig
wird«, behauptete Malmy.
»Um welche Aktion handelt es sich?«
»Darum, Ihnen Ihr Schulgeld zurückzuerstatten«, sagte
Malmy; und Irrgang, der politische Lehrling, lachte in Gren­
zen. Dann stürzte er ans Telefon. Es hatte geläutet. »Ein Abon­
nent möchte etwas wissen«, bekundete er nach einiger Zeit und
überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. »Sie sitzen am
Stammtisch und haben gewettet, ob es die Tür oder die Türe
heißt.« Münzer nahm ihm den Hörer weg. »Einen Augen­
blick«, sagte er. »Wir sagen Ihnen sofort Bescheid, mein Herr.«
Dann winkte er Irrgang und flüsterte: »Feuilleton.«
Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die
Achseln.
»Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte schön.
Guten Abend.« Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüt­
telte den Kopf und steckte Malmys Groschen ein.
Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der
Nähe des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich
von einem Setzer, der nach Hause ging, das Blatt bringen las­
sen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. Er hatte sich über
ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile auf der er­
sten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der Theater­
kritiker, an den Tisch gekommen.
Nun tranken sie fleißig. Irrgang, der junge Mann, war schon
fast hinüber. Strom, der Kritiker, verglich einige namhafte Re­
gisseure mit Schaufensterdekorateuren, das Theater der Ge­
genwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des
Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramati­
ker, behauptete Strom, es gebe welche.
»Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr«, bemerkte Mün­
zer schwerzüngig, und Strom lachte ohne Anlaß.

DRITTES KAPITEL 29
Fabian ließ sich inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Malmy
über kurzfristige Anleihen aufklären. »Erstens werden Reich
und Wirtschaft in wachsendem Maße überfremdet«, behaup­
tete der Redakteur. »Zweitens genügt ein Riß, und die ganze
Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in großen Posten abgerufen
wird, sacken wir alle ab, die Banken, die Städte, die Konzerne,
das Reich.«
»Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon«, sagte Irrgang.
»Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, was gi­
gantische Formen annimmt, kann imponieren, auch die Dumm­
heit.« Malmy musterte den jungen Mann. »Gehen Sie mal rasch
hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter im Anzug.« Irrgang
legte den Kopf auf den Tisch. »Werden Sie Sportredakteur«,
riet Malmy. »Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt nicht so
große Anforderungen.« Der Volontär stand auf, schwankte
durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand.
Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. »Ich bin ein
Schwein«, murmelte er.
»Eine ausgesprochen russische Atmosphäre«, stellte Strom
fest.
»Alkohol, Selbstquälerei, Tränen bei erwachsenen Männern.«
Er war ergriffen und streichelte dem Politiker die Glatze.
»Ich bin ein Schwein«, murmelte der andere. Er blieb dabei.
Malmy lächelte Fabian zu. »Der Staat unterstützt den un­
rentablen Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerindu­
strie. Sie liefert ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland,
aber sie verkauft sie innerhalb unserer Grenzen über dem
Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu teuer;
der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt den
Schwund der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besit­
zenden nicht aufzubürden wagt; das Kapital flieht ohnedies
milliardenweise über die Grenzen. Ist das etwa nicht konse­
quent? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da läuft doch
jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!«
»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer und fing mit vor­
geschobener Unterlippe die Tränen auf.
»Sie überschätzen sich, Verehrter«, sagte der Handelsredak­

30 FABIAN
teur. Münzer zog, während er weiter weinte, ein gekränktes
Gesicht. Er war entschieden beleidigt, daß man ihn daran hin­
dern wollte, das zu sein, wofür er sich, wenn auch nur im be­
trunkenen Zustand, hielt.
Malmy fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären.
»Die Technik multipliziert die Produktion. Die Technik dezi­
miert däs Arbeitsheer. Die Kaufkraft der Massen hat die ga­
loppierende Schwindsucht. In Amerika verbrennt man Getrei­
de und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In Frankreich
jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen
Sie sich das vor! Die Menschen sind verzweifelt, weil der Bo­
den zu viel trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu
fressen! Wenn in so eine Welt kein Blitz fährt, dann können
sich die historischen Witterungsverhältnisse begraben lassen.«
Malmy stand auf, wankte ein wenig und schlug ans Glas. Die
Umsitzenden sahen ihn an.
»Meine Herrschaften«, rief er, »ich will eine Rede halten.
Wer dagegen ist, stehe auf.«
Münzer erhob sich mühsam.
»Der stehe auf«, rief Malmy, »und verlasse das Lokal.«
Münzer setzte sich nieder, Strom lachte.
Nun begann Malmy seine Rede: »Wenn das, woran unser
geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt,
sagt man schlicht, sie habe die Paralyse. Und sicher ist Ihnen
allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mit­
samt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es
um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus?
Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses
Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht
weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet
die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist.«
»Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Verglei­
che!« rief Strom. »Ich bin nicht fest auf dem Magen.«
»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy.
»Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitge­
nossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß ei­
nige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch

DRITTES KAPITEL 31
sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen
Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß- es
sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. »Wozu
sind die andern da?< denkt jeder und wiegt sich im Schaukel­
stuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist,
dahin Geld, wo wenig ist Die Schieberei und das Zinszahlen
nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang.«
»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer, hob sein Glas und
hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.
»Der Blutkreislauf ist vergiftet«, rief Malmy. »Und wir be­
gnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der
sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann man
eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es nicht. Der Patient
geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, ka­
putt!«
Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn
und sah den Redner bittend an.
»Lassen Sie die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy.
»Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin
ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne
eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu
wollen, ist Quacksalberei!«
»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, behauptete
Münzer und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf.
Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Maßstab.
Und Malmy mußte,um den Kollegen zu übertönen, noch lau­
ter sprechen. »Sie werden einwenden, es gebe ja zwei große
Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts oder
links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem
sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Aller­
dings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren,
aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit trei­
ben.«
Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig ge­
nug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein
dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzuwen­
den, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er in verkehrter

3* FABIAN
Richtung: »Mediziner hätten Sie werden sollen.« Dann plump­
ste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die
helle Wut, und er brüllte: »Geld brauchen wir. Geld. Und wie­
der Geld!«
Münzer nickte und flüsterte: »Montecuccoli war auch ein
Schwein.« Dann weinte er wieder weiter.
Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. »Ein­
fach lächerlich«, knurrte er. »Geistige Erneuerung, Trägheit
des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund.
Das wäre ja gelacht wäre das ja!«
Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war
wie er, fragte: »Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Ar­
thur?«
»Hab ich dich gefragt?« schrie er, schon wieder aufgebracht.
Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vor­
beiging, am Rockschoß fest und sagte: »Noch ein Sülzkotelett,
und Essig und Öl.«
Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: »Habe
ich recht? Wegen solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten?
Ich denke nicht daran. Es wird weitergelogen. Es ist richtig,
das Falsche zu tun.«
Münzer hatte sich’s bequem gemacht, lag auf dem Sofa und
schnarchte schon, obwohl er noch gar nicht schlief. »Und Ihr
Auto habe ich doch«, grunzte er und drehte die Pupillen zu
Malmy hinüber.
Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sie kamen
Arm in Arm daher und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht.
»Ich vertrage keinen Alkohol«, erläuterte Irrgang entschul­
digend. Die zwei nahmen Platz. »Ein Kriegsprodukt«, sagte
Strom. »Eine bedauernswerte Generation.« Dieser Theaterkri­
tiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten Din­
ge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie un­
glaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in sei­
nem Pathos von der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier,
Fabian hätte plötzlich an der Richtigkeit der Rechnung ge­
zweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und betrachtete
Malmy. Der saß steif auf dem Stuhl und war mit dem Blick

DRITTES KAPITEL 33
sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen
Ruck, sah Fabian an und sagte: »Man sollte sich mehr zusam­
mennehmen. Schnaps zerfrißt den Maulkorb.«
Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Fabi­
an erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt dem
Handelsredakteur.
»Aber vielleicht haben Sie recht«, meinte Malmy und lächel­
te traurig.

»Ich bin nicht mehr ganz nüchtern«, sagte Fabian, als er vor der
Tür stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der
Trunkenheit, das einen glauben machen will, man spüre die
Umdrehungen der Erde. Die Bäume und Häuser stehen noch
ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als Zwil­
linge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es ein­
mal! Doch heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seinem
Schwips her und tat, als kennten sie einander nicht. Was war
das für eine komische Kugel, ob sie sich nun drehte oder nicht!
Er mußte an eine Zeichnung von Daumier denken, die »Der
Fortschritt« hieß. Daumier hatte auf dem Blatt Schnecken dar­
gestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der
menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im
Kreis!
Und das war das Schlimmste.

34 FABIAN
Viertes Kapitel

Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom


Frau Hohlfeld ist neugierig
Ein möblierter Herr liest Descartes

Am nächsten Morgen kam Fabian müde ins Büro. Außerdem


hatte er einen Kater. Fischer, der Kollege, begann die Arbeit
damit, daß er zunächst frühstückte. »Wo nehmen Sie bloß den
permanenten Hunger her?« fragte Fabian. »Sie verdienen
weniger als ich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein Sparkonto.
Und dabei essen Sie derartig viel, daß ich davon mit satt wer­
de.«
Fischer kaute hinter. »Das liegt bei uns in der Familie«, er­
klärte er. »Wir Fischers sind dafür berühmt.«
»Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen,« sagte Fabian
ergriffen.
Fischer rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. »Bevor ich’s
vergesse, Kunze hat eine Inseratenserie gezeichnet, zu der wir
gereimte Zweizeiler liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher.«
»Ihr Zutrauen ehrt mich«, sagte Fabian, »aber ich habe noch
mit den Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu tun.
Dichten Sie inzwischen ruhig drauflos. Denn was nützt Ihnen
und Ihrer werten Familie das Frühstücken, wenn sich’s nicht
reimt?« Er sah durchs Fenster, zur Zigarettenfabrik hinüber
und gähnte. Der Himmel war grau wie der Asphalt auf den
Radrennbahnen. Fischer ging auf und ab, gab Falten lebhaften
Unwillens zum besten und fing Reimwörter.
Fabian rollte ein Plakat auf, befestigte es mit Reißzwecken
an der Wand, stellte sich in die entlegenste Zimmerecke und
starrte das Plakat an, das mit einer Fotografie des Kölner Do­
mes und einer vom Plakathersteller daneben errichteten, dem
Dom an Größe nichts nachgebenden Zigarette bedeckt war. Er
notierte: »Nichts geht über ... So groß ist ... Turmhoch über
allen ... Völlig unerreichbar ...« Er tat seine Pflicht, obwohl er
nicht einsah, wozu.
Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Un­

VIERTES KAPITEL 35
terhaltung an. »Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigun­
gen bevor.«
»Schon möglich«, sagte Fabian.
»Was fangen Sie an«, fragte der andere, »wenn man Sie hier
vor die Tür setzt?«
»Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation da­
mit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu
machen? Wenn ich hier fliege, such ich mir einen neuen Beruf.
Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an.«
»Erzählen Sie mal was von sich«, bat Fischer.
»Während der Inflation hab ich für eine Aktiengesellschaft
Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte jeden Tag zweimal den Ef­
fektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute wußten,
wie groß ihr Kapital war.«
»Und dann?«
»Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen
gekauft.«
»Warum gerade einen Grünwarenladen?«
»Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Dok­
tor Fabians Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch
dunkel war, zogen wir mit einem wackligen Handwagen in die
Markthalle.«
Fischer stand auf. »Wie? Doktor sind Sie auch?«
»Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich
beim Messeamt als Adressenschreiber angestellt war.«
»Wie hieß denn Ihre Dissertation?«
»Sie hieß >Hat Heinrich von Kleist gestottert?«. Erst wollte
ich an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans
Sachs Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu
lange. Genug. Dichten Sie lieber!« Er schwieg und ging vor
dem Plakat auf und ab. Fischer schielte neugierig zu ihm hin.
Doch er wagte nicht, das Gespräch zu erneuern. Seufzend
drehte er sich im Stuhl herum und musterte seine Reimnotizen.
Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das
Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration ver­
trauend, die Augen zu.
Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: »Ja, ist

36 FABIAN
hier. Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort.« Und
zu Fabian meinte er: »Ihr Freund Labude.« Fabian nahm den
Hörer. »Tag, Labude, was gibt’s?«
»Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?« fragte der
Freund.
»Ich habe aus der Schule geplaudert.«
»Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?«
»Ich komme.«
»In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Labude.« Er hängte ab. Fischer hielt ihn
am Ärmel fest.
»Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen
Sie ihn eigentlich nicht beim Vornamen?«
»Er hat keinen«, meinte Fabian. »Die Eltern haben seiner­
zeit vergessen, ihm einen zu geben.«
»Er hat überhaupt keinen Vornamen?«
»Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich
einen beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht.«
»Sie veralbern mich ja«, rief Fischer gekränkt.
Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte:
»Sie merken alles.« Dann widmete er sich von neuem dem
Kölner Dom, schrieb ein paar Schlagzeilen auf und brachte sie
zu Direktor Breitkopf.
»Sie können sich mal ein kleines hübsches Preisausschreiben
ausdenken«, meinte der Direktor. »Ihr Prospekt für Detail­
händler hat uns ganz gut gefallen.«
Fabian verbeugte sich leicht.
»Wir brauchen etwas Neues«, fuhr der Direktor fort. »Ein
Preisausschreiben oder was Ähnliches. Es darf aber nichts ko­
sten, verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich ge­
äußert, er müsse den Reklame-Etat möglicherweise um die
Hälfte reduzieren. Was das für Sie bedeuten würde, können Sie
sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die Arbeit! Bringen
Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie
möglich, ’n Morgen.«
Fabian ging.
Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaf­

VIERTES KAPITEL 37
fee inbegriffen, Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er
einen Brief von seiner Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er
nicht. Das warme Wasser war kalt. Er wusch sich nur, wech­
selte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den Brief
seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm
trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten
Etage übte jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebil­
dete Oberrechnungsrat seine Frau an. Fabian öffnete das Ku­
vert und las:
»Mein lieber, guter Junge!
Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor
hat gesagt, es ist nichts Schlimmes. Es ist wohl was mit den
Drüsen. Und kommt bei älteren Leuten öfter vor. Mach Dir
also meinetwegen keine Sorgen. Ich war erst sehr nervös. Aber
nun wird es schon wieder werden mit dem alten Lehmann. Ge­
stern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne ha­
ben Junge. Im Parkcafe verlangen sie siebzig Pfennig für die
Tasse Kaffee, so eine Frechheit.
Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase sagte
im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich.
Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den
Karton zur Post. Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als
das letzte Mal. Wie leicht kann unterwegs was wegkommen.
Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie hat eben ein Stück Gur­
gel gefressen und nun stößt sie mich mit dem Kopf und will
mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie vergan­
gene Woche, Geld in den Brief steckst, reiß ich Dir die Ohren
ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber.
Macht es Dir denn wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame zu
machen? Die Drucksachen, die Du schicktest, haben mir gut
gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein Jammer, daß Du
solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht seine Schuld.
Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der
kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den
Schornstein fällt. Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur
ein Übergang.
Der Vater hat halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der

38 FABIAN
Wirbelsäule zu sein. Er geht ganz krumm. Tante Martha brach­
te gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten. Die Hühner le­
gen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur nicht so
viel Arger mit dem Mann hätte.
Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach
Hause kommen könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit
vergeht. Da hat man nun ein Kind und hat eigentlich keins. Die
paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am liebsten setzte ich
mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher war
das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich
mir die Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt du noch, wenn
wir den Rucksack nahmen und loszogen? Einmal kamen wir
mit einem ganzen Pfennig zurück. Da muß ich gleich lachen,
während ich dran denke.
Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten
wird es ja wohl nicht werden. Gehst Du immer noch so spät
schlafen? Grüß Labude. Und er soll auf Dich aufpassen. Was
machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater läßt Dich
grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter.«
Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hin­
unter. Warum saß er hier in dem fremden gottverlassenen Zim­
mer, bei der Witwe Hohlfeld, die das Vermieten früher nicht
nötig gehabt hatte? Warum saß er nicht zu Hause, bei seiner
Mutter? Was hatte er hier in dieser Stadt, in diesem verrückt
gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen Unsinn
schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauch­
te als bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort ab­
warten, wo er geboren worden war. Das hatte er davon, daß er
sich einbildete, der Globus drehe sich nur, solange er ihm zu­
schaue. Dieses lächerliche Bedürfnis, anwesend zu sein! Ande­
re hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten, ließen ihre
Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema.
Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zu­
sehen und ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause.
Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden.
Der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen.
Das Ziel keiner Klasse!

VIERTES KAPITEL 39
Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte:
»Pardon, ich dachte, Sie wären noch nicht da.« Sie kam näher.
»Haben Sie gestern nacht den Krach gehört, den Herr Tröger
veranstaltet hat? Er hatte wieder Frauenzimmer mit oben. Das
Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das noch einmal vor­
kommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im an­
dern Zimmer wohnt?«
»Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu hel­
fen.«
»Aber Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Abstei­
gequartier!«
»Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem
gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im
Widerspruch zur Moral der Vermieterinnen stehen.«
Die Wirtin wurde ungeduldig. »Aber er hatte mindestens
zwei Frauenzimmer bei sich!«
»Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird
sein, Sie teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine
Dame mitbringen. Und wenn er sich nicht danach richtet, las­
sen wir ihn von der Sittenpolizei kastrieren.«
»Man geht mit der Zeit«, erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne
Stolz und rückte noch näher. »Die Sitten haben sich geändert.
Man paßt sich an. Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja
auch noch nicht so alt.«
Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich
wogte ihr unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag
schlimmer. Fand sich denn wirklich niemand für sie? Nachts
stand sie vermutlich, auf bloßen Füßen, vor dem Zimmer des
Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs Schlüsselloch, sei­
nen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal
blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Frü­
her war diese Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und
sagte: »Schade, daß Sie keine Kinder haben.«
»Ich gehe schon.« Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zim­
mer. Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek.
Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Sta­
peln darauf. Darüber, an der Wand, hing eine Stickerei mit der

40 FABIAN
Inschrift: »Nur ein Viertelstündchen.« Er hatte, als er einzog,
den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern ange­
bracht. Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem
der Bücher. Geschadet hatte es fast nie.
Er griff zu. Es war Descartes. »Betrachtungen über die Grund­
lagen der Philosophie«, so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre
waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in
der mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jah­
re waren mitunter eine lange Zeit. Auf der anderen Straßensei­
te hatte ein Schild gehangen: »Chaim Pines, Ein- und Verkauf
von Fellen.«
War das alles, was er von damals wußte? Bevor er vom Ex­
aminator aufgerufen wurde, war er, mit dem Zylinder eines an­
deren Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore spa­
ziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war
dann durchgefallen und nach Amerika gegangen.
Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes
ihm mitzuteilen? »Schon Vorjahren bemerkte ich, wieviel Fal­
sches ich von Jugend auf als wahr hingenommen hatte und wie
zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete. Darum
war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund
auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je
irgend etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses
schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so war­
tete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen an­
gemessene Alter ab. Darum habe ich so lange gezögert, daß ich
jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die Zeit, die mir zu
handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das
trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei,
und ich habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich
mich in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen
allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen unternehmen.«
Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen
nach, die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kais'erallee ent­
langfuhren, und schloß vorübergehend die Augen. Dann blät­
terte er und überflog die Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war
Descartes alt gewesen, als er seine Revolution ankündigte. Am

VIERTES KAPITEL 41
Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein bißchen beteiligt. Ein
kleiner Kerl, mit immensem Schädel. »Von allen Sorgen frei.«
Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm
Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog
den Mantel an. Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem
Reisenden mit dem starken Frauenverbrauch. Sie zogen die
Hüte.

Labudes zweite Wohnung lag im Zentrum. Wenige wußten da­


von. Hierhin zog er sich zurück, wenn ihm der Westen, die no­
ble Verwandtschaft, die Damen der guten Gesellschaft und das
Telefon auf die Nerven gingen. Und hier hing er seinen wis­
senschaftlichen und sozialen Neigungen nach.
»Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?« fragte
Fabian.
»Davon später.«
»Und wie befindet sich das Fräulein Braut?«
»Danke gut«, sagte Labude und trank den Kognak, der vor
ihm stand. »Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen.«
»Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?«
»Nein. Er hat keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen,
Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Ha­
bilitationsschrift gelesen hat, habe ich einen kniefreien Voll­
bart.« Labude schenkte sich ein und trank.
»Sei nicht nervös. Die Kerle werden sich wundern, wie du
aus Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denk­
vorgänge des Mannes rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst,
als den Logos mit Freilauf dargestellt und noch nie verstanden
haben.«
»Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die ge­
weihte Logik eines toten Schriftstellers psychologisch auswer­
ten, Denkfehler entdecken und individuell und als sinnvolle
Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen zwei Zeitaltern
schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufs­
fertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur
ärgern werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in
Ruhe. Fünf Jahre habe ich diesen Kerl seziert, auseinanderge­

42 FABIAN
nommen und zusammengesetzt! Auch eine Beschäftigung für
einen erwachsenen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert
wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!«
Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte
sich ein.
Labude blickte vor sich hin. »Heute morgen war ich dabei,
wie sie in der Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Ei­
nen Sinologen. Er hat seit einem Jahr seltene Drucke und Bil­
der der Bibliothek gestohlen und verkauft. Er wurde blaß wie
eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich erst mal auf
die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde
er abtransportiert.«
»Der Mann hat den Beruf verfehlt«, sagte Fabian. »Wozu
lernt er erst Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt?
Es steht schlimm. Jetzt räubern schon die Philologen.«
»Trink aus und komm!« rief Labude.
Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheuß­
liche Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle.
»Wir fahren zu Haupt«, sagte Labude.

VIERTES KAPITEL 43
Fünftes Kapitel

Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett


Fräulein Paula ist insgeheim rasiert
Frau Moll wirft mit Gläsern

In Haupts Sälen war, wie an jedem Abend, Strandfest. Punkt


zehn Uhr stiegen im Gänsemarsch zwei Dutzend Straßen­
mädchen von der Empore herunter. Sie trugen bunte Badetri­
kots, gerollte Wadenstrümpfe und Schuhe mit hohen Absät­
zen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal
und erhielt einen Schnaps gratis. Diese Vergünstigungen waren
in Anbetracht des darniederliegenden Gewerbes nicht zu ver­
achten. Die Mädchen tanzten anfangs miteinander, damit die
Männer etwas zu sehen hatten.
Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle
erregte die an der Barriere drängenden Kommis, Buchhalter
und Einzelhändler. Der Tanzmeister schrie, man möge sich auf
die Damen stürzen, und das geschah. Die dicksten und frech­
sten Frauenzimmer wurden bevorzugt. Die Weinnischen wa­
ren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit dem Lip­
penstift. Die Orgie konnte beginnen.
Labude und Fabian saßen an der Rampe. Sie liebten dieses
Lokal, weil sie nicht hierher gehörten. Das Nummernschild
ihres Tischtelefons glühte ohne Unterbrechung. Der Apparat
surrte. Man wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der
Gabel und legte ihn unter den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe.
Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik, das Gelächter und
der Gesang waren nicht persönlich gemeint und konnten ihnen
nichts anhaben.
Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigaret­
tenfabrik, von der verfressenen Familie Fischer und vom Köl­
ner Dom. Labude blickte den Freund an und sagte: »Du müß­
test endlich vorwärtskommen.«
»Ich kann doch nichts.«
»Du kannst vieles.«
»Das ist dasselbe«, meinte Fabian. »Ich kann vieles und will

44 FABIAN
nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen?
Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funk­
tion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist
nicht da, und nichts hat Sinn.«
»Doch, man verdient beispielsweise Geld.«
»Ich bin kein Kapitalist!«
»Eben deshalb.« Labude lachte ein bißchen.
»Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich
habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen?
Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß
man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Pla­
kate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist über­
haupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen
Menschen? Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Un­
terschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will
keine Zinsen, ich will keinen Mehrwert.«
Labude schüttelte den Kopf. »Das ist Indolenz. Wer Geld
verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen.«
»Was fang ich mit der Macht an?« fragte Fabian. »Ich weiß,
du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht
mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind
Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt.«
»Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden.«
»Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an, jener für seine
Familie, der eine für seine Steuerklasse, der andere für diejeni­
gen, die blonde Haare haben, der fünfte für solche, die über
zwei Meter groß sind, der sechste, um eine mathematische For­
mel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld und
Macht!« Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber die
war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb
stumm.
»Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich
brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir
ein Lebensziel einpflanzen!« Labude war ernstlich bekümmert
und legte die Hand auf den Arm des Freundes.
»Ich sehe zu. Ist das nichts?«
»Wem ist damit geholfen?«

FÜNFTES KAPITEL 45
»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht ha­
ben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und
führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat
einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat auf­
zubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich
sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse
vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen
wird ... Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte
helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen.
Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche
Eignung hin anzuschauen.«
Labude hob sein Glas und rief: »Viel Vergnügen!« Er trank,
setzte ab und sagte: »Erst muß man das System vernünftig ge­
stalten, dann werden sich die Menschen anpassen.«
Fabian trank und schwieg.
Labude fuhr erregt fort: »Das siehst du ein, nicht wahr?
Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von ei­
nem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvoll­
kommenen zuzustreben, das sich verwirklichen läßt. Es ist dir
bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme.«
»Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Ar­
beitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unter­
stützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!«
Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die
eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem
Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, und ihr
Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. »Schenkt uns ’ne
Zigarette«, sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin. La­
bude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen
Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer
Pause mit verrosteter Stimme: »Na ja, so ist das.«
»Wer spendiert ’nen Schnaps?« fragte die Dicke.
Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige
Weintrauben, alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setz­
ten sich in eine Ecke. Die Wand war mit der Pfalz bei Caub be­
malt. Fabian dachte an Blücher, Labude bestellte Likör. Die
Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten sie die

46 FABIAN
zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke
Blonde den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und
tat wie zu Hause. Die Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer,
zupfte Labude an der Nase und kicherte blöde. »Oben sind
Nischen«, sagte sie, strich die blauen Trikothosen von den
Schenkeln zurück und zwinkerte.
»Woher haben Sie so rauhe Hände?« fragte Labude.
Sie drohte mit dem Finger. »Nicht, was du denkst«, rief sie
und verschluckte sich vor Schelmerei.
»Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet«, sag­
te die Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so
lange über die Brüste, bis die Brustwarzen groß und fest wur­
den. »Gehen wir dann ins Hotel?« fragte sie.
»Ich bin überall rasiert«, erläuterte die Magere und war nicht
abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie müh­
sam vor dem Äußersten zurück.
»Man schläft nachher besser«, sagte die Blondine zu Fabian
und reckte die festen Beine.
Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tran­
ken, als hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang
gedämpft herüber. An der Bar saß ein riesenhafter Kerl und
gurgelte mit Kirschwasser. Der Scheitel reichte ihm bis ins
Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte eine elektrische
Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten.
»Oben sind Nischen«, sagte die Magere wieder, und man
stieg hinauf. Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller
mit Fleisch und Wurst vor den Mädchen stand, vergaßen sie al­
les übrige und kauten darauflos. Unten im Saal wurde die
schönste Figur prämiert. Die Frauen drehten sich mit ihren
knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und die
Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie
auf dem Viehmarkt.
»Der erste Preis ist eine große Bonbonniere«, erklärte die
kauende Paula, »und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim
Geschäftsführer wieder abliefern.«
»Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu
dick«, sagte die Blondine. »Dabei sind dicke Beine das beste,

FÜNFTES KAPITEL 47
was es gibt. Ich war einmal mit einem russischen Fürsten zu­
sammen, der schreibt mir noch jetzt Ansichtskarten.«
»Quatsch!« knurrte Paula. »Jeder Mann will was anderes.
Ich habe einen Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lun­
genkranke. Und Viktorias Freund hat einen Buckel, und sie
sagt, das braucht sie zum Leben. Da mach was dagegen. Ich
finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram.«
»Gelernt ist gelernt«, behauptete die Dicke und angelte das
letzte Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde ge­
rade die schönste Figur ausgerufen. Die Kapelle spielte einen
Tusch. Der Geschäftsführer überreichte der Siegerin eine gro­
ße Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt, verneigte sich vor
den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem
Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie’s ins Büro zurück.
»Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konser­
venfabrik?« fragte Labude, und seine Frage klang recht vor­
wurfsvoll.

Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Ma­
gen und erzählte: »Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und
zweitens wurde ich abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was
über den Direktor. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen ver­
führt. Verführt ist übertrieben. Aber er glaubte den Zimt. Und
dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse fünfzig Mark
haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag
ging ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab.«
»Das ist ja Erpressung!« rief Labude.
»Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals
schickte, fand das auch. Ich mußte einen Wisch unterschrei­
ben, bekam hundert Mark, und aus war’s mit der Lebensrente.
Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in den Mund.«
»Es ist furchtbar«, sagte Labude zu Fabian, »es ist schreck­
lich, wie viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrau­
chen.«
Die Dicke rief: »Ach, Mensch, was redest du da. Wenn ich
ein Mann wäre, und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd
Angestelltenverhältnisse.« Dann fuhr sie Fabian in die Haare,

48 FABIAN
Versetzte ihm einen Kuß, ergriff seine Hand und legte sie platt
auf ihren satten Magen. Labude und Paula tanzten miteinan­
der. Sie hatte tatsächlich krumme Beine.
In der Nachbarnische sang eine Frau laut und mit betrun­
kener Stimme:

»Die Liebe ist ein Zeitvertreib.


Man nimmt dazu den Unterleib.«

Die Dicke sagte: »Die nebenan ist ’ne Marke. Sie gehört gar
nicht hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter
trägt sie was ganz Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus
dem Westen sein, sogar verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in
die Nische, bezahlt für sie und gibt an, daß die Wände rot wer­
den.« Fabian erhob sich und blickte über die halbhohe Zwi­
schenwand hinweg nebenan.
Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große gut­
gewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, da­
bei, einen Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte,
auszuziehen. »Kerl!« rief sie, »mach nicht einen so schlappen
Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!« Aber der brave Infanterist
stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte ägyptische Mini­
stergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel Abra­
hams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, pack­
te ein Sektglas und taumelte zur Brüstung.
Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene
Moll, deren Schlüssel er im Mantel hatte.
Schwankend stand sie an der Balustrade, hob das spitze Glas
hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem
Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanz­
paare hoben erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Ni­
sche hinauf.
Frau Moll streckte die Hand aus und rief: »Männer nennt
sich das! Wenn man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Mei­
ne sehr verehrten Damen, ich schlage vor, die Bande einzu­
sperren. Meine sehr verehrten Damen, wir brauchen Männer­
bordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!« Sie schlug sich

FÜNFTES KAPITEL
49
emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im
Saal wurde gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs.
Irene Moll fing an zu weinen. Das Schwarz der getuschten
Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen liniierten ihr Ge­
sicht. »Laßt uns singen!« schrie sie schluchzend und schluk-
kend. »Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!« Sie brei­
tete beide Arme aus und brüllte:

»Auch der Mensch ist nur ein Tier,


Immer, und erst recht zu zweit.
Komm und spiel auf mir Klavier!
Komm und spieleee auf mir
die Schule der Geläufigkeit.
Dazu bin ich ja ...«

Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand


die Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu
ihr hinblickenden Fabian, riß sich los und schrie: »Dich kenn
ich doch!« und wollte zu ihm. Aber der Reichswehrsoldat, der
sich inzwischen erholt hatte, und der Geschäftsführer packten
sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde wieder mu­
siziert und getanzt.
Labude hatte während der Szene bezahlt, gab Paula und der
Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort.
In der Garderobe fragte er: »Sie kennt dich wirklich?«
»Ja«, sagte Fabian, »sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsan­
walt und zahlt jede Summe, wenn man mit ihr schläft. Die
Schlüssel dieser komischen Familie habe ich noch in der Ta­
sche. Hier sind sie.«
Labude nahm die Schlüssel weg, rief: »Ich komme gleich
wieder!« und lief in Hut und Mantel zurück.

5° FABIAN
Sechstes Kapitel

Der Zweikampf am Märkischen Museum


Wann findet der nächste Krieg statt?
Ein Arzt versteht sich auf Diagnose

Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: »Hast
du mit dieser Verrückten etwas gehabt?«
»Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich
aus. Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr
verehelicht zu sein, ich solle mich aber nicht stören lassen.
Dann deklamierte er einen ungewöhnlichen Kontrakt, den die
beiden geschlossen haben. Dann ging ich.«
»Warum nahmst du die Schlüssel mit?«
»Weil die Haustür verschlossen war.«
»Ein schauderhaftes Weib«, sagte Labude. »Sie hing besof­
fen überm Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die
Handtasche.«
»Sie hat dir nicht gefallen?« fragte Fabian. »Sie ist doch sehr
eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandenge­
sicht obendrauf wirkt so wunderbar unpassend.«
»Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim
Portier abgegeben.« Labude zog den Freund weiter. Sie bogen
langsam in eine Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal,
auf dem Herr Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen
Museum vorbei, der Steinerne Roland lehnte finster in einer
Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein Dampfer. Oben auf
der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen
Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Uber der Fried­
richstadt brannte der Himmel.
»Lieber Stephan«, sagte Fabian leise, »es ist rührend, wie du
dich um mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als
unsere Zeit. Willst du mich glücklicher machen, als sie es ist?
Und wenn du mir einen Direktorenposten, eine Million Dollar
oder eine anständige Frau, die ich lieben könnte, verschaffst,
oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht gelingen.« Ein
kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck,

SECHSTES KAPITEL $1
trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schul­
ter des Freundes. »Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit
damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Ta­
lent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so her­
umtreibe, hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich her­
um, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wuß­
ten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir
schrieben Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es
war gleichgültig, ob wir es taten oder unterließen. Wir sollten
ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus
der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt?
Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Über­
mut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich?
Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährli­
chen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahl­
zeit.«
Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hin­
unter. Fabian ging erregt hin und her, als liefe er in seinem Zim­
mer auf und ab. »Erinnerst du dich?« fragte er. »Und ein hal­
bes Jahr später waren wir marschbereit. Ich bekam acht Tage
Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind ein­
mal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief me­
lancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder.
Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen.
Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief
ich. Die nächste Zukunft hatte den Entschluß gefaßt, mich zu
Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin tun? Bücher
lesen? An meinem Charakter feilen? Geld verdienen? Ich saß
in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage
später fährt der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr und
was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt
sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa!
Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben
provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!«
»Zum Donnerwetter!« rief Labude, »wenn alle so denken
wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den pro­
visorischen Charakter der Epoche nicht? Ist dieses Mißver-

5* FABIAN
gnügen dein Privileg? Aber ich sehe nicht zu, ich versuche, ver­
nünftig zu handeln.«
»Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen«,
sagte Fabian, »und die Gerechten noch weniger.«
»So?« Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit
beiden Händen am Mantelkragen. »Aber sollten sie es nicht
trotzdem wagen?«
In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen
Aufschrei und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung.
Labude rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Muse­
um zu. Wieder klang ein Schuß. »Viel Spaß!« sagte Fabian zu
sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz
schmerzte, Labude zu erreichen.
Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuch­
telte mit dem Revolver und brüllte: »Warte nur, du Schwein!«
Und dann schoß er wieder über die Straße weg auf einen un­
sichtbaren Gegner. Eine Laterne zerbrach. Glas klirrte aufs Pfla­
ster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der Hand, und Fa­
bian fragte: »Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?«
»Weil mich’s am Bein erwischt hat«, knurrte der Mann. Es
war ein junger stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. »So
ein Mistvieh!« brüllte er. »Aber ich weiß, wie du heißt.« Und
er drohte der Dunkelheit.
»Quer durch die Wade«, stellte Labude fest, kniete nieder,
zog ein Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Not­
verband.
»Drüben in der Kneipe ging’s los«, lamentierte der Ver­
wundete. »Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich
sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren.
Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpf­
te auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er
schon.«
»Sind Sie nun wenigstens überzeugt?« fragte Fabian und
blickte auf den Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß,
weil Labude an der Schußwunde hantierte.
»Die Kugel ist nicht mehr darin«, bemerkte Labude. »Kommt
denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf.«

SECHSTES KAPITEL 53
»Nicht einmal ein Schutzmann ist da«, stellte Fabian be­
dauernd fest.
»Der hätte mir gerade noch gefehlt!« Der Verletzte ver­
suchte aufzustehen. »Damit sie wieder einen Proleten einsper­
ren, weil er so unverschämt war, sich von einem Nazi die Kno­
chen kaputtschießen zu lassen.«
Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden
und befahl dem Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte
davon, quer über die Straße, um die Ecke, den nächtlichen
Uferweg entlang.
In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem
Chauffeur den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren,
am Roland gäbe es eine Fuhre. Das Auto verschwand. Fabian
folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam. Das Herz schlug wie
verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es
pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die
Stirn. Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein
krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinde­
rei, aber Fabian genügte das Andenken. In der Provinz zer­
streut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer ver­
stümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer
mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Kran­
kenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen
entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren,
die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher
einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und
sprechen und schreien können.
Fabian bog um die Ecke. Drüben war das Museum. Das
Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich schreck­
licher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in sei­
nen Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen
Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der
Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und muß­
ten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber es
war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu
zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern
und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären

54 FABIAN
vermißt. Das war nun fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten
wieder geheiratet. Und der Selige, der irgendwo in der Mark
Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hau­
se nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen
im Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ
sich’s schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es
wieder soweit sein?
Plötzlich rief jemand »Hallo«! Fabian öffnete die Augen
und suchte den Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den
Ellenbogen gestützt und preßte seine Hand aufs Gesäß.
»Was ist denn mit Ihnen los?«
»Ich bin der andere«, sagte der Mann. »Mich hat’s auch er­
wischt.« Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von
der anderen Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte
ein Echo mit.
»Entschuldigen Sie«, rief Fabian, »meine Heiterkeit ist nicht
gerade höflich.« Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Gri­
masse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren, und sagte
verbissen: »Wie’s beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das
Lachen vergeht.«
»Warum stehst du denn da herum?« schrie Labude und kam
ärgerlich über die Straße.
»Ach Stephan«, sagte Fabian, »hier sitzt die andere Hälfte
des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten.«
Sie riefen den Chauffeur und transportierten den National­
sozialisten ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefähr­
ten. Die Freunde kletterten hinterdrein und gaben dem Chauf­
feur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen.
Das Auto fuhr los.
»Tut’s sehr weh?« fragte Labude.
»Es geht«, antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig
und musterten sich finster.
»Volksverräter!« sagte der Nationalsozialist. Er war größer
als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein
Handlungsgehilfe aus.
»Arbeiterverräter!« sagte der Kommunist.
»Du Untermensch!« rief der eine.

SECHSTES KAPITEL 55
»Du Affe!« rief der andere.
Der Kommis griff in die Tasche.
Labude faßte sein Handgelenk. »Geben Sie den Revolver
her!« befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waf­
fe heraus und steckte sie ein.
»Meine Herren«, sagte er. »Daß es mit Deutschland so nicht
weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und
daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhalt­
bare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre
Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie ein­
ander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen.
Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins Leichen­
schauhaus führen, statt ihn die Klinik, wäre auch nichts Be­
sonderes erreicht. Ihre Partei«, er meinte den Faschisten, »weiß
nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau.
Und Ihre Partei«, er wandte sich an den Arbeiter, »Ihre Par­
tei ...«
»Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats«, er­
klärte dieser, »und Sie sind ein Bourgeois.«
»Freilich«, antwortete Fabian, »ich bin ein Kleinbürger, das
ist heute ein großes Schimpfwort.«
Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite ge­
neigt, auf der heilen Sitzhälfte und hatte Mühe, mit seinem
Kopf nicht an den des Gegners zu stoßen.
»Das Proletariat ist ein Interessenverband«, sagte Fabian.
»Es ist der größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt,
ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben den­
selben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer
Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn
Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit
im Verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht
gut und klug, bloß weil man arm ist.«
»Unsere Führer ...« begann der Mann.
»Davon wollen wir lieber nicht reden«, unterbrach ihn La­
bude.
Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Kranken­
hauses. Der Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen

56 FABIAN
die Verletzten aus dem Wagen. Der wachhabende Arzt gab den
Freunden die Hand.
»Sie bringen mir zwei Politiker?« fragte er lächelnd. »Heu­
te nacht sind insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer
mit einem schweren Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Ange­
stellte. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um
Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander ken­
nen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzboden­
schlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort
um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat
man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken,
indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbst­
hilfe.«
»Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist«, meinte Fa­
bian.
»Ja, natürlich.« Der Arzt nickte. »Der Kontinent hat den
Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren
und um sich zu schlagen. Leben Sie wohl!« Das Portal schloß
sich.
Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen
weg. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb La­
bude stehen und sagte: »Ich kann jetzt noch nicht nach Hause
gehen. Komm, wir fahren ins Kabarett der Anonymen.«
»Was ist das?«
»Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halb­
verrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt
ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum
beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar
nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch ver­
ständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen,
daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber.«
Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum
Krankenhaus zurück, über dem der Große Bär funkelte. »Wir
leben in einer großen Zeit«, sagte er, »und sie wird jeden Tag
größer.«

SECHSTES KAPITEL 57
Siebentes Kapitel
Verrückte auf dem Podium
Die Todesfahrt von Paul Müller
Ein Fabrikant in Badewannen

Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger


Mann, der einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebar­
de hielt, lehnte an der Tür des Lokals und rief: »Immer herein
in die Gummizelle!« Labude und Fabian traten ein, gaben die
Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem über­
füllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz.
Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hin­
lächelndes Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um
eine Tänzerin. Sie trug ein giftgrünes selbstgeschneidertes Kleid,
hielt eine Ranke künstlicher Blumen und warf sich und die
Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft. Links von
der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten Kla­
vier und spielte die Ungarische Rhapsodie.
Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung
standen, war nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos
elegant gekleidet, trank Wein, unterhielt sich laut und lachte.
»Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!« schrie
ein glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war.
Die anderen lachten noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ
sich nicht aus der Unruhe bringen und fuhr fort zu lächeln und
zu springen. Da hörte das Klavierspiel auf. Die Rhapsodie war
zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem Klavierspieler
einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch
nicht aus.
»Mutter, dein Kind ruft!« kreischte eine Dame, die ein Mon­
okel trug.
»Ihr Kind auch«, bemerkte jemand von einem entfernten
Tisch. Die Dame drehte sich um. »Ich habe keine Kinder.«
»Da können die aber lachen!« rief man aus dem Hinter­
grund. »Ruhe!« brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hör­
te auf.

S8 FABIAN
Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Bei­
ne weh tun mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug,
landete in einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner
als vorher und breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smo­
king stand auf. »Gut, sehr gut! Sie können morgen zum Tep­
pichklopfen kommen!«
Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste
wieder und wieder.
Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich
heftig sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
»Bravo, Caligula!« rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wand­
te sich an den Herrn, der neben der Ruferin saß. »Ist das Ihre
Frau?« fragte er.
Der Herr nickte.
»Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!«
sagte Caligula. Man applaudierte. Der Mann in der ersten Tisch­
reihe wurde rot. Seine Frau fühlte sich geschmeichelt.
»Ruhe, ihr Armleuchter!« rief Caligula und hob die Hände.
Es wurde ruhig. »War die Tanzdarbietung nicht geradezu ein
Erlebnis?«
»Jawohl«, brüllten alle.
»Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus,
der Paul Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sach­
sen. Paul Müller spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu
sein. Er wird Ihnen eine Ballade vortragen. Machen Sie sich auf
das Äußerste gefaßt. Paul Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht
alles täuscht, verrückt. Ich habe keine Kosten gescheut, diese
wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn ich kann
es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind.«
»Das geht entschieden zu weit!« rief ein Besucher, dessen
Gesicht mit Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen
und zog sich empört das Jackett straff.
»Hinsetzen!« sagte Caligula und verzog den Mund. »Wis­
sen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!«
Der Akademiker rang nach Luft.
»Im übrigen«, fuhr der Kabarettinhaber fort, »im übrigen

SIEBENTES KAPITEL 59
meine ich Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Cha­
rakteristikum.«
Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmis­
sen und der Empörung wurde von seinen Bekannten auf den
Stuhl gezogen und beschwichtigt. Caligula nahm eine Klingel
in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und rief: »Paul
Müller, erscheine!« Dann verschwand er.
Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, unge­
wöhnlich blasser Mensch in abgerissener Kleidung.
»Tag, Müller!« brüllte man.
»Er ist zu schnell gewachsen«, meinte jemand.
Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst
im Gesicht, fuhr sich durch die Haare und preßte dann die
Hände vor die Augen. Er sammelte sich. Plötzlich zog er die
Hände vom Gesicht fort, streckte sie weit von sich, spreizte die
Finger, riß die Augen auf und sagte: »Die Todesfahrt von Paul
Müller.« Dann trat er noch einen Schritt vor.
»Fall nicht runter!« rief die Dame, der von Caligula eigent­
lich befohlen war, die Schnauze zu halten.
Paul Müller machte aus Trotz-noch ein Schrittchen, blickte
verächtlich auf das Publikum da unten und begann wieder:
»Die Todesfahrt von Paul Müller.«

»Das war der Graf von Hohenstein.


Der sperrte seine Tochter ein.
Sie liebte einen Offizier.
Der Vater sprach: >Du bleibst bei mir<!«

In diesem Augenblick warf jemand aus dem Publikum ein


Stück Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich,
steckte den Zucker ein und fuhr mit unheilschwangerer Stim­
me fort:

»Da half nur Flucht, und die Komteß


entfloh in ihrem io PS.
Sie steuerte durch Nacht und Not.
Doch auf dem Kühler saß der Tod!«

60 FABIAN
Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen
Stammgäste in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künst­
ler Rechnung trugen. Andere Gäste folgten dem Beispiel, und
allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement zustande,
dem Müller nur dadurch zu begegnen wußte, daß er sich dau­
ernd bückte.
Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen.
Auch mit aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zu­
fliegenden Zucker aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer dro­
hender. Seine Stimme klang immer schwärzer. Man entnahm
der Rezitation, daß in jener schrecklichen Nacht nicht nur die
Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier zu ge­
langen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen un­
terwegs war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein
vermutete, während sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei
Liebenden die gleiche Landstraße benutzten, da es sich ferner
um eine ausgesprochen regnerische, neblige Nacht handelte,
und da das Gedicht »Todesfahrt« hieß, war mit großer Wahr­
scheinlichkeit zu befürchten, daß die beiden Autos Zusammen­
stößen würden. Paul Müller beseitigte auch den letzten Zwei­
fel darüber.
»Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem
Schädel!« brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war
nicht mehr aufzuhalten.

»Das Auto jenes Offizieres


kam links gefahren, rechts kam ihres.
Der Nebel war entsetzlich dick.
Und so vollzog sich das Geschick.
Von links ein Schrei,
von rechts ein Schrei -«

»Das macht nach Adam Riese zwei!« schrie jemand. Die Leute
johlten und klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und
waren auf den Ausgang der Tragödie nicht länger neugierig.
Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund
bewegte. Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der

SIEBENTES KAPITEL 61
Überlebenden unter. Da packte den dürren Balladendichter die
blasse Wut. Er sprang vom Podium und rüttelte eine Dame
derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus dem Mund
und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als
belle ein Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß
er in den Stuhl zurücktaumelte.
Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem
knirschenden Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an
der Krawatte und führte ihn ins Künstlerzimmer.
»Pfui, Teufel«, sagte Labude, »unten Sadisten und oben Ver­
rückte.«
»Dieser Sport ist international«, meinte Fabian, »in Paris
gibt es dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: >Tue-le!<,
und dann schiebt sich eine riesengroße hölzerne Hand aus der
Kulisse und schaufelt den Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er
wird weggefegt.«
»Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar
in der römischen Geschichte.« Labude stand auf und ging. Er
hatte genug. Auch Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand
derb auf die Schulter. Er drehte sich um. Der Mann mit den
Schmissen stand vor ihm, strahlte über das ganze Gesicht und
rief vergnügt: »Alter Junge, wie geht’s dir denn?«
»Danke, gut.«
»Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzuse­
hen!« Der Akademiker gab Fabian einen Freudenstoß vor den
Brustkasten, genau auf einen der Hemdknöpfe.
»Kommen Sie«, meinte Fabian, »prügeln wir uns draußen
weiter!« Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in
den Vorraum. »Mein Lieber«, sagte er zu Labude, der sich den
Mantel anzog, »wir wollen schnell machen. Eben hat mich ei­
ner ununterbrochen geduzt.« Sie nahmen die Hüte. Aber es war
schon zu spät.
Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige
Frau vor sich her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu
ihr: »Siehst du, Meta, der Herr war auf dem Pennal unser Pri­
mus.« Und zu Fabian sagte er: »Das ist meine Frau, alter Kna­

62 FABIAN
be, Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben in Rem­
scheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin
im Geschäft meines Schwiegervaters. Wir machen Badewan­
nen. Wenn du mal eine brauchen solltest, kannst du sie zum
Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut. Danke, glückli­
che Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer Garten
dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber
noch nicht lange.«
»Es ist erst so groß«, entschuldigte sich Meta und zeigte mit
den Händen, wie klein das Kind war.
»Es wird schon noch wachsen«, tröstete Labude. Die Frau
blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
»Also, alter Schwede«, fing der Akademiker wieder an,
»nun erzähle mal, was du die ganze Zeit über gemacht hast.«
»Nichts Besonderes«, bemerkte Fabian. »Augenblicklich
bastle ich an einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond
ansehen.«
»Ausgezeichnet«, rief der Mann, der in die Badewannen ein­
geheiratet hatte. »Deutschland allen voran! Und wie geht’s dei­
nem Bruder?«
»Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr«,
sagte Fabian. »Ein Brüderchen habe ich mir schon lange ge­
wünscht. Nur eine bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie ei­
gentlich aufs Gymnasium gegangen?«
»In Marburg natürlich.«
Fabian hob bedauernd die Schultern. »Es soll eine bezau­
bernde Stadt sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht.«
»Dann entschuldigen Sie vielmals«, knarrte der andere. »Klei­
ne Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut.«
Er knallte die Absätze zusammen, befahl: »Komm, Meta!« und
entfernte sich. Meta blickte Fabian verlegen an, nickte Labude
zu und folgte dem Gemahl.
»So ein dämlicher Affe!« Fabian war entrüstet. »Spricht wild­
fremde Leute an und tut familiär. Ich habe diesen Caligula im
Verdacht, daß die Anpöbelei zu seiner Kabarettregie gehört.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Labude. »Die Badewannen
waren sicher echt, und das entsetzlich kleine Kind auch.«

SIEBENTES KAPITEL 63
Sie gingen heimwärts, Labude schaute trübselig aufs Pfla­
ster. »Es ist eine Schande«, sagte er nach einer Weile. »Dieser
gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen Be­
ruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und
unsereins vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land,
man hat noch keinen festen Beruf, man hat kein festes Ein­
kommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal eine feste
Freundin.«
»Du hast doch Leda.«
»Und was mich besonders aufbringt«, fuhr Labude fort, »so
ein Kerl hat ein eigenes, selbstgemachtes Kind.«
»Sei nicht neidisch«, sagte Fabian, »dieser juristisch vorge­
bildete Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von
den Leuten, die heute dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der
eine ist arbeitslos, der andere verliert morgen seine Stellung.
Der dritte hat noch nie eine gehabt. Unser Staat ist darauf, daß
Generationen nachwachsen, momentan nicht eingerichtet. Wem
es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau und Kind
an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotz­
dem andere mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig.
Ich weiß nicht, von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid
halbes Leid sei, aber wenn der Quatschkopf noch leben sollte,
dann wünsche ich ihm zweihundert Mark monatlich und eine
achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch acht
dividieren, bis er schwarz wird.« Fabian sah den Freund von
der Seite an. »Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater
gibt dir doch Geld. Und wenn du die Venia legendi hast, wirst
du noch ein paar Groschen dazuverdienen. Dann heiratest du
Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts mehr im Wege.«
»Es gibt ja auch noch andere Schwierigkeiten, außer den
ökonomischen«, sagte Labude, blieb stehen und winkte einem
Taxi. »Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt allein sein will. Kannst
du mich morgen bei meinen Eltern abholen? Ich muß dir Ver­
schiedenes erzählen.« Er drückte dem Freund etwas in die
Hand und stieg in den wartenden Wagen.
»Handelt es sich um Leda?« fragte Fabian durchs offene
Fenster.

64 FABIAN
Labude nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der
andere blickte dem Wagen nach. »Ich komme!« rief er. Doch
das Auto war schon weit weg, und das rote Schlußlicht konn­
te ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und stellte
fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.

SIEBENTES KAPITEL 65
Achtes Kapitel
Studenten treiben Politik
Labude sen. liebt das Leben
Die Ohrfeige an der Außenalster

Labudes Ekern bewohnten im Grünewald einen großen grie­


chischen Tempel. Eigentlich war es kein Tempel, sondern eine
Villa. Und eigentlich bewohnten sie die Villa gar nicht. Die
Mutter war viel auf Reisen, meist im Süden, in einem Landhaus
bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano besser als
am Grunewaldsee. Und zweitens fand Labudes Vater, die zar­
te Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er
liebte seine Frau sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine
Zuneigung wuchs im Quadrat der Entfernung, die zwischen
ihnen lag.
Er war ein bekannter Verteidiger. Da seine Klienten viel
Geld und viele Prozesse hatten, hatte auch er viele Prozesse
und viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte,
genügten ihm nicht. Fast jede Nacht saß er in Spielklubs. Die
Ruhe, die sein Haus verbreitete, war ihm höchst zuwider. Und
die vorwurfsvollen Augen seiner Frau brachten ihn zur Ver­
zweiflung. Da beide befürchteten, den anderen anzutreffen,
mieden beide die Villa, so oft das möglich war. Und Stephan,
der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern begegnen wollte, auf
die Gesellschaften gehen, die sie im Winter gaben. Da ihn die­
se Veranstaltungen von Jahr zu Jahr mehr abstießen, bis er sie
endlich nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus
Versehen.
Das meiste, was er über den Vater wußte, hatte er einmal von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem Mas­
kenball gewesen, und sie hatte ihm sehr eingehend den Mann
geschildert, der sie damals finanzierte. Leichtfertige Frauen
versuchen ja gelegentlich, Liebhaber zu erwerben, indem sie
die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer aus­
plaudern. Im Laufe des Gesprächs hatte es sich herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war, und Stephan
hatte das Fest fluchtartig verlassen.

66 FABIAN
Fabian kam nicht gern in die Grunewaldvilla. Er empfand
den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als al­
bern. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mit­
ten in derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch,
jemals loswerden könne. Und er fand es, von allen anderen
Gründen abgesehen, schon deshalb vollkommen in der Ord­
nung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum entfrem­
det hatten.
»Schrecklich«, sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch
saß, »jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir
euer Diener Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßfüh­
rung beginnt. Falls du mir erzählen solltest, daß der Große
Kurfürst auf diesem Stuhl hier in die Schlacht von Fehrbellin
geritten ist, könnte ich mich bereiterklären, es zu glauben. Im
übrigen danke ich dir für das Geld.«
Labude winkte ab. »Du weißt, daß ich mehr davon habe, als
notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir
erzählen will, was mir in Hamburg passiert ist.«
Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er
sich hinter Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn
während des Sprechens nicht anzusehen. Sie blickten beide zum
Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf rote Villendächer.
Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel, spazier­
te auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehal­
tenem Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zu­
rück. Außerdem hörte man, wie jemand mit einem Rechen die
Kieswege harkte.
Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. »Ras-
sow schrieb mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maxi­
mum, vor Studenten aller Richtungen, über das Thema »Tradi­
tion und Sozialismus«. Und er schlug mir vor, als Korreferent
oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen Plä­
nen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Ras-
sow berichtete den Studenten von seiner Rußlandreise und von
seinen Erfahrungen und Gesprächen mit russischen Künstlern
und Wissenschaftlern. Er wurde von den Vertretern der sozia­
listischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen. Anschlie­

ACHTES KAPITEL 67
ßend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den
Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzier­
te die kapitalistische Situation Europas und stellte die Forde­
rung auf, daß die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und
daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv
oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. Diese Jugend,
sagte ich, sei im Begriff, in absehbarer Zeit die Führerschaft in
Politik, Industrie, Grundbesitz und Handel zu übernehmen,
die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere Aufgabe,
den Kontinent zu reformieren: durch internationale Abkom­
men, durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zu­
rückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre
vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unter­
richts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der
Klassen, sei möglich, da die Jugend, wenigstens ihre Elite, den
hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug
genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem
unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen.
Wenn es schon ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich,
dann solle man sich für das Regime unserer Altersklasse ent­
scheiden. Bei den Vertretern der extremen Gruppen erntete
mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den An­
trag zur Bildung der radikalbürgerlichen Initiativgruppe ein­
brachte, fand das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir
entwarfen einen Aufruf, der an alle europäischen Universitä­
ten verschickt werden wird. Rassow, ich und ein paar andere
wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialisti­
schen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn
wir an allen Universitäten Gruppen gebildet haben, werden
von diesen auch andere intellektuelle Körperschaften bearbei­
tet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern nichts da­
von erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne.«
»Ich freue mich«, sagte Fabian, »ich freue mich sehr, daß du
nun an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst.
Hast du dich schon mit der Gruppe der Unabhängigen Demo­

68 FABIAN
kraten in Verbindung gesetzt? In Kopenhagen ist ein >Club
Europa« gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere dich nicht
zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend.
Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Ver­
nunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich lei­
der um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für
die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt.
Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man
ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil
mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus
Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das gött­
lichste System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was
meinte Leda dazu?«
»Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht da­
bei.«
»Warum denn nicht?«
»Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war.«
Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wie­
der hin.
Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken
der Schreibtischplatte fest. »Ich wollte Leda überraschen. Ich
wollte sie heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch ge­
worden. Wenn man in jedem Monat nur zwei Tage und eine
Nacht beisammen ist, dann wird die Beziehung unterminiert,
und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang dauert, geht
die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der Part­
ner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich
machte dir vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich
verändert habe. Sie fing an, sich zu verstellen. Sie markierte.
Die Begrüßung auf dem Bahnhof, die Zärtlichkeit des Ge­
sprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch Theater.«
Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise.
»Natürlich entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche
Sorgen der andere hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er
findet. Man sieht nicht, daß er sich verwandelt, und weswegen
er’s tut. Briefe sind zwecklos. Und dann reist man hin, gibt sich

ACHTES KAPITEL 69
einen Kuß, geht ins Theater, fragt nach Neuigkeiten, verbringt
eine Nacht miteinander und trennt sich wieder. Vier Wochen
später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe, anschlie­
ßend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in
der Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die
Liebe krepiert an der Geographie.«
Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz so
behutsam an, als fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. »Ich
habe in den letzten Monaten vor jeder dieser Zusammenkünf­
te Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit geschlossenen
Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen
mögen. Sie log. Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder
sich selber auch? Da sie, obwohl ich sie brieflich wiederholt
dazu aufforderte, Erklärungen vermied, mußte ich tun, was ich
tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in der wir die Initia­
tivgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen sehr
bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die
Fenster waren dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war
nicht nach Logik zumute. Ich wartete.«
Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch,
nahm mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den
Händen. Das hölzerne, klappernde Geräusch begleitete den
Fortgang des Berichts. »Die Straße ist breit und nur an einer
Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an Blumenbeete, Wiesen,
Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die Außenalster. Dem
Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich mich, rauch­
te zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die Straße
entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich von
zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Ge­
spräche und böse Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei
bog ein Taxi in die Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer
schlanker Mann stieg aus und bezahlte den Chauffeur. Dann
sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte zur Tür, schloß auf, trat
ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann gefolgt war, und schloß
von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die Stadt zurück.«
Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den

7° FABIAN
Schreibtisch, ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in
der äußersten Ecke, dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das
Tapetenmuster und zeichnete es mit dem Finger nach. »Es war
Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah, wie sich zwei
Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer
wurde wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die
Balkontür stand halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen.
Du entsinnst dich, sie lacht so merkwürdig hoch. Manchmal
war es ganz still, droben im Haus und unten auf meiner Straße,
und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug.«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat
Labude trat ein, ohne Hut und Mantel. »Tag, Stephan!« sagte
er, kam näher und gab seinem Sohn die Hand. »Lange nicht ge­
sehen, was? War paar Tage unterwegs. Mußte mal ausspannen.
Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie geht’s?
Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben?
Mag noch ein paar Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso,
das Nest. Hat’s die Frau gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gesprä­
che, wie? Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? Im Vertrauen
gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode erledigt werden.
Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht.«
»Fritz, nun komm aber endlich!« rief im Treppenhaus eine
Frauenstimme.
Der Justizrat zuckte die Achseln. »Da habt ihr’s. Kleine
Sängerin, großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche
Opern auswendig. Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiederse­
hen. Amüsiert euch lieber, statt die Menschheit zu erlösen. Wie
gesagt, das Leben muß noch vor dem Tode erledigt werden. Zu
näheren Auskünften gern bereit. Nicht so ernst, mein Junge.«
Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins Schloß. La­
bude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den Schreib­
tisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzäh­
lung fort: »Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach
sechs hörte es auf. Der Himmel wurde hell, und der Tag fing
an. In dem Schlafzimmer brannte noch immer Licht. Das sah
im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben verließ der Mensch

ACHTES KAPITEL 71
das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und blickte nach
oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Bal­
kon und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock
für einen Moment noch einmal auseinander, damit er ihren
Körper noch einmal sehe. Er warf ein Kußhändchen, es war
zum Speien. Er ging pfeifend die Straße hinunter. Ich senkte
den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen.«
Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb sit­
zen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust
auf den Schreibtisch. »Diese Kanaille!« schrie er. Fabian sprang
vom Sofa auf, aber der andere winkte ab und sagte ganz ruhig:
»Schon gut. Höre weiter. Mittags telefonierte ich. Sie war er­
freut, daß ich wieder einmal bei ihr sei. Warum ich nicht ge­
schrieben habe. Ob ich um fünf kommen wolle. Die wissen­
schaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf.
Ich lief durchs Hafenviertel, bis es so weit war. Dann fuhr ich
hin. Sie hatte Tee und Kuchen zurechtgestellt und begrüßte
mich zärtlich. Ich trank eine Tasse Tee und sprach über gleich­
gültige Dinge. Dann begann sie, sich automatisch zu entklei­
den, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch. Da
fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung
lösten. Sie fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausge­
macht, daß wir heirateten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob
ich sie nicht mehr liebe. Ich erklärte, daß es sich darum jetzt
nicht handle. Die zunehmende Entfremdung, an der sie die
Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam erscheinen.
Sie räkelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite
zu gleiten, und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt.
Und die Entfremdung scheine, wie die unzweideutige Situa­
tion eindeutig beweise, eher an mir als an ihr zu liegen. Sie gab
zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen Hamburg und Ber­
lin seelisch zu überbrücken. Und auch in sexueller Beziehung
gebe es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da,
und wenn ich da sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erle­
digt werden, ob man Hunger hat oder nicht. Aber wenn wir
erst verheiratet wären, würde das anders. Ich solle übrigens
nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen ärztli­

72 FABIAN
chen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als
meine Frau zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie
mir diesen kleinen Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen.
Sie sei aber wieder auf dem Posten, und ich solle mich nun end­
lich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
>Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?< frag­
te ich. Sie setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
»Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief?«
fragte ich weiter.
>Du siehst Gespenster«, sagte sie. >Du bist eifersüchtig, es ist
geradezu albern.«
Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter
mir her, die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie,
nackt im wehenden Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und
rief, ich solle bleiben. Aber ich rannte davon und fuhr zur
Bahn.«
Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schul­
tern des Freundes. »Warum hast du mir das nicht schon gestern
erzählt?«
»Na, ich komme schon darüber weg«, sagte Labude. »Mich
so zu belügen.«
»Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?«
»Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei
ich schwer krank gewesen.«
»Du bist noch krank«, meinte Fabian. »Du hast sie noch
lieb.«
»Das ist wahr«, sagte Labude. »Aber ich bin schon mit ganz
anderen Kerlen fertig geworden als mit mir.«
»Wenn sie dir nun schreibt?«
»Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht,
unter einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das
Schlimmste habe ich dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht,
und sie hat mich noch nie lieb gehabt! Erst jetzt, nach dem
Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung auf. Erst als sie ne­
ben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die ver­
gangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Ak­
ten!« Labude schob den Freund zur Tür. »Jetzt gehen wir.

ACHTES KAPITEL 73
Ruth Reiter hat uns eingeladen. Komm, ich habe Verschiede­
nes nachzuholen.«
»Wer ist Ruth Reiter?«
»Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bild-
hauert, wenn man ihr glauben darf.«
»Modellstehen wollte ich schon immer mal«, sagte Fabian
und zog den Mantel an.

74 FABIAN
Neuntes Kapitel
Sonderbare junge Mädchen
Ein Todeskandidat wird lebendig
Das Lokal heißt »Cousine«

»Endlich ein paar Männer!« rief die Reiter. »Macht’s euch be­
quem. Die Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter.
Sie hat zwei Tage keinen Mann gehabt, und der letzte war auch
bloß ein Verkehrsunfall. Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl
hätte ihr, ohne die kleine Gegenleistung, keinen Auftrag gege­
ben. Ein beinahe impotenter Lebegreis war’s, sagte sie.«
»Das sind die Schlimmsten«, meinte Labude. »Sie probieren
ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Schaden inzwi­
schen behoben hat.« Er blickte sich nach dem Mädchen um,
das Kulp hieß. Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf ei­
ner Chaiselongue und winkte ihm.
Labude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete un­
schlüssig. Das Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, un­
ter der Lampe, vor einer Reihe von Skulpturen, stand ein holz­
gezimmerter Tisch, und auf dem Tisch saß eine nackte, dun­
kelhaarige Frau. Die Reiter kauerte sich auf einen Schemel,
nahm den Skizzenblock und zeichnete. »Abendakt«, erläuterte
sie, ohne sich umzusehen. »Heißt Selow. Neue Position, mein
Schatz! Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen.
So, Hände im Nacken verschränken. Halt!« Die nackte Frau,
die Selow hieß, hatte sich aufgerichtet und stand nun breit­
beinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich gebaut und blickte
gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin. »Baron,
was zu trinken, mich friert«, sagte sie plötzlich.
»Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut«, pflich­
tete Fabian bei. Er war näher getreten und stand vor dem Mo­
dell wie ein Kunstkenner vor einer weiblichen Bronze.
»Berühren verboten!« Die Stimme der Bildhauerin klang
äußerst unfreundlich.
Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem
Badewasser dehnte, rief Fabian zu: »Hand von der Butter. Der

NEUNTES KAPITEL 75
Baron ist eifersüchtig. Sie hat mit dem Abendakt ein gutge­
hendes Verhältnis.«
»Halt den Rand!« knurrte die Reiter. »Labude, wenn Sie mit
der Kulp etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren
Sie sich nicht. Ich habe nur diesen Raum, aber der ist an Kum­
mer gewöhnt.«
Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
»Was es so alles gibt«, meinte die Kulp traurig.
Die Reiter blickte vorübergehend von ihrem Block hoch
und sah Fabian an.
»Falls Sie sich an der Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich
ran! Ihr braucht weiter nichts dazu als einen Groschen. Labu­
de wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den Gro­
schen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Und wer oben
liegt, hat den Vortritt.
»Welche tiefe Wahrheit!« rief die Kulp. »Aber einen Gro­
schen? Du verdirbst mir die Preise!«
Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen.
Die nackte Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Was zu trin­
ken!«
»Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen,
und auf dem Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber.«
»Gern«, sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es.
Dann trat ein fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe
und reichte dem Abendakt ein gefülltes Glas.
Fabian war überrascht. »Wie viele weibliche Wesen sind ei­
gentlich hier?« fragte er.
»Ich bin das einzige«, erklärte Fräulein Battenberg und lach­
te. Fabian sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das
Milieu. Sie spazierte wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr.
Sie setzte sich in den Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Dia­
na aus Gips, legte den Arm um die Hüfte der trainierten Göt­
tin und schaute durch das Atelierfenster auf die Bogen und Ve­
duten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron komman­
dieren. »Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts,
Knie einknicken, Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!«
Und aus der vorderen Hälfte des Ateliers klangen kleine, zu­

76 FABIAN
gespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt vorübergehend an Atem­
not.
»Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?« fragte Fa­
bian.
»Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen
in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der
Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie
mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier
oben. Die Information hat genügt.«
»Das freut mich«, sagte er. »Ich bin kein ausgesprochener
Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich se­
hen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.«
Sie sah ihn ernst an. »Ich bin kein Engel, mein Herr. Unse­
re Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn
wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir tren­
nen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. >Da
bin ich<, sagen wir freundlich lächelnd. >Ja<, sagt er, >da bist du<,
und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun hab
ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was
wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst
flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie
zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Män­
nern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm,
den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offen­
heit?«
»Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sor­
gen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht
für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkei­
ten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Ent­
weder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und
wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es,
aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die
Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück
gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwor­
tungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab.«
Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein

NEUNTES KAPITEL 77
Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer.
Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und
ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte
schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und ver­
ließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und
starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz
langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes
Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das
neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben
im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.
»Schon wieder ein verhinderter Engel«, meinte er.
»Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte«, sag­
te sie leise, »ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um
einen Brief in den Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hin­
unter und kam nicht wieder.« Sie schüttelte den Kopf, als ver­
stehe sie das Erlebnis noch immer nicht. »Ich wartete drei Mo­
nate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre. Komisch,
nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit
vielen herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: >Du bist eine
Dirne!<, und als ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten
Mann mit achtzehn Jahren und das erste Kind mit neunzehn
Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: >Das war etwas ganz an­
deres!« Freilich, das war etwas ganz anderes.«
»Warum sind Sie nach Berlin gekommen?«
»Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk
bewahrt. Heute wird man bezahlt und eines Tages, wie jede be­
zahlte und benutzte Ware, weggetan. Bezahlung ist billiger,
denkt der Mann.«
»Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware.
Heute ist das Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Die­
se Billigkeit macht den Käufer mißtrauisch. Sicher ein faules
Geschäft, denkt er. Und meist hat er recht. Denn später prä­
sentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er den mo­
ralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Va­
luta. Als Lebensrente zu zahlen.«
»Genau so ist es«, sagte sie. »Genau so denken die Männer.
Aber warum nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall?

78 FABIAN
Hier sind doch die Frauen so ähnlich, wie ihr sie haben wollt!
Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch zu eurem Glück noch
fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es wollt.
Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sol­
len selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharak­
ter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem be­
rechtigt und zu nichts verpflichtet, wir zu allem verpflichtet
und zu nichts berechtigt, so sieht euer Paradies aus. Doch das
geht zu weit. Oh, das geht zu weit!« Fräulein Battenberg putz­
te sich die Nase. Dann fuhr sie fort: »Wenn wir euch nicht be­
halten dürfen, wollen wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns
kaufen wollt, dann sollt ihr teuer dafür bezahlen.« Sie schwieg.
Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht. »Sie sind deswegen nach
Berlin gekommen?« fragte Fabian. Sie weinte geräuschlos.
Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. »Sie verstehen
auch nichts von Geschäften«, sagte er und blickte zwischen
zwei Gipsfiguren in den anderen Teil des Ateliers. Der Abend­
akt saß auf dem Tisch und trank Gin. Die Bildhauerin beugte
sich über die nackte Frau und küßte sie auf den wenig gewölb­
ten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank inzwischen das
Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den Rücken.
Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen
die Kulp und Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und
ging mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümp­
fe an. Ein riesiger Mann kam durch die Tür. Er atmete keu­
chend, hatte ein Holzbein und ging an einem Stock.
»Ist die Kulp da?« fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein
paar Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und
sagte: »Ihr andern solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow
kannst du mir eventuell noch dalassen.« Er sank auf einen
Stuhl und lachte schwerfällig. »Nein, nein, Baron, es war nur
Spaß.«
Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid
glatt und gab dem Mann die Hand. »Tag, Wilhelmy, noch im­
mer nicht tot?«

NEUNTES KAPITEL 79
Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und
schüttelte den Kopf.
»Lange kann’s aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld
früher zu Ende als ich.« Er gab auch ihr ein paar Geldscheine.
»Selow!« rief er, »sauf den Gin nicht aus! Und zieh dich
schneller an.«
»Geht in die »Cousine«. Ich komme nach«, sagte die Kulp.
Dann rüttelte sie Labude munter. »Mein Lieber, du wirst raus­
geschmissen. Hier ist einer, dem die Ärzte erzählt haben, daß
er noch in diesem Monat stirbt. Er lauert auf den Tod wie un­
sereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß ein Viertelstündchen
warten. Später treff ich euch wieder.«
Labude stand auf. Die Reiter holte ihren Mantel, Fabian
kam mit Fräulein Battenberg hinter den Plastiken vor. Die Se­
low war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der Todeskandidat
und die Kulp blieben zurück.
»Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie am letzten
Mal«, sagte die Bildhauerin auf der Treppe. »Es bringt ihn auf,
daß andere länger leben dürfen als er.«
»Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile«, meinte die Se­
low. »Und außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht le­
ben und nicht sterben.«
»Feine Berufe haben wir!« Die Reiter lachte wütend.
Die »Cousine« war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frau­
en verkehrten. Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm
auf kleinen grünen Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen.
Sie tranken Schnaps, und manche trugen Smokingjacken und
hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht ähnlich zu
sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze Zi­
garren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu
Tisch, begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff
wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schä­
men. Er tanzte mit dem Abendakt, setzte sich dann mit der
Frau an die Theke und drehte dem Freund den Rücken. Ruth
Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte
ganz selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken.

80 FABIAN
Später schob sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich
dort mit einer älteren Dame, die schrecklich geschminkt war
und, wenn sie lachte, derartig gackerte, daß man dachte: Gleich
legt sie ein Ei.
»Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen«, sagte Fa­
bian zu Fräulein Battenberg. »Halten Sie wirklich alle Frauen,
die hier versammelt sind, für gebürtige Abnormitäten? Die
Blondine da drüben war jahrelang die Freundin eines Schau­
spielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann ging sie ins
Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und
verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das
Kind wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue
Stellung. Aber sie hat, vielleicht für immer, mindestens vor­
übergehend, von den Männern genug, und mancher, die außer
ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine findet keinen Mann,
die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor den Fol­
gen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse
sind. Die Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt,
gehört auch zu dieser Sorte. Sie ist nur lesbisch, weil sie mit
dem anderen Geschlecht schmollt.«
»Wollen Sie mich nach Hause bringen?« fragte Fräulein Bat­
tenberg.
»Es gefällt Ihnen hier nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem
Tisch, an dem die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffne­
te den Mund. Sie schrie nicht, sie sprach nichts. Sie brach zu­
sammen. Die Frauen drängten sich neugierig um die Ohn­
mächtige. Die Cousine brachte Whisky. »Der Wilhelmy hat sie
wieder geschlagen«, sagte die Reiter.
»Ein Hoch auf die Männer!« schrie ein Mädchen und lach­
te hysterisch.
»Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!« rief die Cousi­
ne. Man rannte durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso
witzig wie betrunken war, intonierte den Trauermarsch von
Chopin.
»Das soll der Doktor sein?« fragte Fräulein Battenberg.

NEUNTES KAPITEL 81
Durch die Seitentür trat eine große, magere Dame im Abend­
kleid, das Gesicht glich einem weißgepuderten Totenkopf.
»Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann«, sagte Fa­
bian. »Er war sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmis­
se unterm Puder? Jetzt ist er Morphinist und hat polizeiliche
Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt davon, daß er
Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn er­
wischen, dann vergiftet er sich.«
Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der Doktor im Abend­
kleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die Bild­
hauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin
eng an sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig
betrunken, hörte kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß
sie sich los, überquerte schwankend das Parkett, schlug den
Klavierdeckel zu, daß das Instrument jammerte, und brüllte:
»Nein!«
Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der
Tanzfläche und hatte die Hände ineinandergekrampft.
»Nein!« brüllte die Selow noch einmal. »Ich habe genug da­
von! Bis dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will
ich haben! Steig mir doch den Buckel runter, du geile Ziege!«
Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab ihm einen Kuß, hieb
sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann, kaum
daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. »Es lebe der
kleine Unterschied!« schrie sie. Dann waren die beiden ver­
schwunden.
»Es ist wirklich besser, wenn wir gehen.« Fabian erhob sich,
legte Geld auf den Tisch und half der Battenberg beim Anzie­
hen. Als sie gingen, stand Ruth Reiter, auch der Baron genannt,
noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand wagte es, sich ihr
zu nähern.

82 FABIAN
Zehntes Kapitel

Topographie der Unmoral


Die Liebe höret nimmer auf!
Es lebe der kleine Unterschied!

»Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?« fragte sie auf der
Straße.
»Sie kennen ihn doch gar nicht!« Er ärgerte sich über ihre
Frage und ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schwei­
gend nebeneinander. Nach einer Weile sagte er: »Labude hat
Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren und hat zugese­
hen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert
gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die
fünfte Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt
sich über Nacht heraus, es war alles falsch. Er will das rasch
vergessen und versucht es zunächst auf horizontale Art.«
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz
der nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und
Blusen und Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern
wie auf einer kleinen, von der Sonne beschienenen Insel.
»Können Sie mir sagen, wie spät es ist?« fragte jemand ne­
ben ihnen. Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ih­
res Begleiters. »Zehn nach Zwölf«, sagte Fabian.
»Danke schön. Da muß ich mich beeilen.« Der junge Mann,
der sie angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständ­
lich an einem Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf
und fragte verlegen lächelnd: »Haben Sie zufällig fünfzig Pfen­
nige, die Sie entbehren könnten?«
»Zufällig, ja«, antwortete Fabian und gab ihm ein Zwei­
markstück.
»Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da
brauche ich nicht bei der Heilsarmee zu übernachten.« Der
Fremde zuckte entschuldigend die Achseln, lüftete den Hut
und lief hastig davon.
»Ein gebildeter Mensch«, meinte Fräulein Battenberg.
»Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte.«

ZEHNTES KAPITEL 83
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mäd­
chen wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend bes­
ser kannte als sie. »Das Schlimmste an der ganzen Geschichte
ist das«, sagte er, »Labude hat, allerdings fünf Jahre zu spät, be­
merkt, daß ihn Leda, eben jene Frau aus Hamburg, niemals lieb
hatte. Sie hatte ihn nicht betrogen, weil er zu selten bei ihr war.
Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr nur indivi­
duell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umge­
kehrten Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den richtigen
Typus verkörpert, aber man kann seine Individualität nicht lei­
den.«
»Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt
das nicht vor?«
»Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen«, erwiderte Fa­
bian. »Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz,
nach Sodom und Gomorrha?«
»Ich bin Referendar«, erklärte sie. »Meine Dissertation be­
traf eine Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große
Berliner Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung
volontieren lassen. Hundertfünfzig Mark im Monat.«
»Werden Sie doch Filmschauspielerin!«
»Wenn es sein muß, auch das«, sagte sie entschlossen. Und
beide lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten
durchquerte ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufte­
ten Blumenbeete. In einer Haustür streichelte sich ein Liebes­
paar.
»Sogar der Mond scheint in dieser Stadt«, bemerkte die
Kennerin des internationalen Filmrechts.
Fabian drückte ihren Arm ein wenig. »Ist es nicht fast wie
zu Hause?« fragte er. »Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im
Torbogen sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein
Cafe, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen,
nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homose­
xuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Eng­
ländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekannt­
geben, und zum Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte

84 FABIAN
Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein
Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restau­
rant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen
oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen
gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gym­
nasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor
einem halben Jahr gab es einen Skandal, der nur schlecht ver­
tuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem Zimmer, das er zu
Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte, ein
sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider
seine Tochter, und das hatte er nicht erwartet ... Soweit diese
riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hin­
sichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im
Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im
Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Him­
melsrichtungen wohnt der Untergang.«
»Und was kommt nach dem Untergang?«
Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter
hing, und gab zur Antwort: »Ich fürchte, die Dummheit.«
»In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon ein­
getroffen«, sagte das Mädchen. »Aber was soll man tun?«
»Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melan­
choliker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige
ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der
andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu ren­
nen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte
auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Ver­
fügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf
Wunder. Liebes Fräulein, ich kenne Sie noch nicht. Trotzdem,
oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich Ihnen für den Um­
gang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht
richtig zu sein braucht. Aber sie führt in der Praxis zu ver­
wendbaren Ergebnissen.«
»Und wie lautet Ihre Hypothese?«
»Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder
und der Greise, bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich be­

ZEHNTES KAPITEL 85
wiesen ist, für verrückt. Richten Sie sich danach, Sie werden
bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann.«
»Soll ich bei Ihnen damit beginnen?« fragte sie.
»Ich bitte darum«, meinte er.
Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein
Auto bremste dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gin­
gen in die Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten
schrien Katzen. An den Rändern der Fußsteige standen Allee­
bäume, bedeckten den Weg mit Dunkelheit und verbargen den
Himmel.
»Ich bin angelangt«, sagte sie und machte vor dem Hause
Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian wohnte!
Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wieder­
sehen dürfe.
»Wollen Sie es wirklich?«
»Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen.«
Sie nickte und legte einen Augenblick lang den Kopf an sei­
ne Schulter. »Ich will es auch.« Er drückte ihre Hand. »Diese
Stadt ist so groß«, flüsterte sie und schwieg unschlüssig. »Wer­
den Sie mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine hal­
be Stunde zu mir hinaufzukommen? Das Zimmer ist mir noch
so fremd. Kein Wort klingt nach und keine Erinnerung, denn
ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts ist
da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern
schwanken des Nachts schwarze Bäume.«
Fabian sagte lauter, als er wollte: »Ich komme gern mit.
Schließen Sie nur auf.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch
einmal zu ihm. »Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverste­
hen.« Er drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbe­
leuchtung ein. Dann ärgerte er sich, daß er sich dadurch verra­
ten haben könnte. Aber sie wurde nicht stutzig, schloß hinter
ihm ab und ging voraus. Er folgte und amüsierte sich über die
Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat. In welcher
Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür sei­
ner Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öff­
nete.

86 !■ AB I AN
Im Flur brannte Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemd­
höschen spielten mit einem grünen Luftballon Fußball. Sie er­
schraken und begannen vor Schreck zu kichern. Fräulein Bat­
tenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und Herr Trö­
ger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
»Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß«, brumm­
te Fabian. Herr Tröger grinste, trieb die Mädchen in seinen
Serail und riegelte ab. Fabian legte die Hand versehentlich auf
die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
»Um Gottes willen«, flüsterte Fräulein Battenberg. »Da
wohnt jemand anderes.«
»Pardon«, sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor
in den letzten Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie
hängte ihren Mantel in den Schrank. »Eine fürchterliche Bude«,
sagte sie lächelnd. »Und achtzig Mark im Monat.«
»Ich zahle genausoviel«, tröstete er.
Nebenan wurde gelärmt. Die Sprungfedern knirschten un­
willig. »Die Nachbarschaft habe ich gratis«, meinte sie.
»Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Ein­
tritt.«
»Ach, ich bin froh«, sie rieb sich die Hände wie vor einem
Kamin. »Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häß­
licher. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die
schaurigen Bäume anschaun?«
Sie traten ans Fenster. »Heute sind sogar die Bäume freund­
licher«, stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: »Das
macht, weil ich sonst allein bin.« Er zog sie behutsam an sich
und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder. »Nun wirst du
denken, daß ich dich deshalb bat, mitzukommen.«
»Freilich denke ich das«, gab er zur Antwort. »Aber du
wußtest es selber noch nicht.«
Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte er.
»Cornelia.«
Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich beküm­
mert, während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und
dabei die Augen schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spü­

ZEHNTES KAPITEL 8/
ren: »Weißt du noch, daß wir heute abend einmal in einem Ate­
lier saßen, hinter Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest,
wie du die Männer für ihren Egoismus bestrafen willst?«
Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann hol­
te sie tief Atem und antwortete: »An dem Vorsatz hat sich
nichts geändert, wirklich nicht. Aber mit dir mach ich eine
Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich liebhabe.«
Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab.
»Vorhin, als wir uns umarmten, habe ich geweint«, flüsterte sie.
Und als sie sich dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen
in die Augen, aber sie lächelte unter diesen Tränen, und er war
seit langem wieder einmal beinahe glücklich. »Ich habe ge­
weint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich dich liebhabe, das
ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du sollst
kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst,
will ich mich freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig
sein. Das versprech ich dir.« Sie drängte sich an ihn und preß­
te ihren Körper an den seinen, daß beiden der Atem verging.
»So«, rief sie, »und jetzt hab ich Hunger!« Er zog ein so ver­
dutztes Gesicht, daß sie lachte.
Sie erklärte ihm die Sache. »Das ist so: wenn ich wen lieb­
habe, ich meine, wenn mich jemand liebgehabt hat, aber du
verstehst mich schon, ja?, dann hab ich hinterher immer fürch­
terlichen Hunger. Der Hunger hat nur einen Haken. Ich habe
nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich in dieser
fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme.« Sie lag
auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engels­
köpfe aus Stuck inbegriffen.
Fabian stand auf und meinte: »Da müssen wir eben einbre­
chen.« Dann hob er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog
die widerstrebende Cornelia in den Korridor. Sie sträubte sich,
aber er faßte sie unter, und sie spazierten, Adam und Eva zum
Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor Fabians Tür.
»Das ist ja entsetzlich«, jammerte sie und wollte entfliehen.
Aber er drückte die Klinke nieder und transportierte das Mäd­
chen in sein Zimmer. Sie klapperte kläglich mit den Zähnen. Er
machte Licht, verbeugte sich und äußerte feierlich: »Herr Dok­

88 I'ABIAN
tor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor Battenberg in seinen
Gemächern willkommen zu heißen.« Dann warf er sich auf
sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
»Nein!« sagte sie hinter ihm, »das ist nicht möglich.« Aber
dann glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
Er stand auf und sah ihr zu. »Du darfst dir nicht so laut hin­
tendrauf klatschen«, erklärte er würdevoll.
»Das ist beim Schuhplattler nicht anders«, meinte sie und
tanzte weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie ge­
messen zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob
sie ihr Kleid glattstriche, obwohl sie, augenfällig genug, nichts
Derartiges anhatte, und sagte: »Bitte, die Speisekarte.«
Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und
Keks herbei und markierte, während sie aß, den aufmerksamen
Oberkellner. Später stöberte sie auf seinem Bücherbrett her­
um, klemmte sich Lektüre unter den Arm, bot ihm den linken
und befahl majestätisch: »Bringen Sie mich unverzüglich in
mein Appartement zurück.«
Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß
sie ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich
dafür, daß sie ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde.
Abends wollten sie sich dann wieder in der Wohnung treffen.
Wer zuerst da wäre, würde neben seine Türklinke ein Bleistift­
kreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld nach
Möglichkeit nichts merken zu lassen.
Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben
ihn und sagte: »Komm!« Er streichelte ihren Körper. Sie nahm
seinen Kopf in ihre Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und
flüsterte: »Komm! Was rief die Selow? Es lebe der kleine Un­
terschied!«

ZEHNTES KAPITEL 89
Elftes Kapitel
Die Überraschung in der Fabrik
Der Kreuzberg und ein Sonderling
Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit

Am andern Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor


Bürobeginn an der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog
die Notizen zu dem Preisausschreiben, das die Direktion von
ihm erwartete.
Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr
billige Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln
sollten numeriert sein und Zigaretten sechs verschiedener Sor­
ten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten. Die Käuferschaft
sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten Marken
der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige
Schachtel erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen
der Preise gewinnen wollte, notgedrungen je eine der sechs Spe­
zialpackungen kaufen, die seit langem im Handel waren, also
sechs Packungen außer der billigen Sonderschachtel. Wenn sich
hunderttausend Interessenten fanden, konnten automatisch
sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt siebenhun­
derttausend Schachteln umgesetzt werden. Dazu kam die all­
gemeine Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten
Kundenfang zu folgen pflegt. Fabian begann eine Kalkulation
aufzustellen.
Da erschien Fischer, rief: »Nanu?« und blickte dem Kolle­
gen neugierig über die Schulter.
»Der Entwurf fürs Preisausschreiben«, sagte Fabian. Fischer
zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte:
»Darf ich Ihnen nachher mal meine Zweizeiler zeigen?«
»Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik.«
Da klopfte es. Der Hausbote Schneiderei!, ein ältliches,
wackliges Faktotum, auch »der Erfinder des Plattfußes« ge­
heißen, schob sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen gro­
ßen gelben Brief auf Fabians Schreibtisch und entfernte sich
wieder. Der Brief enthielt Fabians Papiere, eine Anweisung

90 FABIAN
an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit diesem In­
halt:
»Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen
unter dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das
am Monatsende zahlbare Gehalt wird Ihnen schon heute an
der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns erlaubt, aus freien
Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagan­
distische Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kün­
digung ist eine bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat be­
schlossenen Senkung des Reklamebudgets. Wir danken Ihnen
für die dem Unternehmen geleistete Arbeit und wünschen Ih­
nen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste.« Unterschrift.
Aus.
Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er
auf, zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu
Fischer: »Auf Wiedersehen. Lassen Sie sich’s gut gehen.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Man hat mir eben gekündigt.«
Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. »Was Sie nicht
sagen! Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!«
»Ihr Gehalt ist kleiner«, meinte Fabian. »Sie dürfen blei­
ben.«
Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte
ihm mit feuchter Hand sein Bedauern aus. »Na, zum Glück
läßt Sie die Sache kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens
haben Sie keine Frau auf dem Hals.«
Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als
er sah, daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich
einen Guten Morgen.
»Guten Morgen, Herr Direktor«, grüßte Fischer und ver­
beugte sich zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht,
wandte sich dem Kollegen zu und sagte: »Auf dem Schreib­
tisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich vermach es Ih­
nen.« Damit verließ Fabian seine Wirkungsstätte und holte
sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos rat­

EI.FTES KAPITEL 91
terten vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte
ins gegenüberliegende Gebäude. Das Nebenhaus war von ei­
nem Gerüst vergittert. Maurer standen auf den Laufbrettern
und verputzten den grauen, bröckligen Bewurf. Eine Reihe
bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der
Depeschenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr
weiter. Fabian stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das
Geld noch darin sei, und dachte: »Was wird mit mir?< Dann
ging er, da er nicht arbeiten durfte, spazieren.
Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag,
Hunger hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und
setzte sich von neuem in Bewegung, obwohl er sich lieber trau­
rig in den tiefen Wald verkrochen hätte. Aber wo war hier ein
tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den Kummer an
den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte er
das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student ge­
lebt hatte. Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange
nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn
grüßen wird oder nicht. Fabian ging die Treppen hinauf und
sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier woh­
ne. Aber es war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um.
Die alte Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen.
Er entsann sich des regelmäßigen dummen Greisinnengesichts.
Im Inflationswinter hatte er kein Geld zum Heizen gehabt. Er
hatte, im Mantel vergraben, dort oben gehockt und an einem
Vortrag über Schillers moralästhetisches System gearbeitet.
Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mit­
tagessen eingeladen und über die familiären Vorgänge in ih­
rem umfangreichen Bekanntenkreis aufgeklärt worden. Vor­
her, damals und heute, er war stets ein armes Luder gewesen,
und er hatte große Aussichten, eines zu bleiben. Seine Armut
war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen das
Krummsitzen oder das Nägelkauen.
Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht:
Vielleicht sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in die­
ser Stadt, wo Ehrgeiz so rasch Früchte trug; vielleicht sollte
man sich doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackli­

92 l-'ABI AN
gen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige
Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das
Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben.
Cornelia, der weibliche Referendar, hatte daneben gelegen und
ihm noch im Schlaf die Hand gedrückt. Mitten in der Nacht,
hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie zusammengefahren
und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und ener­
gisch erklärt: »Ich werde die Annoncen leuchten lassen!« Dann
sei er wieder zurückgesunken.
Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setz­
te sich auf eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen
war. Auf einem Schild stand: »Bürger, schont eure Anlagen!«
Der Magistrat hatte den außerordentlich zweideutigen Satz
unterschrieben, der Magistrat mußte es wissen. Fabian betrach­
tete den riesigen Stamm eines Baumes. Die Rinde war von tau­
send senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume hatten
Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der
eine, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte
gerade empört: »Soll man sich das gefallen lassen?« Der ande­
re ließ sich mit der Antwort Zeit. »Gegen die Bande kannst du
gar nichts machen«, meinte er schließlich. Was sie weiter spra­
chen, war nicht mehr zu hören.
Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merk­
würdige Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart
und mit einem schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels
trug er eine grünliche, verschossene Pelerine, und der Kopf
gipfelte in einem steifen grauen Hut, der vor Jahren schwarz
gewesen sein mochte. Der Pelerinenträger steuerte auf die Bank
zu, ließ sich, eine Begrüßungsformel murmelnd, neben Fabian
nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm
Kreise in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahn­
rad, brachte dessen Mittelpunkt mit dem Zentrum eines ande­
ren Kreises durch eine Gerade in Verbindung, komplizierte die
Skizze durch Kurven und Linien immer mehr, schrieb For­
meln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete
von neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: »Verste­
hen Sie was von Maschinen?«

ELFTES KAPITEL 93
»Bedaure«, sagte Fabian. »Wer mich sein Grammophon auf­
ziehen läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktioniert. Me­
chanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befasse, brennen
nicht. Bis zum heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom,
wie mir der Name zu bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit.
Und wie es möglich ist, auf der einen Seite geschlachtete Och­
sen in elektrisch betriebene Metallgehäuse zu sperren und auf
der Rückseite Corned beef herauszudestillieren, werde ich nie­
mals begreifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an mei­
ne Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen
Pelerinen und mit grünen Mützen nach der Martin Luther-
Kirche zum Gottesdienst. Während der Predigt schliefen wir
alle bis auf den, der die anderen wecken mußte, wenn der Or­
ganist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die
Empore kam.« Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn
und spürte, wie dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alar­
mierte. Er sah den blassen, dicken Direktor vor sich, wie der
jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor er sich setzte und
das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sün­
dige Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends
durchs Tor der Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Stra­
ßen, an den Kasernen vorbei, über den Exerzierplatz rennen,
die Treppe eines Mietshauses hinaufjagen und auf eine Klingel
drücken. Er hörte die zitternde Stimme seiner Mutter hinter
der Tür: »Wer ist denn draußen?« Und er hörte sich, außer
Atem, rufen: »Ich bin’s, Mama! Ich wollte bloß nachsehen,
ob’s dir heute besser geht.«
Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten
Schirmes so lange über den Sand, bis die Rechnung wegge­
wischt war. »Vielleicht verstehen Sie mich, da Sie von Maschi­
nen nichts verstehen«, sagte er. »Ich bin ein sogenannter Er­
finder, Ehrenmitglied von fünf wissenschaftlichen Akade­
mien. Die Technik verdankt mir erhebliche Fortschritte. Ich
habe der Textilindustrie dazu verhülfen, pro Tag fünfmal soviel
Tuch herzustellen wie früher. An meinen Maschinen haben vie­
le Leute Geld verdient, sogar ich.« Der alte Herr hustete und

94 FABIAN
zupfte sich nervös am Spitzbart. »Ich erfand friedliche Ma­
schinen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das kon­
stante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Be­
triebe nahm zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Ar­
beiter nahm ab. Meine Maschinen waren Kanonen, sie setzten
ganze Armeen von Arbeitern außer Gefecht. Sie zertrümmer­
ten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als ich in
Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte los­
ritt. Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mäd­
chen wurde von einem Pferd niedergetrampelt. Und ich war
daran schuld.« Der alte Herr schob den steifen Hut aus der
Stirn und hustete. »Als ich zurückkam, stellte mich meine Fa­
milie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld weg­
zuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Ma­
schinen nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort.
Sie haben zu leben, sie wohnen in meinem Haus am Starnber­
ger See, ich bin seit einem halben Jahr verschollen. Vorige Wo­
che las ich in der Zeitung, daß meine Tochter ein Kind geboren
hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie ein
Strolch durch Berlin.«
»Alter schützt vor Klugheit nicht«, sagte Fabian. »Leider
sind nicht alle Erfinder so sentimental.«
»Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur
Verfügung zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber.
Und wenn man meinen Namen erfährt, hält man mich erst
recht zurück. In meiner Brusttasche sind Skizzen und Berech­
nungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen Textilma­
schinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in mei­
ner geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern.« Der
alte Herr schlug sich stolz an die Brust und hustete wieder.
»Heute abend übernachte ich Yorckstraße 93. Kurz bevor das
Tor geschlossen wird, betrete ich das Haus. Wenn der Portier
fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche Grünbergs. Die
Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist Oberpost­
schaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Fa­
milie Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort set­
ze ich mich auf die Treppe. Vielleicht ist die Bodentür offen.

ELFTES KAPITEL 95
Manchmal liegt gar eine alte Matratze in irgendeiner Ecke.
Morgen früh verschwinde ich dann wieder.«
»Woher kennen Sie Grünbergs?«
»Aus dem Adreßbuch«, antwortete der Erfinder. »Ich muß
doch einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Por­
tier nach meinen Absichten erkundigt. Am nächsten Morgen
kommt der Schwindel häufig raus. Aber die jahrtausendalte Auf­
forderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen und die Alten
zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab. Au­
ßerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte
ich an einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein
Aufklärungskursus gegen die Wunder der Technik daraus. Das
gefiel weder den Schülern noch dem Direktor. Ich zog es vor,
mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen. Jetzt brau­
che ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich
stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu,
die fortreisen, ankommen und Zurückbleiben. Das ist alles sehr
unterhaltend. Ich sitze da und bin froh, daß ich lebe.«
Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann.
»Heben Sie sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Por­
tier vorzeitig von der Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie kön­
nen auf meinem Sofa schlafen.«
Der alte Herr las den Zettel und fragte: »Was wird Ihre Wir­
tin dazu sagen?«
Fabian zuckte die Achseln.
»Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängsti­
gen«, meinte der Alte. »Wenn ich nachts in den dunklen Trep­
penhäusern sitze, huste ich überhaupt nicht. Ich nehme mich
dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu erschrecken.
Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen,
ich war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer
Teufel, es spielt keine Rolle. Wie’s kommt, wird’s gefressen. Ob
mich die Sonne auf meiner Terrasse in Leoni bescheint oder
hier auf dem Kreuzberg, das ist mir so egal wie der Sonne.« Der
alte Herr hustete und streckte die Beine weit von sich. Fabian
stand auf und sagte, er müsse weiter.
»Was sind Sie eigentlich von Beruf?« fragte der Erfinder.

96 1ABIAN
»Arbeitslos«, erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu,
die in die Straßen Berlins zurückführte.
Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die
Wohnung betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Mal­
heur berichten. Schon die bloße Vorstellung von der kommen­
den Szene rührte ihn tief. Vielleicht hatte er auch nur Hunger.
Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand
im Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war
ihre Art, Labude sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und
hatte offensichtlich Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu
entschuldigen, weil er gestern nacht ohne Gruß den Tisch und
das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er etwas ganz ande­
res. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der Selow
dachte.
Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon
sein Ehrgeiz gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und
ohne Fehler gleich ins Reine zu schreiben. Er hatte als Kind
niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für Moral war eine
Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungssystem und in der Folge seine
Moral lädiert. Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem
Charakter fehlte das Geländer. Nun kam er, der die Ziele lieb­
te und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der Planlosigkeit.
Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und
trotzdem ruhig bleiben kann.
»Du siehst schlecht aus«, sagte Fabian.
»Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht«, gestand der
Freund. »Diese Selow ist schwermütig und ordinär, beides in
einem Atem. Sie kann stundenlang auf dem Diwan sitzen und
Schweinereien vor sich hinmurmeln, als bete sie eine Litanei.
Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in solchen Men­
gen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann fällt
ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung
ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei
empfindet sie bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für les­
bisch halte ich sie aber auch nicht. Ich glaube, obwohl das ko­
misch klingt, sie ist homosexuell.«

ELFTES KAPITEL 97
Fabian ließ den Freund reden. Und weil er sich über nichts
wunderte, wurde der andere ruhig. »Morgen fahre ich auf zwei
Tage nach Frankfurt«, erzählte Labude noch, bevor er sich ver­
abschiedete. »Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine
Initiativgruppe einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der
Wohnung Nummer Zwei bleiben. Ihr ist’s in den letzten Mo­
naten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich mal ausschla­
fen. Auf Wiedersehen, Jakob.« Dann ging er.
Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kün­
digung sagen? Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah
elend aus, war gar nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und re­
sümierte, was sie der Battenberg ausführlich schon berichtet
hatte: Die kleine Kulp war in die Charite gebracht worden. Sie
hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy, der
Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im
Atelier, kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit
Sterben.
Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ih­
rem Koffer geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch
hübsch garniert. Sogar eine weiße Decke und ein Blumen­
strauß waren vorrätig. Die Reiter sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe
sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo der junge Labude
wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war. Sie
hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und
durch Fabian Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Per­
sonal der Grunewaldvilla keine Auskunft hatte geben können.
»Ich weiß, wo er wohnt«, meinte Fabian. »Außerdem hat er bis
vor wenigen Minuten nebenan in meinem Zimmer gesessen.
Die Adresse darf ich nicht sagen.«
»Er war hier?« rief die Bildhauerin. »Auf Wiedersehen!« Sie
rannte davon.
»Ihr fehlt die Selow«, sagte Cornelia.
»Ihr fehlt die schlechte Behandlung«, sagte Fabian.
»Mir nicht.« Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere. »Gefällt dir
das?« fragte sie.
»Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir

98 FABIAN
immer, wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein
neues Kleid an? Kenne ich diese Ohrringe schon? Trugst du
auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was mir gefällt, merke
ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf stoßen.«
»Du hast nichts als Fehler«, rief sie. »Jeden einzelnen deiner
Fehler könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb.«
Während des Essens erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten
antreten solle. Sie war heute einer Reihe von Kollegen, Dra­
maturgen, Produktionsleitern und Direktoren vorgestellt wor­
den und beschrieb das merkwürdige, weitläufige Haus, in dem
bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz in
die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Le­
ben sauer machten. Fabian verschob die Mitteilung auf spä­
ter.
Als sie mit dem Essen fertig waren, stellte sie einen Teller mit
zwei belegten Broten beiseite und sagte lächelnd: »Die eiserne
Ration.«
»Du bist rot geworden«, rief er.
Sie nickte. »Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas
zum Bewundern gibt.«
Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er
überlegte inzwischen, wie er ihr die Kündigung beibringen soll­
te. Aber der Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem
Haus standen, hustete jemand hinter ihnen, und ein fremder
Mann wünschte Guten Abend. Es war der Erfinder mit der Pe­
lerine. »Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und
Dachböden verdorben«, erzählte er. »Ich habe um die Yorck-
straße einen Bogen gemacht und bin hierhergekommen. Ei­
gentlich mache ich mir Vorwürfe, daß ich Sie behellige, denn
schließlich sind Sie selber arbeitslos.«
»Arbeitslos bist du?« fragte Cornelia. »Ist das wahr?«
Der alte Herr entschuldigte sich umständlich, er habe ge­
dacht, die junge Dame wisse Bescheid.
»Heute morgen hat man mir gekündigt.« Fabian ließ Cor­
nelias Arm los. »Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig
Mark in die Hand gedrückt. Wenn ich meine Miete vorausbe­

ELETES KAPITEL 99
zahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig Mark. Gestern
hätte ich darüber gelacht.«
Als sie den alten Herrn aufs Sofa gepackt und ihm die Steh­
lampe danebengestellt hatten, denn er wollte an seiner gehei­
men Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm Gute Nacht
und gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal
zurück und brachte dem Gast ein paar belegte Brote.
»Ich verspreche, nicht zu husten«, flüsterte der Alte.
»Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch
ganz anderen Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine
gewisse Frau Hohlfeld, die es früher nicht nötig gehabt hat,
deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie wir’s morgen früh ma­
chen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre Möbel rei­
zend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa
biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich
wecke Sie morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passen­
des einfallen.«
»Gute Nacht, junger Freund«, bemerkte der Alte und holte
seine kostbaren Papiere aus der Tasche. »Empfehlen Sie mich
dem Fräulein Braut.«
Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte.
Eine Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. »Ach,
ist das Leben schön!« sagte sie. »Wie denkst du über die
Treue?«
»Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!« Er
saß neben ihr, hielt sein Knie umschlungen und blickte auf das
ausgestreckte Mädchen nieder. »Ich glaube, ich warte nur auf
die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich
wäre dafür verdorben.«
»Das ist ja eine Liebeserklärung«, sagte sie leise.
»Wenn du jetzt heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!« sag­
te er.
Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen
Schlüpfer an und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter
Tränen. »Ich heule«, murmelte sie. »Nun halte auch du dein
Versprechen.« Dann bückte sie sich. Er zog sie aufs Bett. Sie
sagte: »Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine Sorgen.«

ioo l'ABIAN
Zwölftes Kapitel
Der Erfinder im Schrank
Nicht arbeiten ist eine Schande
Die Mutter gibt ein Gastspiel

Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war


der schon aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am
Tisch und rechnete.
»Haben Sie gut geschlafen?«
Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm
die Hand. »Das geborene Schlafsofa«, sagte er und streichelte
die braune Sofalehne, als handle sich’s um einen Pferderücken.
»Muß ich jetzt verschwinden?«
»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, meinte Fabian.
»Während ich bade, bringt die Wirtin das Frühstück ins Zim­
mer, und da darf sie Ihnen nicht begegnen, sonst gibt’s Krach.
Wenn sie wieder draußen ist, sind Sie mir wieder willkommen.
Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden hierbleiben. Ich
werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit
kümmern muß.«
»Das macht nichts«, erklärte der Alte. »Ich werde in den
Büchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber,
während Sie baden?«
»Ich dachte, in den Schrank«, sagte Fabian. »Der Schrank als
Wohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslust­
spiele. Brechen wir mit derTradition, verehrter Gastfreund! Ist
Ihnen mein Vorschlag angenehm?«
Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hinein
und fragte: »Pflegen Sie sehr lange zu baden?« Fabian beru­
higte ihn, schob den zweiten Anzug, den er besaß, beiseite und
hieß den Gast einsteigen. Der alte Herr nahm seine Pelerine
um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm unter den Arm
und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. »Und
wenn sie mich hier findet?«
»Dann ziehe ich am Ersten aus.«
Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte:
»Nun scheren Sie sich in die Wanne!«

ZWÖLFTES KAPITEL IOI


Fabian schloß den Schrank zu, nahm vorsichtshalber den
Schlüssel an sich und rief im Korridor: »Frau Hohlfeld, das
Frühstück!« Als er das Badezimmer betrat, saß schon Corne­
lia, über und über eingeseift, in der Wanne und lachte. »Du
mußt mir den Rücken abreiben«, flüsterte sie. »Ich habe so ent­
setzlich kurze Ärmchen.«
»Die Reinlichkeit wird zum Vergnügen«, bemerkte Fabian
und seifte ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit
Gleichem. Zum Schluß saßen sie beide im Wasser gegenüber
und spielten hohen Seegang. »Schrecklich«, sagte er, »in mei­
nem Schrank steht inzwischen der König der Erfinder und
wartet auf seine Befreiung. Ich muß mich beeilen.« Sie klet­
terten aus der Wanne und frottierten einander, bis die Haut
brannte. Dann trennten sie sich.
»Auf Wiedersehen am Abend«, flüsterte sie.
Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von
ihrem Mund und Hals, von jedem Körperteil einzeln. Dann
lief er in sein Zimmer. Das Frühstück war eingetroffen. Er
sperrte den Schrank auf. Der alte Herr stieg mit steifen Beinen
heraus und hustete lange, um das Versäumte nachzuholen.
»Nun der zweite Teil der Komödie«, sagte Fabian, ging in
den Korridor, öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief:
»Großartig, Onkel, daß du mich mal besuchst. Tritt bitte nä­
her!« Er komplimentierte die imaginäre Person ins Zimmer und
nickte dem verwunderten Erfinder zu. »So, nun sind Sie offi­
ziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite Tasse.«
»Und Ihr Onkel bin ich außerdem.«
»Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen
immer schmerzstillend«, erläuterte Fabian.
»Aber der Kaffee ist gut. Darf ich mir ein Brötchen neh­
men?« Der alte Herr begann den Schrank zu vergessen. »Wenn
ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Uni­
versalerben, geehrter Herr Neffe«, sagte er und aß mit großer
Andacht.
»Ihr hypothetischer Antrag ehrt mich«, entgegnete Fabian.
Sie stießen auf Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetas­
sen an und riefen: »Prost!«

102 FABIAN
»Ich liebe das Leben«, gestand der Alte und wurde fast ver­
legen. »Ich liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manch­
mal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hineinbeißen,
oder in die Luft, die in den Parks weht. Wissen Sie, woran das
liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das heute? Nie­
mand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie von einem Eisenbahnzusammenstoß oder einer anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen
geworden. Ich denke täglich an ihn, denn täglich kann er win­
ken. Und weil ich an ihn denke, liebe ich das Leben. Es ist eine
herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich sachverständig.«
»Und die Menschen?«
»Der Globus hat die Krätze«, knurrte der Alte.
»Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten,
das geht selten gut aus«, sagte Fabian und stand auf. Er verließ
den Gast, der noch immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfeld, den
Onkel nicht zu stören, und ging zum Arbeitsamt seines Be­
zirks.
Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach
zwei Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine
westliche Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroange­
stellte bestimmt war. Er fuhr mit dem Autobus zum Witten­
bergplatz und ging in das angegebene Lokal. Die Auskunft war
falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser Kran­
kenschwestern, Kindergärtnerinnen und Stenotypistinnen und
erregte, als einziger männlicher Besucher, die größte Aufmerk­
samkeit.
Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar
Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines
Konsumvereins aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeits­
amts darstellte, in der er sich melden sollte. Hinter dem ehe­
maligen Ladentisch saß ein Beamter, davor standen, in langer
Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach dem ande­
ren, die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen
Kontrollvermerk.
Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen ge­
kleidet waren, manche konnten geradezu elegant genannt wer­

ZWÖIITES KAPITEL 103


den, und wer ihnen auf dem Kurfürstendamm begegnet wäre,
hätte sie fraglos für freiwillige Müßiggänger gehalten. Vermut­
lich verbanden die Leute den morgendlichen Gang zur Stem­
pelstelle mit einem Bummel durch die vornehmen Geschäfts­
straßen. Vor den Schaufenstern stehenzubleiben, kostete noch
immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen
konnten, oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Fei­
ertagsanzüge, und sie taten recht daran, denn wer hatte so vie­
le Feiertage wie sie?
Ernst und auf Haltung erpicht, standen sie in Reih und
Glied und warteten, bis sie ihre Stempelkarte wieder einstek-
ken durften. Dann gingen sie hinaus, als verließen sie eine
zahnärztliche Klinik. Manchmal schimpfte der Beamte und
legte eine Karte beiseite. Ein Gehilfe trug sie in den Neben­
raum. Dort thronte ein Inspektor und zog unregelmäßige Be­
sucher der Kontrollstelle zur Rechenschaft. Von Zeit zu Zeit
trat eine Art Portier aus der Tür und rief einen Namen.
Fabian las die Druckschriften, die an den Wänden hingen.
Es war verboten, Armbinden zu tragen. Es war verboten, Um­
steigebilletts der Straßenbahn von den Erstinhabern zu über­
nehmen und weiter zu benutzen. Es war verboten, politische
Debatten hervorzurufen und sich an ihnen zu beteiligen. Es
wurde mitgeteilt, wo man für dreißig Pfennige ein ausgespro­
chen nahrhaftes Mittagessen erhalten könne. Es wurde mitge­
teilt, für welche Anfangsbuchstaben sich die Kontrolltage ver­
schoben hatten. Es wurde mitgeteilt, für welche Berufszweige
die Nachweisadressen und die Auskunftszeiten geändert wor­
den waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten. Es war ver­
boten. Es wurde mitgeteilt.
Das Lokal leerte sich allmählich. Fabian legte dem Beamten
seine Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier
nicht üblich, und er empfehle Fabian, sich an die Stelle zu wen­
den, die für freie Berufe, Wissenschaftler und Künstler zustän­
dig sei. Er nannte die Adresse.
Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es
war fast Mittag. Er geriet in der neuen Filiale in eine sehr ge­
mischte Gesellschaft. Den Anschlägen entnahm er, daß es sich

104 FABIAN
möglicherweise um Ärzte, Juristen, Ingenieure, Diplomland­
wirte und Musiklehrer handelte. »Ich bin jetzt bei der Krisen­
fürsorge«, sagte ein kleiner Herr. »Ich kriege 24,50 Mark. Auf
jeden Kopf meiner Familie kommen in der Woche 2,72 Mark,
und auf einen Tag für einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es
in meiner chronischen Freizeit genau ausgerechnet. Wenn das
so weitergeht, fange ich nächstens an einzubrechen.«
»Wenn das so leicht wäre«, seufzte sein Nachbar, ein kurz­
sichtiger Jüngling. »Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe
ein Jahr im Gefängnis gesessen. Also, es gibt erfreulichere Mi­
lieus.«
»Es ist mir egal, wenigstens vorher«, erklärte der kleine Herr
erregt. »Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück
Brot in die Schule mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit
an.«
»Als ob Stehlen Sinn hätte«, sagte ein großer, breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. »Wenn der Kleinbürger nichts zu fres­
sen hat, will er gleich zum Lumpenproletariat übergehen. War­
um denken Sie nicht klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur?
Merken Sie noch immer nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie
die politische Revolution vorbereiten.«
»Bis dahin sind meine Kinder verhungert.«
»Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhun­
gern Ihre werten Herren Kinder noch rascher«, sagte der
Mann am Fenster. Der kurzsichtige Jüngling lachte und schau­
kelte entschuldigend mit der Schulter.
»Meine Sohlen sind völlig zerrissen«, sagte der kleine Herr.
»Wenn ich jedesmal hierherlaufe, sind die Schuhe in einer Wo­
che hin, und zum Fahren habe ich kein Geld.«
»Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?« fragte der
Kurzsichtige.
»Ich habe so empfindliche Füße«, erklärte der kleine Herr.
»Hängen Sie sich auf!« meinte der Mann am Fenster.
»Er hat einen so empfindlichen Hals«, sagte Fabian.
Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt
und zählte sein Vermögen. »Die Hälfte des Geldes geht regel­
mäßig für Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man.

ZWÖLFTES KAPITEL 105


Rückporto braucht man. Die Zeugnisse muß ich mir jede Wo­
che zwanzigmal abschreiben und beglaubigen lassen. Kein
Mensch schickt die Papiere zurück. Nicht einmal Antwort er­
hält man. Die Bürofritzen legen sich vermutlich mit meinem
Rückporto Briefmarkensammlungen an.«
»Aber die Behörden tun, was sie tun können«, sagte der
Mann am Fenster. »Unter anderem haben sie Gratiszeichen­
kurse für Arbeitslose eingerichtet. Das ist eine wahre Wohltat,
meine Herren. Erstens lernt man Apfel und Beefsteaks malen,
und zweitens wird man davon satt. Die Kunsterziehung als
Nahrungsmittel.«
Der kleine Herr, dem jeder Humor abhanden gekommen zu
sein schien, sagte bedrückt: »Das nützt mir gar nichts. Ich bin
nämlich Zeichner.«
Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian
erkundigte sich, vorsichtig geworden, ob er Aussicht habe, hier
abgefertigt zu werden. Der Beamte fragte nach dem Ausweis
des regionalen Arbeitsamts. »Sie haben sich noch nicht gemel­
det? Das müssen Sie vorher erledigen.«
»Jetzt geh ich wieder dorthin, wo ich vor fünf Stunden die
Tournee begonnen habe«, sagte Fabian. Aber der Beamte war
nicht mehr da.
»Die Bedienung ist zwar höflich«, meinte der Jüngling,
»aber daß die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch
behaupten.«
Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohn­
bezirks. Er hatte bereits eine Mark Fahrgeld verbraucht und
blickte vor Wut nicht aus dem Fenster.
Als er ankam, war das Amt geschlossen. »Zeigen Sie mal
Ihre Papiere her«, sagte der Portier. »Vielleicht kann ich Ihnen
behilflich sein.« Fabian gab dem Biedermann das Zettelpaket.
»Aha«, erklärte der Türsteher nach eingehender Lektüre. »Sie
sind ja gar nicht arbeitslos.«
Fabian setzte sich auf einen der bronzenen Meilensteine,
welche die Einfahrt zierten.
»Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten
Urlaub. Das Geld haben Sie doch von Ihrer Firma erhalten?«

106 FABIAN
Fabian nickte.
»Dann kommen Sie mal in vierzehn Tagen wieder«, schlug
der andere vor. »Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungs­
schreiben probieren. Lesen Sie die Stellenangebote in den Zei­
tungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll’s nicht beschreien.«
»Glückliche Reise«, sprach Fabian, nahm die Papiere in
Empfang und begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar
Brötchen verzehren wollte. Zu guter Letzt verfütterte er sie
aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im Neuen See spa­
zierenfuhren.
Als er gegen Abend das Zimmer betrat, fand er seine Mut­
ter vor. Sie saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte:
»Da staunst du, mein Junge.«
Man umarmte sich. Sie fuhr fort: »Ich mußte nachsehen, was
du machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Ge­
schäft kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest
meine Briefe nicht mehr. Zehn Tage hast du nicht geschrieben.
Es ließ mir keine Ruhe, Jakob.«
Er setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und
erklärte, es gehe ihm gut.
Sie betrachtete ihn prüfend. »Komme ich dir ungelegen?« Er
schüttelte den Kopf. Sie stand auf. »Die Wäsche habe ich dir
schon in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal rei-
nemachen. Ist sie noch immer zu fein dazu? Was denkst du,
was ich mitgebracht habe?« Sie öffnete den Spankorb und leg­
te Pakete auf den Tisch. »Blutwurst«, sagte sie, »ein Pfund, aus
der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel. Leider
kann man hier nicht in die Küche, sonst würde ich’s aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grü­
ßen. Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus
dem Laden. Wenn das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge.
Ich glaube, die Leute waschen sich nicht mehr. Und hier eine
Krawatte, gefällt sie dir?«
»Du bist so gut«, sagte Fabian. »Aber du sollst nicht so viel
Geld für mich ausgeben.«
»Quatsch mit Sauce«, sagte die Mutter und legte die Eßwa­
ren auf einen Teller. »Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, dei­

ZWÖLETES KAPITEL 107


ne Gnädige. Ich hab’s ihr schon erzählt. Morgen abend fahre
ich zurück. Ich bin mit dem Personenzug gekommen. Die Zeit
verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir haben viel ge­
lacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu viel! Überall ste­
hen leere Zigarettenschachteln herum.«
Fabian sah der Mutter zu. Sie hantierte vor lauter Rührung
wie ein Gendarm.
»Ich mußte gestern daran denken«, sagte er, »wie das damals
war, als ich im Internat steckte, und du warst krank, und ich
rannte abends davon, über den Exerzierplatz, nur um zu sehen,
wie es dir ginge. Einmal, das weiß ich noch, schobst du einen
Stuhl vor dir her und stütztest dich darauf, sonst hättest du mir
gar nicht öffnen können.«
»Du hast viel durchgemacht mit deiner Mutter«, sagte sie.
»Man müßte sich öfter sehen. Wie geht’s in der Fabrik?«
»Ich habe ihnen ein Preisausschreiben vorgeschlagen. Dar­
an können sie eine Viertelmillion verdienen.«
»Für zweihundertsiebzig Mark im Monat, diese Bande.«
Die Mutter war empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brach­
te den Tee, stellte das Tablett auf den Tisch und sagte: »Ihr On­
kel ist schon wieder da.«
»Dein Onkel?« fragte die Mutter erstaunt.
»Ich habe mich auch schon gewundert«, erklärte die Wir­
tin.
»Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen Schaden getan,
gnädige Frau«, erwiderte Fabian, und Frau Hohlfeld entfernte
sich gekränkt. Fabian holte den Erfinder ins Zimmer und sag­
te: »Mama, das ist ein alter Freund von mir. Er hat gestern auf
dem Sofa geschlafen, und ich habe ihn zu meinem Onkel er­
nannt, um das Verfahren abzukürzen.« Er wandte sich an den
Erfinder. »Das ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau
des Jahrhunderts. Nehmen Sie Platz. Aus dem Sofa wird heu­
te freilich nichts. Aber ich möchte Sie für morgen einladen,
wenn es Ihnen recht ist.«
Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den
Schirmknauf und drückte Fabian ein Kuvert in die Hand.
»Stecken Sie das rasch ein«, bat er. »Es ist meine Maschine.

108 1-ABI A N
Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich wieder einmal
ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen.«
Fabian steckte den Briefumschlag ein. »Man will Sie ins Ir­
renhaus sperren?«
»Ich habe nichts dagegen«, bemerkte der Alte. »Man hat sei­
ne Ruhe dort. Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist
ein erträglicher Kerl, selber ein bißchen verrückt und spielt
ausgezeichnet Schach. Ich war schon zweimal dort. Wenn mir’s
zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen Sie, meine
Dame«, sagte er zu der Mutter. »Ich mache Ihnen Ungelegen­
heiten. Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird
gleich klingeln. Ich bin soweit. Die Papiere sind gut aufgeho­
ben. Verrückt bin ich übrigens nicht, ich bin meinen werten
Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund, schreiben Sie mir
ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt.«
Es klingelte.
»Da sind sie schon«, rief der Alte.
Frau Hohlfeld ließ zwei Herren eintreten.
»Ich bitte, die Störung zu entschuldigen«, sagte der eine und
verbeugte sich. »Vollmachten, die Sie gern einsehen können,
veranlassen mich, Herrn Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise
zu entfernen. Unten wartet mein Auto.«
»Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner ge­
worden. Ich merkte es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur
wart. Tag, Winkler. Da wollen wir mal in Ihren Wagen klettern.
Wie geht’s meiner lieben Familie?«
Der Arzt hob die Schultern.
Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein
und schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm
dessen Hand. »Ich danke Ihnen sehr.« Er schritt zur Tür. »Sie
haben einen guten Sohn«, sagte er zu der alten Frau. »Das kann
nicht jeder von sich behaupten.« Dann verließ er das Zimmer.
Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und seine Mut­
ter blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die
drei Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten
Erfinder in einen Staubmantel. Die Pelerine wurde verstaut.

ZWÖLFTES KAPITEL 109


»Ein komischer Mann«, sagte die Mutter, »aber verrückt ist
er nicht.« Das Auto fuhr davon. »Warum sah er eigentlich in
den Schrank?«
»Ich habe ihn heute früh in den Schrank gesperrt, damit die
Wirtin nichts merkte«, sagte der Sohn.
Die Mutter goß Tee ein. »Aber leichtsinnig ist es trotzdem
von dir, wildfremde Leute hier schlafen zu lassen. Wie schnell
kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im
Schrank nicht schmutzig gemacht.«
Fabian schrieb die Adresse der Irrenanstalt auf das Kuvert
und schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen.
Nach dem Abendbrot sagte er: »Komm, mach dich fertig.
Wir gehen ins Kino.« Während sich die Mutter anzog, besuch­
te er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei. Die
Freundin war müde und lag schon im Bett. »Ich schlafe, bis du
aus dem Kino zurück bist«, meinte sie. »Siehst du dann noch
einmal zu mir herein?« Er versprach es.
Der Tonfilm, den Fabian und seine Mutter sahen, war ein
albernes Theaterstück, das in zwei Dimensionen verlief. Ab­
gesehen davon war nicht gespart worden, der vorgeführte
Luxus überschritt jede Grenze. Man hatte, obwohl derglei­
chen anstandshalber nicht gezeigt wurde, den Eindruck, un­
ter den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lach­
te wiederholt, und das freute Fabian so sehr, daß er mit­
lachte.
Nach Haus gingen sie zu Fuß. Die Mutter war vergnügt.
»Wenn ich früher so gesund gewesen wäre wie heute, mein
Junge, dann hättest du es besser gehabt«, meinte sie nach eini­
ger Zeit.
»Es war auch so nicht übel«, sagte er. »Und außerdem ist es
vorbei.«
Zu Hause stritten sie sich ein bißchen, wer im Bett und wer
auf dem Sofa schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die Mutter
bereitete das Sofa zur Nacht. Er müsse erst einmal nebenan,
sagte er dann. »Dort wohnt eine junge Dame, und ich bin mit
ihr befreundet.« Er verabschiedete sich für alle Fälle, gab der
Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür.

i io FABIAN
Eine Minute später kam er wieder. »Sie schläft schon«, flü­
sterte er und bestieg sein Sofa.
»Früher wäre das nicht möglich gewesen«, bemerkte Frau
Fabian.
»Das hat ihre Mutter auch gesagt«, meinte der Sohn und
drehte sich nach der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschla­
fen, stand er noch einmal auf, tappte durchs dunkle Zimmer,
beugte sich über das Bett und sagte wie einst: »Schlaf gut,
Muttchen.«
»Du auch«, murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte
das nicht sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.

ZWÖLFTES KAPITEL II I
Dreizehntes Kapitel

Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer


Das reziproke Bordell
Die zwei Zwanzigmarkscheine

Am andern Morgen wurde er von seiner Mutter geweckt. »Auf­


stehen, Jakob! Du kommst zu spät ins Büro!« Er machte sich
rasch fertig, trank den Kaffee im Stehen und verabschiedete
sich.
»Ich werde inzwischen Ordnung schaffen«, sagte sie. »So­
was von Staub überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel
abgerissen. Geh ohne Mantel. Es ist ja warm draußen.«
Fabian lehnte an der Tür und sah zu, wie die Mutter han­
tierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß
wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt davon, es erinner­
te plötzlich an zu Hause. »Daß du dich ja nicht fünf Minuten
hinsetzt und die Hände in den Schoß legst«, warnte er. »Wäre
es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir könnten in den
Tiergarten gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier,
und du würdest mir wieder einmal davon erzählen, wie ko­
misch ich als Kind war. Als ich die Bettstelle mit der Steckna­
del völlig zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um dir
das herrliche Gemälde zu zeigen. Oder als ich dir zum Ge­
burtstag weißen und schwarzen Zwirn und ein Dutzend Näh­
nadeln und Druckknöpfe schenkte.«
»Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Näh­
seide. Es ist mir noch wie heute«, sagte die Mutter und strich
sein Jackett glatt. »Der Anzug müßte gebügelt werden.«
»Und eine Frau müßte ich haben und sieben kleine ulkige
Kinder«, ergänzte er in weiser Voraussicht.
»Scher dich an die Arbeit!« Die Mutter stemmte die Arme
in die Hüften. »Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich hole dich am
Nachmittag vom Büro ab. Ich warte vor der Tür. Dann bringst
du mich zum Bahnhof.
»Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst.«
Er kam noch einmal zurück.

112 FABIAN
Die Mutter sah ihn nicht an. Sie machte sich am Sofa zu
schaffen. »Ich hielt es drüben nicht mehr aus«, murmelte sie.
»Aber nun geht’s schon wieder, du mußt nur länger schlafen,
und du darfst das Leben nicht so schwer nehmen, mein Junge.
Es wird dadurch nicht leichter.«
»Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu
spät«, sagte er.
Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte
und lachte und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen
war. Dann verlangsamte er den Schritt und blieb schließlich
stehen. Ein hübsches Versteckspiel trieb er da mit der alten
Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu tun hatte.
Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen Zimmer, ob­
wohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm Zusam­
mensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro ab­
holen. Er mußte ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht
wissen, daß er entlassen war. Der Anzug, den er trug, war der
einzige, den er sich in zweiunddreißig Jahren selber gekauft
hatte. Ihr Leben lang hatte sie seinetwegen geschuftet und ge­
spart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens
spazieren. Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Ab­
sicht liegt, außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und
keinen Schirm haben, Unterhaltung zu bieten. Er hörte einer
Verkäuferin zu, die sehr gewandt Klavier spielte. Aus der Le­
bensmittelabteilung vertrieb ihn der Fischgeruch, den er seit
seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer embryonalen Erin­
nerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank ver­
kaufen. Das Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwieder­
bringlich. Fabian entzog sich der unerhörten Zumutung und
wanderte in die Buchabteilung. Er geriet an einem der An­
tiquariatstische über einen Auswahlband von Schopenhauer,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten
Onkels der Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heil­
praxis zu veredeln, war freilich eine Kateridee, wie bisher alle

DREIZEHNTES KAPITEL ”3
positiven Vorschläge, ob sie nun von Philosophen des neun­
zehnten oder von Nationalökonomen des zwanzigsten Jahr­
hunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte un­
übertrefflich. Fabian fand eine typologische Erörterung und
las:
»Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Aus­
drücke eüxokog und övoxoXog bezeichnete. Derselbe läßt sich
zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr ver­
schiedene Empfänglichkeit für angenehme und unangenehme
Eindrücke, infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was
den anderen fast zur Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die
Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer
zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und umgekehrt.
Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglücklichen
Ausgangs einer Angelegenheit wird der öuoxokog bei dem un­
glücklichen sich ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich
aber nicht freuen; der evxoXog hingegen wird über den un­
glücklichen sich nicht ärgern noch grämen, aber über den
glücklichen sich freuen. Wenn dem övoxoXog von zehn Vor­
haben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern
ärgert sich über das eine mißlungene: der eüxokog weiß, im
umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trö­
sten und aufzuheitern.
Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensatio­
nen ist, so ergibt sich auch hier, daß die öuoxokoi, also die fin­
steren und ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre,
dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehen ha­
ben werden als die heiteren und sorglosen; denn wer alles
schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und demnach
seine Vorkehrungen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet ha­
ben, als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht
leiht.«
»Was darf ich Ihnen verkaufen?« fragte ein ältliches Fräu­
lein. »Haben Sie baumwollene Socken?« fragte Fabian.
Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte:
»Im Erdgeschoß.« Fabian legte das Buch auf den Tisch und
stieg eine Treppe abwärts. Hatte Schopenhauer damit recht,

114 FABIAN
daß er, gerade er, jene zwei menschlichen Gattungen als einan­
der ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte nicht gerade er in sei­
ner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei nichts an­
deres als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in die­
sem Satz die Anschauung der öuoxoXot wider besseres Wissen
verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und kerami­
sches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käu­
fer, Verkäuferinnen und Bummler umstanden ein kleines ver­
heultes Mädchen, das zehn Jahre sein mochte, einen Schulran­
zen trug und ärmlich angezogen war. Das Kind zitterte am
ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen, aufgeregten
Gesichter der Erwachsenen ringsum.
Der Abteilungschef kam. »Was ist los?«
»Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschenbe­
cher stahl«, erklärte eine alte Jungfer. »Hier!« Sie hob eine klei­
ne bunte Schale hoch und zeigte sie dem Vorgesetzten.
»Marsch zum Direktor!« kommandierte der Cutaway.
»Jugend von heute«, sagte eine aufgetakelte Gans.
»Marsch zum Direktor!« rief eine der Verkäuferinnen und
packte die Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
Fabian schob sich durch die Versammlung. »Lassen Sie auf
der Stelle das Kind los!«
»Erlauben Sie mal«, meinte der Abteilungsleiter.
»Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?« fragte jemand.
Fabian gab der Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß
sie das Kind losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine
Seite. »Warum hast du denn ausgerechnet einen Aschenbecher
weggenommen?« fragte er. »Rauchst du schon Zigarren?«
»Ich hatte kein Geld«, sagte das Mädchen. Dann hob es sich
auf die Zehenspitzen. »Mein Papa hat heute Geburtstag.«
»Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer
schöner«, bemerkte die aufgetakelte Gans.
»Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus«, sagte Fabian zu
der Verkäuferin. »Wir behalten den Aschenbecher.«
»Das Kind verdient aber Strafe«, behauptete der Abtei­
lungsleiter.
Fabian trat auf den Mann zu. »Wenn Sie sich meinem Vor­

DREIZEHNTES KAPITEL ”5
schlag widersetzen sollten, schmeiße ich Ihnen den ganzen
Porzellanladen kaputt.«
Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin
schrieb einen Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur
Auslieferung. Fabian ging zur Kasse, zahlte und nahm das
Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind bis zum
Ausgang. »Hier hast du deinen Aschenbecher«, sagte er. »Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein klei­
ner Junge, der kaufte einen großen Kochtopf, um ihn seiner
Mutter am Heiligen Abend zu schenken. Als es soweit war,
nahm er den Topf in die Hand und segelte durch die halb offe­
ne Tür. Der Christbaum schimmerte großartig. >Da, Mutter, da
hast du ...<, sagte er und wollte sagen: >Da hast du den Topf.«
Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür. >Da,
Mutter, da hast du den Henkels sagte der Junge nun, denn er
hatte nur noch den Henkel in der Hand.«
Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit bei­
den Händen fest und meinte: »Mein Aschenbecher hat ja gar
keinen Henkel.« Sie knickste und lief fort. Dann drehte sie sich
noch einmal um, rief: »Danke schön!« und verschwand.
Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte
sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen
hielt. Eine alte Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwer­
fällig vom Sitz und wollte aussteigen. Fabian öffnete den Wa­
genschlag, half der Dame vom Trittbrett, zog höflich den Hut
und trat zur Seite. »Da!« sagte jemand neben ihm. Es war die
alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging
ins Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Gro­
schen. Er hatte unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er
bereits wie ein Bettler aus?
Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand
und öffnete einen zweiten Wagen. »Da!« sagte jemand und gab
ihm wieder einen Groschen. »Das wächst sich zu einem Beruf
aus<, dachte Fabian und hatte eine Viertelstunde später fünf­
undsechzig Pfennig verdient. »Wenn jetzt Labude vorbeikäme
und den literarhistorisch vorgebildeten Autoöffner sähe«, über­
legte er. Aber der Gedanke erschreckte ihn nicht. Nur der

116 FABIAN
Mutter hätte er nicht begegnen mögen, und auch Cornelia
nicht.
»Eine milde Gabe gefällig?« fragte eine Frau und gab ihm
ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene Moll. »Ich habe
dich lange Zeit beobachtet, mein Junge«, sagte sie und lächelte
schadenfroh. »Wir begegnen einander, wo wir können. Geht’s
dir so dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines
Mannes ablehntest, und auch die Schlüssel hättest du behalten
können. Ich wartete darauf, dich in meinem Bett wiederzuse­
hen. Deine Zurückhaltung macht sinnlich. Hier, hilf mir die
Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon.«
Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
»Was kann ich für dich tun?« fragte sie nachdenklich. »Stel­
lung eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist
leider nicht mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich
oder sonstwohin. Und jetzt wohnt die Kriminalpolizei bei uns.
Moll hat die seinem Notariat übergebenen Gelder unterschla­
gen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut. Wir ha­
ben ihn unterschätzt.«
»Wovon leben Sie denn nun?« fragte Fabian.
»Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind
jetzt billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter geschenkt,
das heißt, die Bekanntschaft ist jung, der Bekannte ist alt. Ihm
gehören nur ein paar Gucklöcher in den Türen.«
»Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?«
»Junge Männer, mein Herr. Wohnung und Verpflegung gra­
tis. Außerdem erhalten sie dreißig Prozent der Einnahmen.«
»Welcher Einnahmen?«
»Mein Verein unchristlicher junger Männer wird von Da­
men der besten Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft fre­
quentiert. Die Damen sind nicht immer schön und schlank,
und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein Mensch. Aber
sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder er­
morden sollten, sie kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der
Möbelhändler sieht zu. Die Damen gehen ihren Passionen
nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft worden. Sie

DREIZEHNTES KAPITEL "7


haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine
Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der eine, ein
Ungar, wurde von der Frau eines Industriellen erworben. Er
lebt wie ein Prinz. Wenn er klug ist, hat er in einem Jahr ein
Vermögen. Dann kann er die alte Schießbudenfigur abschaffen.«
»Also ein Männerbordell«, sagte Fabian.
»So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechtigung
als ein Frauenhaus«, erklärte Irene Moll. »Außerdem träumte
ich schon als junges Mädchen davon, Besitzerin eines solchen
Etablissements zu werden. Ich bin sehr zufrieden. Ich habe
Geld, ich engagiere fast täglich neue Kräfte für das Unterneh­
men, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle bewirbt, muß
bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme nicht
jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt es
schon eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen.«
Sie blieb stehen. »Ich bin angelangt.« Die Pension lag in ei­
nem großen eleganten Mietshaus. »Ich möchte dir einen Vor­
schlag machen. Als Pensionär kommst du nicht in Frage, mein
Lieber. Du bist zu wählerisch, du bist auch schon zu alt für die
Branche, meine Kundschaft bevorzugt Zwanzigjährige. Au­
ßerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich als Se­
kretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchfüh­
rung notwendig. Du könntest in meinen Privaträumen arbei­
ten, wohnen könntest du auch dort. Wie denkst du darüber?«
»Hier sind die Pakete«, sagte Fabian. »Ich möchte meinem
Brechreiz nicht zuviel zumuten.«
In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem
Haus. Sie waren schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll
erblickten, und nahmen die Hüte ab.
»Gaston, hast du heute Ausgang?« fragte sie.
»Mackie meinte, ich soll mir mal das Auto ansehen, das ihm
Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig Minuten bin ich
wieder da.«
»Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn
für eine Wirtschaft? Mackie geht allein. Marsch! Für drei Uhr
hat sich Nummer Zwölf angemeldet. Bis dahin schläfst du,
los!«

118 FABIAN
Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte,
nochmals grüßend, seinen Weg fort.
Frau Moll wandte sich Fabian zu. »Du willst wieder nicht?«
Sie nahm ihm die Pakete ab. »Ich gebe dir eine Woche Be­
denkzeit. Die Adresse weißt du nun. Überlege dir’s. Verhun­
gern ist Geschmackssache. Außerdem tätest du mir einen per­
sönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich sträubst, um so
mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib habe
ich mittlerweile genug.« Sie ging ins Haus.
»Das grenzt an Zwangsläufigkeit«, murmelte Fabian und
kehrte um.
Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu
las er die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich
Stellenangebote. Dann kaufte er in einem muffigen Papierla­
den Schreibmaterial und verfaßte vier Bewerbungsschreiben.
Als er sie in den Kasten gesteckt hatte, fand er, es sei Zeit. Und
pilgerte, recht müde, zu der Zigarettenfabrik.
»Sieht man Sie auch mal wieder?« fragte der Portier.
»Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen«, antwortete
Fabian. Der Portier kniff ein Auge zu. »Verlassen Sie sich ganz
auf mich.«
Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu
durchschauen schien. Er ging rasch ins Verwaltungsgebäude,
setzte sich in eine Fensternische und sah alle fünf Minuten auf
die Uhr. So oft er Schritte hörte, drückte er sich dicht an den
Fensterrahmen. In zehn Minuten war Büroschluß. Die Ange­
stellten hatten es eilig. Sie bemerkten ihn nicht. Er wollte sein
Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und Stimmen
vernahm, die sich näherten.
»Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preis­
ausschreiben berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fi­
scher«, sagte die eine Stimme. »Der Vorschlag ist beachtlich,
man wird Sie würdigen lernen.«
»Herr Direktor sind sehr gütig«, erwiderte die andere Stim­
me. »Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Doktor
Fabian geerbt.«
»Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!«

DREIZEHNTES KAPITEL 119


Der Ton des Direktors war unfreundlich. »Ist Ihnen mein Vor­
schlag unangenehm? Wäre Ihnen eine Gehaltszulage so zuwi­
der? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt einiger Verbes­
serungen. Ich werde gleich, unter Zugrundelegung Ihres Ma­
terials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir,
es wird Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können
jetzt nach Hause gehen. Sie haben es gut.«
»Meister muß sich immer plagen. Von Schiller«, bemerkte
Fischer. Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang erschrok-
ken einen Schritt zurück. Direktor Breitkopf fingerte im Kra­
gen. »Ich bin weniger überrascht als Sie«, sagte Fabian und
ging zur Treppe.
»Da kommt er ja schon«, meinte der Portier, der sich mit Fa­
bians Mutter unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die
Reisetasche, die Handtasche und den Schirm auf den Koffer
gelegt und nickte dem Sohn zu. »Hübsch fleißig gewesen?«
fragte sie. Der Portier lächelte gutmütig und spazierte in seinen
Verschlag.
Fabian gab der Mutter die Hand. »Wir haben noch eine hal­
be Stunde Zeit«, sagte er und nahm das Gepäck auf.
Als sie einen Eckplatz im Zug belegt hatten (im mittelsten
Wagen, denn Frau Fabian hielt es für angebracht, die üblen
Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein zu
reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
»Nicht so weit weg.« Sie hielt den Sohn am Ärmel. »Wie
leicht wird ein Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort
ist er.« Schließlich wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter
und spähte unentwegt durchs Fenster zum Gepäcknetz.
»Nun kann’s wieder abgehen«, sagte sie. »Der Henkel vom
Mantel ist angenäht. Im Zimmer sieht’s wieder menschlich aus.
Frau Hohlfeld tat beleidigt. Darauf kann man aber keine
Rücksicht nehmen.«
Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
»Junge, bist du leichtsinnig«, sagte sie. Er lachte, kletterte ins
Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die
Handtasche und kletterte wieder auf den Bahnsteig.

120 FABIAN
»Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?«
fragte sie. »Ich koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein
anderes, und wir gehen zu Tante Martha in den Garten. Im Ge­
schäft ist ja so wenig los.«
»Ich komme, sobald ich kann«, versicherte er.
Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: »Bleib
recht gesund, Jakob. Und wenn’s hier nicht vorwärtsgehen
will, pack dein Bündel und komm heim.«
Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf
Bahnsteigen zu lächeln pflegt, ähnlich wie beim Fotografen,
nur daß weit und breit kein Fotograf zu sehen ist. »Laß dir’s
gut gehen«, flüsterte er. »Es war schön, daß du da warst.«

Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öff­
nete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel.
»Wenig mit Liebe, Deine Mutter«, war daraufgeschrieben. In
der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. »Iß das Schnitzel
zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere
Tage.«
Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter
im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein
finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch
gesehen, war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen bei­
de dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich
nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als
die arithmetische.

Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Kor­


ridor des Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen
Verleihverhandlungen ins Gebäude der Konkurrenz gekom­
men. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der Typ, den er schon
lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht sich.
Sie solle ihn morgen nachmittag im Büro aufsuchen. Der Pro­
duktionsleiter und der Regisseur wären auch da. Vielleicht
probiere man’s mal mit ihr.
»Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen
Hut besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast kein Geld mehr.

DREIZEHNTES KAPITEL 121


Aber ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke
dir, wenn ich jetzt Filmschauspielerin würde! Kannst du dir
das vorstellen?«
»Doch«, sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmark­
schein.
»Hoffentlich bringt dir das Glück.«
»Mir?« fragte sie.
»Uns«, korrigierte er ihr zu Gefallen.

122 FABIAN
Vierzehntes Kapitel

Der Weg ohne Tür


Fräulein Selows Zunge
Die Treppe mit den Taschendieben

In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er


häufiger, als er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cor­
nelia, und so entsann er sich des Traumes. Wer hätte ihn, vor
Tagen noch, aus seinen Träumen wecken sollen? Wer hätte ihn
mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er neben
Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen ge­
schlafen, das war richtig, aber neben ihnen?
Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser wa­
ren unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häu­
ser hatten weder Fenster noch Türen. Und der Himmel war
weit entfernt und fremdartig wie über einem tiefen Brunnen.
Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er sah, die
Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende ge­
hen.
»Es hat keinen Zweck«, sagte da eine Stimme. Er blickte sich
um. Der alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen
Pelerine, mit dem schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten
steifen Hut. »Guten Tag, lieber Professor«, rief Fabian. »Ich
dachte, Sie wären im Irrenhaus.«
»Hier ist es ja«, sagte der Alte und schlug mit der Schirm­
krücke gegen eines der Gebäude. Es hallte blechern, dann ging
ein Tor auf, wo keines war.
»Meine neueste Erfindung«, sagte der Alte. »Gestatten Sie,
lieber Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause.« Fabi­
an folgte. In der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt
sich den Bauch und stöhnte: »Ich kriege ein Kind. Die Se­
kretärin hat sich wieder mal nicht vorgesehen.« Dann schlug er
sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten
Schirm tief in den Schlund und spannte den Schirm auf. Breit­
kopfs Gesicht zerplatzte wie ein Ballon.

VIERZEHNTES KAPITEL 1^3


»Verbindlichen Dank«, sagte Fabian.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte der Erfinder. »Haben Sie
meine Maschine schon gesehen?« Er nahm Fabian an der Hand
und führte ihn durch einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht
brannte, ins Freie.
Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor
ihnen auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schaufeln
bewaffnet, und schippten Hunderttausende von kleinen Kin­
dern in einen riesigen Kessel, in dem ein rotes Feuer brannte.
»Kommen Sie an das andere Ende«, sagte der Erfinder. Sie
fuhren auf laufenden Bändern durch den grauen Hof. »Hier«,
sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbirnen
senkten sich nieder, kippten automatisch um und schütteten
ihren Inhalt auf einen horizontalen Spiegel. Der Inhalt war le­
bendig. Männer und Frauen fielen auf das glitzernde Glas,
stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr handgreif­
liches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die
Tiefe hinunter, als kennten sie sich. Einer zog eine Pistole aus
der Tasche und schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, sei­
nem Bild ins Herz gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe
und verzog das Gesicht. Ein anderer drehte sich im Kreise. Of­
fensichtlich wollte er seinem Abbild die Kehrseite zuwenden,
der Versuch mißlang.
»Hunderttausend am Tage«, erläuterte der Erfinder. »Dabei
habe ich die Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewoche ein­
geführt.«
»Lauter Verrückte?« fragte Fabian.
»Das ist eine Frage der Terminologie«, antwortete der Pro­
fessor. »Einen Moment, die Kuppelung versagt.« Er trat an die
Maschine heran und stocherte mit seinem Schirm in einer Öff­
nung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann verschwand die
Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war fort.
Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den
grauen Hof. »Es ist ein Unglück passiert!« schrie er einem der
halbnackten Arbeiter zu. Da purzelte ein Kind aus dem Kes-

124 FABIAN
sei. Es trug eine Hornbrille und hielt einen schlechtgerollten
Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück.
Fabian fuhr von neuem den Hof entlang und wartete unter den
schwankenden Bessemerbirnen, daß sein alter Freund, erneut
verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selber, ein zweiter
Fabian, aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der ge­
waltigen Kippkästen, stellte sich zu den anderen Figuren und
starrte, gleich ihnen, auf die Spiegelbilder. An seinen Sohlen,
mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild, ein dritter Fabian,
im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins Ge­
sicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Ma­
schine und sagte: »Mechanische Seelenwanderung, Patent Koll-
repp.« Dann schritt er auf den wirklichen Fabian zu, der im
Hofe stand, ging mitten in ihn hinein und war nicht mehr da.
»Wie angegossen«, gestand Fabian, nahm dem Maschi­
nenmenschen, der ihn unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog
die Pelerine zurecht und war wieder das einzige Exemplar sei­
ner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Menschen
versanken plötzlich darin wie in einem durchsichtigen Sumpf.
Sie rissen die Münder auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber
es war nichts zu hören. Sie sanken völlig unter die Spiegel­
fläche. Ihre Abbilder flohen,wie Fische, mit dem Kopf voran,
wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen
die wirklichen Menschen unten, und es war, als seien sie in
Bernstein gefangen. Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spie­
gelbild mehr, was er sah. Uber den untergegangenen Wesen lag
eine bloße Glasplatte, und die Leute lebten weiter. Fabian knie­
te nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib,
saßen an Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbrochene
Strümpfe und im Genick geflochtene Hütchen. Armbänder
und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten Weiber hatte sich ei­
nen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen Ti­
schen saßen dicke Männer, halbnackt, behaart wie Gorillas, mit

VIERZEHNTES KAPITEL 125


Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit großen Zigar­
ren zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Frauen
schauten gierig auf einen Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen,
und junge geschminkte Burschen in enganliegenden Trikots
stolzierten wie gezierte Mannequins über einen erhöhten Lauf­
steg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund
war, angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp,
die Bildhauerin, die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen
war dabei.
Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an
die Augen, sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische,
drängten dem Laufsteg zu, schlugen einander, um vorwärts
zu kommen, und wieherten wie geile Pferde. Die dicken mit
Schmuck beladenen Weiber rissen junge Burschen vom Steg,
warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreiz­
ten die fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen
und Fingern und aus den Ohrlappen und hielten sie bettelnd
den verhurt lächelnden Gestalten entgegen. Die alten Männer
griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen, auch nach
Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen sie
faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene
farbige Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visa­
gen, grinsende Pomademünder, braune schlanke Arme, im
Krampf zuckende Füße füllten den Boden aus. Es war, als läge
ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
»Deine Cornelia ist auch dabei«, sagte Frau Irene Moll. Sie
saß neben ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontüte
kleine junge Männer. Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das
sah aus, als ob sie in Papier gewickelte Napolitains schälte. Fa­
bian suchte Cornelia. Sie stand, während sich alle anderen wild
verknäuelt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg und
wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der
einen Hand den Mund aufsperrte und mit der anderen seine
brennende Zigarre, mit der Glut voran, in den Mund stoßen
wollte.
»Sträuben nützt bei dem nichts«, meinte die Moll und kram­

126 FABIAN
te in ihrer Tüte. »Das ist Makart, ein Filmfabrikant, Geld wie
Heu. Seine Frau hat sich vergiftet.« Cornelia wankte und stürz­
te neben Makart in den Tumult.
»Spring ihr doch nach«, sagte die Moll. »Aber du hast Angst,
das Glas zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du
hältst die Welt für eine Schaufensterauslage.«
Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah Fabi­
an den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke
Bein war eine Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und
fuhr wie ein Wellenreiter über das Gezappel der Menschen. Er
schwang seinen Krückstock und schlug die Kulp, die sich an
dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis
das Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geld­
schein ans Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die
Menschen unter ihm sprangen wie Fische in die Luft, schnapp­
ten nach der Banknote, fielen ermattet zurück und schnellten
wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge
durchbohrt. Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte
sich, verzerrten Gesichts, dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die
Bildhauerin auf, umschlang die Freundin mit beiden Armen
und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit aus dem Mund.
Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger,
lang wie ein rotes Gummiband, und sie war zum Reißen ge­
spannt. Wilhelmy rang nach Luft und lachte.
»Wunderbar!« rief Irene Moll. »Das grenzt an Tauziehen.
Wir leben im Zeitalter des Sports.« Sie zerknüllte die leere Tüte
und sagte: »Jetzt freß ich dich.« Sie riß ihm die Pelerine herun­
ter. Ihre Finger griffen wie Scheren ineinander und zerschnit­
ten Fabians Anzug. Er schlug ihr mit der Schirmkrücke auf den
Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los. »Ich liebe dich doch«, flü­
sterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie kleine Seifen­
blasen aus ihren Augenwinkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.

VIERZEHNTES KAPITEL 127


Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige
Treppenstufen führten von dem einen Ende des Saales hinauf
zum anderen Ende. Auf jeder Stufe standen Leute. Sie blickten
interessiert nach oben und griffen einander in die Taschen. Je­
der bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den Taschen des
Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hinter­
mann beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles
in Bewegung. Man stahl emsig, und man ließ sich bestehlen.
Auf der untersten Stufe stand ein kleines zehnjähriges Mäd­
chen und zog dem Vordermann einen bunten Aschenbecher
aus dem Mantel. Plötzlich war Labude auf der obersten Stu­
fe. Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief:
»Freunde! Mitbürger! Die Anständigkeit muß siegen!«
»Aber natürlich!« brüllten die anderen im Chor und kram­
ten einander in den Taschen.
»Wer für mich ist, hebe die Hand!« schrie Labude. Die an­
deren hoben die Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen
stahl er weiter. Nur das kleine Mädchen auf der untersten Stu­
fe hob beide Hände.
»Ich danke euch«, sagte Labude, und seine Stimme klang
gerührt. »Das Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt
diese Stunde nicht!«
»Du bist ein Narr!« rief Leda, stand neben Labude und zog
einen großen hübschen Mann hinter sich her.
»Meine besten Freunde sind meine größten Feinde«, sagte
Labude traurig. »Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen,
auch wenn ich untergehe.«
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenster
und Dächer. Und überall standen finstere Gestalten mit Re­
volvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie
stahlen weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben,
die Hände in fremden Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
»Um die ist es nicht schade«, sagte Fabian zu dem Freund.
»Nun komm!« Aber Labude blieb in dem Kugelregen stehen.
»Um mich auch nicht mehr«, flüsterte er, drehte sich nach den
Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.

128 FABIAN
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in
die Tiefe. Aus den Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Gie­
belkante rangen zwei athletische Männer. Sie würgten und bis­
sen einander, bis der eine taumelte und beide abstürzten. Man
hörte den Aufschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge schwirrten
unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser.
Die Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus
den Fenstern.
»Warum machen das die Leute?« Das kleine Mädchen aus
dem Kaufhaus faßte Fabians Hand.
»Sie wollen neue Häuser bauen«, erwiderte er. Dann nahm
er das Kind auf den Arm und stieg, über die Toten kletternd,
die Stufen hinunter. Auf halbem Weg begegnete er einem klei­
nen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen Block und
rechnete mit den Lippen. »Was machen Sie da« fragte Fabian.
»Ich verkaufe die Restbestände«, war die Antwort. »Pro
Leiche dreißig Pfennige, für wenig getragene Charaktere fünf
Pfennig extra. Sind Sie verhandlungsberechtigt?«
»Gehen Sie zum Teufel«, schrie Fabian.
»Später«, sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am
Fuß der Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin. »Nun
geh nach Hause«, meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. »Ich verdiene keinen Pfen­
nig«, murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam.
Fabian beeilte sich. Oben brachen die Häuser zusammen.
Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen. Glühende Balken
neigten sich und sanken um, als tauchten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelte Schüsse. Menschen mit Gasmas­
ken krochen durch die Trümmer. So oft sich zwei begegneten,
hoben sie Gewehre, zielten und schossen. Fabian sah sich um.
Wo war Labude? »Labude!« schrie er. »Labude!«
»Fabian«, rief eine Stimme. »Fabian!«
»Fabian!« rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. »War­
um rufst du Labude?« Sie strich ihm über die Stirn.
»Ich habe geträumt«, sagte er. »Labude ist in Frankfurt.«
»Soll ich Licht machen?« fragte sie.

VIERZEHNTES KAPITEL I29


»Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußt morgen
hübsch aussehen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte sie.
Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom
andern, aber sie schwiegen.

13° FABIAN
Fünfzehntes Kapitel

Ein junger Mann, wie er sein soll


Vom Sinn der Bahnhöfe
Cornelia schreibt einen Brief

Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am


offenen Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt
eifrig aus. Sie hatte Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fen­
ster und ließ sich von der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als
sei die Welt in bester Ordnung, nichts brachte sie aus der Fas­
sung.
Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen.
Wenn er es getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt
hätte: »Komm wieder herauf, ich will nicht, daß du arbeitest,
ich will nicht, daß du zu Makart gehst!«, hätte sie geantwortet:
»Was fällt dir ein? Gib mir Geld oder halte mich nicht auf.« Er
konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zun­
ge heraus.
»Was machen Sie denn da?«« fragte Frau Hohlfeld. Sie war
unbemerkt eingetreten.
Fabian sagte abweisend: »Ich fange Fliegen. Sie sind heuer
groß und knusprig.«
»Gehen Sie nicht ins Geschäft?«
»Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten an
erscheine ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvor­
hergesehene Mehrausgabe.« Er schloß das Fenster und setzte
sich aufs Sofa.
»Stellungslos?« fragte sie.
Er nickte und holte Geld aus der Tasche. »Hier sind die
achtzig Mark für den nächsten Monat.«
Sie nahm rasch das Geld und meinte: »Das war nicht so ei­
lig, Herr Fabian.«
»Doch.« Er legte die letzten Scheine und Münzen über­
sichtlich auf den Tisch und zählte, was ihm blieb. »Wenn ich
mein Kapital auf die Bank bringe, krieg ich drei Mark Zinsen
im Jahr«, sagte er. »Das lohnt sich kaum.«

FÜNFZEHNTES KAPFTEL Ui
Die Wirtin wurde gesprächig. »In der Zeitung schlug ge­
stern ein Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmee­
res um zweihundert Meter senken, dann kämen große Lände­
reien ans Licht, wie vor der Eiszeit, und man könne sie besie­
deln und Millionen von Menschen darauf ernähren. Außerdem
sei, mit Hilfe kurzer Dämme, eine durchgehende Eisenbahn­
verbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!« Frau Hohlfeld
war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs eingenom­
men und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub
tanzte. »Na also!« rief er. »Auf ans Mittelmeer! Laßt uns sei­
nen Spiegel senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlfeld?«
»Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort.
Eine herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris
liegt übrigens nicht am Mittelmeer.« Sie gab dem Gespräch
eine Wendung: »Da war das Fräulein Doktor wohl sehr trau­
rig?«
»Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können.«
»Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie
ähnelt der Königin von Rumänien, als sie noch jung war.«
»Erraten.« Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur
Tür. »Es soll eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht
weitersagen.«

Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und war­


tete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein Be­
kannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu
ihm gesagt hatte: »Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie
sich.« Fabian blätterte gedankenlos in einer der Zeitschriften,
die den Tisch des Warteraums zierten, und entsann sich des
Gesprächs. Zacharias hatte damals der Behauptung von H. G.
Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt
auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert zu­
gestimmt; er hatte auch Wells’ Forderung verfochten, daß es an
der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des
Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern

B2 FABIAN
sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen.
Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des Menschenge­
schlechts sei eine fragwürdige These; die Eignung des Propa­
gandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers
zum Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft
könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen bei­
bringen, und die sei schon vernünftig. Zacharias und er hatten
sich förmlich gestritten, bis sie fanden, der Meinungsstreit tra­
ge allzu akademischen Charakter, denn beide möglichen Re­
sultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen Auf­
klärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe
keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge.
Papphülsen fielen klappernd aus Metallröhren. Das Telefon
des Aufsichtsbeamten klingelte fortwährend. Besucher kamen
und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer ins andere.
Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
»Herr Zacharias läßt bitten.«
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian tem­
peramentvoll die Hand. Es war die hervorstechendste Eigen­
schaft dieses jungen Mannes, alles, was er tat, außerordentlich
lebhaft zu besorgen. Er kam aus der Begeisterung nicht heraus.
Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er debattierte, ob er
Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge mach­
te, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wur­
de von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein
Gespräch über das Binden von Krawatten zum aufregendsten
Thema der Gegenwart. Und die Vorgesetzten merkten, wenn
sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie ungeheuer
wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrscheinlich. Er diente dem
Betrieb als Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als
Stimulanz. Er wurde unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit
achtundzwanzig Jahren, ein Monatsgehalt von zweitausend­
fünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu erzählen gab.

FÜNFZEHNTES KAPITEL 133


»Frei ist nichts«, sagte Zacharias, »und ich wäre Ihnen so
gern gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glän­
zend miteinander auskämen. Was machen wir bloß?« Er preß­
te die Hände an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der
Erleuchtung. »Was halten Sie von Folgendem: wenn ich Sie bei
mir anstelle, als privaten Mitarbeiter, den ich aus eigener Ta­
sche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut gebrauchen.
Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen
von mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß den an­
deren noch weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich
mein Gehirn einen Wolf. Ich habe seit kurzem ein kleines net­
tes Auto, Steyr, Sechszylinder, Spezialkarosserie. Wir könnten
jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren und Eier legen.
Ich chauffiere gern, es beruhigt die Nerven. Dreihundert Mark
würde ich für Sie locker machen. Und sobald hier ein Posten
frei wird, hätten Sie ihn. Na?«
Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort: »Nein,
es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen
weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie ste­
hen alle mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kür­
bis zu hauen. Was machen wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?«
Fabian sagte: »Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz
stellen, mit einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa
stünde: »Dieser junge Mann macht augenblicklich nichts, aber
probieren Sie’s, und Sie werden sehen, er macht alles.* Ich
könnte den Text auch auf einen großen Luftballon malen.«
»Wenn Sie den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!« rief
Zacharias. »Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glau­
ben. Sie nehmen nur die wirklich ernsten Dinge ernst, und viel­
leicht nicht einmal die. Es ist ein Jammer. Mit ihrer Begabung
wäre ich heute leitender Direktor.« Zacharias wandte bei Leu­
ten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegenheit zu, er bestand geradezu auf ihr.
»Was nützt es mir, daß ich begabt bin?« fragte Fabian be­
trübt. Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwar­
tet. Wenn er selber offen war, genügte das. Statt dessen kam ei­
ner des Weges, bat um Rat und wurde obendrein vorlaut.

134 IA B I A N
»Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung Übelnehmen«,
sagte Fabian. »Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine
Talente nicht eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern.
Und so schlecht, daß ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir
erst in vierzehn Tagen.« Zacharias stand auf und begleitete den
Besucher betont bis zur Treppe. »Rufen Sie mich morgen mal
an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine Konferenz, sagen
wir nach Zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein. Servus.«

Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frank­


furt. Er hätte ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt.
Sorgen hatte Labude selber. Die bekannte Stimme wollte er
hören, weiter nichts. Zwischen Freunden konnten Gespräche
übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort. Der
ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irren­
haus. Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Film­
leuten zu gefallen. Fabian war allein. Warum konnte man nicht,
bis auf Widerruf, vor sich selber davonlaufen? Obwohl er ziel­
los durch die City wanderte, stand er wenig später vor dem
Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich über
sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes Hut­
geschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie be­
reits Hüte und Jumper?
Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann,
der im Kiosk saß, sah gemütlich aus. »Könnten Sie jemanden
brauchen, der Ihnen hilft?« fragte Fabian.
»Nächstens lerne ich Strümpfe stricken«, sagte der Mann,
»vor einem Jahr hatte ich den doppelten Umsatz, und auch der
war nicht üppig. Die Leute lesen die Zeitungen neuerdings nur
noch beim Friseur und im Cafe. Bäcker hätte man werden sol­
len. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht um­
sonst.«
»Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats we­
gen ins Haus zu liefern, genau wie das Leitungswasser«, er­
zählte Fabian. »Passen Sie auf, eines Tages schützt nicht mal
das Brotbacken vorm Verhungern.«
»Wollen Sie eine Stulle haben?« fragte der Mann im Kiosk.

FÜNFZEHNTES KAPITEL 135


»Eine Woche reicht’s schon noch«, sagte Fabian, bedankte
sich und ging zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahr­
plan. Sollte er, vom letzten Geld, ein Billett kaufen und zur
Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte Zacharias morgen
einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblöcke vor sich sah, dieses hoff­
nungslose, unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig.
Er lehnte sich neben ein paar Gepäckträgern an die Wand und
schloß die Augen. Doch nun quälte ihn der Lärm. Ihm war, als
führen die Straßenbahnen und Autobusse mitten durch seinen
Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine hal­
be Stunde später war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahnhal­
testelle, fuhr nach Hause, warf sich aufs Sofa und schlief sofort
ein.
Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam
Cornelia? Nein, jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging
ins andere Zimmer hinüber und erschrak.
Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fa­
bian machte Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch,
von der Vase beschwert, in der Blumen aufs Wegwerfen war­
teten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief und ging in sein
Zimmer zurück. »Lieber Fabian«, schrieb Cornelia, »ist es
nicht besser, ich gehe zu früh als zu spät? Eben stand ich neben
dir am Sofa. Du schliefst, und Du schläfst auch jetzt, während
ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell Dir vor, ich bliebe!
Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich. Dich
bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke,
daß Not so wichtig werden kann. Solange Du allein warst,
konnte Dir nichts geschehen, was auch geschah. Es wird wie­
der werden, wie es war. Bist Du sehr traurig? Sie wollen mich
im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe ich den
Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht
zu umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen
Zentner Briketts. Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie
ein zu gut angezogener Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als
hätte ich mich an die Anatomie verkauft. Wenn ich noch ein­

136 FABIAN
mal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich lasse Dich
schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir ein­
bilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir be­
schäftigen, es muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck her­
aus, wenn man sich dreckig macht. Und wir wollen doch her­
aus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich gehe jetzt von
Dir fort, um mit Dir zusammenzubleiben. Wirst Du mich lieb­
behalten? Wirst Du mich noch anschauen wollen und umar­
men können trotz dem anderen? Morgen nachmittag werde
ich, von vier Uhr ab, im Cafe Schottenhaml auf Dich warten.
Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst? Cornelia.«
Fabian saß ganz still. Es wurde immer finsterer. Das Herz
tat weh. Er hielt die Knäufe des Sessels umklammert, als weh­
re er sich gegen Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm
sich zusammen. Der Brief lag unten auf dem Teppich und
glänzte im Dunkel.
»Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!« sagte Fabian.

FÜNFZEHNTES KAPITEL 137


Sechzehntes Kapitel
Fabian fährt auf Abenteuer
Schüsse am Wedding
Onkel Pelles Nordpark

Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den


Norden hinauf. Er stand am Fenster des Wagens und blickte
unverwandt in den schwarzen Schacht, in dem manchmal klei­
ne Lampen vorbeizogen. Er starrte auf die belebten Bahnstei­
ge der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte, wenn sich der Zug
aus dem Schacht emporhob, auf die grauen Häuserzeilen, in
düstere Querstraßen und in erleuchtete Zimmer hinein, wo
fremde Menschen rund um den Tisch saßen und auf ihr Schick­
sal warteten. Er starrte auf das glitzernde Gewirr der Eisen­
bahngleise hinunter, über denen er dahinfuhr; auf die Fern­
bahnhöfe, in denen die roten Schlafwagenzüge ächzend an die
weite Reise dachten; auf die stumme Spree, auf die von grellen
Leuchtschriften belebten Theatergiebel und auf den sternlosen
violetten Himmel über der Stadt.
Fabian sah das alles, als führen nur seine Augen und Ohren
durch Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein Blick war
gespannt, aber das Herz war besinnungslos. Er hatte lange in
seinem möblierten Zimmer gesessen. Irgendwo in dieser un­
absehbaren Stadt lag jetzt Cornelia mit einem fünfzigjährigen
Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie? Er
hätte die Wände von allen Häusern reißen mögen, bis er die
zwei fand. Wo war Cornelia? Warum verdammte sie ihn zur
Untätigkeit? Warum tat sie das in einem der wenigen Augen­
blicke, wo es ihn zu handeln trieb? Sie kannte ihn nicht. Sie
hatte lieber falsch gehandelt, als ihm zu sagen: >Handle du rich­
tig!« Sie glaubte, er könne eher tausend Schläge erdulden, als
selber einmal den Arm erheben. Sie wußte nicht, daß er sich da­
nach sehnte, Dienst zu tun und Verantwortung zu tragen. Wo
aber waren die Menschen, denen er gern gedient hätte? Wo war
Cornelia? Unter einem dicken alten Mann lag sie und ließ sich
zur Hure machen, damit der liebe Fabian Lust und Zeit zum

138 FABIAN
Nichtstun hatte. Sie schenkte ihm großmütig jene Freiheit wie­
der, von der sie ihn befreit hatte. Der Zufall hatte ihm einen
Menschen in die Arme geführt, für den er endlich handeln
durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, ver­
fluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun
war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit
Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und
weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.
Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch
hoffte, war das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß
gefüllt. Er hatte sich darüber geneigt und endlich trinken wol­
len. >Nein<, hatte da das Schicksal gesagt, »nein, du hieltest ja
den Becher nicht gern<, und das Gefäß war ihm aus den Hän­
den geschlagen worden, und das Wasser war über seine Hände
zur Erde geflossen.
Hurra! Nun war er frei. Er lachte so laut und böse, daß die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er
stieg aus. Es war ja gleichgültig, wo er ausstieg, er war frei,
Cornelia erschlief sich, weiß der Teufel wo, eine Karriere oder
eine Verzweiflung oder beides. Auf der Chausseestraße, am
Trakt der Polizeikasernen, sah er in den geöffneten Toren grü­
ne Autos, Scheinwerfer blitzten. Polizisten kletterten auf die
Wagen und standen, entschlossen, in stummer Kolonne. Eini­
ge Autos ratterten in nördlicher Richtung davon. Fabian folg­
te ihnen. Die Straße war voller Menschen. Zurufe flogen den
Wagen nach. Zurufe, als wären es schon Steine. Die Mann­
schaften blickten geradeaus.
Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße
ab, auf der Arbeitermassen näherzogen. Berittene Polizei war­
tete hinter der Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu wer­
den. Uniformierte Proletarier warteten, den Sturmriemen un-
term Kinn, auf proletarische Zivilisten. Wer trieb sie gegenein­
ander? Die Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand
von Mann zu Mann. Der Gesang wurde von wütendem Ge­
brüll abgelöst. Man spürte, ohne die Vorgänge sehen zu kön­

SECHZEHNTES KAPITEL 139


nen, am Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter und die Po­
lizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden. Eine Minute
später bestätigten Aufschreie die Vermutung. Man war zusam­
mengetroffen, die Polizei schlug zu. Jetzt setzten sich die Pfer­
de schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hin­
ein, die Hufe klapperten übers Pflaster. Von vorn ertönte ein
Schuß. Scheiben zersprangen. Die Pferde galoppierten. Die
Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen. Eine
zweite Postenkette sperrte den Zugang zur Reinickendorfer
Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine flo­
gen. Ein Wachtmeister erhielt einen Messerstich. Die Polizei
hob die Gummiknüppel und ging zum Laufschritt über. Auf
drei Lastautos kam Verstärkung, die Mannschaften sprangen
von den langsam fahrenden Wagen herunter. Die Arbeiter er­
griffen die Flucht, an den äußersten Rändern des Platzes und
in den Zugangsstraßen machten sie wieder halt. Fabian dräng­
te sich durch die lebendige Mauer und ging seiner Wege. Der
Lärm entfernte sich. Drei Straßen weiter schien es schon, als
herrsche überall Ruhe und Ordnung.
Ein paar Frauen standen in einem Haustor. »He, Sie!« sagte
die eine, »stimmt das, am Wedding gibt’s Keile?«
»Sie nehmen einander Maß«, antwortete er und ging vorbei.
»Ich laß mich fressen, Franz ist wieder mitten drin«, rief die
Frau. »Na, komm du nur nach Hause!«
Mitten in der Straßenfront, unvermutet zwischen alten, so­
liden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pelles
Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die Gespräche
der Mädchen, die Arm in Arm, in langer Kette vor dem Ein­
gang bummelten. Verwegen tuende Burschen mit schiefgezo­
genen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten. Die
Mädchen kicherten geschmeichelt und gaben unmißverständ­
lich Antwort.
Fabian trat durch das Tor. Das Gelände glich einem Trok-
kenplatz. Azetylenflammen zuckten und ließen die Wege und
Buden halbfinster. Der Boden war klebrig und von Grasstop­
peln bewachsen. Das Karussell war, wegen mangelnder Nach­
frage, mit Zeltbahnen verhangen. Männer in derben Joppen,

140 IA BIA N
alte Frauen mit Kopftüchern, Kinder, die längst hätten im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
Ein Glücksrad rasselte. Die Menschen standen dicht zusam­
mengedrängt, die Augen hingen an der rotierenden Scheibe.
Sie lief langsamer, überwand noch ein paar Nummern, hielt
still.
»25!« schrie der Ausrufer.
»Hier, hier!« Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob
ihr Los. Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen?
Ein Pfund Würfelzucker.
Wieder schnurrte das Rad. »17!«
»Hallo, das bin ich!« Ein junger Mann schwenkte sein Los.
Er bekam ein Viertelpfund Bohnenkaffee. »Was für Muttern«,
sagte er zufrieden und zog ab.
»Und jetzt folgt die große Prämie! Der Gewinner darf sich
aussuchen!« Das Rad schwankte, tickte, stand still, nein, es
rückte noch eine Nummer weiter.
» 9!«
»Mensch, hier!« Ein Fabrikmädchen klatschte in die Hände.
Sie las die Lotteriebestimmungen. »Der Hauptgewinn besteht
aus fünf Pfund prima Weizenmehl oder einem Pfund Butter
oder dreiviertel Pfund Bohnenkaffee oder eindreiviertel Pfund
magerem Speck.« Sie verlangte ein Pfund Butter. »Allerhand
für einen Groschen«, rief sie. »Das kann man mitnehmen.«
»Es folgt die nächste Ziehung!« brüllte der Ausrufer. »Wer
hat noch nicht, wer will noch mal? Sie da, Großmutter! Hier
ist das Monte Carlo der armen Luder! Keine Mark, keine hal­
be Mark, sondern einen Groschen!«
Gegenüber war ein ähnliches Unternehmen. Aber die Tom­
bola bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete dop­
pelt soviel.
»Der Hauptgewinn, meine Herrschaften, der Hauptgewinn
besteht diesmal aus einer halben Hamburger Gans!« kreisch­
te eine Schlächtersgattin. »Zwanzig Pfennige, nur Mut, mein
Volk!« Ihr Gehilfe schnitt mit einem Riesenmesser dünne
Scheiben von einer Schlackwurst und verteilte an die Loskäu­
fer Kostproben. Den anderen lief das Wasser im Munde zu­

SECHZEHNTES KAPITEL 141


sammen. Sie gruben zwei Groschen aus dem Portemonnaie und
griffen zu.
»Wie denkst du über Gänsebraten?« fragte einer ohne Schlips
und Kragen eine Frau.
»Schade ums Geld«, sagte sie. »Wir haben kein Glück, Wil­
lem.«
»Laß man«, meinte er, »es ist manchmal komisch.« Er nahm
ein Los, steckte der Frau die Scheibe Wurst, die er zugekriegt
hatte, in den Mund, und blickte erwartungsvoll auf das Rad.
»Die Ziehung nimmt hiermit ihren Anfang«, kreischte die
Schlächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging weiter.
»Hippodrom und Tanz« stand über einem großen Zelt. 20
Pfennig Entree. Er ging hinein. Das Lokal bestand aus zwei
Kreisen. Der eine war überhöht, wie ein Pfahlbau stand er im
Zelt, dort oben wurde getanzt. In der Mitte saß eine Blechka­
pelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit ge­
habt. Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen Männer
griffen zu. Man machte keine Umstände. Der andere Kreis war
eine Sandmanege, in der, zu den Klängen der Kapelle, drei aus­
rangierte Gäule vor sich hintrabten. Sie wurden von einem zy­
lindergeschmückten Stallmeister, der die Peitsche schwang
und wiederholt »Terrab!« schrie, vom Einschlafen abgehalten.
Auf einem kleinen einäugigen Schimmel saß eine Frau im Her­
rensitz. Der Rock war hoch über die Knie gerutscht. Sie trab­
te deutsch und lachte, so oft sie auf den Sattel fiel.
Fabian setzte sich neben die Manege und trank ein Bier. Die
Reiterin zog jedesmal, wenn sie an ihm vorbeikam, den Rock
herunter. Die Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte
immer wieder hoch. Als sie zum vierten Male Fabians Tisch
passierte, lächelte sie ein bißchen und ließ den Rock oben. In
der fünften Runde blieb der Schimmel vor dem Tisch stehen
und glotzte mit dem blinden Auge ins Bierglas. »Da gibt’s kei­
nen Zucker«, sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der
Stallmeister knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel
schob weiter.
Kaum war die Frau vom Pferd gestiegen, setzte sie sich be­
tont unabsichtlich an den Nebentisch, schräg vor Fabian, so

142 l-A B1 AN
daß er ihre körperlichen Vorzüge nicht übersehen konnte. Sein
Blick blieb auf der Figur haften, und da erwachte sein Schmerz
aus der Narkose. Wo war Cornelia? War ihr die Umarmung, in
der sie jetzt lag, zuwider? Empfand sie, während er hier saß, in
einem fremden Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht,
ihre Augen wurden groß, der Mund krümmte und öffnete sich
leicht, die Zungenspitze fuhr feucht an der Oberlippe ent­
lang.
»Kommen Sie mit?« fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie
gingen, ohne viel zu reden, ins »Theater«. Das war eine elende
Bretterbaracke. »Auftreten der renommierten Rheingoldsän­
ger. Rauchen erlaubt. Zu den Abendvorstellungen haben Kin­
der keinen Anspruch auf Sitzplätze.« Die Bude war halbvoll.
Die Zuschauer hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen und
verlogenen Romantik, die ihnen für dreißig Pfennige vorge­
setzt wurde, bis zu Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit
dem verkitschten Kulissenzauber dort oben als mit ihrer eige­
nen Not.
Fabian legte den Arm um die fremde Frau. Sie schmiegte
sich an ihn und atmete schwer, damit er es höre. Das Stück war
tieftraurig. Ein flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaa­
rig und über fünfzig Jahre alt, spielte die Rolle persönlich -
kam jeden Morgen betrunken nach Haus. Das lag an dem ver­
dammten Sekt. Er Sang Studentenlieder, bestellte einen sauren
Hering, wurde von der Portierfrau abgekanzelt und schenkte
einer alten gichtkranken Hofsängerin, daß sie das Singen lasse,
seinen letzten Taler.
Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte
Hofsängerin war, wer hätte sie sonst sein sollen?, niemand an­
ders als die Mutter des fünfzigjährigen Studenten! Zwölf Jah­
re lang hatte er sie nicht gesehen, erhielt allmonatlich Geld von
ihr und glaubte, sie sei noch immer, wie einst, Hofopernsänge­
rin. Natürlich erkannte er sie nicht. Aber Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte sofort: der oder keiner. Jedoch, die Zuspit­
zung des Dramas verzögerte sich. Eine Liebesaffäre brach her­

SECHZEHNTES KAPITEL 143


ein. Der Student liebte und wurde geliebt, letzteres geschah
durch Fräulein Martin, jene bildhübsche Näherin, die gegen­
über wohnte, die Nähmaschine trat und wie eine Lerche sang.
Ellen Martin, die singende Lerche, wog gut zwei Zentner. Sie
hüpfte, daß sich die Bühne bog, aus der Kulisse und sang mit
Direktor Blasemann, dem Studenten, Couplets. Der Anfang
des erfolgreichsten Duetts lautete:

»Schatzi du, ach Schatzi mein,


sollst mein ein und alles sein!«

Das junge Paar, das zusammen an die hundert Lenze zählen


mochte, schob sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene dar­
stellen sollte, hin und her; dann versprach er ihr die Ehe, sie
aber wurde traurig, weil er alte Sängerinnen vom Hofe zu trei­
ben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet.
Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine
Hand liegen hatte, machte eine leichte Drehung, sie gab ihm
die Brust. »Ach, ist das schön«, sagte sie. Vermutlich meinte sie
das Stück. Im Zuschauerraum herrschte wieder feierliche Stil­
le. Die alte, gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn
Medizin studieren und einem feudalen Korps angehören ließ,
wackelte aus der Kulisse, erreichte den Hof mit Müh und Not,
hob den Zeigefinger, der Pianist gehorchte, und ein rührseliges
Mutterlied war im Entstehen begriffen.
»Gehen wir«, sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der
fremden Frau los.
»Schon«, fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm.

»Hier wohne ich«, erklärte sie vor einem großen Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: »Ich komme mit hin­
auf.«
Sie sträubte sich, es klang nicht überzeugend. Er drückte sie
in den Hausflur. »Was werden bloß meine Wirtsleute sagen?
Nein, sind Sie stürmisch. Aber recht leise, ja?« An der Tür
stand: Hetzer.
»Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?« fragte er. »Pst,

144 FABIAN
man kann uns hören«, flüsterte sie. »Die Wirtsleute haben kei­
nen Platz zum Abstellen.«
Er zog sich aus. »Mach nicht so viel Umstände«, sagte er.
Sie schien Koketterie für unerläßlich zu halten und zierte
sich wie eine späte Jungfrau. Schließlich lagen sie nebeneinan­
der. Sie löschte das Licht, und erst jetzt entkleidete sie sich völ­
lig. »Einen Moment«, flüsterte sie, »nicht böse sein.« Sie knip­
ste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über sein Gesicht
und untersuchte ihn im Schein der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. »Entschuldigen Sie, man kann heutzutage nicht
vorsichtig genug sein«, erklärte sie anschließend. Und nun stand
nichts mehr im Wege.
»Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft«, berich­
tete sie etwas später. »Willst du bis morgen früh bleiben?« frag­
te sie nach einer weiteren halben Stunde. Er nickte. Sie ver­
schwand in der Küche, er hörte, wie sie spülte. Sie brachte war­
mes Seifenwasser, wusch ihn sorgfältig, mit hausfraulichem
Eifer, und stieg wieder ins Bett.
»Stört es deine Wirtsleute nicht, wenn du in der Küche Was­
ser wärmst?« fragte er. »Laß das Licht brennen!«
Sie erzählte belanglose Dinge, fragte, wo er wohne, und
nannte ihn »Schatz«. Er musterte die Zimmereinrichtung. Au­
ßer den Betten war noch ein leidenschaftlich geschwungenes
Plüschsofa anwesend, ferner ein Waschtisch mit Marmorplat­
te, ein scheußlicher Farbendruck, woselbst eine junge mollige
Frau, im Nachthemd auf einem Eisbärenfell hockend, mit ei­
nem rosigen Baby spielte, und ein Schrank mit einem Türspie­
gel, der schlecht funktionierte. >Wo ist Cornelia?« dachte er
und fiel wieder über die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
»Man sollte Angst vor dir haben«, flüsterte sie danach.
»Willst du mich umbringen? Aber es ist wunderbar.« Sie knie­
te sich neben ihn, betrachtete aus geweiteten Augen sein
gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
Als sie todmüde eingeschlafen war, lag er noch immer wach,
allein in einem fremden Zimmer, blickte angespannt ins Dun­
kel und dachte: »Cornelia, was haben wir getan?«

SECHZEHNTES KAPITEL 145


Siebzehntes Kapitel

Kalbsleber, aber ohne Flechsen


Er sagt ihr die Meinung
Ein Reisender verliert die Geduld

»Ich habe gelogen«, sagte die Frau am andern Morgen. »Ich


gehe gar nicht ins Geschäft. Und die Wohnung gehört mir.
Und wir sind ganz allein. Komm in die Küche.«
Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf
die Wange, band die Schürze ab und setzte sich zu ihm an den
Küchentisch. »Schmeckt’s« fragte sie munter, obwohl er nicht
aß. »Blaß siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder.
Greif tüchtig zu, damit du wieder groß und stark wirst.« Sie
legte ihren Kopf an seine Schulter und spitzte wie ein Backfisch
die Lippen.
»Du hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir
den Bauch aufschlitzen?« fragte Fabian. »Und wie kommen
die zwei Betten in dein Schlafzimmer?«
»Ich bin verheiratet«, sagte sie. »Mein Mann reist für eine
Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er im Rheinland. Dann fährt
er nach Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unter­
wegs. Willst du so lange bleiben?«
Er trank Kaffee und gab keine Antwort.
»Ich brauche wen«, erklärte sie heftig, als hätte ihr jemand
widersprochen.
»Nie ist er da, und wenn er da ist, lohnt sich’s auch nicht.
Bleib die zehn Tage bei mir. Mach dir’s bequem. Ich koche gut.
Geld habe ich auch. Was willst du heute mittag essen?« Sie be­
gann zu wirtschaften und blickte ängstlich zu ihm hin.
»Ißt du gern Kalbsleber mit Bratkartoffeln? Warum ant­
wortest du denn gar nicht?«
»Habt ihr Telefon?« fragte er.
»Nein«, sagte sie. »Willst du fort? Bleib doch. Es war so
schön. Es war so schön wie noch nie.« Sie trocknete sich die
Hände und fuhr streichelnd über sein Haar.
»Ich bleibe ja«, meinte er. »Aber ich muß telefonieren.« Sie

146 l;ABI AN
sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch, und ob
er ein halbes Pfund frische Kalbsleber mitbringen wolle, ohne
Flechsen. Dann gab sie ihm Geld, öffnete vorsichtig die Vor­
saaltür, und weil die Treppe leer war, durfte er aus der Woh­
nung.
»Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flechsen«,
sagte er im Fleischerladen. Dann rief er, während man ihn be­
diente, Zacharias an. Das Telefon war fettig.
»Nein«, erklärte Zacharias, »mir ist nichts eingefallen. Aber
ich gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch gelacht, mein
Lieber. Wissen Sie was, kommen Sie morgen wieder mal vor­
bei. Es geht manchmal schnell. Schlimmstenfalls plaudern wir
ein bißchen. Ist es Ihnen recht? Wiedersehen.«
Fabian nahm die Kalbsleber in Empfang. Das Papier blute­
te. Er zahlte und trug das Fleischpaket vorsichtig ins Haus.
Weil die Nachbarin die Türklinke putzte, stieg er bis zur vier­
ten Etage hinauf. Nach einigen Minuten kam er wieder herun­
ter. Die Frau, mit der er die Nacht zusammengewesen war, öff­
nete, ohne daß er zu klingeln brauchte, und zog ihn in die
Wohnung. »Gott sei Dank«, flüsterte sie. »Ich dachte schon,
die Klatschtante würde uns erwischen. Setz dich ins Wohn­
zimmer, Schatz. Willst du Zeitung lesen? Ich räume inzwischen
auf.«
Er legte das Geld, das er zurückbekommen hatte, auf den
Tisch, setzte sich ins Wohnzimmer und las die Zeitung. Er hör­
te die Frau singen. Nach einer Weile brachte sie ihm Zigaretten
und Kirschwasser und blickte ihm über die Schulter. »Um eins
wird gegessen«, sagte sie. »Hoffentlich fühlst du dich recht be-

Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er las
den Polizeibericht über den Krawall in der Reinickendorfer
Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten hatte,
war im Krankenhaus gestorben.Von den Demonstranten wa­
ren drei schwer verletzt worden. Einige andere hatte man ver­
haftet. Die Redaktion schrieb von unverantwortlichen Elemen­
ten, welche die Arbeitslosen immer wieder aufzuwiegeln ver­
suchten, und von der bedeutenden Aufgabe, die der Polizei

SIEBZEHNTES KAPITEL 147


zufalle. Es gehe nicht an, obwohl es von gewissen Kreisen un­
unterbrochen versucht werde, den Etat für die Schutzpolizei
zu senken. Vorkommnisse wie das gestrige führten, hieß es, so
recht vor Augen, wie notwendig es sei, prophylaktisch zu den­
ken und zu handeln.
Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel wa­
ren, wo sich dazu Gelegenheit bot, verschnörkelt. Auf dem
Vertiko standen drei Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein
bunter Glasteller, der schlug Wellen und enthielt Ansichtskar­
ten. Fabian nahm die oberste Karte. Sie zeigte den Kölner Dom,
und er dachte an das Zigarettenplakat. »Liebe Mucki«, las er,
»geht’s dir gut, und reicht das Geld? Ich habe ganz hübsche
Aufträge gemacht, morgen geht’s nach Düsseldorf. Gruß und
Kuß, Kurt.« Er legte die Karte auf den Teller zurück und trank
ein Glas Kirschwasser.
Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller
leer. Sie war froh darüber, als habe ein Hund den Napf sauber­
gefressen. Hinterher gab es Kaffee.
»Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?« fragte
sie.
»Nein«, sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie lief hinter
ihm her. Er stand am Fenster.
»Komm aufs Sofa«, bat sie. »Man könnte dich sehen. Und
sei nicht böse.«
Er setzte sich aufs Sofa. Sie brachte den Kaffee herein, nahm
neben Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf. »Jetzt kommt
der Nachtisch«, sagte sie. »Aber nicht wieder beißen.«
Gegen drei Uhr ging er.
»Wirst du auch bestimmt wiederkommen?« Sie stand vor
ihm, brachte ihren Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah
ihn bittend an. »Schwöre, daß du wiederkommst.«
»Wahrscheinlich komme ich«, sagte er. »Versprechen kann
ich es nicht.«
»Ich warte mit dem Abendbrot«, erklärte sie, dann öffnete
sie die Tür.
»Rasch!« flüsterte sie. »Die Luft ist rein.«
Er sprang die Treppe hinunter. >Die Luft ist reim, dachte er

148 FABIAN
und empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr
zum Großen Stern, durchquerte den Tiergarten bis zum Bran­
denburger Tor, verlor sich wieder in den Anlagen, die Rhodo­
dendren blühten. Er geriet in die Siegesallee. Die Dynastie der
Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen unverwüstlich.
Vor dem Cafe Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ
sich hier noch besprechen? Es war zu spät zum Reden. Er ging
weiter, kam auf die Potsdamer Straße, stand unentschlossen
auf dem Potsdamer Platz, lief die Bellevuestraße hinauf und
befand sich wieder vor dem Cafe. Und jetzt trat er ein. Corne­
lia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
Er setzte sich. Sie nahm seine Hand. »Ich glaubte nicht, daß
du kämst«, sagte sie schüchtern. Er schwieg und sah an ihr vor­
bei. »Es war nicht recht von mir, nicht wahr?« flüsterte sie und
senkte den Kopf. Tränen fielen in ihren Kaffee. Sie schob die
Tasse beiseite und trocknete sich die Augen.
Er blickte vom Tisch fort. Die Wände zwischen den zwei
Treppen, die, barock gedrechselt, in das Obergeschoß führten,
waren mit vielen bunten Papageien und Kolibris bevölkert.
Die Vögel waren aus Glas. Sie hockten auf gläsernen Lianen
und Zweigen und warteten auf den Abend und seine Lampen,
damit der zerbrechliche Urwald zu leuchten beginne.
Cornelia flüsterte: »Warum siehst du mich nicht an?« Dann
preßte sie das Taschentuch vor den Mund. Und ihr Weinen
klang, als wimmere weit entfernt ein verzweifeltes Kind. Das
Lokal war leer. Die Gäste saßen draußen vor dem Haus, unter
großen roten Schirmen. Nur ein Kellner stand in der Nähe. Fa­
bian blickte ihr ins Gesicht. Ihre Augen zitterten vor Aufre­
gung. »Sprich endlich ein Wort«, sagte sie mit rauher Stimme.
Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammenge­
preßt. Er schluckte mühsam.
»Sprich ein Wort«, wiederholte sie ganz leise und faltete auf
dem Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände.
Er saß und schwieg.
»Was soll bloß aus mir werden?« flüsterte sie, als spreche sie
zu sich selber und er sei gar nicht mehr da. »Was soll bloß aus
mir werden?«

SIEBZEHNTES KAPITEL 149


»Eine unglückliche Frau, der es gut geht«, sagte er viel zu
laut. Ȇberrascht dich das? Kamst du nicht deswegen nach
Berlin? Hier wird getauscht. Wer haben will, muß hingeben,
was er hat.«
Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puder­
dose aus der Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Er
hatte sich wieder in der Gewalt. Sein leicht ermüdbares Gefühl
gab Ruhe und wich dem Drang, Ordnung zu schaffen. Er blick­
te auf das, was geschehen war, wie auf ein verwüstetes Zimmer,
und begann, kalt und kleinlich, aufzuräumen. »Du kamst mit
Absichten hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen
stand. Du hast einen einflußreichen Menschen gefunden, der
dich finanziert. Er finanziert dich nicht nur, er gibt dir eine be­
rufliche Chance. Ich bezweifle nicht, daß du Erfolg haben
wirst. Dadurch verdient er das Geld zurück, das er gewisserma­
ßen in dich hineingesteckt hat; dadurch wirst du auch selber
Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr, wir
sind quitt.« Fabian wunderte sich. Er erschrak vor sich selber
und dachte: Es fehlt nur, daß ich die Interpunktion mitspreche.
Cornelia betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal.
Dann klappte sie die Puderdose auf, musterte sich in dem klei­
nen runden Spiegel und fuhr mit der weißen stäubenden Qua­
ste über ihr verweintes, kindlich erstauntes Gesicht. Sie nick­
te, er möge fortfahren.
»Was dann werden wird«, sagte er, »was dann werden wird,
wenn du Makart nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorher sa­
gen, es steht auch nicht zur Debatte. Du wirst arbeiten, und
dann bleibt von einer Frau nicht viel übrig. Der Erfolg wird
sich steigern, der Ehrgeiz wird wachsen, die Absturzgefahr
nimmt zu, je höher man steigt. Wahrscheinlich wird es nicht
der einzige bleiben, dem du dich ausliefern wirst. Es findet sich
immer wieder ein Mann, der einer Frau den Weg versperrt und
mit dem sie sich langlegen muß, wenn sie über ihn hinweg will.
Du wirst dich daran gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja
seit gestern hinter dir.«
»Ich weine schon, und er schlägt mich noch«, dachte sie ver­
wundert.

150 IABIAN
»Aber die Zukunft ist nicht mein Thema«, sagte er und
machte eine abschließende Handbewegung, als erdroßle er den
Gedanken. »Zu besprechen bleibt die Vergangenheit. Du frag­
test gestern nicht, als du gingst. Warum interessiert dich nun
meine Antwort? Du wußtest, daß du mir lästig warst. Du wuß­
test, daß ich dich los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf
brannte, eine Geliebte zu haben, die in anderen Betten das
Geld verdient, das ich nicht besitze. Wenn du recht hattest, war
ich ein Halunke. Wenn ich kein Halunke war, war alles, was du
tatest, falsch.«
»Es war alles falsch«, sagte sie und stand auf. »Leb wohl, Fa­
bian.«
Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränkte sie,
weil er ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der
Tiergartenstraße holte er sie ein. Sie gingen schweigend und ta­
ten sich und einander leid. Er dachte noch: »Wenn sie jetzt fragt,
soll ich zu dir zurückkommen, was werde ich antworten? Ich
habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche.«
»Es war so schrecklich gestern«, sagte sie plötzlich. »Er war
so widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich
nicht mehr magst? Nun brauchten wir keine Sorgen zu haben,
und sie sind größer als zuvor. Was fange ich an, wenn ich weiß,
du willst mich nicht mehr sehen?«
Er faßte ihren Arm. »Vor allem, nimm dich zusammen. Das
Rezept ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt,
gib acht, daß es wenigstens nicht umsonst war. Und entschul­
dige, daß ich dich vorhin so gekränkt habe.«
»Ja, ja.« Sie war noch traurig und schon wieder froh. »Und
darf ich morgen nachmittag zu dir kommen?«
»Es ist gut«, sagte er.
Da umarmte sie ihn mitten auf der Straße, küßte ihn, flü­
sterte: »Ich danke dir«, und rannte aufschluchzend davon.
Er blieb stehen. Ein Spaziergänger rief: »Sie können la­
chen!« Fabian wischte mit der Hand über den Mund und ekel­
te sich. Was hatten Cornelias Lippen inzwischen berührt? Half
es ihm, daß sie sich die Zähne geputzt hatte? War seinem Ab­
scheu mit Hygiene beizukommen?

SIEBZEHNTES KAPITEL Ui
Er überschritt die Straße und trat in den Park. Moral war die
beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln ge­
nügte nicht. Und erst jetzt fiel ihm ein, wo er in der vergange­
nen Nacht gewesen war.

Er wollte nicht in die Müllerstraße zurück. Aber der bloße Ge­


danke an sein eigenes Zimmer, an die Neugier der Witwe Hohl­
feld, an Cornelias leere Stube, an die ganze einsame Nacht, die
ihn erwartete, während ihn Cornelia zum zweitenmal betrog,
trieb ihn durch die Straßen, dem Norden zu, in die Müller­
straße hinein, in jenes Haus und zu der Frau, die er nicht wie­
dersehen wollte. Sie strahlte. Sie war stolz, daß er wiederkam,
und froh, daß sie ihn wiederhatte. »So ist’s recht«, sagte sie zur
Begrüßung. »Komm, du wirst Hunger haben.« Sie hatte im
Wohnzimmer gedeckt. »Wir essen sonst in der Küche«, sagte
sie. »Aber wozu hat man seine Dreizimmerwohnung?« Es gab
Wurst und Schinken und Camembert. Plötzlich legte sie Mes­
ser und Gabel beiseite, murmelte »Hokuspokus!« und brachte
eine Flasche Mosel zum Vorschein. Sie schenkte ein und stieß
mit ihm an. »Auf unser Kind!« rief sie. »Wie du soll es sein, und
wenn’s kein Junge wird, mußt du Strafexerzieren!« Sie trank
das Glas leer, goß wieder ein und hatte glänzende Augen. »So
ein Glück, daß ich dich traf«, sagte sie und trank weiter. »Wein
regt mich schrecklich auf.« Sie fiel ihm um den Hals.
Da klapperten draußen Schlüssel. Schritte kamen den Kor­
ridor entlang. Die Tür ging auf. Ein mittelgroßer, untersetzter
Mann trat ins Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wur­
de düster. »Wünsche guten Appetit allerseits«, sagte er und
näherte sich der Frau.
Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie erreicht hatte, riß sie
die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tür
zu und riegelte ab.
Der Mann rief: »Du kriegst schon noch den Hintern voll!«
Er drehte sich zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hat­
te, und sagte: »Behalten Sie bitte Platz. Ich bin der Gatte.« Sie
saßen einander eine Weile gegenüber, ohne zu sprechen. Dann
nahm der Mann die Moselflasche in die Hand, betrachtete um­

IJ2 FABIAN
ständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank
und meinte hinterher: »Die Züge sind um diese Zeit schreck­
lich überfüllt.«
Fabian nickte zustimmend.
»Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?« fragte
der Mann.
»Ich mache mir nicht viel aus Weißwein«, erklärte Fabian
und stand auf.
Der andere folgte ihm. »Sie wollen schon gehen?« fragte er.
»Ich möchte nicht länger stören«, erwiderte Fabian.
Plötzlich sprang ihm der Reisende an den Hals und würgte
ihn. Fabian gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann
ließ los, setzte sich und hielt die Backe.
»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte Fabian betrübt. Der
Mann winkte ab, spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf
mit sich beschäftigt.
Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hinge­
hen? Er fuhr nach Hause.

SIEBZEHNTES KAPITEL 153


Achtzehntes Kapitel
Er geht aus Verzweiflung nach Hause
Was mag die Polizei wollen?
Ein trauriger Anblick

Obwohl Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohl­


feld im Korridor. Sie trug, weil es Abend war, einen Morgen­
rock und war außerordentlich aufgeregt. »Ich habe meine Tür
offengelassen, um Sie zu hören«, sagte sie. »Die Kriminalpoli­
zei war da. Man wollte Sie holen.«
»Die Kriminalpolizei?« fragte er überrascht. »Wann war sie
da?«
»Vor drei Stunden, und vor einer Stunde wieder. Sie sollen
sich unverzüglich melden. Ich habe natürlich erzählt, daß Sie
in der vorigen Nacht nicht zu Hause waren und daß Fräulein
Battenberg gestern, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer ge­
räumt hat und verschwunden ist.« Die Witwe wollte einen
Schritt näher kommen, statt dessen trat sie einen Schritt zu­
rück. »Es ist furchtbar«, flüsterte sie ergriffen, »was haben Sie
da angestellt?«
»Liebe Frau Hohlfeld«, antwortete er. »Ihre Phantasie hat
die Motten. Das möchte Ihnen passen, ein kleines Liebesdra­
ma mit letalem Ausgang, wie? Frau Hohlfeld als Zeugin in
Trauerkleidung, ihre beiden Untermieter in allen Zeitungen
abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie
sich keine Schwachheiten ein!«
»Nun«, sagte sie, »mich geht es ja nichts an.« Seine Ver­
stocktheit kränkte sie tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch
bei ihr, hatte sie ihn nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt?
Und jetzt hielt er es nicht einmal für nötig, sein Herz auszu­
schütten.
»Wo soll ich mich melden?« fragte er.
Sie gab ihm einen Zettel.
Er las die Adresse.
»Da haben wir’s«, sagte sie triumphierend. »Warum sind Sie
denn so blaß geworden?«

154 I-AB1AN
Er riß die Tür auf und jagte die Treppe hinunter. Am Nürn­
berger Platz hielt er ein Auto an, nannte die Adresse und sag­
te: »Fahren Sie, so schnell Sie können!« Der Wagen war alt und
gebrechlich und holperte sogar auf dem Asphalt. Fabian zerr­
te das Schiebefenster auf: »Fahren Sie doch schneller!« rief er.
Dann versuchte er zu rauchen, aber seine Hand zitterte, und
der Wind blies ihm die brennenden Streichhölzer aus. Er lehn­
te sich zurück und schloß die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnete
er sie und sah nach, wo sie waren. Tiergarten, Tiergarten, Tier­
garten, Brandenburger Tor. Unter den Linden. An jeder Stra­
ßenecke mußten sie halten. An jeder Verkehrsampel glühte,
kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als füh­
ren sie durch zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Fried­
richstraße wurde es besser. Universität, Staatsoper, Dom und
Schloß lagen endlich im Rücken. Das Auto bog rechts ein. Es
hielt. Fabian zahlte und lief gehetzt ins Haus.
Ein fremder Mann öffnete. Fabian nannte seinen Namen.
»Endlich«, sagte der fremde Mann. »Ich bin Kriminalkommis­
sar Donath. Wir kommen ohne Sie nicht weiter.«
Im ersten Zimmer saßen fünf junge Damen, ein Polizist
stand dabei. Fabian erkannte die Selow und die Bildhauerin.
»Endlich«, sagte die Selow. Das Zimmer war demoliert, Gläser
und Flaschen lagen am Boden.
Im nächsten Zimmer stand ein junger Mann vom Schreib­
tisch auf. »Mein Assistent«, erklärte der Kommissar. Fabian
blickte sich um und erschrak. Auf dem Sofa lag Labude, kalk­
weiß, mit geschlossenen Augen. Labude hatte ein Loch in der
Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare.
»Stephan«, sagte Fabian leise und setzte sich neben die Lei­
che. Er legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes
und schüttelte den Kopf.
»Aber Stephan«, sagte er, »das macht man doch nicht.« Die
zwei Beamten traten ans Fenster.
»Doktor Labude hat für Sie einen Brief hinterlassen«, be­
richtete der Kommissar. »Wir bitten Sie, den Brief zu lesen und
uns über den Inhalt, soweit er uns interessiert, zu unterrichten.
Wir teilen Ihre Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord

ACHTZEHNTES KAPITEL US
handelt, und die fünf jungen Damen, die wir vorläufig in der
Wohnung zurückbehalten haben, behaupten, im Nebenzim­
mer gewesen zu sein, als der Schuß fiel. Aber ganz aufgeklärt
scheint der Vorfall nicht. Sie werden vielleicht bemerkt haben,
daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat es damit
für eine Bewandtnis?«
Der Kriminalassistent reichte Fabian ein Kuvert. »Wollen
Sie so freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen be­
haupten, das Zimmer sei im Laufe einer privaten Meinungs­
verschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor Labude habe
damit nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen,
sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben, und dann
sei er in das Zimmer hier gegangen.«
»Die Damen stehen, wie sich aus Andeutungen entnehmen
ließ, in einigermaßen ungewöhnlichen Beziehungen zueinan­
der. Ich vermute, es gab eine Art von Eifersuchtsszene zwi­
schen ihnen«, erläuterte der Kommissar. »Sie haben, und auch
das spricht gegen ihre konkrete Mittäterschaft, sofort die Poli­
zei verständigt und uns hier erwartet, anstatt davonzulaufen.
Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?«
Fabian öffnete das Kuvert und nahm den gefalteten Brief­
bogen heraus. Dabei fiel ein Banknotenbündel zur Erde. Der
Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa.
»Wir warten nebenan«, sagte der Kommissar rücksichtsvoll,
und sie ließen Fabian allein. Er erhob sich und brannte das
Licht an. Dann setzte er sich wieder und sah auf den toten
Freund, dessen gelbes, in Müdigkeit erfrorenes Gesicht genau
unter der Lampe lag. Der Mund war ein wenig geöffnet, der
Unterkiefer gab nach. Fabian faltete den Briefbogen auseinan­
der und las:
»Lieber Jakob!
Als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal
zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da.
Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, mei­
ne Habilitationsschrift sei abgelehnt worden. Der Geheimrat
habe sie als völlig ungenügend charakterisiert und erklärt, sie
der Fakultät weiterzugeben, halte er für Belästigung. Außer­

156 l-ABI AN
dem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu ma­
chen. Fünf Jahre hat mich diese Schrift gekostet, es war die
fünfjährige Arbeit an einer Blamage, die man nur aus Barm­
herzigkeit im engsten Kreise begraben will.
Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte mich.
Ich habe kein Talent zum Trostempfänger, auch hierin bin ich
talentlos. Das Gespräch über Leda, das wir vor Tagen mitein­
ander hatten, überzeugte mich davon. Du hättest mich über die
mikroskopische Bedeutung meines wissenschaftlichen Unfalls
aufgeklärt, ich hätte Dir zum Schein recht gegeben, wir hätten
einander belogen.
Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und psycholo­
gisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zu­
rück, die Universität weist mich zurück, von allen Seiten er­
halte ich die Zensur Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht
aus, das bricht meinem Kopf das Herz und meinem Herzen
das Genick, Jakob. Mir hilft keine historische Statistik, wie-
viele bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche
Liebhaber waren.
Mein politischer Ausflug nach Frankfurt war auch zum Be­
speien. Am Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wieder-
kam, lag die Selow mit der Bildhauerin in meinem Bett, ein
paar andere Frauenzimmer gaben Hilfsstellung. Und jetzt,
während ich schreibe, schmeißen sie im Nebenzimmer mit
Gläsern und Blumenvasen. Ich kann, wenn ich meinen augen­
blicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt
mir nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich
aus. Dort, wo man mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei
mir nicht böse, mein Guter, ich haue ab. Europa wird auch
ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat mich nicht
nötig. Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuh­
handel nichts ändert, er wird den Zusammenbruch nur be­
schleunigen oder vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen
geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung
konstituiert werden muß, alles andere ist nutzlos. Ich habe
nicht mehr den Mut, mich von den politischen Fachleuten aus­
lachen zu lassen, die mit ihren Mittelchen einen Kontinent zu

ACHTZEHNTES KAI’ITEE IJ7


Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht habe, doch heute genügt
mir das nicht mehr. Ich bin eine lächerliche Figur geworden,
ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener Mensch­
heitskandidat. Laß mich den Kerl umbringen. Der Revolver,
den ich neulich am Märkischen Museum dem Kommunisten
abnahm, kommt zu neuen Ehren. Ich nahm ihn an mich, damit
kein Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden
müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif.
Also, Jakob, leb wohl. Fast hätte ich ganz ernsthaft hinge­
schrieben: ich werde oft an dich denken. Aber damit ist es ja
nun aus. Trag es mir nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du
bist der einzige Mensch, den ich liebhatte, obwohl ich ihn
kannte. Grüße meine Eltern, und vor allem Deine Mutter. Wenn
Du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr nicht, wie
schwer mich ihr Betrug traf. Sie mag glauben, ich wäre nur ge­
kränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen.
Ich würde Dich bitten, meine Angelegenheiten zu regeln,
aber es gibt nichts, was der Regelung bedürfte. Die Wohnung
Nummer Zwei sollen meine Eltern auflösen, mit den Möbeln
können sie tun, was sie wollen. Meine Bücher gehören Dir. Ich
fand vorhin in meinem Schreibtisch zweitausend Mark, nimm
das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es rei­
chen.
Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach’s gut.
Dein Stephan.«
Fabian strich dem Toten behutsam über die Stirn. Der Un­
terkiefer war noch tiefer herabgesunken. Der Mund klaffte auf.
»Daß man lebt, ist Zufall; daß man stirbt, ist gewiß«, flüsterte
Fabian und lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch
trösten.
Der Kommissar öffnete leise die Tür. »Entschuldigen Sie,
daß ich schon wieder störe.« Fabian reichte ihm den Brief. Der
Beamte las und sagte: »Da kann ich ja die Mädchen nach Hau­
se schicken.« Er gab den Brief zurück und ging ins Nebenzim­
mer. »Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger aufhalten«,
rief er.
»Nur noch einen Augenblick«, sagte eine weibliche Stimme.

FABIAN
»Ich habe ein Faible für Tote.« Die fünf Frauen drängten sich
durch die Tür und standen schweigend vor dem Sofa.
»Man müßte ihm die Kinnlade hochbinden«, sagte schließ­
lich ein Mädchen, das Fabian nicht kannte. Die Bildhauerin lief
ins andere Zimmer und kehrte mit einer Serviette wieder. Sie
band Labude den Unterkiefer hoch, so daß der Mund sich
schloß, und knüpfte die Enden der Serviette auf seinem Kopf­
haar zu einem Knoten.
»Ein Toter mit Zahnschmerzen«, bemerkte die Selow und
lachte bösartig.
Ruth Reiter sagte: »Es ist eine Schande. Bei mir im Atelier
sitzt Wilhelmy und wird von Tag zu Tag gesünder, das Schwein,
obwohl die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben haben. Und die­
ser kräftige junge Kerl hier bringt sich um die Ecke.«
Dann schob der Assistent die Frauen aus dem Zimmer. Der
Kommissar setzte sich an den Schreibtisch und entwarf einen
Polizeibericht. Der Assistent kam zurück. »Ist es nicht das Be­
ste, wenn wir einen Wagen bestellen und den Toten in die Vil­
la der Eltern bringen lassen?« fragte er. Dann bückte er sich.
Die Geldscheine waren vom Sofa gefallen und lagen wieder auf
der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche.
»Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?« fragte Fa­
bian.
»Sie sind leider nicht erreichbar«, erwiderte der Assistent.
»Justizrat Labude befindet sich auf einer kleinen Reise, das
Hauspersonal weiß nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano.
Man hat ihr depeschiert.«
»Also gut«, sagte Fabian. »Bringen wir ihn nach Hause!«
Der Assistent telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann
warteten sie alle drei stumm, bis der Wagen kam. Sanitäter
packten Labude auf eine Bahre und trugen ihn die Treppe hin­
unter. Vor dem Haus standen Neugierige aus der Nachbar­
schaft. Die Bahre wurde in den Wagen geschoben, Fabian setz­
te sich neben den ausgestreckten Freund. Die Beamten verab­
schiedeten sich. Er gab ihnen die Hand. Ein Sanitäter klappte
die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian und Labude fuhren
zum letzten Mal gemeinsam durch Berlin.

ACHTZEHNTES KAPITEL 159


Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeig­
te sich der Dom. Dann wechselte das Bild. Fabian sah die
Schinkelsche Wache, die Universität, die Staatsbibliothek. Wie
lange war das her, daß sie hier miteinander im Autobus gefah­
ren waren?
Am selben Abend hatten sie, draußen am Märkischen Mu­
seum, zwei Raufbolden die Revolver abgenommen. Nun lag
Labude auf der Bahre, fuhr durchs Brandenburger Tor und
wußte nichts mehr davon. Zwei straffe Gurte hielten ihn fest.
Der Kopf rutschte langsam schräg.
»Denkst du nach?« fragte Fabian leise, schob Labudes Kopf
auf dem Kissen wieder zurecht und ließ die Hand dort. »Ein
Toter mit Zahnschmerzen«, hatte die Selow gesagt.
Als das Krankenauto vor der Grunewaldvilla hielt, stand das
Dienstpersonal an der Tür. Die Haushälterin schluchzte, der
Diener ging würdevoll vor den Sanitätern her, die Mädchen
folgten, ihre Füße hielten mit der ernsten Stunde Schritt. La­
bude wurde in sein Zimmer gebracht und auf das Sofa gelegt.
Der Diener öffnete die Fenster weit.
»Die Leichenfrau kommt morgen früh«, sagte die Haushäl­
terin, und nun schluchzten auch die Mädchen. Fabian gab den
Sanitätern Geld. Sie grüßten militärisch und gingen.
»Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da«, bemerkte der
Diener.
»Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Aber er wird es
ja in der Zeitung lesen.«
»Es steht schon in der Zeitung?« fragte Fabian.
»Jawohl«, entgegnete der Diener. »Die gnädige Frau ist be­
nachrichtigt. Sie dürfte morgen mittag in Berlin eintreffen,
wenn ihr Zustand die Reise gestattet. Der FD-Zug ist um die­
se Stunde in Bellinzona.«
»Gehen Sie schlafen«, sagte Fabian. »Ich bleibe die Nacht
über hier.« Er zog einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen
das Zimmer. Er war allein.
In Bellinzona war Labudes Mutter jetzt? Fabian setzte sich
neben den Freund und dachte: »Welch eine Strafe für eine
schlechte Mutter!«

160 !■ A B I A N
Neunzehntes Kapitel
Fabian verteidigt den Freund
Ein Lessingporträt geht entzwei
Einsamkeit in Halensee

Labudes Gesicht wurde von der Serviette nur scheinbar zu­


sammengehalten, es veränderte sich. Als werde das Fleisch dick­
flüssig und als sickere es allmählich ins Körperinnere, so tra­
ten die Backenknochen hervor. Die Augen waren tief in die
schwärzlichen Höhlen gesunken. Die Nasenflügel fielen ein
und wirkten verkniffen.
Fabian beugte sich vor und dachte: »Warum verwandelst du
dich? Willst du mir den Abschied leicht machen? Ich wünsch­
te, du könntest reden, denn ich hätte viel zu fragen, mein Lie­
ber. Ist dir jetzt wohl? Bist du auch jetzt noch, nachdem du
starbst, damit zufrieden, daß du tot bist? Oder bereust du, was
du tatest? Und möchtest du rückgängig machen, was für ewig
geschah? Früher habe ich mir eingebildet, ich könne an der
Leiche eines Menschen, den ich liebe, nie begreifen, daß er tot
ist. Wie soll man verstehen, daß jemand nicht mehr da ist, ob­
wohl er sichtbar vor einem liegt, mit Schlips und Kragen, im
selben Anzug wie kurz vorher? dachte ich. Wie soll man glau­
ben, daß einer, nur weil er zu atmen vergaß, eine Portion
Fleisch geworden ist, die man drei Tage später achtlos ver­
scharrt? dachte ich. Wird man, wenn das geschieht, nicht auf­
schreien: Hilfe, er erstickt! Ich muß dir sagen, Stephan: ich ver­
stehe meine Angst nicht mehr, man könne am Tod und seiner
Tragweite zweifeln. Du bist tot, mein Guter, und du liegst da
wie eine schlecht fixierte Fotografie von dir, die zusehends ver­
gilbt. Man wird deine Fotografie in einen Ofen werfen, den
man Krematorium nennt. Du wirst verbrennen, und niemand
wird um Hilfe rufen, und auch ich werde still sein.<
Fabian trat zum Schreibtisch und nahm aus dem gelben
Holzkästchen, das seit Jahren dort stand, eine Zigarette. Ein
Kupferstich hing an der Wand, es war ein Porträt von Lessing.
»Sie sind schuld daran«, sagte Fabian zu dem Mann mit dem

NEUNZEHNTES KAPITEL 161


Zopf und zeigte auf Labude. Aber Gotthold Ephraim Lessing
übersah und überhörte den Vorwurf, der ihm, hundertfünfzig
Jahre nach seinem Tode, gemacht wurde. Er blickte ernst und
höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites, bäuerisches Ge­
sicht verzog keine Miene. »Schon gut«, sagte Fabian, drehte
dem Bild den Rücken und setzte sich wieder neben den
Freund.
»Siehst du«, sprach er zu Labude, »das war ein Kerl«, und er
wies mit dem Daumen hinter sich. »Der biß zu und kämpfte
und schlug mit dem Federhalter um sich, als sei der Gänsekiel
ein Schleppsäbel. Der war zum Kämpfen da, du nicht. Der leb­
te gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht privat, der woll­
te gar nichts für sich. Und als er sich doch auf sich besann, als
er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da brach alles über
ihm zusammen und begrub ihn. Und das war in Ordnung. Wer
für die anderen da sein will, der muß sich selber fremd bleiben.
Er muß wie ein Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht
voller Menschen ist, und einer muß mitten darunter sitzen, der
nie an die Reihe kommt und nie darüber klagt: das ist er selber.
Hättest du so zu leben vermocht?«
Fabian strich dem Freund übers Knie und schüttelte den
Kopf. »Ich wünsche dir Glück, denn du bist tot. Du warst ein
guter Mensch, du warst ein anständiger Kerl, du warst mein
Freund, aber das, was du vor allem sein wolltest, das warst du
nicht. Dein Charakter existierte in deiner Vorstellung, und als
die zerstört wurde, blieb nichts mehr übrig als ein Schießeisen
und das, was hier auf dem Sofa liegt. Siehst du, nächstens wird
ein gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs Brot,
und später ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten, die
andern wollen es erobern, und sie werden sich wie die Titanen
ohrfeigen, und sie werden schließlich das Sofa zerhacken, da­
mit es keiner kriegt. Unter den Anführern werden auf allen
Seiten Marktschreier stehen, die stolze Parolen erfinden und
die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden sogar
zwei oder drei wirkliche Männer darunter sein. Sollten sie zwei­
mal hintereinander die Wahrheit sagen, wird man sie aufhän­
gen. Sollten sie zweimal hintereinander lügen, wird man sie

162 l'ABI AN
aufhängen. Dich hätte man nicht einmal gehängt, dich hätte
man totgelacht. Du warst kein Reformator und du warst kein
Revolutionär. Mach dir nichts draus.«
Labude lag, als höre er zu. Aber er tat nur so. Die Anspra­
che verhallte, Fabian wurde müde. »Warum genügte es dir
nicht, schön zu finden, was schön ist ?< dachte er. »Dann hätte
dich das Pech mit Herrn Lessing nicht so gekränkt. Dann
säßest du vielleicht in Paris, statt hier zu liegen. Dann hättest
du die Augen offen und blicktest glücklich von Sacre Coeur
hinunter auf die schimmernden Boulevards, über denen die
Luft kocht. Oder wir beide spazierten durch Berlin. Die Bäu­
me sind ganz frisch gestrichen, der blaue Himmel ist mit Gold
ausgelegt; die Mädchen sind appetitlich zubereitet, und wenn
die eine bei einem Filmdirektor übernachtet, sucht man sich
eine bessere. Mein alter Erfinder, der liebte das Leben! Ich habe
dir noch gar nicht erzählt, wie er bei mir im Schranke stand. Er
hatte den Hut auf und hielt den Schirm in der Hand, als habe
er Angst, es könne im Schrank regnen.«

Fabian konnte nicht lange geschlafen haben, als er aufschreck­


te. Er hörte Stimmen auf der Straße und trat ans Fenster. Ein
Auto hielt vor der Tür, der Diener kam aus dem Haus und öff­
nete den Schlag. Der Justizrat stieg aus und hielt dem Diener
eine Zeitung entgegen. Der Diener nickte und zeigte zu dem
Fenster hinauf, an dem Fabian lehnte. Eine Frau wollte aus
dem Wagen, der Justizrat stieß sie auf den Sitz zurück. Der Wa­
gen setzte sich in Bewegung. Die Frau preßte, während das
Auto sie wegführte, das Gesicht an die Scheibe. Der Justizrat
ging ins Haus. Der Diener folgte und hielt die Arme besorgt
angehoben, um, wenn es nötig werde, den Justizrat zu stützen.
Fabian trat auf den Korridor hinaus, denn er wollte nicht
zugegen sein, wenn der Vater den Sohn liegen sah. Der Justiz­
rat kam die Treppe herauf, er klammerte sich am Geländer fest,
und der alte Diener hinter ihm hielt die Hände schützend vor­
gestreckt, aber Labudes Vater sank nicht um. Er ging, ohne Fa­
bian anzusehen, in das erleuchtete Zimmer. Der Diener schloß
die Tür und neigte den Kopf vor, um zu hören, ob er nötig sei.

NEUNZEHNTES KAPITEL I63


Doch es blieb still in dem Zimmer. Fabian und der Diener stan­
den davor, jeder auf seinem Fleck, sie sahen einander nicht an
und lauschten gespannt. Ihre Bereitschaft zum Mitleid warte­
te auf einen Klagelaut oder dergleichen. Aber sie vernahmen
nichts. Die Szene hinter der Tür ließ sich nicht deuten.
Es klingelte. Der Diener verschwand im Zimmer und kam
wieder auf den Korridor. »Der Herr Justizrat möchte Sie spre­
chen.« Fabian trat ein. Der alte Labude saß am Schreibtisch
und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Nach einer Weile
richtete er sich hoch, stand auf, um den Freund seines Sohnes
zu begrüßen, und lächelte künstlich. »Ich habe keine Bezie­
hung zu tragischen Erlebnissen«, sagte er gepreßt. »Das biß­
chen Mitgefühl, das mein Egoismus zuläßt, hat durch die vie­
len Plädoyers, die ich hielt, und durch die prozessuale Routi­
ne überhaupt einen unechten Glanz angenommen, in dem sich
alles andere eher spiegelt als wahre Teilnahme.« Er drehte sich
um, betrachtete seinen Sohn, und es sah aus, als ob er sich bei
dem Toten entschuldigen wolle. »Es hat keinen Zweck, sich
Vorwürfe zu machen«, fuhr er fort. »Ich war kein Vater, der für
den Sohn lebt. Ich bin ein vergnügungssüchtiger älterer Herr,
der in das Leben verliebt ist. Und dieses Leben verliert seinen
Sinn keineswegs durch diese Tatsache.« Er zeigte mit dem vor­
gestreckten Arm auf die Leiche. »Er hat gewußt, was er tat.
Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die anderen
nicht zu weinen.«
»Man könnte, gerade weil Sie so nüchtern darüber sprechen,
vermuten, daß Sie sich Vorwürfe machen«, sagte Fabian. »Das
wäre unangebracht. Der sichtbare Anlaß für Stephans Selbst­
mord liegt außerhalb unserer Sphäre.«
»Was wissen Sie darüber? Hat er Briefe hinterlassen?« frag­
te der Justizrat.
Fabian verschwieg den Brief. »Eine kurze Notiz gab Aus­
kunft. Der Geheimrat hat Stephans Habilitationsschrift als un­
genügend abgelehnt.«
»Ich habe sie nicht gelesen. Man hat nie Zeit. War sie so
schlecht?« fragte der andere.
»Es ist eine der besten und originellsten literarhistorischen

164 FABIAN
Arbeiten, die ich kenne«, erwiderte Fabian. »Hier ist sie.« Er
nahm eine Kopie des Manuskripts vom Bücherbord und legte
sie auf den Schreibtisch.
Der Justizrat blätterte darin, dann klingelte er, ließ das Tele­
fonbuch bringen und suchte eine Nummer. »Es ist zwar sehr
spät«, sagte er und ging ans Telefon, »aber das kann nichts hel­
fen.« Er bekam Anschluß. »Kann ich den Geheimrat spre­
chen?« fragte er. »Dann holen Sie die gnädige Frau an den Ap­
parat. Ja, auch wenn sie schon schläft. Hier spricht Justizrat
Labude.« Er wartete. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte
er. »Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs ist. In Weimar? So, zur
Tagung der Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zu­
rück? Ich werde mir erlauben, ihn morgen im Institut aufzu­
suchen. Sie wissen nicht, ob er die Habilitationsschrift meines
Sohnes schon gelesen hat?« Er hörte lange Zeit zu, dann ver­
abschiedete er sich, legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich
zu Fabian herum und fragte: »Verstehen Sie das? Der Geheim­
rat hat neulich während des Essens gesagt, die Arbeit über Les­
sing sei außerordentlich interessant, und er sei auf die Schluß­
folgerung, also auf das Ende der Arbeit, sehr gespannt. Von
Stephans Tod scheint man noch nichts zu wissen.«
Fabian sprang erregt auf. »Er hat die Arbeit gelobt? Lehnt
man Arbeiten ab, die man gelobt hat?«
»Daß man Arbeiten, die man schlecht findet, annimmt, ist
jedenfalls häufiger«, antwortete der Justizrat. »Wollen Sie mich
jetzt allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde
sein Manuskript lesen. Fünf Jahre hat er daran gesessen, nicht?«
Fabian nickte und gab ihm die Hand. »Da hängt ja die Todes­
ursache«, sagte der alte Labude und zeigte auf das Lessingpor­
trät. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und zer­
schlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann
klingelte er. Der Diener erschien. »Kehre den Dreck fort und
bringe Heftpflaster«, befahl der Justizrat. Er blutete an der
rechten Hand.
Fabian blickte noch einmal auf den toten Freund. Dann ging
er hinaus und ließ die beiden allein.

NEUNZEHNTES KAPITEL 165


Er war zu müde zum Schlafen, und er war zu müde, die Trauer
aufzubringen, die dieser Tag von ihm forderte. Der Trikotagen­
reisende aus der Müllerstraße hielt sich die Backe, hieß er nicht
Hetzer? Seine Frau lag unbefriedigt im Bett, Cornelia war zum
zweitenmal bei Makart, Fabian sah die Erlebnisse wie lebende
Bilder, ohne dritte Dimension, weit weg am Horizont seines
Gedächtnisses. Und auch, daß Labude in irgendeiner Villa
draußen tot auf dem Sofa lag, beschäftigte ihn im Augenblick
nur als Gedanke. Der Schmerz war wie ein Zündholz herun­
tergebrannt und erloschen. Er entsann sich aus seiner Kindheit
eines ähnlichen Zustandes: wenn er damals eines Kummers
wegen, der ihm riesenhaft und unheilbar erschien, lange Zeit
geweint hatte, war das Reservoir, aus dem der Schmerz floß,
leer geworden. Das Gefühl starb ab, wie später, nach jedem sei­
ner Herzkrämpfe, das Leben in den Fingern erstarb. Die Trau­
er, die ihn ausfüllte, war empfindungslos, der Schmerz war
kalt.
Fabian ging die Königsallee entlang. Er kam an der Rathe-
nau-Eiche vorbei. Zwei Kränze hingen an dem Baum. An die­
ser Straßenbiegung war ein kluger Mann ermordet worden.
»Rathenau mußte sterben«, hatte ein nationalsozialistischer
Schriftsteller einmal zu ihm gesagt. »Er mußte sterben, seine
Hybris trug die Schuld. Er war ein Jude und wollte deutscher
Außenminister werden. Stellen Sie sich vor, in Frankreich kan­
didierte ein Kolonialneger für den Quai d’Orsay, das ginge ge­
nau so wenig.«
Politik und Liebe, Ehrgeiz und Freundschaft, Leben und
Tod, nichts berührte ihn. Er schritt, ganz allein mit sich selber,
die nächtliche Allee hinunter. Uber dem Lunapark stieg Feu­
erwerk in den Himmel und sank in bunten feurigen Garben
zur Erde. Aber auf halbem Wege lösten sich die Garben auf, sie
verschwanden spurlos, und neue Raketen drängten krachend
in die Luft. Am Eingang zum Park hing ein Schild: »Fernando,
der Weltmeister im Dauertanzen, überbietet seinen eigenen
Rekord. Er will 200 Stunden tanzen. Kein Weinzwang.«
Fabian setzte sich in ein Bierlokal, dicht vor der Eisenbahn­
unterführung von Halensee. Die Gespräche der Umsitzenden

166 FABIAN
erschienen ihm vollkommen sinnlos. Ein kleiner illuminierter
Zeppelin, auf dem in großer Leuchtschrift »Trumpfschokola­
de« stand, flog über den Köpfen der Stadt zu. Ein Zug mit hel­
len Fenstern fuhr unter der Brücke hin. Autobusse und
Straßenbahnen passierten in langer Kette die Straße. Am Ne­
bentisch erzählte ein Mann, dem der Nacken über den Kragen
gerutscht war, Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm saßen,
kreischten, als hätten sie Mäuse unterm Rock.
>Was soll das alles?< dachte er, zahlte rasch und ging nach
Hause.
Auf dem Tisch lagen etliche Briefe. Die Bewerbungsschrei­
ben waren zurückgekommen. Nirgends war ein Posten frei,
man bedauerte hochachtungsvoll. Fabian wusch sich. Später
ertappte er sich dabei, daß er regungslos, mit dem Handtuch
vor dem nassen Gesicht, auf dem Sofa saß und, an der unteren
Kante des Tuches vorbei, auf den Teppich stierte. Er trockne­
te sich ab, warf das Handtuch fort, legte sich um und schlief
ein. Das Licht brannte die ganze Nacht.

NEUNZEHNTES KAPITEL i^7


Zwanzigstes
Cornelia im Privatauto
Der Geheimrat weiß von nichts
Frau Labude wird ohnmächtig

Als er am nächsten Morgen erwachte und das Licht brennen


sah, waren ihm die Ereignisse des Vortages nicht gegenwärtig.
Er fühlte sich bedrückt und elend, doch er wußte noch nicht,
warum. Er schloß die Augen, und erst jetzt, und nur ganz all­
mählich, vergegenständlichte sich sein Kummer. Das, was ge­
schehen war, fiel ihm ein, als werfe es jemand von draußen her
durch eine Scheibe. Er wußte wieder, was er vor Müdigkeit
vergessen hatte, und vom Bewußtsein aus sanken die Erinne­
rungen tiefer, wuchsen und verwandelten sich im Fallen, es
war, als erhöhe sich ihr spezifisches Gewicht, und dann rollten
sie wie Steinschlag auf sein Herz. Er drehte sich zur Wand und
hielt sich die Ohren zu. Frau Hohlfeld machte, als sie das Früh­
stück hereintrug, trotz des brennenden Lichts, und obwohl
er statt im Bett auf dem Sofa lag, keinen Skandal. Sie setzte
das Tablett auf den Tisch, löschte das Licht und vollzog sämt­
liche Handlungen nach dem Ritus, der in Krankenzimmern
üblich ist. »Ich versichere Sie meines tiefsten Beileids«, sagte
sie, »ich las es vorhin in der Zeitung. Ein harter Schlag für Sie.
Und die armen Eltern.« Der Ton und die Stimmlage waren gut
gemeint. Die Teilnahme war ehrlich. Es war nicht zum Aus­
halten.
Er überwand sich und murmelte: »Danke.« Bis sie das Zim­
mer verlassen hatte, blieb er liegen, dann stand er auf und fuhr
in die Kleider. Er mußte den Geheimrat sprechen. Seit gestern
abend marterte ihn ein Verdacht, der, ohne jedes Zutun, immer
quälender wurde. Er mußte in die Universität. Als er aus dem
Haus trat, fuhr ein großer Privatwagen vor und hielt.
»Fabian!« rief jemand. Es war Cornelia. Sie saß im Wagen
und winkte. Während er näher trat, stieg sie aus.
»Mein armer Fabian«, sagte sie und streichelte seine Hand.
»Ich hielt es nicht bis zum Nachmittag aus, und er lieh mir den

168 FABIAN
Wagen. Stör ich dich?« Dann senkte sie die Stimme. »Der
Schofför paßt auf.« Lauter fragte sie: »Wo willst du hin?«
»Zur Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit
abgelehnt worden ist. Ich muß den Geheimrat sprechen.«
»Ich bringe dich hin. Darf ich?« fragte sie. »Fahren Sie uns
bitte zur Universität«, sagte sie zu dem Schofför, sie stiegen in
den Wagen und fuhren stadtwärts.
»Und wie war es gestern abend bei dir?« fragte Fabian.
»Sprich nicht davon«, bat sie. »Ich hatte immer das Gefühl,
dir drohe ein Unheil. Makart erzählte mir von der Rolle, die
ich spielen soll, ich hörte kaum zu, so bedrängte mich meine
Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter.«
»Was für eine Rolle?« Auf Cornelias Vorahnungen ging er
nicht ein. Er haßte die Angewohnheit, die Zukunft wie eine
Bettdecke zu lüpfen, und noch mehr haßte er den nachträgli­
chen Stolz, schon vorher recht gehabt zu haben. Wie plump­
vertraulich war diese Art des Umgangs mit dem Schicksal! Sei­
ne Abneigung hatte damit, ob Vorahnungen möglich seien oder
nicht, nichts zu tun. Er empfand es als Anmaßung, sich mit
dem, was noch verhüllt war, herumzuduzen. So passiv er auch
zu sein pflegte: mit einer Fügung in Unvermeidliches hatte das
nichts zu schaffen.
»Eine sehr merkwürdige Rolle«, sagte sie. »Stell dir vor, daß
ich in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um
seiner verschrobenen Phantasie Genüge zu tun, von mir ver­
langt, daß ich mich unablässig verwandle. Er ist ein pathologi­
scher Mensch und nötigt mich, bald ein unerfahrenes Mädchen
und bald eine raffinierte Frau zu spielen, bald ein ordinäres
Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf.
Dabei stellt sich, für mich später als für ihn und die Zuschauer,
heraus, daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glau­
be. Beide, er und ich, werden überrascht sein, denn ich werde
mich unaufhaltsam, schließlich gegen seinen Willen, verändern
und erst dadurch das geworden sein, was ich schon immer war.
Gemein und herrschsüchtig, stellt sich heraus, bin ich im
Grunde, und in dem Konflikt, den er durch seine Befehle be­
schwor, wird er tragisch unterliegen.«

ZWANZIGSTES KAPITEL 169


»Ist der Einfall von Makart? Sieh dich vor, Cornelia, der
Mann ist gefährlich. Er wird dich diese Verwandlung zwar nur
spielen lassen, aber insgeheim wird er mit sich selber wetten,
ob du in Wirklichkeit so wirst.«
»Das wäre kein Unglück, Fabian. Solche Männer wollen
überfahren werden. Der Film wird ein Privatkursus fürs ganze
Leben.«
Er kramte in den Taschen, fand das Geldbündel, zählte tau­
send Mark ab und gab sie Cornelia. »Da, Labude hinterließ mir
Geld, nimm die Hälfte. Es beruhigt mich.«
»Wenn wir vor drei Tagen zweitausend Mark gehabt hät­
ten«, sagte sie.
Fabian beobachtete den Schofför, der fortwährend in den
kleinen konkaven Sucherspiegel blickte und sie darin über­
wachte. »Deine Gouvernante wird uns noch an einen Baum
fahren. Vorn ist die Musik!« schrie er, und der Schofför ließ sie
vorübergehend mit dem Blick los.
»Heute nachmittag komme ich ohne ihn«, sagte sie.
»Ich weiß nicht, ob ich zu Hause bin«, erwiderte er.
Sie lehnte sich flüchtig und schüchtern an ihn. »Ich komme
auf alle Fälle, vielleicht kannst du mich brauchen.«
Vor der Universität stieg er aus. Sie fuhr mit ihrem Gefäng­
nisinspektor weiter.

Der Institutsdiener öffnete ihm. Der Geheimrat sei noch nicht


da, werde aber jeden Augenblick von der Reise zurückerwar­
tet. Ob der Assistent da sei? Jawohl. Im Vorzimmer saßen Ju­
stizrat Labude und seine Frau. Sie sah sehr alt aus, weinte, als
Fabian sie begrüßte, und sagte: »Wir haben uns nicht um ihn
gekümmert.«
»Es ist sinnlos, sich Vorwürfe zu machen«, entgegnete Fabian.
»War er nicht alt genug?« fragte der Justizrat. Seine Frau
schluchzte laut auf, und er verzog die Stirn. »Ich habe heute
nacht Stephans Arbeit gelesen«, erzählte er. »Ich verstehe zwar
nichts von eurem Fach, und ich weiß nicht, ob die Grundlagen
der Untersuchung stimmen. Aber daß die Folgerungen klug
und scharfsinnig sind, steht außer allem Zweifel.«

17° FABIAN
»Auch die Grundlagen der Untersuchungen sind in Ord­
nung«, meinte Fabian. »Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur
der Geheimrat käme!«
Frau Labude weinte vor sich hin. »Warum wollt ihr ihm,
nun er tot ist, die Ursache rauben, deretwegen er starb?« frag­
te sie. »Kommt, wir wollen von hier fortgehen!« Sie stand auf
und packte die zwei Männer. »Laßt ihn in Frieden!«
Aber der Justizrat sagte: »Setz dich hin, Luise.«
Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altvä­
terlicher Eleganz, außerdem standen ihm die Augen etwas zu
weit aus dem Kopf. Der Institutsdiener kletterte hinter ihm die
Treppe hoch und trug einen Handkoffer. »Das ist ja fürchter­
lich«, erklärte der Geheimrat und ging, mit seitlich geneigtem
Kopf, auf Labudes Eltern zu. Die Frau des Justizrates weinte
lauter, als er ihr die Hand drückte, und auch der Justizrat war
ergriffen. »Wir kennen uns«, sagte der alte Literaturhistoriker
zu Fabian. »Sie waren sein Freund.« Er schloß die Tür zu sei­
nem Zimmer auf, bat näher zu treten, entschuldigte sich für ei­
nen Augenblick und wusch sich, während die andern stumm
um den Tisch saßen, die Hände, wie vor einer ärztlichen Ordi­
nation. Der Diener hielt das Handtuch bereit.
Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: »Ich bin
für keinen Menschen zu sprechen.« Der Diener entfernte sich,
der Geheimrat nahm Platz. »Ich kaufte mir heute morgen in
Naumburg eine Zeitung«, berichtete er, »und das erste, was ich
las, war die Meldung von dem tragischen Geschick Ihres Soh­
nes. Ist es allzu indiskret, wenn ich die nächstliegende Frage an
Sie stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu die­
sem äußersten Schritt bewogen?«
Der Justizrat ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, zur
Faust. »Können Sie sich das nicht denken?«
Der Geheimrat schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die ge­
ringste Ahnung.«
Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft.
Ihr Blick bat die Männer, innezuhalten.
Aber Labudes Vater beugte sich weit vor. »Mein Sohn hat
sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben.«

ZWANZIGSTES KAPITEL 171


Der Geheimrat zog das seidene Tuch aus der Tasche und
fuhr sich damit über die Stirn. » Was ?« fragte er tonlos. Er stand
auf und starrte aus seinen vorgewölbten Augen die Umsitzen­
den an, als befürchte er, sie seien wahnsinnig. »Aber das ist ja
gar nicht möglich«, flüsterte er.
»Doch, es ist möglich!« rief der Justizrat. »Nehmen Sie
Ihren Mantel, kommen Sie mit, sehen Sie sich unsern Jun­
gen an! Auf dem Sofa liegt er und ist so tot, wie man nur sein
kann.«
Frau Labude blickte aus weitgeöffneten, unbeweglichen
Augen und sagte: »Sie töten ihn zum zweiten Male.«
»Das ist ja grauenhaft«, murmelte der Geheimrat. Er pack­
te den Arm des Justizrates. »Ich hätte die Arbeit abgelehnt?
Wer hat das behauptet? Wer hat das behauptet?« rief er. »Ich
habe die Arbeit mit dem Bemerken bei der Fakultät in Umlauf
gesetzt, daß sie die reifste literarhistorische Leistung der letz­
ten Jahre darstelle. Ich habe in meinem Votum geschrieben,
Doktor Stephan Labude könne, infolge dieser Arbeit, auf das
lebhafteste Interesse der Fachkreise Anspruch erheben. Ich
habe geschrieben, Doktor Labude leiste mit diesem Beitrag zur
Aufklärung der modernen Forschung unschätzbare Dienste.
Ich habe geschrieben, noch nie sei mir aus Schülerkreisen eine
Schrift von ähnlicher Bedeutung vorgelegt worden, und ich
ließe sie in der Schriftenreihe des Instituts als Sonderdruck er­
scheinen. Wer hat behauptet, die Arbeit sei von mir abgelehnt
worden?«
Labudes Eltern saßen regungslos.
Fabian erhob sich. Er zitterte am ganzen Körper. »Einen
Augenblick«, sagte er heiser, »ich hole ihn.« Dann rannte
er hinaus, die Treppe hinunter, ins Katalogzimmer. Doktor
Weckherlin, der wissenschaftliche Gehilfe des Instituts, saß
über eine Kartothek gebückt und ordnete Kärtchen ein, auf de­
nen die Neuanschaffungen der Bibliothek verzeichnet waren.
Er blickte ungehalten hoch und kniff die kurzsichtigen Augen
zusammen. »Was wollen Sie?« fragte er.
»Sie sollen sofort zum Geheimrat kommen«, sagte Fabian,
und als der andere keine Anstalten traf, sondern bloß nickte

172 IABIAN
und in der Kartothek zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kra­
gen, zerrte ihn vom Stuhl und stieß ihn zur Tür hinaus.
»Was erlauben Sie sich eigentlich?« fragte er. Aber Fabian
schlug ihm, statt zu antworten, mit der Faust ins Gesicht.
Weckherlin hob den Arm, um sich zu schützen, und stolperte,
ohne länger zu widersprechen, die Treppe hinauf. Vor dem
Zimmer des Geheimrats zögerte er wieder, aber Fabian riß die
Tür auf. Der Geheimrat und Labudes Eltern fuhren zusam­
men. Der Assistent blutete aus der Nase.
»Ich muß in Ihrer Gegenwart einige Fragen an diesen Herrn
richten«, sagte Fabian. »Doktor Weckherlin, haben Sie gestern
mittag meinem Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abge­
lehnt worden? Haben Sie erzählt, der Geheimrat habe ge­
äußert, die Arbeit der Fakultät weitergeben, heiße die Profes­
soren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat wolle
ihm außerdem durch diese private Ablehnung eine öffentliche
Blamage ersparen?«
Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig vom Stuhl. Kei­
ner der Männer kümmerte sich um sie. Weckherlin war bis zur
Tür zurückgewichen. Die drei anderen Männer standen vor­
geneigt und warteten auf Antwort.
»Weckherlin«, flüsterte der Geheimrat und stützte sich
schwer auf eine Stuhllehne.
Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als wolle er
lächeln, er öffnete wiederholt den Mund.
»Wird’s bald?« fragte der Justizrat drohend.
Weckherlin legte die Hand auf die Klinke und sprach: »Es
war nur ein Scherz!«
Da schrie Fabian, es war ein unartikulierter Laut, er klang
wie der Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er
vor und schlug auf den Assistenten ein, mit beiden Fäusten,
unablässig, ohne zu überlegen, wohin er traf. Besinnungslos,
wie ein automatischer Hammer, schlug er zu, immer wieder.
»Du Schuft!« brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste
mitten ins Gesicht. Weckherlin lächelte noch immer, als wolle
er sich entschuldigen. Er hatte vergessen, daß er die Hand auf
der Klinke hielt und aus dem Zimmer fliehen wollte. Er sank

ZWANZIGSTES KAPITEL 173


unter den Schlägen vorübergehend in die Knie. Er zog sich an
der Klinke wieder hoch, die Tür schnappte auf. Jetzt erst be­
sann er sich auf seinen Vorsatz, drängte durch die Tür auf den
Korridor, Fabian folgte ihm, sie näherten sich, Schritt für
Schritt, der Treppe, die ins Untergeschoß führte, der eine schlug,
der andere blutete.
Unten am Fuß der Treppe sammelten sich Studenten, die
der Lärm aus den Institutsräumen gelockt hatte. Sie standen
stumm und abwartend, als spürten sie, was dort oben geschah,
sei gerecht. »Du Hund!« sagte Fabian und traf den Assistenten
unterm Kinn. Weckherlin kippte hintenüber, schlug dumpf mit
dem Kopf auf eine Stufe und rollte klappernd die Holztreppe
hinunter. Fabian lief hinter ihm her und wollte sich über ihn
stürzen. Da sprangen ein paar Studenten vor und hielten ihn
fest. »Laßt mich los!« schrie er und riß wie ein Tobsüchtiger an
den Armen, die ihn umklammerten. »Laßt mich los, ich schlag
ihn tot!« Jemand hielt ihm den Mund zu. Der Institutsdiener
kniete neben dem Assistenten. Der versuchte sich aufzurich­
ten, sank aber stöhnend zurück. Man schleppte ihn ins Kata­
logzimmer. Im Obergeschoß, dicht an der Treppe, standen der
Geheimrat und Labudes Vater. Durch die geöffnete Tür ver­
nahm man langgezogene Klagelaute, Stephans Mutter war aus
der Ohnmacht erwacht.
»Ach so, es war nur ein Scherz!« rief der Justizrat und lach­
te verzweifelt.
Der Geheimrat sagte markig, als habe er endlich einen Aus­
weg gefunden: »Doktor Weckherlin ist entlassen.« Die Stu­
denten gaben Fabian frei, er senkte den Kopf, vielleicht bedeu­
tete es einen Abschiedsgruß, und verließ das Institut.

174 1- A B I A N
Einundzwanzigstes Kapitel
Juristin wird Filmstar
Eine alte Bekannte
Die Mutter verkauft Schmierseife

Es war nur ein Scherz gewesen!


Herr Weckherlin hatte einen dummen Witz gemacht, und
Labude war daran gestorben. Es war nur scheinbar ein Selbst­
mord gewesen. Ein Subalternbeamter des Mittelhochdeutschen
hatte den Freund umgebracht. Er hatte ihm vergiftete Worte
ins Ohr geträufelt, wie Arsenik ins Trinkglas. Er hatte, zum
Spaß, auf Labude gezielt und abgedrückt. Und aus der ungela­
denen Waffe war ein tödlicher Schuß gefallen.
Fabian sah, während er durch die Friedrichstraße lief, im­
mer noch Weckherlins feig lächelndes Gesicht vor Augen, und
er fragte sich nachträglich überrascht: »Warum habe ich auf den
Kerl eingeschlagen, als müsse alles vernichtet werden? Warum
war meine Wut auf ihn größer als die Trauer über Labudes un­
sinniges Ende? Verdient ein Mensch, der, wie jener, unabsicht­
lich solches Unheil anstiftet, nicht eher Mitleid als Haß? Wird
er jemals wieder ruhig schlafen können?«
Fabian verstand allmählich seinen Instinkt. Weckherlin hat­
te es nicht unabsichtlich getan. Er hatte Labude treffen wollen,
nicht töten, aber verwunden. Der talentlose Konkurrent hatte
sich am Begabten gerächt. Seine Lüge war eine Sprengkapsel
gewesen. Er hatte sie in Labude hineingeworfen und war da­
vongelaufen, um, aus der Entfernung, schadenfroh die Explo­
sion zu beobachten.
Weckherlin war entlassen, verprügelt worden war er auch.
Aber wäre es nicht besser gewesen, er hätte seinen Posten nicht
verloren und die Schläge nicht erhalten? Wäre es nicht besser
gewesen, Weckherlins Lüge hätte, wenn Labude schon einmal
tot war, weitergelebt? Gestern hatte ihn der Tod des Freundes
mit Traurigkeit beseelt, heute erfüllte er ihn mit Unfrieden. Die
Wahrheit war an den Tag gekommen, wem war damit gedient?
Labudes Eltern etwa, die nun endlich wußten, daß ihr Sohn das

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL 175


Opfer einer Infamie geworden war? Bevor sie erfuhren, was
die Wahrheit war, hatte es keine Lüge gegeben. Nun hatte die
Gerechtigkeit gesiegt, und aus dem Selbstmord wurde nach­
träglich ein tragischer Witz. Fabian dachte an Labudes Begräb­
nis, und ihn schauderte: Er sah sich schon im Trauergefolge, am
Sarg erkannte er Labudes Eltern, auch der Geheimrat war in
der Nähe, und Labudes Mutter schrie laut auf. Sie riß sich den
schwarzen Kreppschleier vom schwarzen Hut und sank jam­
mernd vornüber.
»Obacht!« sagte jemand ärgerlich. Fabian wurde gestoßen
und stand still. Hätte er die Sache mit Weckherlin vertuschen
sollen, statt sie aufzuklären? Hätte er die Kenntnis des wahren
Sachverhalts in sich einschließen sollen, um die Eltern davor zu
bewahren? Warum war Labude bis in seine letzten Briefe so
gründlich, warum war er so ordnungsliebend gewesen? Warum
hatte er sein Motiv beim Namen genannt? Fabian ging weiter.
Er bog in die Leipziger Straße ein. Es war Mittag. Die Ange­
stellten der Büros und die Verkäuferinnen umdrängten die Hal­
testellen und stürmten die Autobusse, die Eßpause war kurz.
Wenn dieser Weckherlin nicht dazwischengekommen wäre,
wenn Labude erfahren hätte, wie seine Arbeit wirklich einge­
schätzt wurde, wäre er jetzt nicht gestorben, mehr noch, der
Erfolg hätte ihn befeuert, hätte ihm die Enttäuschung mit Leda
erleichtert und seinem politischen Ehrgeiz Luft gemacht. War­
um hatte er denn an der Arbeit fünf Jahre gesessen? Sich selbst
hatte er beweisen wollen, daß er leistungsfähig war. Er hatte
mit diesem Erfolg gerechnet, er hatte ihn psychologisch abwä­
gend in seine Entwicklung einkalkuliert, und die Kalkulation
war richtig gewesen. Und doch hatte er Weckherlins Lüge eher
geglaubt als seiner eigenen Überzeugung. Nein, Fabian wollte
nicht dabeisein, wenn man den Freund ins Diesseits beförder­
te. Er mußte fort aus dieser Stadt. Er starrte auf eines der vor­
überfahrenden Autos. War es nicht Cornelia? Dort neben dem
dicken Mann? Sein Herz setzte aus. Sie war es nicht.
Er mußte fort, keine zehn Pferde hielten ihn länger.
Er ging zum Bahnhof. Er fuhr nicht noch einmal zur Witwe
Hohlfeld, er ließ in deren Zimmer alles, wie es stand und lag,

176 l'ABIAN
stehen und liegen. Er besuchte Zacharias nicht mehr, diesen
eitlen, verlogenen Menschen. Er ging zum Bahnhof.
Der D-Zug fuhr in einer Stunde. Fabian besorgte sich eine
Fahrkarte, kaufte Tageszeitungen, setzte sich in den Wartesaal
und durchflog die Blätter.
Auf einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkom­
men großen Stils gefordert worden. War dergleichen nur Schön­
rederei? Oder begriff man allmählich, was alle wußten? Erkann­
te man, daß die Vernunft das Vernünftigste war? Vielleicht hat­
te Labude recht gehabt? Vielleicht war es wirklich nicht nötig,
auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu warten?
Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war,
tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? War
die moralische Forderung nur deswegen uneinlösbar, weil sie
sinnlos war? War die Frage der Weltordnung nichts weiter als
eine Frage der Geschäftsordnung?

Labude war tot. Ihn hätte so etwas begeistert. In seine Pläne


hätte es sich eingefügt. Fabian saß im Wartesaal, dachte des
Freundes Gedanken und blieb apathisch.Wollte er die Besse­
rung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen.
Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er wünschte
jedem Menschen pro Tag zehn Hühner in den Topf, er wünsch­
te jedem ein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte je­
dem sieben Automobile, für jeden Tag der Woche eins. Aber
was war damit erreicht, wenn damit nichts anderes erreicht
wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde
gut, wenn es ihm gut ginge? Dann mußten ja die Beherrscher
der Ölfelder und der Kohlengruben wahre Engel sein!
Hatte er nicht zu Labude gesagt: »Noch in dem Paradies, das
du erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fres­
se vollhauen?« War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark
Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein menschenwürdi­
ger Abschluß?
Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen
die Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene
Zweifel, die seit langem in seinem Gefühl wie Würmer wühl­

EI N UN DZWAN ZIGSTES KAPITEL 177


ten. Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die
er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde dieser
Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht
schon in der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derar­
tig mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten?
War es nicht viel eher zum Blödsinnigwerden? War vielleicht
jene Planwirtschaft des reibungslosen Eigennutzes nicht nur
der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher erträgliche
Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regulative Bedeutung,
und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu
schaffen? War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie
zu einer Geliebten: >Ich möchte dir die Sterne vom Himmel
holen!< Dieses Versprechen war lobenswert, aber wehe, wenn
der Liebhaber es wahrmachte. Was finge die bedauernswerte
Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt bräch­
te! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hat­
te marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schweb­
te, weil er nicht schwer genug war, im Raum und lebte weiter.
Warum lebte er denn noch, wenn er nicht wußte, wozu? War­
um lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu gekannt hatte?
Es starben und es lebten die Verkehrten.
Im Feuilleton des Boulevardblattes, das auf seinen Knien
lag, sah er Cornelia wieder. »Juristin wird Filmstar«, stand groß
unter dem Foto. »Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg«, war
weiterhin zu lesen, »wurde von Edwin Makart, dem bekann­
ten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den näch­
sten Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film: >Die Masken der
Frau Z.<«
»Alles Gute«, flüsterte Fabian und nickte dem Bild zu. In der
anderen Zeitung sah er sie noch einmal. Sie trug einen impo­
santen Sommerpelz und saß in dem Auto, das er schon kannte,
am Steuer. Neben ihr hockte ein dicker, großer Mensch, an­
scheinend der Entdecker persönlich. Die Unterschrift bestä­
tigte die Vermutung. Der Mann wirkte brutal und verschlagen,
wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung. Edwin Makart, der
Mann mit der Wünschelrute, wurde vom Redakteur behaup­
tet; seine neueste Entdeckung heiße Cornelia Battenberg. Sie

178 FABIAN
repräsentiere als ehemaliger Referendar einen neuen Modetyp,
die intelligente deutsche Frau.
»Alles Gute«, wiederholte Fabian und starrte auf das Foto.
Wie lange war das her! Er blickte auf das Bild, als betrachtete
er ein Grab. Eine unsichtbare gespenstische Schere hatte sämt­
liche Bande, die ihn an diese Stadt fesselten, zerschnitten. Der
Beruf war verloren, der Freund war tot, Cornelia war in frem­
der Hand, was hatte er hier noch zu suchen?
Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen, ver­
wahrte die Ausschnitte im Notizbuch und warf die Zeitungen
fort. Nichts hielt ihn zurück, er verlangte dorthin, woher er ge­
kommen war: nach Hause, in seine Vaterstadt, zu seiner Mut­
ter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin, obwohl er noch
immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er wiederkom­
men? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten,
stand er auf, durchschritt die Sperre und setzte sich in den Zug,
der auf das Signal zur Abfahrt wartete.
Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr
rückte weiter. Nur fort!
Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die Felder und
Wiesen schwangen wie auf einer Drehscheibe. Die Telegrafen­
stangen machten Kniebeugen. Manchmal standen kleine bar­
füßige Bauernkinder mitten in der tanzenden Landschaft und
winkten mechanisch. Auf einer Weide graste ein Pferd. Ein
Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den Kopf.
Dann fuhren sie durch einen düsteren Fichtenwald. Die Stäm­
me waren von grauen Flechten bewachsen. Die Bäume standen
da, als seien sie aussätzig und als habe man ihnen verboten, den
Wald zu verlassen.
Ihm war, als suche jemand seine Augen. Er wandte sich um
und blickte ins Abteil. Die Mitreisenden, gleichgültige, gleich­
gültig dasitzende Leute, waren mit sich beschäftigt. Wer sah
ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie
rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht
rührte, winkte sie. Er trat hinaus.
»Es ist skandalös, wie wir beiden einander nachlaufen«, sag­
te sie. »Wo fährst du hin?«

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL 179


»Nach Hause.«
»Sei höflich«, meinte sie. »Frage mich gefälligst, wo ich hin
will.«
»Wo wollen Sie hin?«
Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: »Ich türme. Einer der
Schlafburschen hat mein Etablissement verpfiffen. Ich erfuhr
es heute morgen von einem Polizeibeamten, dessen Monatsge­
halt ich verdoppelt habe. Kommst du mit nach Budapest?«
»Nein«, sagte er.
»Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht
nach Budapest zu fahren. Wollen wir über Prag nach Paris?
Wir werden im Claridge wohnen. Oder wir gehen nach Fon­
tainebleau und mieten eine kleine Villa.«
»Nein«, sagte er. »Ich fahre nach Hause.«
»Komm mit«, bat sie. »Ich habe Schmuck bei mir. Wenn wir
blank sind, erpressen wir die alten Schachteln, die sich bei mir
beschlummern ließen. Ich kenne interessante Einzelheiten,
Gucklöcher haben ihr Gutes. Oder willst du lieber nach Ita­
lien? Was hältst du von Bellagio?«
»Nein«, sagte er, »ich fahre zu meiner Mutter.«
»Du verdammter Esel«, flüsterte sie ärgerlich. »Soll ich vor
dir niederknien und dir eine Liebeserklärung machen? Was
hast du gegen mich? Bin ich dir zu aufgeklärt? Ist dir eine dum­
me Gans lieber? Ich habe es endlich satt, nach der ersten besten
Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir begegnen einander im­
mer wieder. Das kann kein Zufall sein.« Sie faßte seine Hand
und streichelte seine Finger. »Ich bitte dich, komm mit.«
»Nein«, sagte er. »Ich komme nicht mit. Reisen Sie gut.« Er
wollte wieder ins Abteil.
Sie hielt ihn zurück. »Schade, jammerschade. Vielleicht ein
andres Mal.« Sie öffnete ihre Handtasche. »Brauchst du Geld?«
Sie wollte ihm ein paar Banknoten in die Hand stecken. Er
schloß die Hand zur Faust, schüttelte den Kopf und ging ins
Kupee.
Sie blieb noch eine Weile vor der Tür des Abteils und sah ihn
an. Er blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf.

180 I' A B 1A N
Es war gegen sechs Uhr abends, als er ankam. Er trat aus dem
Bahnhof und sah die Dreikönigskirche. Ihm schien, sie mu­
sterte ihn von oben herunter: Warum holt dich heute niemand
ab, und warum kommst du ohne Koffer?
Er ging den Dammweg entlang und durchschritt den alten
Viadukt. Ein endloser Güterzug ratterte drüber hin, die Stein­
wölbung dröhnte. Das Haus, in dem früher der Lehrer Schan­
ze gewohnt hatte, war frisch gestrichen. Die anderen Häuser
standen unverändert in ihrer grauen, ihm seit der Kindheit be­
kannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme Schröder
gehörte, war ein neues Geschäft eröffnet worden, ein Flei­
scherladen, noch standen die Blumenstöcke im Schaufenster.
Langsam näherte er sich dem Haus, in dem er geboren war.
Wie vertraut ihm die Straße war. Er kannte die Fassaden, er
kannte die Höfe, Keller und Böden, überall war er hier behei­
matet. Aber die Menschen, die aus den Häusern und in die
Häuser traten, waren ihm fremd. Er blieb stehen. »Seifenge­
schäft« stand über einem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster.
Er las: »Nun auch Feinseifen herabgesetzt. Hausmarke Laven­
del zwanzig statt zweiundzwanzig Pfennige. Torpedoseife fünf­
undzwanzig statt achtundzwanzig Pfennige.« Er ging bis zur
Tür.
Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen stan­
den davor. Die Mutter bückte sich gerade und stellte ein Paket
Waschpulver auf den Tisch, dann schnitt sie einen Riegel Kern­
seife mittendurch. Dann nahm sie einen Bogen Packpapier und
einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem Faß, wog sie
ab und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch bis auf die
Straße.
Dann klinkte er die Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die
alte Frau sah auf und ließ erschrocken die Hände sinken.
Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: »Mutter,
Labude hat sich erschossen.« Und plötzlich liefen ihm die Trä­
nen aus den Augen. Er öffnete die Tür, die ins Hinterzimmer
führte, schloß sie wieder, setzte sich in den Lehnstuhl vorm
Fenster, blickte in den Hof hinaus, legte langsam den Kopf aufs
Fensterbrett und weinte.

I.ININDZWANZIGSTES KAPITEL 181


Zweiundzwanzigstes Kapitel

Besuch in der Kinderkaserne


Kegelschieben im Park
Die Vergangenheit biegt um die Ecke

»Was hat er denn?« fragte der Vater am nächsten Morgen.


»Seine Stellung hat er verloren«, sagte die Mutter. »Und sein
Freund hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seiner­
zeit in Heidelberg kennenlernte.«
»Ich wußte gar nicht, daß er einen Freund hatte«, meinte der
Vater. »Man erfährt ja nichts.«
»Du hörst nur nicht zu«, sagte die Mutter. Da läutete die La­
denglocke. Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der
Mann die Zeitung.
»Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt«,
fuhr sie fort. »Aber darüber spricht er sich nicht näher aus. Sie
hat Rechtsanwalt studiert und geht zum Film.«
»Schade um das Geld fürs Studium«, erklärte der Mann.
»Ein hübsches Mädchen«, sagte Fabians Mutter. »Aber sie
lebt mit einem dicken Kerl zusammen, einem Filmdirektor, das
reinste Brechmittel.«
»Wird er lange hierbleiben?« fragte der Vater.
Die Mutter zuckte die Achseln und goß sich Kaffee ein.
»Tausend Mark hat er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld
hinterlassen. Ich werde es aufheben. Der Junge hat einen Knacks
wegbekommen, ich kann mir nicht helfen. Und das hat nichts
mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin. Er
glaubt nicht an Gott, es muß damit Zusammenhängen. Ihm
fehlt der ruhende Punkt.«
»Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre ver­
heiratet«, sagte der Vater.

Fabian lief die Heerstraße entlang, an der Garnisonkirche und


den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreuten Platz vor der
Kirche war leer. Wann war das denn gewesen, daß er hier ge­
standen hatte, ein Soldat unter Tausenden, die Hosen lang, den

182 FABIAN
Helm auf dem Kopf, gerüstet zur feldgrauen Predigt, sieb­
zehnjährig, bereit zu hören, was der deutsche Gott seinen Ar­
meen mitteilen ließ? Er blieb am Tor der ehemaligen Fußar­
tilleriekaserne stehen und lehnte sich an die Eisenstäbe. Antre­
ten zum Dienstverlesen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum
Nachtdienst, Vortrag über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was
war alles auf diesem öden Hof geschehen. Hatte er hier nicht
gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie zum dritten und vierten
Male feldmarschmäßig abgeführt wurden, miteinander um ein
Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück sein werde?
Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform
wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung
am Leibe? Fabian ließ das Gitter los und ging weiter an den al­
ten protzigen Grenadier- und Infanteriekasernen vorbei. Hier
war der Park und die Schule, in der er jahrelang gesessen und
gelebt hatte, ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr und Lafet­
tenschwanz bekannt gemacht wurde. Die Straße, die sich zu
der Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlang­
gerannt, nach Hause, zur Mutter, auf wenige Minuten. Ob
Schule, Kadettenanstalt, Lazarett oder Kirche, an der Periphe­
rie dieser Stadt war jedes Gebäude eine Kaserne gewesen.
Noch immer lag das große graue Gebäude mit den schiefer­
gedeckten spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit
Kindersorgen angefüllt. Die Fenster der Direktionswohnung
waren noch immer mit weißen Gardinen geziert, im Gegensatz
zu den vielen schwarzen schmucklosen Fenstern, hinter denen
die Klassenzimmer, die Wohnräume der Schüler, die Schrank­
zimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer ge­
glaubt, das riesige Haus müsse nach der Seite, auf der die Di­
rektorwohnung lag, tief in die Erde sinken, so schwerwiegend
war ihm die Tatsache erschienen, daß hier Gardinen an den
Fenstern hingen. Er ging durch das Tor und stieg die Stufen hin­
auf. Aus den Klassenzimmern drangen dunkle und helle Stim­
men. Der leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Eta­
ge wehten Chorgesang und Klavierspiel. Fabian verschmähte
die breite Freitreppe, er kletterte im Seitenflügel die schmalen
Stufen hinan, zwei kleine Schüler kamen ihm entgegen.

ZW E I U N DZ WANZIGSTES KAPITEL 183


»Heinrich«, rief der eine, »du sollst sofort zum Storch kom­
men und die Hefte holen.«
»Der wird’s wohl erwarten können«, sagte Heinrich und
ging krampfhaft langsam durch die schwankende Glastür.
»Der Storchs dachte Fabian, »es hat sich nichts geänderte
Dieselben Lehrer waren noch da, die Spitznamen waren ge­
blieben. Nur die Schüler wechselten. Ein Jahrgang nach dem
andern wurde erzogen und gebildet. Früh läutete der Haus­
meister. Die Jagd begann: Schlafsaal, Waschsaal, Schrankzim­
mer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch, holten die
Butterdosen aus dem Eisschrank und die emaillierten Kaf­
feekannen aus dem Aufzug. Die Jagd ging weiter: Wohnzim­
mer, Staubwischen, Klassenzimmer, Unterricht, Speisesaal.
Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die Jagd
ging weiter: Freizeit, Gartendienst, Fußballspiel, Wohnzim­
mer, Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten
deckten den Tisch fürs Abendbrot. Die Jagd ging weiter:
Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal, Schlafsaal. Die Pri­
maner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten
im Park Zigaretten. Es hatte sich nichts geändert, nur die Jahr­
gänge wechselten.
Fabian stand in der dritten Etage und öffnete die Tür zur
Aula. Morgenandacht, Abendandacht, Orgelspiel, Kaisers Ge­
burtstag, Sedanfeier, Schlacht bei Tannenberg, Fahnen im Turm,
Osterzensuren, Entlassung der Einberufenen, Eröffnung der
Kriegsteilnehmerkurse, immer wieder Orgelspiel und Festre­
den voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und
Freiheit hatte sich in der Atmosphäre dieses Raumes festge­
bissen. Ob es noch so wie früher war, daß man, kam ein Leh­
rer vorüber, strammstehen mußte? Mittwochs gab es zwei und
sonnabends drei Stunden Ausgang. Ob man immer noch,
wenn der Ausgang entzogen worden war, vom Inspektor an­
gehalten wurde, Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpa­
pier zu verwandeln?
War es denn nicht auch manchmal schön gewesen? Hatte er
immer nur die Lüge gespürt, die hier umging, und die böse
heimliche Gewalt, die aus ganzen Kindergenerationen ge­

184 !■ A B 1 A N
horsame Staatsbeamte und bornierte Bürger machte? Es war
manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die
Aula und stieg die düstere Wendeltreppe zu den Wasch- und
Schlafsälen hinauf. In langer Front standen die eisernen Bett­
stellen. An den Wänden hingen die Nachthemden militärisch
ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren die Primaner
aus dem Park heraufgekommen und hatten sich zu erschrok-
kenen Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die Klei­
nen hatten geschwiegen. Ordnung mußte sein. Er trat ans Fen­
ster. Unten im Flußtal schimmerte die Stadt mit ihren alten
Türmen und Terrassen. Wie oft war er, wenn die anderen
schliefen, hierher geschlichen, hatte hinabgeblickt und das
Haus gesucht, in dem die Mutter krank lag. Wie oft hatte er den
Kopf an die Scheiben gepreßt und das Weinen unterdrückt. Es
hatte ihm nicht geschadet, das Gefängnis nicht und das unter­
drückte Heulen nicht, das war richtig. Damals hatte man ihn
nicht klein gekriegt. Ein paar hatten sich erschossen. Es waren
nicht viele gewesen. Im Krieg hatten schon mehr daran glau­
ben müssen. Später waren noch etliche gestorben. Heute war
die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen hinunter, ver­
ließ das Gebäude und ging in den Park. Mit Reisigbesen und
Schaufeln und spitzen Stöcken waren sie hinter einem Hand­
wagen hergetrabt, hatten welkes Laub zusammengekehrt und
Papier, das herumlag, aufgespießt. Der Park war groß, er senk­
te sich zu einem kleinen Bach hinab.
Fabian lief auf den alten, vertrauten Pfaden, setzte sich auf
eine Bank, blickte in die Wipfel der Bäume, ging weiter und
wehrte sich vergeblich dagegen, daß ihn das, was er sah, zu­
rückverwandelte. Die Säle und Zimmer und Bäume und Bee­
te, die ihn umgaben, waren keine Wirklichkeit, sondern Erin­
nerungen. Hier hatte er seine Kindheit zurückgelassen, und
nun fand er sie wieder. Sie sank von den Zweigen und Wänden
und Türmen auf ihn herab und bemächtigte sich seiner. Er
schritt immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er
kam zur Kegelbahn, die Kegel standen schußfertig. Fabian sah
sich um, er war allein, da nahm er eine Kugel aus dem Kasten,
holte aus, lief vor und ließ die Kugel über die Bahn rollen. Sie

ZWE I U N DZ WAN ZIGSTES KAPITEL t85


machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn war immer noch un­
eben. Sechs Kegel fielen klappernd um.
»Was soll denn das?« fragte jemand ärgerlich. »Fremde ha­
ben hier nichts zu suchen!« Es war der Direktor. Er hatte sich
kaum verändert. Sein assyrischer Bart war nur noch grauer ge­
worden.
»Entschuldigen Sie«, sagte Fabian, zog den Hut und wollte
sich entfernen.
»Einen Augenblick«, rief der Direktor. Fabian drehte sich um.
»Sind Sie nicht ein ehemaliger Schüler von uns?« fragte der
Mann. Dann streckte er die Hand aus. »Natürlich, Jakob Fa­
bian! Herzlich willkommen! Das ist nett. Haben Sie Sehnsucht
nach Ihrer alten Schule gehabt?« Sie begrüßten sich.
»Eine böse Zeit«, sagte der Direktor. »Eine gottlose Zeit.
Die Gerechten müssen viel leiden.«
»Wer sind die Gerechten?« fragte Fabian. »Geben Sie mir
ihre Adresse.«
»Sie sind immer noch der Alte«, meinte der Direktor. »Sie
waren immer einer der besten Schüler und einer der frechsten.
Und wie weit haben Sie es damit gebracht?«
»Der Staat ist im Begriff, mir eine kleine Pension zu bewil­
ligen«, sagte Fabian.
»Arbeitslos?« fragte der Direktor streng. »Ich hatte mehr
von Ihnen erwartet.«
Fabian lachte. »Die Gerechten müssen viel leiden«, erklärte
er.
»Hätten Sie nur damals Ihr Staatsexamen gemacht«, sagte
der Direktor. »Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da.«
»Ich stünde in jedem Fall ohne Beruf da«, entgegnete Fabi­
an erregt.
»Auch wenn ich ihn ausübte. Ich kann Ihnen verraten, daß
die Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen
nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist ka­
putt, aber hier, in diesem Haus, merkt das niemand. Ihr fahrt
nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von der Sexta bis
zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?«
Der Direktor schob die Hände unter die Flügel seines Geh­

186 IABIAN
rocks und sagte: »Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für
Sie? Gehen Sie hin und bilden Sie Ihren Charakter, junger
Mensch! Wozu haben wir Geschichte getrieben? Wozu haben
wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre Persönlichkeit ab!«

Fabian betrachtete den wohlgenährten, selbstgefälligen Herrn


und lächelte. Dann sagte er: »Sie mit Ihrer abgerundeten Per­
sönlichkeit!« und ging.

Auf der Straße traf er Eva Kendler. Sie kam mit zwei Kindern
daher und war ziemlich dick geworden. Er wunderte sich, daß
er sie überhaupt erkannte.
»Jakob!« rief sie und wurde rot. »Du hast dich gar nicht ver­
ändert. Sagt dem Onkel Guten Tag!« Die Kinder gaben ihm die
Hand und machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sa­
hen ihrer Mutter ähnlicher als sie sich selber.
»Wir sind uns mindestens zehn Jahre nicht begegnet«, sagte
er. »Wie geht’s dir? Wann hast du geheiratet?«
»Mein Mann ist Oberarzt im Carolahaus«, erzählte sie. »Da
kann man keine großen Sprünge machen. Zu einer eigenen
Praxis reicht es nicht. Vielleicht geht er mit Professor Wands-
beck nach Japan. Wenn es sich lohnt, fahre ich mit den Kindern
nach.« Er nickte und betrachtete die beiden kleinen Mädchen.
»Damals war es schöner«, sagte sie leise. »Weißt du noch,
wie meine Eltern verreist waren? Siebzehn Jahre war ich alt.
Wie die Zeit vergeht.« Sie seufzte und strich den kleinen Mäd­
chen die Matrosenkragen glatt. »Ehe man recht dazu kommt,
sein eigenes Leben zu haben, trägt man schon wieder Verant­
wortung für seine Kinder. Dieses Jahr fahren wir nicht einmal
an die See.«
»Das ist natürlich schrecklich«, meinte er.
»Ja«, sagte sie, »da wollen wir mal gehen. Auf Wiedersehen,
Jakob.« »Auf Wiedersehen.«
»Gebt dem Onkel die Hand!«
Die kleinen Mädchen machten Knickse, drängten sich an die
Mutter und zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch eine Wei­
le stehen. Die Vergangenheit bog um die Ecke, mit zwei Kin­

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL 187


dern an der Hand, fremd geworden, kaum wiederzuerkennen.
>Du hast dich gar nicht verändert«, hatte die Vergangenheit zu
ihm gesagt.

»Wie war’s?« fragte die Mutter. Sie standen, nach dem Mittag­
essen, im Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus.
»Ich war oben bei den Kasernen. In der Schule war ich auch.
Und dann habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat
sie. Der Mann ist Arzt.«
Die Mutter zählte die Pakete, die sie ins Regal geräumt
hatte. »Die Eva? Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie
war das gleich? Du kamst doch damals zwei Tage nicht nach
Hause.«
»Ihre Eltern waren verreist, und ich mußte einen mehrtägi­
gen Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und ich lö­
ste meine Aufgabe sehr gewissenhaft und mit wahrhaft sitt­
lichem Ernst.«
»Ich war damals in Sorge«, sagte die Mutter.
»Aber ich schickte dir doch eine Depesche!«
»Depeschen sind etwas Unheimliches«, erklärte sie. »Über
eine halbe Stunde saß ich davor und traute mich nicht, sie zu
öffnen.«
Er reichte die Pakete, die Mutter schichtete auf. »Wäre es
nicht besser, wenn du hier eine Stellung suchtest?« fragte sie.
»Gefällt es dir gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die
Wohnstube ziehen. Hier sind auch die Mädchen netter und
nicht so verrückt. Vielleicht findest du doch eine Frau.«
»Ich weiß noch nicht, was ich mache«, sagte er. »Es kann
sein, daß ich hierbleibe. Ich will arbeiten. Ich will mich betäti­
gen. Ich will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich
keines finde, erfinde ich eines. So geht es nicht weiter.«
»Zu meiner Zeit gab es das nicht«, behauptete sie. »Da war
Geldverdienen ein Ziel, und Heiraten und Kinderkriegen.«
»Vielleicht gewöhne ich mich daran«, meinte er. »Wie sagst
du immer?«
Sie hielt im Packen inne und sagte mit Nachdruck: »Der
Mensch ist ein Gewohnheitstier.«

188 l-ABI AN
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Pilsner Bier und Patriotismus
Türkisches Biedermeier
Fabian wird gratis behandelt

Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der


Brücke aus sah er die weltberühmten Gebäude wieder, die er,
seit er denken konnte, kannte: das ehemalige Schloß, die ehe­
malige Königliche Oper, die ehemalige Hofkirche, alles war
hier wunderbar und ehemalig. Der Mond rollte ganz lang­
sam von der Spitze des Schloßturms, als gleite er auf einem
Draht. Die Terrasse, die sich am Flußufer erstreckte, war mit
alten Bäumen und ehrwürdigen Museen bewachsen. Diese
Stadt, ihr Leben und ihre Kultur befanden sich im Ruhestand.
Das Panorama glich einem teuren Begräbnis. Auf dem Alt­
markt traf er Wenzkat. »Nächsten Freitag ist Klassenzusam­
menkunft im Ratskeller«, erzählte Wenzkat. »Bist du dann
noch hier?«
»Ich hoffe«, sagte Fabian. »Wenn es irgend geht, erscheine
ich.« Er wollte rasch weiter, aber der andere lud ihn ein. Seine
Frau sei seit vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen zu Gaßmeier
und tranken Pilsner.
Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. »So geht
das nicht weiter«, schimpfte er. »Ich bin im Stahlhelm. Das Ab­
zeichen trage ich nicht. Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis,
öffentlich nicht festlegen. Doch das ändert nichts an der Sache.
Es gilt einen Verzweiflungskampf.«
»Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt«,
sagte Fabian. »Es kommt gleich zur Verzweiflung.«
»Vielleicht hast du recht«, rief Wenzkat und schlug auf die
Tischplatte. »Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!«
»Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist«, wandte
Fabian ein. »Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Mil­
lionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das
Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern
herumhaut?«

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL 189


»So war es immer in der Weltgeschichte«, sagte Wenzkat
entschieden und trank sein Glas leer.
»Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die Weltge­
schichte!« rief Fabian. »Man schämt sich, dergleichen zu lesen,
und man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzu-
trichtern.Warum muß es immer so gemacht werden, wie es
früher gemacht wurde? Wenn das konsequent geschehen wäre,
säßen wir heute noch auf den Bäumen.«
»Du bist kein Patriot«, behauptete Wenzkat.
»Und du bist ein Hornochse«, rief Fabian. »Das ist noch viel
bedauerlicher.«
Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichts­
halber das Thema.
»Ich habe einen glänzenden Einfall«, meinte Wenzkat. »Wir
gehen ein bißchen ins Bordell.«
»Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzlich
verboten.«
»Freilich«, sagte Wenzkat. »Verboten sind sie, aber es gibt
noch welche. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Du
wirst dich amüsieren.«
»Ich denke gar nicht daran«, erklärte Fabian.
»Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das übri­
ge ist fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, da­
mit ich meiner Frau keinen Kummer mache.«

Das Haus lag in einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinner­


te sich, als sie davorstanden, daß hier die Offiziere der Garni­
son ihre Orgien gefeiert hatten. Das war zwanzig Jahre her.
Das Haus sah unverändert aus. Wenn alles gut ging, wohnten
noch dieselben Mädchen drin. Wenzkat läutete. Im Haus nä­
herten sich Schritte. Ein Auge blickte starr durchs Guckloch.
Die Tür ging auf. Wenzkat sah sich besorgt um. Die Gasse war
leer. Sie traten ein.
Sie gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß mur­
melte, und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die
Haushälterin erschien und sagte: »Guten Tag, Gustav, läßt du
dich auch wieder mal bei uns blicken?«

190 FABIAN
»Flasche Sekt!« rief Wenzkat. »Ist die Lilly noch bei euch?«
»Nein, aber die Lotte. Ihr Hintern ist breit genug für dich.
Nehmt Platz!«
Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und
in türkischem Biedermeier eingerichtet. Die Lampe gab rotes
Licht. Die Wände waren getäfelt und mit ornamentalen Intar­
sien und nackten Frauen geschmückt, und zu beiden Seiten zo­
gen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich.
»Anscheinend schlechter Geschäftsgang«, sagte Fabian.
»Kein Mensch hat Geld«, erkärte Wenzkat. »Außerdem hat
sich die Branche überlebt.«
Dann traten zwei junge Frauen ins Zimmer und begrüßten
den Stammgast. Fabian saß in einer Ecke und betrachtete die
Szene. Die Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief
»Prost!«, und man trank.
»Lotte«, sagte Wenzkat, »zieht euch aus!«
Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. »Gut«, er­
klärte sie und ging mit den anderen aus dem Zimmer. Eine Mi­
nute später kamen sie nackt zurück und setzten sich zwischen
die Gäste.
Wenzkat sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf
Lottes Hinterteil. Sie kreischte, küßte ihn und drängte ihn, Be­
schwörungen murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwan­
den.
Nun saß Fabian mit der Haushälterin und zwei nackten
Frauen am Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. »Ist hier im­
mer so wenig los?« fragte er.
»Neulich, zum Sängerfest, waren wir gut besucht«, sagte die
Blondine und spielte nachdenklich mit ihren Brustwarzen.
»Da hatte ich an einem Tag achtzehn Männer. Aber sonst ist es
zum Sterben langweilig.«
»Wie im Kloster«, meinte die kleine Dunkle verloren und
schob sich näher.
»Noch eine Flasche?« fragte die Haushälterin.
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich habe nur ein paar Mark
eingesteckt.«
»Ach Quatsch!« rief die Blondine. »Gustav hat Geld genug.

DREI UNDZWANZ1GSTES KAPITEL 191


Außerdem hat er hier Kredit.« Die Haushälterin entfernte sich,
um die zweite Flasche zu holen.
»Kommst du zu mir rauf?« fragte die Blondine.
»Ich bemerkte schon ganz richtig, daß ich kein Geld habe«,
sagte er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte.
»Es ist zum Verzweifeln«, rief die Blondine. »Bin ich dazu
in den Puff gegangen, daß ich wieder zuwachse? Komm, und
bring das Geld in den nächsten Tagen vorbei!« Fabian lehnte
ab.
Wenig später kam Wenzkat wieder ins Zimmer und placier­
te sich neben die Blondine. »Jetzt brauchst du dich auch nicht
zu mir zu setzen«, sagte sie beleidigt. Nun erschien auch Lotte.
Sie hielt mit beiden Händen ihre Sitzfläche. »So ein Schwein!«
jammerte sie. »Immer diese Prügelei! Jetzt kann ich wieder drei
Tage nicht sitzen.«
»Da hast du noch zehn Mark«, sagte Wenzkat. Sie steckte
das Geld in den Halbschuh, und er schlug ihr, während sie sich
bückte, wieder hintendrauf. Sie machte böse Augen und woll­
te auf ihn losgehen.
»Setz dich hin!« befahl er. Dann legte er den Arm um die
Hüfte der Blondine und fragte: »Na, wollen wir?«
Sie betrachtete ihn prüfend und sagte: »Aber geprügelt wird
bei mir nicht. Ich bin für die richtige Machart.«
Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwen­
kend, voran.
»Ich sollte auf dich Obacht geben«, meinte Fabian.
»Ach, Mensch«, sagte der andere, »wer Sorgen hat, hat auch
Likör.« Dann folgte er der Frau.
Die Haushälterin brachte die zweite Flasche und schenkte
ein. Lotte schimpfte auf Wenzkat und zeigte die Striemen. Die
kleine Dunkelhaarige zupfte Fabian an der Jacke und flüsterte:
»Komm mal mit in mein Zimmer.« Er sah sie an, ihre Augen
waren groß und ernst auf ihn gerichtet. »Ich will dir was zei­
gen«, erklärte sie ruhig, und dann gingen sie zusammen hinaus.
Das Zimmer der kleinen nackten Person war genau so türkisch
und geschmacklos eingerichtet wie der Salon, aus dem sie ka­
men. Das Bett war über und über geblümt und mir Spitzen be-

192 FABIAN
sät. Die Bilder an der Wand waren sehr lächerlich. Ein elektri­
scher Ofen erwärmte die Luft. Das Fenster war offen. Drei
blühende Blumenstöcke standen davor.
Die Frau schloß das Fenster, trat zu Fabian, umarmte ihn
und streichelte sein Gesicht.
»Was wolltest du mir denn zeigen?« fragte er. Sie zeigte
nichts. Sie sagte nichts. Sie sah ihn an.
Er klopfte ihr freundlich den Rücken. »Ich habe doch aber
kein Geld«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf, knöpfte ihm die
Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend,
ohne sich zu rühren.
Er zuckte die Achseln, zog den Anzug aus und legte sich zu
ihr. Sie umfing ihn aufatmend. Sie gab sich ganz behutsam hin,
und ihre Augen hingen ernst an seinem Gesicht. Er wurde ver­
legen, als habe er eine Jungfer zur Leichtfertigkeit überredet.
Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich ihr Mund, und
sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung.
Hinterher brachte sie Wasser, träufelte aus zwei Flaschen
Chemikalien in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Hand­
tuch bereit.
Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabi­
an zu und war müde. Sie tranken die Flasche leer und verab­
schiedeten sich. Fabian drückte der kleinen Dunkelhaarigen
zwei Zweimarkstücke in die Hand. »Ich habe nicht mehr bei
mir«, sagte er leise. Sie sah ihn ernst an.
Dann gingen alle miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde
wieder laut, er war beschwipst. Plötzlich spürte Fabian eine
Hand in seiner Tasche und fand seine zwei Zweimarkstücke
wieder.
»Hältst du das für möglich?« fragte er den anderen. »Ich
habe der Kleinen ein paar Mark gegeben, und nun hat sie mir
das Geld wieder zugesteckt.«
Wenzkat gähnte laut und sagte: »Wo die Liebe hinfällt. Sie
hat es wahrscheinlich nötig gehabt. Übrigens, Jakob, wenn du
zur Klassenzusammenkunft kommen solltest, daß du nichts
erzählst! Und vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller.« Dann
ging er.

DREIUNDZWANZ1GSTES KAPITEL 193


Fabian machte noch einen Spaziergang. Die Straßen waren
kaum besucht. Die Straßenbahnen fuhren leer in die Depots.
Auf der Brücke blieb er stehen und sah auf den Fluß hinunter.
Die Bogenlampen spiegelten sich zitternd und waren wie eine
Serie kleiner ins Wasser gefallener Monde. Der Fluß war breit.
Es mußte im Gebirge geregnet haben. Auf den Hügeln, welche
die Stadt umgaben, brannten viele zwinkernde Lichter.
Während er hier stand, lag Labude aufgebahrt in einer Gru-
newaldvilla, und Cornelia lag bei Herrn Makart im Himmel­
bett. Sehr weit weg lagen sie beide. Fabian stand unter einem
anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein Fieber. Hier
hatte es Untertemperatur.

194 I ABI AN
Vierundzwanzigstes Kapitel
Herr Knorr hat Hühneraugen
Die Tagespost braucht tüchtige Leute
Lernt schwimmen!

Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro
von Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht.
Fabian fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten
zu vergeben hätte.
»Geh doch mal zu Holzapfel«, meinte Wenzkat. »Der ist in
der >Tagespost<.«
»Was treibt er denn dort?«
»Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Musik­
kritiken. Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag
abend. Auf Wiedersehen.«
Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die
Altstadt zu Holzapfel, der sei bei der »Tagespost« Redakteur.
Vielleicht könne ihm der behilflich sein. Die Mutter stand im
Laden und wartete auf Kunden. »Das wäre sehr schön, mein
Junge«, sagte sie. »Geh mit Gott!«
Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve,
mit einem baumlangen Herrn. Sie sahen einander mißgelaunt
an. »Wir kennen uns doch«, meinte der Herr und streckte die
Hand hin. Es war ein gewisser Knorr, ehemaliger Oberleut­
nant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener Einjährigen-
Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die
Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge
er von Tod und Teufel Tantieme.
»Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg«, sagte Fabian,
»oder ich spuck Ihnen drauf.«
Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstge­
meinten Rat und lachte betreten. Denn sie waren nicht allein
auf der Plattform.
»Was hab ich Ihnen denn getan?« fragte er, obwohl er das
wußte.
»Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL 195


herunterhauen«, sagte Fabian. »Da ich aber nicht bis zu Ihrer
geschätzten Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behel­
fen.« Und damit trat er Herrn Knorr derartig auf die Hühner­
augen, daß der die Lippen zusammenpreßte und ganz blaß
wurde. Die Umstehenden lachten, Fabian stieg ab und lief den
Rest des Wegs.

Holzapfel, der Klassenkamerad von einst, wirkte außeror­


dentlich erwachsen, trank Flaschenbier und versah ein paar
Bürstenabzüge mit Hieroglyphen. »Setz dich, Jakob«, sagte er.
»Ich muß die Vorschau fürs Rennen korrigieren, und einen
Sammelbericht über Klavierkonzerte. Lange nicht gesehen.
Wo hast du gesteckt? Berlin, wie? Ich führe gern mal wieder
hinüber. Man kommt nicht dazu. Dauernd viel zu tun und dau­
ernd Bier. Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß, die Kin­
der werden immer älter, die Freundinnen werden immer jün­
ger, wenn das mal keine Lungenentzündung gibt.« Während er
so vor sich hinfaselte, korrigierte und trank er ruhig weiter.
»Koppel hat sich scheiden lassen, er kam dahinter, daß ihn sei­
ne Frau mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein
guter Mechaniker. Bretschneider hat die Apotheke verkauft und
sich eine Klitsche angeschafft. Er züchtet rote Grütze und
Salzkartoffeln. Jedem für sein Geld, was ihm schmeckt. So, die
Klavierkonzerte können warten.« Er klingelte nach dem Boten
und schickte die Fahne mit der Rennvorschau in die Setzerei.
Dann erzählte Fabian, daß er eine Stellung suche, zuletzt habe
er Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Haupt­
sache, er finde hier in der Stadt ein Unterkommen.
»Von Musik verstehst du nichts. Vom Boxen auch nicht«,
stellte Holzapfel fest. »Vielleicht kann man dich im Feuilleton
brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches.«
Er hängte sich ans Telefon und sprach mit dem Direktor. »Geh
mal hin zu dem Kerl«, schlug er vor. »Erzähl ihm was Hüb­
sches. Er ist eingebildet, aber gelehrig.«
Fabian bedankte sich, erinnerte den andern an die Klassen­
zusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden.
»Doktor Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?« frag­

196 FABIAN
te der Direktor. »Sie haben Literaturgeschichte studiert? Au­
genblicklich ist keine Stellung frei. Doch das besagt nichts.
Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer brau­
chen. Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache
Sie mit dem Feuilletonchef bekannt. Wenn der Ihre Beiträge
ablehnt, haben Sie Pech gehabt. Sonst sind Sie mir als externer
Mitarbeiter willkommen.« Er wollte auf die Klingel drücken.
»Einen Moment, Herr Direktor«, sagte Fabian. »Ich danke
Ihnen für die Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist
arbeiten. Man könnte beispielsweise eine Beratungsstelle für
Inserenten einrichten, der Kundschaft zugkräftige Texte Vor­
schlägen und eventuell ganze Werbefeldzüge organisieren. Man
könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und syste­
matische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in
Kompagnie mit Großinserenten, lohnende Preisausschreiben
durchführen. Man könnte für die Abonnenten Boxabende und
ähnliche Volksfeste veranstalten.«
Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Unsere
Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden.«
»Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!«
»Nicht mit Hilfe von Fisimatenten«, erklärte der Direktor.
»Immerhin, ich werde mit unserem Insertionschef sprechen.
In bescheidener Dosierung sollte man vielleicht doch Maß­
nahmen ergreifen, denen wir uns auf die Dauer nicht völlig
werden entziehen können. Kommen Sie morgen um elf wieder.
Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten
mit. Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager ha­
ben.«
Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Inter­
esse.
»Wenn wir Sie engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten
Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heu­
te sehr viel Geld.«
»Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig.
»Nein«, sagte der Direktor, »für die Aktionäre.«

VIERUNDZWANZICSTES KAPITEL 197


Fabian saß im Cafe Limberg, trank einen Kognak und machte
sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er woll­
te, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsste­
henden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er
sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz
gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so betrü­
gen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmark­
scheine im Monat, Tag für Tag chloroformieren ? Gehörte er zu
Münzer und Konsorten?
Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein
nützliches Glied der Gesellschaft würde. Ein nützliches Glied
dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode
war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer
nicht die Hauptsache.
Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der »Ta­
gespost« unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterkriechen.
Zum Donnerwetter. Er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß,
dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu ent­
schieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend
Mark von Labude nehmen, ins Erzgebirge hinauffahren und in
irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein hal­
bes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes
Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die
Gipfel und die Spielzeugstädte von Schülerfahrten her. Er kann­
te die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und die armen geduck­
ten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das Erzgebir­
ge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht
wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Viel­
leicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den
Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark.
Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen.
Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fa­
bian wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangekom­
men, oder zwei Schritte zurück. Wohin sie sich auch drehte,
jede andere Lage war richtiger als die gegenwärtige. Jede ande­
re Situation war für ihn aussichtsreicher, ob es Kampf galt oder
Arbeit. Er konnte nicht mehr danebenstehen wie das Kind beim

198 r A B 1A N
Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo
sollte er zupacken, und mit wem sollte er sich verbünden? Er
wollte in die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her
zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und de­
nen, die ihm glichen.
Er trat aus dem Cafe. Aber war das nicht Flucht, was er vor­
hatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit
und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Viel­
leicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und
geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im
Welttheater?

Er blieb an Geschäften stehen, er sah Kleider, Hüte und Rin­


ge, und er sah doch nichts. An einem Korsettgeschäft kam er
wieder zu sich. Das Leben war eine der interessantesten Be­
schäftigungen, trotz alledem. Die Barockgebäude der Schloß­
straße standen noch immer. Die Erbauer und die ersten Mieter
waren lange tot. Ein Glück, daß es nicht umgekehrt war.
Fabian ging über die Brücke.
Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen
Brückengeländer balancierte.
Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte.
Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus,
sank in die Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom
Geländer hinunter in den Fluß.
Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten
sich um. Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah
den Kopf des Kindes und die Hände, die das Wasser schlugen.
Da zog er die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hin­
terher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die Fahrgäste
kletterten aus den Wagen und beobachteten, was geschah. Am
Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wieder.
Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.
Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.

VI ERUNDZWAN ZIGSTES KAPITEL 199


Fabian und die Sittenrichter

Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt
sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Ver­
schiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen
Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andre Frauen her­
umlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man,
temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal
Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu er­
wähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Be­
merkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schwein­
igel.
Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!
Durch Erfahrungen am eignen Leibe und durch sonstige
Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daß die Erotik in sei­
nem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte. Nicht,
weil er das Leben fotografieren wollte, denn das wollte und tat
er nicht. Aber ihm lag außerordentlich daran, die Proportionen
des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein Respekt vor dieser
Aufgabe war möglicherweise ausgeprägter als sein Zartgefühl.
Er findet das in Ordnung. Die Sittenrichter, die männlichen,
weiblichen und sächlichen, sind wieder einmal sehr betriebsam
geworden. Sie rennen, zahllos wie die Gerichtsvollzieher, durch
die Gegend und kleben, psychoanalytisch geschult, wie sie
sind, ihre Feigenblätter über jedes Schlüsselloch und auf jeden
Spazierstock. Doch sie stolpern nicht nur über die sekundären
Geschlechtsmerkmale. Sie werden dem Autor nicht nur vor­
werfen, er sei ein Pornograph. Sie werden auch behaupten, er
sei ein Pessimist, und das gilt bei den Sittenrichtern sämtlicher
Parteien und Reichsverbände für das Ärgste, was man einem
Menschen nachsagen kann.
Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat.
Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, um so mehr suchen
sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt,
was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon gibt, und
weil ihnen das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit

200 FABIAN
längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde,
fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten
der Phantasie, die Schriftsteller? Der Autor erwidert hierauf:
Ich bin ein Moralist!
Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht,
daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen,
einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtli­
che Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe anderer
vor ihm und außer ihm: Achtung! Beim Absturz linke Hand
am linken Griff!
Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar je­
der höchstselber, nicht immer nur der andere) und wenn sie es
nicht vorziehen, endlich vorwärts zu marschieren, vom Ab­
grund fort, der Vernunft entgegen, wo, um alles in der Welt, ist
dann noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der ein
anständiger Kerl ebenso aufrichtig schwören kann wie beim
Haupt seiner Mutter?
Der Autor liebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit. Er
hat mit der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand ge­
schildert, und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahr­
heit, eine Meinung dargestellt. Darum sollten sich die Sitten­
richter, ehe sie sein Buch im Primäraffekt erdolchen, dessen er­
innern, was er hier wiederholt versicherte.
Er sagte, er sei ein Moralist.

FABIAN UND DIE SITTENRICHTER 201


Fabian und die Kunstrichter

Die Sittenrichter meinen den Autor, die Kunstrichter meinen


das Buch.
Dieses Buch nun hat keine Handlung. Außer einer, mit
zweihundertsiebzig Mark im Monat dotierten Anstellung geht
nichts verloren. Keine Brieftasche, kein Perlenkollier, kein Ge­
dächtnis, oder was sonst im Anfang von Geschichten verloren
geht und im letzten Kapitel, zur allgemeinen Befriedigung,
wiedergefunden wird. Es wird nichts wiedergefunden. Der Au­
tor hält den Roman keineswegs für eine amorphe Kunstgat­
tung, und trotzdem hat er hier und dieses Mal, die Steine nicht
zum Bauen verwandt.
Man könnte beinahe vermuten, es handle sich um eine Ab­
sicht.
Es treten wichtige Personen auf und verschwinden vor der
Zeit. Es kommen unwichtige Leute daher und kehren mit ei­
ner Heftigkeit, die ihnen gar nicht zukommt, immer wieder.
Ein junger Mann erschießt sich. Ein anderer junger Mann er­
trinkt. Und beide Todesfälle sind äußerlich so wenig gerecht­
fertigt, beide Herren kommen derartig aus Versehen ums Le­
ben, daß man fragen könnte: Gab es denn keine zwingenden
Anlässe? Warum versagte der Autor ihrem Tod die Notwen­
digkeit?
Man könnte beinahe vermuten, es handle sich um eine Ab­
sicht.
Die Zahl der Dachziegel, die dem Menschen aufs Barhaupt
fallen können, wächst von Tag zu Tag. Die Dummheit dessen,
was geschieht, nimmt, vom zunehmenden Tempo des Gesche­
hens angeregt, imposante Ausmaße an. Der Zufall regiert, daß
sämtliche verfügbaren Balken knistern. Das Leben ist interes­
sant, das ist das einzig gute Haar in der Suppe, die wir aus­
zulöffeln die Ehre haben.
Der Zustand lebt mehr denn je vom Zufall. Wovon, so frag­
te sich der Autor, soll die Darstellung des Zustands leben? Je­
der Tag ist für den, der ihn erlebt eine Reise im verkehrten Zug

202 I ABIAN
ans falsche Ziel. Weil es viele Möglichkeiten gibt, und nur eine
davon kann Tatsache werden, verwirklicht sich das Unwahr­
scheinliche. Die Vernunft ging ins Exil. Der verworrene Zu­
stand und der ratlose Mensch blieben übrig. Wie ließ sich bei­
des am treffendsten auf den Leser übertragen? Wie konnte es,
wenn überhaupt, gelingen, den Leser so zu mobilisieren, daß
er nach der Lektüre womöglich aufsprang und auf den Tisch
schlug und ausrief: Dieser Zustand muß anders werden!
Das Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen
Aufbau und keine sinngemäß verteilten Akzente und keinen
befriedigenden Schluß.
Man vermutet richtig, ob man es nun für richtig hält oder
nicht: Es war so die Absicht!

1ABIAN UND DIE KUNSTRICHTER 203


DER HERR OHNE BLINDDARM
Der Herr ohne Blinddarm

Fabian stellte sich vor dem Chef auf. »Sie wollen mir eine Ge­
haltszulage aufdrängen?«
»Machen Sie keine Witze. Der Arzt hat mir das Lachen ver­
boten, weil sonst die Narbe platzen könnte.«
Fischer fand, die Gelegenheit sei günstig. Er kam näher und
erkundigte sich nach dem Befinden.
»Die Geschichte heilt sehr schwer«, bemerkte der Direktor
gemessen. »Das liegt am Bauch, lieber Fischer. Seien Sie froh,
daß Sie keinen Bauch haben. Sie mit Ihrer Konstitution kön­
nen einer Blinddarmentzündung gefaßt ins Auge sehen.«
Fischer lachte geschmeichelt. Breitkopf wurde rege. Die
Wunde sei noch immer nicht geheilt. Täglich müsse er zum
Arzt. Der Schnitt reiche von hier bis da. Er zeigte die Entfer­
nung auf der Weste. Und dann fragte er die beiden: »Wollen Sie
sich die Sache mal ansehen?«
Fischer dienerte. Fabian machte eine einladende Handbe­
wegung. Breitkopf ging zur Tür und schob den Riegel vor.
Dann zog er Jackett und Weste aus, warf sie aufs Sofa, streifte
die Hosenträger ab, ließ die Hosen herunter und knöpfte die
Unterhosen auf. »Sie wissen ja ungefähr, wie ein Mann aus­
sieht«, sagte er, hob das Hemd hoch und klemmte es unters
Kinn.
»Sie haben ein Korsett an, Herr Direktor!« rief Kollege Fi­
scher.
»Das trage ich nur, damit der Leib zusammengehalten wird.
Sonst hängt er herunter, und dann wäre die Heilung noch
schwieriger als jetzt. Los, haken Sie mal die Ösen auf! Aber
vorsichtig!«
Fischer waltete seines Amtes. Das Korsett lockerte sich.
Breitkopf nahm es fort, schmiß es zu Jackett und Weste und er­
klärte befehlend: »Nun sehen Sie sich mal die Schweinerei an!«
Die Bezeichnung war nicht unzutreffend. Quer über Breit­
kopfs Bauch, auf der südlichen Hälfte und dem Inhaber nicht
sichtbar, klebten Wattebäusche und ein vergilbter Gazestrei­

DER HERR OHNE BLINDDARM 207


fen. Der Direktor entfernte die Dinge und legte die breite, mit
Fäden gesteppte, entzündete Narbe bloß. »Sehen Sie sich’s nur
gründlich an«, sagte er.
Sie gingen vor dem haarigen, nackten Menschen, der noch
immer ihr Direktor war, in Kniebeuge. »Donnerwetter!« rief
Fischer. Er tat, als sähe er den Pik von Teneriffa oder das ach­
te Weltwunder. Breitkopf warf, soweit die Bemühung, das
Hemd mit dem Kinn festzuhalten, das zuließ, stolz den Kopf
zurück.
»Toll!« behauptete Fischer. »Und da liegen Sie nicht im
Bett? Das ist ja unverantwortlich.«
»Man kennt seine Pflicht«, meinte der Chef.
»Können Sie eigentlich von dort oben aus die Narbe se­
hen?« erkundigte sich Fabian. Er kauerte noch immer.
Breitkopf schüttelte das Haupt und sagte: »Nur im Spiegel.
Ich kann doch nicht um die Ecke gucken.«
Fischer lachte, weil es offensichtlich erwartet wurde, verlor
das Gleichgewicht und saß kichernd am Boden. An der Tür
klingelte jemand. »Geschlossene Gesellschaft!« rief Fischer. Im
Korridor entfernten sich Schritte. »Na, nun aber Schluß der Vor­
stellung!« sagte Fabian. Der Direktor kehrte ihnen die Rück­
seite zu und legte die Gaze und die Watte wieder vorsichtig
über den Bauch. Die Angestellten holten das Korsett vom Sofa
und banden es dem alten Nacktfrosch um. »Vorsichtig«, mein­
te er, »oben ins dritte Loch, unten ins zweite!«
Fabian fühlte das dringende Bedürfnis, Herrn Breitkopf ei­
nen Klaps auf die doppelbäckige Hängepartie zu geben. Doch
so einfach ist das Leben nicht, daß man unbedenklich seinen
Regungen frönen dürfte! Selbstbeherrschung ist nötig. Wo kä­
men wir hin, wollten wir jedem nackten Hinterviertel, das sich
uns aufdrängt eins versetzen! Während Fabian darüber nach­
dachte, was aus der Weltgeschichte alles hätte werden können,
wenn Josephine Beauharnais ihrem Bonaparte, späterem Na­
poleon I., gelegentlich, wenn nicht gar wiederholt und in re­
gelmäßigen Abständen, den Hintern vollgehauen hätte, zog
sich der Direktor wieder an. Fischer hielt Weste und Jackett
bereit.

208 DER HERR OHNE BLINDDARM


Breitkopf fuhr hinein, dankte flüchtig und fand sich langsam
wieder im zugeknöpften Zustande zurecht. Er erwartete Rück­
äußerungen.
»Es war sehr interessant«, behauptete Fischer.
»Es war geradezu aufschlußreich«, meinte Fabian und lä­
chelte dem dicken Mann ins Gesicht.
»Hoffentlich macht Ihnen nun Ihr Blinddarm nicht mehr zu
schaffen«, fügte Fischer im Gratulationston hinzu.
»Aber der ist ja doch raus«, sagte Fabian, »oder sollte man
Ihnen das Bauchfell aufgetrennt und zugenäht haben, ohne
den Blinddarm herauszuschneiden? Es kommen in dieser Hin­
sicht schreckliche Sachen vor. Ich weiß von Fällen, wo der
Chirurg eine Pinzette und, ein anderes Mal, eine Schere zwi­
schen den Därmen liegenließ. Einem Bekannten meiner Por­
tiersleute passierte das sogar zweimal. Er machte daraufhin
eine Eingabe an die Leitung des Krankenhauses: Man solle
doch, bequemlichkeitshalber, seinen Bauch zum Auf- und Zu­
knöpfen einrichten. Das Gesuch wurde abschlägig beschie-
den.«
»Machen Sie keine Witze mit dem armen Herrn Direktor!«
rief Fischer.
Breitkopf blickte Fabian streng an. »Reden wir von etwas
anderem.«
»Richtig, Sie waren vorhin so freundlich, eine Gehaltszulage
zu erwähnen. Wann kann ich damit rechnen?«
»Wer die Gehaltszulage erwähnte, waren Sie. Ich teilte Ih­
nen lediglich mit, daß die Firma mit Ihren Werbeentwürfen zu­
frieden ist. Das ist kein ausreichender Anlaß für Gehaltszu­
lagen. Um so weniger, als Sie häufig zu spät in den Betrieb
kommen. Sie verdienen Lob und Tadel gleichzeitig. Mit ande­
ren Worten, Sie verdienen nicht mehr, als Sie verdienen.«
»Ich verdiene zu wenig! Was, glauben Sie, fange ich mit den
zweihundertzehn Mark an, die Sie mir monatlich überreichen
lassen?«
»Ich bin nicht neugierig«, antwortete Herr Breitkopf ge­
reizt. »Die Privatangelegenheiten unserer Angestellten sind
nicht meine Sache. Übrigens, warum kommen Sie so oft zu

DER HERR OHNE BLINDDARM 209


spät? Haben Sie etwa noch einen Nebenberuf? Dazu bedürfte
es unserer ausdrücklichen Genehmigung.«
»Ich habe aber trotzdem einen.«
»Sie, Sie haben einen Nebenberuf? Dacht ich mir’s doch!
Was tun Sie denn?«
»Ich lebe«, sagte Fabian.
»Leben nennen Sie das?« schrie der Direktor. »In Tanzsälen
treiben Sie sich rum! Leben nennen Sie das? Sie haben ja kei­
nen Respekt vorm Leben!«
»Nur vor meinem Leben nicht, mein Herr!« rief Fabian und
schlug ärgerlich auf den Tisch. »Aber das verstehen Sie nicht,
und das geht Sie nichts an! Es besitzt nicht jeder die Ge­
schmacklosigkeit, die Tippfräuleins über den Schreibtisch zu
legen. Verstehen Sie das?«
Fischer hatte sich auf seinen Stuhl gesetzt, war blaß gewor­
den und tat, als schreibe er. Breitkopf hielt mit beiden Händen
die Weste fest; er fürchtete offensichtlich, die Narbe könne vor
Wut zerspringen. »Wir sprechen uns noch«, stieß er hervor,
drehte sich um und wollte die Tür aufreißen. Sie öffnete sich
nicht. Er rüttelte daran. Er bekam einen roten Kopf. Der Ab­
gang war verunglückt.
»Sie ist verriegelt«, sagte Fabian. »Sie wurde von Ihnen sel­
ber verriegelt, des Blinddarms wegen.

210 DER HERR OHNE BLINDDARM


DIE DOPPELGÄNGER
Erstes Kapitel
Das vegetarische Attentat

Karl verriegelte die Tür seines Zimmers. Dann sah er sich um.
Was blieb zu tun? Draußen regnete es unaufhörlich, und die
Scheiben zitterten. Wer heute aus dem Fenster springen woll­
te, durfte den Schirm nicht vergessen. Karl ergriff die Wasser­
karaffe, trat zu seinen Topfblumen und begoß sie. Die weiße
Azalee, die Dutzende schneeweißer Blüten trug, schluckte das
Wasser wie ein dürstender Mund. Nun war die Karaffe leer.
Karl stellte sie aufs Fensterbrett, nickte den Blumen zu und
setzte sich auf das dunkelrote Plüschsofa. Auf der gehäkelten
Tischdecke lagen einige Briefe. Die Wirtin würde sie morgen
in den Briefkasten werfen.
In diesem Augenblick klopfte es. Es klopfte dreimal. »Wer
ist da?« fragte Karl.
»Maximilian Seidel«, antwortete eine tiefe, schwerfällige
Stimme. »Ich bin Weinreisender und habe Ihnen ein Angebot
zu machen.«
»Kommen Sie ein ander Mal!«
»Ein ander Mal ist es zu spät«, erwiderte die tiefe, schwer­
fällige Stimme. »Ich muß Sie sprechen.«
»Scheren Sie sich fort!«
»Nein«, sagte die Stimme, und die verriegelte Tür öffnete
sich. Ein großer, bauchiger Mann trat ins Zimmer. Er schaute
sich suchend um, nahm den Hut ab und erklärte: »Hübsch ha­
ben Sie’s hier!« Dann setzte er sich umständlich in einen der
dunkelroten Plüschsessel und legte eine Ledermappe auf den
Tisch. Den Hut schob er auf die Mappe.
»Was wollen Sie?« fragte Karl. »Ich bin nicht gewöhnt, mich
mit Menschen zu unterhalten, vor denen verriegelte Türen auf­
springen.«
Der andere schien nicht zuzuhören. Nachdenklich, beinahe
traurig, betrachtete er ein Glas Wasser, das mitten auf dem
Tisch stand, holte asthmatisch Luft, lächelte langsam und sag­
te: »Die Sache ist die - Gott schickt mich zu Ihnen.«

DAS VEGETARISCHE ATTENTAT 213


Karl runzelte die Stirn. Dann beugte er sich zu einer Etage­
re, die neben dem Sofa stand, ergriff eine Zigarrenkiste und
fragte: »Rauchen Sie?«
»Ich bin so frei«, entgegnete der Weinreisende, nahm eine
Zigarre, biß ihr die Spitze ab und ließ sich Feuer geben. Nach
einigen Zügen fragte er: »Fünfundzwanzig Pfennige?«
»Zwanzig.«
»Sehr preiswert.«
Die beiden Männer blickten einander nicht an.
»Ich erwähnte bereits«, fuhr Herr Seidel schließlich fort,
»daß ich nicht als Weinreisender komme. Gott schickt mich.
Er läßt Ihnen sagen, Sie möchten sich unverzüglich aufmachen
und sich selber suchen.«
Karl stand auf. Er ging zum Schrank hinüber, holte eine
Flasche heraus und hielt sie gegen das Licht. »Einen alten
Korn?«
Der seltsame Gast blies blaue Rauchringe in die Luft. »Sei’s
drum«, erwiderte er und schaute hinter einem der hochschwe­
benden, größer und blässer werdenden Ringe her.
Karl schenkte zwei Schnapsgläser voll und stellte sie auf den
Tisch. Herr Maximilian Seidel ergriff sein Gläschen, machte
eine knappe Verbeugung, murmelte: »Wohl bekomm’s!« und
trank.
»Ich soll mich suchen?« fragte Karl. »Sie kennen mich nicht.
Ich habe nichts anderes getan!«
Der Weinreisende hustete herzhaft, erhob sich, spazierte
über den Teppich und blieb vor den Blumen stehen. »Die wei­
ße Azalee hat noch immer Durst«, sagte er entschlossen, kehr­
te zum Tisch zurück, holte das Trinkglas, das mitten auf der
Häkeldecke stand, und goß das Wasser behutsam, als sei’s Me­
dizin, in den Blumentopf.
Karl schloß erschöpft die Augen.
Als er sie öffnete, saß Maximilian Seidel wieder neben ihm
und meinte gutmütig: »Ich bin kein sehr bedeutender Engel.
Wirklich nicht. Aber ich bin zuverlässig und habe ein ausge­
zeichnetes Gedächtnis. Ich kann noch heute die Jahreszahlen
aller deutschen Kaiser auswendig. Soll ich?«

214 DIE DOPPELGÄNGER


»Nein«, erwiderte Karl. »Ich wüßte keinen Kaiser, der mir
helfen könnte.«
Der andere wiegte bedächtig den Kopf. »Man darf nicht ver­
zweifeln. Sie sollen von hier fortgehen und sich suchen.«
»Soll ich mich auch finden?«
»Nicht, bevor Sie sich begegnet sind.«
»Ich werde mir begegnen?« fragte der junge Mann betroffen.
Der Engel, der Seidel hieß, nickte wieder.
»Wo?« fragte Karl.
»Droben im Gebirge. Im Kreis Friedberg. Dort gibt es einen
Menschen, der Ihnen gleicht. Er ist Ihr Ebenbild. Wir fanden
ihn, als wir Ihretwegen in der Gegenwart nachschlugen.«
»Wann soll ich gehen?« fragte Karl.
»Sofort!« Der Weinreisende erhob sich ächzend. »Ihre Rei­
se duldet keinen Aufschub. Brauchen Sie Geld?«
»Nein.«
Der Engel holte ein Notizbuch aus der Rocktasche, klappte
es auf und strich eine Eintragung durch. »Das wäre erledigt«,
meinte er. »Ein Engel hat es nicht leicht.« Karl stand auf. »Das
glaub ich gern.« Der andere steckte das Notizbuch weg und
griff nach seinem Hut und der Aktentasche. »Besten Dank für
die Zigarre und den alten Korn.«
»Nicht der Rede wert«, sagte Karl.
Der Weinreisende schüttelte den Kopf. »Viele werden ärger­
lich, wenn man ihnen mitteilt, daß man ein Engel ist. Sie sträu­
ben sich wie Kinder. Sie wollen die Wahrheit nicht glauben.«
Er drehte sich um und betrachtete prüfend die weiße Azalee.
Sie war gestorben. Die Blüten lagen, rostbraun und welk, auf
dem Teppich. Der Stamm war verdorrt. Die Blätter krümmten
sich im Todeskrampf. Pflanzen sterben, ohne einen Laut von
sich zu geben.
»Merkwürdiges Wasser trinkt man hier«, stellte Maximilian
Seidel fest.
Karl senkte den Kopf und antwortete nicht.
»Sehr merkwürdiges Wasser. Viel später hätte ich kaum
kommen dürfen.«
»Wie heißt der Mann, dem ich gleiche?« fragte Karl leise.

DAS VEGETARISCHE ATTENTAT 2D


Der Engel hob abwehrend die Hand. »Alles zu seiner Zeit.«
Er schaute sich um, als habe er etwas Wichtiges vergessen. Dann
nahm er die Briefe vom Tisch.
»Ich werde sie besorgen.«
Karl erschrak. »Das hat jetzt keinen Sinn mehr«, sagte er ha­
stig.
»Ich tue meine Pflicht«, antwortete der andere. »Mein Auf­
trag lautet so.« Er verwahrte die Briefe aufs sorgfältigste,
schwenkte den Hut und wandte sich zur Tür.
Die Tür ging von selber auf. Maximilian Seidel bückte sich
und verließ das Zimmer.
Karl war allein. Nachdenklich betrachtete er den vergifteten,
zerstörten Strunk, der noch vor zehn Minuten eine weißblü­
hende Azalee gewesen war.
Plötzlich stand, verlegen hüstelnd, der Engel wieder im
Zimmer und meinte: »Entschuldigen Sie, ich habe meine Zi­
garre vergessen.« Er nahm die noch glimmende Zigarre vom
Aschenbecher, lächelte und verschwand. Karl blickte hinter­
drein und sagte: »Gott befohlen!«

216 DIE DOPPELGÄNGER


Zweites Kapitel
Die dreifältige Nase

»Also gut!< dachte Karl. »Also gut, leben wir weiter!*


Sein Koffer stand im Handgepäckraum des Bahnhofs Zoo.
In zwei Stunden ging der Zug nach Friedberg. Karl hatte Zeit.
Er saß in einem der großen Kaffeehäuser, die mit ihren Leucht­
fronten aufdringlich zu der dunklen, verlassenen Gedächtnis­
kirche hinüberzwinkern.
Das Cafe, in dem er saß, gehörte zu jenen Betonpalästen, die
lediglich aus dem Dach und aus vier Wänden bestehen, an de­
ren Innenseiten, in Stockwerken gestaffelt und durch breite
Wendeltreppen verbunden, Emporen und Balkone kleben.
Hinter den Brüstungen sitzen, in jedem Stock, viele Menschen,
blicken um sich, unter sich oder über sich, trinken etwas War­
mes oder etwas Kaltes und unterhalten sich oder suchen Un­
terhaltung. Im Parterre bietet eine Kapelle Konzertstücke dar,
die man bis zum Überfluß kennt. Und in den Konzertpausen
spielt in einem der Stockwerke eine Jazzband zum Tanz, der
auf abseits gelegenen Parkettflächen stattfindet.
Solche Kaffeehäuser ähneln pompösen Theatern, bei deren
Bau der Architekt die Hauptsache vergaß: die Bühne. Und in
jedem Augenblick, glaubt man, könne und müsse der Gong er­
tönen, der Lärm verstummen und die Vorstellung beginnen.
Doch die Bühne fehlt ja. Und die Zuschauer sitzen wartend da,
lächeln, sind laut und wissen: »Wir warten vergeblich.*
Karl saß im Parterre und trank Bier. Er hob den Kopf und
betrachtete die schreiend illuminierten Ränge und ihre mit ver­
geblich wartenden Menschen vollgestopften Logen und Ni­
schen. Nein, er hatte nicht damit gerechnet, dergleichen wie­
derzusehen.
Es war neun Uhr am Abend. »Eigentlich bin ich seit einer
Stunde tot«, dachte Karl. »Es sollte keine Engel geben. Ein En­
gel namens Seidel hat mich zum transletalen Dasein gezwun­
gen. Da haben wir’s: Es gibt ein Fortleben nach dem Tode!*
Er war nicht glücklich. Er hatte von ganzem Herzen ge­

rn E DREIFÄLTIGE NASE 2I7


wünscht, zu sterben. Er hatte sein Ende planmäßig vorberei­
tet. Ohne Koketterie, ohne Haß und ohne Hast. Daran, daß ins
Jenseits Tapetentüren führten, hatte er nie geglaubt. Und nun
hatte ein mit Wein reisender Engel letzte Grüße in den Brief­
kasten geworfen! Er war tot und lebte weiter. Und eine über
und über weißblühende Azalee war statt seiner mit Gottes Hil­
fe und mit Hilfe einer kolloiden Lösung in wenigen Minuten
verwelkt und gestorben. Ein Selbstmord hatte sich in ein At­
tentat auf eine Topfpflanze verwandelt.
Karl glich einem Mann, dem alle Ärzte übereinstimmend
versichert haben: spätestens am 31. Mai sei er tot. Doch am
1 .Juni muß er feststellen, daß er lebt, und muß mutmaßen, daß
er noch lange weiterleben wird. Solch ein Mann ist übel dran.
Er hat sich mit seinen Freunden verfeindet, damit sie ihn, stür­
be er, nicht beweinen müssen. Sein Geld und die geheimsten
Wünsche hat er verjubelt. Sein Haus hat er abgeschlossen, und
der Schlüssel zum Tor liegt unter der Brücke im Fluß. Er hat
sich vom Leben ausgesperrt, weil er sterben muß - und nun
stirbt er nicht! Was soll er tun? Er ist nicht tot und nicht am
Leben. Der Sinn des Daseins ist verblüht. Gäbe es Klöster für
Ungläubige, dorthin müßte so ein Mensch. Aber solche Klö­
ster gibt es nicht, und fremd, frierend und zwecklos steht er
unterm Himmel.
Grab und Begräbnis sind bestellt. Die Träger kommen, den
Sarg zu holen. Der Sarg ist leer. Und die livrierten Männer mit
den schwarzen silberbordierten Dreispitzhüten kehren traurig
um. So traurig waren sie bei noch keinem Leichenbegängnis!
Draußen auf dem Kirchhof blickt der Tote, der nicht hat
sterben können, hinter einem Baum hervor und zum eignen
Grab hinüber. Es regnet. Das Männerquartett steht unter Schir­
men und trägt Schals. Atemlos kommt der Sakristan des Wegs.
Die Feierlichkeit könne nicht stattfinden. Der Tote sei flüchtig!
Als alle andern gegangen sind, tritt der Mann hinterm Baum
vor, wirft drei Hände Kies in seine Grube und entfernt sich
verwirrt. Was wird er beginnen? Im Ernst, was beginnt solch
ein Mensch?
Karl griff in die linke Brusttasche, holte einen Bleistift und

218 DIE DOPPELGÄNGER


etliche weiße Zettel heraus und sah sich um, ohne etwas zu se­
hen. Wie durch Dutzende schwerer Portieren gedämpft, dran­
gen Lärm und Musik zu ihm. Er senkte den Kopf, runzelte die
Stirn, nahm einen der Zettel und schrieb:
»Rahmennotiz zu epischem Stoff: i. Station. Ein Mann, Mit­
te 30, soll aus medizinischen Gründen zu fixem Termin ster­
ben. Glaubt Diagnose. Richtet Lebensrest auf terminiertes
Ende ein. Verwirklicht - fieberhaft - seelisch, abenteuerlich, fi­
nanziell usw. alles bisher Versagte; Notwendiges und Über­
flüssiges. Läßt sich ausbluten.Termin kommt und vergeht: der
Mann lebt weiter! Als Fehldiagnose. Tatbestand: alle Brücken
abgebrochen. Alle Fäden zerschnitten. Monate ohne Fenster.
Robinson im Tunnel. Lebender Leichnam.
2. Station. Was nun? Rekapitulation der Geburt. Vorausset­
zungsloses Dasein ab ovo. Neues Milieu. Herr Nemo. Neue
Bindungen. Ende als Voraussetzung für Anfang.
3. Station. Unausbleibliche Komplikationen: Begegnung
mit Vergangenheit. Auferstehung der Lebenden. Zweierlei Ag­
gregatzustände der gleichen Person. Explosive Mischung. Ex­
plosion? Oder? Was soll werden?«
Karl steckte den eng beschriebenen Zettel in die Tasche,
lehnte sich weit zurück und zog die Brauen hoch.
»Der Herr noch ein Pilsner?« fragte jemand. Es war der Re­
vierkellner. Karl nickte gleichgültig. Der Ober nahm das leere
Glas vom Tisch und verschwand. Als er, nach kurzer Zeit, das
zweite Pilsner brächte, hatte er Gelegenheit, sich über den Gast
zu wundern. Der Gast lächelte ihm zu. Oder lächelte er mitten
durch ihn hindurch? »Haben Sie noch einen Wunsch?« fragte
der Kellner zuvorkommend.
Der Gast antwortete nicht, sondern schob einen weißen
Zettel vor sich hin, griff kopfschüttelnd zum Bleistift und mur­
melte: »Das sollten die Engel wissen!«
Der Ober zog sich verwirrt zurück.
Karl schrieb:
»Charakteristikum des Schriftstellers: Proponiert eignen
Todestag. Unumstößlicher Termin. Höhere Gewalt verhindert
Ausführung. Eine Stunde später skizziert Schriftst. bereits Stich­

D I E DREI! ■ÄI.TIGE NASE 219


worte zu Roman, Thema Fortleben nach Tod. Also eigene
Ausweglosigkeit wird selbsttätig und sofort objektiviert, wird
epischer Plan und somit - eigner Ausweg! (Oder nur schein­
bar?)
Bei Sehr. Erfahrung und Phantasie organisch verbunden wie
siamesische Zwillinge. Beider Mutter: die Neugier. Von der bil­
ligsten zur kostbarsten.«
Er steckte auch diesen Zettel in die Tasche, blickte um sich
und merkte, daß er wieder sah.
»Also gut!< dachte er. »Also gut, leben wir weiter!*
Am Nebentisch hatte ein junges Mädchen Platz genommen.
Der Kellner kam. Sie bestellte Tee und Kuchen und holte ein
kleines silbernes Zigarettenetui aus der Handtasche. Der Kell­
ner gab Feuer. Sie bedankte sich. Dann las sie in einer Zeit­
schrift. Mitten in der Lektüre schaute sie plötzlich auf und be­
gegnete nicht ohne Hochmut Karls prüfendem Blick, senkte
gelassen den Kopf und fuhr zu lesen fort.
Der Kellner brachte Tee und Kuchen und fragte etwas. Sie
gab Antwort. Er ging. Sie trank einen Schluck, rauchte und las
weiter. Doch nach kurzer Zeit sah sie, von Karls Blicken irri­
tiert, erneut hoch. »Ein seltsamer Mensch*, dachte sie. »Er mu­
stert mich, als sei ich der schiefe Turm von Pisa und als schät­
ze er meinen Neigungswinkel ab. Er stört mich, ohne mich zu
meinen!*
Karl griff zu einem dritten Zettel und wieder zum Bleistift
und notierte: »Die dreifältige Nase: Beobachtung im Cafe.
Blondine, i. Hat normalerweise sanfte Stupsnase. Sehr feiner
konkaver Schwung des Nasenrückens. 2. Beim Sprechen, of­
fensichtlich bei Umlauten und betonten dunklen Vokalen, ver­
schwindet subtiler Schwung. Es entsteht völlig neues Profil.
Nasenrücken wird linear gerade. Das Drollige weicht. Macht
naivem Ernst Platz. 3. Wenn das Mädchen trinkt oder an glim­
mender Zigarette zieht oder Gesicht pudert, wandeln sich
Nase und Gesicht noch einmal. Jetzt biegt sich Nasenspitze ein
wenig nach unten. Es ergibt sich dezent konvexe Wölbung.
Antlitz wird rassig. Ungewöhnliche Trinität des gleichen Pro­
fils.«

220 DIE DOPPELGÄNGER


Die junge Dame spürte, daß sie nicht mehr beobachtet wur­
de, und blickte zu Karl hinüber. Er saß vorgeneigt und starrte
einen dicken Herrn an, der zurückgelehnt und breitbeinig in
seinem Sessel hockte, die Emporen betrachtete und sich in na­
hezu regelmäßigen Abständen am rechten Ohrläppchen zupf­
te. Es wirkte, als wolle er sich wecken.
Karl fixierte den dicken Herrn und schrieb. >Oder zeichnet
er?< dachte sie. Karl steckte ein paar Zettel in die Tasche und
schob einen noch unbeschriebenen neben sein Bierglas. Ihm
war ein Gedanke gekommen, den er für wichtig hielt. Er hatte
in Stichworten die Ausdrucksfähigkeit eines Nasenrückens zu
Papier gebracht. Desgleichen die für dicke kurzbeinige Män­
ner einzig mögliche Art, auf unbequemen Stühlen zu sitzen.
Nun trank er hastig einen Schluck Bier und schrieb:
»Plan einer Propädeutik für Schriftsteller: Entstanden aus
einer Forderung an mich und hiermit an Autoren überhaupt.
Wir müßten, gleich den Graphikern und Malern, das Skizzie­
ren als beruflichen Brauch einführen. Eindrücke, Beobachtun­
gen usw. sollten unmittelbar vorm Objekt präzise notiert wer­
den. Blick und Sprachbeherrschung würden dauernd geschult
und vervollkommnet. Erfahrung und Deskription würden fort­
schreiten.
Nicht nur das Sammeln von Stoffen, Episoden, Prozeßbe­
richten usw., wie bei vielen Autoren bereits üblich, ist ange­
bracht. Sondern noch mehr und noch eher die Pflege einer
primären Berufsvoraussetzung, sichtbare Wirklichkeit zu be­
schreiben! Denn das ist ja das schwerste: Augenfällig zugeord­
nete Tatsachen und Gegenstände im schriftlichen Nacheinan­
der der Darstellung annähernd anschaulich wiederzugeben.
Eine Broschüre hierüber - Prinzipielles und Beispiele enthal­
tend - wäre, als Unterstufe eines Leitfadens für Schriftsteller,
notwendig. Beispiele vielleicht am lehrreichsten, wenn geschil­
derter Sachverhalt jeweils fotografisch beigefügt.
NB. Dieses »Skizzieren* übrigens nicht nur Autoren nütz­
lich. Sollte im Lehrplan der Schulen eingeführt werden. Deut­
sche Aufsätze gewöhnen üblicherweise an Entfernung von der
Realität, an Phrasendrusch. Skizzieren mit Sprachmitteln, etwa

DIE DREIFÄLTIGE NASE 221


auf Klassenausflügen, übt Beobachtungsschärfe und sprach­
lich prägnante Wiedergabe des Beobachteten.«
Karl hob den Kopf, fuhr sich mit der Hand über die Augen
und sah sich erstaunt um. Nun hörte er wieder das Klappern
der Tassen und Löffel und die vom Podium dringende Kon­
fektionsmusik. Nun erkannte er wieder die müden Mienen der
vergeblich Wartenden, die ihn umgaben. Und er begegnete dem
Blick eines blonden jungen Mädchens ... >Das<, dachte er, »ist
ja das Fräulein mit der dreifachen Nase. Ihr, der jungen Dame
sowohl als auch der Nase, verdanke ich die Anregung zu mei­
ner Propädeutik!«
Dankbar und höflich verbeugte er sich.
Die junge Dame wußte nicht, worum es ging. Sie lächelte
abweisend und begann in ihrer Handtasche zu kramen.

222 DIE DOPPELGÄNGER


Drittes Kapitel
Rote Schlagsahne

Die folgenden Ereignisse vollzogen sich in wenigen Minuten.


Karl glaubte unter den Menschen, die sich durch die Drehtür
hereindrängten, Herrn Maximilian Seidel zu erkennen. Jenen
umfangreichen und gebückt daherschreitenden Riesen, der
Weinreisender und Engel in einem war.
>Der Himmel reicht heute tiefer als je«, dachte Karl. »Oder
ist der Mann ein Doppelgänger meines Engels? Doppelgänger
sind seit einer Stunde im Schwang.«
Der Riese steuerte der Treppe zu und stieg langsam die tep­
pichbelegten Stufen hinan. Jetzt tauchte sein Hut in der ersten
Etage auf. Dann verschwand er hinter der nächsten Schrau­
benwindung der Treppe.
Karl überwachte die zweite Empore. Und da, während er
die Brüstung nach dem Riesen absuchte, geschah’s, daß oben,
im zweiten Rang des Kaffeehauses, ein hektisch schmaler
Mensch aufstand und einen Revolver an die rechte Schläfe
preßte!
Neben ihm saßen zwei junge Mädchen. Verkäuferinnen. Sie
hatten sich heißgetanzt und Wermuth getrunken. Und vom
späteren Abend erhofften sie sich zärtliche Begleitung und ein
bißchen von dem, was man eines Tages Glück nennen wird.
Und nun stand, dicht neben ihnen, ein fremder blasser Mensch,
hob den Revolver gegen sich und schloß die Augen. Seine Li­
der zitterten. Die Kapelle, unten im Parterre, spielte den Tann­
häuser-Marsch. Die beiden Mädchen öffneten die rotgemalten
Lippen, als wollten sie schreien. An andren Tischen wurde
man aufmerksam. Gäste sprangen auf und drängten zur Brü­
stung.
Der junge Mensch drückte ab. Nur die Umsitzenden hörten
den Knall. Denn der Tannhäuser-Marsch klang lauter. Der jun­
ge Mensch wankte, sank langsam in die Knie und schlug mit
dem Oberkörper dumpf auf die Plüschbrüstung. Der Kopf
hing vornüber.

ROTE SCHLAGSAHNE 223


Die eben noch auf ihn zugeeilt waren, wichen, nun es zu spät
war, zurück. Eine der kleinen hübschen Verkäuferinnen fiel in
Ohnmacht. Die andere weinte staccato.
Unten im Cafe war der Vorfall nicht bemerkt worden. Die
Leute lasen, rauchten und lachten, obwohl über ihnen der
Kopf eines Toten schwebte. Sie wußten es noch nicht.
Plötzlich sprang im Parterre eine Frau auf. Sie kreischte ver­
zweifelt. Der Stuhl fiel um. Sie zeigte auf den Tisch. Die
Schlagsahne in ihrem Nickelbecher war rosa und wurde zuse­
hends röter. Alles schaute nach oben. Alles erschrak. Verwir­
rung brach aus. Viele eilten bleich zur Garderobe und stürzten
schaudernd aus dem Lokal. Die Kellner waren außer sich.
Mehrere Gäste hatten zu zahlen vergessen.

Zehn Minuten später herrschte wieder Ordnung. Die Leiche


befand sich in der Herrentoilette. Die Polizei war verständigt
und ersucht worden, Zivilbeamte zu schicken. Jedes Aufsehen
mußte vermieden werden. Die Kapelle spielte fortissimo und
ohne Atempause.
Auffällig war allenfalls, daß im Parterre, unter der Empo­
renbreitseite, einige Tische frei waren. Noch dazu die besten
Tische im Cafe.
Aber auch das blieb nicht lange so. Neue Gäste kamen. Sie
freuten sich, Platz zu finden. Und an dem Tisch, an dem vor
kurzem irgendeine Frau kreischend aufgesprungen war, weil
sich Schlagsahne rotgefärbt hatte, saß nun, neben einem klei­
nen mageren Herrn, irgendeine andere Frau. Eine ordinäre
Person. Mit einem Ballonbusen und zwei Silberfüchsen.
Diejenigen, die den Selbstmord und die darauf folgende Be­
stürzung miterlebt hatten, starrten gebannt zu dem Tisch und
der abscheulichen Frau hinüber.
Und diese Frau, die es nicht gewöhnt war, im Kreuzfeuer
staunender Blicke zu sitzen, begann wie eine Rose zu blühen.
Sie knöpfte die Kostümjacke auf, brachte die Seidenbluse zur
Geltung und setzte den Hut ab, damit die zahlreichen Bewun­
derer auch Gelegenheit fänden, ihr junonisches Haupt zu wür­
digen. »Welch ein Tag!< dachte sie erschüttert. »Wie gut, daß ich

224 DIE DOPPELGÄNGER


noch nicht nach Hause wollte! Ich bin zu schade für Paul.
Wenn er wenigstens nicht so krumm säße!< Sie begann die of­
fensichtlich ihr geltenden Blicke feurig zu erwidern. Karl hielt
dieses Mißverständnis nicht länger aus. Er zahlte und ging. An
der Drehtür stieß er mit Seidel zusammen. »Diesmal bin ich zu
spät gekommen«, sagte der Weinreisende. »Wir sind zu wenig
Leute.«
Draußen, vorm Kaffeehaus, wünschte er Karl gute Reise
und entfernte sich, so rasch sein Gewicht das zuließ. Im Gehen
holte er das Notizbuch aus der Tasche.

ROTE SCHLAGSAHNE 225


DER ZAUBERLEHRLING

Ein Fragment
Erstes Kapitel

Mintzlaff setzte langsam die Tasse nieder, lehnte sich in dem


sanftgeblümten Ohrenstuhl zurück und blickte, während er
die Lider senkte, hinter den kleinen freundlichen Empfindun­
gen, die in ihm schwebten, drein, als wären es bunte Kinder­
ballons an einem inwendigen Himmel.
>Du müßtest öfter reisens sprach er zu sich selber. »Nicht
aus geographischen Erwägungen; nicht wegen irgendwelcher
Fernsichten, Gletscher, Gemäldegalerien, Tropfsteinhöhlen und
Ritterburgen, Du müßtest öfter reisen, um zuweilen nicht da­
heim zu sein. Nur unterwegs erfährt man das Gefühl mär­
chenhafter Verwunschenheit. Nur der Fremdling ist einsam
und fröhlich in einem!«
Ihm war nicht ganz klar, ob diese einigermaßen romantische
Deutung des Reisens nur für Menschen Geltung hatte, die, wie
er, eigentlich lieber zu Hause blieben; es reizte ihn im Augen­
blick auch gar nicht, der Frage auf den Grund zu gehen.
Er musterte statt dessen die anheimelnd eingerichtete Tee­
stube, in der er seit zehn Minuten saß, schaute dann durch
die Fensterscheiben und nickte anerkennend; denn draußen
schneite es still vor sich hin, und er liebte seit seiner Kindheit
das schwerelose weiße Zauberballett der Flocken, als werde es
von Anbeginn eigens für ihn getanzt.
Ach, und niemand konnte in dieser Stadt, wo ihn keiner
kannte, kommen, ihm auf die Schulter klopfen und, ob nun
klug oder dumm, entbehrliche Mitteilungen machen! Es war,
um allein im Chor zu singen!
Belustigt zog er die Brauen hoch. »Rubrik römisch Eins«,
ging es ihm durch den Kopf. »Seelischer Tatbestand: Der
Mensch im natürlichen Einklang mit Eigenschicksal und Um­
welt. Antwort des Gemüts: Je nach Temperament, Empfin­
dungstiefe und -dauer abgewandelt; alle heiteren Stimmungen
von Glückseligkeit bis Zufriedenheit möglich; Nullpunkt, wie
in sämtlichen Sparten des Mintzlaffschen Systems, die Indo­
lenz. Künstlerische Antwort: Die apollinische Haltung und

ERSTES KAPITEL 229


das harmonische Werk, vom Hymnischen bis zum Idylli­
schen^
Er griff mit ironischem Schwung in die innere Rocktasche
und zog etwas hervor, das einem vielfach gefalteten Stadtplan
glich. Es war freilich nichts dergleichen; außer man brächte
es zuwege, Seelen und Städte einander für ähnlich zu erach­
ten.
Nein, es war das Mintzlaffsche Schema, und das bedeutet:
ein System, in dem die Skala der menschlichen Gemütslagen
und das Spektrum gewisser künstlerischer Kategorien - wie
beispielsweise des Tragischen, des Komischen, des Satirischen,
des Humoristischen - einander rechtwinklig und übersichtlich
zugeordnet wurden. Das Ganze war, wenn man so will, eine
Klima- und Wetterkarte wichtiger ästhetischer Grundbegriffe;
und der Herr Begriffsstutzer, wie Mintzlaff sich selber nannte,
tat sich, im Rahmen des Statthaften, mitunter einiges darauf
zugute.
Ästhetiker sind seltsame Leute. Sie lieben die Künste und
die Ordnung und bringen deshalb Ordnung in die Kunst. Sie
rücken der Kultur zuleibe wie Linne seinerzeit den Blumen
und Bäumen. Nun täte man solchen Fanatikern der Ordnung
schweres Unrecht, wenn man sie für Pedanten halten wollte.
Nein, sie wissen um das Urgeheimnis der ordnenden Tätigkeit,
und das lautet: Wer Ordnung schafft, schafft!
Wer Ordnung schafft, gewinnt Einblick in die Zusammen­
hänge und Einsicht in die Bedeutung der Gegenstände. Indem
er die Vielfalt ordnet, findet er ihre Gesetze. Die Kenntnisse
kristallisieren sich zur Erkenntnis, und diese zeugt aus sich
heraus oft überraschende, vorher nie gewußte, durch bloßes
Suchen niemals auffindbare neue Kenntnisse. Nun, solch ein
Kauz war Herr Mintzlaff, der Vater des Mintzlaffschen Sche­
mas. Man sah es ihm nicht an. Seine äußere Erscheinung ent­
sprach kaum der Vorstellung, die man sich unwillkürlich von
einem Kunstgelehrten macht. Weit eher glich er einem melan­
cholisch angehauchten Eishockeyspieler.
Er war vor knapp zwei Stunden in München eingetroffen,
hatte die Koffer in einem Hotelzimmer untergebracht und

230 DUR ZAUBERLEHRLING


wollte am nächsten Tag die Reise, deren Ziel Davos war, über
Stuttgart und Zürich fortsetzen.
Er liebte an München besonders, daß er es so gut wie gar
nicht kannte. Als Student hatte er während dreier Tage die
Münchner Museen heimgesucht. Später, als Dreißigjährigem,
war ihm in dieser Stadt, im Verlauf eines halbwöchigen Auf­
enthaltes, eine Art Braut, ein bildschönes und unkluges Mäd­
chen, mit einem feurigen Bildhauer durchgegangen, und die
beiden hatten diesen Schritt sowie die folgenden Schritte spä­
ter noch sehr bereut.
Weiter kannte Mintzlaff München nicht. So konnte er heu­
te recht von Herzen den ersten Tag der Reise, jenes friedvollen
Untertauchens in der Anonymität, auskosten.
Er lehnte sich wieder in den bequemen Ohrenstuhl zurück.
Draußen schneite es noch immer. Der Himmel zuckerte die
Hüte der Damen und Herren in der Brienner Straße ein, als
seien’s keine Kleidungsstücke, sondern kandierte Früchte.
Da! Einem würdigen Passanten flog die eingezuckerte Me­
lone vom Kopf! Hatte der Wind Appetit?
Der Passant setzte sich in Trab. Wenn er nun, nach vielen
höchst unwilligen Sprüngen, den Hut wiederfände und fest­
stellen müßte, daß ein unsichtbares Wesen ein Stück Krempe
abgebissen hätte?
Mintzlaff streckte die Beine von sich. Wie schön, wie un­
heimlich schön das Leben war, empfand man doch wohl erst,
nachdem man erfahren hatte, wie schlimm, wie abgründig
schlimm es war, dieses selbe Leben!
Da nahm jemand an Mintzlaffs Tische Platz.
Ausgerechnet in einem so einsichtsvollen Augenblick! Es
war ein Mann, schön wie ein Schrank. Mit lackschwarzem,
nach hinten gekämmtem Haar und einem jener ein wenig zu
eleganten Schnurrbärte, denen man am ehesten in Südamerika
und im Film begegnet. Mintzlaff griff hastig nach dem Mintz-
laffschen Schema, faltete es zusammen und verstaute es sorg­
fältig in der inneren Rocktasche. Er beschloß, die Teestube
umgehend zu verlassen.
Der Fremde schien davon, daß er störte, nichts zu spüren.

ERSTES KAPITEL 231


Er bestellte etwas zu trinken, rieb sich das Kinn, musterte die
manikürten Nägel, schnippte ein Stäubchen von seinem sehr
neuen Anzug und blieb eine Weile sinnend sitzen. Dann beug­
te er sich über den Tisch und fragte: »Haben Sie einen Spiegel
bei sich?«
Mintzlaff schüttelte den Kopf und sagte unnötig laut:
»Nein!«
»Schade«, erwiderte der Fremdling. »Sie müssen wissen, daß
ich bis vor einer halben Stunde einen wunderschönen Vollbart
trug. Der Friseur nahm daran Anstoß; und das junge Mädchen,
das mir die Nägel kurzschnitt, fand sogar, ich sähe unmöglich
aus.«
Mintzlaff schwieg und dachte bitter: »Daran hat sich mitt­
lerweile nicht das mindeste geändert!«
Da lachte der Fremde.
Der Kunstgelehrte schaute mißtrauisch auf. In diesem Mo­
ment trat die Kellnerin herzu und bediente den neuen Gast.
Ehe Mintzlaff den Wunsch zu zahlen geäußert hatte, war sie
weitergeglitten.
Der Fremde trank einen Schluck, wandte sich dem ge­
kränkten Nachbarn zu und sagte freundlich: »Entschuldigen
Sie, daß ich gelacht habe. Ich halte es auf alle Fälle für ange­
bracht, Ihnen beizeiten mitzuteilen, daß ich Gedanken lesen
kann.«
Mintzlaff schaute dem anderen zum ersten Male voll ins Ge­
sicht und wurde rot. Der Mann hatte große, herrliche Augen;
Augen, denen so leicht kein Blick gewachsen war. Mintzlaff
war verwirrt. »Gedankenlesen ist ein höchst unanständiges Ta­
lent«, dachte er noch. Da antwortete der Fremde, als habe der
Nachbar den Satz nicht etwa nur gedacht, sondern laut und
vernehmlich ausgesprochen: »Sie haben nicht ganz unrecht.
Doch man mag von einem Talent, das man hat, halten, was man
will - man besitzt es eben! Man kann es nicht fortwerfen, nicht
verbrennen und nicht wegschenken. Ein Talent ist kein Voll­
bart.«
Mintzlaff war rechtschaffen unheimlich zumute. Was war
das für ein Mann? Woher kam er? Gab es denn überhaupt Te-

232 DER ZAUBERLEHRLING


lepathie von solcher Sehschärfe? Noch dazu zwischen einan­
der völlig unbekannten Menschen? Das beste wäre, schnell­
stens zu zahlen und davonzulaufen!
»Bleiben Sie«, sagte der Fremde. »Der Gedanke, Sie verjagt
zu haben, wäre mir recht ärgerlich. Bleiben Sie! Machen Sie mir
die Freude!« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»Ich heiße übrigens Lamotte. Baron Lamotte.«
Mintzlaff verbeugte sich und nannte seinen Namen. »Eigent­
lich ist es blödsinnig, den Mund aufzutun<, dachte er während­
dem. »Er weiß ja doch, was man sagen will, ehe man sich um
die Erzeugung von Schallwellen bemüht.«
Baron Lamotte nickte nachdenklich und meinte: »Trotzdem
ist ein Zwiegespräch, bei dem nur einer den Mund auftut, eine
etwas absurde Angelegenheit. Außerdem fällt derartiges in ei­
nem Lokal natürlich auf. Und ich möchte, offen gestanden,
keineswegs, daß mein, um mit Ihren Gedanken zu reden, un­
anständiges Talent bekannt wird.« Er unterbrach sich. »Sie
wollten etwas denken«, sagte er. »Sprechen Sie es ruhig aus!«
»Ich habe eine Frage.«
»Bitte?«
»Bin ich, ohne es zu wissen, ein ungewöhnlich telepathi­
sches Medium?«
»Nein, mein Herr.«
»Wenn Ihr Talent dann also wirklich vor keinem Menschen
haltmacht ...«
»Vor keinem, mein Herr.«
Mintzlaff griff sich an die Schläfen. »Es ist nicht auszuden­
ken!« Er dämpfte seine Stimme. »Es ist eine überwältigende
Vorstellung! Sie könnten in kurzer Zeit die Börsen aller Kon­
tinente beherrschen, vielleicht um Millionär zu werden, viel­
leicht um die Pest der Spekulation auszurotten! Sie könnten
der genialste Diplomat Ihres Landes werden, oder der unfehl­
barste Kriminalist!«
»Ich könnte sogar im Variete auftreten«, sagte der Baron.
»Ich weiß. Aber, sehen Sie, ich mag nicht. Ich finde es zweit­
klassig, aus dem, was andere ängstlich verschweigen, Ruhm
oder Geld zu münzen. Überdies besitze ich schon zuviel Geld

ERSTES KAPITEL 233


und sowieso zuwenig Ehrgeiz. Liegenschaften habe ich auch;
mit Seen, Wäldern und Tieren. Nicht einmal die Langeweile
könnte mich also dazu überreden, ein Genie, ein Milliardär
oder noch Schlimmeres zu werden.« Er blickte lächelnd zu sei­
nem verstörten Nachbarn hinüber.
Mintzlaff, der sich schon wieder durchröntgt fühlte, zuckte
verlegen die Schultern.
Lamotte kniff belustigt das rechte Auge zu. »Es gibt auch
andere Gründe, zu arbeiten, nicht nur die Flucht vor der Lan­
geweile? Gewiß, mein Herr. Aber ich erinnere mich nicht, ge­
sagt zu haben, daß ich ein notorischer Faulenzer bin. Oder
habe ich es etwa gedacht?« Er drohte mit dem Zeigefinger.
»Sollten Sie mir das Gedankenlesen schon abgeguckt haben?«
»Es ist allen Ernstes schrecklich«, erklärte Mintzlaff. »In Ih­
rer Gegenwart müßte man sich aus purer Höflichkeit das Den­
ken abgewöhnen! Oder man müßte bereits lügen können,
während man denkt - doch das ist ein Ding der Unmöglich­
keit.«
»So unzulänglich sind die Menschen«, meinte der Baron.
Doch schien es ihm nicht allzu nahezugehen. »Und von einer
Unzulänglichkeit soll ich profitieren?« fragte er. »Man sollte
nie durch Schlüssellöcher schauen, auch nicht, wenn sie sich in
leeren oder schlecht möblierten Schädeln befinden! - Außer
zum eigenen Vergnügen. Da haben Sie recht!« Er lachte ent­
waffnend.
Mintzlaff stimmte schüchtern ein. »Entschuldigen Sie, Herr
Baron«, sagte er dann, »Sie sind der erste Mensch, dem ich den
Vorschlag gemacht habe, auf unmoralische Weise vorwärtszu­
kommen.«
»Aber, aber!« Baron Lamotte hob beschwörend beide Hän­
de. »Machen Sie keine Geschichten! Sie brauchen sich nicht zu
entschuldigen! Ich weihte Sie in ein Geheimnis ein, und Ihre
Phantasie spielte Ihnen einen Streich - das ist doch nur natür­
lich!« Er schwieg einige Sekunden, beugte sich dann vor und
fragte leise: »Sehen Sie den Mann mit der grünen Jägerjoppe?«
»Gewiß.«
»Haben Sie zufällig gehört, was der Kerl eben gedacht hat?«

234 DER ZAUBERLEHRLING


Ehe Mintzlaff etwas erwidern konnte, schüttelte der andere
den Kopf. »Pardon, ich vergaß ganz, daß Sie ja gar nicht... Da
sitzt also ein Mann in einer grünen Joppe mit beinernen Knöp­
fen harmlos am Nebentisch, macht Augen wie ein verfrühtes
Veilchen und wird seinem Gegenüber noch heute abend zwan­
zigtausend Mark abpressen wollen!«
»Man sollte den anderen ins Bild setzen!« meinte Mintzlaff.
»Zu spät«, erklärte Lamotte und betrachtete angelegentlich
die Nymphenburger Vase, die, mit Alpenrosen gefüllt, auf dem
Nebentisch stand.
»Zu spät?«
»Ja. Er weiß schon Bescheid. Durch die Gemahlin des Man­
nes in der Joppe. Aha, eine echte Rotblondine.« Der Baron
lächelte nachsichtig. »Männer sind komische Leute. Während
sie einander an der Gurgel packen, denkt der eine an die Haar­
farbe der Frau des anderen!«
Mintzlaff versank in Schweigen. Über seiner Nasenwurzel
erschien eine senkrechte Falte, schmal und tief wie eine Fechter­
narbe. »Halt!« sagte der Baron hastig. »Vorsicht, mein Herr!
Denken Sie rasch etwas anderes! Ich möchte mich unter kei­
nen Umständen in Ihre augenblicklichen Gedanken mischen!«
Der Kunstgelehrte zuckte zusammen. Und eine schlanke
Dame namens Hedwig, die eben noch, schön und bloß, durch
sein Innenleben geschwebt war, verschwand erschrocken in ei­
ner unzugänglichen Dimension, fortgehext wie durch einen
Zaubertrick. Und aus Angst, die junge Dame könne, womög­
lich noch immer unbekleidet, erneut hinter der Wolke des Un­
terbewußtseins hervorschweben, nicht ahnend, daß die Erin­
nerung an sie von einem wildfremden Herrn mitgedacht wür­
de, begann Mintzlaff angestrengt das Einmaleins mit der
Dreizehn in Gedanken herzubeten. >13, 26, 39, 52, 65, 88 ...<
»Falsch«, sagte der Baron. »78!« Er wandte den Kopf und
zog die Brauen hoch.
Die beiden Männer am Nebentisch hatten sich erhoben.
Eine große elegante Frau trat zu ihnen und gab ihnen die
Hand.
»Sie ist tatsächlich rotblond!« flüsterte Mintzlaff.

ERSTES KAPITEL 235


Der Baron meinte nachlässig: »Aber die Haarfarbe ist nicht
echt. Obwohl der Liebhaber es glaubt. Sie sehen, daß man auch
durch Gedankenlesen nicht immer die Wahrheit erfährt!«
Die drei am Nebentisch hatten Platz genommen, unterhiel­
ten sich leise und lächelten höflich. Der Mann in der grünen
Joppe hatte die Hand leicht auf den Arm seiner Gattin gelegt.
Der andere Mann reichte ihr sein Zigarettenetui, gab gewandt
Feuer, und sie sahen einander dabei flüchtig und scheinbar völ­
lig konventionell in die Augen.
»Großartige Komödianten«, murmelte der Baron. »Artisten
der Lüge. Man hat Mühe, ihren lautlosen und unsichtbaren
Kunststücken zu folgen. Sie dürfen nicht vergessen, mein Herr,
daß die drei zwar nacheinander sprechen, aber gleichzeitig
denken.«
»Die Herrschaften pokern ohne Karten«, meinte Mintzlaff.
»Und sie spielen um verflucht hohe Beträge«, erwiderte La-
motte. »Um die Existenz; der eine ums Leben.«
Mintzlaff blickte gespannt zum Nebentisch hinüber. »Wenn
die undurchsichtigen Vorhänge vor diesen Köpfen plötzlich
weggezogen würden«, dachte er, >und die drei könnten einan­
der in die Köpfe schauen, wie durch gardinenlose Fenster in
gespenstische Zimmer, nur eine Minute lang, und dann rausch­
ten die Vorhänge ebenso plötzlich wieder zusammen - was ge­
schähe wohl? Würfen die Männer und die Frau, als hätten sie
Feuerbrände in den bloßen Händen, die unsichtbaren Spiel­
karten von sich?«
»Sie haben gefährliche Wünsche, mein Herr«, sagte der Ba­
ron.
»Sie wollen ernstlich, daß drei Menschen sechzig Sekunden
lang in die Hölle blicken?«
»Entschuldigen Sie, Herr Baron! Ich dachte nur ...«
»Sie dachten nur?«
In diesem Moment fiel ein Stuhl um. Tassen klirrten. Der
Mann in der grünen Joppe war aufgesprungen und griff sich
langsam an die Kehle. Er starrte aus weitaufgerissenen, glasi­
gen Augen auf die zwei am Tisch.
Der andere beugte sich weit vor, krallte eine Hand ins Tisch­

236 DER ZAUBERLEHRLING


tuch und wollte sich erheben. Das Tischtuch gab nach. Die
Nymphenburger Vase torkelte und fiel ganz langsam um. Das
Wasser lief über seine Finger und tropfte lautlos in den Tep­
pich.
Das Gesicht der Frau sah jetzt aus, als sei es mit zerknitter­
tem Seidenpapier überklebt. »Nein!« schrie sie plötzlich und
schielte vor Entsetzen. »Nein!« Die übrigen Gäste zuckten zu­
sammen und blickten verständnislos auf das abwegige Schau­
spiel, das man ihnen bieten zu wollen schien.
Die drei waren jetzt in ihren Bewegungen erstarrt und gli­
chen vorübergehend einer seltsamen Gruppe in einem Wachs­
figurenkabinett. Sie atmeten nicht. Sie waren gelähmt.
Dann, mit einem Ruck, fiel der Zauberbann von ihnen ab.
Die Frau stand wie eine Nachtwandlerin auf, ergriff ihre
Handtasche und wankte aus dem Lokal. Die Tasche war offen.
Die Puderdose fiel zu Boden.
Der Mann mit der grünen Joppe brach schwer in seinem
Sessel zusammen.
Der andere erhob sich, ging ein paar Schritte, bückte sich
nach der Puderdose, hob sie auf, ließ sie wieder fallen und
schritt ohne Hut und Mantel hinaus in das Schneetreiben.
Man hörte, als er die Straße überquerte, die Bremsen eines
Autos kreischen.
Mintzlaff fuhr sich über die Augen. »Um Gottes willen,
Herr Baron!« flüsterte er. Aber der Fremde saß nicht mehr am
Tisch.

ERSTES KAPITEL 237


Zweites Kapitel

Die Nacht, die dem einigermaßen seltsamen Tage gefolgt war


- zum Überfluß eine erste Reisenacht in einem Hotelbett, das
an der verkehrten Zimmerseite stand -, diese Nacht war für
Herrn Mintzlaff schlaflos verlaufen.
Am Nachmittag hatte er, nachdem der rätselhafte Baron
vom Tisch verschwunden war, noch erleben müssen, daß der
Mann in der grünen Joppe von zwei Sanitätern aus der aufge­
regten Teestube in einen Krankenwagen getragen worden war.
»Linksseitiger Schlaganfall«, hatte vorher ein als Gast zufällig
anwesender Arzt festgestellt gehabt.
Es müßte Tage ohne Nacht geben. Es gibt keine Tage ohne
Nacht. Es gibt statt dessen Nächte ohne Schlaf ...
Was mochte inzwischen aus der rotblonden Frau, die gel­
lend »Nein!« geschrien hatte, geworden sein? Und was aus
dem Mann, der ohne Hut und Mantel auf die Straße gelaufen
war?
Wie hatte er nur jenen bösen Wunsch zu Ende denken kön­
nen! Gewiß, er hatte nicht geglaubt, daß der Wunsch erfüllbar
sei; jedenfalls nicht, daß ihn irgendein Gedankenleser in einer
Münchner Teestube erfüllen werde! Gedanken lesen zu kön­
nen, das blieb, so gespenstisch es wirkte, im Rahmen des Vor­
stellbaren, aber dann, das andere?
Das war viel, viel ärger. Denn das war überhaupt nicht mög­
lich, und es war trotzdem geschehen. Drei fremde Menschen
derart zu verhexen, war übernatürlich.
Selbstverständlich gab es Wunder. Im Grunde gab es über­
haupt nichts außer Wundern. Doch das waren Wunder ande­
rer Art. Es waren traditionelle, es waren, übertrieben ausge­
drückt, natürliche Wunder, ganz gleich, ob es sich nun um
Zellteilung, Schneeglöckchen, Lichtjahre, Liebe, Mord oder
Elektrizität handelte.
Doch der Vorgang in der Teestube war ein ungehöriges
Wunder gewesen. Mintzlaff hatte versucht, das Erlebnis ein­
zuordnen. Es war ihm nicht gelungen. Daß ein Apfelbaum Äp-

238 DER ZAUBERLEHRLING


fei trägt, ist ein normales, ein angemessenes Wunder. Daß ein
Apfelbaum aber Seil springt oder Klavier spielt, ist, außer im
Traum und im Märchen, ganz einfach unzulässig! So etwas
schickte sich nicht!
Oder hatte er die Szene zwischen den dreien völlig mißdeu­
tet? Stand sie mit dem geheimnisvollen Baron nur im zeitli­
chen, nicht in ursächlichem Einklang?

Der junge Mann war zweifellos aus dem Gleichgewicht gera­


ten, und dieser beunruhigende Zustand währte bereits zwan­
zig Stunden, obwohl Mintzlaff München früh am Morgen ver­
lassen und sowohl Stuttgart als auch Zürich - die Stadt mit der
Märchenbrücke, von der aus man den See und die eisige Kette
der im Himmelblau liegenden Bergriesen sah - im Rücken
hatte.
Der Zug, in dem er nun saß, hatte längst das westliche Ufer
des Sees passiert und stürmte dem weißen, stummen Gebirge
entgegen. Manchmal blätterte Mintzlaff in Bergsons Untersu­
chung über »Das Lachem. Zuweilen schaute er aus dem Zug­
fenster, als suche er draußen, außer sich, Hilfe und Halt. Doch
Landschaften und Bücher, die man bereits kennt, wirkten wohl
nicht sensationell genug, um die Erinnerung an ein neues, zu­
dem durchaus unfaßliches Erlebnis fortzuzaubern.
Er schob jetzt seine Gedanken behutsam, förmlich auf Ze­
henspitzen, in eine andere Bahn. Warum lasen Menschen, wie
er einer war, eigentlich immer wieder in den fünfhundert oder
tausend Büchern, die sie längst gelesen hatten? Warum reiste er
am allerliebsten immer wieder in die gleichen fünf, sechs Land­
schaften, die er schon kannte? Und nun: War Lesen und Rei­
sen nicht dasselbe? Warum also reiste er, wenn er sich schon
dazu aufraffte, in Gebiete, die er bereits entdeckt hatte? Was
waren das für seltsam rückläufige Expeditionen?
Andere, die es abenteuernd von einer Neuigkeit zur näch­
sten und übernächsten lockte und trieb, hatte er zwar nie, fast
nie, beneidet, aber besser, fast besser, begriffen als sich und sei­
nesgleichen. Die anderen galoppierten, während der Sand un­
aufhaltsam durch das allzu kleine Stundenglas ihres Lebens

ZWEITES KAPITEL 239


rann, durch die imaginäre Landschaft der erfüllbaren und der
unerfüllbaren Wünsche. Es war zu verstehen.
Mintzlaff lächelte schmerzlich. >Ihre Neugier<, dachte er,
»gilt dem Drum, die unsere dem Dran.< Im Ernst, es war eine
Zumutung des Schicksals, daß es den Menschen, kaum gebo­
ren, wieder auslöschte! Welcher namenlosen Macht lag daran,
die Spanne des Lebens zu kurz zu bemessen? Wem, um alles in
oder über der Welt, machte denn diese Unzulänglichkeit Ver­
gnügen? Es war doch wohl nicht anzunehmen, daß das wal­
tende Geschick oder Gesetz schadenfroh zu sein beliebte!
Warum durfte der Mensch nicht zweihundert oder dreihun­
dert Jahre alt werden? Was würde er leisten können und was
alles erleben! Die Vorstellung war überwältigend und atem­
raubend, und der Schmerz darüber, daß dem nicht so war, griff
mitten ins Herz. Der Mensch war eine zweibeinige Eintags­
fliege. Und wurde einer wirklich einmal neunzig Jahre, ver­
brachte er gewiß das letzte Jahrzehnt seines Daseins mehr oder
weniger verblödet und trostloser als ein wasserköpfiges Kind.
Um nicht verzweifeln zu müssen, durfte man an nichts
glauben. So weit war es gekommen.
Da öffnete sich die Tür des Abteils, und Mintzlaff schaute
hoch.
Im Türrahmen stand Baron Lamotte!
Er nickte freundlich und fragte: »Ist es heute erlaubt, bei Ih­
nen Platz zu nehmen, oder störe ich Sie schon wieder?«
Er wartete keinerlei Antwort ab und setzte sich, nachdem er
den Koffer ins Gepäcknetz geworfen hatte, Mintzlaff gegen­
über ans Fenster.
»Ich fahre auch nach Davos«, erklärte er beiläufig, während
er die Handschuhe abstreifte. »Im übrigen sollten Sie sich we­
gen des gestrigen kleinen Abenteuers wirklich nicht soviele
Gedanken machen. Die drei waren, wenn man genau nach­
rechnet, weniger wert als die Brillantohrringe der Frau.«
»Mag sein.«
»Dabei waren die Ohrringe keineswegs besonders wertvoll.«
»Mag sein«, wiederholte Mintzlaff. »Mich interessiert im
Augenblick etwas anderes viel mehr.«

240 DER ZAUBERLEHRLING


»Warum ich so plötzlich verschwand? Vielleicht wollte ich
Ihrem maßlos erstaunten Gesicht entgehen. - Ganz recht, ich
war nicht gesonnen, Ihnen auf auch nur gedachte Fragen zu
antworten. Das hätte dort in der Teestube zu weit geführt.
Außerdem mußte ich den Mann, der ohne Hut und Mantel
und, wie ich Ihnen versichern kann, ziemlich von Sinnen auf
die Straße hinausgestürzt war, davor bewahren, daß er von ei­
nem Automobil überfahren wurde.« Der Baron holte ein gol­
denes Etui hervor und bot Zigaretten an.
Mintzlaff schüttelte beinahe unhöflich den Kopf.
Lamotte setzte eine Zigarette in Brand, schlug ein Bein über
das andere und fuhr plaudernd fort: »Dann wurde der Mann
zur Polizeiwache gebracht, und auch ich hatte das Vergnügen,
mitkommen zu dürfen. Er sollte angeben, aus welchem Grund
er sein kostbares Leben und das von drei Autoinsassen gefähr­
det habe. Es war kein vernünftiges Wort aus ihm herauszu­
bringen. Er stammelte unzusammenhängendes Zeug, und nie­
mand wurde aus ihm klug. Ein Beamter sprach mir für mein
unerschrockenes Verhalten seine uneingeschränkte Anerken­
nung aus. Er bat mich um meine Adresse. Doch ich hatte es ei­
lig; denn ich mußte zum Schneider, um den neuen Frack abzu­
holen.« Baron Lamotte versenkte sich in den Anblick seiner
manikürten Nägel. »Der Frack sitzt übrigens ausgezeichnet«,
fügte er hinzu.
Mintzlaff schwieg. Er hatte die Finger ineinander ver­
krampft, daß die Gelenke weiß glänzten.
Der Baron lachte kurz auf. »Falsch gedacht, mein Herr!
Heute werde ich Sie um keinen Spiegel bitten. Es ist unange­
nehm, nicht genau zu wissen, wie man aussieht; aber mittler­
weile habe ich mich schon an mein neues Gesicht gewöhnt.«
Er schaute zum Zugfenster hinaus. »Ich liebe die Berge mehr
als die Menschen. Sie sind größer, haben Zeit und Geduld und
können schweigen.«
Mintzlaff hatte einen heißen Kopf. Seine Lider zitterten. Er
wich dem gelassenen Blick des Fremden aus, dem Blick aus
diesen großen herrischen Augen. Er senkte das Gesicht, starr­
te angelegentlich auf das Muster des Sitzpolsters und begann

ZWEITES KAPITEL 24I


plötzlich hastig zu sprechen. Seine Stimme klang rauh vor Er­
regung.
»Warum verfolgen Sie mich?« fragte er halblaut. »Haben Sie
mich denn noch nicht genug verwirrt? Ich habe Angst vor Ih­
nen, wenn Sie es nun schon wissen wollen; aber es macht mir
keinen Spaß, vor anderen Menschen Angst zu haben, und ich
bin es nicht gewöhnt, zum Teufel! Gehen Sie, bitte, ins näch­
ste Abteil! Erschrecken Sie andere Leute, falls Sie ohnedem
nicht leben können! Es gibt dankbareres Publikum für stel­
lungslose Zauberkünstler als ausgerechnet mich.«
»Das glaube ich nicht«, hörte er den Baron sagen.
»Ich weiß, daß ich mich im Ton vergreife«, fuhr er heiser
fort. »Ich habe auch nicht vergessen, daß es ausreichen würde,
das, was ich Ihnen jetzt mitteile, nur zu denken. Aber ich habe
genug davon, Ihnen gegenüber einen Taubstummen zu spielen,
der den Mund allenfalls zum Gähnen besitzt. Halten Sie es
denn nicht für unter Ihrer Würde, Ihre Überlegenheit an mir
auszulassen? Ich will es Ihnen gern schriftlich geben, daß ich
Sie für einen ungewöhnlichen Menschen halte, obwohl Ihnen
bestimmt an meiner Meinung nichts liegt.«
Er stand auf und ging zur Tür. »Entschuldigen Sie meine
Ungezogenheit! Ich habe ein wenig die Nerven verloren. Und
da ich Ihnen nicht zumuten will, mir das Feld zu räumen, wer­
de ich selber gehen!« Er wollte die Tür aufreißen.
Doch die Tür öffnete sich nicht, so sehr er an der Klinke rüt­
telte. Er versuchte es noch einmal. Dann drehte er sich langsam
um und sah, mit blassem Gesicht, den Baron an.
Lamotte zuckte die Achseln und lächelte, als wisse er, daß
es ja doch vergeblich sein werde, sich herauszureden. »Es
stimmt«, sagte er dann. »Die Tür geht tatsächlich nur deshalb
nicht auf, weil ich es so wünsche. Ein kleiner, dummer Trick,
das gebe ich zu. Aber was soll ein stellungsloser Zauberkünst­
ler wie ich schließlich weiter tun als ein bißchen zaubern?
Auch ein Talent kann zur schlechten Angewohnheit werden.«
Er schien geradezu verlegen. »Versetzen Sie sich, bitte, in mei­
ne Lage! Ich kann Sie doch nicht im Bösen aus dem Abteil lau­
fen lassen! Ich möchte, daß Sie hierbleiben, denn Sie sind mir

242 DER ZAUBERLEHRLING


doch sympathisch! Sagte ich Ihnen das nicht schon in Mün­
chen? Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken, sondern ich
wollte Eindruck auf Sie machen, das war es! Rührt Sie dieses
Selbstbekenntnis gar nicht?«
Seine Augen strahlten. Er wies auf die Bank. »Nehmen Sie
wieder Platz! Immer wollen Sie vor mir davonlaufen. Es wird
Ihnen nicht gelingen, das können Sie mir glauben! Denn ich
brauche einen Menschen, der weiß, wer ich bin; und der
Mensch, der es erfahren soll, sind Sie!«
Mintzlaff stand noch einen Augenblick unschlüssig an der
Tür.
»Nein«, sagte der Baron, »auch das Einschlagen der Glas­
scheibe in der Tür wird Ihnen nichts nützen. Sie sollten all­
mählich einsehen, daß ich mehr kann als Gedankenlesen.«
Mintzlaff setzte sich zögernd in seine alte Ecke am Fenster
und ärgerte sich. Wie hatte er sich nur so undiszipliniert auf­
führen können! Dergleichen widersprach absolut seinem vor­
nehmsten Ziel: der Selbsterziehung. Es stand außer Frage, daß
er sich, so betrachtet, schlecht benommen hatte.
»Nicht nur ich, auch Sie sind eitel!« sagte der Baron nicht
ohne Genugtuung. »Ein Mensch, der nicht mehr erschrecken
kann, ist kein Mensch, sondern ein Narr oder ein Fleischer­
hund. Davon abgesehen, will ich trotzdem versuchen, Ihnen
neue Ängste zu ersparen; denn Sie empfänden sie als Demüti­
gung, und das liegt völlig außer meiner Absicht. Das beste wird
sein, wenn ich die Mitteilung, die ich Ihnen machen möchte,
vorsichtig dosiere.«
Der junge Kunstgelehrte runzelte die Stirn. »Ich komme mir
vor, als sei ich beim Zahnarzt, der eine schmerzhafte Behand­
lung, aus Rücksicht auf den Patienten, über Wochen aus­
dehnt.«
»Tun Sie das! Kommen Sie sich wie beim Zahnarzt vor!« be­
merkte der andere. »Und nehmen Sie, bitte, die erste Dosis zur
Kenntnis: Ich heiße nicht Lamotte, und ich bin kein Baron.«
»Diese Eröffnung«, meinte Mintzlaff, »bestürzt mich kei­
neswegs. Was ich viel mehr als solche Lügen fürchte, ist die
Wahrheit.«

ZWEITES KAPITEL M3
Der Fremde fuhr nach einer Pause, anscheinend über sich
selber belustigt, fort: »Manchmal ist es ungleich schwerer, zu
bekennen, wer man ist, als zu erklären, wer man nicht ist!« Er
nagte an der Unterlippe und blickte nachdenklich in den stahl­
blauen Himmel, der sich über der tiefverschneiten, glitzern­
den Landschaft wolkenlos heiter ausspannte. In diesem Au­
genblick fuhr der Zug in einen Berg hinein. Die Lampe an der
Decke des Abteils glomm auf. Die Tunnelwände glänzten vor
Nässe.
Stumm saßen die beiden Männer einander im Halbdunkel
gegenüber. Der Fremde hatte den Kopf gesenkt und starrte auf
seine Schuhe.
Allmählich verfärbte sich die künstliche Dämmerung, bis
dann, am Ausgang des Tunnels, die Sonne wieder, und nun mit
noch mehr Gewalt, über die Erde herfiel.
Mintzlaff schloß geblendet die Augen. Hinter seinen Lidern
kreisten funkelnde Transmissionen, und goldene Garben stie­
gen wie bei einem phantastischen Feuerwerk empor.
»Sehen Sie den einsamen Baum?« fragte der andere.
Mintzlaff öffnete die Augen halb und blinzelte zum Fenster
hinaus. Der Zug fuhr soeben in einer weiten Schleife um eine
weiße Bergkuppe herum, auf deren höchstem Punkt eine riesi­
ge Tanne stand. »Menschen sind nicht in der Nähe«, sagte der
falsche Baron so leise, als spreche er mit sich selber. »Man kann
es wohl riskieren.« Lauter fügte er hinzu: »Schenken Sie dem
Baum, bitte, eine Minute lang Ihre Aufmerksamkeit!«
Mintzlaff faßte die Tanne fest ins Auge.
Plötzlich war ihm, als zucke ein greller Blitz aus dem
wolkenlosen Himmel zur Erde nieder. Konnte das möglich
sein?
Und da! Der Tannenwipfel wankte, als komme Sturm auf.
Schneewolken stoben aus den Zweigen. Der Riesenbaum neig­
te sich zur Seite. Die Verbeugung wurde immer tiefer. Und
dann fiel er schließlich, als werde er von unsichtbaren Wald­
arbeitern gefällt, langsam und lautlos in das weiße Feld. Der
Schnee stieg wie brauender Nebel hoch und sank wie eine
Fontäne, die abgedreht worden ist, zur Erde zurück.

244 DER ZAUBERLEHRLING


Nach einer Spanne des Schweigens sagte der Baron recht
sachlich: »Entschuldigen Sie das kleine Naturschauspiel!«
Mintzlaff versuchte leichthin zu lachen. »O bitte, das macht
nichts. Ihre Art, sich dosiert vorzustellen, entbehrt jedenfalls
nicht einer gewissen Originalität.«
»Ich hätte Ihnen gern etwas Imposanteres geboten«, erklär­
te der andere. »Indessen kennt der verantwortungsbewußte
Zauberkünstler Grenzen, die er zwar zu überschreiten fähig
wäre, die er aber, um nicht fahrlässig zu handeln, nicht ohne
Not, sondern nur in Ausnahmefällen verletzt. Unbedachte
Eingriffe in den eigengesetzlichen Ablauf des Naturgesche­
hens können allzu leicht unvorhergesehene Wirkungen ha­
ben.«
»Vorausgesetzt, daß ich Sie richtig verstanden habe, hängt
also die von Jahrhundert zu Jahrhundert sinkende Effektiv­
quote der Wunder mindestens zum Teil mit der wachsenden
Humanisierung der Herren Zauberer zusammen?«
Der Baron zupfte an seinem Schnurrbart. »Wenn ich nicht
wüßte, wer Sie sind, zöge ich allmählich strengere Saiten auf!«
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Ziemlich genau, mein Herr. Sie sind, trotz Ihres jugendlich
ironischen Wesens, Universitätsprofessor, ja, Sie sind es bereits
nicht mehr, weil Ihnen, fanden Sie eines Tages, mehr daran
liegt, im eigenen Kopf Ordnung zu schaffen als in nicht immer
hierzu bestimmten fremden Köpfen.«
Mintzlaff wagte kaum Atem zu holen.
»Sie schreiben Aufsätze und Bücher über grundlegende
Kunstbegriffe, und jetzt fahren Sie nach Davos, um vor dem
dortigen Kunstverein, auf dessen Einladung hin, einen Vortrag
zu halten. Ursprünglich wollten Sie schon vor vierzehn Tagen
reisen, doch dann baten Sie um vier Wochen Aufschub, weil
Sie, einen Tag vor der Abfahrt, eine hübsche, wirklich sehr
hübsche junge Dame, die auf den Vornamen Hedwig hört, zu­
fällig wiedertrafen. Sie empfanden, übrigens zu Recht, daß die
neuerliche Begegnung kein Zufall war, und blieben in Berlin,
bis Sie vor nunmehr drei Tagen ein merkwürdiges Telegramm
erhielten, in dem Ihnen von unbekannter Seite geraten wurde,

ZWEITES KAPITEL
sich sofort und unangekündigt in Davos einzufinden. Habe ich
recht?«
»Wozu fragen Sie noch?« Mintzlaff zögerte. »Stammte die
Depesche etwa von Ihnen?«
»Ich kenne Sie doch erst seit gestern. Wie hätte ich Ihnen
denn, Tage zuvor, telegrafieren können?«
»Mich nähme auch das nicht wunder«, sagte Mintzlaff. »Und
nun, wenn Sie gestatten, eine weitere Frage: Auf welchem un­
gewöhnlichen Wege verschafften Sie sich Einblick in mein Pri­
vatleben? Ich muß bekennen, daß es mich nachgerade eher be­
ruhigen als noch mehr beunruhigen würde, wenn ich nun end­
lich erführe, mit wem ich das Vergnügen habe! Sie verbieten
einer Kupeetür der Schweizer Bundesbahn, sich zu öffnen. Sie
zeigen mir einen Baum und fällen ihn, indem Sie ihn im Vor­
überfahren anschauen. Sie kennen, obwohl ich Ihnen erst ge­
stern über den Weg gelaufen bin, meinen Lebensweg, als hätten
Sie seit Monaten ein Dutzend Detektive hinter mir hergejagt!
Gestern noch hielt ich Sie für einen Mann mit ungewöhnlichen
Fähigkeiten, aber heute ...«
Der Herr, der nicht Baron Lamotte hieß, beugte sich ver­
bindlich vor. »Aber heute?«
»Aber heute glaube ich das nicht mehr. Sondern ich bin,
höchst widerwillig, zu einer Überzeugung gelangt, die sich mit
meiner Weltanschauung leider nicht vereinen läßt.« Mintzlaff
blickte dem anderen beinahe finster ins Gesicht und sah, daß
sich dessen Pupillen eng zusammengezogen hatten. »Es liegt
mir fern, Sie zu beleidigen. Trotzdem muß ich folgendes be­
haupten: Herr Baron, Sie sind kein ungewöhnlicher Mensch -
Sie sind, so unsinnig das klingen mag, überhaupt kein Mensch!«
Lamotte sagte: »Auch das vorurteilsfreie Denken bringt
Vorurteile mit sich. Wer das nicht weiß, ist übel dran. Also, Sie
halten auf Grund einiger sonderbarer, aus dem Rahmen fallen­
der Wahrnehmungen für möglich, daß ich, trotz meines
menschlichen Äußeren, gar kein Mensch bin. Sie werden sich,
will mir scheinen, genötigt sehen, einen Schritt weiterzugehen.«
Mintzlaff nickte traurig. »Ich werde wohl müssen. Denn es
ist nicht meine Art, mich übermäßig lange bei negativen Fest­

246 DER ZAUBERLEHRLING


Stellungen aufzuhalten. Da Sie kein Mensch sind, erhebt sich
die bedrohliche, aber unausweichliche Frage, wer oder was
sonst Sie sein könnten.«
»So will es die Logik«, bemerkte der Baron. »Diese Frage er­
hebt sich in der Tat. Ich fürchte, daß Ihnen keine andere Wahl
bleiben wird, als mutig darauf zu antworten. Kommen Sie mir
jedoch nicht mit der Gattung »Übermensch«! Ich bin kein
Mensch, kein Un- und kein Übermensch. Behalten Sie das tun­
lichst im Auge!«
Der andere verbeugte sich knapp und murmelte: »Ich wer­
de nicht verfehlen.«
»Darf ich einen Vorschlag machen?« fragte Lamotte. »Sie
haben in der letzten halben Stunde erfahren, daß ich unter
falschem Namen und Rang reise und daß ich kein Mensch bin.
Ich habe Hemmungen, mich Ihnen ohne Umschweife vorzu­
stellen, und schlage ein Verfahren vor, das sich der Spannkraft
Ihrer Phantasie anpassen mag. Ich schlage vor, daß Sie täglich
drei Mal raten, wer ich sein könnte, und sobald Sie das Richti­
ge raten, ist das Fragespiel zu Ende.«
»Drei Mal raten?«
»Ich bitte darum. Sie brauchen Ihre Vermutungen ja auch
gar nicht auszusprechen; es genügt ja, sie nur zu denken.«
»Also gut«, meinte Mintzlaff. »Wollen wir sofort damit be­
ginnen?«
Der Baron stimmte zu.
Der andere dachte: »Jetzt müßte ich mich nur noch, wie in
Kindertagen, mit dem Gesicht zur Wand stellen und warten,
bis er ,Huhu!’ ruft.«
»Auch das ist mir recht«, sagte Lamotte.
Mintzlaff wehrte ab. »Wir wollen es kurz machen. Geben
Sie bitte acht! Ich fange an.« Er senkte den Kopf.
»Falsch geraten!« erklärte der Baron nach einer Weile. »Wie
lautet Ihre zweite Vermutung?«
Der junge Mann schloß, um sich besser zu konzentrieren,
die Augen.
»Nein! Auch falsch! Aber nicht uninteressant. - Und drit­
tens?«

ZWEITES KAPITEL 247


In Mintzlaffs Phantasie kreisten Dutzende von halbdeutlich
gedachten Namen umeinander. >Es ist aussichtslos*, dachte er
und zwang, ziemlich wahllos, einen der Namen aus dem Ne­
bel ins klare Bewußtsein.
»Wieder falsch!« erklärte der Herr, der kein Mensch war.
»Sehr falsch sogar!« Es klang, als triumphiere er, daß sein Rät­
sel vorläufig ungelöst blieb. »Morgen werden wir weitersehen!«
Da rüttelte jemand an der Kupeetür. Es war ein Kellner aus
dem Speisewagen, mit Fleischbrühe und Kaffee.
»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Tür noch
verhext ist?« flüsterte Mintzlaff.
»Richtig!« sagte der Baron. »Einen Augenblick, Herr Ober!«
Eine Sekunde später flog die Tür auf, und der Kellner wäre
beinahe samt dem Tablett voll dampfender Tassen lang hinge­
schlagen. Das Geschirr klirrte heftig.
Der Mann steckte sein hochrotes Gesicht ins Abteil. »Ent­
schuldigen Sie«, bat er. »Die Tür muß sofort geölt werden.
Fleischbrühe gefällig?«

248 DER ZAUBERLEHRLING


Drittes Kapitel

In Davos-Platz, der Endstation der Rhätischen Bahn, ver­


ließen die beiden den Zug.
Ganze Rudel sonnengebräunter junger Leute sprangen la­
chend aus den Abteilen. In das Holzkonzert der klappernden
Skibretter, die man aus den Wagen hob und schulterte, misch­
te sich das Gepolter und Getrampel schwerer Stiefel. Die Me­
tallspitzen von Skistöcken schepperten auf dem Bahnsteig, und
ein nahezu babylonisches Sprachengewirr erfüllte die Luft.
Der Baron und Mintzlaff warteten lächelnd, bis die wilde
Jagd vorüber war. Dann trugen sie Sorge, daß ihre Koffer im
Gepäckraum untergestellt wurden, und erst, nachdem das zu
ihrer Zufriedenheit erledigt war, traten sie ins Freie.
Noch schien die Nachmittagssonne. Blaue Schatten lagen
auf den meterhohen Schneematratzen. Die kalte, klare Ge­
birgsluft ließ sich merkwürdig leicht atmen. Von irgendwoher
drang Walzermusik. Wahrscheinlich war eine Eisbahn in der
Nähe.
Sie spazierten, am Rathaus vorbei, bergan, bis sie eine Straße
erreicht hatten, auf der sich Autos und Autobusse hupend
ihren Weg bahnten. Es unterlag keinem Zweifel: Sie befanden
sich, obwohl sechzehnhundert Meter hoch, in einer Stadt!
Vielfenstrige Hotelpaläste lehnten an den weißen Hängen.
Geschäftshäuser und Konsulatsgebäude flankierten die Straße.
Bunte Plakate kündigten für den Abend amerikanische Filme
an. In den Schaufenstern gab es Pariser Abendkleider und
Fracks nach dem neuesten Schnitt zu bewundern. Eine Kaval­
kade von zehn Schlitten kam daher. Mit Peitschenknall, fröh­
lich klingenden Glöckchen und schnaubenden Rössern.
Der Baron war stehengeblieben und schaute hinterdrein.
»So viele schöne Frauen!« sagte er begeistert. »Es war eine gute
Idee, hierherzufahren.«
Mitten in dem vergnügten Gewimmel der heimkehrenden
Sportler standen drei Neger. Sie umrahmten einen in einem
Eisbärenfell steckenden Einheimischen, zeigten ihre weißen

DRITTES KAPITEL 249


Zähne und ließen sich von dem Bärenführer fotografieren. Der
Eisbär sprach Deutsch, Englisch und Französisch. Mintzlaff
atmete die kühle Luft so selig ein, daß es klang, als ob er seufz­
te. Hoch über dem Gebirgstal und der Stadt, die sich langsam
in Dämmerung hüllten, funkelten sonnige Eisgipfel. Es war
wie im Märchen.
»Nun, Sie Traumprinz!« meinte Lamotte gutmütig. »Dort
drüben sehe ich das Büro des Verkehrsvereins. Wenn ich nicht
irre, werden Sie sich melden wollen.«
Sie überquerten die Straße.
»Ich werde vor der Tür auf Sie warten«, sagte der Baron.
Doch Mintzlaff blieb, statt das Haus zu betreten, wie angewur­
zelt davor stehen und starrte entgeistert auf ein Plakat, das an
der Hauswand klebte. Auf dem Plakat war folgendes zu lesen:

Mittwoch! Mittwoch!
Auf Einladung der Kunstgesellschaft
und des Verkehrsvereins Davos findet
im Großen Saal des Kurhauses
ein einmaliger Vortrag des bekannten Kunstgelehrten
Prof. Dr. Alfons Mintzlaff statt.
Das Thema des Vortrags lautet
>DER HUMOR ALS WELTANSCHAUUNG«
Anschließend Diskussion!
Kartenverkauf in den Geschäftsstellen
der veranstaltenden Vereine.
Beginn des Vortrags 9 Uhr abends
Mittwoch! Mittwoch!

Mintzlaff rieb sich die Augen und trat einen Schritt näher.
Dann las er das Plakat, das ihn so in Erstaunen gesetzt hatte,
noch einmal. Darnach sagte er nur: »Das verstehe, wer will.«
Der Baron führte den Fassungslosen die Stufen zum Kur­
hauscafe hinauf, schob ihn durch die Tür, half ihm sogar aus
dem Mantel und drückte ihn in einen Stuhl.
Nachdem er zwei Hennessy bestellt hatte, sagte er: »So, und
nun erleichtern Sie Ihr vom Donner gerührtes Gemüt!«

250 DER ZAUBERLEHRLING


»Das Plakat!« murmelte der andere.
»Ganz recht, das Plakat!«
Mintzlaff riß sich zusammen und holte tief Luft, ehe er fort­
fuhr: »Hier glaubt man doch, daß ich erst in vierzehn Tagen
eintreffe! Wenn dem aber so ist - wie kann man dann meinen
Vortrag für Mittwoch ansetzen?« Er sah dem Baron miß­
trauisch in die Augen.
Dieser schüttelte belustigt den Kopf. »Nein, nein! Ich habe
mit dem Plakat ebensowenig zu schaffen wie mit der Depe­
sche!«
»Richtig, die Depesche!« Mintzlaff fröstelte. »Davos ent­
puppt sich als Rätselecke! Oder sollte ich dem Verkehrsbüro
versehentlich ein falsches Datum mitgeteilt haben?«
»Das glaube ich nicht«, sagte der Baron.
Die Kellnerin brachte die Kognaks.
Nachdem sie getrunken hatten, fragte Mintzlaff: »Könnten
Sie mich über meine mir völlig unübersichtliche Lage auf­
klären? Sie wissen vermutlich ungefähr, wie die Dinge Zusam­
menhängen.«
Lamotte wehrte entschieden ab. »Ich werde Ihnen, obwohl
ich in der Tat einiges weiß, kein Wort im voraus verraten.«
»Und weswegen nicht?«
»Sie lehnen es doch sonst ab, der Zukunft in die Karten zu
sehen! Bleiben Sie standhaft, junger Mann!«
»Auch gut, Herr Baron. Dann werde ich, da Sie mich so
taktvoll im Stich lassen, zunächst einmal versuchen, die Ge­
fechtslage zu skizzieren. Ich komme, auf Grund einer Depe­
sche, die keinen Absender nennt, unangemeldet und zwei volle
Wochen vor dem hier bekannten Termin nach Davos. Da sehe
ich ein Plakat und muß feststellen, daß mein Vortrag bereits in
drei Tagen stattfindet und daß ich, der ja sozusagen am Mitt­
woch noch gar nicht da sein wird, über ein Thema zu sprechen
gedenke, über das ich gar nicht sprechen will.«
Plötzlich stand er auf.
»Gehen Sie nur!« meinte der Baron. »Es wird das beste sein.
Ich warte.«
Mintzlaff lief ohne Hut und Mantel aus dem Cafe.

DRITTES KAPITEL 251


Der Baron ließ sich noch einen Hennessy bringen und schau­
te sich geruhsam um.
In der Mitte des großen Raums spielten ältere Holländer
und Engländer Billard. Sie waren zwar schon im Abenddreß,
hatten jedoch die Smokingjacken ausgezogen und an Gardero­
beständern aufgehängt. Nun standen sie, hemdärmelig und die
Queues pflegend, ernst und schweigsam den Kellnern im We­
ge oder beugten sich, merkwürdig verrenkt und wie zielende
Wilddiebe dreinblickend, über die mit grünem Tuch bezoge­
nen Tische und stießen zu. Die Elfenbeinkugeln klapperten;
manchmal gehorchten sie, manchmal nicht.
Wer aufhören mußte, räumte dem Gegner wortlos und gott­
ergeben das Feld, markierte den Punktgewinn und verlegte
sich von neuem aufs Warten.
»Da bin ich wieder«, sagte Mintzlaff und nahm Platz.
Lamotte sah ihn prüfend an. »Wenn ich nicht irre, machen
Sie ein noch verdutzteres Gesicht als vorher.«
»Machen Sie sich über mich lustig?«
»Nein.«
Mintzlaff lachte ärgerlich. »Der Direktor des Verkehrsver­
eins war nicht im Büro. Ich fragte einen der Angestellten, seit
wann der Herr Professor Mintzlaff in Davos weile.«
»Und was wurde Ihnen geantwortet?«
»Darf ich vorher eine Frage stellen?«
»Ich bitte darum.«
»Wissen Sie ganz sicher, daß ich, mit Ihnen gemeinsam, erst
vor knapp einer Stunde in Davos eingetroffen bin?«
»Ich kann es beschwören«, sagte der Baron.
»Trotzdem befinden wir uns beide in einem grundlegenden
Irrtum. Es ist nicht wahr, daß ich eben erst in Davos einge­
troffen bin. Ich bin bereits seit einer Woche hier!« Mintzlaff
runzelte die Stirn. »Man gab mir bereitwilligst nähere Aus­
künfte. So wohne ich - dies nur als Beispiel - im Grandhotel
Belvedere. Ich habe ein Zimmer mit Bad sowie einen Balkon
nach der Südseite.«
»Das ist doch großartig.«
»Tagsüber macht man mit mir Schlittenausflüge in roman­

DER ZAUBERLEHRLING
tisch abgelegene Täler, frühstückt dort in Sonne und Schnee
und fotografiert mich nach Herzenslust. Wenn ich allein sein
will, um in Ruhe nachzudenken, kann ich, mit Freifahrkarten
ausgestattet, die Drahtseilbahnen benützen und von dort aus
einsame Skitouren unternehmen.«
»Was wollen Sie mehr?« fragte der Baron. »Die Leute geben
sich doch wirklich alle erdenkliche Mühe.«
»Abends bin ich sehr viel eingeladen. Denn die gebildeten
Kreise hierorts sind künstlerisch ungewöhnlich interessiert.
Und außerdem gelte ich als guter Gesellschafter.«
»Welch angenehme Überraschung!« sagte der Baron. »Und
was gedenken Sie nun zu tun?«
»Genau weiß ich das noch nicht. Aber wenn mich nicht al­
les trügt, gedenke ich auf der Stelle ins Grandhotel zu gehen,
um mir dort selber einen Besuch abzustatten und bei dieser
Gelegenheit eins hinter die Ohren zu hauen!«
»Das dürfen Sie nicht! Gerade Sie dürfen das nicht!«
»Weshalb nicht?«
»Weil Sie, als berufener Erforscher der Komik, des Witzes
und des Humors, die verdammte Pflicht und Schuldigkeit ha­
ben, über der Situation zu stehen.«
»Sie verlangen ein bißchen viel von mir!« Mintzlaff schlug
mit dem Zeigefinger mehrmals auf die Tischkante. »Sie müssen
wissen ...«
»Daß Sie, weil Sie vom Davoser Verkehrsverein eingeladen
worden sind, nur wenig Geld bei sich haben.« Der Baron
klopfte dem anderen auf die Schulter. »Wenn Sie jetzt zum
Verkehrsverein stürzen und den Direktor aufklärten, verdür­
ben Sie sich selber und auch mir den Spaß. Stellen Sie sich doch
vor, wie lustig das sein wird, wenn wir am Mittwoch, hier im
Kurhaus, oben im Großen Saal, unter den Zuschauern sitzen
und den lichtvollen Ausführungen Ihres anderen Ichs lauschen
werden!«
»Aber ...«
»Es gibt kein Aber«, erklärte Lamotte kategorisch. »Da
ich ein Zauberer bin, spielt Geld keine Rolle. Sie können
sich im nobelsten Hotel einquartieren - ich hexe Ihnen je­

DRITTES KAPITEL 253


den Betrag in die Brieftasche.« Er streckte die Hand über den
Tisch.
Mintzlaff schlug ein. »Ich nehme Ihren Vorschlag an.«
»Bravo!«
»Gilt gezaubertes Geld eigentlich als Falschgeld?«
»Jawohl.«
»Können Sie denn kein echtes Geld zaubern?«
»Ob Geld echt oder falsch ist, richtet sich nur darnach, wer
es hergestellt hat. Wenn es der Staat druckt oder prägt, ist es
echt.«
»Aber dann sind Sie ja ein Falschmünzer!«
»Ich? Wieso?«
»Haben Sie denn ein Münzprivileg?«
»Ich brauche kein Privileg. Denn ich bin keinem Staat und
keinem Gesetz untertan.«
»Richtig!« Mintzlaff rieb sich befriedigt die Hände. »Es ist
mir lieb, daß die Angelegenheit, wenn auch auf außergewöhn­
liche Art, ihre Ordnung hat. Ich schwärme für beides: für das
Außergewöhnliche und für die Ordnung.«
»Ich weiß«, sagte der Baron.
»Dann kann die Stegreifkomödie ihren Anfang neh­
men!«
»Nachdem wir uns Quartiere gesucht und zu Abend geges­
sen haben werden, wollen wir versuchen, die flüchtige Be­
kanntschaft des falschen Herrn Mintzlaff zu machen. Ich glau­
be, daß uns das unschwer gelingen wird.«
»Ich bin gespannt, wie ich aussehe.«
Der Baron winkte der Kellnerin und zahlte. Dann gingen
sie. Die hemdärmeligen Herren aus Holland und England
spielten noch immer Billard.
Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Laternen
brannten. Die Straße lag fast menschenleer. In den Hotels und
Pensionen waren, in langen schimmernden Reihen, die Zim­
merfenster erleuchtet. Die Gäste kleideten sich wohl zum Din­
ner um.
Der Schnee knirschte ärgerlich. Es war so kalt, daß die Na­
senflügel engfroren.

254 DER ZAUBERLEHRLING


»Ehe wir es vergessen«, sagte der Baron plötzlich, »wie wer­
den Sie denn nun heißen?«
»Was?« Mintzlaff blieb stehen. Unmittelbar darauf lachte er
schallend. »Tatsächlich! Ich muß mir ja einen anderen Namen
beilegen!«
»Zwei Professoren Mintzlaff sind für Davos entschieden
zuviel. Was halten Sie von dem klangvollen Namen Kilian Pe-
rathoner?«
»Kilian Perathoner? Ein bißchen zu bombastisch, finden Sie
nicht?«
»Suchen wir weiter! Wie wäre es mit Erwin Jennewein?«
»Jennewein ist gut«, sagte Mintzlaff. »Aber Erwin geht lei­
der nicht. Ich habe nämlich eine Freundin, das heißt, ich hatte
eine Freundin ...«
»Und diese Freundin, die Sie haben oder hatten, heißt un­
glücklicherweise Erwin?« meinte Lamotte und blinzelte.
»Nein, sie heißt Hallo.«
»Das ist doch kein Name!«
»Eigentlich heißt sie Sumatra. Sie wurde nämlich dort gebo­
ren. Sie fand, schon als Kind, daß eine Insel kein Vorname ist.
Und wenn man nach ihr rief, kam sie nicht zum Vorschein; es
sei denn, man rief sie nicht beim Namen, sondern >Hallo!< Und
so heißt sie Hallo, bis auf den heutigen Tag.«
»Mir soll es recht sein«, meinte der Baron.
»Und wenn Hallo und ich mit dem Rucksack auf dem
Rücken durch das, was man Gottes freie Natur nennt, pilger­
ten oder, wie eben jetzt Sie und ich, unter dem nächtlichen,
sternbesäten Himmelsgewölbe standen und nicht wußten, wer
an Gut und Böse schuld ist, nannten wir diese verborgene
Macht nicht Gott, nicht Schicksal und nicht das Unbekannte,
sondern - Erwin! Vielleicht, um jener Macht näher zu sein;
vielleicht, weil wir uns vor großen Worten noch mehr fürchte­
ten als vor dem Unbegreiflichen; vielleicht, um trotz allem
lächeln zu können.«
»Aha«, sagte der Baron. »Nun, über Hallo und Erwin spre­
chen wir ein andermal. Dann taufen wir Sie Ludwig Jenne­
wein?«

DRITTES KAPITEL 255


Mintzlaff war in Gedanken versunken.
»Oder ist der Vorname Ludwig auch schon in Ihrem welt­
anschaulichen System verankert?«
»Nein, nein. Ludwig Jennewein ist mir recht. Vorausgesetzt,
daß ich nicht bis an mein Lebensende so heißen muß.«
»Das verspreche ich Ihnen«, erklärte der Baron. »Kommen
Sie, Herr Jennewein! Und heute abend besuchen wir Herrn
Mintzlaff, falls Ihr sogenannter Erwin nichts dagegen einzu­
wenden hat.«
Eine Sternschnuppe fiel aus dem glitzernden Himmel her­
aus, beschrieb eine geheimnisvolle Bahn und löste sich im
Nichts auf.
»Bei Erwin weiß man nie, woran man ist«, sagte der junge
Kunstgelehrte.

256 DER ZAUBERLEHRLING


Viertes Kapitel

Der Baron, der kein Baron war, hatte es sich nicht nehmen las­
sen, Mintzlaff, der nun Jennewein hieß, in ein ruhiges Hotel,
das vorwiegend von Engländern und Engländerinnen bewohnt
schien, zu begleiten und dort in einem netten Zimmer unter­
zubringen, zu dem eine geräumige Südloggia und ein Bad ge­
hörten.
Dann erst hatten sich die Herren getrennt, nicht ohne sich
für später in der Bar des Hotels, das zu Ehren der langlebigen
englischen Königin »Hotel Victoria« hieß, verabredet zu haben.
Nachdem Lamotte seinen Schützling hinreichend versorgt
wußte, war er mit einem Pferdeschlitten davongefahren. Nä­
heres hatte er nicht mitgeteilt, und Mintzlaff hatte nicht weiter
gefragt; denn seine Neugier war vorläufig besänftigt. Die Rät­
sel der letzten Tage und Stunden beschäftigten ihn vollauf.
Außerdem mußte er die Koffer auspacken, den Smoking
zum Bügeln geben, dem Schweizer Stubenmädchen klarma­
chen, daß er erstaunlicherweise kein Angelsachse sei, und ba­
den mußte er auch. Schließlich erwuchs ihm die keineswegs
leichte Aufgabe, den Anmeldezettel auszufüllen. So schwer es
ihm ein Leben lang gefallen war, sich mit dem Namen Mintz­
laff abzufinden, so viel Mühe machte es nun wieder, plötzlich
anders zu heißen.
Endlich war das Formular vollgelogen.
Er war nun also ein Dr. phil. Ludwig Jennewein, von Beruf
Verlagsbuchhändler, in Leipzig wohnhaft. Er nahm sich noch
vor, falls das Gespräch gelegentlich auf den Zweck seiner Rei­
se kommen sollte, beiläufig zu erklären, daß er Davos besuche,
um, wenn möglich, neues Material über Robert Louis Steven­
son zu sammeln, dessen bündige Biographie herauszugeben
ihn seit langem beschäftige.
Stevenson war, das wußte Mintzlaff, in den achtziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts wiederholt in Davos gewesen, hatte
hier, hoch oben im Gebirge, Heilung gesucht und »The Sil-
verado Squatters« zu schreiben begonnen. Daß ein gründlicher

VIERTES KAPITEL
Verleger nach Davos kam, um Ermittlungen anzustellen, moch­
te durchaus plausibel erscheinen.
Als er später, auf dem Weg zum Speisesaal, von dem freund­
lichen Hotelier begrüßt wurde, brachte er kurz entschlossen
die Sprache auf die angebliche Absicht seiner Reise.
Kaum daß ihm vom Oberkellner ein kleiner Tisch angewie­
sen worden war, tauchte der Herr des Hauses von neuem auf
und legte ihm strahlend ein Buch neben den Suppenteller. Das
Buch hieß: »Robert Louis Stevenson at Davos< und stammte
von einem Mann namens Lockett, der über dreißig Jahre in
Davos als englischer Konsul gelebt hatte.
Mintzlaff tat natürlich so, als ob er diese Quelle längst ken­
ne, versprach aber, gelegentlich darin zu blättern.
Das besorgte er dann auch schleunigst, und zwar während
der ganzen Mahlzeit. Denn wenn er schon für einen Kenner
Stevensons gelten wollte, konnte ihm eine solche Lektüre nur
nützlich sein.
Er blätterte noch darin, als er in der Bar saß und auf Lamot­
te wartete.
Die englischen Gäste - die meisten in Abendkleidern, ande­
re noch im Sportdreß - tranken Whisky und warfen mit spit­
zen Metallbolzen nach einer an der Wand hängenden hölzer­
nen Scheibe. Das Spiel schien, so einfach es aussah, nicht ganz
leicht zu sein.
Die Gattin und der Sohn des Hoteliers kamen, um zu fra­
gen, ob Herr Doktor Jennewein an der Tischtenniskonkurrenz
des Hotels teilnehmen wolle. Nachmeldungen würden noch
angenommen. Seiner Versicherung, daß er für einen Wettbe­
werb zu schlecht spiele, wurde wenig Glauben geschenkt. Sie
erkundigten sich anschließend höflich nach den sonstigen
sportlichen Absichten des neuen Gastes.
Als er ihnen erklärt hatte, daß er wegen eines organischen
Herzleidens nicht skifahren, höchstens eislaufen dürfe und
sich am ehesten darauf freue, allein durch verschneite Wälder
zu spazieren oder irgendwo in der Sonne zu liegen, maßen sie
seine große, kräftige Gestalt mit unverhohlener Anteilnahme.
Nun verstanden sie wohl, daß er Bücher verlegte.

258 DER ZAUBERLEHRLING


Endlich kam Lamotte.
Er wirkte, im gutsitzenden zweireihigen Smoking, wie ein
eleganter Riese, wie ein Jason oder Theseus der Neuzeit.
Die in der Bar anwesenden Damen waren fasziniert. Sie nah­
men ihm mit den Blicken förmlich Maß. Er hatte nichts dage­
gen, aber es interessierte ihn auch nicht über Gebühr.
»Sind Sie gut untergebracht, Doktor?« fragte er, während er
sich in einem der bequemen Sessel niederließ.
»Ausgezeichnet, Herr Baron. Man ist nur nicht ganz damit
einverstanden, daß ich wie ein Sportsmann wirke, ohne einer
zu sein!«
Lamotte blickte einer großen blonden Engländerin, die auf
einem Barhocker saß und ihn kühl musterte - es sah eher aus,
als sei sie auf dem Pferdemarkt und schätze einen Zuchthengst
ab - streng in die eisblauen Augen.
Jetzt beugte sie sich weit vor. Ihr Nachbar sprach auf sie ein.
Sie nahm keine Notiz davon.
»Ein Verleger aus Leipzig ist nicht verpflichtet, Wintersport
zu treiben«, erklärte der Baron. »Noch dazu, wenn der Ärm­
ste einen Herzfehler hat. Ihr Herz ist übrigens nicht nur orga­
nisch in Unordnung; es ist überhaupt nicht in Ordnung.«
Mintzlaff wollte fragen, was Lamotte meine, aber er kam
nicht dazu.
Denn die Engländerin glitt von ihrem Barhocker herunter,
ging zwei Schritte auf den Baron zu und blieb dann, wie ange­
nagelt, mitten im Raum stehen. Ihre Augen waren starr auf La­
motte gerichtet. Sie trug ein silbernes Abendkleid und sah aus
wie eine Amazone.
»So«, sagte der Baron halblaut. »Dort mag sie stehen blei­
ben! - Ich kann diese Sorte Frauen nicht leiden, müssen Sie
wissen. Dafür, daß sie keinen Funken Gefühl im Leibe haben,
kann man sie vielleicht nicht verantwortlich machen. Doch daß
sie sogar noch stolz darauf sind und ihre kalte Lebensgier stau­
nend bewundern, statt sich ein wenig zu schämen, erbost mich
stets von neuem.«
»Ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, hat zu dieser Abnei­
gung gewiß nicht wenig beigetragen.«

VIERTES KAPITEL 259


»Es sind Menschenfresserinnen«, sagte der Baron. Dann er­
hob er sich. »Wir wollen gehen. Lots Weib mag sich noch ein
Weilchen als Salzsäule betätigen.«
Sie verließen die Bar und nahmen draußen im Flur ihre
Mäntel vom Haken. Als sie, wenig später, auf die Hoteltür zu­
schritten, hörten sie noch, wie der Hotelier zu seiner Frau sag­
te: »Was ist denn in der Bar geschehen? Sie sitzen und stehen
herum wie im Dornröschenschlaf!«
»Und Mrs. Gaunt weint!« ergänzte die Frau.
Der Mann schüttelte ratlos das international erfahrene
Haupt. »Mrs. Gaunt weint? Das ist doch unmöglich!«
Und die Frau erwiderte: »Vielleicht weint sie nur aus Ver­
sehen?«

Lamotte und Mintzlaff spazierten seit einer Viertelstunde die


Hauptstraße auf und ab. Die kalte Nachtluft und der klare
Sternhimmel taten gut. Der Schnee war jetzt glatter als Parkett.
Die beiden Herren mußten einander unterhaken.
Schlittenglöckchen klingelten. Tanzmusik drang aus verschie­
denen Himmelsrichtungen in die Nacht, so daß sich die Ton­
arten und Rhythmen bunt vermischten. Seltsamerweise störte
es nicht.
»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« fragte der Baron.
»Achten Sie, bitte, darauf, daß ich mich etwas mehr beherr­
sche. Ich zaubere zuviel!« Es klang fast zerknirscht. »Ich hat­
te mir fest vorgenommen, mich weitgehend im Rahmen des
Menschlichen zu halten. Ob es nun Gewohnheit oder, was ich
eher vermute, Eitelkeit ist - ich benehme mich falsch. Die Sze­
ne in der Bar war überflüssig.«
»Steht die kühle Dame aus England eigentlich immer noch
auf dem gleichen Fleck?« fragte Mintzlaff. »Und weint sie
noch immer?«
»Da haben wir es«, meinte der Baron ärgerlich. »Es ist ein
wahres Glück, daß Sie mir begegnet sind!« Er schwieg einen
Augenblick, dann fuhr er fort: »So, das wäre erledigt! Nun
kann die kleine Gesellschaft aufwachen und tun, als sei nichts
gewesen.«

260 DER ZAUBERLEHRLING


»Warum haben Sie die Dame weinen lassen?«
»Damit sie endlich einmal traurig wurde«, erklärte Lamotte.
»Mit mir scheinen Sie auch nicht zufrieden zu sein«, sagte
Mintzlaff. »Mein Herz, meinten Sie vorhin, sei nicht nur orga­
nisch, sondern in keiner Weise in Ordnung.«
»Sie haben die letzten zehn Jahre Ihres bisherigen Lebens
sorgfältig darauf verwendet, Ihr wahres Wesen zugrunde zu
richten.« Die Stimme des Barons klang ernst. »Ihre Energie ist
bewundernswert. Sie wollten sich erziehen. Und Sie haben sich
erzogen! Sie waren einmal ein empfindsamer Mensch und konn­
ten lieben. Wenn anderen Leid widerfuhr, litten Sie mit ihnen.
Sie halfen, ob man Sie gerufen hatte oder nicht. Sie hatten kei­
ne Angst, sich selber zu verlieren. Damals hatten Sie noch Ge­
fühl im Leibe und spürten, daß man nicht ärmer wird, wenn
man sich verschenkt.«
Mintzlaff ging schweigend neben Lamotte her.
»Welcher Teufel ritt Sie, sich zu verleugnen?« fragte der Ba­
ron heftig. »Warum hielten Sie Menschlichkeit für Schwäche,
warum Gemüt für Unzulänglichkeit? Sie errichteten zwischen
sich und dem Leben eine chinesische Mauer aus unzerbrechli­
chem Glas und beschlossen, ein Charakter zu werden. Als ob
die Welt ein Schaufenster wäre!«
»Es war nicht leicht.«
»Das hätte noch gefehlt, junger Mann! Sie treiben mutwillig
Ihr Gefühl in die Verbannung - und das sollte auch noch leicht
sein? War es denn für die leicht, die Ihnen nahestanden? Die
Ihnen vielmehr nahestehen wollten und es nicht durften, weil
Ihre verdammte gläserne Mauer zwischen denen und Ihnen
stand? Die sich an der Mauer den Kopf einrannten, wenn sie
trotz allem versuchten, zu Ihnen zu kommen? Sie haben Ihr
Herz erwürgt. Sie haben Ihre Seele amputiert. Ebensogut hät­
ten Sie sich, um ein bedeutender Mann zu werden, ein Bein ab­
hacken können, Sie deutscher Fakir! Aber freilich, ein Bein
wächst nicht nach, nicht wahr? Glauben Sie nur nicht, daß es
die Seele anders hält!«
»Sie haben gut reden! Sie sind kein Mensch!« Mintzlaff blieb
stehen. »Sie können unsere Gedanken lesen und sich über uns

VIERTES KAPITEL 26l


lustig machen. Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie das
wohl sein mag, wenn man weiß, daß man sechzig Jahre atmen
darf und dann zu Staub zerfällt? Wie das ist, wenn man eines
Tages dreißig Jahre alt wird und auf die beiden Wege blickt, die
der Mensch gehen muß - den Weg aus dem Nichts und den
Weg in das Nichts? Da steht man dann, auf der Anhöhe des Le­
bens, betrachtet seine Pläne und mustert seine Wünsche. Da
steht man dann, bedenkt seine Ziele und schlägt die Hände
vors Gesicht!« Mintzlaffs Augen funkelten zornig. »Jawohl,
ich habe mich erzogen! Ich wollte mein Leben nicht vertun wie
einen Sonntagnachmittag! Ich wollte keinen Ruhm, kein Geld
und auch kein Glück, aber ich wollte werden, was ich war, wei­
ter nichts, aber auch nicht weniger! Was ich versuchte, war
dumm und sinnlos? Daß ich anderen wehtat, war niederträch­
tig? Und daß ich selber nicht glücklich war, hatte seine Rich­
tigkeit?« Er lachte bitter. »Sie haben sicher ausgezeichnete Be­
ziehungen zu Instanzen, die es sich zur Ehre anrechnen, die
Erdkugel mit Vollkommenheit und Segen tapeziert zu haben.
Bestellen Sie den Herrschaften meine Grüße.«
»Na, na«, sagte Lamotte. »Beruhigen Sie sich, bitte. Den Sie
und Ihre kleine Freundin Erwin nennen, den kenne auch ich
nicht. Sie überschätzen meine Beziehungen.« Er hielt Mintz­
laff am Ärmel fest. »Ich lasse Sie jetzt nicht gehen!«
Mintzlaff wollte sich losreißen.
Der Baron lächelte. »Aber Herr Professor! Sie werden doch
einen stellungslosen Zauberkünstler nicht schlagen wollen!
Geben Sie den Gedanken schnell wieder auf!«
»Lassen Sie mich in Frieden!«
»Ich bin Ihr Freund, ob Sie wollen oder nicht. Darum habe
ich das Recht, Sie zu kränken. Ich tue es, damit Sie merken, daß
Sie noch leben. Jetzt sind Sie außer sich, und außer sich zu sein,
ist schon etwas! Es war notwendig, Sie zu quälen; denn das
Notwendige muß geschehen.«
»Soll ich, alten Bräuchen folgend, ins Kloster gehen, damit
ich niemanden mehr enttäuschen kann? Hinter die Mauer aus
Stein, statt hinter die aus Glas?«
»Sie sollen nichts als leben«, sagte der Baron ruhig. »Es ist

262 DER ZAUBERLEHRLING


ganz einfach, und Sie müssen es wieder lernen. Verlangen Sie
meinetwegen zu viel von den anderen, nie wieder zu wenig!
Sperren Sie das Vorhängeschloß zu Ihrem Herzen auf, bevor es
zu spät ist! Sie sind Ihrem Ziel bedenklich nahegekommen.
Das Weinen haben Sie schon verlernt, das war ein schweres
Stück Arbeit. Nun ist das Lachen an der Reihe. Das verlernt
sich schon leichter. Nicht mehr lange, und Sie werden noch at­
men wie ein Mensch, aber fühllos sein wie Ihre Fotografie.«
»Sie ärgern mich nur, obwohl Sie mich eigentlich erschrek-
ken wollen. Sie haben nicht recht, und Sie wissen, daß Sie nicht
recht haben. Was habe ich, bei Licht besehen, getan? Ich habe,
meiner Arbeit zuliebe, die Professur aufgegeben und mein Pri­
vatleben abgebaut. So liegen die Dinge.«
»So liegen die Dinge«, wiederholte Lamotte spöttisch. »Der
Herr Professor hat zum Lachen und Weinen leider keine Zeit,
weil er über diese und ähnliche lästige Angewohnheiten des
Menschen Bücher schreiben muß.« Er lachte vor sich hin. »Viel­
leicht können wir den Herrn, der am Mittwoch in Ihrem Na­
men einen Vortrag hält, dazu überreden, daß er Ihnen, außer
dem Namen, auch noch das Nachdenken und das Bücherschrei­
ben abnimmt! Dann könnten Sie sich unbesorgt wieder Ihrem
geschätzten Privatleben widmen, Herr Doktor Jennewein!«
»Diesen Hochstapler habe ich ganz vergessen«, sagte
Mintzlaff. »Wo finden wir ihn?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, die Herren miteinander
bekannt zu machen«, antwortete der Baron. »Kommen Sie, Sie
Gemütsathlet!«

VIERTES KAPITEL 263


Fünftes Kapitel

Im Grandhotel Belvedere fand, zugunsten eines Wohltätig­


keitsfonds, ein Galaball statt.
Die in Davos amtierenden Konsuln saßen mit ihren Lands­
leuten an großen blumengeschmückten Tafeln, deren jede, im
Meer des gemeinsamen Vergnügens, eine besondere Sprachin­
sel bildete. Juwelen glänzten. Perlen schimmerten. Ordensbän­
der grüßten vom Schwarz der Fräcke, wie zierlich angelegte
bunte Beete. Bronzebraune Frauenköpfe, ausgesuchte Ware aus
allen exportfähigen Ländern der Erde, saßen selbstbewußt auf
schlanken Hälsen und mattgetönten, bloßen Schultern.
Maurice Chevalier, der berühmte französische Schauspieler,
der seit Wochen im Grandhotel wohnte, hatte sich bereit er­
klärt, den Abend durch den Vortrag einiger seiner Pariser
Chansons zu beleben. Und er entledigte sich dieser Aufgabe
mit all dem übermütig frechen und verschmitzten Charme, der
ihm zur Beliebtheit in der Welt und zu einem stattlichen Be­
sitztum bei Cannes verholfen hatte.
Da der Künstler sein ständiges Requisit, seinen Strohhut,
begreiflicherweise nicht in den Alpenwinter mitgebracht hat­
te, bediente er sich, nachdem er reizend auf die erforderliche
Umbesetzung hingewiesen hatte, eines grünen Tiroler Hüt­
chens. Die für ihn ungewöhnliche Kopfbedeckung tat der Wir­
kung des Vortrags im übrigen nicht den geringsten Abbruch.
Als man zu tanzen begann, stiegen der Baron und Mintzlaff
selbander in die große, geräumige Bar hinunter. Der Raum war
noch ziemlich leer. Nachdem sie einen gemütlichen Ecktisch
gefunden hatten, bestellte der Baron Irroy. »Schon der Cham­
pagner allein«, sagte er, »würde ausreichen, die Existenz Frank­
reichs als lebensnotwendig erscheinen zu lassen!«
»Ich trinke Sekt nur aus Gesundheitsgründen«, meinte
Mintzlaff. »Er ist dem Herzen zuträglich.«
»Sie Lügner«, erwiderte der Baron, und dann tranken sie
einander zu.
Später ging er zu dem Oberkellner hinüber, der königlich an

264 DER ZAUBERLEHRLING


einer Säule lehnte, und plauderte leise mit ihm. Da der Mann
zu zögern schien, drückte er ihm mehrere Banknoten in die
Hand. Mintzlaff konnte es ganz deutlich sehen. Der Oberkell­
ner wurde einsichtiger, und Lamotte kehrte an den Tisch zu­
rück.
Kurz darauf nahm das fest angestellte Tanzpaar am Parkett
Platz. Außerdem erkletterten die Mitglieder eines kleinen Or­
chesters das Podium und packten ihre Instrumente aus.
Im Hintergrund des großen Raums, an der langen Theke,
hockte amerikanische Jugend, lärmte unbekümmert und hielt
den Mixer und den rundlichen Kellermeister in Atem. Die Ge­
spräche drehten sich vornehmlich um die Bestzeiten der Par-
sennstrecke und um den grundsätzlichen Unterschied zwi­
schen schottischem Whisky und Bourbon.
Mintzlaff wollte sich gerade mit einer Frage an seinen Nach­
barn wenden. Doch als er in dessen Gesicht blickte, zog er es
vor zu schweigen.
Lamotte schaute zum Eingang, wo eine Dame stand, und
seine braunen Pupillen leuchteten jetzt wie von der Sonne an­
gestrahltes Gold. Er beugte sich kaum merklich vor, und es sah
aus, als ducke er sich zum Sprung.
Die Dame, die seine Aufmerksamkeit beanspruchte, war
zweifellos eine Südländerin. Sie trat zögernd ein. Blauschwar­
zes Haar, in der Mitte gescheitelt und tief im Nacken gekno­
tet, umgab ihr ernstes Gesicht wie ein schmaler Ebenholzrah­
men.
Der Oberkellner eilte auf einen der reservierten Tische zu.
Dort erwartete er sie respektvoll.
Sie schritt langsam und gedankenverloren über die Tanz­
fläche.
Der Oberkellner schob einen Sessel zurecht.
Sie setzte sich und dankte ihm, indem sie den Kopf ein we­
nig neigte.
Er stellte eine halblaute Frage.
Wieder neigte sie den Kopf.
Nun entfernte er sich geräuschlos.
Sie faltete ihre schmalen ringlosen Hände und blickte gleich­

EÜN1TES KAPITEL 265


gültig zu den Musikern hinüber, die ihre Instrumente stimm­
ten.
Der Eintänzer erhob sich, verdrehte die Augen und machte
eine kolossale Verbeugung. Da sie es nicht bemerkte, nahm er
schnell wieder neben seiner Partnerin Platz, die ihn ironisch
von der Seite musterte.
Mintzlaff sah abwechselnd den Baron und die Frau an. Sie
blickte auf ihre Hände, ohne sie eigentlich zu betrachten. La­
motte aber saß aufrecht da und hatte die Arme auf die Sessel­
lehne gestützt. Man konnte meinen, er sitze auf einem Thron
und erteile stumme Befehle.
Plötzlich tauchte ein kleiner livrierter Boy im Saal auf. Er
trug eine große weiße Porzellanvase vor sich her, aus der eine
einzige rote Rose ragte, und näherte sich dem Tisch der einsa­
men Dame. Dort angekommen, hob er sich auf die Zehenspit­
zen und stellte die Vase behutsam in die Tischmitte.
Die Dame sah ihn fragend an.
Er wurde rot wie die Rose, die er gebracht hatte, zuckte die
Achseln und entfernte sich schweigend. Er ging dabei noch im­
mer auf Zehenspitzen. Er hatte wohl vor Verlegenheit verges­
sen, die Fersen wieder zu senken.
Als das kurze, zierliche Schauspiel vorbei war, fragte Mintz­
laff leise: »Wer ist sie?«
Der Baron griff in die Brusttasche und reichte ihm ein zu­
sammengefaltetes Papier. Es war ein Ausschnitt aus einer Zeit­
schrift, ein wundervolles Lichtbild, ein Damenporträt. Es war
eine Fotografie ihrer Nachbarin!
Unter dem Bild stand: »Juana Fernandez, die berühmte ar­
gentinische Schauspielerin, verbringt ihren Winterurlaub in
Davos.«
»Deswegen ist er nach Davos gefahren«, dachte Mintzlaff.
Der Baron nickte.
Die Bar begann sich mit Ballgästen zu füllen, denen es oben
im Saal zu heiß geworden war. Das Tanzpaar begab sich, weil
die Kapelle den ersten Tanz spielte, gehorsam aufs Parkett und
schwebte lächelnd an den Tischen vorüber. Hinten, an der
Theke, wo die Amerikaner saßen, wurde es immer lebhafter.

266 DER ZAUBERI.EHRI.1NC


»Ich fand das Bild zufällig, als ich in einer Zeitschrift blät­
terte, und packte auf der Stelle die Koffer. Mir blieb gar keine
andere Wahl«, sagte der Baron. Nach einer Pause fuhr er fort:
»Es ist eine unvermeidliche Begegnung. Aber sie weiß davon
noch nichts.«
Der Kellner goß der Dame, von der die Rede war, gerade aus
einer alten Flasche goldgelben Wein ins Glas.
Da tauchte der Boy schon wieder auf. Sein kleines braunes
Kindergesicht war von staunendem Ernst erfüllt. In der Hand
hielt er eine zweite langstielige rote Rose, die er, sich wieder auf
die Zehen hebend, ehrfürchtig in die weiße Vase steckte. Juana
Fernandez sah ihn prüfend an.
Er zuckte wie beim ersten Mal mit den Schultern und ent­
fernte sich schnell.
Sie blickte, bevor sie den Kopf wieder sinken ließ, sinnend
auf die zwei Rosen. Ihre Gesichtszüge verrieten nicht, was sie
dachte.
»Warum ist sie traurig?« fragte Mintzlaff.
»Sie ist traurig, daß sie so traurig ist!« erwiderte der Baron.
»Sie hat Unglück gehabt; nicht eigentlich viel mehr als man­
cher andere Mensch; aber sie ist darüber unglücklicher als an­
dere. Sie weiß nicht, ob sie sich je wieder wird freuen können.
Und das macht sie ratlos.«
»Eine empfindsame Seele zu haben, ist sehr anstrengend.«
»Sie hätte, um sich zu erholen, arbeiten müssen«, meinte
Lamotte. »Eine Schauspielerin muß abends, wenn die Rolle
es befiehlt, ihre Melancholie verbergen. Das hätte ihr gutge­
tan.«
»Und sie ist ganz allein in Europa?«
»Sie ist immer allein. Sie lehnt jede Annäherung ab. Das ein­
zige, wozu sie sich zwingt, ist, daß sie abends zuweilen unter
Menschen geht. Da sitzt sie dann, so wie jetzt, einsam am Tisch
und blickt stumm vor sich hin.«
»Sie haben heute schon zuwege gebracht, daß eine herzlose
Dame zu Stein erstarrte und weinte - es wird Ihnen auch ge­
lingen, unserer unglücklichen Nachbarin ein Lächeln zu
entlocken.«

FÜNITES KAPITEL 267


»Ein Lächeln vielleicht. Ich will es versuchen. Zu einem La­
chen ist es leider noch zu früh.«
»Ich verstehe Sie nicht«, knurrte Mintzlaff. »Warum brin­
gen Sie eine Frau, die schon zum Frühstück drei Herren ver­
speisen möchte, zum Weinen? Wem helfen Sie damit? Und was
wollen Sie von mir? Zu welchem Behufe reden Sie mir ein, daß
die Mauer aus Glas, hinter der ich mich, aller Welt sichtbar,
verberge, mein Verderben sei?«
»Wer nicht lacht, doch auch wer nicht weint, ist nur ein hal­
ber Mensch«, antwortete der Baron. »Beides können, lachen
und weinen - das ist die Summe des Lebens.«
»Sie sind also ein Menschenfreund«, sagte Mintzlaff und
fuhr spöttisch fort: »Wer ist denn der Unbekannte, der unsere
ebenso schöne wie traurige Dame mit roten Rosen unterhält?«
Als Lamotte nicht antwortete, lachte er und meinte: »Sehen
Sie, nun kann auch ich schon Gedanken lesen!«

Anderthalb Stunden später brachte der Boy, der in der Zwi­


schenzeit nicht müßig gewesen war, die zweiundzwanzigste
rote Rose und, da die erste voller Blumen war, eine zweite Vase.
Auf dem Parkett hatten Ballonschlachten stattgefunden.
Und einer der jungen Amerikaner, die an der Theke getrunken
hatten, war, nachdem er mit Gläsern nach dem Mixer gewor­
fen hatte, ins Freie getragen und in den heilsam kühlen Schnee
gesetzt worden.
Juana Fernandez saß noch immer in sich versunken. Nur so­
oft sie das Weinglas zum Mund führte, streifte ihr Blick die Ro­
sen.
Die meisten Gäste der Bar schienen sie zu kennen und trotz
des nächtlichen Übermuts zu begreifen, daß sich die Schau­
spielerin von dem geheimnisvollen Rosenzauber nicht gestört
oder gar ernstlich belästigt fühlte.
Deshalb verbarg man die keineswegs geringe Neugierde
hinter dem Schein einer wohlwollenden Interesselosigkeit.
Am Tisch Lamottes saß jetzt, außer ihm und Mintzlaff, eine
lebhafte Gesellschaft; und zwar der Direktor des Verkehrsver­
eins, der leitende Arzt eines Sanatoriums, ein Maler aus Basel,

268 DER ZAUBERLEHRLING


ein Flugkapitän der Swissair und ein kleiner, brünetter Herr
mit einem amüsanten Vogelgesicht und einem ungefaßten Mon­
okel.
Der Baron hatte die Korona, da sonst kein Platz gewesen
war, an seinen Tisch gebeten, und schon bei der gegenseitigen
Vorstellung war deutlich geworden, daß er richtig gehandelt
hatte.
Denn eben dieser kleine, schlanke, brünette Herr mit dem
Monokel hatte, sich verbindlich verbeugend, gesagt: »Mein
Name ist Mintzlaff.« Und der Herr, der erst seit Stunden Jen­
newein hieß, hatte lächelnd erwidert: »Sehr erfreut, Herr Pro­
fessor!«
Aber auch die anderen Herrschaften hatten ihre verbor­
genen Reize. Der Chefarzt war zugleich der Vorsitzende der
Kunstgesellschaft und sammelte Bilder. Der Flugkapitän war
im Nebenberuf ein nicht unbekannter Schriftsteller. Und der
Direktor des Verkehrsvereins war von Haus aus eigentlich
surrealistischer Maler und veröffentlichte unter einem wohl­
klingenden Pseudonym seltsam schöne Gedichte, in denen,
größerem Beispiel folgend, keine großen Buchstaben vorka­
men.
Zunächst sprach man über einen Ausflug, den man am Vor­
mittag mit einigen Züricher Journalisten und Herren vom dor­
tigen Rundfunk unternommen hatte. Die Schlittenfahrt hatte
in ein schweigsames, winters nahezu unbewohntes Tal geführt,
das sich das Sertig nannte und dessen Stimmungsgehalt von
den Anwesenden außerordentlich gepriesen wurde.
Dann wechselte das Thema. Man begann, mitten im heiter
wogenden Trubel übermütiger Tanzpaare, die bange Frage zu
diskutieren, ob die wirklich große Kunst und das Urteil des je­
weils zeitgenössischen Publikums einander wesentlich beein­
flußt hätten und ob sich, im Laufe der überschaubaren Kunst­
geschichte, das Verhältnis zwischen den beiden Faktoren grund­
sätzlich und inwieweit es sich graduell gewandelt habe.
Der wirkliche Mintzlaff verhielt sich schweigsam und hatte
Muße, den falschen sorgfältig zu beobachten und, da dieser
dem Gespräch ganz und gar nicht fernblieb, ein bißchen abzu­

FÜNFTES KAPITEL 269


schätzen. Eines stand sehr bald fest: ein zufällig dahergelaufe­
ner, üblicher Hochstapler war der Mann unter keinen Um­
ständen! Was er beispielsweise zur Debatte beitrug, verriet
mindestens eine überdurchschnittliche Belesenheit sowie eine
beachtliche Erfahrung, auf dem Gebiete der Kunst recht zu be­
halten.
Endgültige Schlüsse ließen sich naturgemäß nicht ziehen.
Derartige Tischgespräche geben selten Aufschluß über die tat­
sächliche Urteilskraft und Überzeugung der Debatteredner.
»Schade«, dachte Mintzlaff. »Mir wäre einer von den Burschen
lieber gewesen, bei deren Anblick mir die Ohrfeigen in der Ta­
sche wachsen!«
Der Baron sah ihn verweisend an.
»Keine Sorge, Herr Baron«, dachte er belustigt. »Ich tu ihm
nichts.«
»Das möchte ich mir auch ausgebeten haben«, sagte Lamot­
te daraufhin.
Die Unterhaltung am Tisch stockte. Man hatte Lamottes
Satz laut und deutlich gehört, wußte aber gar nicht, worauf er
sich hätte beziehen können.
»Entschuldigen Sie, meine Herren«, meinte der Baron. »Ich
war in Gedanken. Lassen Sie sich in Ihrer komplizierten Un­
terhaltung nicht stören!« Damit wandte er den Kopf zu dem
Tisch der schönen Nachbarin.
Juana Fernandez legte gerade ihre schmale rechte Hand be­
hutsam auf die vielen roten Rosen in der einen Vase, als wolle
sie die Blumen streicheln. Es war eine vollendet zärtliche Be­
wegung. Dann stand sie auf, ergriff die eine halberblühte Knos­
pe, die einsam aus der zweiten Vase ragte, und schritt, die Rose
mit sich nehmend, langsam durch den Saal.
Alle blickten zu ihr hin. Sie hielt den Kopf ein wenig gesenkt
und lächelte!
Es war ein winziges, schüchternes Lächeln, das, noch un­
gläubig, um ihren ernsten Mund spielte. Doch es war und blieb
unzweifelhaft ein Lächeln.
Als die Argentinierin den Saal verlassen hatte, löste sich die
stille Verblüffung in allgemeines Gemurmel auf.
»Ein Wunder ist geschehen«, erklärte der erstaunte Direk­
tor des Verkehrsvereins. »Sie hat gelächelt.«
»Es gibt keine Wunder«, brummte der Arzt. »Wahrschein­
lich liegt es an unserer guten Luft.« Der Usurpator des Na­
mens Mintzlaff wandte sich an den Direktor: »Sie sollten nicht
versäumen, in Ihrer hübschen kleinen Wochenzeitschrift auf
die südamerikanische Heloise und das mit zwei Dutzend Ro­
sen und Ihrer guten Luft zusammenhängende Wunder gebüh­
rend hinzuweisen.«
Der Maler aus Basel, ein noch jugendlich wirkender Mann
mit grauem Haar, sagte nachdenklich: »Eine merkwürdige Frau.
Ich verstehe nicht, warum es mich nicht drängt, sie zu malen.
Vielleicht schlüge sie es nicht einmal ab. Aber mir ist, als sei es
völlig überflüssig und als sei sie schon jetzt ihr Gemälde. Mög­
lich, daß sie lebt. Natürlich muß sie leben; denn sie bewegt sich
ja. Aber im Grunde, ich kann mir nicht helfen, ist sie ein Bild!«
Da nun sagte Lamotte, der noch immer wie gebannt hinter
ihr dreinsah, einen Satz, der die Herren am Tische erschrecken
ließ und sie auf den naheliegenden Gedanken brachte, der Herr
Baron scheine im Kopf nicht ganz richtig zu sein.
Lamotte sagte nämlich: »Es ist die schönste Frau, die ich seit
zweihundert Jahren gesehen habe.«
Kurz darauf zahlte die Gesellschaft und ging ziemlich be­
stürzt ihrer Wege.

l-ÜNFTES KAPITEL 271


Sechstes Kapitel

Da Mintzlaff am nächsten Morgen, trotz der anstrengenden


Ereignisse des Vortags, früh erwacht war, ließ er sich Zeit und
frühstückte mit angemessener Sorgfalt auf der sonnenüberflu­
teten Terrasse des Hotels.
Von dieser Terrasse aus sah man zu den weitläufigen Eis­
plätzen hinüber, wo sich die Davoser Schuljugend tummelte.
Ein paar Jungen übten unermüdlich an einem schwierigen
Sprung. Und kleine Mädchen drehten auf ihren überlangen
Kinderbeinen Pirouetten, daß die Zöpfe waagrecht vom Kopf
abstanden.
Auch ein Stück der Straße ließ sich überblicken. Die Auto­
busse und Schlitten, die nach Davos-Dorf fuhren, hatten Über­
fracht. Hunderte und Aberhunderte wurden zur Talstation der
Parsennbahn transportiert. Hundertvierzig Menschen hißte
die Seilbahn mit jeder Fracht elfhundert Meter höher. Sieben­
hundert Menschen konnten in einer Stunde maschinell him­
melan in den ewigen Schnee befördert werden!
Mintzlaff folgte, nachdem er gefrühstückt hatte, diesem
Strome nicht, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung
ein und kraxelte, nicht ohne zuvor einen handfesten eisenbe­
schlagenen Stock erworben zu haben, in aller Gemütlichkeit
zur Schatzalp hinauf.
Der Weg wand sich in Serpentinen durch hochstämmige,
dick zugeschneite Tannenwälder. Hier war die Luft, da die
Sonne nicht durch die Wipfel drang, frisch wie kühle Seide.
Manchmal trat der Wald zurück und machte kleinen Aus­
sichtspunkten mit grünen Bänken Platz.
Im Tal lag Davos, rings von Bergen eingekesselt, ein Para­
dies aus Sonnenschein und Schnee.
Manchmal kreuzte der Weg eine Abfahrt. Nicht frei von
Neid blickte Mintzlaff hinter den Skifahrern her, die wie Pfei­
le angeflogen kamen und, sich in die Kurve schwingend, tal­
wärts verschwanden.
Die wenigen Spaziergänger, denen er begegnete, machten in

272 DER ZAUBERLEHRLING


einer Gegend, wo man gewöhnt war, mit Bahnen bergauf und
auf Brettern bergab zu sausen, den Eindruck, als seien sie aus
Museen heimlich entwichene Restbestände.
Einer der musealen Wanderer, die ihm entgegenkamen, war
übrigens »Herr Professor Mintzlaff«, der sich, nachdem er kurz
des gestrigen Abends gedacht hatte, angelegentlich nach Jen-
neweins Verlagsplänen erkundigte.
Das veranlaßte wiederum den »Verleger Ludwig Jennewein
aus Leipzig«, dem Professor Fragen zu stellen, deren Beant­
wortung dem Herrn mit dem Einglas, so wenig er es sich an­
merken ließ, nicht gerade lieb und angenehm sein konnte.
Man verabschiedete sich lächelnd und gab der Hoffnung auf
ein baldiges Wiedersehen lebhaften Ausdruck.
Hinter der Schatzalp gab es zwar noch Wegweiser, aber
keine Wege mehr. Und als Mintzlaff einige Male metertief im
Schnee eingesunken war, brach er das unwirtliche Unterneh­
men ab, kehrte um und setzte sich vor ein kleines anheimeln­
des Wirtshaus, das am Berghang klebte. Er trank einen Schop­
pen Roten und schaute den Skiläufern zu, die vom Strela-
paß herunterpreschten, auf der Schatzalp bremsten und sich
gegen Entgelt von dem sogenannten Skilift wieder zum Strela-
paß hinaufbugsieren ließen, um dann erneut herunterzupre­
schen.
Der Skilift war eine fröhliche Erfindung: Er war nichts wei­
ter als ein über mehrere Masten laufendes Band mit in Abstän­
den angebrachten schaukelähnlichen Sitzgelegenheiten. Wenn
einer der Sitze die Fußstation des Lifts passierte, griff der Ski­
fahrer zu, setzte sich rasch, behielt die Skier auf der Erde und
fuhr nun, ohne weitere Mühewaltung, steil bergan. Die Berg­
welt war wirklich mit jeglichem Komfort ausgestattet! Wer
hier, in den höchsten Bezirken, etwa ein Bein brach, wurde
umgehend von eigens zu diesem Zweck angestelltem Personal
auf Sanitätsschlitten bis zum Krankenhaus gerodelt. Nur die
Tabletten, die man einnehmen mußte, um die Beine überhaupt
nicht zu brechen, waren noch nicht erfunden. Aber auch da
handelte es sich vermutlich nur um eine Frage der Zeit.
Mintzlaffs Tisch stand an der glühend heißen Hauswand,
und an der Hauswand hing ein Thermometer, das vierzig Wär­
megrade anzeigte.
Wenige Minuten später segelte eine weiße Wolke sonnen-
wärts. Nun sank das Quecksilber rasch auf achtundzwanzig,
dann bis auf siebzehn Grad. Und als die Wolke die Sonne ver­
deckte, waren gar nur noch acht Grad. Doch die Wolke muß­
te glücklicherweise weiter, und jetzt kletterte die Temperatur
schnell wieder empor, bis die Sonne von neuem unbehelligt am
Firmament erstrahlte, das Thermometer wieder vierzig Grad
meldete und Mintzlaff die Jacke auszog.
»Da fährt ja einer wie der Teufel!« sagte der Wirt und blick­
te fachmännisch den Berg hinan. »Wer kann denn das sein?« Er
meinte einen Skiläufer, der schnurgerade den Steilhang herun­
terschoß, pfeilschnell näherkam, als wolle er mitten in das
friedliche Wirtshaus hineinfahren. Erst im vorletzten Moment
schwang er sich herum und stand.
»Den kenn ich nicht«, sagte der Wirt. »Wie kann ein Mensch,
der die Strecke noch nie gefahren ist, so leichtsinnig sein!«
Der leichtsinnige Mensch, den der Wirt nicht kannte,
schnallte die Bretter ab und kam auf die Tische zu.
Es war Baron Lamotte!
Er lachte über das ganze Gesicht, klopfte Mintzlaff auf die
Schulter, setzte sich und bestellte einen Teller Suppe.
»Sie sind doch die Strecke zum ersten Mal gefahren?« frag­
te der Wirt.
»Warum?«
»Schade, daß Sie die Zeit nicht haben abstoppen lassen. Sie
haben sicher den Streckenrekord gebrochen.«
»Rekord?« fragte der Baron. »Was gehen mich denn Ihre
Rekorde an! Ich fahre schnell, weil es mir Spaß macht.«
»So einen unmodernen Menschen habe ich lange nicht gese­
hen«, erklärte der Wirt. »Sie gefallen mir.« Dann ging er die
Suppe holen.
»Daß Sie alles übertreiben müssen«, meinte der Kunst­
gelehrte vorwurfsvoll. »Ich denke, Sie wollen nicht auffal­
len?«
Lamotte nickte. »Ich gebe mir große Mühe, aber es ist so

274 DER ZAUBERLEHRLING


schwer, das menschliche Maß einzuhalten! Sie ahnen gar nicht,
wie schwer!«
»Sie Ärmster«, erwiderte Mintzlaff. Dann berichtete er von
seiner Begegnung mit dem Hochstapler. »Ich fühlte ihm ein
bißchen auf den Zahn und muß ehrlich sagen, daß er seine Rol­
le gründlich studiert hat. Er weiß, wo ich, das heißt er, geboren
bin und an welchen Universitäten ich war. Er kennt meine, das
heißt, seine Bücher und Aufsätze. Er weiß, daß ich unverhei­
ratet bin. Er weiß sogar, in welchem Berliner Cafe ich täglich
verkehre. Anfangs freute er sich über das rege Interesse, das
ich, als Mensch und Verleger, an ihm nahm. Als ich ihn aber
über die Auflagenhöhen seiner meisterlichen Werke auszuho­
len begann, wurde er nervös. Er scheint kein Fachmann zu
sein, sondern eher ein kenntnisreicher Dilettant.«
Der Wirt brachte die Suppe, und Lamotte machte sich dar­
über her. »Darf man fragen, wie sich die schönste Frau, die Sie
seit zweihundert Jahren gesehen haben, heute befindet?«
Der Baron verzog das Gesicht. »Erinnern Sie mich nicht an
meine vorlaute Bemerkung von gestern abend! Ein Glück, daß
keiner der Herren am Tisch Verdacht schöpfte.«
»Was für Gedanken rief denn eigentlich Ihre Äußerung in
den Köpfen der anderen hervor?«
»Sie schoben es mehr oder weniger auf den Champagner.«
Lamotte löffelte die Suppe. Nach einer Weile sagte er: »Die
Dame meines Herzens fuhr heute früh in einem Pferdeschlit­
ten nach Klosters hinüber.«
»Und an ihrer Jacke steckte eine rote Rose?«
»Nein, nicht an der Jacke und nicht am Nerzmantel, son­
dern in der Handtasche. Im übrigen möchte ich Sie rechtzeitig
davor warnen, spöttische Reden über Juana Fernandez zu
führen. Es könnte sonst geschehen, daß ich Sie in einem un­
vorhersehbaren Anfall von Ärger in ein Kamel oder einen Lor­
beerbaum verwandle. Oder haben Sie, falls ich Sie verzaubern
werde, besondere Wünsche?«
Mintzlaff lachte leise. »Nein, nein! Als Kamel hier oben im
Schnee herumzustehen, wäre mir schon recht.«
»Wie Sie wollen. Sie können sich die Sache noch in Ruhe

SECHSTES KAPITEL 275


überlegen. Was nun die schöne Argentinierin anlangt, so wer­
de ich sie heute abend zu einem argentinischen Tango auffor­
dern.«
»Und sie wird ablehnen.«
»Erraten. Und dann werde ich mich an ihren Tisch setzen.
Nein, das wird sie nicht ablehnen! Sie dürfen den Zauber mei­
ner Persönlichkeit nicht unterschätzen! Und noch ehe sie ei­
nen Entschluß fassen kann, werde ich ihre rechte Hand ergrif­
fen haben und ihr aus den Handlinien wahrsagen.«
»Aha!«
»Sie wird staunen, was ich über sie weiß.«
»Das glaube ich auch.«
»Und später werde ich dann doch einen argentinischen
Tango mit ihr tanzen.«
»Ich zweifle nicht daran. Sollte sie noch Schwierigkeiten
machen, werden Sie die Mitglieder des Tanzorchesters in
Zwerge verwandeln und die Bar des Hotels in eine diamante­
ne Grotte! Die Frau müßte ja ein Herz aus verchromtem Stahl
haben, wenn sie einer so zart und dezent vorgetragenen Wer­
bung widerstehen wollte!«
Der Baron blickte lächelnd den Berg hinan, den soeben eine
Kavalkade von Skiläufern herabkam. Die ersten Fahrer brem­
sten nicht weit vom Gasthaus. Als letzte folgte, in größerem
Abstand, ein junges Mädchen, das eine lustige Kapuze trug.
Plötzlich sprang Mintzlaff in die Höhe und schrie aus Lei­
beskräften: »Hallo! Hallo!«
Die Skiläufer und die vor dem Wirtshaus sitzenden Gäste
drehten sich hastig um. Was war denn geschehen? Warum
schrie denn der Mann in einem fort »Hallo!«?
Auch das junge Mädchen hatte den Kopf gewendet. Da­
durch verlor sie das Gleichgewicht und fiel jetzt, mit einem
Juchzer, in den Schnee.
»Hallo!« schrie Mintzlaff. Er wedelte dabei mit beiden Ar­
men.
Da entdeckte ihn das Mädchen. Das vom Sturz eben noch
verdutzte Gesicht leuchtete auf. Sie winkte mit den Skistöcken,
strampelte sich lachend hoch und schnallte die Bretter ab.

276 DER ZAUBERLEHRLING


Einer ihrer Begleiter kam zurück und fragte etwas.
Aber sie schüttelte entschieden den Kopf, gab ihm eine kur­
ze Antwort und stapfte, während er, offensichtlich enttäuscht,
weiterfuhr, auf Mintzlaff zu, der ihr mit Riesenschritten entge­
genlief.
Sie pflanzte die Bretter und Stöcke in den Schnee, stellte
sich, trotz der schweren Stiefel, auf die Zehenspitzen und gab
Mintzlaff einen Kuß.
»So«, meinte sie dann erleichtert. »Das wäre erledigt! Gott
zum Gruß, alter Junge!«
»Hallo!« sagte er, noch völlig verblüfft. »Ich wußte ja gar
nicht, daß du in Davos bist!«
»Das liegt an deiner verdammten Halbbildung«, erklärte sie.
»Außerdem weile ich erst ein paar Tage in diesen Mauern. Es
gefiel mir nicht in Spezia. Der Großvater war zufällig selber
guter Laune, und da konnte er mich nicht gebrauchen.«
Sie war eine zierliche Person und sah, mit den dicken Woll­
handschuhen und unter der drolligen Zipfelkapuze, die sie
trug, am ehesten wie ein Osterhase aus. »Bist du allein in Da­
vos?« fragte sie streng. »Oder hast du ein Weib bei dir?«
»Ich bin allein hier.«
»Dein Glück!« Sie hakte bei ihm unter und zog ihn zu dem
kleinen Wirtshaus hinüber. »Ich gedenke, mich von dir zu ir­
gendeiner Art Getränk invitieren zu lassen.«
»Und deine Begleiter?«
»Das junge Volk wartet an der Seilbahn, bis die Dame er­
scheint. Fragst du aus Mitgefühl mit ihnen, oder hast du Angst,
du könntest mich nicht wieder loswerden!«
»Ich frage aus Angst«, sagte er fröhlich.
»Dann ist ja alles in Ordnung.«
Sie näherten sich dem Tisch, an dem sich jetzt Lamotte er­
hob und das Paar erwartete.
»Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen?«
sagte Mintzlaff. »Baron Lamotte - Fräulein Sumatra Hoops.«
Lamotte ergriff die Hand des Mädchens. »Das ist also die
junge Dame, die >Hallo< heißt!«
Sie streifte die von einem Eishäubchen gekrönte Kapuze ab.

SECHSTES KAPITEL 277


Aschblondes Lockengekräusel kam zum Vorschein. »Alfons
hat also geplaudert«, meinte sie und setzte sich.
Nun nahmen auch die Herren Platz. »Ja«, erklärte Mintz­
laff. »Wir hatten zufällig ein Gespräch über Vornamen.«
»Und eines über anonyme Telegramme«, fügte der Baron
hinzu.
Das junge Mädchen musterte Lamotte mit einem Blick, der,
so flüchtig er schien, an Gründlichkeit wenig zu wünschen
übrigließ.
»Natürlich!« rief Mintzlaff. »So ist es! Du hast die Depesche
geschickt!«
»Ich war so frei«, sagte sie. »Als ich in Davos ankam, las ich
das Plakat. Nun hattest du mich doch aber dahin informiert,
daß du erst in etwa vierzehn Tagen einträfst! Ich freute mich,
dich wieder einmal beim Lügen ertappt zu haben, erkundigte
mich im Verkehrsverein nach deiner Adresse und trabte ins
Grandhotel. Der Portier behauptete, daß du auf deinem Zim­
mer wärst, und setzte sich, um dir meinen holden Besuch an­
zukündigen, mit dem Appartement zwölf in telefonische Ver­
bindung. Diesen Moment benutzte ich, spontan wie ich bin,
und erklomm das erste Stockwerk des Hotels.«
»Jetzt wird es spannend«, vermutete Mintzlaff.
»Ich klopfte an die Tür mit der Nummer zwölf. Eine Män­
nerstimme rief »Herein!« Ich riß die Tür auf, wollte irgend­
eine der zwischen uns ortsüblichen unpassenden Bemerkun­
gen machen und stand einem mir durchaus fremden Herrn ge­
genüber. Er war erstaunt. Trotzdem war seine Verblüffung, mit
der meinen verglichen, ein Kinderspiel für Dreijährige. Gut,
wir hatten uns ein paar Wochen nicht gesehen - aber daß du
dich in der Zwischenzeit derartig verändert haben könntest,
hielt ich von vornherein für ausgeschlossen. Er fragte nach
meinem Begehr. Daraufhin fragte ich höflich, ob er auch ganz
bestimmt wisse, daß er ein gewisser Herr Professor Mintzlaff
sei. Er replizierte, daß es darüber gar keinen Zweifel geben
könne.«
»So ein frecher Hund!«
»Ich dachte das gleiche, versicherte ihm jedoch, wie glück-

278 DER ZAUBERLEHRLING


lieh ich sei, ihn, dessen Bücher zu verschlingen ich die Ge­
wohnheit hätte, endlich von Angesicht zu Angesicht zu schau­
en. Er behauptete, von unserer Begegnung nicht minder er­
griffen zu sein, und wollte wissen, ob ich allein reise. >O nein«,
sagte ich. >Ich bin mit meiner Großmutter unterwegs. Und die
Gute glaubt, ich sei in der Klavierstunde!« Na ja. Und dann
empfahl ich mich, ließ mir von ihm die Hand küssen und eilte
hurtigen Fußes zum Telegraphenamt.««
»Warum depeschiertest du aber anonym?«
Hallo hängte die vereiste Jacke an den Fensterriegel. »Mein
teurer Freund«, erklärte sie dann, »mir lag daran, dich neugie­
rig zu stimmen. Neugierde kleidet dich so gut.« Sie wandte sich
an Lamotte. »Kennen Sie Alfons näher?«
»Nein«, erwiderte der Baron bescheiden. »Leider nicht.«
»Er ist der Psalmist des seelischen Gleichgewichts«, sagte
sie. »Und ich lasse seit Jahren nichts unversucht, sein Gemüt
zum Schaukeln zu bringen. Aber es ist ein Versuch am un­
tauglichen Subjekt.« Das junge Mädchen lachte. Es war kein
besonders frohes Lachen. »Herr Wirt!«
Der Wirt kam. Sie bestellte ein Skiwasser. Dann fragte sie
den Freund: »Wie gefällt eigentlich dir der Herr, der in deinem
Namen Vorträge hält? Oder ist er dir noch gar nicht über den
Weg gelaufen?«
»Doch. Gestern nacht in der Bar.«
»Nun, und?«
»Zu meinem Leidwesen muß ich feststellen, daß er mir nicht
völlig mißfällt!«
»Er ist nicht der Dümmste«, sagte sie. »Und er trägt hübsche
Krawatten.«
»Kannst du dir vorstellen, warum und wozu sich dieser
Mensch der Mühe unterzieht, meine Rolle zu spielen?«
Hallo schüttelte den Kopf, daß die Locken flogen. »Nein.
Vielleicht ist er verrückt?« Der Wirt brachte das Skiwasser, und
sie trank das Glas in einem Zuge leer.
»Du kommst doch am Mittwoch abend mit uns zu seinem
Vortrag? Ich besorge rechtzeitig Karten. Oder hast du keine
Zeit?«

SECHSTES KAPITEL 279


»Sechs Jahre lang habe ich mir deine Vorträge mit einer wah­
ren Lammsgeduld angehört, und nun, wo so ein Abend end­
lich einmal interessant und allgemeinverständlich zu werden
verspricht, sollte ich keine Zeit haben?«
Mintzlaff lachte. »Was sagen Sie zu der burschikosen jungen
Dame, Herr Baron?«
Lamotte blickte den anderen nachdenklich an. »Fräulein
Hoops ist wundervoll tapfer.«
Hallos braune Augen wurden dunkel vor Ernsthaftigkeit.
Sie sprang auf, griff nach ihrer Jacke und meinte leichthin: »So,
jetzt muß sich das tapfere kleine Fräulein verabschieden! Wie
ist das, Alfons? Lädst du mich für heute abend zu einem Whis­
ky ein? Oder willst du lieber allein sein? Du kannst es dir über­
legen. Ich wohne in der Pension Edelweiß.« Sie gab beiden
Herren die Hand.
»Ich hole dich nach dem Abendessen ab«, sagte Mintzlaff.
»Wundere dich übrigens nicht, wenn man dir meldet, daß dich
ein Herr Doktor Jennewein in der Halle erwartet. So heiße ich
bis auf weiteres.«
»Ach richtig! Und an welchen Vornamen muß ich mich bis
auf weiteres gewöhnen?«
»An den schönen Namen Ludwig«, teilte der Baron mit.
Sie warf Lamotte wieder einen prüfenden Blick zu. Dann
schaute sie Mintzlaff lächelnd an und sagte: »Hoffentlich wirst
du nicht eifersüchtig, wenn ich dich versehentlich einmal Al­
fons nenne. Auf heute abend, du Scheusal!« Sie nickte ihm zu,
schnitt eine Grimasse und stapfte in den Schnee hinüber, zu
ihren Brettern. Eine Minute später verschwand sie talwärts.
Mintzlaff, der an die Holzbrüstung getreten war, um hinter
ihr herzuschauen, setzte sich wieder, nachdem sie seinem Ge­
sichtskreis entschwunden war, und blickte versonnen auf die
blankgescheuerte Tischplatte.
Lamotte beugte sich zu ihm und sagte leise: »Unbeschadet
meiner hochgradigen Fähigkeit, Gedanken zu lesen, erscheint
mir Ihr Verhalten diesem bezaubernden jungen Geschöpf ge­
genüber einigermaßen rätselhaft.«
Mintzlaff sah den Baron an und senkte den Kopf von neuem.

280 DER ZAUBERLEHRLING


»Wir sind seit sechs Jahren befreundet. Als wir uns kennen­
lernten, war Hallo neunzehn Jahre alt.«
»Und heute«, meinte Lamotte, »sieht sie aus, als sei sie sieb­
zehn. Es gibt solche mädchenhaften Frauen.«
Mintzlaff nickte. »Sie wird immer jünger. Trotz des Kum­
mers, den sie mit mir hat.«
»Sie hätten sie heiraten sollen. Sie könnten schon zwei oder
drei Kinder haben.«
»Ich wollte nicht.«
»Die gläserne Mauer war wieder einmal im Wege! Das Glück,
das Ihnen bevorstand, hätte Sie zu sehr abgelenkt!«
»Sie blieb trotzdem bei mir; und sie würde immer bei mir
bleiben, wenn ich sie hielte. Doch ich weiß nicht ein noch aus.
Früher war ich grenzenlos in sie verliebt, ohne sie schon zu lie­
ben. Und jetzt, da ich nicht mehr in sie verliebt bin, liebe ich
sie wie mein eigenes Leben.«
»Und an Tagen, an denen Sie zufällig eine Viertelstunde
übrig haben, benutzen Sie diese freie Zeit, um unglücklich zu
sein. Selbstverständlich nur ein ganz klein wenig unglücklich!
Weil eine stärkere Inanspruchnahme Ihres ausgewogenen In­
nenlebens unbekömmlich wäre!«
»Ich bin in meinen freien Viertelstunden darüber nicht un­
glücklich, sondern böse«, sagte Mintzlaff.
»Auf jene Instanz, die Sie Erwin nennen.«
»Jawohl! Er läßt zwei Menschen jahrelang miteinander
glücklich sein, und dann stiehlt er auf einmal dem einen das
Verlangen nach dem anderen! Warum tut er das? Wenn er es
schon tun will oder muß - warum bestiehlt und plündert er
nicht alle zwei? Zur selben Zeit? Ich finde es niederträchtig!«
»Das ist der zweite große Vorwurf, den Sie der Schöpfung
machen.«
»Nicht der letzte!«
»Sie möchten drei- bis vierhundert Jahre alt werden. Min­
destens so alt wie ein größerer Lindenbaum. Nun, in dieser Be­
ziehung kann ich mich nicht beklagen. Was nun die erotische
Wankelmütigkeit betrifft, so teile ich zwar diese Eigenschaft
mit Ihnen, nicht aber die Abneigung davor.«

SECHSTES KAPITEL 28l


»Meine Glückwünsche!« sagte Mintzlaff. »Sie haben es also
auch erlebt, daß Sie die Frau, die Sie lieben, ins Pfefferland und
sich irgendeine unterhaltsam gebaute Person, die Ihnen im
übrigen womöglich völlig gleichgültig ist, in die Arme wün­
schen?«
»Erlauben Sie!« erwiderte Lamotte. »Schon oft! Sie müssen
nicht vergessen, daß ich sehr viel länger lebe!«
»Und Sie haben sich deswegen noch nie geschämt?«
»Ich denke gar nicht daran!«
»Sie finden es in Ordnung?«
»Ich finde alles, was natürlich ist, in Ordnung.«
»Sind Sie verheiratet?«
Der Baron mußte lachen. Er nickte lebhaft.
»Und Sie hatten nie ein schlechtes Gewissen?«
»Ich werde mich hüten! Das schlechte Gewissen ist eine
ebenso christliche wie überflüssige Erfindung. Mich hat nie
das Gewissen, statt dessen aber immer die Eifersucht meiner
Frau gequält.«
»Die Eifersucht ist doch auch etwas Natürliches!«
»Leider. Aber selbstverständlich nur dort, wo Monogamie
herrscht.«
»Ihre Lebensauffassung ist mir allzu natürlich«, meinte
Mintzlaff. »Am Ende verteidigen Sie auch Raub und Mord!«
»Ich verteidige sie nicht. Aber sie sind natürlich, und die
Strafe dafür ist es auch.«
»Sie halten es also mit Zenon, der einen diebischen Sklaven
sagen läßt, er sei vom Schicksal zum Stehlen bestimmt, und
dem darauf die Antwort zuteil wird, er sei aber auch vom
Schicksal ausersehen, dafür Schläge zu bekommen.«
»Ja«, erwiderte Lamotte. »Zenon war meiner Meinung.«
»Dann lehnen Sie das ab, was man die Entwicklung der
Menschheit genannt hat?«
»Sie wollen mich heute, scheint mir, dauernd zum Lachen
bringen«, bemerkte der Baron. »Ich lehne die Entwicklung der
Menschheit keineswegs ab. Ich werde doch nicht etwas ableh­
nen, was es nicht gibt. Sie sind ein Idealist, und Idealisten sind
schreckliche Leute. Sie rauben, noch dazu aus Sentimentalität,

282 DER ZAUBERLEHRLING


nicht nur sich selber, sondern auch, was schlimmer ist, den an­
deren den Sinn für die ewige Wirklichkeit und stiften neue,
überflüssige Schmerzen. Als ob es nicht ohnedies genügend
Konflikte gäbe. Ich erinnere Sie nur an die Eifersucht meiner
Frau!« Der Baron legte Geld auf den Tisch und erhob sich.
»So, und jetzt mache ich mir noch ein wenig Bewegung. Die
alten Knochen haben es nötig.« Er hielt dem jungen Mann die
Hand hin. »Es hat nicht den geringsten Sinn, sich über mich zu
ärgern!«
»Obwohl es ein ziemlich natürlicher Seelenvorgang wäre!«
sagte Mintzlaff und nahm die Hand.
»Ehe ich es vergesse«, erklärte der Baron, »- am Sonnabend
findet im Grandhotel ein Kostümball statt. Das kleine Fräulein
Hallo und Sie sind meine Gäste. Ich sage es Ihnen heute schon,
damit Sie rechtzeitig überlegen, wie Sie sich verkleiden wol­
len.«
»Als was werden Sie denn erscheinen?«
»Ich?« Lamotte lächelte. »Ich komme als Zeus!«
Mintzlaffs Gesicht und Blick froren ein. Er hatte sich weit
vorgebeugt und starrte den anderen außer sich an.
Der Baron tat, als merke er Mintzlaffs Erschütterung nicht.
Er zog die dicken Fausthandschuhe an und sagte währenddem:
»Aber sprechen Sie nicht darüber!«
Dann ging er mit großen, ruhigen Schritten davon.

SECHSTES KAPITEL 283


Siebentes Kapitel

Solange Mintzlaff noch herumgerätselt hatte, wer eigentlich


der Baron sei, war er nicht entfernt so beunruhigt gewesen wie
jetzt. Seine Gedanken kreisten fieberhaft um den Fremden und
das nun gelüftete absurde Geheimnis.
Ob er krank sei, hatte der Wirt des Hotels beim Mittagessen
gefragt. Er sehe angegriffen aus. Mintzlaff hatte Kopfschmer­
zen vorgeschützt und war auf seine Loggia geflüchtet.
Hier ruhte er nun in einem bequemen Liegestuhl und schlief.
Sein Gesicht sah aus, als strenge ihn das Schlafen an. Manch­
mal flatterten die Augenlider, und der linke Mundwinkel zuck­
te ungeduldig.
Er träumte ...

Der Traum hatte ihn in eine weite, karg bewachsene Ebene ent­
führt. Mitten in dieser Ebene weidete eine große Schafherde,
und neben der Herde stand ein schwarzlockiger, antik gewan­
deter Hirt. Er hatte beide Hände auf einen hohen Krummstab
gestützt und blickte in ruhiger Melancholie über die grauwol­
lige Welle der grasenden Tiere hin.
Von fern dröhnte die Erde.
Am Horizont tauchte ein Reiter auf und näherte sich in ei­
ner wallenden Staubwolke.
Der Hirt blickte hoch. Schützend legte er eine Hand über
die Augen.
Es war kein Reiter. Es war ein Kentaur!
Er sprengte in gestrecktem Galopp auf die Herde zu, pa­
rierte sich scharf durch und stand. Merkwürdigerweise trug er
auf dem Bronzeschädel eine schöne blaue Postmütze; und quer
über den nackten, zottigen Oberkörper spannte sich ein roter
Ledergurt, an dem eine rote Tasche hing. Es war offensichtlich
eine Depeschentasche.
»Ist das der richtige Weg zum Olymp?« fragte der atemlo­
se, nervös mit den Hufen stampfende Kentaur.
Der Hirt hob wortlos den Krummstab und zeigte auf einen

284 DER ZAUBERLEHRLING


im Hintergrund mächtig emporragenden Berg, der silbergrün
bewaldet und dessen Gipfel von einer unbeweglichen Purpur­
wolke verhüllt war.
»Aha«, sagte der Kentaur, salutierte kurz, gab sich dann ei­
nen aufmunternden Schlag auf die Flanke, sprengte davon und
verschwand in einer graubraunen Staubwolke.
Die Schafe blökten hinterdrein.
»Laßt das!« sagte der thessalische Hirt streng, und die Scha­
fe gehorchten.
Mittlerweile galoppierte der Kentaur schon bergan, durch
silbergrüne Olivenhaine.
Aus den Wäldern und Hainen wurden Büsche und aus den
Büschen trockenes Gestrüpp. Weiter oben wuchsen Steine
durch das Gestrüpp. Dann wichen die harten, kantigen Steine
und Blöcke dem weichen, dämpfenden Schnee. Und schließ­
lich trabte das zottige, schwitzende Fabelwesen in die unbe­
wegliche Purpurwolke hinein, die den Gipfelbezirk wie eine
schwebende Mauer umgab. Das Hämmern der Hufe wurde un­
hörbar, und erst später, als der Kentaur die Wolke durchquert
hatte, wurde das Hufgeklapper wieder laut. Die von Hephai­
stos erbaute Residenz der attischen Götter war erreicht.
»Uff«, sagte der Kentaur, nahm die blaue Postmütze ab
und fuhr sich mit dem Handrücken über die dampfende Stirn.
Der Olymp erinnerte, mindestens in der Anlage, an die Akro­
polis; freilich sah man keine Tempel, sondern mykenisch an­
mutende Burgen. »Lauter Marmor«, knurrte der Kentaur et­
was mißgünstig. »Die Leute leben!« Dann trabte er, beinahe
kokett tänzelnd, auf das nächstliegende Schloß zu, dessen Tor
von Hermen flankiert war und sich soeben öffnete. Die Stu­
fen herab stieg, braungebrannt, schlank und spitzbärtig, Her­
mes, der Bote der Götter. Der Kentaur holte, nachdem er
durch Anlegen der Hand an die Kopfbedeckung gebührend
gegrüßt hatte, aus seiner roten Depeschentasche ein vollge­
kritzeltes Wachstäfelchen und sagte: »Ein Eilbrief, göttliche
Hoheit!«
Hermes nahm die Post entgegen, las, indessen sich seine
kohlschwarzen Augenbrauen immer höher zogen, die Nach­

SIEBENTES KAPITEL 285


richt und nickte kurz. »Laß dir drüben in den Ställen etwas zu
fressen geben«, erklärte er abschließend.
Der Kentaur salutierte wieder, machte auf der Hinterhand
kehrt und galoppierte, seinem Pferdeverstand folgend, in die
Richtung der Stallungen davon.
Hermes aber überquerte, von seinen berühmten Schuhen
beflügelt, schwebend den sanft ansteigenden Platz, auf dessen
höchstem Punkt sich die größte, die väterliche Burg erhob.
Er federte leichtfüßig die Stufen hinan, schwebte durch eine
Säulenhalle und gelangte nun in einen weiten, einfach gehalte­
nen Saal mit hohen Fenstern.
An einem der Fenster saß eine Frau. Sie spann Schafwolle.
Ohne sonderlich aufzusehen, fragte sie: »Neuigkeiten?«
Hermes reichte ihr wortlos das bekritzelte Wachstäfelchen.
Nachdem sie die Botschaft gelesen hatte, stand sie auf und
schritt langsam auf dem Marmorparkett hin und her. Sie war
eine königliche Erscheinung und eine gute Dreißigerin. Jetzt
blieb sie vor Hermes stehen und blickte ihn zornig an. »Es ist
ein Skandal!« sagte sie, wobei ihr Busen wogte. »Es wird mir
zu bunt. Ich lasse mich scheiden.«
Hermes lächelte verhalten in seinen köstlich gesalbten
Spitzbart. »Aber liebste Stiefmutter«, erklärte er, »was Sie vor­
haben, ist ein sogenanntes Ding der Unmöglichkeit! Hera läßt
sich von Zeus scheiden - nein, und nochmals nein! Sie kön­
nen doch den Olymp vor der Geschichte nicht lächerlich ma­
chen!«
»Dein Vater macht mich seit etlichen tausend Jahren vor der
Geschichte lächerlich!«
»Das ist es eben! Kein Mensch würde Ihren so verspäteten
Entschluß, sich von Papa zu trennen, verstehen. Nicht einmal
die Historiker unter ihnen.«
Hera ballte ihre klassisch schönen Hände zur Faust. »Was
gehen mich denn die Menschen und die Historiker unter ihnen
an?« rief sie entrüstet. »Ich bin eine Göttin außer Dienst, dazu
verurteilt, fünfunddreißig Jahre alt zu bleiben ...«
»Siebenunddreißig, liebste Stiefmutter!«
»... fünfunddreißig Jahre alt zu bleiben und nicht sterben zu

286 DER ZAUBERLEHRLING


dürfen. Was wissen denn die Menschen und die Historiker un­
ter ihnen von den Qualen der Götter!«
»Auch die Menschen und die Historiker unter ihnen kennen
die Eifersucht im allgemeinen wie auch die Ihrige, liebste Stief­
mutter. Sie kennen übrigens auch Ihre aus Eifersucht entstan­
denen Greueltaten.«
»Warum hat uns die unbekannte Macht dazu verdammt,
daß wir nicht altern dürfen? Warum konnten wir nicht wie
Tithonos älter und älter werden und trotzdem unsterblich
sein?«
»Leider kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Aber daß
eine Scheidung im vorliegenden Fall unmöglich ist, glaube ich
Ihnen versichern zu können. Im übrigen können wir, wenn Sie
wollen, gern einmal Apollon um seine Meinung befragen.«
»Seinen Lieblingssohn? Den Sohn dieser Leto?« Hera lach­
te bitter. »Du bist nicht bei Trost.«
»Wir können es auch unterlassen«, sagte Hermes. »Ich bin
sicher, daß er sich meiner Ansicht vollinhaltlich anschlösse.«
»Natürlich! Ihr standet immer auf eures Vaters Seite. Auch
meine eigenen Kinder, sogar meine Töchter!« Sie trat zum Fen­
ster. »Wo liegt dieses Davos eigentlich?«
»Gen Abend, auf halbem Weg zu den Säulen des Herakles.
Hoch oben in einem Gebirge.«
»Ich hasse Zeus«, murmelte die Herrin des Olymps. »Ich
verachte ihn.«
»Und Sie lieben ihn«, fügte Hermes sorgfältig hinzu. »Man
soll das Wichtigste nicht vergessen.«
»Nein, ich liebe ihn nicht mehr. - Wie nannte er sich, als er
das letztemal auf Reisen war?«
»Graf von Cagliostro.«
»Cagliostro, richtig! Und diesmal tritt er nun also als ein Ba­
ron Lamotte auf, der alte Taschenspieler!«
»Sie müssen zugeben, daß Papa im Laufe der Jahrhunderte
merklich ruhiger geworden ist und nicht mehr so viel reist.
Wenn man bedenkt, daß er früher als Stier, Schwan, Doppel­
gänger, Goldregen und dergleichen auftrat ...«
»Ich muß gar nichts zugeben«, erklärte Hera ungnädig. »Es

SI EBENTES KAPITEL 287


liegt ja auch nicht an ihm, sondern daran, daß die Menschen
keine Phantasie mehr haben!«
»Das mag noch hinzukommen.«
»Ich werde ihm nachreisen und seinem neuen Schwarm,
dem er den Kopf verdreht hat, den Hals umdrehen!«
»Aber liebste Stiefmutter, Sie wissen doch gar nicht, ob es
sich auch diesmal um eine Frau handelt!«
Hera lachte kurz durch die griechische Nase. Jede weitere
Antwort schien sich für sie zu erübrigen.
Hermes versuchte langsam auf und ab zu gehen, doch da
er seine Flügelschuhe trug, mißlang das Unterfangen, und er
schwebte statt dessen mit lautlosen Riesenschritten von einer
Ecke des großen Saals in die andere.
Hera schüttelte ärgerlich das Haupt und sagte streng: »Laß
den Unsinn! Wenn du das nächstemal zu mir kommst, ziehe
dir gefälligst langsamere Schuhe an! Mich macht das Gehüpfe
ganz krank.«
Hermes blieb stehen und öffnete bereits den Mund.
Aber der Familienstreit, der in der Luft lag, wurde durch das
Erscheinen der jugendfrischen Hebe eben noch abgewendet.
Sie trug ein goldenes Tablett mit allerlei Tischgerät und rief mit
fröhlicher Stimme: »Das zweite Frühstück, Mama!«
»Was gibt es denn?« fragte Hera.
Hebe antwortete, während sie das Tablett auf den steinernen
Tisch setzte: »Nektar und Ambrosia!«
Heras Gesicht verdüsterte sich von neuem. »Schon wieder!«
meinte sie unwirsch. »Ich kann das Zeug nicht mehr sehen!
Außerdem war es früher besser.«
»Es ist aber sehr gesund«, erklärte die praktisch denkende
Tochter. »Und es erhält uns ewig jung.«
Hera nickte grimmig. »Oh, diese ewige Jugend! Weißt du,
wo sich dein Vater zur Zeit aufhält?«
»Wollte er nicht nach Dodona?«
»Argloses Kind! Nein, er ist nicht im Hain von Dodona,
nicht unter den heiligen Eichen, ganz und gar nicht! Er ist in
Davos, einem Wintersportplatz, und streicht wieder einmal
hinter einem hübschen Frauenzimmer her!«

288 DER ZAUBERLEHRLING


»Wie interessant!« rief die Tochter. »Weiß man schon Ge­
naueres?«
»Hebe!« sagte die Mutter streng. »Laß dich nicht so gehen!«
»Ach, du tust immer, als sei ich noch ein Backfisch von
fünf-, sechshundert Jahren!«
Hermes lachte und schwebte mit zwei großen Sätzen aus der
väterlichen Burg.
Hera blickte vorwurfsvoll hinter ihm drein. »Dieser Her­
mes«, sagte sie, und es klang wie eine Beleidigung. »Seit er sei­
nem Vater half, Alkmene zu verführen, kann ich ihn nicht
mehr leiden.«
Hebes reizendes Gesicht überzog sich mit dunkler Röte.
»Mutter«, meinte sie leise und warnend, »du sollst nicht abfäl­
lig über meine Schwiegermutter reden. Du weißt, daß He­
rakles und ich das nicht besonders mögen.«
»Ich verbitte mir derartige Zurechtweisungen von dir auf
das entschiedenste, mein Kind! Von deinem Manne übrigens
auch. Ihr wollt mir untersagen, so über diesen Skandal zu re­
den, wie mir ums Herz ist? Sei still! Nicht genug, daß Zeus eine
anderweitig verheiratete Frau mit einem Sohn beglückte - nein,
er mußte auch noch seinen Bastard mit seiner und meiner
Tochter Hebe verehelichen!« Die Stimme Heras war recht laut
geworden.
»Das werde ich Herakles erzählen!« rief Hebe weinerlich.
»Er hat ganz recht.«
»Womit, wenn ich fragen darf?«
»Damit, daß du keinen vornehmen Charakter hättest! »Dei­
ne Mutter«, sagte er gestern nacht vor dem Einschlafen, »hat mir
Schlangen in die Wiege gelegt. Wer so etwas tut, ist keine
Dame!<«
»Das ist ja großartig! Dein außerehelicher Stiefbruder He­
rakles, den du geheiratet hast, äußert Ansichten! Das hat mir
noch gefehlt! Ein Schlagetot und Muskelpaket wie er hat recht,
weil er deine Mutter beschimpft! Schämst du dich denn gar
nicht?«
»Du solltest ganz still sein!« rief Hebe, und ihre süße Stim­
me überschlug sich leider. »Du bist ja nicht nur meine Mutter,

SIEBENTES KAPITEL 289


sondern auch noch meine Tante! Denn du hast meinen Vater
geheiratet, und der ist dein Bruder. Du hast Papa zu meinem
Onkel gemacht! Und da soll ausgerechnet ich Grund zum
Schämen haben?«
»Hebe!«
»Tantchen!«
Die Stimmen der beiden göttlichen Frauen brachten die
Wände des Burgsaals zum Erzittern.
Ob es aber nur daran lag?
Jedenfalls hatte sich der Haken gelockert, an dem hoch oben
an der Wand der Schild des Zeus hing. Jetzt glitt der Haken aus
dem Dübel, und Aegis, das einzigartige Werk des Hephaistos,
fiel krachend auf die Marmorfliesen!
Da wurde die Purpurwolke, die den Olymp umschirmte,
tintenschwarz! Grelle Blitze zuckten gebündelt durch die Luft,
und höllisches Donnergebrüll erfüllte die überirdischen Bezir­
ke! In den Ställen des Zeus entstand Tumult, und mitten durch
eine splitternde Türfüllung sprang häßlich fluchend ein Ken­
taur!
Er hielt sich die niedrige zerbeulte Stirn mit beiden Händen
und galoppierte fassungslos durch die jaulende Finsternis. Er
hatte vollkommen die Herrschaft über sich verloren. Er ging
sich selber durch!
Die schöne blaue Briefträgermütze riß ihm, während er über
den unheimlich dunklen Platz dahinraste, der Sturm vom Schä­
del. Schwarze Wolken schlugen ihm wie schwere, nasse Lap­
pen ins Gesicht. Er spuckte. Heu hing ihm aus dem Mund.
»Meine schöne blaue Mütze!« brüllte er. Doch der Schrei
ging im Toben der Elemente unter. Blitz und Donner, die Waf­
fen des Zeus, regierten die Stunde.
Sie wollten die Götter daran erinnern, wer ihr Herr war.
Denn zuweilen sind auch Götter vergeßlich.

290 DER ZAUBERLEHRLING


Achtes Kapitel

Fräulein Hallo Hoops saß, in ein taubengraues glockiges Taft­


kleid gehüllt, in ihrem Zimmer und tippte auf der Schreibma­
schine.
Obwohl sie sich schon seit ein paar Jahren ganz wacker da­
mit durchs Leben schlug, daß sie merkwürdige Geschichten er­
fand und diese an Zeitungen und Zeitschriften verkaufte, tipp­
te sie noch immer mit nur zwei Fingern, und die kleine rote
Zungenspitze bewegte sich zwischen den Lippen genau von
links nach rechts wie die Walze der Schreibmaschine. Jedesmal,
wenn am Ende einer Zeile das dünne Glockenzeichen ertönte,
huschte die Zungenspitze in den linken Mundwinkel zurück.
Hallo hatte sich schön gemacht. Sie hatte die blonden Lok-
ken gezähmt, die Fingernägel mit einem sanften Rosa bestri­
chen und sogar die langen Wimpern ein bißchen getuscht.
Dem Stubenmädchen, das darüber erstaunt gewesen war,
hatte sie salbungsvoll gesagt: »Das gnädige Fräulein haben heu­
te einen besonders malerischen Tag.« Nun hockte sie also, zier­
lich und bunt wie ein zarter Sommerfalter, auf einem Hotel­
stuhl und schrieb, während sie auf Alfons Mintzlaff wartete, an
einer Kurzgeschichte, die sie sich vor ein paar Tagen auf einem
Spaziergang stirnrunzelnd ausgedacht hatte.
Plötzlich drang das Stubenmädchen, ohne angeklopft zu ha­
ben, ins Zimmer und sagte aufgeregt: »Der Herr, der auf Ihrem
Nachttischchen steht, wartet im Salon!« Dabei zeigte sie auf
eine gerahmte Photographie. »Ich habe ihn gleich wiederer­
kannt. Doktor Jennewein heißt er. Er sieht sich sehr ähnlich.«
»Das tut er«, bestätigte Hallo. »Nur ist er in Wirklichkeit et­
was größer.« Dann stieg sie eifrig in die dicken Pelzschuhe; und
kaum daß sie in den Bibermantel geschlüpft war, hüpfte sie
treppab.
Als sie in den Salon trat, stand Mintzlaff auf und stellte sich,
breitbeinig und den Hut seitlich in die Luft streckend, vor Hal­
lo hin.
Sie ging darauf ein, legte eine Hand nach hinten, krümmte

ACHTES KAPITEL 29I


den Rücken, als sei er alt und gichtig, und kam nun, wie wenn
sie sich an einem Krückstock fortbewege, auf den Freund zu.
Sie blieb dicht vor ihm stehen, blickte, mit den Augen blin­
zelnd, zu ihm hoch, hüstelte und fragte heiser: »Kennt Er mich,
Kerl?«
»Jawohl!«
»Wer bin ich?«
»Fräulein Sumatra Hoops, Majestät!«
»Und wer ist Er, Kerl?«
»Keine Ahnung!«
Da entledigte sie sich ihrer königlichen Haltung und stemm­
te die Arme wie eine Marketenderin in die Hüften. »Soll ich
dir’s sagen?«
Er antwortete: »Ich bitte darum.«
Sie hob flüchtig die Arme und stemmte sie, diesmal noch
energischer, in die Seiten. »Du bist das ekelhafteste, scheusä-
ligste, unmöglichste ...«
»Vorsicht, Majestät!« unterbrach er.
»Du willst mich hindern.. .?«
»Ich sehe mich genötigt.«
»Weswegen?«
»Die Kammerjungfer braucht nicht zu wissen, was für feine
Bekannte du hast.«
Hallo fuhr herum!
Richtig, da stand das Stubenmädchen, hatte einen roten
Kopf und zuckte verlegen mit den Achseln.
»Merken Sie sich eins, mein Kind«, sagte Hallo würdevoll,
»und handeln Sie darnach. Blödsinn treiben erhält jung. Das
sehen Sie an uns.« Dann wandte sie sich an Mintzlaff: »Und
jetzt komm, du fröhlicher Landmann!«

Sie verschleppte ihn in die Kurhaus-Bar.


»Du kennst ja meinen unverwüstlichen Hang zur Offen­
heit«, meinte sie, als sie den kleinen, beinahe verstohlen er­
leuchteten Raum betraten. »Ich werde dir also auch gestehen,
warum ich mit dir hierhergegangen bin. Bei näherem Hinsehen
wirst du merken, daß es hier Logen gibt. Wenn es dich also

292 DER ZAUBERLEHRLING


drängen sollte, eines meiner niedlichen Patschhändchen zu
halten, so stünde einer derartigen Aufdringlichkeit nichts im
Wege.«
Sie nahmen in einer der Logen Platz und bestellten etwas zu
trinken.
Er sah sich schweigend in dem Raum um.
Sie blickte ihn prüfend von der Seite an. »Sprich nicht so­
viel!« mahnte sie dann. »Es könnte deiner Stimme schaden.«
»Sehr viel rotes Licht«, brummte er.
Sie nickte. »Schön, nicht? Fast wie vor sechs Jahren auf un­
serer ersten Reise.«
»Deswegen hat sie mich hierhergelockt«, dachte er. »Ich war
vorgestern wieder in München«, fuhr er laut fort. »In den Tee­
stuben auf der Brienner Straße.«
>Er ist mit seinen Gedanken sonstwo«, dachte sie betrübt.
»Dort lernte ich übrigens Baron Lamotte kennen, mit dem
du mich auf der Schatzalp trafst.«
»Das ist ein seltsamer Riese. Er ist auf so hübsche Art un­
heimlich.«
Der Kellner brachte den Whisky und zog sich wieder zu­
rück.
»Denkst du noch manchmal daran?« fragte sie. »An den Fa­
sching? Die Sonne schien so schön ins Hotelzimmer ...«
»Natürlich denke ich noch manchmal daran!« sagte Mintz­
laff. »Was schreibst du jetzt?«
»Ach, wieder eine meiner berühmten Kurzgeschichten. Ich
war gerade an der Arbeit. Aber du störtest mich leider. Du
störst mich überhaupt in einem fort. Manchmal dadurch, daß
du bei mir bist, und meistens dadurch, daß du nicht bei mir
bist.«
»Kurz, du hast es schwer.«
»Freilich habe ich es schwer!« erklärte sie energisch. »Alle
Frauen haben es schwer. Weil ich ein kluges Mädchen bin, weiß
ich sogar, woran es liegt«
»Woran liegt es?«
»Wir können, im Gegensatz zu den Männern, nicht allein
sein.«

ACHTES KAPITEL 293


»Und ihr könnt es auch nicht erlernen.«
»Nein. Wahrscheinlich hat uns die allgütige Mutter Natur
dazu bestimmt, daß wir nicht allein sein sollen!«
Er sah sie ernst an.
Sie seufzte. »Ich gehe dir schon wieder auf die Nerven. Ent­
schuldige! Wir wollen von etwas anderem sprechen. Wie geht
es deinen Eltern?«
»Gut. Sie fragten im letzten Brief, wie es dir geht.«
»Gut. Doch wir wollten von etwas anderem sprechen.«
»Beispielsweise von der Geschichte, an der du schreibst.«
»Damit du nicht zu reden brauchst! Aber meinetwegen.«
Hallo trank einen Schluck, nahm sich eine Zigarette und be­
gann: »Es war einmal eine bezaubernde junge Dame. Ja, man
hätte sie beinahe herzig nennen können. Diese junge, beinahe
herzige Dame hatte eine Abdullah-Zigarette in der Hand. Aber
der böse Prinz, der neben ihr saß, gab ihr leider kein Feuer.«
Mintzlaff lächelte. »Entschuldige!« Dann zündete er ein
Streichholz für sie an.
Sie rauchte einige Züge. Dann sagte sie: »Meine Geschichte
handelt von einem jungen Mann, der mit Fug und Recht me­
lancholisch geworden war. Nicht, daß das Glück ihn gemieden
hätte. Man kommt bei einiger Charakterfestigkeit auch ohne
Glück zurecht. Nein, das Glück mied ihn nicht, es neckte ihn.
Und das ist auf die Dauer ein schier unerträglicher Zustand, o
Herr. Siehe, das Glück streckte ihm bei jeder Gelegenheit die
Hand entgegen. Doch sooft er zufassen wollte, zog es die
Hand zurück.
Schließlich kam mein junger Mann zu einer entscheidenden
Einsicht. Das Glück war ohne Frage ein schadenfrohes Kind,
das in einem zoologischen Garten eine Mohrrübe an ein Git­
ter hielt. Hinter dem Gitter hockte ein kleiner gutgläubiger
Affe, der eifrig nach der Mohrrübe griff - doch jedesmal zog
das schadenfrohe Kind die mehrfach erwähnte Mohrrübe wie­
der zurück und lachte affektiert.
Als sich der junge Mann zu der Auffassung durchgerungen
hatte, daß er selber mit dem kleinen gutgläubigen Affen iden­
tisch sei und daß er dem grundlos boshaften Kinde, Glück ge­

294 DER ZAUBERLEHRLING


nannt, nicht an den Hals könne, da die Direktion des Zoos vor­
sorglich Eisengitter hatte anbringen lassen - als der junge
Mann das begriff, beschloß er in seinem traurigen Herzen, ein
Engel zu werden.«
Hallo trank einen Schluck und drückte die Zigarette aus.
»Er wollte sich umbringen. Mochte das schadenfrohe Glück
andere Leute ärgern. Auf ihn würde es künftig verzichten müs­
sen! Er kaufte sich für das letzte Geld, das ihm geblieben war,
eine Fahrkarte nach Neapel! »Ich will Neapel sehen«, dachte er,
»und sterben! Der Anblick des blauen Golfs und des dicke Zi­
garren rauchenden Vesuvs wird mich glücklich stimmen, und
ehe Fortuna zu einer ihrer berüchtigten Backpfeifen ausgeholt
haben kann, werde ich nicht mehr sein.« So also dachte der jun­
ge Mann. Er freute sich auf den Tod. Er konnte ihn und es gar
nicht erwarten. Aber es wurde nichts daraus.«
»Warum wurde nichts daraus?« fragte Mintzlaff.
Hallo strich sich eine Locke aus der Stirn. »Er verlor die
Fahrkarte«, sagte sie. »Er suchte und suchte, doch er fand sie
nicht wieder. Und es war doch das letzte Geld gewesen! Nun
war es mit seiner Geduld zur Melancholie endgültig vorbei.
Jetzt wurde er wütend! Er hatte noch zwanzig Pfennige und
fuhr, gegen Abend, mit der Stadtbahn in die Vororte hinaus.
Später, als es dunkel war, kletterte er über Zäune auf das Gleis­
gelände und versteckte sich bis zur Nacht in einem Schuppen.
Dann war es soweit. Denn nun mußte bald der Nachtexpreß,
mit dem er nach Neapel hatte fahren wollen, daherbrausen.
Der junge Mann schlich sich aus dem Schuppen und legte sich
auf die Schienen. Über ihm glänzten die Sterne. Er lag und war­
tete. Ihm fiel sein alter Geschichtslehrer ein, der ihnen begei­
stert die Abschiedsworte einer vorbildlich spartanischen Mut­
ter vorgetragen hatte, deren Sohn sich von ihr trennte, um in
den Peloponnesischen Krieg zu ziehen. Sie hatte ihm den
Schild gereicht und geäußert: »Mit ihm oder auf ihm!«
Jetzt lag nun ein Schüler dieses alten Lehrers auf den Schie­
nen, um eben jenen Schnellzug zu erwarten, mit dem er ei­
gentlich nach Neapel hatte fahren wollen. »Mit ihm oder unter
ihm!« dachte der junge Mann und lächelte grimmig zu den Ster­

ACHTES KAPITEL 295


nen hinauf, die ihm zuzwinkerten, als seien sie gute Bekannte.
Da ertönte das Läutwerk! Der Nachtexpreß tauchte in der Fer­
ne auf. Seine Lampen glühten wie die Augen einer schwarzen
Katze. Er brauste donnernd näher. Der junge Mann legte bei­
de Hände vor das müde Gesicht und wartete ergeben.«
»Und?« fragte Mintzlaff, weil Hallo schwieg.
»Der Zug brauste pünktlich daher und verschwand, wie eine
Rakete fauchend, in der Nacht. >Nun bin ich also endlich tot«,
dachte der junge Mann und atmete erleichtert auf. Doch dann
stutzte er. Unterschied sich der Tod so wenig vom Leben? Er
kniff sich in den Arm. Es tat noch weh. Er lebte noch! Er setz­
te sich erschrocken hoch. Die Sterne zwinkerten ihm noch im­
mer zu. Ihm war nichts geschehen!«
»Ein Wunder?« fragte Mintzlaff.
»Nein«, sagte Hallo. »Gar kein Wunder!«
»Was sonst?«
»Der junge Mann hatte auf dem falschen Gleis gelegen.«

Was der Baron mittags auf der Schatzalp vorhergesagt hatte,


traf am Abend in der Bar des Grandhotels ein.
Er bat Juana Fernandez, kaum daß sie einsam an ihrem ge­
wohnten Tisch Platz genommen hatte, um einen Tanz. Und sie
lehnte das Ansinnen ab.
Er verbeugte sich, allerdings nicht, wie sie und die neugierig
starrenden Gäste dachten, um sich zurückzuziehen. Er setzte
sich stumm neben sie und ergriff ihre rechte Hand. Es gelang
ihr, trotz allen Sträubens, nicht, sich zu befreien. Er drehte die
schmale braune Frauenhand so, daß er deren Innenfläche zu
Gesicht bekam.
Die schöne Argentinierin war blaß geworden. Sie flüsterte:
»Gehen Sie! Lassen Sie mich los!«
Lamotte schüttelte, über ihre Handlinien gebeugt, schwei­
gend den Kopf. Sie blickte sich ratlos im Saal um.
Einige Herren hatten sich erhoben und wollten ihr helfen,
doch sie kamen nicht vom Fleck. Sie standen, verwundert auf
ihre eigensinnigen Füße sehend, an ihren Tischen und sanken,
einer nach dem andern, in die Stühle zurück.

296 DER ZAUBERLEHRLING


Der Baron schien die Bewegung im Saal überhaupt nicht be­
merkt zu haben. Jetzt hob er den Kopf und sagte mit ge­
dämpfter Stimme: »Sie befinden sich in einem verhängnisvol­
len Irrtum. Sie quälen sich und sollten es nicht tun. Sie glauben,
am Tod eines Mannes schuld zu sein, doch Sie sind nicht dar­
an schuld.«
Juana Fernandez zog entsetzt ihre Hand zurück und wollte
aufstehen.
Er ergriff ihre Hand von neuem und fuhr ruhig fort: »Sie ha­
ben jahrelang, ohne es zu ahnen, unter einer Lüge gelitten. Es
war übrigens ein Mann, der Sie so belog.« Er machte eine Pau­
se. Dann sagte er: »Ein anderer Mann.«
»Weshalb hätte er lügen sollen?« Sie fragte gegen ihren Wil­
len. Sie schämte sich, daß sie fragte.
»Weshalb er die Unwahrheit sagte? Weil er wollte, daß Sie
unglücklich würden. Und das wollte er, weil Sie nicht ihm,
sondern seinem Freund gehörten.«
Die Argentinierin atmete mühsam.
»Dieser zweite ließ Ihre Handschrift fälschen, um den an­
dern zu täuschen. Und er fälschte dessen Handschrift, um Sie
zu verwirren.« Lamotte blickte die Frau an. »Glauben Sie mir
nicht?«
Ihre dunklen Augen glänzten. »Es könnte wahr sein«, flü­
sterte sie. »So könnte es gewesen sein.«
»Es war so. Als die gefälschten Briefschaften nichts nützten,
ging er einen Schritt weiter. Auch der Selbstmord war eine
Lüge.«
»Der zweite ...« Ihre Stimme zitterte und versagte.
»Erschoß den anderen.«
»Sie waren Freunde.«
Lamotte nickte. »So entstand kein Verdacht.«
Sie schüttelte benommen den Kopf. Und ihre linke Hand
schwebte wie im Traum zur Stirn. »Ich sollte nicht am Tode
Diegos schuld sein?«
»Da Sie den einen Mann nicht mehr liebten, hoffte der an­
dere, Sie zu gewinnen, wenn er jenen erst beseitigt hätte. Er be­
dachte nicht, daß es ihm dann noch weniger gelingen konnte.

ACHTES KAPITEL 297


Er sah nicht voraus, daß der vermeintliche Selbstmord des
Mannes, den Sie nicht mehr liebten, Ihr Herz der ganzen Welt
entfremden würde.«
Ihr schönes Antlitz war bleich und außer Atem.
»Es waren schlimme Jahre für Sie«, sagte der Baron. »Tödli­
che, vergebliche Jahre. Sie haben sich, um einer fremden Schuld
willen, viel Leid zugefügt.«
Sie hob hilflos die Schultern.
Er hielt noch immer ihre Hand in der seinen und schwieg.
So saßen sie lange.
Endlich schaute sie ihn zögernd an und fragte leise: »Was
soll nun werden?«
»Sie sollten es noch einmal mit dem Leben versuchen.«
Ihr Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln, das ihn
rührte. Sie entzog ihm die Hand und griff nach der kleinen gol­
denen Handtasche.
»Nein«, sagte er. »Ich will, daß Sie bleiben. Ich lasse Sie jetzt
nicht allein. Oder haben Sie nach der Tasche gegriffen, um mir
die Rose zu zeigen, die sich darin befindet?«
Sie errötete. Nach einer Weile fragte sie ernst: »Woher glau­
ben Sie es zu wissen, daß alles so gewesen ist?«
»Aus Ihrer Hand.«
»Jetzt lügen Sie.«
»Ja. Aber vorhin habe ich nicht gelogen.«
»Sie sind unheimlich.«
»Ich weiß, daß Sie das nicht schreckt.«
»Und wenn wirklich Diego von dem andern ermordet wur­
de - bin ich nicht auch dann noch schuldig?«
»Man muß dem Schuldgefühl Grenzen ziehen. Sonst be­
stünde ja das Leben bloß aus unvermeidlicher Schuld und hoff­
nungsloser Sühne. Es wäre eine unheilbare Krankheit, die mit
der Geburt beginnt und erst mit dem Tode stirbt.«
»Vielleicht glaube ich Ihnen nur, weil ich Ihnen glauben
möchte?«
»Nicht nur deshalb, man spürt, was wahr ist.«
Ihr Gesicht erfüllte sich mit lauter Schüchternheit. Und das
war ein rührendes Schauspiel. Denn dieses Antlitz war dazu

298 DER ZAUBERLEHRLING


erschaffen, der Spiegel für größere, bedeutendere Empfindun­
gen zu sein. Sie legte die Hand, die sie ihm entzogen hatte, auf
das Tischtuch, in die Nähe seiner Hände, und sagte: »Können
Sie nur die Vergangenheit erraten, oder wissen Sie auch die Zu­
kunft?«
»Ich kenne auch die Zukunft.«
Sie schwieg und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Ich kenne auch Ihre Zukunft«, fuhr er fort. »Sie werden
mich lieben.«
Ihre Augen blieben ungläubig. »Ich habe den Männern und
mir immer nur Unglück gebracht.«
Er lächelte. »Sie werden mich lieben, und wir werden ganz
gewiß nicht unglücklich sein.«
Sie senkte den Kopf, griff in die kleine goldene Handtasche
und legte die rote Rose auf den Tisch. »Das ist eine seltsame
Blume«, meinte sie leise. »Sie verwelkt nicht.«
»Sie gleicht der Zukunft«, erwiderte der Baron.
Ihr Blick haftete auf der Rose. »Ich werde bald nach Argen­
tinien zurückmüssen.«
»Wir werden zusammen fahren«, sagte er. »Wir werden den
Mörder zwingen, die Wahrheit zu sagen, und dann wird er
sterben. Nein, nicht durch den Henker. Er wird die Rechnung
selber begleichen. Er hat die Wahl zwischen dem Tod und ei­
nem Leben, in dem ich ihm die Jahre, die Sie ertragen mußten,
vergelten würde.«
»Dann bleibt ihm keine Wahl.« Sie fröstelte in der Erinne­
rung.
»Es waren furchtbare Jahre.«
»Sie werden wieder atmen und lachen, als wäre die Vergan­
genheit nie gewesen.«
»Ich habe das Lachen verlernt.«
»Das Lachen verlernt man nicht«, sagte Lamotte freundlich.
»So wenig wie das Schwimmen und das Tanzen.« Er machte
eine kleine Pause. »Sie glauben mir nicht?«
Im gleichen Augenblick intonierte die Kapelle einen Tango.
Der Baron beugte sich vor. »Nun?«
»Tanzen?« Sie erschrak und hob abwehrend die Hände.

ACHTES KAPITEL 299


»Kommen Sie!« Er nahm ihre Hand. Juana Fernandez sträub­
te sich eine Sekunde. Dann gab sie nach.
Die anderen Gäste schauten entgeistert auf das Parkett. Die
Argentinierin tanzte! Mit einem fremden Mann, der erst ge­
stern eingetroffen war! Man hatte sich so daran gewöhnt, sie
einsam am Tisch sitzen zu sehen, daß man ihr Tanzen, so leicht­
lebig man selber war, geradezu als anstößig empfand.
Eine Dame aus Stockholm, die den Eintänzern internatio­
naler Plätze Frackperlen zu schenken pflegte - als Gegenlei­
stung für nicht nur auf dem Parkett erwiesene Dienste -, senk­
te angewidert die langen angeklebten Wimpern und sagte zu
ihrem jugendlichen Begleiter: »Sie sollte sich schämen!«
»Sehr richtig«, antwortete er. »Wenn diese Frau einen Tanz
akzeptiert, so bedeutet das mehr, als wenn eine andere ...»
Dann schwieg er. »Ich gehe nach oben.« Die Dame aus Stock­
holm erhob sich. »Du kommst in zehn Minuten nach.«

Hallo und Mintzlaff waren aus dem Kurhaus in eine Bar über­
siedelt, die >Chez nous< hieß und in der eine aus Negern und
Mulatten bestehende Tanzkapelle am Werke war. Der Geiger
benutzte als Fiedelbogen einen mit Wollfäden umwickelten
Kleiderbügel.
Im >Chez nous< saßen vorwiegend Angelsachsen. Man sagt
ihnen bekanntlich nach, daß sie wegen des nebligen Klimas ih­
rer Heimat, also aus Gesundheitsrücksichten, viel Alkohol
trinken müssen. Auch hier oben, fern vom Inselnebel, betrie­
ben sie ihre traditionelle Vorsorge mit Bewunderung abnöti­
gender Gewissenhaftigkeit.
Die Trinkpausen benutzten sie zum Tanzen. Manche von ih­
nen, auch weibliche Vertreter Albions, hatten die übermensch­
liche Fähigkeit, bis weit nach Mitternacht energisch gegen die
bedenklichen Folgen des heimatlichen Nebels anzukämpfen
und dennoch früh um acht wie ausgeruhte Teufel vom Weiß­
fluhjoch nach Küblis abzufahren. Es war wohl Übungssache.
Das Wort »Training« ist nicht zufällig englischen Ursprungs.
Hallo und Mintzlaff tanzten natürlich auch. Sie hatten seit
Jahren die liebe Gewohnheit, immer wieder unübliche Schrit­

300 DER ZAUBERLEHRLING


te und Tanzfiguren zu erfinden und ernsten Gesichts auf dem
Parkett vorzutragen.
Das versetzte erfahrungsgemäß andere Paare in helle Aufre­
gung, weil sie glaubten, ihnen noch nicht bekannte Tänze zu
sehen, und sie ruhten nicht eher, als bis sie wenigstens die eine
oder andere Figur begriffen und in ihr Repertoire aufgenom­
men hatten. Und sie konnten sicher sein, daß die Freunde in
Birmingham, Kalkutta und Oslo später große Augen machen
würden.
Als Mintzlaff und Hallo ihre dankenswerte Aufklärungsar­
beit für vorläufig beendet ansahen, gingen sie heim. Der Wind
schnitt wie ein schartiges Rasiermesser, und Hallo kuschelte
sich zähneklappernd an den frierenden Freund.
»Kommst du noch ein wenig mit zu mir?« fragte sie vor der
Tür der Pension Edelweiß. »Ich lege mich hin, und du kraulst
mir wie in alten Zeiten den Lockenkopf. Dabei erzählst du mir
ein neues Märchen.«
»Einverstanden«, sagte er. »Aber nur, wenn wir nicht heim­
lich wie die Diebe über die Stiegen schleichen müssen. Dazu
bin ich zu alt.«
»Komm nur!« erwiderte sie. »Erstens habe ich einen Haus­
schlüssel. Und zweitens werde ich, falls uns jemand begegnet,
schlagfertig erklären, du seiest mein soeben wiedergefundener
Großvater.«
Sie gerieten unangefochten in Hallos Zimmer.
Das Mädchen ging, kaum daß sie Licht gemacht hatte, zu
dem Nachttischchen, auf dem eine gerahmte Photographie
stand. Sie nahm das Bild und schob es, so unauffällig wie mög­
lich, in die Schublade.
Er sah, was sie tat. Aber er wußte nicht, wessen Bild sie ver­
steckte. Und sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zu­
zugeben, daß es sein Bild war.

ACHTES KAPITEL 3°I


Neuntes Kapitel

Daß Herr Mintzlaff am späten Vormittag im Smoking und in


Lackschuhen durch den Davoser Schnee spazierte, hatte nichts
mit professoraler Zerstreutheit zu schaffen. Um ehrlich zu
sein: Er war in der Pension Edelweiß, wohin er sich in der
Nacht vorher begeben hatte, um ein frei erfundenes Märchen
zu erzählen, eingeschlafen und erst am Morgen aufgewacht.
Es ist kein ausgemachtes Vergnügen, einen internationalen
Wintersportplatz am hellichten Tag in Smoking und Lack­
schuhen zu durchqueren. Dergleichen grenzt an Spießruten­
laufen.
Doch was sonst hätte er tun sollen?
Hallo hatte ihm, hinter der Fenstergardine verborgen, mit
einem beinahe mütterlichen Lächeln nachgeblickt.
Mintzlaff hielt den Kopf wie ein gereizter Stier gesenkt,
marschierte darauflos und war finster entschlossen, Passanten,
die sich eine vorlaute Bemerkung gestatten sollten, kurzerhand
in Klump zu schlagen und im kühlen Schnee zu verscharren.
Da lachte auch schon jemand neben ihm!
Mintzlaff blickte wütend hoch.
Aber es war Baron Lamotte. »Ihre Uhr geht wohl falsch?«
fragte er belustigt. Dann packte er den Bedauernswerten am
Arm und zog ihn, ohne weitere Worte zu verlieren, eilig in den
nächsten Laden. Es war ein Geschäft, das Herrenartikel führte.
»Was haben Sie denn mit mir vor?« fragte Mintzlaff.
»Ihr Herr Stellvertreter kam gerade in Sicht. Ich fürchte, daß
er uns gesehen hat.«
Ein Verkäufer tauchte auf. »Womit kann ich dienen?«
»Meinem Freund«, erklärte der Baron, »sind über Nacht
sämtliche Anzüge gestohlen worden. Bis auf den Smoking, den
er trug.«
»Entsetzlich!« sagte der Verkäufer.
»Ganz recht«, entgegnete Lamotte. »Irgend etwas muß ge­
schehen. Zeigen Sie uns einmal, was Sie an englischen Sportan­
zügen vorrätig haben.«

302 DER ZAUBERLEHRLING


»Sofort, meine Herren! Darf ich vorausgehen? Sie werden
bestimmt etwas Passendes finden.«

Der Verkäufer hatte richtig prophezeit. Eine Viertelstunde spä­


ter glich Mintzlaff einem englischen Sportsmann.
So kletterte er, mit einem großen Paket versehen, in sein Ho­
telzimmer, riegelte ab, packte den Smoking aus und hängte ihn
in den Schrank.
Als er erleichtert in die Halle zurückkehrte, drückte er dem
Baron die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen aus voller Kehle.
Sie haben Ruf und Ehre eines deutschen Jünglings gerettet.«
Lamotte winkte lächelnd ab. »Kommen Sie, mein Bester.
Wir wollen zum Eisplatz bummeln und den Skandinaviern zu­
sehen, die für die Eislaufweltmeisterschaft am Sonntag trainie­
ren. Ich liebe den Sport, und ich liebe die Geschwindigkeit.«
Kurze Zeit darauf saßen die zwei auf der Tribüne des großen
Eisplatzes und tranken, weil es sehr heiß war, kühle Limona­
de.
Auf der spiegelnden Fläche zu ihren Füßen jagten tiefge­
beugte junge Männer dahin. Sie hielten die Hände auf dem
Rücken verschränkt, als gingen sie nachdenklich spazieren.
Doch spazierten sie keineswegs. Sie fegten statt dessen wie be­
sessen und unaufhaltsam über das Eis. In den Kurven benutz­
ten sie die Hände als Ruder. Dann wurden diese wieder hinter
dem Rücken gefaltet. Es sah aus, als ob diese Schweden und
Norweger hinterrücks beteten.
Nach einer Weile sagte Mintzlaff zögernd: »Übrigens, ich
habe gestern von Ihnen geträumt.«
»So?« Der Baron tat, als interessiere ihn das Eisläufen mehr
als alle Träume der Welt.
»Genaugenommen habe ich nicht von Ihnen, sondern von
Ihrer Gattin geträumt. Doch es war viel von Ihnen die Rede.«
Lamotte grinste verlegen.
»Ihre Frau Gemahlin war ziemlich ungehalten über die­
sen Ausflug nach Davos.« Da keine Antwort erfolgte, wurde
Mintzlaff unsicher. »Ich weiß natürlich nicht, ob mein Traum
der ... Wirklichkeit entsprach.«

NEUNTES KAPITEL 3°3


Der Baron sagte: »Was die schlechte Laune meiner Frau an­
langt, haben Sie sicher zutreffend geträumt«.
»Schließlich fiel ein Schild aus Ziegenfell von der Wand.«
»Ich mußte ein bißchen blitzen und donnern lassen. Es ist
zuweilen nötig, die Damen daran zu erinnern, wer der Herr im
Hause ist.«
»Ich bin nicht kleinlich. Immerhin habe ich, als ich erwacht
war, aus dem Gedächtnis eine Bilanz Ihres Liebeslebens auf­
zustellen versucht; natürlich nur, soweit die Quellen darüber
Aufschluß geben, und ich muß sagen ...«
»Sie dürfen nicht alles glauben«, sagte der Baron bescheiden.
»Auch Historiker sind eitle Geschöpfe. Sie übertreiben freilich
auf sublime Art. Sie renommieren mit ihren Gegenständen.«
»Trotzdem ...«
»Trotzdem habe ich einiges auf dem Kerbholz. Da haben Sie
schon recht.«
Mintzlaff begann die Namen etlicher Damen an den Fingern
aufzuzählen: »Leda, Antiope, Jo, Alkmene, Danae, Lamia, De­
meter ...« Er holte Luft und blickte den Baron fragend an.
»Ja, ja«, meinte dieser und zuckte ergeben die Achseln.
Der andere fuhr ungerührt fort: »Semele, Kallisto, Leto,
Metis, Maia, Persephone, Themis, Mnemosyne ...«
Lamotte hob beschwörend die Hände. »Hören Sie, bitte,
auf! Ich finde es nicht sehr fein, daß man in Ihren Schulen der­
artige Dinge ausplaudert. Was sollen denn die Gymnasiasten
von mir denken! Aber freilich, mit einem pensionierten Gott
kann man machen, was man will!«
Mintzlaff ließ sich nicht beirren. »In Ihrer Eigenschaft als
Gott mögen Sie sich ja im Ruhestand befinden«, sagte er, »doch
als Mann, verzeihen Sie, sind Sie noch recht rüstig.«
»Was wollen Sie!« erwiderte Lamotte. »Wer sich in der
zweifelhaften Lage befindet, unbegrenzt fortleben zu müssen,
ohne, außer in Büchern, seit nahezu zweitausend Jahren noch
etwas zu gelten, hat es nicht leicht. Schon gar nicht, wenn er
dazu verurteilt ist, ewig jung zu bleiben.«
»So hat jeder seine Sorgen«, meinte Mintzlaff. »Sie waren in
diesen letzten zweitausend Jahren oft... verreist?«

304 DER ZAUBERLEHRLING


»Gewiß! Man interessiert sich ja schließlich für den Pla­
neten, auf dem man früher einmal einige Zeit angebetet wurde.
Es ist eine Art Heimweh. Und ich will es nicht erst lange leug­
nen - wenn ich die europäische Geschichte studienhalber auf­
suchte, ging ich den Frauen nicht gerade aus dem Wege. Bitten
Sie mich nicht um Namen und andere Einzelheiten! Ich wäre
imstande, Indiskretionen zu begehen. Es waren Königinnen
darunter! Lassen Sie mich nur ganz allgemein feststellen: Es
stimmt, daß sich die Menschen im Grunde wenig verändert ha­
ben, und das mag betrüblich sein. Doch auch die Frauen haben
sich nicht verändert, und das, mein Lieber, ist höchst erfreu­
lich.«
Sie schwiegen und blickten, jeder in seine besonderen Ge­
danken versunken, zu den Läufern hinunter, die noch immer
vornübergebeugt die Bahn umrundeten. Die scharfen Kufen
der Schlittschuhe schnitten wie Messerklingen in das unwillig
knirschende Eis.
Mintzlaff sagte: »Es liegt mir fern, Sie über Ihre Erlebnisse
mit dem weiblichen Nachwuchs der irdischen Geschichte aus­
zuholen.«
»Bravo!«
»Aber etwas ganz anderes, was mich seit langem beschäftigt,
wüßte ich brennend gern.«
»Das wäre?«
»Haben Sie auf Ihren Reisen auch andere Sterne des Weltalls
kennengelernt?
»Gelegentlich schon.«
»Und«, Mintzlaff zögerte, als habe er Angst weiterzufragen,
»- sind auch andere Sterne bewohnt?«
Der Baron fragte erstaunt: »Warum denn nicht?«
»Wie schön!« murmelte der junge Kunstgelehrte. Er sah mit
einem Male aus wie ein frommer Mönch, trotz der karierten
Sportjacke und trotz der Skistiefel. Er schluckte ein paarmal,
ehe er zu reden fortfuhr. »Obwohl es Milliarden Sterne gibt
und obwohl die Menschen es wissen, glauben die meisten von
ihnen nach wie vor, nur unser Planet sei bevölkert. Ich habe das
nie einsehen können.«

NEUNTES KAPITEL 3°5


»Es ist auch nicht einzusehen.«
»Nicht wahr? Das Feuerwerk der Gestirne durchfunkelt die
Unendlichkeit, und nur ein einziges winziges Lichtpünktchen
sollte belebt sein?«
»Es ist nicht nötig, daß Sie sich ereifern. Sie haben recht.«
Mintzlaffs Gesicht glänzte. Nach einer Weile umwölkte sich
seine Stirn. »Und auf allen Sternen, soweit sie belebt sind,
herrscht die gleiche halbe Vollkommenheit? Überall gibt es
dieselben Zwei- und Vierbeiner? Ist das Weltall ein unendli­
ches Klischee?«
»Wo denken Sie hin!« entgegnete Lamotte aufgebracht.
»Daß die unbekannte Macht an Phantasiemangel leide, kann
wahrhaftig niemand behaupten!«
»Und es gibt vollkommene Sterne?«
»Soweit ich es beurteilen kann: Nein!«
»Nein?«
»Ich bin freilich nur wenig im Weltall herumgekommen«,
sagte der Baron. »Auch die Götter Griechenlands wissen nicht
alles. Auch sie sind Geschöpfe. Das dürfen Sie nicht vergessen.
Auf dem Olymp, zwischen all unseren Burgen, steht ein einzi­
ger Tempel. Seine Inschrift lautet: »Dem unbekannten Gott.<
Und die Göttern opfern ihm.«
»Es läßt sich verstehen«, sagte Mintzlaff. »Wenn alle Götter
der historischen Religionen selber erst erschaffen worden sind
und nun in dem jeweils von ihnen gepriesenen Paradies, auf
unsterbliches Ruhegehalt gesetzt, weiterleben, ist es kein Wun­
der, daß sie nicht alles wissen können.«
»So ist es.«
»Da Sie nun aber doch ein paarJahrtausende älter und er­
fahrener sind als wir - was für Gedanken machen Sie und
Ihresgleichen sich über das, was sich sogar Ihrer Kenntnis ent­
zieht?«
»Was ich Ihnen darüber erzählen kann, wird Ihrer Neugier
nicht viel nützen. Aber meinetwegen! Wir gelangten zu der
Auffassung, daß die unbekannte Macht verschiedene Möglich­
keiten des Lebens ausprobiert.«
»Als Junge«, sagte Mintzlaff, »schlug ich zuweilen mit nur

306 DER ZAUBERLEHRLING


einer Peitsche auf zwei Kreisel los und war gespannt, welcher
der beiden zuerst umfiele.«
»Es ist zwecklos«, entgegnete Lamotte, »sich mit Verglei­
chen einer unvorstellbaren Vorstellung nähern zu wollen.«
»Trotzdem bleibe ich dabei: Ihre und unsere unbekannte
Macht ...«
»Ihr Erwin ...«
»Wenn er die Welt sich selber überläßt, ist Erwin nichts wei­
ter als ein kleiner kreiselnder Junge! Nur mit dem Unterschied,
daß er noch mehr Arme hat als Wischnu und daß er Milliarden
Kreisel peitscht! Man könnte, wenn Ihnen das besser gefällt,
auch behaupten, er sei ein leichtsinniger Pyrotechniker, der das
kostspielige Feuerwerk, >Welt< genannt, abbrennt, nur um zu
sehen, was aus den glühenden und erkaltenden Funken wird!«
»Seien Sie nicht so beleidigt! Lassen Sie Ihre Gefühle aus
dem Spiel! Es handelt sich um kompliziert angelegte Ver­
suchsreihen. Den Experimentator ...«
»Den Versucher!«
»Den Experimentator interessieren, obgleich auch das nicht
gewiß ist, die Resultate. Um den Ablauf der Versuche küm­
mert er sich wohl nicht. Jedenfalls greift er nicht ein.«
»Und die von ihm erschaffenen Götter? Auch sie, seine Fi­
lialdirektoren, greifen nicht ein?«
»Sie kennen zwar die Zukunft, doch sie haben keine Macht,
sie abzuwandeln. Glauben Sie im Ernst, die Götter Griechen­
lands hätten Ödipus blind in sein Schicksal hineinstolpern las­
sen, wenn sie das Unheil, das sie doch voraussahen, hätten än­
dern können?«
»Aber Ihre Zauberkunststücke?«
»Sie denken an den Vorfall in der Münchener Teestube?
Nun, daß drei Menschen eine Minute lang erkannten, was in
jedem von ihnen vorging, wird das Ende, das sie erwartet, nicht
abwenden. Und ein Wunder, das keinen Wandel schafft, ist
nicht viel mehr als ein Taschenspielertrick.«
Mintzlaff blickte auf die Eisbahn und die unermüdlich da­
hinjagenden Läufer. »Auch die Götter sind nicht zu beneiden«,
murmelte er.

NEUNTES KAPITEL 3°7


»Weiß Gott!« sagte der Baron. »Das hätten Sie schon früher
merken können! »Götter und Menschen sind desselben Ur­
sprungs«, steht bei Hesiod.«
»Was soll man wünschen?« fragte der junge Mann. »Der
Dichter möchte vielleicht ein Schmetterling sein. Der Bud­
dhist will überhaupt nicht sein. Der Tatmensch möchte ein
Held werden, und der fromme Christ ein Engel, eine Art
Schmetterling im Honigkuchenhimmel seiner Phantasie. Ich
bin kein Buddhist, kein Dichter, kein frommer Christ und kein
Held.«
»Werden Sie, was Sie sind!«
»Sie wissen ganz gut, daß ich nichts anderes will. Doch ich
bekam bis jetzt nur Vorwürfe zu hören.«
»Nicht des Ziels wegen.«
»Ich weiß, wegen der Mauer aus Glas.«
»Durch Mauern, auch durch gläserne, führt kein Weg, kein
richtiger, nicht einmal ein falscher.«
»Zu werden, was man ist«, dachte Mintzlaff, »wäre ein wenig
leichter, wenn ich wüßte, wer ich bin.<
»Mit Wissen«, meinte der Baron, »hat das nichts zu tun. Es
läßt sich nur erleben.«
»Sie wollen mich seit Tagen zur Planlosigkeit überreden. Ich
wiederhole Ihnen, daß ich mir keine Umwege leisten kann. Die
Zeit, die mir Ihr Experimentator läßt, ist zu knapp dafür.«
»Es gibt keine Umwege«, erklärte Lamotte.
Unten auf dem Eisplatz stolperte einer der Läufer in einer
Kurve, fiel hin und schoß, mit allen vieren strampelnd, weithin
über die spiegelglatte Fläche. Endlich blieb er liegen. Andere
Läufer eilten ihm hastig zu Hilfe. Sein Trainer kam besorgt
über das Eis gerannt, glitt wenige Schritte vor seinem Schütz­
ling gleichfalls aus und rutschte nun auf dem Bauch in die
Gruppe der ahnungslosen Olympioniken hinein. Es sah aus,
als rolle eine Kugel mitten in aufgestellte Kegel, und es wirkte
auch so. Die Eisläufer wankten, hielten sich noch eine Weile
taumelnd aufrecht, dann fiel einer nach dem anderen langsam,
beinahe gemütlich, um.
Sie lagen und saßen völlig verdutzt in einem unentwirrbaren

308 DER ZAUBERLEHRLING


Knäuel beisammen, und als sich ihre erste Verwunderung ge­
legt hatte, brachen sie in Gelächter aus.
»Alle neune!« sagte Mintzlaff.
Lamotte erhob sich plötzlich. »Entschuldigen Sie, daß ich
mich jetzt verabschiede.«
»Sie wollen schon wieder nach Griechenland zurück?«
»Nein, nein. So war es nicht gemeint. Ich fahre nur bis mor­
gen abend nach St. Moritz hinüber.«
Mintzlaff sah Juana Fernandez auf dem Weg, der die Eis­
fläche unterteilte, zögernd daherkommen. Jetzt blieb sie stehen
und hob die Hand ein wenig, als wolle sie winken. Doch sie
schien sich nicht recht zu trauen.
»Da werden Sie meinen Vortrag, den der andere hält, gar
nicht hören können?« fragte der junge Mann.
»Wo denken Sie hin!« Der Baron klopfte ihm auf die Schul­
ter. »Diesen Spaß lasse ich mir nicht entgehen! Ich bin pünkt­
lich zurück.«
Nach einem Händedruck lief er mit großen Schritten auf die
Argentinierin zu, die lächelnd den lachenden Eisläufern zu­
schaute.
»Wer ist dieser Mann?« fragte eine Frauenstimme.
Mintzlaff schrak auf und wandte sich um.
Es war Mrs. Gaunt. Jene Engländerin, die der Baron in der
Bar des Hotels Victoria zum Weinen gebracht hatte.
»Welcher Mann?« Er stand auf.
Sie richtete ihre kalten wasserfarbenen Augen starr auf
ihn und zeigte in die Richtung, in der Lamotte verschwunden
war.
»Eine Reisebekanntschaft. Ein Baron Lamotte. Mehr weiß
ich auch nicht.«
»Sie sind infam«, sagte sie gelassen. »Sie wissen, wer er ist?«
»Das vernünftigste wäre, Sie fragten ihn selber.«
»Er hat mich gedemütigt. Wissen Sie, warum er es getan
hat?«
»Es mag sich um ein Vorurteil gehandelt haben.«
»Um eine Verurteilung. Und ich wüßte gern, wer sich zu
meinem Richter aufgeworfen hat.«

NEUNTES KAPITEL 309


»Sollten Sie dem kleinen Vorfall nicht doch zuviel Gewicht
beimessen, gnädige Frau?«
»Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung, sondern um eine Aus­
kunft ersucht.«
»Es tut mir außerordentlich leid, aber ich bin nicht in der
Lage, Ihnen die gewünschte Auskunft zu erteilen.«
»Sie sind kein Kavalier, mein Herr.«
Mintzlaff machte ein zerknirschtes Gesicht. »So ist es im Le­
ben«, sagte er. »Sie baten mich um eine Auskunft, die ich Ih­
nen nicht geben konnte, und ich erhalte eine Auskunft, um die
ich Sie nicht gebeten habe.«
Mrs. Gaunt erwiderte nichts. Sie drehte sich um und schritt
davon.

310 DER ZAUBERLEHRLING


Zehntes Kapitel

Es war Mittwoch abend, und die Stuhlreihen im Theatersaal


des Kurhauses reichten, zu Mintzlaffs Verwunderung, kaum
aus.
»Kannst du das verstehen?« fragte er Hallo, die neben ihm
stand.
»Nein«, erwiderte sie. »Die Ärmsten werden nicht wissen,
was sie sonst anfangen sollen.«
»Oder sie denken, daß ich, weil auf dem Plakat von Humor
die Rede ist, Militärhumoresken und kitzlige Gedichte vortra­
gen werde.«
»Du? Wieso denn du?«
»Natürlich er.«
»Vielleicht tut er’s!«
Sie hatten Plätze in der ersten Reihe, genau vor dem Red­
nerpult. Der Direktor des Verkehrsvereins schüttelte Mintzlaff
im Vorbeigehen die Hand. »Grüß Gott, Herr Doktor! Sie in­
teressieren sich auch für den Humor und ähnlich ausgefallene
Gegenstände?«
Neben den zwei Herren versuchte jemand ein Lachen zu
unterdrücken. Es war selbstverständlich Hallo.
Als der Direktor gegangen war, flüsterte Mintzlaff: »Willst
du dich gleich zusammennehmen?«
Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Dann nickte sie grü­
ßend.
Er suchte ihren Blick zu verfolgen. »Ein Bekannter?« fragte
er leichthin.
»Nein. Ich grüße grundsätzlich nur Fremde«, antwortete
sie. »Bist du eifersüchtig?«
»Möchtest du das?«
»Es wäre wunderbar. Obwohl es freilich nichts bewiese.
Denn die Eifersucht, sagt Kaschmirutti, wird doppelt so alt wie
die Liebe!«
»Kaschmirutti? Wer ist denn das nun wieder?«
»Kaschmirutti war ein weiser Parse, der eine entzückende

ZEHNTES KAPITEL 3”
Art hatte, banale Wahrheiten knapp und doch blumig auszu­
drücken.«
»Aha, wieder eine deiner dreisten Erfindungen!«
»Du sagst es, großer Häuptling. Meine neueste Schöpfung.«
»Kennst du noch andere seiner Aussprüche?«
»Aber Alfons! Ich bin doch die einzige Expertin! Ich besit­
ze sogar einige seiner in parsischer Stenographie geschriebenen
Manuskripte! Von ihm stammt auch der fundamentale Satz:
Wenn es keine hohen Berge gäbe, gäbe es keine tiefen Täler!«
»Ein offener Kopf, dein Kaschmirutti.«
Hallo nickte seriös. Aber weitere Lebensweisheiten des ste­
nographierenden Parsen konnte sie nicht mehr vorbringen.
Denn auf dem Podium erschien der Vorsitzende der Davoser
Kunstvereinigung.
Man setzte sich. Stühle wurden gerückt. Man hustete. Ganz
allmählich wurde es stilF.
Mintzlaff blickte bedauernd auf den leeren Stuhl zu seiner
Linken.
»Dein Baron wird schon noch kommen«, murmelte Hallo.
»Alfons, bist auch du so aufgeregt?«
Zärtlich drückte er ihre Hand.
Und dann begann der Vorsitzende der Kunstvereinigung die
Begrüßungsworte abzuwickeln. Der Mann hatte ein barsches
Gesicht mit einem buschigen Schnurrbart.
Es sei eine Freude - so behauptete er -, zu sehen, welches
Interesse die Veranstaltungen der Kunstvereinigung fänden.
Sogar der Vortrag eines im Trubel der heutigen Welt denkbar
überflüssigen Menschen, eines Kunsttheoretikers, habe den Saal
gefüllt. Das bereite ihm eine besondere Genugtuung. Denn
einem internationalen Publikum vom Humor zu sprechen, er­
scheine ihm, dem Mediziner, keineswegs überflüssig. Die
Menschheit habe den Humor, diese vitaminreichste Frucht der
Heiterkeit, bitter nötig. Vielleicht seien sogar theoretische
Erörterungen brauchbar, den Sinn für Humor bei Anfängern
zu wecken und bei Fortgeschrittenen zu pflegen. Er hoffe es je­
denfalls von Herzen und erteile nunmehr Herrn Professor
Mintzlaff das Wort. Mintzlaff wollte sich, als er seinen Namen

312 DER ZAUBERLEHRLING


hörte, feierlich erheben. Erst als Hallo flüsterte: »Daß du mir
sitzen bleibst«, und ihn am Rockärmel festhielt, besann er
sich.
Der buschige Chefarzt verbeugte sich kurz, weil die Anwe­
senden freundlich applaudiert hatten. Dann öffnete er die Tür
im Hintergrund. Im Türrahmen erschien der kleine elegante
Herr »Professor«. Er trug einen Cutaway. Im Knopfloch be­
fand sich eine weiße Nelke und in dem schmalen Vogelgesicht
das anscheinend unvermeidliche Einglas.
Es wurde geklatscht.
Der Professor schüttelte dem Chefarzt die Hand. Dann
schritt er federnd zum Rednerpult. Dort verbeugte er sich,
lächelte eine Sekunde, legte, sich aufstützend, die Fingerspit­
zen gegeneinander und blickte, da es an der Saaltür laut wur­
de, mit hochgezogenen Brauen über die Stuhlreihen hinweg.
Der Nachzügler war Baron Lamotte. »Sie sehen, ich halte
Wort«, sagte er, als er sich neben Mintzlaff niederließ.
Dann wurde es still, und der Redner knüpfte an das abge­
brochene Lächeln wieder an. »Meine Damen und Herren«, be­
gann er und klemmte das Monokel fester, »erschrecken Sie,
bitte, nicht, wenn ich, statt unmittelbar auf den Humor zu
sprechen zu kommen, mit etwas ganz anderem beginne, und
zwar mit dem, was man in der optischen Physik und in der
Kunst die Perspektive nennt. Es gibt - im Hinblick etwa auf
eine mit gleichartigen Bäumen bepflanzte Allee - zwei einan­
der diametral entgegengesetzte Gesichtspunkte, die beide gül­
tig sind. Erstens sind alle Bäume dieser Allee gleich groß.
Zweitens sind die dem Betrachter am nächsten stehenden Bäu­
me am größten und die am Ende der Allee am kleinsten. Beide
Feststellungen sind richtig. Doch der Künstler muß sich für
eine von ihnen entscheiden, sonst ergeht es ihm wie jenem Esel,
dem die Wahl zwischen zwei Heubündeln so schwerfiel, daß
er aus purer Unentschlossenheit verhungerte.«
Ein paar der Anwesenden, die von dem sagenhaften Esel
noch nichts gehört zu haben schienen, lachten gutwillig.
»Keinem von Ihnen«, fuhr der falsche Professor fort, »dürf­
te es völlig unbekannt sein, daß sich die verschiedenen Maler­

ZEHNTES KAPITEL 3U
generationen zur Perspektive verschieden verhielten. In man­
chen Kunstepochen wurde die Wirklichkeit so darzustellen
versucht, wie sie ist. Das bedeutet, um bei unserer eben er­
wähnten Allee zu bleiben: alle Bäume waren gleich groß. In an­
deren Zeiten wurde dagegen die Wirklichkeit so abgebildet,
wie sie vom Standpunkt des Betrachters aus erscheint, und das
heißt: die Bäume im Vordergrund waren groß, die am Hori­
zont jedoch klein. Nun kann man auch heute noch die Mei­
nung hören, das perspektivische Malen sei ein Zeichen künst­
lerischen Fortschritts. Demnach wäre die unperspektivische
Malweise die Folge einer noch unentwickelten Sehweise. Denn
niemand wird mir einreden können, daß ein Maler, der per­
spektivisch sieht, nicht imstande sei, die Gegenstände des Bild­
vordergrunds größer darzustellen als die im Hintergrund! Das
perspektivische Sehen mag ein in prähistorischen Zeiten lang­
sam errungener Fortschritt des Menschen sein. Und vielleicht
teilte der Zeitgenosse der Saurier noch nicht die Auffassung
des Alleebaums im Epigramm eines meiner Freunde, das »Mit­
leid und Perspektive oder die Ansichten eines Baumes* über­
schrieben ist und folgendermaßen lautet:

Hier, wo ich stehe, sind wir Bäume,


die Straße und die Zwischenräume
so unvergleichlich groß und breit.
Mein Gott, mir tun die kleinen Bäume
am Ende der Allee entsetzlich leid!

Mögen alle unsere Voreltern im Tertiär oder im Diluvium, so


weit sie schon Alleen besaßen, der Meinung dieses Alleebau­
mes gewesen sein oder nicht - die Maler des Mittelalters je­
denfalls malten unperspektivisch, obwohl sie perspektivisch
sahen. Es war der bedeutsame Entschluß, künstlerisch eher der
Wirklichkeit selber als einer physiologisch bedingten Ansicht
davon nahezukommen. Es war der bedeutsame Weg vom An­
schein zur Anschauung. Und die Triebfeder war der Wille zum
bewußt unperspektivischen Sehen!«
Hallo flüsterte: »Vielleicht ist er Augenarzt?«

3J4 DER ZAUBERLEHRLING


Mintzlaff beugte sich zu ihr. »Er will unter meinem Namen
eine Theorie starten.«
Der Redner blickte mißvergnügt auf das in der ersten Reihe
tuschelnde Paar.
Hallo konnte es sich nicht verkneifen, ihm eine Grimasse zu
schneiden.
Er verlor für einen Augenblick die Fassung. Dann fuhr
er fort: »Wenn Sie mir bis hierher überzeugt folgen konnten -
daß nämlich das unperspektivische Sehen eine bewußte Lei­
stung sein kann so ist die Grundlage für meine weiteren Aus­
führungen geschaffen. Für diejenigen unter Ihnen, die meine
bislang erschienenen Arbeiten kennen, möchte ich anmer­
ken, daß ich meine neueste Theorie heute zum ersten Male
vor der Öffentlichkeit entwickle. Es braucht Sie also nicht
wunderzunehmen, daß sich der Vortrag von meinen früheren
Deutungsversuchen wesentlich unterscheidet. Arbeitshypo­
thesen sind keine ewigen Werte. Sie dienen der Ordnung, und
sobald sich ein geeigneteres Ordnungsprinzip gefunden hat,
hat man die wissenschaftliche Pflicht, die überlebten Systeme
zum alten Eisen zu werfen. Stillstand heißt auch hier Rück­
gang.«
Der Baron rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Geht das nicht ein bißchen weit?« flüsterte er.
Mintzlaff lächelte. »Stören Sie ihn nicht«, bat er. »Wenn er
so fortmacht, kann es noch sehr lustig werden.«
»Na meinetwegen!« knurrte der Baron.
Der Redner nahm das Einglas aus dem Auge und ein seide­
nes Tuch aus dem Jackett. Dann putzte er das Monokel und
schwieg, ohne den Blick von den Störenfrieden abzuwenden.
Auch als er Tuch und Glas wieder ordnungsgemäß unterge­
bracht hatte, schwieg er noch. Seine Lippen waren vor Arger
ganz schmal geworden.
Plötzlich blitzte es in seinen Augen boshaft auf. »Es wäre
möglich«, sagte er, »daß ich, trotz der Bemühung, allgemein­
verständlich zu sein, noch nicht von allen verstanden worden
bin. Deshalb will ich versuchen, mich dem gesteckten Ziel von
einer anderen Seite aus zu nähern. Ich werde diesmal einen

ZEHNTES KAPITEL
ausgesprochen konkreten Weg wählen, der Sie dem Wesen des
Humors zuführen soll.«
Seine Stimme hatte sich wieder gesenkt und klang nun nie­
derträchtig salbungsvoll. Er hob sich auf die Zehenspitzen und
beugte sich weit vor. »Beispiele für Humor«, sagte er, »sind
schwer beizubringen, da sich der Humor, so wie er verstanden
sein will, nicht in der Anekdote, der Replik oder der Situation
darstellt. Insofern ist der Humor beispiellos. Da ich nun aber
genötigt bin, mit Beispielen zu arbeiten, werde ich von ande­
ren Kategorien der Heiterkeit ausgehen. Vielleicht gelingt es
mir, Ihnen durch Beispiele, die nichts mit Humor zu tun ha­
ben, näherungsweise klarzumachen, inwiefern sie das Komi­
sche, das Satirische oder das Witzige exemplarisch vertreten
und, von hier aus, wie im Gegensatz dazu der Humor wesent­
lich beschaffen ist. Doch ich verliere mich schon wieder in für
nicht alle Anwesenden verständliche Abstraktionen.«
Hallo fragte leise: »Soll ich ein Pfund faule Äpfel besorgen?«
»Zu spät«, flüsterte Mintzlaff. »Die Geschäfte haben schon
geschlossen.«
»Oder soll ich ihm das Monokel aus dem Auge spucken?«
»Sei schön brav!« mahnte Mintzlaff.
»Das erste Beispiel, das ich Ihnen geben will, betrifft das
spezifisch Komische«, sagte der falsche Professor. »Stellen Sie
sich, bitte, folgendes vor: Morgen früh würde Ihnen, die Sie
samt und sonders unterwegs sein werden, um in Sonne und
Schnee Sport zu treiben, auf der Straße ein verlegen drein­
blickender Herr in Smoking und Lackschuhen begegnen!«
Durch Mintzlaff ging ein Ruck.
»Wenn dieser Herr am hellen Morgen in Smoking und
Lackschuhen absichtlich über die sonnenbeschienenen Stra­
ßen von Davos spazierte, wäre er vielleicht ein Narr, und so­
mit hätte die Situation gar nichts Komisches an sich.«
Hallo krampfte die Hände ineinander. Ihr frisches, lustiges
Gesicht war blaß geworden.
»Doch wenn der Herr in der Nacht vorher, sagen wir, ver­
sehentlich in ein falsches Hotel gegangen und dort in einem
fremden Zimmer, wiederum aus Versehen, eingeschlafen wäre,

316 DER ZAUBERLEHRLING


wenn er sich am Morgen darauf wohl oder übel entschließen
müßte, in sein eigenes Hotel zu spazieren, und zwar in Smo­
king und Lackschuhen, - dann wären die Voraussetzungen
für eine komische Situation gegeben. Denn der Widerspruch
zwischen dem Erwartungsgemäßen und dem Unangemesse­
nen ...» Der Sprecher stockte plötzlich, als halte ihm jemand
den Mund zu.
Mintzlaff blickte den Baron an. Lamotte hatte sich bequem
im Stuhl zurückgelehnt und schlug gelassen ein Bein über das
andre.
Der Redner bewegte den Mund, ohne daß ein Ton über sei­
ne Lippen kam. Er riß verwundert die Augen auf. Dann preß­
te er den begonnenen Satz noch einmal hervor. »Dieser Wi­
derspruch zwischen dem Erwartungsgemäßen und dem Un­
angemessenen ...« stammelte er, und dann war es wieder aus.
Er schüttelte, mit sich höchst unzufrieden, den Kopf, legte das
Einglas auf das Pult und glotzte geistesabwesend auf die Zuhö­
rer.
Im Saal entstand eine leichte Unruhe.
>O weh<, dachte Mintzlaff, »das kann ja heiter werden!«
Lamottes Mund umspielte ein mokantes Lächeln. »Strafe
muß sein«, flüsterte er. Dann richtete er den Blick geduldig auf
den sprachlosen Sprecher.
Wieder bewegte dieser die Lippen. Wie ein Fisch im Aqua­
rium. Plötzlich gurgelten Töne aus der gelähmten Kehle. Und
schon brüllte er: »Dieser Widerspruch zwischen dem Erwar­
tungsgemäßen und dem Unangemessenen ...« Dann war es
von neuem vorbei.
Er zuckte resigniert die Schultern, machte kehrt und wollte
gehen. Aber es war, als packe ihn eine große unsichtbare Hand
am Kragen und zwinge ihn zum Bleiben. Es zog ihn, so sehr er
sich sträubte, zum Pult zurück. »Entschuldigen Sie«, stotterte
er. »Ich muß Ihnen ... muß Ihnen ein Geständnis machen.«
Doch dann bäumte sich sein Stolz auf, und er schrie: »Nein!
Ich denke gar nicht daran! Dieser Widerspruch zwischen dem
Unangemessenen ... und ... und dem bewußt Unper ...«
Mitten im Wort blieb ihm der Mund sperrangelweit offen.

ZEHNTES KAPITEL 317


Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er zitterte heftig. Ganz langsam
hob sich der Unterkiefer. Die Lippen schlossen sich schmerz­
lich. Er senkte die Lider und sagte laut und deutlich: »Ich bin
gar nicht Professor Mintzlaff!«
Die Zuhörer sahen einander verblüfft an. Der Abend ver­
sprach also doch noch interessant zu werden. Nun, um so bes­
ser.
»Ich bin«, begann der Redner, »- nein, ich sag es nicht!«
Doch da zuckte er zusammen, fast als habe er hinterrücks ei­
nen kräftigen Tritt erhalten. Er drehte sich um. Aber es stand
niemand hinter ihm. In seinen Augen tauchte Angst auf. »Also
meinetwegen«, sagte er kläglich. »Ich bin ein Schwindler.« Er
hatte endlich jeden Widerstand aufgegeben.
»Das ist ja großartig!« zischte die Dame, die neben Hallo
saß. Es war eine Frau Splettstößer aus Cannstatt. »Wir sind bis
auf die Knochen blamiert! Wir gehen, Gudrun! Komm!«
Das junge Mädchen, das sich in ihrer Begleitung befand, flü­
sterte: »Ja, Mama!« und schaute betrübt in ihren Schoß aus
Crepe maroquain. Fräulein Gudrun Splettstößer war auf den
Herrn hinter dem Rednerpult sehr, sehr böse. Sie hatte ihn bei
dem Bemühen, zarte Bande um sie und sich zu weben, in der
letzten Woche nach Kräften unterstützt. Mama war auch nicht
gerade kleinlich gewesen. Und nun lohnte er ihnen ihr Entge­
genkommen so! Er war gar kein Professor! Was, um alles in der
Welt, mochte er in Wirklichkeit sein? Womöglich ein Hotel­
dieb oder ein Straßenbahnschaffner!
»Komm!« zischte die empörte Mutter.
»Verzeihen Sie mir tausendmal!« sagte der Schwindler. »Ich
bin nicht Professor Mintzlaff, sondern Prinz Friedrich von
Ofterdingen.«
»Haha!« meinten einige der Anwesenden.
»Lügt er schon wieder?« fragte Mintzlaff seinen Nachbarn.
»Nein«, erwiderte der Baron.
Der Redner trocknete sich die Stirn mit dem seidenen Tuch.
»Es ist verständlich, daß Sie mir nicht glauben. Aber diesmal
sage ich die volle Wahrheit. Ich bin Friedrich XLVII. von Of­
terdingen.«

318 DER ZAUBERLEHRLING


Fräulein Splettstößer wollte aufstehen.
»Willst du gleich sitzen bleiben, du dummes Ding?« zischte
die Mutter.
»Das Ganze begann«, erzählte der Prinz müde, »in einem
Berliner Cafe, wo ich mich mit einem Freund getroffen hatte.
Am Nebentisch saßen zwei junge Damen. Und die eine, die
meines Wissens von der anderen Hedwig genannt wurde, be­
richtete, daß ihr vor Tagen Mintzlaff wiederbegegnet sei. Ei­
gentlich müsse er übermorgen in Davos einen Vortrag über
Humor halten. Nun habe er aber geschrieben, daß er erst in
vier Wochen kommen könne.«
Hallo zog ein Gesicht, als habe sie Essig getrunken. Mintz­
laff wußte das, ohne sie anzusehen. Warum mußte auch dieser
Trottel von einem Prinzen ausgerechnet dabeigewesen sein, als
Hedwig einer Freundin, wahrscheinlich Lotte Kirbach, diese
Sache erzählte! Und warum mußte der Kerl hier, wo Hallo
zuhörte, davon anfangen! Nun würde sie wieder traurig sein
und das hinter einem Galgenhumor zu verbergen suchen, der
ihm das Herz umdrehte. Und in ein paar Tagen würde sie, ganz
nebenbei, fragen, wer denn Hedwig sei. Und dann würde er sie
anlügen, um sie nicht noch mehr zu kränken. Und sie würde
tun, als ob sie ihm Glauben schenke, nur um ihn nicht völlig
zu verlieren. Es war ein schandbarer Zustand!
»Sie wissen schwerlich«, sagte Friedrich XLVII., »wie unan­
gebracht einem Prinzen zumute ist, der mindestens ein Jahr­
hundert zu spät auf die Welt gekommen ist. So etwa muß sich
ein Fleischermeister fühlen, der unter Vegetariern lebt. Man
wird skeptisch bestaunt wie eine nicht zu entziffernde etruski­
sche Vaseninschrift und ist überflüssiger als eine Stubenfliege.
Kaum daß ich jenes Berliner Cafe verlassen hatte, beschloß ich,
dem Abenteuer, das sich bot, nicht aus dem Wege zu gehen. Es
schien alles sehr einfach. Professor Mintzlaff wurde erst in vier
Wochen in Davos erwartet. Wissenschaftler sind keine Film­
stars. Wer weiß schon, wie ein junger Gelehrter namens Mintz­
laff aussieht! Wenn ich also etliche Tage nach dem Brief des
wirklichen Professors hier auftauchen und erklären würde, ich
sei Mintzlaff und hätte wider Erwarten nun doch früher ab-

ZEHNTES KAPITEL 31?


kommen können, so war mit ziemlicher Sicherheit anzuneh­
men, daß keine nennenswerten Schwierigkeiten entstünden.
Auch hinsichtlich des Vortrags hatte ich wenig zu befürchten.
Ich habe zehn Semester Literatur- und Kunstgeschichte stu­
diert, kenne mich einigermaßen in den alten und neuen Kunst­
theorien aus und darf sagen, daß ich mir überdies in mancher
Hinsicht eigene Gedanken gemacht und eigene Ansichten ge­
wonnen habe ...«
»Der Widerspruch zwischen dem Erwartungsgemäßen und
dem Unangemessenen!« rief jemand aus einer Ecke des Saals,
und einige lachten.
Der Prinz tat, als überhöre er den Einwurf. »Ich kam hier­
her«, fuhr er fort, »wurde mit vorbildlicher Gastfreundschaft
aufgenommen und war entschlossen, Ihnen meine Hypothese
über den Humor als bewußt unperspektivische Erlebnisweise
zu entwickeln. Was man einem dilettierenden Prinzen aus ei­
nem mediatisierten Hause niemals abgenommen hätte - einem
Professor der Ästhetik hätte man es mühelos geglaubt.«
»Haha!« meinte ein Zweifler.
»Doch, doch«, versicherte der Prinz. »Leider brach ich, aus
mir unerfindlichen Gründen, den Vortrag ab, auf den ich mich
wie ein Kind gefreut hatte, und demaskierte mich. Nun rettet
mich nichts davor, daß Sie mich für einen kleinen Hochstapler
halten, dem daran lag, ein paar Wochen kostenlos und gut ver­
pflegt hier herumzulungern. Dieser Gedanke ist mir außeror­
dentlich peinlich. Um einen solchen Verdacht zu beseitigen,
werde ich der Kurverwaltung einen angemessenen Betrag für
wohltätige Zwecke aushändigen.«
Frau Splettstößer aus Cannstatt klatschte, während sie gnä­
dig nickte, in die Hände.
Der Prinz lächelte resigniert. Dann sagte er: »Ein zweiter
Verdacht ist schwerer aus der Welt zu schaffen. Ich meine die
naheliegende Vermutung, ich hätte Sie aus Langeweile oder
Mißachtung düpieren wollen. Nun, ich wies schon darauf hin,
wie sehr ich gewünscht hätte, mich einmal zu bestätigen, und
zwar nicht als Nachkomme von sechsundvierzig Vorvätern na­
mens Friedrich, sondern als Fachmann meines Interessenge-

320 DER ZAUBERLEHRLING


bietes. Der Versuch wurde zu einem Fiasko. Ich hatte vor, Sie
gut zu unterhalten ...«
»Das ist Ihnen doch aber gelungen!« rief jemand lachend.
Der Prinz zuckte zusammen.
»Lassen Sie ihn doch endlich im Erdboden versinken!« flü­
sterte Mintzlaff mitleidig.
»Ich denke nicht daran!« meinte der Baron. »Dem Herrn
wird nichts geschenkt. Er hat sich schlecht benommen. Jetzt
mag er sich gefälligst den Direktor des Verkehrsvereins an­
hören. Das schadet ihm gar nichts.«
Richtig, der Direktor des Verkehrsvereins erhob sich, ver­
beugte sich ironisch vor dem erschöpften Prinzen und sagte:
»Durchlaucht! Ich bin im Zweifel, ob der unprogrammäßige
Verlauf des Abends den Beifall aller Anwesenden findet oder
ob nicht doch vielen unter ihnen der von uns eigentlich ge­
plante Vortrag lieber gewesen wäre. Ihre Absicht, Durchlaucht,
war, die Versammlung zum Narren zu halten. Plötzlich be­
sannen Sie sich anders und machten, aus unbegreiflichen
Gründen, sich selber, wenn ich mir die Bemerkung gestatten
darf ...«
»Sie dürfen«, sagte der Prinz mürrisch.
»Danke ergebenst. Also, statt dessen machten Sie sich selber
zum Narren.«
»Ich weiß nicht, warum ich es tat«, erklärte der Prinz und
starrte unausgesetzt zu Fräulein Gudrun Splettstößer. Sein von
Haus aus gescheites Gesicht wirkte jetzt, von ungewohnter
Befangenheit erfüllt, namenlos töricht.
»Vielleicht schlug Ihr Gewissen?« erkundigte sich der Di­
rektor freundlich. »Das wäre ein schöner Zug.«
Friedrich XLVII. schüttelte unwillig den Kopf.
»Wie dem auch sei«, fuhr der andere fort, »- ich jedenfalls
bin in einen Gewissenskonflikt geraten, der mir sehr zu schaf­
fen macht. Als Direktor des Verkehrsvereins freue ich mich,
den Prinzen von Ofterdingen in unserem schönen Davos zu
wissen. Das ist meine Pflicht. Als Mann mit Sinn für Späße
muß ich sagen, daß ich mich bis jetzt nicht übel unterhalten
habe. Das ist meine Privatangelegenheit. Als verantwortlicher

ZEHNTES KAPITEL 321


Mitveranstalter dieses Abends endlich wäre ich nicht abge­
neigt, den falschen Professor Mintzlaff ohne großes Federlesen
der Polizei zu übergeben. Und das ...«
»Bitte nicht!« rief Fräulein Splettstößer und wurde dann rot
wie Klatschmohn.
Aller Augen hatten sich auf sie gerichtet.
»Bitte nicht«, wiederholte sie, diesmal freilich nur noch
ganz leise.
»Einer so reizenden Fürsprecherin ist schwer zu widerste­
hen«, meinte der Redner. »Ich hoffe, daß die übrigen Anwe­
senden, wenn auch nicht mit der gleichen Begeisterung, der­
selben Ansicht sind wie die junge Dame. Wer unter den Herr­
schaften anders denkt, möge sich, bitte, von seinem Platz
erheben!« Er sah sich ab wartend um.
Es erhob sich niemand.
Der Direktor lächelte verbindlich. »Besten Dank. Das be­
weist nur, in wie vorbildlichem Maße Sie schon mit jenem Hu­
mor vertraut sind, über den heute abend ein Berufener spre­
chen sollte. Nun, aus einer theoretischen Einführung wurde
eine praktische Vorführung, und am Ende war das nicht ein­
mal ein schlechter Tausch.« Er sah auf die Armbanduhr. »Was
aber beginnen wir mit dem angebrochenen Abend?« Sich wie­
der an den Prinzen wendend, fragte er: »Wollen Durchlaucht
vielleicht in Ihren Ausführungen über das bewußt unperspek­
tivische Sehen fortfahren?«
»Nein!« rief der Prinz voller Entsetzen.
Der Direktor des Verkehrsvereins wandte sich an den Vor­
sitzenden der Kunstvereinigung. »Was soll geschehen, lieber
Doktor? Wissen Sie einen Rat? Wir sind den verehrten Anwe­
senden noch eine gute Stunde Unterhaltung schuldig.«
Der Chefarzt rupfte an seinem buschigen Schnurrbart. »Ich
könnte«, sagte er, »allenfalls über die hiesigen Heilerfolge bei
Asthma und chronischer Bronchitis sprechen. Aber das The­
ma hat, muß ich zugeben, verdammt wenig mit Humor zu
tun.«
Ein nett aussehender kleiner älterer Herr erhob sich zö­
gernd. Es war der in Davos ansässige Besitzer eines internatio­

3^2 DER ZAUBERLEHRLING


nal bekannten Schlittschuhgeschäftes. »Wenn sich gar nichts
Passendes finden sollte«, meinte er bescheiden, »so könnte ich
meinen Vortrag über die Entwicklungsgeschichte des Schlitt­
schuhs wiederholen, den ich vorige Woche im Rotaryklub ge­
halten habe. Ich müßte nur vorher schnell einmal heimsprin­
gen und die verschiedenen Schlittschuhmodelle holen. Denn
ohne diese Beispiele würde der Vortrag zu unanschaulich.« Er
blickte sich fragend um. Die Gäste lächelten verlegen. »Es war
natürlich nur ein Vorschlag«, sagte er dann kleinlaut und setz­
te sich schnell.
Diesen Moment hielt Prinz Friedrich von Ofterdingen für
geeignet, um sich aus dem Staube zu machen. Er kletterte ha­
stig vom Podium herunter und schob sich an der ersten Stuhl­
reihe entlang.
Doch schon hielt ihn der Baron am Ärmel fest. »Sie wollen
uns verlassen?« fragte er. »Gerade jetzt, wo ich so eine aparte
Überraschung für Sie habe?«
»Um Himmels willen!« murmelte der Prinz erschöpft. »Eine
Überraschung?»
»Ganz recht.« Der Baron steigerte seine Stimme. »Der Höhe­
punkt des Abends steht Ihnen allen noch bevor!« rief er gut­
gelaunt. »Sie sind hier zusammengekommen, um Professor
Mintzlaff zu hören. Der Herr nun, der seit einiger Zeit unter
diesem Namen in Davos weilt, hat uns vorhin gestanden, daß
er gar nicht der Professor Mintzlaff sei, sondern ein Prinz. Was
würden Sie nun sagen, wenn der Professor trotzdem im Saal
anwesend wäre?«
Die Zuhörer rissen die Augen auf.
»Professor Mintzlaff ist im Saal!« rief Lamotte. »Er erfuhr
telegrafisch von dem Vortrag, der offensichtlich ohne ihn statt­
finden sollte, und kam eigens aus Berlin hierher, um das
Schwindelmanöver aus der Nähe zu beobachten! Meine Da­
men und Herren, neben mir sitzt ein Herr, der sich in der Kur­
liste als ein Doktor Jennewein aus Leipzig eintrug. Dieser Dok­
tor Jennewein ist der wirkliche Professor Mintzlaff!«
Das Publikum sprang von den Stühlen auf, um Mintzlaff zu
sehen.

ZEHNTES KAPITEL 323


»So eine Niedertracht«, knurrte der Prinz wütend.
Der Baron musterte ihn kalt. Dann sagte er befehlend: »So,
jetzt können Sie gehen!«
»Was fällt Ihnen denn ein?« fragte der Prinz. »Ich lasse mir
von Ihnen keine Vorschriften machen. Ich bleibe!« Doch da
lief er schon, so sehr er sich auch sträuben mochte, mit hasti­
gen Schritten auf die Saaltür zu! Es gelang ihm eben noch, den
Kopf zurückzuwenden und Lamotte entgeistert anzustarren.
Dabei fiel ihm das Einglas aus dem Auge. Und dann war er aus
der Tür!

324 DER ZAUBERLEHRLING


BRIEFE AN MICH SELBER
Der erste Brief

Berlin, 12. Januar 1940


nachts, in einer Bar
Sehr geehrter Herr Dr. Kästner!
Hoffentlich werden Sie mir nicht zürnen, wenn Sie diese Zei­
len morgen früh in Ihrem Briefkasten vorfinden. Daß ich Ih­
nen - obwohl ich weiß, daß es nicht nur ungewöhnlich, son­
dern, rundheraus, unschicklich ist, sich selber zu schreiben -
einen Brief schicke, mag Ihnen beweisen, wie sehr ich wün­
sche, zu Ihnen vorzudringen.
Werden Sie, bitte, nicht ärgerlich! Werfen Sie den Brief nicht
in den Papierkorb, oder doch erst, nachdem Sie ihn zu Ende
gelesen haben! Gewährt es Ihnen nicht eine gewisse Genugtu­
ung, daß ich Sie, unbeschadet unserer gemeinsam genossenen
und erduldeten Vergangenheit, mit dem höflichen, Abstand
haltenden »Sie« anrede statt mit dem freundschaftlichen Du,
das mir zustünde?
Ich kenne Ihren Stolz, der Zutrauen für Vertraulichkeit hält.
Ich weiß um Ihr empfindsames Gemüt, das Sie, in jahrzehnte­
langem Fleiß, mit einer Haut aus Härte und Kälte überzogen
haben, und ich bin bereit, darauf Rücksicht zu nehmen.
Zurückhaltung bewirkt verdientermaßen Haltung. Wir, sehr
geehrter Herr Doktor, wissen das, denn wir erfuhren es zur
Genüge. Nun finde ich aber, während ich, von lärmenden und
lachenden Menschen umgeben, Ihrer bei einer Flasche Feist
gedenke: daß man die Einsamkeit nicht übertreiben soll.
Ich verstehe und würdige Ihre Beweggründe. Sie lieben das
Leben mehr als die Menschen. Gegen diese Gemütsverfassung
läßt sich ehrlicherweise nichts einwenden, was stichhaltig
wäre. Und auch das ist wahr, daß man nirgendwo so allein sein
darf wie in den zitternden Häusern der großen Städte.
Wer Sie flüchtig kennt, wird nicht vermuten, daß Sie einsam
sind; denn er wird Sie oft genug mit Frauen und Freunden se­
hen. Diese Freunde und Frauen freilich wissen es schon besser,
da sie immer wieder empfinden, wie fremd Sie ihnen trotz al-

DER ERSTE BRIEE 3^7


lern bleiben. Doch nur Sie selber ermessen völlig, wie einsam
Sie sich fühlen und welcher Zauber, aus Glück und Wehmut
gewoben, Sie von den Menschen fernhält. Sie sind deshalb be­
mitleidet und auch schon beneidet worden. Sie haben gelä­
chelt. Man hat Sie sogar gehaßt. Das hat Sie geschmerzt, aber
nicht verwandelt.
Kein Händedruck, kein Hieb und kein Kuß werden Sie aus
der Einsiedelei Ihres Herzens vertreiben können. Wer das
nicht glaubt, weiß überhaupt nicht, worum es geht. Er denkt
vielleicht an den tränenverhangenen Weltschmerz der Jünglin­
ge, die sich vor drohenden Erfahrungen verstecken wie scheue
Kinder vor bösen Stiefvätern. Doch Sie, mein Herr, sind kein
Jüngling mehr. Sie trauern nicht über Ihren Erinnerungen, und
Sie fürchten sich vor keiner Zukunft. Sie haben Freunde und
Feinde in Fülle und sind, dessen ungeachtet, allein wie der er­
ste Mensch! Sie gehen, gleich ihm, zwischen Löwen, Pfauen,
Hyänen, gurrenden Tauben und genügsamen Eseln einher.
Und obgleich Sie vom Apfelbaum der Erkenntnis aßen, wur­
den Sie aus diesem späten Paradies nicht vertrieben.
Trotzdem: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei! Und
wenn Sie schon anderen verwehren, bis zu Ihnen vorzudrin­
gen, sollten Sie wenigstens mir gestatten, Ihnen gelegentlich
näherzukommen. Ich wähle, da ich uns kenne, den Weg über
die Post. Zerreißen Sie den Brief, wenn Sie wollen, aber ich
wünschte, Sie täten es nicht!

Mit den besten Empfehlungen


Ihr sehr ergebener
Erich Kästner

NB. Eine Antwort ist nicht nötig.

328 BRIEFE AN MICH SELBER


Anmerkung nach Empfang des ersten Briefs

Berlin, 13. Januar 1940


zu Hause

Vorhin klingelte der Postbote und brachte den Brief. Und nun,
nachdem ich, ein bißchen verlegen, gelesen habe, was ich mir
gestern nacht schrieb, muß ich mir recht geben. Ich sollte wirk­
lich mehr Umgang haben, mindestens mit mir, und wenigstens
schriftlich!
Es tut wohl, von jemandem, dem man nahesteht, Briefe zu
erhalten. Und, zum Donnerwetter, ich stehe mir doch nahe?
Oder bin sogar ich mir selber fremd geworden? Mitunter habe
ich dieses Gefühl. Dann wird mir unheimlich zumute, und es
hilft nichts, daß ich vor den Spiegel draußen im Flur hintrete
und mir eine kleine Verbeugung mache. »Gestatten, Kästner«,
sagt der Spiegelmensch. Mein rechtes Auge lächelt aus seiner
linken Augenhöhle. Es ist zuweilen nicht ganz einfach, gute
Miene zu bewahren.
Ich werde mich wieder mit mir befreunden müssen. Wenn
es nicht anders geht, meinetwegen auf brieflichem Wege.
Schlimmstenfalls erhöhe ich bloß den Markenumsatz der
Reichspost. Ich will nicht vergessen, stets einen Briefumschlag
mit getippter Anschrift bei mir zu tragen. Es wäre doch recht
fatal, wenn die Sekretärin dahinterkäme, daß ich mir selber
schreibe.
Es läßt sich zwar kaum vermeiden, daß Schriftsteller etwas
verrückt sind. Aber die meisten sind noch stolz darauf und tra­
gen ihren Spleen im Knopfloch. Diese Leute sind mir zuwider.
Man hat die verdammte Pflicht, sich nicht gehen zu lassen.
Kollegen, denen die Schöpfung einen sogenannten Künstler­
kopf beschert hat, tun mir leid, weil sie ihn nicht umtauschen
können; und ich wundere mich immer wieder, daß sie, statt
sich ihrer auffälligen Gesichter insgeheim zu schämen, sie eitel
zur Schau tragen, wie Barfrauen ein gewagtes Dekollete.

DER ERSTE BRIEE 329


Der zweite Brief

Berlin, den 19. Januar 1940


in einem Cafe am Kurfürstendamm
Mein lieber Kästner!
Früher schriebst Du Bücher, damit andere Menschen, Kinder
und auch solche Leute, die nicht mehr wachsen, läsen, was Du
gut oder schlecht, schön oder abscheulich, zum Lachen oder
Weinen fandest. Du glaubtest, Dich nützlich zu machen. Es war
ein Irrtum, über den Du heute, ohne daß uns das Herz wehtut,
nachsichtig lächelst.
Deine Hoffnungen waren das Lehrgeld, das noch jeder hat
zahlen müssen, der vermeinte, die Menschen sehnten sich vor­
wärts, um weiterzukommen. In Wirklichkeit wollen sie nur
nicht stillstehen, weil sie Angst vor der Stille haben, nicht etwa
vorm Stillstand! Ihr Weg ist der Kreis, und ihr Ziel, seine Peri­
pherie immer schneller und möglichst oft zurückzulegen. Die
Söhne überrunden die Väter. Das Ziel des Ringelspiels ist der
Rekord. Und wer den gehetzt blickenden Karussellfahrern mit­
leidig zuruft, ihre Reise im Kreise sei ohne Sinn, der gilt ihnen
mit Recht als Spielverderber.
Nun Du weißt, daß Du im Irrtum warst, als Du bessern
wolltest. Du glichst einem Manne, der die Fische im Fluß über­
reden möchte, doch endlich ans Ufer zu kommen, laufen zu
lernen und sich den Vorzügen des Landlebens hinzugeben, und
der sie, was noch ärger ist, für tückisch und töricht hält, wenn
sie seine Beschwörungen und schließlich seine Verwünschun­
gen mißachten und, weil sie nun einmal Fische sind, im Wasser
bleiben.
Wie unsinnig es wäre, Löwen, Leoparden und Adlern die
Pflanzenkost predigen zu wollen, begreift das kleinste Kind.
Aber an den Wahn, aus den Menschen, wie sie sind und immer
waren, eine andere, höhere Gattung von Lebewesen entwik-
keln zu können, hängen die Weisen und die Heiligen ihr ein­
fältiges Herz.
Sei es drum! Mögen sie weiterhin versuchen, aus Fischen rü­

33° BRIEFE AN MICH SELBER


stige Spaziergänger, aus Raubtieren überzeugte Vegetarier und
aus dem Homo Sapiens einen homo sapiens zu machen! Du je­
doch ziehe Deinen bescheidenen geistigen Anteil, den Du an
diesem rührenden Unternehmen hattest, mit dem heutigen
Tage aus dem Geschäft! Du bist vierzig Jahre alt, und Dich
jammert die Zeit, die Du, um zu nützen und zu helfen, hilflos
und nutzlos vertatest! Mache kehrt, und wende Dich Dir sel­
ber zu!
Der Teufel muß Dich geritten haben, daß Du Deine kostba­
re Zeit damit vergeudetest, der Mitwelt zu erzählen, Kriege sei­
en verwerflich, das Leben habe einen höheren Sinn als etwa
den, einander zu ärgern, zu betrügen und den Kragen umzu­
drehen, und es müsse unsere Aufgabe sein, den kommenden
Geschlechtern eine bessere, schönere, vernünftigere und glück­
lichere Erde zu überantworten! Wie konntest Du nur so dumm
und anmaßend sein! Warst Du denn nur deshalb nicht Volks­
schullehrer geblieben, um es später erst recht zu werden?
Es ist eine Anmaßung, die Welt, und eine Zumutung, die
Menschen veredeln zu wollen. Das Quadrat will kein Kreis
werden; auch dann nicht, wenn man es davon überzeugen könn­
te, daß der Kreis die vollkommenere Figur sei. Die Menschen
lehnen es seit Jahrtausenden mit Nachdruck ab, sich von unei­
gennützigen Schwärmern zu Engeln umschulen zu lassen. Sie
verwahren sich mit allen Mitteln dagegen. Sie nehmen diesen
Engelmachern die Habe, die Freiheit und schließlich das Le­
ben. Nun, das Leben hat man Dir gelassen.
Sokrates, Campanella, Morus und andere ihresgleichen wa­
ren gewaltige Dickköpfe. Sie rannten, im Namen der Vernunft,
mit dem Kopf gegen die Wand und gingen, dank komplizier­
ten Schädelbrüchen, in die Lehrbücher der Geschichte ein. Die
Wände, gegen die angerannt wurde, stehen unverrückt am al­
ten Fleck, und nach wie vor verbergen sie den grenzenlosen
Horizont. Deshalb riet Immanuel Kant, zum Himmel empor
und ins eigene Herz zu blicken. Doch auch davor scheuen die
Menschen zurück, denn sie brauchen Schranken; und wer sie
beschränkt nennt, sollte das gelassen tun, und nicht im Zorn.
»Wer die Menschen ändern will, beginne bei sich selbst!«

DER ZWEITE B R I E E 331


lautet ein altes Wort, das aber nur den Anfang einer Wahrheit
mitteilt. Wer die Menschen ändern will, der beginne nicht nur
bei sich, sondern er höre auch bei sich selber damit auf!
Mehr wäre hierüber im Augenblick nicht zu schreiben. Der
Rest verdient, gelebt zu werden. Versuch es, und sei gewiß, daß
Dich meine besten Wünsche begleiten!

Dein unzertrennlicher Freund


Erich Kästner

PS. Vergiß nicht, der Sekretärin aufzutragen, daß sie ein paar
Blumen besorgt und auf Deinen Schreibtisch stellt! Ich weiß,
wie sehr Du es liebst, über Flieder oder Tulpen hinweg auf die
verschneiten Dächer zu blicken.
Ja, und an dem braunen Jackett fehlt ein Knopf. Du hast ihn
in die rechte Außentasche gesteckt. Die Aufwartung soll ihn
sofort annähen.
Übrigens: daß eine Aufwartefrau auch eine »Aufwartung«
genannt wird, ist recht bezeichnend. Das Verbalsubstantiv, das
die im Zeitwort enthaltene Handlung ausdrückt, genügt of­
fensichtlich, da man eine solche Angestellte, unbeschadet ihrer
weiblichen Eigenschaften, zwar als eine personifizierte Tätig­
keit, dagegen als Frau eigentlich gar nicht zur Kenntnis nimmt.
Gute Nacht, mein Junge!

332 BRIEFE AN MICH SELBER


KURZE GESCHICHTEN
UND KURZGESCHICHTEN
Es gibt noch Don Juans

Das, was ich erzählen will, erlebte ich vor zwei Jahren wäh­
rend eines Winteraufenthaltes in einem großen Gebirgshotel.
Seitdem ist viel Neuschnee über die Sache gewachsen. Ich traue
mich langsam mit der Sprache heraus.
Ich begegnete dort einem Mann - er mochte Anfang der
Vierzig sein -, von dem die jungen Mädchen und die jungen
Frauen behaupteten, sie seien ihm »verfallen«. Sie hatten die
verschiedensten Charaktere, Haarfarben, Erfahrungen und Fi­
guren, und sie waren verschieden klug, verschieden alt, ver­
schieden gebildet. Aber darin stimmten sie überein: sie seien
ihm, wenn er nur wolle, ausgeliefert. Und es war deutlich zu
sehen, daß er meistens wollte. Er hatte Sinn für Vollständigkeit,
und wenn er durch die Hotelhalle ging, glaubte man, alle Frau­
enherzen schlagen zu hören.
Die Männer waren, soweit sie ihren Aufenthalt mit kleinen
Abenteuern auszuschmücken suchten, in bedauerlicher Lage.
Es befand sich, das fühlten sie schnell heraus, einer in ihrer
Mitte, der ihnen, noch dazu auf geheimnisvolle Art, überlegen
war. Was da vor sich ging, grenzte an unlauteren Wettbewerb.
Und es gab keine Instanz, vor der sie hätten Beschwerde füh­
ren dürfen. Die Situation war eigentlich zu unheimlich, um ko­
misch genannt zu werden. Und doch war es für den neutralen
Beobachter erheiternd, zu sehen, wie Angst und Erwartung
wuchsen, sobald der Mann auftauchte, und wie sich Angst und
Erwartung mit ihm durch den Saal bewegten.
Man darf mir glauben, daß ich nicht ohne weiteres gesonnen
war, den Zauber, von dem die Frauen und Mädchen benom­
men flüsterten, als erwiesen hinzunehmen. Ich wagte denen
gegenüber, die mich ein wenig zu ihrem Vertrauten gemacht
hatten, Zweifel zu äußern. Es ist ja ausreichend bekannt, daß
die Besucherinnen winterlicher Sporthotels nicht eigentlich
mit ausgesprochen klösterlichen Plänen ins Gebirge geraten.
Und ich ließ mir, nahezu über die Grenzen der Höflichkeit
hinaus, anmerken, daß ich in dieser Richtung Verdacht hegte.

ES GIBT NOCH DON JUANS 335


Auch daß man meine Vermutung lebhaft bestritt, vermochte
mich nicht zu überzeugen. Ich war eher geneigt, an das Liber-
tinertum sämtlicher Frauen als an geheimnisvolle Einflüsse je­
nes Mannes zu glauben.
Als ich aber sah, wie eines der jungen Mädchen umfangrei­
che Angstzustände bekam und, wenn auch leise, mit den Zäh­
nen klapperte, so oft er sich ihr näherte, und daß sie, obwohl
es den Spielregeln des Hotelbetriebs widersprach, seine Tanz­
aufforderungen ausschlug, und als ich ferner feststellte, daß
sich Frauen, deren Ehemänner dabeisaßen, zu recht unbedach­
tem Verhalten hinreißen ließen, wurde ich allmählich immer
neugieriger und verbrachte die Abende damit, daß ich den ge­
fürchteten Mann nicht mehr aus den Augen ließ.

Eines Tages war eine der mir bekannten Damen sehr vergnügt.
Sie erzählte, eine ihrer Freundinnen werde am Nachmittag ein­
treffen, und zwar handle es sich um eine ungewöhnlich selbst­
sichere und schlagfertige Person. Daß auch sie dem Don Juan
unterliegen werde, sei wohl ausgeschlossen. Die ungewöhnli­
che Person erschien. Der Mann - er war auf alle Neuerschei­
nungen abonniert - bat sie sofort um einen Tanz. Sie lächelte
uns, ehe sie sich erhob, listig zu. »Jetzt werde ich euch alle
rächen«, besagte der Blick. Sie tanzte mit ihm. Er betrachtete
sie aufmerksam, unterhielt sie und sich und brachte sie an un­
seren Tisch zurück.
Sie war blaß, lehnte sich tief in den Sessel und sagte: »Das
hätte ich nie für möglich gehalten!« Dann berichtete sie etwas
ausführlicher. Er habe sie forschend angesehen. Er habe, ohne
daß sie Anlaß gegeben hätte, Reden geführt, wie sie beim er­
sten Tanze nicht erlaubt sind. Sie sei außerstande gewesen, ihn
in die Schranken zu weisen. Sie habe es nicht einmal vermocht,
Empfindungen in sich zu unterdrücken, die sie bisher in ihrer
Gewalt geglaubt hatte. Ja, sie erklärte, und diese Offenherzig­
keit machte der an ihr gerühmten Klugheit Ehre: »Wenn er
mich aufgefordert hätte, sofort den Saal zu verlassen und ihm,
wohin auch immer, zu folgen, hätte ich’s getan.« Dann schüt­
telte sie sich vor nachträglichem Schreck und meinte: »Ent­

336 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


setzlich, daß es so etwas gibt. So wenig ist man seiner selbst
sicher.«
Am gleichen Abend gab es eine weitere kleine Sensation.
Der Mann tanzte mit einer Aristokratin, die ihm, wie ich er­
fuhr, bis jetzt ausgewichen und unnahbar begegnet war. Als sie
das dritte Mal an unserem Tisch vorüberkamen, schloß die
Dame die Augen, taumelte, wäre fast hingesunken, brach den
Tanz, sich entschuldigend, ab und begab sich, mit Schritten, als
sei sie lange krank gewesen, auf ihr Zimmer.

Ich vergaß bis jetzt, das Äußere des Mannes zu beschreiben.


Ich wartete, genauer, damit, weil diese Beschreibung den Le­
sern keinerlei Aufschluß bieten wird. Er war mittelgroß, un­
tersetzt gebaut, hatte ziemlich brutale Gesichtszüge, dunkle
Augen, ein vorzügliches Gebiß - diese Angaben werden kei­
nen Eindruck machen. Aber ich kann ihn zum Glück an­
schaulicher vorstellen. Denn er kam, anläßlich eines Masken­
balls, als Douglas Fairbanks und sah diesem Schauspieler aller­
dings ungewöhnlich ähnlich. Er wirkte wie ein stämmigerer,
unfeinerer Bruder des Amerikaners. Den Männern im Hotel
war nicht klar, wieso man bei solch einem Aussehen ein Don
Juan sein könne, den Frauen auch nicht.
Da weder das Äußere des Mannes noch die Eindrücke der
Frauen als Erklärung dienten und ich doch auf nichts neugie­
riger war als auf einen Erklärungsversuch, tat ich das Letzte,
was mir helfen konnte: Ich ging auf den Mann zu und sagte
ihm, wie sehr er mich, im Hinblick auf seine merkwürdige
Wirkung, interessiere. Er nickte. Dann bummelten wir in die
Bar, tranken etwas und unterhielten uns über ihn. Er dachte
wahrscheinlich, ich wolle seine Abenteuer kennenlernen, und
erzählte mir eine haarsträubende Geschichte nach der anderen.
(Diese Geschichten sind es wert, verschwiegen zu werden.)
Ihm lag keineswegs daran, sich in Szene zu setzen. Er übertrieb
bestimmt nicht. Er berichtete nur und war selbst verwundert,
daß ihm solche Affären hatten zustoßen können. »Ich weiß
auch nicht, woran es liegt«, meinte er, »aber die Frauen rennen
mir die Bude ein. Und je älter ich werde, um so jünger werden

ES GIBT NOCH DON JUANS 337


die Jahrgänge.« Auf das, was mir am Herzen lag, wußte er kei­
ne Antwort. Er gab zu, daß er ziemlich brutal auftrete und daß
sein Blick bestimmte Wirkungen hervorzurufen scheine. Oft
gegen seinen Willen. Denn ich könne verstehen, daß ihm sein
Talent oft genug lästig und ungesund vorkomme.
Dann geriet er wieder ins Erzählen. Stoff genug hatte er ja.
Es war Morgen, als wir uns trennten und zu Bett gingen. Ich
wußte nicht mehr als vorher. Der einzige Trost war jetzt, daß
der Mann selber auch nichts wußte.

Wenige Tage danach reiste er ab. Er fuhr nach Davos, und an­
schließend wollte er nach Afrika, um Löwen und andere wilde
Tiere totzuschießen. Die Abenteuer in Europa waren ihm zu
gefährlich. Und außerdem lebte er als jüngerer Sohn und Mit­
erbe von beachtlichen Einkünften einer Fabrik im Rheinland.
Die Frauen atmeten hörbar auf. Mehrere Ehen renkten sich
wieder ein. Ein paar junge Mädchen bekamen wieder rote
Backen. Und alle gestanden sie: Sie hätten vor dem Mann
Angst gehabt, unbeschadet aller sonstiger Begleitgefühle. Sie
hatten Angst gehabt, bevor er sich ihnen näherte. Sie hatten
Angst gehabt, wenn er sich mit ihnen beschäftigte. Sie hatten
noch Angst gehabt, wenn er sie schon wieder ignorierte.

Jetzt war er fort, und ich habe nur noch von einem kleinen
Nachspiel zu berichten, an dem er, wenn auch unfreiwillig,
nicht schuldlos war. Eine Kaufmannsgattin, die ohne den da­
zugehörigen Kaufmann im Gebirge war, kam zum Hotel­
direktor und teilte empört mit, daß man ihr die erlesensten
Stücke ihrer Leibwäsche entwendet habe. Es war von Dessous
aus Paris, von Nachthemden aus Brüsseler Spitzen und von an­
deren hauchdünnen Dingen die Rede. Und es lag nahe und war
in diesem Falle wohl auch richtig, das Hotelpersonal zu ver­
dächtigen.
Der Direktor zitierte den Chef d’Etage, die Gouvernante,
die Stubenmädchen und Hausburschen, suchte anschließend
die Bestohlene auf und erklärte rundheraus, er könne, obwohl
der Verdacht fortbestehe, nichts unternehmen. Die Dame war

338 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


entrüstet, sagte, was in solchen Fällen gesagt wird, und droh­
te, sie werde die Ortspolizei verständigen. »Das möchte ich der
gnädigen Frau nicht unbedingt empfehlen«, antwortete der
Direktor behutsam, »denn die Polizei würde das Etagenperso­
nal verhören müssen, und eine der ersten Routinefragen wäre,
ob man einmal oder auch öfter jemanden in Ihr Zimmer hin­
eingehen oder aus dem Zimmer herauskommen sah, der, eh,
sich in der Zimmernummer geirrt haben könnte. Irren ist
menschlich, gnädige Frau, doch das Personal meint, mindestens
viermal und jedesmal etwa zwei Stunden lang pflege man Zim­
mernummern nicht zu verwechseln. Auch daß ein solcher Irr­
tum so oft und lange der gleichen falschen Nummer gegolten
habe, meint eines der Stubenmädchen, sei einigermaßen selt­
sam. Gerade dieses Mädchen dürfte die Diebin sein, und ich
werde sie entlassen, sobald ich kann. Im vorliegenden Falle bin
ich im Zweifel, was ich tun soll. Wünschen Sie, daß ich die Po­
lizei anrufe?«
Die Kaufmannsgattin wünschte es nicht. Sie zog auch nicht
aus. Sie wagte es nicht. Denn der zu ihr gehörige Kaufmann
wurde in ein paar Tagen erwartet. Das Zimmer neben jenem,
das zu einigen Verwechslungen und zu einem Wäschediebstahl
Anlaß gegeben hatte, war für ihn seit langem vorbestellt und
vorgesehen. Er traf pünktlich ein, erwies sich als umgänglicher
Hotelgast und besorgter Gatte, konnte nicht ahnen, was alle
anderen wußten, und spielte seine fatale Rolle zur allgemeinen
Zufriedenheit. Bis er einen anonymen Brief erhielt, zum näch­
sten Kostümfest - verblüffenderweise und sogar zur Überra­
schung seiner Frau - als Douglas Fairbanks erschien und um
Mitternacht im Großen Saal ...
Doch das ist eine ganz andere Geschichte. Sie gehört nicht
hierher. Vielleicht erzähl ich sie ein andermal. Vielleicht aber
auch nicht.

ES GIBT NOCH DON JUANS 339


Die Kinderkaserne

In jener Nacht, in der Rolf Klarus, ein dreizehnjähriger Gym­


nasiast, den Oberprimaner Windisch erwürgte, starb drüben in
der Altstadt Frau Hedwig Klarus, die Mutter des Knaben.
Das Zusammentreffen der beiden Todesfälle, deren einer
den anderen zu rächen schien, veranlaßte manchen zu der Be­
merkung: Es gebe eben doch so etwas wie eine verborgene Ge­
rechtigkeit. Und besonders rechnerische Naturen mühten sich
lebhaft darum, den Zeitpunkt der zwei Ereignisse aufs genau­
este zu ermitteln und zu vergleichen. Frau Klarus war gegen
neun Uhr des Abends gestorben; und kurz nach Mitternacht
hatten die Schüler, die im Schlafsaal A des Schulgebäudes un­
tergebracht waren, jenen mißtönenden Aufschrei gehört, der
sie zitternd aus den Betten zu stürzen und Windisch beizu­
springen zwang, auf dessen Lager der kleine Klarus im langen
Nachthemd hockte und unbeteiligt in die weitgeöffneten Au­
gen des Primaners blickte.
Die Schwierigkeit, eine Art höherer Ordnung in diese Un­
glücksfolge zu legen, wirkte sich in der nachdrücklichen Stren­
ge aus, mit der fast alle den kleinen Mordgesellen beurteilten.
Daran vermochte auch des Arztes Befund nichts zu ändern:
daß Windisch vermutlich an einem durch den Schreck verur­
sachten Herzschlag gestorben sei, daß also ein bloßer Mord­
versuch mit allerdings tödlichem Ausgang vorliege. Man erwi­
derte allgemein auf solcherlei Einwände: Mit einem regelrech­
ten Morde habe der Vorgang immerhin die Absicht des Täters
und den Tod des Überfallenen gemeinsam. In dieser Sache zu­
gunsten des Knaben mit Spitzfindigkeiten zu argumentieren,
sei nicht angebracht.
Soviel stellte sich bald heraus: Rolf Klarus hatte sich vor dem
Abendessen aus der Schule entfernt, war nicht im Arbeitszim­
mer und nicht zur Abendandacht erschienen und bestätigte
schließlich, als man ihn fragte, durch ein kleines Kopfnicken,
daß er während dieser Zeit zu Hause gewesen sei. Der Tertia­
ner Gruhl erzählte, er habe die beiden zusammen den Schlaf­

34° KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


saal betreten sehen, und es müsse spät gewesen sein; die Bett­
nachbarn hätten jedenfalls fest geschlafen.
Da Windisch gerade Wocheninspektion gehabt hatte, und
da die Schüler erklärten, er habe den Knaben nicht nur sehr oft,
sondern wohl auch sehr gern bestraft, war die äußere Situation
mit einiger Sicherheit zu erraten: Er hatte auf seinen dienstli­
chen Rundgängen den von dem unerlaubten Ausflug zurück­
kehrenden Klarus ertappt, zur Rede gestellt und mit der An­
kündigung einer der üblichen Strafen geängstigt. Aber alles
andere blieb unaufgehellt. Mußte Klarus dem Primaner nicht
davon gesprochen haben, daß er vom Totenbett der Mutter
komme? Und wenn das nicht zutreffen sollte: Hätte Windisch
den Schmerz des Knaben nicht bemerken müssen?
Windisch war tot. Und Rolf Klarus schwieg. Auch als er bald
schwer krank wurde und im Fieber lag, schwieg er. Und spä­
ter, als die Arzte meinten, eigentlich sei er wieder gesund, und
ihn trotzdem in eine Anstalt bringen ließen - später schwieg
er noch immer. Doch da vermochte man auch auf seine Mittei­
lungen zu verzichten. Denn in der Zwischenzeit hatte man sein
Pult geöffnet, seine Bücher, Löschblätter und Notizblöcke
peinlich durchforscht und auf etlichen Zetteln und in einem
Oktavheft, das eine Art primitiven Tagebuchs zu sein schien,
manches gelesen, was den Fall aufzuklären geeignet war.
Die Verhandlungen endeten damit, daß Rolf Klarus, wie
schon gesagt, bis auf weiteres in einer Heilanstalt unterge­
bracht wurde. Ein glaubwürdiges Gerücht meldet, daß er dort
starb; ein weniger wahrscheinliches, daß er noch immer dort
lebt. Welche der Behauptungen richtig ist, bleibt im Grunde
gleichgültig. Denn in jener Nacht starben drei Menschen, auch
wenn der dritte zu atmen fortfuhr.
Es ist nicht bloß einfacher, es ist auch richtiger, statt einer
sorgfältigen seelischen Interpretation des Falles etliche der
vorgefundenen Aufzeichnungen folgen zu lassen, die der klei­
ne Klarus in den letzten Wochen vor der Tat niederschrieb.
Was ihn damals erschütterte und trieb, zeigen jene fleckigen
Zettel am lautersten, auf denen er mit seinen Schmerzen und
mit seinem Feinde versteckte Zwiesprache hielt.

DIE KINDERKASERNE 341


»Ich werde den Aufschwung niemals lernen. Aber bis Mitt­
woch muß ich ihn können, hat der Turnlehrer befohlen. Und
in den Freistunden soll ich ihn immer üben. Da haben alle ge­
lacht. Die Kniewelle ist noch viel schwerer. Bertold kann auch
die Kniewelle. Mit dem linken Knie, mit dem rechten Knie,
zwischen den Händen und seitlich davon. Dann hat Bertold
dem W. von dem Aufschwung erzählt. W. hat gesagt, er wollte
nachsehen, ob ich übte.
Am Mittwoch mußte ich nachsitzen. Von W. aus. Er ließ
mich altes Zeitungspapier in kleine Rechtecke zerschneiden.
Fürs Klo. Er ist dabeigestanden und hat gelacht. Muttchen
wird auf mich gewartet haben. Und ich wollte ihr mein Auf­
satzbuch mit der Eins zeigen.«

»Er hat mich schon wieder nachsitzen lassen. Ich wischte im


Klavierzimmer 9 den Staub nicht gut genug weg. Er such­
te natürlich den Schmutz, wo ich nicht hinlangen kann. Ich soll
auf einen Stuhl steigen. Ich sagte, ich bin kein Dienstmädchen.
Das will er dem Rektor melden. Doch er sagt das nur, damit
ich ihm wieder mein Taschengeld gebe. Er nennt das: Bor­
gen.
Muttchen habe ich einen Brief geschrieben, ich machte einen
Ausflug, damit sie nicht merkt, wie oft ich nachsitzen muß. Sie
wird denken, ich besuche sie nicht gern. Dabei ist nur W. dar­
an schuld.«

»Am Sonnabend nachmittag war ich endlich wieder einmal zu


Hause. Aber Muttchen ist krank und liegt deshalb zu Bett. Viel­
leicht weil sie denkt, ich mache Ausflüge. Ich wollte erzählen,
daß W. daran schuld ist. Doch jetzt darf ich es ihr erst recht
nicht sagen. Man soll Kranke nicht aufregen.
Im Französisch bin ich in dem Gedichte von Beranger
steckengeblieben. Kandidat Hoffmann hat geschimpft, und ich
habe eine Strafarbeit gekriegt.
Ob sie sehr krank ist und an mich denkt? W. hat gesagt,
er bäte sich aus, daß man in seinem Zimmer fröhlich wäre.
Mucker wie ich wären schlechte Menschen. Und ich sollte auf

342 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


der Stelle lachen. Dabei hat er eins, zwei, drei gezählt. Aber es
ging nicht. Das ist offene Meuterei, hat er gebrüllt.
Den Aufschwung kann ich noch immer nicht.«

»Samstag hat er mich wieder nachsitzen lassen. Aber abends


nach dem Essen bin ich nach Hause gerannt. Straßenbahn
konnte ich nicht fahren. Weil er mein Taschengeld hat. Es
strengt sehr an. Muttchen machte erst gar nicht auf. Ich habe
vor Angst gegen die Tür geschlagen. Da ist sie, auf einen Stuhl
gestützt, herausgekommen und hat gefragt, wer da ist. Ich, hab
ich ganz laut gerufen.
Sie hatte Angst, aber ich sagte, der Hauslehrer hätte mich
zwei Stunden beurlaubt. In der Kaserne hat niemand gemerkt,
daß ich weg war.
Jeden Mittwoch verliest man mich zur Gartenarbeit. Ich
muß mit einem langen Spieß das Papier aufstechen und ei­
nen Wagen ziehen. W. hat mit dem Gartenwart gespro­
chen, damit ich jeden Mittag drankomme. Warum er mich so
haßt?«

»Montag abend bin ich wieder fortgelaufen. Auf dem Rück­


weg konnte ich nicht mehr vor Herzklopfen. Muttchen kam
gleich beim Klingeln heraus. Aber sie ist, glaube ich, sehr krank.
Und von unseren Verwandten läßt sich niemand blicken. Da
ist sie so allein. W. hat mich vorm Tor abgefangen, als ich wie-
derkam, und sagte, ich brauche nicht so zu rennen, zum Nach­
sitzen käme ich noch zurecht. Ich sagte, meine Mutter ist
krank. Er hat gelacht. Das kenne er schon. Und dabei hat mir
Muttchen eine ganz zittrige Karte geschickt, sie freue sich so,
daß ich Mittwoch wiederkäme.
Ich muß morgen abend fortrennen, auch wenn er mich von
neuem erwischt. Ich kann ihr doch nicht wieder sagen, ich
würde mit Lambert einen Ausflug in die Heide machen! Wo
sie doch die Karte geschrieben hat!
In vier Wochen sind die Prüfungen. In der lateinischen Klas­
senarbeit habe ich die Vier. Koch hat gefragt, was mit mir los
ist. Wenn ich doch zu Hause bleiben könnte und für Muttchen

DIE KINDERKASERNE 343


einkaufen, und vorlesen und kochen. Aber es geht nicht. Es ist
alles verboten.«

»Dienstag wieder zu Hause. Ich habe gesagt, ich müßte näch­


stens viel für die Prüfungen arbeiten. Muttchen sieht ganz weiß
und mager aus. Sie sagt mir nicht, was ihr fehlt.
W. hat mich wieder erwischt. Ich sollte ihn nicht so mit der
kranken Mutter öden. Frei bekäme man nur bei Begräbnissen.
Der Schuft! Wenn meinem guten Muttchen etwas passiert,
dann ist nur er schuld. Ich bin selber wie krank. Und dabei
sind Prüfungen. Ich renne heute abend wieder fort. i. Karte
von Italien zeichnen. Mit den Städten über 200 000 Einwohner.
Die Gebirge braun schraffieren. 2. Punische Kriege repetieren.
3. E-Konjugation. 4. La cigale et la fourmi lernen. 5. Kniewelle
links neben den Händen.«

»Er fing mich ab, als ich gerade fort wollte, und ließ mich nicht
weg. Er würde jetzt jeden Abend mit mir in den Garten gehen
und aufpassen, daß ich bliebe, und beantragen, daß mir für ei­
nen ganzen Monat der Ausgang entzogen würde. Ich wüßte
nicht, was Pflichtgefühl sei. Ob ich ihm was borgen könnte.
Aber ich hatte wirklich nichts. Bei allem, was er sagt, sieht er
mir ins Gesicht, als warte er, daß ich weine.
Er will Muttchen einen Brief schreiben, das darf er nicht
tun! Lieber soll er mich schlagen oder anderes. Aber das nicht.
Sie soll ihn mit ihrer Unterschrift wieder zurückschicken. Ich
habe nicht einschlafen können.
Ich muß nach Hause. Morgen abend lauf ich wieder fort. Ich
habe solche Angst um sie. Wenn er mich einsperrt, springe ich
einfach aus dem Fenster.«

An jenem Abend, an dem der kleine Klarus lieber aus dem Fen­
ster springen wollte als in der Schule bleiben, stahl er sich trotz
des Primaners fort, rannte wie so oft durch die dunklen Straßen
der Vorstadt, über einsame Plätze und Brücken, an jenem Abend
sah er seine Mutter sterben, an jenem Abend zerrte man ihn
von dem Bette Windischs, als es für beide bereits zu spät war.

344 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Verkehrt hier ein Herr Stobrawa?

Das Cafe ist, am zeitigen Nachmittag, noch recht leer. Ein paar
Zeitungsleser sitzen herum. Der Boy gießt heißes Wasser aus
einem Kännchen auf die Ränder des Teppichläufers, weil sie
sich gerollt haben. Die Garderobenfrau steht hinter ihrer The­
ke und sortiert kleine Münzen. Neben ihr lehnt der Kellner
und liest, möglichst unauffällig, die Rennberichte. Schlechte
Geschäfte. Ein gewisser Herr Dubschek wird am Telefon ver­
langt. Nein, nicht hier. Da betritt eine kleine alte Dame das Lo­
kal. Unter ihrem komischen Husarenhütchen steckt ein Ge­
sicht, das dem Alten Fritz nachgemacht ist. Blaß, großnasig
und zerknittert sitzt es auf der dünnen, kurzen Figur, die in
dem Plüschmantel viel zuviel Raum hat. Die Frau bleibt vor
dem Kellner stehen und sieht ihn abwartend an, bis er, ungern
gestört, den Kopf hebt. Da lächelt sie ein bißchen und sagt mit
lauter, angerosteter Stimme: »Entschuldigen Sie, verkehrt hier
ein Herr Stobrawa?«
»Was soll er denn?« fragt der Kellner. Er hat gegen Leute,
die nichts verzehren, von vornherein begründetes Mißtrauen.
»Man hat mir gesagt, er spiele hier jeden Tag Billard.«
»Jetzt sind die Spielzimmer noch geschlossen.«
»Verzeihen Sie, bringt Herr Stobrawa immer seine Geliebte
mit hierher?«
Die Gäste werden aufmerksam. Die Garderobenfrau ver­
zählt sich. Der Boy kriegt rote Ohren. »Ich dachte«, bettelt die
kleine, alte Dame, »Sie könnten mir vielleicht Genaueres sagen.
Früher verkehrten sie in einem anderen Cafe. In der Stralauer
Straße. Nun ist sie aber umgezogen. Sie muß ganz in der Nähe
wohnen. Und abends säße sie gewöhnlich hier. Ich habe ihre
Spur verloren ... Verzeihen Sie ... Und da ... ja, so ist das.«
Wahrscheinlich hat die Geliebte des fraglichen Herrn Stob­
rawa früher bei ihr gewohnt und ist Geld schuldig geblieben.
Man kennt das. Aber ob es nötig ist, deswegen vor fremden
Menschen die Geheimnisse der Familie Stobrawa auszugra­
ben?

VERKEHRT HIER EIN HERR STOBRAWA? 345


»Ich bin nämlich seine Frau«, sagt da die kleine, alte Dame,
als bäte sie um Entschuldigung. Sogar zu lächeln versuchte
sie.
»Ich will Ihnen selbstverständlich keine Ungelegenheiten
machen.«
»Bei uns verkehren zwei Stobrawas«, konstatierte der Kell­
ner.
»Der Name ist gar nicht so selten, wie man denken könnte.«
»Ich habe sein Bild mit.« Sie holte aus ihrer Handtasche eine
Fotografie heraus. Es ist ein Gruppenbild. Von irgendeinem
fröhlichen Ausflug, den man früher einmal machte. Verwand­
te waren dabei. An einer Waldlichtung zog ein junger Mann
den Hut und fragte, ob sich die Herrschaften nicht fotografie­
ren lassen möchten. Herr Stobrawa war gerade guter Laune
und ließ es sich was kosten.
»Hier vorn der dicke Herr, das ist Herr Stobrawa.« Sie
spricht von ihrem Mann, als wäre sie seine Haushälterin.
Der Kellner betrachtet das Bild lange Zeit. »Der eine von
unseren Stobrawas ist dicker als der hier. Und der andere ist
größer.«
»Der dickere könnte es schon sein. Die Aufnahme ist ja über
ein Jahr alt!«
Die Garderobenfrau blickt dem Kellner über die Schulter,
sagt nichts und sieht nur die kleine, alte Dame zuweilen von
der Seite an.
»Ja«, sagte der Kellner, »da müssen Sie schon mal woanders
fragen, gnä* Frau. Unsere Stobrawas sind das nicht. Sie kom­
men auch fast nie in Damenbegleitung!«
Sie packt das Bild sehr behutsam wieder ein. »Entschuldigen
Sie vielmals«, sagt die kleine, alte Dame und wendet sich zum
Gehen. Sie lächelt schon wieder und tut, als habe sie sich bloß
zum Spaß erkundigt. »Guten Tag.«
»Guten Tag, gnä’ Frau«, sagt der Kellner.
»Guten Tag«, sagt die Garderobenfrau.
Der Boy springt auf und hebt den Vorhang an der Tür zur
Seite. Sie nickt und will hinaus. Da schlägt die Tür von drau­
ßen. Man hört Gelächter. Ein junges Mädchen kommt herein.

346 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Ihr folgt ganz dicht ein dicker Herr. Sie lacht. Frische, kalte
Luft weht ins Lokal.
Die kleine, alte Dame ist zurückgewichen und starrt den
Herrn an. Er sieht sie, wird rot, will grüßen, unterläßt es, hu­
stet. Das junge Mädchen blickt sich ungeduldig um. »Komm!«
ruft sie. Er wendet den Kopf unsicher von Frau Stobrawa fort.
Die kleine, alte Dame geht langsam durch die Tür. Wer
durch die Scheiben blickt, kann sie noch sehen. Jetzt steht sie
am Straßenbord und achtet besorgt auf die Autos, als sei ihr
Leben äußerst kostbar. Der Kellner stöhnt komisch auf. Der
Boy hält noch immer den Türvorhang in der Hand. Die Gäste
lesen Zeitung. Dann geht der Kellner zum Büfett und sagt zur
Mamsell: »Zweimal Kaffee, doppelt Milch und einen Mohn­
strudel für Herrn Stobrawa.«

VERKEHRT HIER EIN HERR STOBRAWA? 347


Der kleine Herr Stapf

Plötzlich entsann ich mich seiner wieder, als ich im Cafe eine
Provinzzeitung absichtslos durchblätterte. Mit seinem Na­
men, den ich las, wurde vieles, was endgültig vergessen schien,
aufgerufen und forderte nachdenkliches Erinnern.
Brant, der an eine Seelenwanderung glaubte, hatte sicher
recht gehabt: der kleine Herr Stapf war früher einmal ein
Zwergrattler gewesen. Auf dem beängstigend dünnen Körper­
chen saß ein großer, schwerer, runder Kopf, dessen Rückseite
an einen Schulglobus herausfordernd erinnerte: das spärliche
weiche Haar, unter dem die Kopfhaut verschiedentlich deut­
lich hervorschimmerte, ließ an Golfströme und Schiffahrtslini­
en, an Passatwinde und Meridiane denken. Das Gesicht be­
stand fast nur aus einer zwergenhaft verwitterten Stirn, unter
der sich Augen, Nase und Mund winzig und listig zusammen­
drängten.
Aus gänzlich unbekannten Gründen war er zu der Ansicht
gelangt, daß er außergewöhnlich klug sei, obwohl wir damals
- ein Kreis spottlustiger Studenten - nichts unversucht ließen,
ihn von der Berechtigung der entgegengesetzten Meinung zu
überzeugen. Er besaß die Gabe, jeder Art Ironie und Geläch­
ter mit solch metaphysischer Nachsicht zu begegnen, daß es
allmählich zu einem aufreibenden Sport für uns wurde, ihn aus
seinem erstaunlich törichten Gleichgewicht zu bringen. Es war
ein hoffnungsloses Unterfangen. Denn je mehr er belacht wur­
de, um so inniger fühlte er sich geschmeichelt. Da somit unse­
re vergnügliche Absicht zu einer ernsthaften Leistung wurde,
begannen wir den kleinen Herrn Stapf zu vernachlässigen. Es
zeigte sich bald, wie sehr es ihn schmerzte, nicht länger Ge­
genstand unserer spöttischen Anteilnahme zu sein. Er begann
schon, die drollige Korrektheit seines Anzuges zu ignorieren.
Unausdenkbar traurig hockte er zwischen uns. Und nur so­
lange wir ihn einem mitunter grausamen oder zumindest ge­
schmacklosen Hohn aussetzten, leuchtete sein altes Gesicht
glücklich auf.

348 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Eigentlich mehr um ihm das erhebende Bewußtsein seiner
hanswursthaften Existenz zu erhalten als uns selber zu beschäf­
tigen, begannen wir, ihn zum Helden anekdotischer Abenteuer
zu machen. Und es läßt sich kaum veranschaulichen, wie be­
geistert er darüber war.
Ein Fall - es mag der erste gewesen sein - ist mir besonders
wach im Gedächtnis. Wir hatten die erste Parkettreihe des
Theaters aufgekauft. Man gab »Boheme«. Wir hielten die erste
Reihe des Hauses besetzt, waren nicht allzu aufmerksam, son­
dern beugten uns meist über die Brüstung und amüsierten uns
über die so süße Musik erzeugenden, lebhaft bewegten Arme
und Finger der Orchestermitglieder. Unmittelbar hinter dem
Dirigenten, in der Mitte der Reihe, thronte der kleine Stapf,
hielt den Kopf schiefgeneigt und rückte manchmal auf seinem
Plüschsessel unruhig hin und her.
Während der ersten Akte ging alles gut. Bis die vorgeschrie­
benen Schneeflocken aus den Soffitten heruntersanken: Das
versammelte Haus war ergriffen, die Sänger waren in vollem
Schwung, das Orchester blühte, der Kapellmeister gestikulier­
te in dionysischer Seligkeit - da erhob sich plötzlich der kleine
Herr Stapf, griff hastig über die Brüstung hinweg nach dem
Taktstock des Dirigenten, bekam ihn zu fassen, drängte sich an
uns, die wir bereitwillig Platz machten, vorbei und verschwand
hinter der Portiere!
Einige Sekunden war es, als solle das Theater der Schlag tref­
fen: Der bestohlene Herr im Frack wedelte mit den Armen, als
habe man ihm die Flügel ausgerissen. Die Musiker lächelten
und gönnten ihm die Verwirrung. Die Sänger hielten tonlos
den Mund offen. Die Damen in den Logen vergaßen, Pralinen
zu essen und mit Papier zu knistern. Hoch oben, vermutlich
im letzten Rang, lachte jemand vorlaut - nach diesen Sekunden
peinlicher Bestürzung gewannen alle die Fassung zurück, und
nach etlichen Takten voller Mißakkorde und Pausen begannen
die Musik und auch die Stimmung wieder an Puccini zu erin­
nern.
Nachdem Mimi ihren heißersehnten Muff erhalten hatte
und gestorben war, applaudierten wir herzlich und schritten

DER KLEINE HERR STAPE 349


dann feierlich und geschlossenen Zuges die große Freitreppe
hinab. An einer vorher bestimmten Straßenecke stand der klei­
ne Stapf, hatte sich in seinen schwarzen Überzieher verkro­
chen und lächelte. Wir schüttelten ihm die Hand, nannten ihn
einen tüchtigen Kerl, klopften ihm auf die Schulter und gestat­
teten ihm, uns ins Kaffeehaus zu begleiten, wo er den Taktstock
zeigen durfte.
Sein Rausch hielt, wie der eines Morphinisten, nicht lange
an. Es bedurfte neuer stimulierender Abenteuer. Wir nahmen
ihn in unsere Mitte und durchzogen die gegen Mittag äußerst
belebte Hauptstraße der Stadt. In dem dunklen Menschen­
strom tauchten zuweilen Züge buntbemützter Studenten auf,
die ihren vorgeschriebenen Bummel absolvierten. Endlich
nahte sich das angesehenste der Korps - sein Name ist mir ent­
fallen; nennen wir es »Barbaria« - stolz und erhebend. Der
kleine Herr Stapf warf uns noch einen Blick zu, um sich Mut
zu machen, dann trennte er sich von uns und eilte den »Barba­
ren« entgegen. Dicht vor deren Anführer blieb er stehen und
zog höflich seinen Hut. Die »Barbaren« sahen sich gezwun­
gen, stehenzubleiben. Wir traten hinzu, Ladnerinnen und jun­
ge Damen und andere Neugierige versammelten sich. Eine
Hochspannung aus Neugier und Erzürnung begann sich zu
bilden. Der kleine Stapf - noch immer mit dem Hut in der
Hand - machte eine vollendete Verbeugung und fragte den
Anführer laut und weithin verständlich: »Pardon, junger Herr,
ich bin hier fremd - können Sie mir sagen, welchem Gymnasi­
um Sie angehören? Ich kenne solche Schülermützen noch
nicht.«
Der befragte Herr erbleichte. Die gesamte »Barbaria« er­
bleichte. Vor stummer Wut. Würden sie den kleinen Stapf zer­
trümmern? Klein und freundlich stand er vor dem farbigen
Studenten, lächelte sanft nach oben und wartete vergeblich auf
Antwort. Dann trat er kopfschüttelnd beiseite und sagte zu
den Umstehenden: »Sonderbar. So große Menschen wissen
nicht einmal, in welche Schule sie gehen!«
Die Zuschauer lachten lauthals. Die »Barbaren« entfernten
sich unter vollem Verzicht auf Würde und Anmut, so schnell

35° KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


es irgend ging. Der kleine Stapf verkroch sich hinter uns und
schien verwundert, ohne Prügel davongekommen zu sein.
Bald war es mit ihm nicht mehr auszuhalten. Er hatte be­
griffen, wie man Unfug organisiert. Wo er eines Zuschauers
habhaft werden konnte, setzte er sich in Szene, so sehr wir ihn
daran zu hindern suchten.
Er blieb auf dem Marktplatz stehen und zwang jedes daher­
fahrende Auto, wenn es ihn nicht überrennen wollte, anzuhal­
ten. Er trat in den Cafes an entfernte Tische und verwickelte
fremde Damen in sinnlose, stockende Gespräche. Er unter­
brach Kabarettvorträge dadurch, daß er laut und ununterbro­
chen nach dem Kellner rief. Er erließ Zeitungsinserate, in de­
ren Verfolg er sich mit einem Dutzend junger Damen gleich­
zeitig traf, die wie er eine rote Nelke im Knopfloch trugen.
Er schien krank. Seine Wirtin beschwerte sich schließlich
beim Vater, daß sein Sohn die Wandbilder an den Fußboden
nagele und die Kleider an die frei gewordenen Wandnägel, statt
in den Schrank hänge; daß er sich in den Schrank setze und
über die mangelhafte Beleuchtung lebhaft Klage führe.
Eines Tages kam der alte Herr Stapf und holte seinen seltsa­
men Sohn nach Hause. Dort begnügte er sich damit, viele Bü­
cher zu lesen und sie nach beendeter Lektüre feierlich im Gar­
ten zu begraben. Das Dienstmädchen zwang er, die Grabreden
anzuhören. In Briefen, die er uns oft schrieb, teilte er seine neue­
sten Torheiten mit. Dann hörten wir lange Zeit nichts mehr
von ihm. Bis eine Heiratsanzeige eintraf. Der Vater hatte ihm
eine Frau besorgt.
Wie zu Anfang schon angedeutet wurde: Ich mußte dieser
Tage an ihn denken, als ich in der Zeitung seiner Heimtstadt
las, der Stadtverordnete Herr Kaufmann Stapf jun. habe sich
äußerst warm dafür eingesetzt, daß die Hausnummern - der
Übersicht halber - regelmäßig an der rechten Seite der Haustür
anzubringen seien.
Nie hätte ich früher erwartet, daß der kleine Herr Stapf noch
einmal ein solch nützliches Glied der Gesellschaft werden
würde.

DliR KLEINE HERR STAPF 3H


Sebastian ohne Pointe

Sebastian Stock war ein glänzender Gesellschafter; er konnte


geradezu für ein Genie der Konversation gelten - solange er al­
lein war.
Er litt am Dialog. Das ist eine Manie, die als Berufskrank­
heit der dramatischen Schriftsteller gilt; so wie die Leinenwe­
ber und die Säurenarbeiter, die Diamantenschleifer und die
Grubenpferde, die Bierbrauer und die Opernsänger die ihre
haben. Und sie besteht einfach darin, daß man in Dialogen
denken muß. Freilich, harmlos klingt diese knappe Beschrei­
bung nur dem, der jenen Jammer nie erfuhr. In Wirklichkeit
handelt es sich um eine Spielart des Verfolgungswahnes, der
hier zwar an keine gegenständlichen Komplexe, dafür aber an
eine ganz bestimmte Ausdrucksform (eben an den Dialog) ge­
bunden ist.
Der Kranke hat, beispielsweise, die Schneiderrechnung
empfangen. Er liest eine ungewöhnlich hohe Summe, schüttelt
den Kopf, beginnt im Zimmer zu wandern und unterhält sich
mit dem Schneider, der - wohlgemerkt - gar nicht anwesend
ist. Er macht ihm lebhafte Vorwürfe, läßt ihn (dessen Stimme
er, laut oder im Geiste, nachzuahmen sucht) besorgt oder frech
antworten, sinnt auf neue, treffendere Einwände, der Schnei­
der erbost sich, der Kunde kann sich nicht länger beherrschen
- der Streit ist vollkommen.
Sebastian Stock litt schmerzlicher als die meisten seiner Lei­
densgefährten. Denn er war erstens kein Dramatiker, und
zweitens besaß er den Ehrgeiz, aus seinem geheimen Leiden
ein gesellschaftlich legitimes Talent machen zu wollen. Solan­
ge er insgeheim beide Rollen - die eigene und die des Gegen­
übers - zugleich spielte, so lange war er Meister. Sobald der an­
dere aber zu existieren begann, seine Stimme tatsächlich erhob
und, boshafterweise, ganz anders antwortete, als er, Stock, es
ihm stumm diktierte, wurde der Mißerfolg bis zur Unerträg­
lichkeit deutlich.
Materielle Schäden erwuchsen ihm aus seiner Untugend

3J2 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


nicht. Er war der Erbe eines gut angelegten Vermögens. Nur in
jenen Jahren, als das Sicherste am meisten trog, rächte sich sein
Gebrechen auch einmal in dieser Weise. Man hatte ihn einem
Bankdirektor empfohlen, der in der Lage war, ihm einen Po­
sten zu verschaffen, wo er nichts verderben und einiges ge­
winnen konnte. Nun, diese Finanzgröße - namens Frank - lud
ihn zum Abendessen ein. Beim Mokka wäre dann wohl die Pe­
tition zur Sprache gekommen ... Aber Sebastian Stock ging
während des Essens wieder.
Lange bevor er der Einladung Folge leisten durfte, hatte er
sich das Programm seines Auftretens zurechtgelegt. Zu Frau
Frank wollte er sagen (da er mit ihr bereits telefoniert hatte):
»Gnädige Frau sind mir bisher leider nur akustisch begegnet«
und zu ihm, falls dieser ihm das Brot reichen würde (für den
Fall wollte Sebastian schon sorgen): »Besten Dank, verehrter
Brotgeber.«
Auf diese spielerischen Glossen war er stolz und erhoffte
viel von ihnen. Selbstverständlich hatte er sich die dazu erfor­
derlichen Mienen überlegt und am Spiegel geübt. Das Bonmot,
das ihr galt, wollte er mit weltmännisch lässigem Lächeln wür­
zen; und die dem Direktor zugedachte Bemerkung hoffte er
durch ein Zwinkern von beziehungsreicher Dauer besonders
wirksam zu gestalten.
Es kam anders. Als er die Franksche Wohnung betreten hat­
te, kam ihm eine stattlich gekleidete, würdige Dame entgegen.
Er machte eine untadelige Verbeugung und sagte - mit dem ge­
planten weltmännisch lässigen Lächeln, das ihm freilich ein
wenig einfror: »Gnädige Frau sind mir leider bisher nur aku­
stisch begegnet.« Die Dame sah ihm skeptisch ins Auge und er­
klärte, die Herrschaften ließen sich für einen Moment ent­
schuldigen, und er möge sie doch im Arbeitszimmer des Herrn
Direktor erwarten.
Sebastian nickte automatisch und tastete sich wie ein Blin­
der hinter der Hausdame her. Dann stand er fünf Minuten am
Fenster eines Zimmers, das nach Leder roch, und überlegte
krampfhaft: ob er den Versuch bei der rechtmäßigen Frau
Frank wiederholen solle oder nicht. Er konnte sich nicht ent­

SEBASTIAN OHNE POINTE 353


scheiden. Aber als das Ehepaar erschien, verbiß er seine Re­
densart und benahm sich ungeschickt, da er nicht bei der Sache
war. Man setzte sich zu Tisch. Und Sebastian bereitete den
zweiten Coup vor, der ihm - das schwor er sich zu - nicht miß­
lingen sollte. Es ist begreiflich, daß er wenig sprach, noch we­
niger aß und statt dessen den silbernen Brotkorb so fest an­
starrte, daß es Herrn Frank auffiel.
Plötzlich schob sich also der silberne Brotkorb in Sebastians
Gesichtsfeld, rückte näher und näher. Und wie aus dunkler
Tiefe klang es an sein Ohr: »Lieber Herr Stock, darf ich mich,
vorläufig auf diese Weise, als Brotgeber demonstrieren?«
Das war nicht eigentlich taktvoll gesprochen. Aber vielleicht
trug nur Sebastians Blick die Schuld? Jedenfalls: ihn schien der
Blitz getroffen zu haben. Er wurde tiefrot, hustete und vergaß
vor Empörung darüber, daß er beraubt worden war, Brot zu
nehmen. Frank blickte erstaunt und hielt den Korb mit en­
gelsgleicher Geduld über den Tisch. Dann ärgerte er sich sei­
nerseits und bemerkte doppelsinnig: »Sie lehnen ab, Herr
Stock?«
Frank und Frau aßen eifriger, als es ihr Appetit guthieß - nur
um ihren wunderlichen Gast nicht länger betrachten zu müs­
sen. Sebastian begann sich selber lästig zu fallen. Er hatte Fie­
ber und spürte, wie in ihm eine blindwütige Verlegenheit her­
anwuchs, der nichts und niemand standhalten würde.
Etwas mußte geschehen. Seine Stimme zitterte, als spreche
er ein Sterbegebet: »Gnädige Frau sind mir bisher leider nur
akustisch begegnet.« Frank und Frau blickten sich an und lach­
ten zirka drei Minuten. Sie schrie fast vor Wonne und Nervo­
sität; und ihre Miene bat nur zuweilen und höchst unzuläng­
lich um Entschuldigung. Ruckartig brachte sie hervor: »Ja ...
unsere Hausdame ... erzählte schon davon ... es ist... zu drol­
lig!« Dann kreischte sie gemäßigt weiter, während sich der
Gatte auf die Schenkel schlug und rief: »Menschenskind ...
Aber bester Herr Stock! ... Wo haben Sie bloß den Blödsinn
her?«
Sebastian erhob sich steif, murmelte irgend etwas und ver­
ließ zunächst das Speisezimmer. Dann das Haus.

354 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Schließlich ging er auf Reisen, um die Wirkung dieses letz­
ten Rezepts zu versuchen. Und als ihm seine rhetorische Ab­
sicht endlich einmal glückte, wurde sein ärgstes Mißgeschick
daraus.
Er war in einem großen Gebirgshotel abgestiegen, machte
tagsüber Spaziergänge, saß abends, nach dem Diner, an einem
der kleinen Hallentische und schaute den andern zu, als ob ihn
ein Gitter von ihnen trenne. Er sah, wie sie tranken und tanz­
ten, wie sie Flirts erledigten oder gar Leidenschaft mühevoll
großzogen. So verging eine Woche. Und das Alleinsein fing an,
ihn zu bedrängen.
Eines Abends erblickte er einen gewissen Herrn Urban, den
er aus der Vaterstadt flüchtig kannte, unter den Gästen. Urban
setzte sich mit seiner Tochter an einen entfernten Tisch und
verlor sich hinter einer Zeitung. Sebastian schlug das Herz. Sei­
ne Sehnsucht nach Geselligkeit wurde unbezwingbar, und in
seinem Kopf begannen die Redensarten zu wirbeln. Endlich
wurde sein Gesicht glücklicher. Das erlösende, das außerge­
wöhnliche Wort schien gefunden.
Als die Kapelle einen Tanz intonierte, erhob er sich und ging
in jene Ecke, in der sich Urban und Tochter langweilten. Er
verbeugte sich. Sie waren erfreut. Und noch ehe sie etwas hät­
ten äußern können, blendete er sie durch ein schelmisches
Lächeln, das kein Ende nahm; dann verbeugte er sich nochmals
vor dem Vater und sagte mit schönem Nachdruck: »Verehrter
Herr Urban, darf ich Sie um die Hand Ihres Fräulein Tochter
bitten?« Er meinte nichts weiter als: Darf ich mit ihr eine Tour
tanzen?
Niemand wird das bezweifeln wollen. Aber Urban - heu­
chelte er Unkenntnis, oder wußte er wirklich nichts über Se­
bastians Manie? - Holzhändler Urban stand auf, klopfte ihm
kernig auf die Schulter und rief: »Bravo, bravo! Ich schwärme
für angenehme Überraschungen. Bitte nehmen Sie Platz, Sie ei­
liger Schwiegersohn! Haha! Nun, Lenchen, was sagst du zu
dieser dringenden Nachfrage?«
Lenchen Urban ordnete ihre Frisur und erklärte, ihr sei es
schon recht.

SEBASTIAN OHNE POINTE 355


Jeder vernünftige Mensch hätte das Mißverständnis ener­
gisch aufgeklärt. Aber Sebastian Stock gehörte nicht zu ihnen.
Und so wurde er mit einem Fräulein verheiratet, mit dem er
nur hatte tanzen wollen. Seitdem geht er noch häufiger als ehe­
dem in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Und wenn seine
Frau, Lenchen Stock, das Ohr an die Tür legt - sie tut es kaum
noch -, hört sie eilige Schritte und erregtes Murmeln und greift
sich an den Kopf.

35* KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Duell bei Dresden

Am 28. Oktober 1927 sollte in der Dresdner Heide, nahe der


Ullersdorfer Mühle und der großen den Wald schneidenden
Chaussee, ein Pistolenduell stattfinden. Die Gegner waren ein
Assessor am Landgericht - Kinne mit Namen, vierzigjährig,
baumlang - und ein junger Chemiker, namens Graff. Man hat­
te Freunde mitgebracht und einen Assistenten des Altstädter
Krankenhauses, mit dem Graff bekannt war.
An der Kreuzung der Radeberger Chaussee und der Ullers­
dorfer Landstraße warteten drei Autodroschken. Die Chauf­
feure spielten Skat und waren angewiesen, neugierige Fragen
ausweichend zu beantworten. Es kam aber niemand vorüber,
der sie hätte fragen können; kein Forstgehilfe, kein Milchwa­
gen, kein Ausflügler. Die Chauffeure hatten sich Flaschenbier
mitgenommen. Finken hüpften über die Autodächer, flogen
fort und kamen wieder. Der Himmel wurde langsam ganz hell
und glasblau.
Da brachten vier der Herren die Leiche des Chemikers
Graff aus dem Walde. Der Arzt begleitete den Trupp. Assessor
Kinne, der den Zug beschloß, trug den Waffenkasten und
rauchte eine Zigarre. Die Chauffeure sprangen an ihre Wagen.
Und wenige Minuten später sausten die Autos stadtwärts ...
Das Duell hatte gar nicht stattgefunden. Graff war, noch
während jemand die Distanz abschritt, zusammengebrochen
und am Herzschlag gestorben. Der Assessor hatte, als ihm der
Arzt den Befund mitteilte, die Hände gerieben, als wasche er
sich, und geäußert: Ob so oder so, - Herr Graff habe nun also
seinen Willen.

Graff gehörte zu den heimlichen Kriegsopfern, die man mit­


zuzählen vergaß. Daß er zehn Jahre nach dem Kriege starb, ist
kein Einwand. Er wurde damals eingezogen, als die alten Feld­
soldaten, wenn man sie zum viertenmal ins Feld schickte, mit­
einander wetteten, ob sie schon in acht oder erst in vierzehn
Tagen wieder zurückwären. Sie verloren unterwegs, gewöhn-

DUEEI. BEI DRESDEN 357


lieh in Brüssel, den Transportführer - irgendeinen kleinen hilf­
losen Offiziersanwärter, verkauften die Feldmontur, besuch­
ten armeebekannte Lokale und Mädchen, tauchten schließlich,
achselzuckend, wieder im heimatlichen Reservedepot auf und
hatten gegen ein paar Wochen Arrest nicht das geringste ein­
zuwenden.
Damals beschloß die Oberste Heeresleitung den Kinder­
kreuzzug und holte Graff mit seinen Altersgenossen zum Mi­
litär. In langen Kolonnen marschierten sie nach den leeren Ka­
sernen. Ein bißchen Musik war dabei. Und die Mütter blick­
ten aus den Fenstern auf die Schlachtparade hinunter. - Am
Nachmittag stülpte man den Jungens verschwitzte Helme
über, verpaßte ihnen schlotterndes Uniformzeug, und am
nächsten Tage begann der Drill. Sie lernten grüßen, stillstehen,
Parademarsch, Kniebeugen, und was sonst zum Sterben nötig
war.
Graff geriet in ein Fußartillerie-Reserveregiment, und mit
ihm so viele Schüler und Banklehrlinge, daß eine Einjährigen­
kompanie formiert werden mußte. Die Wahl der Ausbildungs­
mannschaft besorgte der Kompanieführer, Oberleutnant d. R.
Kinne (EK i). Er wählte vorzüglich. Kein Sergeant war ihm
roh genug. Es schien, als hasse er die Kindergesichter und als
habe er vor, wie ein Engelmacher dazwischenzufahren. Wenn
er, im grünen Friedensrock, die Reihen abschritt, zitterte sein
kaiserlich hochgewichster Schnurrbart genießerisch, und wenn
die Unteroffiziere nicht gemein genug fluchten, half er, kennt­
nisreich, nach.

Nachdem er einen Gefreiten (im Zivilberuf Lehrer) hatte an


die Front schicken lassen, weil der mit den Erziehungsmaß­
nahmen in der Kompanie nicht einverstanden gewesen war,
kannten die übrigen Gefreiten und Unteroffiziere kein Halten
mehr. Sie quälten ihre Konfirmanden wie die Teufel, sie Über­
boten sich im Erfinden von Gemeinheiten und Strafen. Es kam
oft genug vor, daß jemand beim Exerzieren oder beim Grana­
tenschleppen zusammenbrach. Nach jeder Typhus- und Cho­
leraimpfung ließ Kinne die Einjährigen zweihundertfünfzig

358 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Kniebeugen machen und sah persönlich darauf, daß sie tief und
exakt ausgeführt wurden. Einer, der sich beim Hauptmann
zum Rapport hatte melden lassen, mußte, unter einem Vor­
wand, drei Stunden lang über den Exerzierplatz rennen und
kriechen. Er bekam den Sonnenstich und wurde ins Lazarett
eingehefert.
Wer nicht, in den hohen schweren Stiefeln, vom Querbaum
herab, über ihn hinweg, die Hocke wagte - diesen riskanten
Sprung durch die Luft, mit hochgerissenen Knien -, wurde of­
fiziell für einen Scheißkerl erklärt. Beim Stalldienst war es
streng verboten, anders als mit bloßen Händen auszumisten.
Graff hatte, für die Dauer des Reitunterrichts, ein Pferd, das
böse war und wie verrückt um sich schlug und biß. Täglich
zerfetzte es ihm das Hemd und die Haut, und täglich schleu­
derte es ihn, mit rasenden Hufschlägen, in die Stallgasse. Ein­
mal traf es ihn so unglücklich, daß er eine halbe Stunde lang
wimmernd liegenblieb. Die Unteroffiziere versammelten sich
um ihn und rissen Witze. Er bat vergeblich um ein anderes
Pferd.
Oberleutnant Kinnes rechte Hand hieß Aurich. Dieser Kerl
war, wegen tollkühner Frontleistungen, schon Offizierstell­
vertreter gewesen, aber wegen unerhörter Roheitsdelikte de­
gradiert worden. Jetzt war er Sergeant. Abends ließ er sich von
den Reichen einladen, nahm Geldgeschenke an, vergalt aber
derartige Bestechungen mit doppelter Quälerei.
Graff wurde herzkrank. Beim Strafexerzieren brach er zu­
sammen. Sergeant Aurich befahl dem Gefreiten vom Dienst,
den Einjährigen Graff in Arrest zu bringen. Wegen Subordi­
nation. Da kroch Graff auf die Knie, zog sich am Karabiner
hoch und schleppte sich hinter der Schwarmkolonne her.
Auf dem Heimmarsch, als zu singen befohlen war, und
Graff, der in der Reihe taumelte, nicht sang, kam Aurich, lä­
chelte lauernd und rief: »Na Graff, wenn du vorhin einen Re­
volver hattest, - hättest du mich übern Haufen geknallt?«
Graff riß den Kopf hoch und brüllte, daß die Kameraden er­
schraken: »Jawohl, Herr Sergeant!«
Am Abend, als er eine Stunde zu Hause war, bekam der Jun­

D U E LI. BEI DRESDEN 359


ge einen Weinkrampf. Er warf sich auf dem Bett herum, fuch­
telte mit den Armen und schrie fortwährend: »Ich erschieß den
Hund! Ich erschieß den Hund! Ich erschieß den Hund!«
Die Mutter stand neben ihm.
Am nächsten Tag brachte sie dem Sergeanten, heimlich, eine
Kiste Zigarren und bat, er möge ihren Jungen schonen. Aurich
nahm die Zigarren und lachte.
Graff konnte keine Treppe mehr steigen, ohne Herzkrämp­
fe und Atemnot zu haben. Er meldete sich vergeblich krank
und beantragte, als der Stabsarzt wieder nichts fand, seine Un­
tersuchung durch die Generaluntersuchungskommission. Die
Generalärzte schickten ihn vier Wochen auf den Weißen Hirsch
ins Lazarett. Als er zur Kompanie zurückkam, war Sergeant
Aurich eben ins Feld gerückt. Der Oberleutnant übernahm
seine Funktion und brachte es fertig, daß Graff, nach wenigen
Tagen, kränker war als je zuvor. Dem war jetzt alles gleich; er
hatte jede Furcht vor Bestrafung verloren, war renitent, zeigte
seinen Haß ganz offen, und der Oberleutnant war bestrebt,
sein Zerstörungswerk trotzdem ungehindet fortzusetzen.
Graff meldete sich erneut zur Generaluntersuchung und
wurde zu einem überplanmäßigen Bataillon abgeschoben, wo
die Halbtoten der sächsischen Armee aufbewahrt und mit Kar­
toffelschälen unterhalten wurden.
Bevor Graff die Einjährigenkompanie verließ, hatte er mit
dem Oberleutnant ein längeres Gespräch. Er sagte unter ande­
rem: »Sie haben mich wissentlich und mit Vergnügen zugrun­
de gerichtet. Sie haben uns behandelt, als wären wir Viehzeug.
Ich hoffe, Sie nach dem Kriege wiederzusehen.«

Schließlich ging der Krieg zu Ende. Graff kehrte, schwer krank,


ins Gymnasium zurück, erledigte die fällige Prüfung, studier­
te an verschiedenen Hochschulen, erledigte wiederum mehrere
Prüfungen, fand eine bescheidene Anstellung bei einem Nah­
rungsmittelchemiker und war weder in der Lage, seinen Po­
sten, der Gesundheit brauchte, so wie er es gewünscht hätte
auszufüllen, noch durch einen längeren Urlaub die erforderli­
che Gesundheit zurückzuerlangen. Mit fünfundzwanzig Jah­

360 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


ren war er ein Todeskandidat von der langwierigen Sorte und
wußte das. Seine Mutter, mit der er zusammenwohnte, suchte
er über die Herzanfälle und die bittre Melancholie lächelnd zu
täuschen. Er rauchte nicht und trank keinen Alkohol. Er ent­
hielt sich der Frauen und gab vor, er entbehre sie nicht. Nur
wenn er allein war, ließ er sich von seinen Wünschen abwür­
gen. Dann saß er am Fenster und blickte auf die Straße hinun­
ter und in die fremden Häuser hinüber, als hocke er jenseits der
Welt.
Nur zu einer Leidenschaft hatte er noch den Mut, zum Haß!
Er übte sich jahrelang im Pistolenschießen - im Garten eines
Freundes - und brachte es zu ungewöhnlicher Fertigkeit. Die
Schießscheibe, die er sich selber gemalt hatte, einen Offizier im
grünen Rock und mit gewichstem Schnurrbart, traf er, auf jede
gangbare Distanz, mitten ins Herz. Der Freund, ein Referen­
dar, unterrichtete ihn regelmäßig über Aufenthalt und Lebens­
führung des Assessors Kinne, den er vom Gericht her kannte.
Graff wartete auf die Gelegenheit.
Sie kam. Nach einem der Spaziergänge, die er mit der Mut­
ter durch den Großen Garten zu machen pflegte, stiegen sie -
es war an einem der letzten Septembertage - auf eine Straßen­
bahn. Der Wagen war besetzt, und sie blieben auf der hinteren
Plattform stehen. Plötzlich sagte jemand zu ihm: »Wir kennen
uns doch?«
Graff zuckte zusammen und blickte den Sprecher an, der,
ohne ersichtlichen Grund, an Gesichtsfarbe verlor. Frau Graff
faßte ihren Sohn am Arm. Er riß sich los und sagte zitternd:
»Mutter, das ist er!« Und ehe die Umgebung eingreifen konn­
te, schlug er zu. Assessor Kinne stand regungslos, als habe das
Schicksal »Stillgestanden!« kommandiert, und ließ sich ohrfei­
gen. Und Graff schlug mit beiden Fäusten, lautlos und ernst,
als ob er eine dringliche, bestellte Arbeit verrichtete. Seine
Mutter zerrte an ihm. Andre griffen ein. Der Schaffner brüllte,
brachte den Wagen zum Stehen und stieß Graff auf die Straße.
Die Mutter folgte ihm.
Etliche Fahrgäste forderten eifrig die Feststellung der nöti­
gen Personalien Aber Kinne wischte sich das Blut vom Mund

DUELL BEI DRESDEN 36l


und sagte ärgerlich: »Mischen Sie sich nicht in diese Angele­
genheit!«
Vier Wochen später fand das Duell statt. Graff hatte die Ver­
zögerung gewünscht, damit seine Mutter keinen Verdacht
schöpfe. - Der Ausgang der Affäre ist bekannt. Das Leben des
jungen Chemikers reichte zum Vollzug der Rache nicht aus.
Doch vielleicht bewahrte ihn das Geschick nur davor, von sei­
nem Peiniger »zu guter Letzt« auch noch erschossen zu wer­
den?

362 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Kurzgeschichte in fünf Akten

1. Akt

Er mißfiel mir von Herzen. Vielleicht lag es daran, daß das jun­
ge Mädchen an seiner Seite dunkelbraunes Haar und blaue Au­
gen hatte. Sie war viel zu hübsch, ihre Wimpern waren viel zu
schattig, und ihre schmalen Hände waren viel zu behutsam für
so einen Burschen. Außerdem schien er sich zu ärgern, daß ich
sie betrachtete, als sei sie ein berühmtes Bild. Er mißfiel mir,
wie gesagt, rechtschaffen, und auch ich war wohl nicht ganz
sein Typ.
Die zwei saßen am Nebentisch, tranken Kaffee, siezten ein­
ander noch und redeten infolgedessen nur über Kunst, Thea­
ter und Literatur. Nicht daß die Unterhaltung sonderlich hö­
renswert gewesen wäre - aber plötzlich nannte sie den Titel ei­
nes meiner Bücher, und das machte meine Ohren neugierig.
Nachdem er ihr über meine schriftstellerischen Erzeugnisse
ein paar Löffel einschlägiger Bemerkungen verabreicht hatte,
fragte sie: »Kennen Sie Kästner persönlich?« Da sagte er in al­
ler Gemütsruhe: »Und ob ich ihn kenne! Ich und Erich sind oft
zusammen!«
»Wie sieht er denn aus?« Er kniff die Augen klein. »Ganz
nett soweit«, meinte er schließlich, »aber das ist auch alles.« Sie
nickte verständig.
Ich musterte meinen guten alten Bekannten, den ich noch
nie im Leben gesehen hatte, ziemlich düster und überlegte, ob
ich ihn ein bißchen in die Tinte reiten sollte. Ich hatte jedoch
einen edlen Tag. Die Sonne schien. Das Gute siegte. Ich schwieg.

2. Akt

Etwas später verließ sie vorübergehend den Tisch, um eine


Freundin anzurufen. Ich blickte hinterdrein und freute mich,
wie leichtfüßig sie das Lokal durchquerte. Als ich mich um­

KURZGESCHICHTE IN FÜNF AKTEN 363


wandte, begegnete ich seinen Augen, die damit beschäftigt wa­
ren, pfeilspitze, vergiftete Blicke auf mich abzuschießen.
»Nun, alter Junge«, sagte ich unverdrossen, »wie lange ken­
nen wir uns eigentlich schon?«
»Ich verbitte mir Ihre plumpen Vertraulichkeiten!« bellte er.
»Aber, aber!« meinte ich freundlich. »Wie sprichst du denn
mit mir, mein Bester? Ich bin doch dein guter alter Erich! Mit
dem Zunamen Kästner! Etwas mehr Herzlichkeit hätte ich
wirklich von dir erwartet!«
Er machte ein beispielhaft törichtes Gesicht und vergaß vor­
übergehend, ein- und auszuatmen. Dann holte er tief Luft,
schüttelte den Kopf wie ein leicht angeschlagener Boxer und
murmelte: »Scheußlich!« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Da
hätten Sie mich ja schön hineinlegen können ... Sind Sie mir
sehr böse?« Da ich verzeihend lächelte, zwinkerte er mir,
schon wieder ein wenig unverschämt, zu und sagte trocken:
»Es gibt nämlich Mädchen, bei denen solche Sachen wirken.«
Diese Bemerkung garnierte er mit einem leichten Achsel­
zucken.
»Sie gehören offensichtlich zu den ganz Geriebenen«, erwi­
derte ich. Da er geschmeichelt schien, griff ich zu einer Zei­
tung. Mit Ironie war ihm nicht beizukommen. Er stak in sei­
ner Eitelkeit wie in einer Rüstung.

3. Akt

Dann kam das junge Mädchen zurück, und das Gespräch der
beiden nahm seinen Fortgang. Sie tauschten ihre Ansichten
über Alfred Döblin aus. Den kannte mein Freund vom Ne­
bentisch übrigens nicht persönlich. Er wollte mich wohl nicht
reizen. Ich stellte fest, daß er des öfteren zu mir herüberschiel­
te. Ihm war nicht geheuer, und er bemühte sich redlich, aus den
Gefilden der Literatur in freundlichere Bezirke zu entwischen.
Er suchte unter anderem das Thema »Sport« zu erreichen, und
gestand in schöner Offenheit, daß er den Linksaußen einer Li­
gamannschaft duze und selbigem erst vorgestern erklärt habe,

364 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


die am Sonntag in der zweiten Halbzeit verpaßte Torgelegen­
heit sei museumsreif gewesen. Das junge Mädchen aber woll­
te von Fußbällen nicht das geringste wissen, sondern verbiß
sich im Schöngeistigen. Da half kein Sträuben.
Als der Kellner auf meinen Tisch zusteuerte, ankerten die
zwei gerade bei Kurt Tucholsky. Der Kellner trat zu mir und
sagte erschreckend laut und deutlich: »Herr Kästner, Sie wer­
den am Telefon verlangt. Die Redaktion will Sie sprechen.«
Das junge Mädchen sah mich überrascht an, wurde rot, mu­
sterte ihren Begleiter, als sei er mit einem Male aus Dachpap­
pe, wurde blaß, nahm ihre Handtasche und ging, erhobenen
Hauptes, auf und davon.

4. Akt

Als ich vom Telefon wiederkehrte, saß mein Don Juan verbie­
stert in der Ecke und haderte sichtbar mit dem Zufall und dem
Schicksal. »Pech, alter Freund!« murmelte ich. »Künstlerpech!«
Meine Kondolation schien ihn nicht sonderlich zu trösten. Ich
hatte eher den Eindruck, daß er mir am liebsten die Zunge her­
ausgestreckt hätte. Dann tat er’s aber doch nicht, sondern stand
abrupt auf, nahm Hut und Mantel und verließ die ungastliche
Gaststätte.
Der Kellner bemerkte es zu spät. »Er hat nicht bezahlt!«
jammerte er aufgeregt, »Ich erledige das schon«, sagte ich. »Es
ist ein guter alter Bekannter von mir.«

5. Akt

Auf dem Nachhauseweg lief mir, in der Ludwigstraße, ein jun­


ges Mädchen in die Arme. Das war meine Schuld. Ich hatte
nicht aufgepaßt, weil ich, statt dessen, an einem Epigramm ba­
stelte. »Entschuldigung«, murmelte ich. Doch dann sah ich,
daß sie es war, die Leichtfüßige mit dem nußbraunen Haar und
den blauen Augen, und so war’s weiter kein Wunder, daß wir

KURZGESCHICHTE IN FÜNF AKTEN 365


uns nicht sofort wieder trennten. Von ihrer Wißbegier in li­
terarischen Angelegenheiten war ja schon die Rede.
Erst gestern nachmittag, als wir auf dem Balkon saßen, frag­
te sie leise: »Kannst du mir erklären ...« Doch das ist der An­
fang einer neuen Kurzgeschichte. Oder einer längeren Ge­
schichte? Das läßt sich schwer Vorhersagen.

366 KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN


Ein Herr fällt vom Stuhl

Es ist bekannt, daß Menschen, die im Sitzen einschlafen, vorn­


über sinken. Immer tiefer und tiefer. Wenn die Körpernerven,
die trotz des Schlafens munter bleiben, spüren, daß sich das
Schwergewicht allzusehr vom Stuhl entfernt, geben sie dem
Kopf einen Ruck. Er fliegt nach rückwärts, und das sogenann­
te Einnicken kann wieder von vorne beginnen. Wenn die Ner­
ven aber den richtigen Augenblick versäumen, purzelt der
Schläfer vom Stuhl.
Alfredo Torres, einem braven Bürger von Buenos Aires, er­
ging es so. Er schlief ein und fiel vom Stuhl. Wäre ihm das zu
Hause passiert, hätte es niemand weiter erfahren, und die Öf­
fentlichkeit wüßte heute noch kein Wort über den Fall. Nun
passierte die Sache aber leider Herrn Torres nicht zu Hause,
sondern im Theater. Die Stuhlreihen waren schmal.
Und nun interessiert sich eine ganze Stadt für die Angelegen­
heit. Herr Torres hat nämlich die Rechnung, die der Arzt sand­
te, keineswegs bezahlt, sondern dem Dramatiker geschickt, der
an dem Malheur die Schuld trägt. Denn - argumentiert der
Rechtsanwalt des Verletzten - wäre das Theaterstück amüsan­
ter gewesen, wäre Herr Torres nicht eingeschlafen. Wäre er
nicht eingeschlafen, wäre er nicht vom Stühlchen gefallen.
Wäre er nicht vom Stühlchen gefallen, hätte er sich nicht weh­
getan. Also: er verletzte sich, weil das Stück schlecht war.
Der Fall liegt eigentlich klar. Aber nur für Herrn Torres und
seinen Rechtsanwalt. Der Stückeschreiber und dessen Rechts­
anwalt sind natürlich ganz anderer Ansicht. Da während der
Aufführung - wenn sie auch schlecht war - von zweitausend
Besuchern nur ein einziger vom Stuhl fiel, scheint dieser Fall
doch wohl mehr auf Kosten dieses Besuchers, als auf die des
Stückes gesetzt werden zu dürfen.
Immerhin ist der Prozeß noch im Gange. Wir wollen hof­
fen, daß Herr Torres mit seiner Klage abgewiesen wird. Denn
wo kämen wir hin, wenn es den Autoren so erschwert würde,
langweilige Dramen aufführen zu lassen?

EIN HERR 1 ÄI.l.T VOM STUHl. 367


ANHANG
Nachwort

Fabian oder Der hellsichtige Melancholiker

In Erich Kästners Fabian gibt es nichts zu lachen. Der lyrische


Humorist hat dem satirischen Moralisten das Wort übergeben.
Der schlägt zornig-verzweifelt seiner Zeit die verdunkelten Fen­
ster ein, damit der ganze verrückte Aberwitz des Jahrzehnts
sichtbar werde. Gleichwohl weiß der Erzähler, daß seine Mah­
nungen und Warnungen an die Zeitgenossen vor dem herauf­
ziehenden nazistischen Unheil vergeblich sind. Kästner schreibt
als ein Mann auf verlorenem Posten; ein Romancier zwischen
zwei extremen Epochen, zwischen altem und drohendem neu­
en Weltkrieg. Da bleibt ihm der Humor in der Kehle stecken.
Aber lieber möchte er eines späteren und hoffentlich schönen
Tages als Schwarzseher getadelt denn als Hellseher gelobt wer­
den. Tatsächlich aber ist Kästner im Fabian als Schwarzseher
hellsichtig. Er sieht, daß seine Zeitgenossen, »störrisch wie die
Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in
dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er [...]:
Achtung! Beim Absturz linke Hand am linken Griff.« (III, 201)
Das ist schon das Äußerste, was sich der Weltverbesserer ein­
greifend gestattet.
Die verworrenen Zeitverhältnisse begreift er als eine Reise
im verkehrten Zug ans falsche Ziel. Und wie nur wenige
Schriftsteller seiner Zeit erkennt er, daß die Vernunft der Mehr­
heit gegen Ende der Weimarer Republik für mehr als ein Jahr­
zehnt Urlaub nehmen sollte. Der Einzelgänger Kästner be­
gnügt sich mit der Rolle des Beobachters und Zeitdiagnosti­
kers angesichts einer Epoche, die vor die Hunde geht. »Die
große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende seeli­
sche Depression, die Sucht, sich zu betäuben, die Aktivität be­
denkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden
Krise. Und auch die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte

NACHWORT 371
nicht - die einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit
der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und der Stille
entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben [...]. Man
lief den Rattenfängern nach, hinein in den Abgrund« (III, 440),
erinnert sich Kästner fast 20 Jahre nach Erscheinen seines Ro­
mans.

II
Es passiert nicht viel im Buch, außer daß ein junger Mann sich
erschießt, ein anderer junger Mann sich verliebt und ihm die
Liebe wieder abhanden kommt und er wenig später ertrinkt.
Das ist beinahe schon die ganze Handlung, kurz gefaßt. »Bei­
de Herren kommen gewissermaßen aus Versehen ums Leben«,
ihr Tod ist ein grotesker, tragischer Witz. Das macht ihren Tod
nicht leichter, sondern gibt ihm das unerträgliche Gewicht ei­
nes absurden Zufalls, eines Sterbens ohne Sinn. Der Autor
schwindelt nicht, die Zeit ist schwarz, und er macht seinen Le­
sern nichts weis. Er glaubt nicht an Helden, weder im Leben
noch in der Fiktion; deshalb kreiert er mit seiner Titelfigur Fa­
bian einen prototypischen Antihelden; einen jungen Mann, 31,
aus dem Kleinbürgertum, der sich stolz zu seiner Herkunft be­
kennt, nach verschiedenen Tätigkeiten als Reklamefachmann
arbeitet - bis er seine Arbeit verliert -, sich im fiebrigen Berlin
Ende der zwanziger Jahre herumtreibt, hellhörig und hellwach,
und mit gemischten Gefühlen das besinnungslose Treiben in
seiner Umgebung beobachtet. Fabian ist Reflektor der zeitge­
schichtlichen Zustände. Er hat das Empfinden, wie schon ein­
mal in einem großen Wartesaal zu sitzen, und der heißt Euro­
pa. Wieder weiß er nicht, was geschehen wird (»Wann gab es
wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein?« III, >5) Er
lebt provisorisch und verzweifelt schließlich als »Fachmann
der Planlosigkeit« ratenweise.
Dieser Jakob Fabian ist kein anderer als Erich Kästner, wie
er sich mit Anfang dreißig sah und als gebürtiger Dresdner und
Wahlberliner die Metropole erlebte. Die Großstadt liefert dem
Romancier die Sujets frei Haus: Milieu, Atmosphäre und die

372 NACHWORT
Grundfarben des Geschehens. Mehr als zwei Dutzend Perso­
nen treten auf und verschwinden wieder - Redakteure, Ar­
beitslose, Huren, Verrückte, Gebildete -, ohne daß sie zusam­
mengeführt oder ihre Schicksale verbunden würden. Sie blei­
ben in ihrer Existenz so fragmentarisch wie die Epoche, die
zugrunde geht. Das ist Kästners literarisches Konstruktions­
prinzip, in Analogie zum Großstadtdschungel. Nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, bei seiner ersten Wiederbegegnung mit
Berlin im September 1946, schreibt Kästner: »Diese Stadt ist
zwar nicht meine Heimat. Doch ich habe die schönsten und
schlimmsten Jahre darin verbracht. Sie ist sozusagen meine Bu­
senfreundin. Ich will den etwas heiklen Vergleich nicht tothet­
zen, sondern nur bemerken, daß man sich mit solchen Freun­
dinnen manchmal besser versteht als mit der eigenen Frau.«
(Vgl. VI, 567) Dieses Berlin erfährt der Großstadtseismograph
Fabian als ein Panoptikum der Illusionen und Neurosen. Es
taumelt zwischen Not, Arbeitslosigkeit, Krawallen, zwischen
den zwei großen Massenbewegungen von rechts und links,
zwischen sadistischen Vergnügungen und sexuellen Perversio­
nen hin und her. Anstand und Vernunft sind mehrheitlich im
Ruhestand oder Exil. Sodom und Gomorrha (von Kästner als
Romantitel erwogen, nachdem Der Gang vor die Hunde vom
Verlag abgelehnt worden war) halten ihren Platz besetzt. Hin­
sichtlich seiner Bewohner gleicht Berlin »längst einem Irren­
haus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gau­
nerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in al­
len Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.« (III, 8j) Ein
Tanz auf dem Vulkan von Dummheit, Sadismus und Bewußt­
losigkeit spielt sich vor aller Augen ab, ohne daß dies von den
Beteiligten bemerkt würde. Dem Zaungast Fabian schwindelt
es. Er gleicht einem Chirurgen, der die verruchte Seele der Stadt
aufschneidet und ihr krankes Gewebe seziert. »Wer ein Opti­
mist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann
nicht viel passieren. [...] Ich sehe zu und warte. Ich warte auf
den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfü­
gung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf
Wunder.« (III, 85)

NACHWORT 373
Der Agnostiker Fabian wartet also zu, wohl wissend, daß
seine Hoffnung, die Menschen könnten sich bessern, kein
Fundament in der Realität hat. Genau das zeigt die Gespal-
tenheit des bürgerlichen Moralisten Fabian. Seine ethischen
Prinzipien der Vernunft, Aufklärung und Gerechtigkeit
schweben im Raum, ohne Bodenhaftung; sie existieren nur in
seiner Vorstellung und werden tagtäglich durch die histori­
schen Witterungsverhältnisse, die politisch und ökonomisch
auf die Katastrophe zusteuern, widerlegt. »Wollte er die Bes­
serung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen.
[...] Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut,
wenn es ihm gut ginge? [...]. War das Elysium, mit zwanzig­
tausend Mark Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein men­
schenwürdiger Abschluß?« (III, /77J Ist die Moral, grübelt
der skeptische Moralist Fabian, also in erster Linie eine Fra­
ge der Ökonomie? Und damit auch »die Frage der Weltord­
nung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung?«
('ZZZ, 177)
Bertolt Brecht sowie Fabians Freund und intellektueller Ge­
genspieler Labude hätten dem bedenkenlos zugestimmt. Der
Lessing-Experte Labude ist davon überzeugt, daß man erst das
System vernünftig gestalten müsse, dann würden sich die Men­
schen schon entsprechend anpassen. Sein revolutionäres hu­
manistisches Programm setzt auf eine Verbindung von wirt­
schaftlicher Macht und kultureller Moral in den Händen einer
jugendlichen Elite als politischer Führerschaft, und zwar quer
durch alle sozialen Klassen. Individualismus und Sozialismus
sind für Labude versöhnbare Gegensätze. Zur Rettung der
Menschheit setzt er sie auf die Tagesordnung. Raus aus der so­
zialen Misere und rein ins sozialistische Paradies, heißt sein
politisches Einmaleins.

III
Hier wie in anderen Episoden zeigt sich die prophetische Kraft
des Romans. Fabian, der notorisch hellsichtige Schwarzseher,
ist den Entwicklungen seiner Zeit voraus. Das verbindet Käst­

374 NACHWORT
ner-Fabian mit einigen wenigen zeitgenössischen Intellektuel­
len, mit Tucholsky, Feuchtwanger, Kesten und Ossietzky
etwa. Er wittert die bevorstehenden Totalitarismen von rechts
und von links. Auf Labudes utopischen Geschichtsentwurf ei­
nes sozialistischen Paradieses reagiert Fabian mit höhnischem
Sarkasmus: »Ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie
sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zu­
stande kommen wird ...« (III, 46) Und den Faschisten, die sich
mit den Kommunisten heftige Straßenschlachten liefern, hält
Fabian entgegen: »Ihre Partei [...] weiß nur, wogegen sie
kämpft, und auch das weiß sie nicht genau.« (III, 36) Der me­
lancholische Außenseiter Fabian dagegen besitzt als einzige
Gewißheit, daß es mit Deutschland so nicht weitergehen kann,
weil man versucht, »mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare
Zustände zu verewigen.« (III, 36)
Diese Einsichten aus den Jahren 1930/31 zeugen von ver­
blüffender historischer Weitsicht. Als zeitkritische Bestands­
aufnahme ist Kästners Fabian eine chronique scandaleuse der
auf ihren Untergang zusteuernden Weimarer Republik. Der
Kapitalismus kulminiert durch sein eigenes System in der
Weltwirtschaftskrise. Er leitet damit seinen Zusammenbruch
ein und liefert die Bevölkerung mehrheitlich dem ökonomi­
schen und psychischen Ruin aus. Totalitäre Heils- und Erlö­
sungsideologien haben als Folge zwangsläufig Konjunktur.
Ihre Schrecken und Grausamkeiten antizipiert Kästner in ei­
nem visionären Traum Fabians (III, 123-130); eine propheti­
sche Apokalypse, die auf die kommende Barbarei beklemmend
vorausweist. Kästners Reflexion, »Dichter merken manches
früher, weil sie, im Gegensatz zu uns, um die Ecke sehen kön­
nen« (VI, 341), ist hier erzählerisch beglaubigt. »Eine Maschi­
ne, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen auf. Halb­
nackte Arbeiter standen davor, mit Schaufeln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von kleinen Kindern in einen rie­
sigen Kessel, in dem ein rotes Feuer brannte. [...] Fabian fuhr
auf dem laufenden Band zurück [...]. >Es ist ein Unglück pas­
siert!*, schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu. Da pur­
zelte ein Kind aus dem Kessel. [...] Der Arbeiter nahm den

NACHWORT 375
Säugling auf die Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden
Kessel zurück.« (III, 124-125)
Nahezu das gesamte epische Personal ist in Fabians mon­
strösem Alptraum, der Überwältigungs- und Untergangsäng­
ste eindringlich beschwört, versammelt: Lesben und Schwule,
dicke, geile Männer, junge Transvestiten, die von fetten Wei­
bern begehrt werden. Auch Fabians Geliebte und sein Freund
Labude tauchen in diesem Szenario aus Gewalttätigkeit und
Endzeitwahn wieder auf. Im Angesicht der taumelnden Mas­
sen verkündet der Menschenfreund Labude: »Die Vernunft
wird siegen, auch wenn ich untergehe.« (III, 128)
Sein humanistischer Fortschrittsglaube wird in einem Ku­
gelhagel aus Maschinengewehren beerdigt. »Man hörte den
Aufschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge schwirrten unter der
Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die Dä­
cher begannen zu brennen.« (III, 129)
Der Todestrieb der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Ohn-
machts- und Selbstauslöschungsphantasien wird von Kästner
in drastischen Bildern gebannt, die an Breughels Höllenpan­
oramen erinnern. Das alte Europa zeigt sich nur noch in per­
vertierter Form, mit rasender Geschwindigkeit bewegt es sich
auf seinen Umsturz zu. Und versinkt in geistig-moralischer
Umnachtung.

IV
Mit karikaturistischer Schärfe, mit satirischen Mitteln der Über­
treibung und Vereinfachung legt Kästner den Kern der realen
wie irrationalen Zustände bloß. Die Methode grotesker Ver­
zerrung bleibt nicht an den Zuständen kleben, sondern kehrt
deren Wahrheit hervor. Wer vernünftig handelt wie der Ma­
schinenerfinder, der sich von den Wundern der Technik verab­
schiedet, weil durch sie Hunderttausende arbeitslos wurden,
gilt als verrückt und wird in eine Heilanstalt verfrachtet. Und
wer, wie Paul Müller aus Tolkewitz, die öffentliche Todesfahrt
auf der Bühne vorträgt, gilt als ein Wahnsinniger. Sein To­
destanz geht im sadistischen Gebrüll der Zuschauer unter.

376 NACHWORT
Die zeithistorische Wirklichkeit sowie Kästners Kritik an
ihr verzehnfachen sich hier durch die Genauigkeit der Über­
treibung. Kästner hält seiner Epoche einen Zerrspiegel vor.
»Die Karikatur«, schreibt er in seinem Vorwort, »ist das Äu­
ßerste, was der Moralist vermag. Wenn auch das nichts hilft,
dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft,
ist - damals wie heute - keine Seltenheit.« (Vgl. III, 440)
Die Weimarer Verhältnisse werden heraufbeschworen, ohne
daß sie geschildert würden. Und gewaltig ertönt die Anklage,
gerade weil sie nicht erhoben wird. Fabian ist Kästners bester
Roman, sowohl was seine zeithistorische Luzidität betrifft, als
auch seine erzählerische Stimmigkeit. Kästners Stil ist elegant,
von höchster Einfachheit und atmosphärischer Dichte. Ver­
gleichbares hat der Romancier nicht mehr zustande gebracht,
weder in seinen Romanen und Erzählungen der dreißiger Jahre
noch in seiner Nachkriegsprosa.
Kästner, dessen Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt wur­
den und der während der Hitlerdiktatur als »unerwünschter
und politisch unzuverlässiger Schriftsteller« verboten war, emi­
grierte indessen nicht. Der Antifaschist sah es als seine Berufs­
pflicht an, in schlimmen Jahren Augenzeuge zu bleiben, um
später darüber berichten zu können. Obwohl ihn die Nazis
mit inländischem Publikationsverbot belegt hatten, konnten
Kästners Werke dennoch in der Schweiz und - bis 1938 - in
Österreich erscheinen. Daneben überwinterte er mit Hilfe von
Pseudonymen, als Autor der Unterhaltungsindustrie, und
schrieb u.a. Filmdrehbücher für die Ufa, und zwar mit einer
Sondergenehmigung der Reichsfilmkammer, die 1942 auf Be­
treiben des Führerhauptquartiers zurückgezogen wurde (vgl.
Notabene 4$, VI, 441).

Daß er der NS-Diktatur nicht explizit die Stirn bot, sondern


die geballte Faust in der Tasche hielt, hat sich der Moralist und
Menschenerzieher möglicherweise als Versagen angekreidet.
Vielleicht konnte er über »die Ratlosigkeit des Gewissens«, die
Kästner 1945 als »furchtbarsten [...] unheimlichsten Fluch je­
ner zwölf Jahre« (vgl. VI, $1$) empfand, nicht hinwegkom­

NACHWORT 377
men. Vielleicht schrieb er deshalb den geplanten Roman über
das verbrecherische Regime nicht mehr. Vielleicht siegte des­
halb im Nachkriegsdeutschland der Melancholiker endgültig
über den satirischen Schriftsteller.

V
Die großen humanistischen Ideale von einst krepieren im Fa­
bian konsequent an der ökonomischen Misere. Selbst die Lie­
be wird von wirtschaftlicher Not verschlungen. Fabian, der für
einen kurzen Moment das Glück erfährt, der jungen Cornelia
Battenberg zu begegnen, die er festhalten möchte, scheitert
auch hier; freilich nicht an seiner seelischen Indolenz, sondern
an den realen Antinomien der Epoche. »Der Zufall hatte ihm
einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich han­
deln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, ver­
fluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und
nun war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die
Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit.
Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia.« (III, 139)
Wie Labude ist auch Fabian zuletzt ein in den Fächern Be­
ruf und Liebe durchgefallener Menschheitskandidat. Die Zeit
ist zwar für sexuelle Vergnügungen geschaffen (von denen der
Roman ausgiebig berichtet), aber die Liebe liegt im Sterben.
Ebenso die Familie. Wer liebt, übernimmt Verantwortung für
die Existenz und Zukunft des anderen. Wie aber soll jemand
Verantwortung übernehmen, wenn er von Beruf arbeitslos ist?
Fabian, den es in der Begegnung mit der Geliebten wenigstens
einmal von seinem Beobachterposten weg und zum Handeln
treibt, sieht sich zur Erwerbslosigkeit verurteilt. Sein vorhan­
denes Talent reicht gerade zum Verhungern. Cornelia dagegen
will nicht zugrunde gehen. Anders als der Moralist Fabian, der
sein Gewissen nicht durch politisch oder persönlich korrum­
pierende Tätigkeit, um des nackten Überlebens willen, betäu­
ben mag, schlägt Cornelia den krummen Weg ein. Sie »er-
schlief sich [...] eine Karriere oder eine Verzweiflung oder bei­
des« (III, ijy) mit einem alten verfetteten Filmproduzenten.

378 NACH'K) KT
Sie handelt nach der pragmatischen Devise: »Man kommt nur
aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht.« (III, 137)
Sie verkörpert die Haltung von Mitläufern, Opportunisten,
Zynikern, die um jeden Preis mit dem Leben davonkommen
wollen, selbst um den Preis psychischen Bankrotts. Ihr Cha­
rakter ist ihrem Verstand nicht gewachsen, was sie sehr wohl
weiß. Dennoch gibt es einen aufblitzenden elysischen Augen­
blick, bevor sich das Dunkel wieder um die Liebenden schließt
und sie voneinander trennt. Am Grab ihrer entschwundenen
Hoffnung bleiben als Hinterbliebene: Trauer, Verzweiflung,
Vergeblichkeit. Kästner hat in lakonischen Episoden eine der
schönsten zeitgenössischen Liebesgeschichten geschrieben.

VI
Fabians Tragödie ist in Grundzügen die Tragödie seines Au­
tors Kästner. An ihm wird stellvertretend das Desaster der bür­
gerlichen Intellektuellen seiner Zeit kenntlich. Die Stärke jener
Aufklärer und Humanisten ist paradoxerweise auch ihre Schwä­
che. Sie besteht im Festhalten an der Idee eines konsequenten
historischen und moralischen Fortschritts der Menschheit,
selbst in Zeiten, in denen ihr teleologisches Weltbild durch die
politischen Verhältnisse in zynischer Weise widerlegt wird.
Statt entschieden gegen totalitäre Entwicklungen anzukämp­
fen, beharren jene Intellektuellen auf ihrer realitätsfernen es-
chatologischen Maxime, daß die schlechte Wirklichkeit nur ein
historisches Übergangsstadium sei, das im dialektischen Pro­
zeß aus sich selber überwunden werde, um danach an die voll­
kommene Idee heranzureichen. Im historischen Ernstfall ver­
wandelt sich ihr Menschen- und Gesellschaftsideal in eine hö­
here Instanz; es erhält die Autorität des Glaubens. Der Glaube
aber entlastet von der Notwendigkeit eingreifenden Handelns.
Zwischen Überzeugung und Tat klafft ein unüberbrückbarer
Graben. Das ist die Ursache für das politische Versagen der
bürgerlichen Intelligenz.

NACHWORT 379
Kästner-Fabian ist das Muster dieses Intellektuellentyps in
Krisenzeiten oder auch in totalitären Regimen. Im Besitz der
höheren Wahrheit, fern aller politischen Niederungen, glaubt
er entschlossen an den letztendlichen Sieg der Vernunft und
Anständigkeit im Menschen. Sein unbeirrbarer Fortschritts­
glaube macht ihn wehrlos, passiv, handlungsunfähig, zum er­
schrockenen und verzweifelten Beobachter des katastrophalen
Epochenbruchs. Wer von Beruf Aufklärer und Erzieher des
Menschengeschlechts ist, für den sind Macht und Moral, Poli­
tik und Ethik unversöhnbar; der denkt nicht dialektisch, son­
dern in Gegensätzen. Und hält es vorzugsweise mit Goethe:
daß der politisch Handelnde immer gewissenlos sei, und Ge­
wissen nur der reine Betrachter und Außenstehende besitze.
Walter Benjamin hat diese Geisteshaltung der Kästner, Meh­
ring, Tucholsky 1931 in seinem Essay Linke Melancholie scharf,
aber pauschal kritisiert, mit dem Argument, daß »ihr über­
haupt keine politische Aktion mehr entspricht.« (Walter Ben­
jamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M.
1966, S. 457-461) Er meint, die Schwermut des Lyrikers Käst­
ner stamme aus Routine; er habe »die Gabe, sich zu ekeln,
preisgegeben.« Seine Verse dienten nur noch dem Amüsement
und Konsum. »Sicher hat das Kollern in diesen Versen mehr
von Blähungen als vom Umsturz. Von jeher gingen Hartlei­
bigkeit und Schwermut zusammen«, urteilt Benjamin verächt­
lich.
Sein Grundirrtum: Er mißt den Lyriker Kästner mit der Elle
revolutionärer Geschichtsdialektik ä la Brecht, mit der Kästner
indes gar nichts zu tun hat. So mißversteht Benjamin ihn gründ­
lich: als linksradikalen Intellektuellen (der Kästner nicht war,
sondern allenfalls ein Linksliberaler), der zum Konjunkturrit­
ter literarischer Moden mutiert sei und in der Folge zum Fata­
listen und Nihilisten.
Tatsächlich aber ist Kästner wegen seiner idealistischen
Überzeugungen kein Tatmensch, sondern ein Zweifelnder.
Sein moralischer Kompaß droht an den Zeitverhältnissen, an
der »Dreistigkeit, [...] sechzig Millionen Menschen den Un­
tergang zuzumuten« (III, 189) zu Bruch zu gehen. Wie alle

380 NACHWORT
hamletischen Naturen ist er in seiner düsteren Melancholie
überaus hellsichtig. Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen,
für die Theodor Lessing eintrat, hat für den Intellektuellen ide­
alistischen Zuschnitts ausgespielt. Er kann es nicht ertragen,
daß das Böse mitten in der Welt existiert, also muß er an die
Vernunft glauben. Hier klafft der Riß zwischen Erkenntnis
und Vision, Kritik und Utopie, den er nicht wahrhaben will. Er
scheitert an dem Wunsch, beide zu versöhnen. Das heißt, er
scheitert beispielhaft am emanzipatorischen Gedanken der
Aufklärung; was der Satiriker Kästner übrigens am Gedan­
kenrebell Labude verdeutlicht, der die Menschen liebt, aber
kein Verhältnis zum Leben hat. Der Aufklärer Lessing, das un­
erreichbare Ideal, ist deshalb die groteske Ursache für Labudes
Selbstmord. Der realitätsblinde Fortschrittsglaube, diese Trotz-
und Ersatzreligion des Intellektuellen, begeht im Roman Frei­
tod; aus der skeptischen Einsicht, daß die Dummheiten wech­
seln, aber die Dummheit bleibt.

VII
Kästners Fabian ist eine zeitgeschichtliche und sozialpatholo­
gische Fallstudie, die Nationalsozialismus und Faschismus blitz­
lichtartig vorausbeleuchtet. Das Panorama der zivilen Gesell­
schaft pervertiert hier zu einem gegenaufklärerischen Panopti­
kum. Fabian, alias Kästner, stellt seiner Zeit die Diagnose. Eine
Therapie weiß er nicht. Deshalb bleibt er untätig, wenn auch
nicht teilnahmslos. Er verharrt im Wartestand. Die eigentliche
Frage, die an die Titelfigur zu stellen ist, lautet: Was passiert
dem Moralisten, wenn mit ihm nichts passiert? Bis zum 23. Ka­
pitel heißt die Antwort: Er kam zur Welt und lebte trotzdem
weiter. Als er sich schließlich, einmal nur, zur eingreifenden
Aktion entschließt, bewirkt dies seinen Untergang. Denn zum
Handeln ist Hamlet-Fabian nicht bestimmt. Der Tod des Nicht­
schwimmers Fabian, der einen kleinen Jungen retten will, hat
fast mathematische Konsequenz. Fabians Ertrinken folgt schlüs­
sig aus der Abwendung von seinem Lebensprinzip. Metaphy­
sische Deutungen - in Parallele zu Büchners Danton, der sich

NACHWORT 381
»zernichtet fühlt unter dem gräßlichen Fatalismus der Ge­
schichte« die in der F^wn-Forschung überwiegen, sind da­
her abwegig.
Auch wissen wir, daß Bücher von Moralisten in der Regel
keine moralischen Bücher sind. Wie auch? Moralisten sind kei­
ne Illusionisten oder Schönfärber, sie nehmen gewöhnlich kein
Blatt vor den Mund. Im Fabian wird ausschweifend Unzucht
getrieben, Sado-Maso-Sex ist auf dem Vormarsch, ein Män­
nerbordell, von Damen der besseren Gesellschaft frequentiert,
wird zum florierenden neuen Wirtschaftszweig. Die Sittlich­
keit hat Urlaub genommen. Und da der Moralist alles andere
als ein Sittenwächter oder gar Sittenrichter ist, zeigt er, was der
Fall ist, mehr nicht. Die einzigen Antitoxine, mit denen er ope­
riert, heißen Satire und Elegie, Zorn und Gelächter, Verzweif­
lung und Melancholie. Es sind Antitoxine, die man nicht zur
Therapie des Einzelnen oder der Gesellschaft in Flaschen ab­
füllen kann. Dem Moralisten genügen Erkenntnis und Kritik
der Epochenkrankheit.
Beim Fabian haben wir es mit einem sonderbaren Phäno­
men zu tun: mit dem politischen Roman eines unpolitischen
Intellektuellen. Nicht nur hat Kästner sich zeitlebens jeder po­
litischen Praxis enthalten; er war auch prinzipiell mißtrauisch
gegenüber jeder politischen Machtausübung. Weil er Macht
nur in Schablonen zu denken vermochte, d.h. in Kategorien
der Korruption. »Die Macht liebt den, der sie entehrt«, heißt
es programmatisch in einem Gedicht (vgl. /, 224).
Vor allem aber ist Fabian der Roman eines Satirikers, der
weiß, daß der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch
ist. Und der dennoch, im verstecktesten Winkel seines Her­
zens, »die törichte, unsinnige Hoffnung« kultiviert, »daß die
Menschen vielleicht doch ein wenig, ein ganz klein wenig bes­
ser werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bit­
tet, beleidigt [...].« (Gesammelte Schriften für Erwachsene
[GSE] VIII, 200). Da Satiriker meistens auch Idealisten sind,
gibt es bei ihnen nichts zu lachen.

382 NACHWORT
VIII

Die diversen Fa^wn-Ausgaben seit der Erstausgabe (Deutsche


Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1931) sind identisch, abgesehen von
geringfügigen Unterschieden in Orthographie und Interpunk­
tion. Der Vergleich allerdings mit dem Romantyposkript (Ko­
pie, Erich-Kästner-Archiv) zeigt, daß Kästner dem Druck der
Verlagsleitung nachgab und ganze Textpassagen sowie einzel­
ne Kapitel umschrieb, wobei er seine Zeit- und Gesellschafts­
kritik entschärfte. Der Kommentar dokumentiert im einzelnen
die Abweichungen zwischen Typoskript und Druckfassung
des Romans.
Das Kapitel Ein ehemaliger Blinddarm erregt Aufsehen (Ko­
pie, Erich-Kästner-Archiv) fiel der Verlagszensur vollständig
zum Opfer. Kästner übernahm es später in die Gesamtausgabe
(Gesammelte Schriften [GS], Band 2, Zürich, Berlin, Köln 1959)
als vom Fabian getrennte Erzählung mit dem Titel Der Herr
ohne Blinddarm (III; 205-210). Auch die zwei glänzend iro­
nischen Selbstkommentare Kästners Fabian und die Sitten­
richter sowie Fabian und die Kunstrichter durften 1931 nicht
erscheinen. Der letztgenannte Aufsatz, der bislang als verloren
galt, wird in dieser Ausgabe erstmals gedruckt (III, 202-205).
Das Typoskript fand sich im Erich-Kästner-Archiv, das inzwi­
schen von München ins Deutsche Literaturarchiv Marbach
verlegt wurde.
Daneben versammelt der Band Kästners Romanfragmente
Die Doppelgänger (1932) und Der Zauberlehrling (1936); die­
ses größere unvollendete Werk ist ein Kassiber des verbotenen
Autors, der seine Kritik am Nazi-Deutschland und seine exi­
stentielle Heimatlosigkeit (»Nur der Fremdling ist einsam und
fröhlich in einem«) in einer parabolischen Erzählung ver­
schlüsselt. Ferner enthält der Band die zwei nicht-fiktiven Brie­
fe an mich selber - erschreckende Zeugnisse der vollkomme­
nen Einsamkeit des Vierzigjährigen, der ungeachtet seiner
»Freunde und Feinde in Fülle« allein ist »wie der erste Mensch«
und das Gefühl hat, sich selber fremd geworden zu sein -
sowie acht Kurze Geschichten und Kurzgeschichten. Es han­

NACHWORT 383
delt sich um literarische Gelegenheitsarbeiten unterschiedli­
cher Qualität, die jedoch teilweise autobiographisch interes­
sant sind; etwa Die Kinderkaserne und Duell bei Dresden, in
denen der Antimilitarist Kästner mit sadistischer Erziehungs­
folter und menschenverächtlichem Drill abrechnet. Hier wie
auch in den übrigen Erzählungen zeigen sich thematische
Querverbindungen mit den beiden Prosabänden dieser Aus­
gabe.
Bei der Suche nach entlegenen Zeitschriften- und Zeitungs­
artikeln Kästners sowie zeitgenössischen Rezensionen seiner
Werke war die Kölner Universitätsbibliothek behilflich; vor
allem aber Jutta Bendt vom Deutschen Literaturarchiv in Mar­
bach.
Das Erich-Kästner-Archiv (Dr. Ulrich Constantin) stellte
wichtige Texte aus dem Nachlaß zur Verfügung, und Lena
Kurzke unterstützte mich tatkräftig bei der Recherche, die Ty­
poskriptfassungen der Romane und Erzählungen zutage för­
derte. Allen Genannten danke ich.

Köln, im Juli 1996 Beate Pinkerneil

384 NACHWORT
Kommentar

Der Kommentar informiert über Entstehungszeit, historische und


biographische Hintergründe des Romans Fabian, der Romanfrag­
mente Die Doppelgänger und Der Zauberlehrling, der zwei Briefe
an mich selber und der Erzählprosa Kurze Geschichten und Kurz­
geschichten. Dabei werden die Abweichungen zwischen Manuskrip­
ten, Typoskripten und Erstausgaben (bzw. Erstdrucken) dokumen­
tiert, soweit dies der erst teilweise erschlossene Nachlaß Erich Käst­
ners zuließ.

I. Fabian

Erstausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1931.


Hinweise auf die Entstehung des Fabian, Kästners erstem Ro­
man für Erwachsene, finden sich in den AfwttcAew-Briefen. Am
II. November 1930 schreibt er: »Mit dem Roman geht’s langsam
weiter. Ich steck jetzt im 5. Kapitel und hab heute die erste Hälfte
vom 1. Kapitel diktiert. Nun muß ich erst mal wieder paar Gedich­
te schreiben. Dann geht’s weiter im Text.« (Erich Kästner: Mein lie­
bes, gutes Muttchen, Du! Dein oller Junge. Briefe und Postkarten
aus jo Jahren. Ausgewählt und eingeleitet von Luiselotte Enderle.
Hamburg 1981). Neben diversen Tätigkeiten - wöchentlich ein Ge­
dicht für die Berliner Tageszeitung Montag Morgen, ferner Thea­
ter- und Buchkritiken sowie Feuilletons für die Neue Leipziger Zei­
tung, Die Weltbühne, Berliner Tageblatt u. a., Revision des Dreh­
buchs Emil und die Detektive - geht das Schreiben zügig voran.
Teile des Romans verfaßt Kästner in seinem Berliner Stammlokal,
dem Cafe Leon am Kurfürstendamm. Am 27. Juli 1931 schickt er
das vollendete Manuskript mit dem Titel Sodom und Gomorrha an
die Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart. »Gestern ist der
Roman fort nach Stuttgart, und ich hoffe, daß ich nun damit Ruhe
habe. Noch einmal zurück möchte ich ihn nicht haben.« (Mutt-
cAew-Brief, 28. 7. 1931)
Der Verlag, dem Kästner offenbar sukzessiv die jeweils fertigge­
stellten Romankapitel zur Einsicht vorgelegt hatte, erhebt indes
Einwände. Die Bedenken des früher selbständigen Verlegers Curt
Weller, der Kästners erste Gedichtbände veröffentlicht hatte und
danach als Cheflektor zur DVA wechselte, sind in einem internen

I. FABIAN 385
Verlagsgutachten vom io. (!) Juli 1931 formuliert (Typoskript im
Erich-Kästner-Archiv, das sich in Marbach befindet). Die von den
Muttchen-Briefen abweichende Zeitangabe läßt darauf schließen,
daß Kästner dem Verlag eine erste Fassung des Romans bereits
früher eingereicht hatte. Wellers Kritik trifft nicht nur den Roman­
titel, sondern insbesondere die ersten neun Kapitel, in denen dem
Leser »mitunter abstoßende und erschreckende Situationen« zuge­
mutet würden (vgl. III, 4J7). Auch die beiden Nachworte, in denen
der Moralist Kästner die erotische Freizügigkeit einzelner Szenen
gegen rigorose Sittenwächter verteidigt - »Er trägt nicht einmal Be­
denken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen.«
(Fabian und die Sittenrichter, III, 200), beanstandet Weller zurück­
haltend, in der Sache aber entschieden.
Fazit der langwierigen Auseinandersetzungen (über die erst die
noch nicht edierten Muttchen-Briefe im einzelnen Auskunft geben
können):

1. Kästners weitere Titelvorschläge Saustall, Saustall ohne Herku­


les, Jugend im Vakuum, Der Gang vor die Hunde werden als
»buchhändlerisch nicht möglich« abgelehnt. Kästner, der auf
eine schnelle Veröffentlichung seines zeitkritischen Romans
drängt, da Hermann Kesten (1900-1996) und Ernst Glaeser
(1902-1963) an ähnlichen Stoffen arbeiten, akzeptiert schließlich
den vom Verlag aufoktroyierten Titel Fabian. Die Geschichte ei­
nes Moralisten.
2. Auf Diktat des Verlags revidiert Kästner grundlegend die Kapi­
tel drei und vier. Er eliminiert vollständig die Episode Ein ehema­
liger Blinddarm erregt Aufsehen (Typoskript, 3. Kapitel, S. 4-28),
in der die kolossale Borniertheit von Fabians Vorgesetztem, Di­
rektor Breitkopf, in ihrer Mischung aus menschenverachtendem
Zynismus und politischer Indolenz zynisch entlarvt wird. Ein
Fall von ideologischer Zensur, für den Kästner sich nach Er­
scheinen des amputierten Romankapitels revanchierte. Ein Jahr
später erschien der gestrichene Text erstmals als eigenständige
Erzählung mit dem Titel Der Herr ohne Blinddarm in einer re­
präsentativen Anthologie deutscher Prosaautoren, die Wieland
Herzfelde (1896-1988) herausgab (Dreißig neue Erzähler des
neuen Deutschland, Berlin 1932, S. 441-451), und in der Käst­
ner neben angesehenen Autoren wie Oskar Maria Graf (1894 bis
1967), Theodor Plievier (1892-1955), Friedrich Wolf (1888 bis
1953), Franz Carl Weiskopf (1900-195 5) u. a. vertreten war (vgl.

386 KOMMENTAR
Helga Bemmann: Erich Kästner. Leben und Werk. Berlin 1994,
S. 23 8 f.). In die spätere Gesamtausgabe (Gesammelte Schriften.
Bd. 2. Zürich 1959, S. 193-198) fügte Kästner die Episode als
vom Fabian getrennte Erzählung ebenfalls ein (vgl. III, 20$ bis
2/0). Alle übrigen Abweichungen zwischen Typoskript und
Erstausgabe werden kapitelweise dokumentiert.
3. Ebenfalls verzichtet Kästner - durch die Verlagsattacken offen­
bar zermürbt - auf den Druck der beiden inkriminierten Nach­
worte Fabian und die Sittenrichter und Fabian und die Kunst­
richter. Es sind Herzstücke des Romans, in denen der Verfasser
Idee, Absichten und episches Verfahren seines Werks erläutert.
Außerdem polemisiert er gegen die bigotte zeitgenössische Li­
teraturkritik, die er durch ein satirisches Selbstporträt aus den
Angeln hebt.

Die mit dem Typoskript identische Fassung Fabian und die Sitten­
richter erschien als Erstdruck in: Die Weltbühne, 43, 27.10.1931,
S. 642-643; später auch in der Gesamtausgabe von 1959 (vgl. III,
200). Das zweite Nachwort Fabian und die Kunstrichter, das bis­
lang als verschollen galt, fand sich im Erich-Kästner-Archiv. Es
wird in dieser Ausgabe erstmals gedruckt (vgl. III, 202).
Die zeitkritisch wie politisch entschärfte Erstausgabe des Ro­
mans erschien Ende Oktober 1931. Fabian wurde überraschend
zum Publikumserfolg. Binnen vier Wochen waren drei Auflagen
(15 000 Exemplare) verkauft, und im März 1932 erreichte der Ro­
man in der 5. Auflage das 25000 Ts. (AfwttcAen-Brief, 21.3.1932).
Auch das Interesse an Übersetzungsrechten war beträchtlich. In­
nerhalb von eineinhalb Jahren lag das Buch in neun Ländern vor: in
England, Frankreich, Italien, den Niederlanden, den USA, der So­
wjetunion, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei (vgl. Helga
Bemmann: Erich Kästner, a. a.O., S. 223).
Abgesehen von polemischen Angriffen der rechtsgerichteten
Presse, die dem Verfasser eine pessimistische und nihilistische Weit­
sicht vorwarf, reagierte die zeitgenössische Kritik überwiegend po­
sitiv. Monty Jacobs (Vossische Zeitung, 20.10.1931) bescheinigte
Kästner, das geistig-moralische Klima der Zeit exakt getroffen zu
haben. »Es ist nicht die Stimmung eines Einzelgängers, sondern der
gewaltigen Marschkolonne einer ganzen Generation. Daß sein Ro­
man einmal den Wert eines Dokuments haben wird, [...] ist Erich
Kästners Lohn.« Hermann Hesse (1877-1962) rühmte im Rahmen
einer kontroversen Zeitschriften-Debatte (Der Bücherwurm 2, Fe­

I. I AB1AN 387
bruar 1932) Herz, Verstand und Menschlichkeit der Titelfigur:
»Das Zeitgemäße konnte nicht zeitloser gesagt werden als hier, es
ist von Hölle und Irrenhaus die Rede, aber es klingt wie Musik, es
ist durch den Filter der Kunst gegangen und voll Anmut gewor­
den.« Die erzählerische Form, in de^der Lyriker Kästner zu spüren
ist, bemerkt als erster Kurt Pinthus: »Alle Personen sprechen nicht
berlinisch, nicht individuell, sondern alle sprechen wie Fabian, und
Fabian spricht wie der Dichter Kästner, der die blutende Wunde
seines zerrissenen [...] Herzens mit dem Heftpflaster der kühlen
Ironie zuklebt.« {Acht-Uhr-Abendblatt, Berlin, 22.12.1931) Und
Heinrich Mann (1871-1950) teilt Kästner in einem persönlichen
Schreiben mit, wie sehr ihn der Roman berührt habe (unveröffent­
lichter Brief vom 22.11.1931, Kopie im Erich-Kästner-Archiv;
vgl. III, 439). Die luzideste Kritik stammt von Hermann Kesten
{Abrechnung mit der Moral, in: Das Tage-Buch, 47, 21.11. 1931,
S. 1833-1834). Er arbeitet nicht nur die Ambivalenz der Titel­
figur heraus (»bei allem Pessimismus ist dieser schwache Held ein
starker Moralist«), sondern er zeigt, wie an einem Einzelschick­
sal die Tragödie einer ganzen Epoche und Generation versinnlicht
wird. Darin besteht für ihn Kästners eminente literarische Lei­
stung.
Unentschieden in ihren Urteilen - bei allem Respekt vor der Ge­
nauigkeit und Tiefenschärfe der Darstellung - sind Rudolf Arn­
heim {Die Weltbiihne, 47, 24.11.1931, S. 787-791), Alfred Kan­
torowicz {Der Querschnitt, Dezember 1931, S. 866) und Hans Na-
tonek {Neue Leipziger Zeitung, 15.11.1931). Ihr Hauptvorwurf
zielt auf den mangelnden epischen und historischen Zusammen­
hang einzelner Szenen sowie die fragmentarischen Beobachtungen
der Hauptfigur. Die Fabel sei nicht die Stärke des Romans (Nato-
nek), der Held werde nicht recht Fleisch, sondern diene nur dazu,
Teilgeschichten mittels seiner Person zu verknüpfen (Arnheim), die
einzelnen Kapitel hätten lediglich die Qualität wohlangelegter Ent­
würfe von Dramenszenen (Kantorowicz). Zwischen den Zeilen
macht sich bei allen drei Kritikern ein prinzipielles Unbehagen an
Fabians skeptischer Moralität bemerkbar, deren Wurzeln mit Zy­
nismus, Charakterschwäche und sentimentaler Resignation um­
schrieben werden. »Ein Moralist, der Pessimismus mit Moral ver­
wechselt«, lautet stellvertretend Natoneks Verdikt.
Kästner ist von der Rezension des Feuilleton-Chefs der Neuen
Leipziger Zeitung nicht eben begeistert: »Natonek hat den Fabian
halblapperig besprochen. Immer gelobt und dann wieder gebremst,

388 KOMMENTAR
er kann nun mal nicht aus seiner Haut heraus.« (AfnttcZien-Brief,
15. ii.1931)
Fast dreißig Jahre nach Erscheinen wurde Fabian unter der Re­
gie von Wolf Gremm verfilmt. Das Drehbuch stammt von Hans
Borgelt und Wolf Gremm. Die Hauptdarsteller waren Hans-Peter
Hall wachs (Fabian), Hermann Lause (Labude), Silvia Janisch (Cor­
nelia) und Mijanou van Baarzei (Irene Moll). Die Verfilmung war
künstlerisch ziemlich grobschlächtig, sie wurde dem Stil, Tempo
und Geist des Romans in keiner Weise gerecht. Dabei gebraucht
Kästner über weite Strecken filmästhetische Erzähltechniken wie
Montage, Wechsel von Nahaufnahmen und Totalen, schnelle Schnit­
te etc. Der Berlin-Roman, heute auf die Leinwand gebracht, wäre
von frappierender politischer Brisanz.
Die zwei Kästner-Ausgaben (Gesammelte Schriften. 7 Bände.
Berlin, Köln 1959 und Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bän­
de. München 1969) enthalten ein Vorwort des Verfassers vom Mai
1950, in dem er sich engagiert mit der Rezeptionsgeschichte des Fa­
bian auseinandersetzt. (Vgl. III, 440)

Erstes Kapitel
9 erfolglose Ministerpräsidentenwahl: Gemeint ist die schwieri­
ge Regierungsbildung in Sachsen nach der Landtagswahl vom
22. Juni 1930. Das Besondere dieser Wahl waren die enormen
Stimmengewinne der NSDAP, die sich von 5 Prozent (1929)
auf 14,4 Prozent steigern konnte. Alle anderen Parteien bis auf
die KPD (13,6 Prozent statt 12,8 Prozent) mußten Stimmenver­
luste hinnehmen. Die Wahl sollte sich als Vorbote der Reichs­
tagswahl vom 14. September 1930 erweisen mit erdrutscharti­
gen Gewinnen der NSDAP (107 Sitze) und beachtlichen Zu­
wächsen der KPD (76 Sitze), bei Verlusten fast aller anderen
Parteien. Im Sommer 1930 kam es in Sachsen zu wiederholten
Versuchen, einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Als
am 22. Juli die Wahl des früheren Finanzministers Weber von
der Wirtschaftspartei scheiterte, weil sich der Partner NSDAP
im letzten Augenblick verweigerte, titelte die Frankfurter Zei­
tung am 23. Juli auf Seite 2 des zweiten Morgenblattes: »Die
verworrene Lage in Sachsen. Wiederum ergebnislose Minister­
präsidentenwahl«.
Ruhrkohleabsatz: Ein Alarmsignal der wachsenden Wirt­
schaftskrise war die seit August 1930 täglich sinkende Kohle­

I. 1-A BI AN 389
förderung im Ruhrbergbau. Wegen der erforderlichen Feier­
schichten drohten Massenunruhen.
9 Clara Bow: Die Amerikanerin Clara Bow (1905-1965) war in
den 20er Jahren ein Star des Stummfilmkinos und eine typi­
sche Vertreterin der libertären jungen Generation der Nach­
kriegszeit, die durch ihren exzessiven und unkonventionellen
Lebenswandel auffiel. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere
Ende der 20er Jahre spielte sie in bis zu 14 Filmen in einem
Jahr. 1930/31 kam es durch Enthüllungen ihrer früheren Se­
kretärin Daisy De Voe zu einem Skandal um die Schauspiele­
rin. Popularitätsverlust und ein Nervenzusammenbruch wa­
ren die Folgen. Nach ihrer Heirat im Jahre 1931 versuchte sie
ein Comeback, das jedoch fehlschlug. 1932 zog sie sich aus
dem Filmgeschäft zurück.
Streik: Am 15. Oktober 1930 streikten 126 000 Metallarbeiter
gegen die beabsichtigte Herabsetzung der Mindesttariflöhne.
Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970) hatte kurz zu­
vor, unterstützt von Finanzminister Hermann Dietrich (1879
bis 1954) und Arbeitsminister Adam Stegerwald (1874-1945)
das neue Sanierungsprogramm seiner Regierung verkündet.
Nach wochenlangen Verhandlungen unter Einbeziehung eines
Schiedsgerichts für die Berliner Metallindustrie kam es zu ei­
ner Einigung. Die Gewerkschaft stimmte erstmals in ihrer Ge­
schichte einer Lohnsenkung von acht bzw. sechs Prozent zum
Januar 1931 zu.
Starhembergjäger: Eine von Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg
(1899-1956) Ende der 20er Jahre in Wien gegründete austro-
faschistische Kampforganisation, die aus den österreichischen
Heimwehren hervorging und für einen autoritären Ständestaat
eintrat. Starhemberg hatte 1923 am Hitlerputsch in München
teilgenommen. 1934 wurde er nach der Ermordung von Bun­
deskanzler Engelbert Dollfuß (1892—1934) Führer der Vater­
ländischen Front, die sich mit dem sogenannten Anschluß an
Deutschland 1938 auflöste.
10 Friedrich der Große: (1712-1786); preußischer König seit 1740,
der Preußens Großmachtstellung im 18. Jahrhundert begrün­
dete. Er war ein Freund der Künste und der französischen Phi­
losophie und korrespondierte jahrzehntelang mit Voltaire, der
ihn in Potsdam besuchte. Kästner beschäftigte sich während
seines Studiums mit der preußischen Geschichte, insbesonde­
re mit der von aufklärerischen Ideen bestimmten Politik Fried­

390 KOMMENTAR
richs II. 1925 promovierte Kästner in Leipzig zum Dr. phil.
mit der Arbeit Die Erwiderung auf Friedrich des Großen
Schrift >De la litterature allemande<. Untertitel: Ein Beitrag
zur Charakteristik der deutschen Geistigkeit um 1/80.
10 Die Stadt glich einem Rummelplatz: Über die Berliner Ver-
gnügungs- und Unterhaltungsindustrie sowie seine Beobach­
tungen in einschlägigen Etablissements und auf Jahrmärkten
und Hippodromen berichtete Kästner regelmäßig für die
Neue Leipziger Zeitung. Diese journalistischen Arbeiten dien­
ten Kästner als Material für seine Romanepisoden aus der Ber­
liner Subkultur.
Märchen: Anspielung auf das Märchen Die Sterntaler der Brü­
der Jacob und Wilhelm Grimm, in der ein kleines Mädchen das
Wenige, was es besitzt, Bettlern und Armen schenkt. »Und
wie cs so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die
Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler: Und
ob es gleich sein Hemdlein weggegeben hatte, so hatte es ein
neues an [...]. Da sammelte es sich die Taler hinein und war
reich für sein Lebtag.« (In: Die Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm. Hrsg. v. F. Panzer. Wiesbaden o. J. [Fassung
von 1812]).
11 Fabian, Jakob: Die Angaben zur Person Fabians stimmen im
wesentlichen mit denen des Autors überein. Kästner schrieb
den Roman mit 32, er war seit seiner Übersiedlung nach Ber­
lin 1927 freier Mitarbeiter für Zeitungen und Zeitschriften und
Berliner Korrespondent der Neuen Leipziger Zeitung. Nach
seiner Einberufung zum Militär 1917 zog er sich ein lebens­
langes Herzleiden zu (vgl. Kästners Gedicht Sergeant Wau-
rich: »Der Mann hat mir das Herz versaut / das wird ihm nie
verziehn«, I,
15 Telegramm: Die Idee, daß Fabian ein Telegramm an sich sel­
ber schickt, wird Kästner 1940 in variierter Form aufgreifen:
in den nicht-fiktiven Briefen an mich selber (III, 325-332).

Zweites Kapitel
16 Megäre: In der griechischen Mythologie ist Megäre, die Nei­
dische, eine der drei Erinnyen, der göttlichen Rächerinnen von
Freveln und Bluttaten. Alltagssprachlich: ein böses Weib.
19 »von deren Inhalt Sie [...] sich [...] keine Vorstellung machen
können«: Die folgende Äußerung des Rechtsanwalts Moll

1. i abian 391
»Mir wuchs der Unterleib meiner Frau sozusagen über den
Kopf« (Typoskript, S. 16) wurde von Kästner in der Erstaus­
gabe und allen späteren Druckfassungen eliminiert. Die Strei­
chung geht vermutlich auf die verlegerische Intervention in
Sachen Anstößigkeit zurück.
20 Gegen die Leistung: Abweichend im Typoskript: »Gegen die
Fähigkeit«. (S. 17)
23 Wen suchen Sie denn?: Der so beginnende Absatz bis zum
Ende des zweiten Kapitels ist im Typoskript nicht enthalten,
dagegen in allen AiZzMW-Ausgaben. Kästner fügte die erste Be­
gegnung Fabians mit dem politischen Redakteur Münzer hier
ein, um so die Neufassung des dritten Kapitels vorzubereiten.

Drittes Kapitel
Dieses Kapitel schrieb Kästner (wohl auf Druck des Verlags) für die
Erstausgabe vollkommen neu. Da das Manuskript im Erich-Käst-
ner-Archiv nicht vorliegt, bleibt ungeklärt, ob es sich um die Ori­
ginalversion handelt, oder ob Kästner auch hier zu Änderungen
veranlaßt wurde. Nur geringe Teile des Typoskripts vom dritten
Kapitel konnte Kästner aufgrund der neuen Komposition ins vier­
te Kapitel der Erstausgabe hinüberretten.
Abweichend von der Erstausgabe lauten die handschriftlichen
Unterkapitel im Typoskript: »Vorgesetzte sind streng, aber ge­
recht/Ein ehemaliger Blinddarm erregt Aufsehen / Gibt der Klü­
gere nach?« (3. Kapitel, S. 21). Insgesamt fielen zwei Drittel derTy-
poskriptfassung dieses Kapitels den erforderlichen Streichungen
zum Opfer, wobei die für den Druck verweigerte Blinddarm-Vpi-
sode den größten Anteil ausmacht (vgl. III, 205-210). Die nicht
veröffentlichten Kapitelabschnitte werden nachfolgend zitiert. So
beginnt das 3. Kapitel. (S. 22-23):

Natürlich kam Fabian zu spät ins Büro. Direktor Breitkopf stand,


wie immer, und als wäre er nie krank gewesen, im Korridor. Er
zog, als er des Propagandisten ansichtig wurde, die goldne Uhr
aus der Weste und sagte: »Ihre Uhr geht vermutlich falsch?«
»Das wollen wir nicht hoffen, Herr Direktor«, gab Fabian zur
Antwort, beugte sich interessiert über die Uhr des Chefs, holte
die eigne aus der Tasche, verglich gewissenhaft die Zeiten und er­
klärte: »Ihr Vorwurf trifft mich zu Unrecht. Meine Uhr geht
richtig!«

392 KOMMENTAR
»Ich wollte Ihnen nur einen plausiblen Entschuldigungsgrund in
die Hand geben.« Breitkopfs Stimme vibrierte.
»Das geht entschieden zu weit«, meinte Fabian höflich, aber be­
stimmt. »Wohin soll das führen, wenn Sie jedem Angestellten,
der zu spät kommt, Entschuldigungen soufflieren, Herr Direk­
tor?« Er schüttelte bekümmert den Kopf.
»Ich fürchte, Sie werden unverschämt!« rief der Direktor.
»Wer wird denn gleich ans Äußerste denken, Herr Direktor«,
sagte Fabian, ließ den dicken Mann stehen und ging den Korri­
dor entlang, an vielen Türen vorbei, in sein Zimmer.
Fischer, der alberne Kollege, war schon beim zweiten Frühstück.
»Vom Alten geschnappt worden?« fragte er neugierig.
»So ziemlich.«
»Woran liegt das bloß, daß Sie nie pünktlich sind?«
»Die Menschheit zerfällt«, dozierte Fabian, »in zwei Katego­
rien.«
»In Männer und Frauen.«
»Ihre unsittliche Unterscheidung ist, an meiner Einteilung ge­
messen, nebensächlich. Die Menschheit zerfällt in Frühaufsteher
und Langschläfer. Ich gehöre zu der zweiten Sorte. Guten Mor­
gen, Herr Fischer!«
»Guten Morgen.«
»Ein moderner Kinderphysiologe hat sich meine Ansicht, ohne
sie zu kennen, zu eigen gemacht und fordert deshalb die Verle­
gung des Schulbeginns auf neun Uhr. Die Langschläfer sind,
trotz Fleiß und Ehrgeiz, in den zeitigen Morgenstunden arbeits­
unfähig. Testprüfungen haben es bestätigt.«
Den anschließenden Dialog zwischen Fabian und seinem Redak­
tionskollegen Fischer integrierte Kästner, wie erwähnt, ins vierte
Kapitel der Erstausgabe (vgl. III, j y), wobei er allerdings folgenden
Abschnitt eliminierte (Typoskript, 3. Kapitel, S. 24):
Da erschien Direktor Breitkopf im Türrahmen, nickte milde und
sagte zu Fabian, der unermüdlich den Kölner Dom fixierte:
»Wozu wollen wir uns streiten, mein Lieber?«
»An mir hat es nicht gelegen, Herr Direktor.«
»Schwamm drüber! Ihr Prospekt für Detailhändler hat außer­
ordentlich gefallen. Ich weiß es von mehreren Direktionsmit­
gliedern. Sie haben Phantasie und Geschmack, wird behauptet.
Ihre Fähigkeit, durch Text Interesse zu wecken, sei beträchtlich.«

I. FABIAN 393
Das Wegfällen der höhnischen Pointe am Schluß der Blinddarm-
Episode geht offenbar aufs Konto der verlegerischen Eingriffe.
Dieser Passus ist in keiner Fabian-Ausgabe enthalten und lautet
(3. Kapitel, S. 28):

Der Direktor nickte, wurde noch röter, schob den Riegel zurück,
riß die Tür auf, trat hinaus und warf sie zu.
»Da wackelt die Wand«, bemerkte Fabian und widmete sich er­
neut der Betrachtung des Kölner Doms und der daneben errich­
teten Zigarette.
Fischer schlug, nachträglich, die Hände überm Kopf zusammen
und rief: »Mensch, das grenzt ja an Majestätsbeleidigung. Dafür
wurde man früher eingesperrt.«
»Dafür wird man heute ausgesperrt«, sagte Fabian.
»Na, Sie haben ja vorgebeugt. Er hat sicher eine Heidenangst, Sie
könnten, wenn er Sie rausschmeißt, weitererzählen, daß er die
Mädchen vom Büro langlegt. Ich dachte, ihn trifft der Schlag. Sie
sind ein freches Luder! Aber was machen Sie, wenn er Ihnen
trotzdem kündigt?«

Hierauf folgt im Typoskript der weitere Dialog zwischen Fabian


und seinem Kollegen Fischer, der im vierten Kapitel der Erstausga­
be enthalten ist (vgl. III, 36-37).

24 Rede des Reichskanzlers: Heinrich Brüning wurde nach dem


Rücktritt des Kabinetts der Großen Koalition unter Hermann
Müller (1876-1931) am 28. März 1930 Reichskanzler eines
Kabinetts der bürgerlichen Mitte ohne parlamentarische Mehr­
heit. Gemeint ist seine Wahlkampfrede vom 9. September 1930
auf einer Großkundgebung der Zentrumspartei im Berliner
Sportpalast. Sie steht nicht nur in zeitlicher Nähe zu der im
Roman angesprochenen Genfer Konferenz (vgl. III, 28), son­
dern ist auch die einzige aufsehenerregende Rede, die Brüning
vor seiner Regierungserklärung im Oktober gehalten hat. Er
legte hier ein klares Bekenntnis zur Demokratie ab und sah de­
ren größte Gefährdung in der schlechten wirtschaftlichen
Lage. Nachdrücklich wehrte sich Brüning gegen den Vorwurf,
er wolle eine Diktatur errichten.
27 Die Regierung: Hintergrund des Dialoges zwischen Fabian
und dem Redakteur Münzer ist: Die Regierung Brüning war
als erstes Reichskabinett der Weimarer Republik an keine Re­
gierungskoalition gebunden. Brüning regierte mit Hilfe von

394 KOMMENTAR
Präsidialkabinetten und setzte entscheidende Maßnahmen zur
Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstän­
de mit Hilfe von Notverordnungen in Kraft, die Reichspräsi­
dent Paul von Hindenburg (1847-1934) erließ.
28 deutschen Minderheit in Polen: Gemeint ist die Genfer Kon­
ferenz des Völkerbundes vom September/Oktober 1930. Dort
kam es auf Antrag der deutschen Delegation zu einer heftigen
Aussprache über die polnischen Übergriffe auf die deutsche
Minderheit in Oberschlesien. Anschließend folgte ein Rede­
duell zwischen dem deutschen Außenminister Julius Curtius
(1877-1948) und seinem polnischen Amtskollegen August
Zaleski (1883-1972), der indes die deutschen Anträge ablehn­
te. Erst nach einer Intervention Brünings beim Völkerbund im
Januar 1931 erreichte er eine Verurteilung Polens durch das in­
ternationale Gremium.
ostelbischen Großgrundbesitzern Zollerhöhungen in Aussicht
gestellt: Reichsernährungsminister Martin Schiele (1870 bis
1939) war ein Interessenvertreter der Landwirtschaft. Er be­
trieb im Rahmen seines besonders auf den Osten gerichteten
Agrarprogramms eine Stützungspolitik der Getreidepreise.
Nachdem der gezielte Aufkauf den Preisverfall nicht verhin­
dern konnte, erhöhte die Regierung im Herbst 1930 verschie­
dene Getreidezölle, die zum Teil ein Vielfaches des Weltmarkt­
preises betrugen.
30 kurzfristige Anleihen: Die Ausweitung der Anleihen war eine
Folge der Deflationspolitik Brünings. Die Regierung verband
mit der drastischen Reduzierung der Staatsausgaben die Auf­
forderung an die Betroffenen, sich das fehlende Geld am Ka­
pitalmarkt zu verschaffen.
Der Staat unterstützt den unrentablen Großbesitz. Der Staat
unterstützt die Schwerindustrie: Anspielung auf die gängigen
Schlagworte, mit denen die politische Linke die Regierung zu
kritisieren pflegte.
Schwund der Massenkaufkraft durch Steuern: Neben der Sen­
kung der Staatsausgaben war die Erhöhung von Steuern und
Abgaben die zweite Säule der Deflationspolitik Brünings. Sein
Versuch, im Juli 1930 eine allgemeine Bürgersteuer (6 Mark
jährlich für jedermann) einzuführen, stieß auf Ablehnung ei­
ner Mehrheit im Parlament unter Führung der Sozialdemo­
kraten. Folge war der Erlaß einer Notverordnung des Reichs­
präsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) zur Durchset­

I. FABIAN 395
zung dieser Maßnahme, die das Parlament jedoch ablehnte.
Nach der Abstimmungsniederlage gab Brüning die Auflösung
des Reichstags durch Hindenburg und einen Termin für Neu­
wahlen bekannt. Der Übergang von der »verdeckten« zur »of­
fenen« Präsidialregierung war damit vollzogen.
30 Hat der Wahnsinn etwa keine Methode?: Anspielung auf Shake­
speares Hamlet (II, 2): »Though this be madness, yet there is
method in’t«; »ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode«.
31 einige Zeitgenossen besonders niederträchtig: In der Erstaus­
gabe ist das Urteil schärfer formuliert: »Wir werden nicht dar­
an zugrundegehen, daß einige Zeitgenossen besonders nieder­
trächtig sind und nicht daran, daß andere besondere dämlich
sind.« (S. 44) Der Zusatz fehlt in allen sonstigen Werkaus­
gaben. Kästner greift hier stellvertretend die Dummheit seiner
Zeitgenossen im Zusammenhang mit ihrer Amoralität an.
32 Es ist der Geist, der sich den Körper baut: Anspielung auf Fried­
rich Schillers Trauerspiel Wallensteins Tod (1799). In Wallen­
steins Monolog heißt es: »Noch fühl ich mich denselben, der
ich war! / Es ist der Geist, der sich den Körper baut« (III, 13).
33 Montecuccoli: Italienisch-österreichisches Adelsgeschlecht aus
Modena. Bekannt ist Graf Raimund von Montecuccoli (1609
bis 1680), der 1625 in den österreichischen Kriegsdienst trat
und neben dem französischen Marschall Henri de Turenne
(1611-1675) als der bedeutendste Militärschriftsteller des
17. Jahrhunderts gilt. Nur im Brockhaus von 1932 findet sich
außerdem der Sproß einer Nebenlinie, Graf Rudolf von Mon­
tecuccoli degli Erri (geb. 1843). Er befehligte u.a. die öster­
reichische Flotte in Ostasien während des Boxeraufstandes
(1899-1901). »Schweinereien« beider Herren konnten nicht
ermittelt werden.
34 Daumier: Honore Daumier (1808-1879), französischer Kari­
katurist und Maler. Den Ruhm des überzeugten Republika­
ners begründeten seine politischen Karikaturen und gesell­
schaftskritischen Darstellungen, zu denen die Zeichnung Der
Fortschritt zählt.

Viertes Kapitel
Abweichend von der Erstausgabe fehlt im Typoskript das erste Un­
terkapitel. Statt dessen heißt das dritte handschriftliche Unterkapi­
tel, das schwer zu entziffern ist, vermutlich Der verirrte Autobus.

396 KOMMENTAR
3 j Den Anfang des vierten Kapitels verfaßte Kästner im Zuge der
revidierten bzw. gekürzten Textpassagen neu. Ein Typoskript
existiert nicht.
Fischer rutschte unruhig: Die Unterredung zwischen Fischer
und Fabian stammt aus dem dritten Kapitel des Typoskripts,
S. 23/24.
Er tat seine Pflicht, obwohl er nicht einsah, wozu: Die knappe
Schilderung von Fabians Distanz gegenüber seinem politisch
indifferenten und angepaßten Kollegen fügte Kästner hier neu
ein. Der im Typoskript nicht enthaltene Zusatz reicht bis zur
Frage Fischers: »Wenn man Sie hier vor die Tür setzt?« (III,36)
Anschließend übernimmt Kästner aus der Typoskriptfassung
Fabians zynische Attacken auf den Kollegen Fischer (III,
27-29). Sie enden in der Erstausgabe mit Fabians Bemerkung:
»Sie merken alles« (III, 37).
36 Inflation: Im Sommer und Herbst 1923 erreichte die Inflation -
Folge der astronomischen Verschuldung des Deutschen Reichs
mit 154 Milliarden Mark, u.a. durch Kriegsanleihen, Repa­
rationszahlungen an die Siegermächte und durch den Ruhr­
kampf - groteske Höhepunkte. Anfang Oktober kostete ein
Liter Milch 5,4 Millionen Mark, im November bereits 360 Mil­
liarden Mark. Die Geldentwertung galoppierte derart voran,
daß jeder versuchte, ohne Bargeld auszukommen und Güter
nur noch gegen Güter zu tauschen (vgl. Hagen Schulze: Wei­
mar. Deutschland 1917-7933. Berlin 1982, S. 38). Mitte Novem­
ber 1923 endete die Inflation durch Ausgabe der Rentenmark.
Börsenpapiere verwaltet: Während seiner Leipziger Studien­
zeit arbeitete Kästner im Nebenjob als Buchhalter bei einer
Städtischen Baugesellschaft, wo er den täglich wechselnden
Wert der Firmenaktien ausrechnen mußte. Darüber schrieb er
eine satirische Glosse Max und sein Frack, die das Leipziger
Tageblatt (es ging 1926 in den Besitz der Neuen Leipziger Zei­
tung über) veröffentlichte. Richard Katz, Verlagsdirektor, en­
gagierte den journalistisch begabten Studenten auf der Stelle.
Dank der Inflation wurde Kästner 1923 im Nebenberuf Zei­
tungsredakteur mit einem Anfangsgehalt von 200 Mark (vgl.
Muttchen-H>r\e(, 4. 2.1923).
Heinrich von Kleist: (1777-1811), Dramatiker, Erzähler und
Lyriker zwischen Klassik und Romantik. Der zerbrochne
Krug ist eine der wenigen gelungenen deutschen Komödien. -
Wie Fabian spottet auch der Lyriker Kästner im Gedicht Die

. FABIAN 397
Entstehung der Menschheit über die Dummheit seiner Zeitge­
nossen: »Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,/daß
Cäsar Plattfüße hatte« (vgl. I, 17
36 beim Messeamt Adressenschreiber: Hier greift Kästner auf ei­
gene Erfahrungen zurück. Während der Leipziger Messe ver­
diente der Student sich 1922/23 als Adressenschreiber beim
Messeamt etwas Geld.
37 Fabian [...]Direktor Breitkopf: Die knappe Unterredung zwi­
schen Fabian und Direktor Breitkopf ist im Typoskript nicht
enthalten; ausgenommen der stilistisch etwas veränderte Satz:
»Ihr Prospekt für Detailhändler hat außerordentlich gefallen.«
(3. Kapitel, S. 24)
Als er sein Zimmer [...] betrat: Damit beginnt das vierte Kapi­
tel im Typoskript. Bevor Fabian den Brief der Mutter liest,
entnimmt er den Zeitungsberichten Meldungen über Überfäl­
le und Morde jugendlicher Banden. Diese Beschreibung muß­
te in der Erstausgabe und allen sonstigen Druckfassungen ent­
fallen. Sie lautet im Typoskript (4. Kapitel, S. 32-33):
er überflog die Zeitung: Ein sechzehnjähriges Mädchen war ver­
haftet worden. Sie hatte eine Bande junger Burschen organi­
siert, zum Stehlen angehalten, mit allen zehn Jungen geschla­
fen und alle zehn angesteckt. Ein Uhrmacher aus dem Norden
war vor einer Woche von zwei Mitgliedern der Bande im Bett
erstickt worden. Olga, die Sechzehnjährige, hatte nackt dane­
ben gelegen und ein Küchenbeil, für alle Fälle, bereitgehalten.
Der Mann war fünfzig Jahre alt gewesen, viele Mädchen der
Gegend hatten ihn gekannt. Er hatte sie alle im Bett gehabt und
nackt photographiert. Die Photos waren beschlagnahmt und
ein Schrank voller Seidenwäsche, Strumpfbänder und Strümp­
fe war gefunden worden.
Olga hatte die Freunde am Abend, eine Stunde vor dem Mord,
eingelassen. Diese Stunde hatte man gebraucht, ehe der Uhr­
macher, mit dem Gesicht in die Kopfkissen gedrückt, erstickt
war. Dann hatten sie sein Geld und die von ihm sorgfältig an
mehreren Stellen der Wohnung versteckten Schmucksachen
geraubt.
Übrigens sei, teilte das Polizeipräsidium mit, das Mädchen
schwanger, im fünften Monat. Gestanden hätten sie. Bereut
hätte niemand.
Fabian warf die Zeitung in den Papierkorb.

398 KOMMENTAR
38 nahm den Brief seiner Mutter: Die folgenden Schilderungen
bis zum Ende des vierten Kapitels der Erstausgabe (S. 44)
stimmen wörtlich mit dem Typoskript überein (4. Kapitel,
S. 33-39; vgl. III, 38-43). Entfallen ist lediglich in der Typo­
skriptfassung der Schlußsatz des 4. Kapitels (III, 43).
Wenn Du mir [...] Geld in den Brief steckst: Wie die Titelfigur
schrieb ihr Verfasser fast täglich Briefe und Karten an seine
Mutter. Und oft fügte er Ida Kästner Geldscheine bei (vgl.
Muttchen-Priele, 22.7.1931, 21.3.1932, 6.6.1935).
39 wenn wir den Rucksack nahmen: Der fiktive Brief der Mutter
beruht in allen Details auf realen Begebenheiten, die Kästner
in seiner Autobiographie Als ich ein kleiner Junge war (1957)
festgehalten hat. So bezieht sich etwa die Erinnerung an ge­
meinsame Wanderungen auf eine wunderbare Kindheitsepiso­
de, die ausführlich beschrieben ist (vgl. VII, 133-142).
zusehen und ratenweise verzweifeln: In Kästners Autobiogra­
phie heißt es: »Meine Laufbahn als Zuschauer begann sehr
früh [...]. Als Zuschauer bin ich nicht zu übertreffen.« (VII, 77)
Zur Übereinstimmung zwischen der Titelfigur und ihrem Au­
tor vgl. III, 379-381.
41 Descartes: Rene Descartes (1596-1650), französischer Philo­
soph und Mathematiker; Begründer der neuzeitlichen Philo­
sophie, die das Subjekt zum Fundament jeder Erkenntnis
erklärt. »Cogito, ergo sum«, »Ich denke, also bin ich« ist die
erste Gewißheit der Metaphysik, auf der alle übrigen Gewiß­
heiten ruhen. Descartes erörtert sie in seiner Schrift Discours
de la methode (1637), Abhandlung über die Methode. - Des­
cartes’ Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie
(1641) setzen seinen Discours fort. Kästner-Fabian zitiert dar­
aus Reflexionen über den »methodischen Zweifel«. (In: Me­
ditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hrsg. v. Lü-
der-Gäbe u. a. Stuttgart 1976.)
Driesch: Hans Driesch (1867-1941), Biologe und Professor
der Philosophie in Leipzig, bei dem Kästner im Winterseme­
ster 1923/24 die Vorlesung »Geschichte der Philosophie von
Descartes bis Leibniz« hörte. Als Gegner des mechanistischen
Weltbilds vertrat Driesch eine vitalistische Lehre, wonach das
Entstehen von Leben durch Chemie und Physik nicht hinrei­
chend erklärbar sei.
Dreißigjährigen Krieg: (1618-1648); er begann als Religions­
krieg in Deutschland und weitete sich durch politische Macht­

I. FABIAN 399
interessen zu einem europäischen Krieg aus, der mit dem
Westfälischen Frieden 1648 beendet wurde. - Descartes hatte
1618 in den Niederlanden eine militärische Ausbildung absol­
viert, sich aber nicht, wie Fabian-Kästner meint, am Krieg be­
teiligt.
42 Revolution in der Einsamkeit. In Holland: Hinweis auf Des­
cartes’ Emigration nach Holland im Herbst 1628 aus Furcht
vor Schwierigkeiten mit Theologen, denen seine Theorien su­
spekt waren. In ländlicher Einsamkeit, »Tulpenbeete vorm
Haus«, verbrachte Descartes dort die nächsten 20 Jahre.
dem Reisenden mit starkem Frauenverbrauch: Grundzug des
Fabian ist, daß dem Romancier immer wieder der Lyriker Erich
Kästner in die Quere kommt. Ein Porträt des fiktiven Han­
delsreisenden Tröger findet sich etwa im Gedicht Möblierte
Melancholie (vgl. I, //2).Teile des Romans lesen sich wie Ver­
se in Prosa. Formulierungen wie »Das Schicksal hatte Aus­
gang« (III, 14), »Sogar die Bäume hatten Sorgen« (III, 93),
»Der Globus hat die Krätze« (III, 103), »Die Telegrafenstan­
gen machten Kniebeugen« (III, 179) u.s.f. stammen aus der
Feder des Lyrikers.
Lessing: Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Dramatiker,
Kunsttheoretiker, literarischer Repräsentant der deutschen
Aufklärung. Kästner hatte ursprünglich über Lessings Ham­
burgische Dramaturgie (1767-1769) promovieren wollen.
Der Dichter »mit der streitbaren Feder« wurde Vorbild des
Lyrikers und Essayisten Kästner. Vgl. sein Gedicht Lessing-.
»Er schlug den Feind mit Worten nieder,/und keinen gab’s,
den er nicht zwang« (I, 232). Über sich selber bekennt Kästner
in Anspielung auf Lessing: »Er ist ein Moralist. Er ist ein Ra­
tionalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung.« (II, 326)
Und 1958 nennt er den »alten Sachsen« einen »Mann mit dem
Herzen im Kopf«, er komme aus dem »Nicht mehr« und mar­
schiere ins »Noch nicht«; wie Lessing sieht Kästner sich als
Schriftsteller »zwischen zwei extremen Epochen«.
43 zur Autobushaltestelle: Hier folgt im Typoskript Fabians Bus­
fahrt mit Labude durch Berlin. Sie bildet dort das Ende des
vierten Kapitels und blieb bislang unveröffentlicht. Zu mut­
maßen ist, daß der Verlag die Verhöhnung der Berliner Kul­
turdenkmäler zurückwies. Der Abschnitt lautet (4. Kapitel,
S. 39-42):

400 KOMMENTAR
Der Wagen war voll. Sie mußten stehen. Plötzlich fragte La­
bude sehr laut: »Was ist das für ein Gebäude, Jonathan?« und
zeigte auf den Dom. Fabian blickte ihn erstaunt an. Der Freund
kniff ein Auge zu. Aha, er wollte wieder einmal, wie früher,
Unfug stiften. Sein Galgenhumor kam ins Rollen.
Fabian zeigte auf den Dom: »Das da? Das ist die Hauptfeuer­
wache.«
»Was ist das?« fragte der Andere und hielt die Hand ans Ohr.
Er stellte sich auch noch schwerhörig.
»Die Hauptfeuerwache!« schrie Fabian.
Labude nickte lächelnd und meinte: »So, so. Freilich. Ich hät­
te es mir denken können.«
Die Insassen des Wagens sahen zum Fenster hinaus, schauten
sich betroffen an und musterten die beiden jungen Männer be­
denklich. Der Wagen hielt. Der Wagen fuhr weiter. »Und das
da?« Labude zeigte auf die Universität.
»Das ist eine Anstalt für schwachsinnige Kinder!«
Der Andere nickte freundlich dankend und sagte: »Schön ha­
ben sie’s hier, die kleinen Idioten.« Humanes Lächeln vergol­
dete seine Züge. Die Fahrgäste wurden unruhig. »Ist ja ein
Riesengebäude, Jonathan«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Ja, der Schwachsinn ist hier sehr verbreitet. Da kommt übri­
gens das Rathaus.« Fabian zeigte auf die Staatsbibliothek.
»Das Rathaus? Liegt so still, nicht?«
»Die Herren vom Magistrat sind viel unterwegs. Ein paar er­
holen sich in der Schweiz, ein paar lassen sich operieren, und
die Mehrzahl hat Gerichtsferien.« Ein Fahrgast lacht durch die
Nase. Die Übrigen scheinen tief gekränkt.
»Wir stören die Herrschaften. Du mußt leiser sprechen«, brüll­
te Labude.
»Jawohl Vereingetorix ...!« rief Fabian, »ich fürchte nur, du
verstehst mich dann nicht.«
Der blonde Freund lächelt gewinnend. »Ganz wie du wünschst.
Du kennst die Stadt ja wie deine Westentasche. Findest du nicht
auch, daß sich mein Gehör verbessert hat?«
»Ganz bedeutend gebessert«, sagte Fabian.
»Ja. Fleischessen bekommt mir nicht. Der Arzt riet davon ab.
Es erzeuge Rheumatismus.«
Die Fahrgäste hockten versteinert. Man hatte den Eindruck,
sie versäumten vor Empörung ihre Haltestellen. Der Autobus
fuhr durchs Brandenburger Tor.

-ABI AN 401
»Wer wohnt denn hier?« fragte Labude und zeigte auf die ver­
witterten Säulen.
»Das ist ein Verkehrsturm!«
»Und die Pferdchen obendrauf?«
»Ein Denkmal für die letzten Droschken.«
»Interessant, der Kutscher hat fast nichts an.«
»Das ist symbolisch zu verstehen«, brüllte Fabian. »Wegen der
Steuern.«
Ein ernster würdiger Herr mit Kneifer hustete und wurde
blau. Eine dicke Dame rutschte auf ihrem Sitz hin und her, als
werde sie geröstet, und sagte aufklärend zu Labude: »Das Bran­
denburger Tor.«
Er lächelte ihr zu und rief: »Verzeihung, gnädige Frau. Hat es
sehr weh getan?«
»Das Brandenburger Tor!« schrie die dicke Dame, und Tränen
füllten ihre Augen.
»Mein Gott, muß ich sie getreten haben«, sagte Labude zu Fa­
bian. Dieser hatte große Lust auszusteigen und antwortete:
»Wir sind gleich da.«
»Was stellt das dar?« fragte Labude und zeigte auf den Tier­
garten.
In dem Moment erhob sich jemand, fuchtelte Fabian mit dem
Schirm vor der Nase herum und brüllte: »Wenn Sie ihm jetzt
erzählen, das sei die Nationalgalerie, dann haue ich Ihnen
Eins hinter die Ohren, daß Sie taubstumm werden. Verstan­
den?«
»Danke schön!« Labude verbeugte sich freundlich und wohl­
erzogen vor dem schäumenden Herrn.
»Aber beruhigen Sie sich doch«, sagte Fabian, »ich werde doch
noch wissen, daß dies das Tempelhofer Feld ist.«
Plötzlich waren alle Sitzplätze frei, sämtliche Fahrgäste waren
aufgesprungen und schrien wütend durcheinander. Labude
setzte sich und lächelte.
»Bei dem Dom ging dieses Affentheater los!« kreischte ein blas­
ses Fräulein.
»Und die Universität wäre eine Anstalt für schwachsinnige
Kinder!«
»Und die Staatsbibliothek wäre das Rathaus!«
»Und das Brandenburger Tor wäre ein Verkehrsturm!« brüll­
te die dicke Dame und trocknete gerührt ihre Tränen.
Fabian trat auf die Plattform. »Herr Ober«, sagte er zu dem

402 KOMMENTAR
Schaffner, »wollen Sie, bitte, die Herrschaften im Wagen zur
Ordnung rufen«, und sprang ab.
An der nächsten Haltestelle wartete Labude schon. »War sehr
nett«, erklärte er. »Welch ein Temperament! Ein prächtiges
Volk! Aber sie wissen alles besser.« Sie gingen die Budapester
Straße entlang. An der Voßstraße trat Labude an ein warten­
des Auto und fragte die darin sitzende, von kleinen schnee­
weißen Pekinghündchen umgebene Dame: »Können Sie mir,
bitte, sagen, wie spät es ist?«
»Ich habe keine Uhr bei mir«, antwortete sie streng.
»Schade«, sagte Labude und blieb neben ihr stehen.
Da trat Fabian vor ihn hin, zog den Hut und fragte: »Können
Sie mir, bitte, sagen, wie spät es ist?«
»Einen Augenblick!« Labude holte seine Uhr aus der Tasche
und sagte: »Sieben vor Acht, mein Herr!«
»Danke schön«, antwortete Fabian, hakte bei dem Freund un­
ter und beide gingen langsam zum Potsdamer Platz.
»Das war Frau Generaldirektor Roth«, sagte Labude. »Mor­
gen früh weiß es meine Mutter. Nein, ich glaube, sie ist ver­
reist.«

Fünftes Kapitel
46 das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern: Zur
Kontroverse Fabian-Labude, vgl. III, J74.
Arbeitslose: Im Dezember 1930 stieg die Zahl der Arbeitslosen
in Deutschland auf knapp vier Millionen. Im Februar 1931
wurden bereits 4,9 Millionen Erwerbslose gemeldet. - In der
Anmerkung zum Gedicht Das Riesenspielzeug spricht Käst­
ner von mehr als einer Million jugendlicher Erwerbsloser vor
033 (vgl. I, 189).
Blücher: Gebhard Leberecht Blücher (1742-1819), seit 1813
preußischer Generalfeldmarschall, nachdem er als Oberkom­
mandeur der Schlesischen Armee zusammen mit Generalstabs­
chef August Wilhelm von Gneisenau (1760-1831) in der Völ­
kerschlacht bei Leipzig 1813 Napoleon I. besiegt hatte. 1813/14
überquerte er mit seinen Truppen bei Kaub den Rhein und
trieb die Napoleonische Armee nach Paris zurück. In der
Schlacht bei Waterloo 1815 warf er Napoleon endgültig nie­
der.
49 Potiphar: Ägyptischer Hofbeamter des Pharao, dessen Frau

I. FABIAN 403
Josef, den Urenkel Abrahams, zu verführen suchte. »Weil Jo­
sef sehr schön war, zog er die Blicke von Potiphars Frau auf
sich. Eines Tages forderte sie ihn auf: »Komm, schlaf mit mir!»
Josef wies sie ab.« (i Mos 39)

Sechstes Kapitel
51 Schulze-Delitzsch: Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883),
Sozialpolitiker, Begründer des deutschen Genossenschaftswe­
sens, der maßgeblich an der Genossenschaftsgesetzgebung be­
teiligt war.
Ein kleines schwarzes Boot[...]trieb den Fluß entlang: Im Ty­
poskript steht der Zusatz: »der noch schwärzer war als das
schwarze Boot auf ihm. Niemand schien zu steuern.« (S. 55)
52 ich warte wieder, wie damals im Krieg: Zu Fabians Kriegser­
lebnissen vgl. Kästners Gedichte Jahrgang 1899 und Kurzge­
faßter Lebenslauf (vgl. /, 9, tj6).
die Krise nimmt kein Ende: Im Typoskript steht statt dessen:
»die Inflation nimmt kein Ende« (S. 56).
54 Ein krankes Herz dabei erwischt: Zu Kästners Herzleiden in­
folge seines Militärdienstes: vgl. Anmerkung zu III, 11.
y? politische Schießereien: Nach den Reichstagswahlen vom
14. September 1930, die einem politischen Erdrutsch glichen,
kam es, nicht nur in Berlin, zu vermehrten Straßenschlachten
zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Furcht vor
wirtschaftlicher Verelendung und Untergangsstimmung mach­
ten sich breit. »Die Demokratie verschwindet tief unten; der
Aufstieg in die Stratosphäre beginnt«, schrieb Carl von Os­
sietzky (1889-1938) im selben Jahr in der Weltbiihne.
Kabarett der Anonymen: Im Artikel Das Kabarett der >Un-
möglichen< (Neue Leipziger Zeitung, 30.6.1928) schildert Käst­
ner das zwielichtige Milieu der Schauspieler und Sänger in der
Berliner Katakombe »Toppkeller«: »Die Wände sind mit quat-
schigen und unanständigen Inschriften beschmiert, die man
hier nicht wiedergeben kann [...]. Hier sollen nur Bluff und
Geld gemacht werden [...]. Was geboten wird, taugt nicht das
mindeste. Aber es ist frech und vorlaut« (vgl. VI, 14J). Käst­
ners Beschreibungen im Fabian (III, 5 8ff.) beruhen zum Teil
auf diesem Artikel.

404 KOMMENTAR
Siebentes Kapitel
61 Den letzten Zweifel: Statt dessen im Typoskript: »den leisesten
Zweifel« (S. 68).
62 Caligula: Römischer Kaiser (12-41 n.Chr.); Caligula hieß ei­
gentlich Iulius Cäsar Germanicus, als Caligula (deutsch: Sol­
datenstiefel) ging er in die Geschichte ein. Nach dem Tod von
Kaiser Tiberius errichtete er in Rom eine Schreckensherr­
schaft, seine Gegner ließ er foltern und auf grausame Weise öf­
fentlich hinrichten.
64 geteiltes Leid: »Geteiltes Leid ist halbes Leid«, seit Mitte des
18. Jahrhunderts gebrauchtes Sprichwort, das ursprünglich
hieß: »Geteilte Freud’ ist doppelte Freude, / Geteilter Schmerz
ist halber Schmerz.«

Achtes Kapitel
67 der Große Kurfürst: Friedrich Wilhelm I. (1620-1688), Kur­
fürst von Brandenburg (seit 1640). Seinen Ruhm als Feldherr
begründete die erste allein von Brandenburg ausgetragene
Feldschlacht gegen die Schweden. In der Schlacht von Fehr­
bellin 1675 gelang es der Brandenburgischen Reiterei (mit
5700 Mann) unter Führung des Kurfürsten und seines Gene­
ralfeldmarschalls Georg von Derfflinger (1606-169$) die
Schweden (ca. 11 000 Mann) niederzureiten und die Mark von
schwedischen Truppen zu befreien.
Rußlandreise: Im April 1930 reiste Kästner mit seinem Freund,
dem satirischen Zeichner Erich Ohser (1903-1944) (unter
dem Künstlernamen e.o. plauen bekannt, vor allem durch sei­
ne Serie Vater und Sohn) zum ersten Mal nach Rußland. »Man
muß ja mal anfangen, es kennenzulernen. Ist ja heute das in­
teressanteste Land«, schrieb Kästner im März 1930 (Mutt-
chen-Brief, 22.3. 1930).
68 radikalisieren: Labudes revolutionäres Programm (vgl. III,
374) hat Kästner im wesentlichen dem Roman Die Welt des
William Clissold (1928) von H. G. Wells (1866-1946) ent­
nommen. In seiner enthusiastischen Buchkritik zitiert er Wells:
»Die neue Epoche der Zivilisation wird das Werk einer intel­
ligenten Minderheit sein. [...] Ihre Revolution wird Erfolg
haben, weil sie die Macht haben.« (VI, 123). Auch Labudes
Hoffnung auf eine Verbindung zwischen dem bürgerlich­
individuellen und dem sozialistischen Lager ist bei Wells vor­

I. I- A B 1 A N 405
gezeichnet. Die Lektüre des Buchs war für Kästner, wie er be­
kennt, von unerhörter Bedeutung. Die Romanfigur Labude be­
weist dies. Zur gefährlichen Politikferne solcher utopischen
Entwürfe vgl. III, 379-381.
70 Die Liebe krepiert an der Geographie: Labudes Erzählung des
Scheiterns seiner Beziehung zur Geliebten Leda stimmt teils
wörtlich mit Kästners Gedicht Die Ballade vom Mißtrauen
überein (vgl. I, 176).
72 unzweideutige Situation: Im Typoskript statt dessen: »eindeu­
tige Situation« (S. 82).
73 Sie liebt mich nicht: Kästners zahlreiche unglückliche Liebes­
affären, die er in seinen Gedichten verarbeitet hat, sind auch
der Stoff für seine beiden Romanprotagonisten. Das zeigen
fast wörtliche Übereinstimmungen zwischen Kästners Briefen
und den Erfahrungen der beiden fiktiven Hauptfiguren; dort
heißt es: »Zwischen Ilse und Erich ist’s aus. Ich sagte: Du hast
mich nie liebgehabt [...]. Und seit 6 Jahren weißt Du, daß Du
mich nicht liebst und nie geliebt hast. Ich habe 8 Jahre verlo­
ren.« (Muttchen-Brief, 14.11.1926) Gemeint ist hier Ilse Ju­
lius, mit der Kästner während seiner Dresdner und Leipziger
Jahre eng befreundet war. Auch sein Gedicht Sachliche Ro­
manze bezieht sich diskret auf das Ende der Affäre mit Ilse Ju­
lius. »Als sie einander acht Jahre kannten / (und man darf sa­
gen, sie kannten sich gut),/kam ihre Liebe plötzlich abhan­
den. /Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.« (Vgl. I,

Neuntes Kapitel
78 Bezahlung ist billiger: Im Typoskript statt dessen: »Barzah­
lung ist billiger« ( S. 89).
80 Die >Cousine< war ein Klublokal: Im Gedicht Ragout fin du
siecle beschreibt der Lyriker Kästner in Anlehnung an den Ro­
mancier Clubs, wo Homosexuelle, Lesben, Transvestiten etc.
verkehren (vgl. I, 127).
Budiker: Berliner Ausdruck für den Wirt einer kleinen Knei­
pe; vom französischen »boutique« = Laden.
82 Korpsstudent: Angehöriger einer schlagenden Verbindung.

406 KOMMENTAR
Zehntes Kapitel
84 Sodom und Gomorrha: Zwei biblische Städte (Genesis 19) am
Toten Meer, die von Gott wegen des sündigen Lebens ihrer
Bewohner durch Schwefel- und Feuerregen vernichtet wur­
den; umgangssprachlich: chaotische Zustände. Sodom und
Gomorrha war einer der abgelehnten Titelvorschläge des Au­
tors für den Fabian-, (vgl. III, j8j-j86).
88 daß ich dich liebhabe, [...] es geht dich nichts an: Anspielung
auf Philines Worte in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehr­
jahre (1795 /9Ö): »wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an!«
(4. Buch, 9. Kapitel)
89 klemmte sich Lektüre unter den Arm: Im Typoskript ergän­
zend: »unter den rechten Arm« (S. 103).
am Ohr zupfen werde: Zusätzlich im Typoskript Fabians Be­
merkung: »Werden sich die Leute freuen, wenn ich mit dem
Glockenschlag ins Büro trete, sagte er begeistert.« (S. 104)

Elftes Kapitel
90 Am andern Morgen [...] erwartete: Der Anfang des Kapitels
wurde für die Erstausgabe gestrafft. Im Typoskript (S. 106)
heißt es:
Punkt acht Uhr durchquerte Fabian, stolz wie ein Marathon­
sieger im Ziel, die Toreinfahrt, nickte dem Portier vergnügt zu
und rief: »Der Direktor schon da?« Der Portier legte den Fin­
ger an die Schirmmütze und schüttelte schläfrig den Kopf. Fa­
bian strahlte vor Selbstbewußtsein. Er sprang die Treppe hoch,
rannte durch die leeren Korridore und segelte ins Reklame­
büro. Fischer, der seinen Begabungsmangel durch Pünktlich­
keit zu ersetzen pflegte, war auch noch nicht da. Die Tatsache
glich einem Rekord.
Fabian nahm an seinem Schreibtisch Platz. Er wollte der Di­
rektion ein Preisausschreiben vorschlagen und überflog die
Notizen dazu.
Preisausschreiben: Die Neue Leipziger Zeitung, bei der Käst­
ner als freier Mitarbeiter engagiert war, veranstaltete häufig
Preisausschreiben für ihre Leser, die Kästner zu bearbeiten
hatte, was er als lästig empfand: »Die Prüfungen der Einsen­
dungen zum Preisausschreiben hab ich auch auf dem Hals.«
(Muttchen-H>r\ei, 22.6. und 29.6.1927)

1. 1-ABI AN 407
90 Fischer zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug:
Abweichend von der Erstausgabe folgt hier im Typoskript der
kurze Dialog: »Wie wollen Sie das machen? - Ich habe seit ge­
stern einen neuen schönen Wecker, meinte Fabian. - Teuer? -
Nein. - Keinen Garantieschein gekriegt? - Auch nicht. - Das
ist bedenklich! Fischer wiegte den Kopf.« (S. 107)
91 Kündigung: Kästner rekurriert hier auf eigene Erfahrungen.
Die Veröffentlichung seines erotischen Gedichts Nachtgesang
des Kammervirtuosen in der Plauener Volkszeitung, von Erich
Ohser illustriert, löste einen Skandal aus. Die Verse, anläßlich
von Beethovens 100. Todestag 1927 verfaßt (vgl. /, jj), wur­
den als obszöne Parodie auf Beethovens 9. Sinfonie verstan­
den. Die Konkurrenzzeitung der Neuen Leipziger Zeitung,
die Leipziger Neuesten Nachrichten, empörte sich gegen den
Verfasser. Daraufhin entließ der Verlagsdirektor und Chefre­
dakteur der Neuen Leipziger Zeitung, Georg Marguth, seinen
Mitarbeiter Kästner fristlos. Die Kündigung sollte sich für ihn
als Glück erweisen. Im Sommer 1927 zog Kästner nach Berlin,
wo er schon bald zu schriftstellerischem Ruhm und Erfolg ge­
langte. Nach seiner Übersiedlung wurde er Berliner Korre­
spondent der Neuen Leipziger Zeitung.
Er war grün im Gesicht: Ergänzend im Typoskript: »Das hat
Ihnen Breitkopf eingebrockt. So ein Ignorant. - Intrigant,
meinen Sie, verbesserte Fabian.« (11. Kapitel, S. 108)
zweitens haben Sie keine Frau auf dem Hals: Zusätzlich im
Typoskript: »Aber Ihren neuen Wecker können Sie nun nicht
brauchen. - Das bedauere ich am meisten, sagte Fabian und
setzte den Hut auf.« (S. 108)
92 Inflationswinter: Vgl. Anmerkung zu III, j6.
Schillers moralästhetisches System: Friedrich Schiller (1759 bis
1805), Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Essayist. In Auseinan­
dersetzung mit Immanuel Kants (1724-1804) Kritik der Ur­
teilskraft {1790) und seinen moralisch-philosophischen Schrif­
ten entwickelte Schiller in Über Anmut und Würde Ü79Ü und
Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793-1795)
eine ästhetische Theorie, in der Kants Dualismus von Sinn­
lichkeit und Vernunft überwunden wurde. Im »Reich des
schönen Scheins«, der Kunst, sei der Gegensatz von Natur
und Vernunft aufgehoben, schrieb Schiller.
93 Pellerine: Vom französischen: »pelerin«, Pilger; ursprünglich:
Schulterkragen des Pilgers, später: ärmelloser, weiter Umhang.

408 KOMMENTAR
9 5 »Ich erfand friedliche Maschinen und merkte nicht, daß es Ka­
nonen waren«: Kästner beschreibt hier das grundsätzliche
Problem der individuellen moralischen Verantwortung im Zu­
sammenhang mit der Anwendung naturwissenschaftlicher
Forschungen. Eine heute aktuelle Frage, z. B. in der Gentech­
nologie. Friedrich Dürrenmatts (1921-1990) Die Physiker
(1962) und Heinar Kipphardts (1922-1982) In der Sache
J. Robert Oppenheimer (1964) zeigen die fatalen Konsequen­
zen naturwissenschaftlicher Entdeckungen für die Mensch­
heit.
98 Charite: Bekanntes Klinikum der Berliner Humboldt-Uni­
versität.

Zwölftes Kapitel
103 Weil ich an ihn [den Tod] denke, liebe ich das Leben: Vgl. hier­
zu Kästners Epigramm Die zwei Gebote: »Liebe das Leben,
und denk an den Tod« (vgl. I, 295).
104 Verboten, politische Debatten hervorzurufen: Anspielung
auf eine der zahlreichen Notverordnungen der Regierung
Brüning, die dem wachsenden politischen Extremismus von
rechts und links Einhalt geboten. Das Versammlungsrecht
und die Pressefreiheit wurden Anfang 1931 erheblich einge­
schränkt.
105 chronischen Freizeit: Statt dessen steht im Typoskript (S. 127):
»reichlichen Freizeit«.
Ich habe ein Jahr im Gefängnis gesessen: Ergänzend im Typo­
skript: »Ich habe wegen literarischen Hochverrats ein Jahr ge­
sessen.« (S. 127) - Mit Ausnahme der Erstausgabe fehlt der
Zusatz in allen späteren Fabian-Editionen.
107 Tante Martha läßt grüßen: In seiner Autobiographie Als ich
ein kleinerJunge (1957) erzählt Kästner ausgiebig von den
Lebensgeschichten seiner Verwandten, darunter auch von Tan­
te Martha, der Schwester seiner Mutter Ida Kästner.
108 »Du hast viel durchgemacht mit Deiner Mutter«: Fabian ist
auch hier das alter ego seines Verfassers. In seiner Autobio­
graphie berichtet er von den häufigen Nervenkrisen der Mut­
ter, die bis zur vollkommenen Erschöpfung für ihren Sohn ar­
beitete und manches Mal verzweifelte. Dann fand der kleine
Junge Erich Zettel auf dem Küchentisch vor: »Ich kann nicht
mehr! [...] Leb wohl, mein lieber Junge. [...] Und die Woh­

1. IABIAN 4°9
nung war leer und tot.« (VII, ioj) Kästner war in seiner Kind­
heit Retter der Mutter, er fand sie jedesmal wieder, bewahrte
sie vor dem Freitod.

Dreizehntes Kapitel
113 Schopenhauer: Arthur Schopenhauer (1788-1860), Philo­
soph, der trotz (oder gerade wegen) der großen Verbreitung
seiner Werke in der akademischen Philosophie ein Außensei­
ter blieb. Sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung
(1819) verwirft die Idee einer subjektunabhängigen Welt. »Die
Welt ist meine Vorstellung«, mit dieser erkenntnistheoreti­
schen Maxime entmachtet Schopenhauer die rationalistische
Philosophie. Der Mensch ist für ihn einem irrationalen, blin­
den Willen unterworfen, aus dem sogar die Vernunft hervor­
geht.
114 Platon: Griechischer Philosoph (428-384 v. Chr.), Schüler des
Sokrates, neben Aristoteles der bedeutendste Philosoph der
Antike. Seine Werke sind überwiegend in Dialogen überlie­
fert. In Kästners Zitat aus Die Welt als Wille und Vorstellung
bezieht Schopenhauer sich auf Platons Symposion (203 b).
Nicht die glückseligen Götter philosophierten, heißt es dort,
vielmehr entstünden alle Fragen nach Grund und Zweck der
Welt aus menschlichen Erfahrungen des Mangels und Leidens,
der Furcht und Sorge.
eukolos: Griechisch »EÜxokog« = heiterer, sorgloser Mensch.
dyskolos: Griechisch »övoxoXog« = finsterer, ängstlicher
Mensch.
120 »Meister muß sich immer plagen«: Zitat aus Friedrich Schillers
Gedicht Das Lied von der Glocke (1800); die entsprechende
Strophe lautet: »Bis die Glocke sich verkühlet,/Laßt die
strenge Arbeit ruhn,/Wie im Laub der Vogel spielet,/Mag
sich jeder gütlich tun./Winkt der Sterne Licht,/Ledig aller
Pflicht, / Hört der Pursch die Vesper schlagen, / Meister muß
sich immer plagen.«

Vierzehntes Kapitel
124 Bessemerbirnen: Technisches Verfahren zur Herstellung von
schweißbarem Stahl, wobei in einem mit Roheisen beschick­
ten Konverter (horizontal drehbarer Industrieofen), der Bes­
semerbirne, eine schwefelfreie Schmelze entsteht. Der engli-

410 KOMMENTAR
sehe Ingenieur Sir Henry Bessemer (1813-1898) erfand das
Verfahren 1855.
125 Seelenwanderung: Idee der Reinkarnation, Metempsychose,
Palingenese. Bei vielen Naturvölkern, in den indischen Reli­
gionen, bei den Pythagoräern, Orphikern, bei Platon, den
Stoikern und in neueren theosophischen Richtungen herr­
schende Vorstellung, daß die Seele nach dem Tod in anderer
Gestalt (auch in Tieren oder Pflanzen) wiedergeboren wird. -
Der Ausdruck »mechanische Seelenwanderung« führt diese
Idee ad absurdum.
126 Napolitains: Nach der italienischen Stadt Napoli (Neapel) be­
nannte Schokoladentäfelchen.
127 das Glas zwischen dir und den anderen: Statt dessen steht im
Typoskript: »die Glasscheibe [...]« (S. 155).
129 Ich verkaufe die Restbestände: Statt dessen steht im Typo­
skript und in der Erstausgabe:: »ich kaufe [...]« (S. 158).

Fünfzehntes Kapitel
132 H. G. Wells: Englischer Schriftsteller (1866-1946), Verfasser
sozialkritischer und utopischer Romane (vgl. Anmerkung
III, 68). Wells’ Idee zur Ethik der Reklame sieht Kästner als
Anwendungsfall der politischen Überzeugungen des Roman­
helden William Clissold. In seinem Artikel Reklame und Welt­
revolution (Gebrauchsgraphik 3, März 1930) setzt Kästner
sich mit den moralischen Geboten der Propaganda auseinan­
der: »Der Begriff der Propaganda gehört [...] zu den großen
und größten Ideen der Menschheit. Ohne Propaganda kann
gar nichts mehr verbreitet werden, keine Philosophie und kei­
ne Seife. Propaganda ist das Medium aller Werte geworden.«
Kästner verteidigt die Propaganda als pädagogisch-aufkläreri­
sches Instrument einer zivilisierten Gesellschaft, wobei er die
Gefahren ideologischer, die Massen manipulierender Propa­
ganda außer acht läßt. Hier zeigt sich ein sonderbarer Wider­
spruch zwischen dem Essayisten und dem Romancier und Ly­
riker Kästner. In seinen Essays erweist sich Kästner überwie­
gend als Idealist, Träumer und Utopist, in seinen Romanen
und Gedichten dagegen als nüchterner Skeptiker, der an der
Erziehbarkeit der Gattung Mensch grundsätzlich zweifelt;
nur wenigen Vernünftigen sei Vernunft beizubringen. Vgl. die
Gedichte Ansprache an Millionäre: »Der Mensch ist schlecht.

I . FABIAN 411
Er bleibt es künftig.« (vgL I, rjj)und Genesis der Niedertracht:
»Doch die Bosheit ist unheilbar, / und die Güte stirbt als
Kind.« (vgl. I, 166)
135 begleitete den Besucher betont bis zur Treppe: Ergänzend im
Typoskript und in der Erstausgabe: »betont verträglich bis zur
Treppe.« (S. 164)

Sechzehntes Kapitel
140 Onkel Pelles Nordpark: In seiner Reportage Hauptgewin
j Pfund prima Weitzenmehl! (VI, 107) beschreibt Kästner seine
Beobachtungen im »Berliner Nordpark - Zum Onkel Pelle«.
Die Romanepisode stimmt teils wörtlich mit dem Feuilleton­
artikel überein.
143 sie gingen ins »Theater« eine elende Bretterbaracke: Was
sich nachfolgend in der Szene mit der alten Hofsängerin ab­
spielt, die dasselbe Duett singt, hat Kästner wiederum seinen
publizistischen Arbeiten entnommen; auch hier in teils wört­
lichen Übernahmen aus dem genannten Artikel (vgl. Anmer­
kung zu III, 140).
144 Couplet: Aus dem Französischen: amüsantes, oft satirisches
Lied mit Refrain.

Siebzehntes Kapitel
149 Hohenzollern: Schwäbisches Adelsgeschlecht (1601 erstmals
erwähnt), das seit 1192 die Burggrafschaft Nürnberg besaß.
Diese fränkische Linie erhielt 1417 die Brandenburgische
Kurwürde und war bis 1918 preußische Herrscherdynastie.
Begas: Karl Begas (1794-1854), Maler, der vor allem religiöse
und historische Motive, auch Genrebilder und Porträts im ro­
mantischen Stil der Düsseldorfer Schule gestaltete.
150 »Wer haben will, muß hingeben, was er hat«: Abweichend im
Typoskript und in der Erstausgabe: »Wer haben will, muß hin­
geben, was ist.« (S. 184)
151 Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid: Eine
ähnliche Situation schleichender, unwiderrufbarer Entfrem­
dung hält Kästner im autobiographischen Gedicht Ein Mann
gibt Auskunft (1930) fest (vgl. /, 131).

412 KOMM ENTAR


Achtzehntes Kapitel
15 $ Labude hatte ein Loch in der Schläfe: Wie bei Kästners Le­
bensgefährtin Luiselotte Enderle (1908-1991) zu lesen ist,
greift Kästner in der Schilderung von Labudes tragischem
Selbstmord auf Selbsterlebtes zurück. Während seines Leipzi­
ger Studiums war er mit dem begabten Medizinstudenten Ralph
Zucker befreundet, der sich, weil er einen grotesken Scherz
mißverstand, erschoß. Dem Freund Ralph Zucker habe Käst­
ner im Fabian ein literarisches Denkmal gesetzt, schreibt Lui­
selotte Enderle (Luiselotte Enderle: Erich Kästner. Mit Selbst­
zeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1966
(= rowohlts Monographien 120), 14. Auflage 1993, S. 35).
158 nur die Kinder sind für Ideale reif: In seiner Rede Kästner über
Kästner (1948) vor dem PEN-Club in Zürich bekennt der Päd­
agoge über sich: »Kinder, das glaube und wisse er, seien dem
Guten noch nahe wie Stubennachbarn. Man müsse sie nur leh­
ren, die Tür behutsam aufzuklinken.« (II, 326)
160 miteinander im Autobus gefahren: Ergänzend im Typoskript:
»Labude hatte sich fremd und schwerhörig gestellt. Fabian hat­
te gebrüllt, die Universität sei eine Anstalt für schwachsinnige
Kinder, Labude hatte gesagt: Schön haben sie’s hier, die klei­
nen Idioten.« (S. 198) - Die Eliminierung dieses Abschnitts
aus der Erstausgabe steht im Zusammenhang mit der Fahrt
beider Freunde durch Berlin, die ebenfalls entfallen mußte
(vgl. Anmerkung zu III, 43).

Neunzehntes Kapitel
162 Gotthold Ephraim Lessing: Vgl. Anmerkung zu III, 42.
als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte: Anspielung auf
Lessings unglückselige Lebensgeschichte. Er heiratete 1776
mit 47 Jahren Eva König, die zwei Jahre später im Kindbett
starb. Lessing starb kurz darauf im Alter von 5 2 Jahren.
Titanen: In der griechischen Mythologie die sechs Söhne und
sechs Töchter des Himmelsgottes Uranos und der Erdgöttin
Gaia, die von Zeus in einem gewaltigen Kampf, derTitanoma-
chie, besiegt wurden.
166 Rathenau: Walther Rathenau (1867-1922), Industrieller, Poli­
tiker und Publizist. Er war Präsident des Aufsichtsrates der
AEG, trat 1918 der Deutschen Demokratischen Partei (DDP)
bei und wurde 1922 Außenminister im zweiten Kabinett Jo­

I. FABIAN 40
seph Wirth (1879-1956). Als Architekt des Vertrages von Ra­
pallo (April 1922) wurde er von der politischen Rechten als
»Komplize des Bolschewismus« gebrandmarkt und als Jude
diskriminiert. Er fiel einem Attentat von Mitgliedern der
rechtsextremen »Organisation Consul« zum Opfer.
166 »Er mußte sterben«: Der NS-Schriftsteller, von dem das rassi­
stische Urteil über Rathenau stammt, konnte nicht ermittelt
werden.

Zwanzigstes Kapitel
171 Der Justizrat ballte die Hand [...] zur Faust: Abweichend im
Typoskript und in der Erstausgabe: »faltete die Hand [...] zur
Faust.« (S. 214)

Einundzwanzigstes Kapitel
177 Fabian [...] durchflog die Blätter: Ergänzend im Typoskript
(S. 222) ein Absatz, in dem Kästner auf den Hoover-Plan ein­
geht. - Der US-amerikanische Präsident Herbert Clark Hoo­
ver (1874-1964) schlug im Juli 1931 ein einjähriges Moratori­
um für die Rückzahlung interalliierter Kriegsschulden und
Reparationen vor. Er reagierte damit auf die schlechte Finanz­
lage des Deutschen Reichs, die eine Erfüllung der Forderun­
gen des Young-Plans (1929) unmöglich machte. Nach harten
Verhandlungen mit Frankreich trat der Hoover-Plan 1931 in
Kraft. Interessant ist, daß Kästner die aktuelle zeitgeschichtli­
che Diskussion in der Erstausgabe strich (was übrigens deut­
lich macht, daß der Autor Anfang Juli 1931 kurz vor Abschluß
seines Romans stand), und statt dessen auf eine zurückliegen­
de internationale Tagung einging. - Der Passus lautet im Ty­
poskript (S. 222):
Der Präsident der Vereinigten Staaten schlug Europa ein Re­
parationsfeierjahr vor. Amerika entdeckte, daß man mit einem
Volk, dem man die Kehle zudrückt, keine Geschäfte machen
kann. Amerika war geneigt, den Griff vorübergehend ein we­
nig zu lockern. Deutschland sollte Luft schöpfen, ehe man es
weiter würgte. Noch sträubte sich Frankreich gegen den Plan.
Es befürchtete, man werde es hindern, im Geld zu ersticken.
Trotzdem, sagte die Zeitung, bestehe Hoffnung, daß das Pro­
jekt zustandekomme.

414 KOMMENTAR
177 2ze/ der Moralisten, wie Fabian einer war: Abweichend in der
Erstausgabe und im Typoskript: »Ziel der Moralisten, wenn
Fabian einer war.« (S. 223)
Ihn hätte so etwas begeistert: Statt dessen im Typoskript: »Ihn
hätte die Botschaft des amerikanischen Präsidenten begeistert.
In seine Pläne hätte sie sich eingefügt.« (S. 223)
Er wollte die Besserung der Menschen: Fabians Ziele treffen
mit denen des skeptischen Lyrikers überein: »War dein Plan
nicht: irgendwie/alle Menschen gut zu machen?/Morgen
wirst du drüber lachen./Aber bessern kann man sie.« (War­
nung vor Selbstschüssen, I, 83)
der Mensch würde gut, wenn es ihm gut ginge: Distanzierung
Kästners von Bertolt Brechts materialistischen Überzeugun­
gen, die der Essayist Erich Kästner in der Formel »Erst kommt
das Fressen, dann kommt die Moral« zusammengefaßt sieht
(vgl. VI, 346; III,38o).
179 Als er sich nicht rührte, winkte sie: Ergänzend im Typoskript:
»Ein Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den
Kopf.« (S. 225)
181 Er blieb stehen: Im Typoskript: »Er stand still.« (S. 227)

Zweiundzwanzigstes Kapitel
183 Fußartilleriekaserne: In seinen autobiographischen Gedichten
kommt der Pazifist Kästner oft auf seinen Militärdienst und
sein Kriegstrauma zurück: »Dann gab es Weltkrieg, statt der
großen Ferien. / Ich trieb es mit der Fußartillerie. / Dem Glo­
bus lief das Blut aus den Arterien. / Ich lebte weiter. Fragen Sie
nicht, wie.« (Kurzgefaßter Lebenslauf, I, 136); oder: »Der
Rektor dankte Gott pro Sieg./Die Lehrer trieben Latein./
Wir hatten Angst vor diesem Krieg. / Und dann zog man uns
ein.« (Primaner in Uniform, I, 139)
Lafettenschwanz: Fahrbare Untergestelle von Geschützen; sie
dienen dem Ausrichten und Transport von Waffen.
184 Kaisers Geburtstag: Gemeint ist Wilhelm II. (1859-1941),
deutscher Kaiser und König von Preußen. Sein Geburtstag am
27. Januar war ein nationaler Feiertag.
Sedanfeier: Bei Sedan, einer französischen Stadt an der Maas,
siegten am 2. September 1870 zwei deutsche Armeen über die
französische Armee Mac-Mahons durch Einkreisung. Napo­
leon III. (1808-1873) geriet in Gefangenschaft.

1. I A B 1 A N 415
184 Schlacht bei Tannenberg: In der Schlacht von Tannenberg 1410
schlug das Heer der Polen und Litauer unter König Jagiello
(1351 — 1434) das Aufgebot des Deutschen Ritterordens. Der
Sieg leitete die Herrschaft Polens über das deutsche Ordens­
land ein (Thorner Frieden, 1466).
Einigkeit und Recht und Freiheit: Anfang der dritten Strophe
des von Hoffmann von Fallersleben 1841 gedichteten Lieds
der Deutschen zur Melodie der österreichischen Kaiserhymne
von Joseph Haydn. Von 1922 bis 1945 war es die National­
hymne der Weimarer Republik. Seit 1952 gilt nur die dritte
Strophe als offizielle Hymne der Bundesrepublik Deutsch­
land. Sie heißt vollständig: »Einigkeit und Recht und Frei­
heit/Für das deutsche Vaterland! / Danach laßt uns alle stre­
ben/Brüderlich mit Herz und Hand!/Einigkeit und Recht
und Freiheit / Sind des Glückes Unterpfand - / Blüh im Glan­
ze dieses Glückes, / Blühe, deutsches Vaterland!«
186 »Die Gerechten müssen viel leiden«: Anspielung auf die Psal­
men im Alten Testament, wo es heißt: »Der Gerechte muß viel
leiden.« (Psalm 34, 20)

Dreiundzwanzigstes Kapitel
189 Stahlhelm: Antirepublikanischer Bund ehemaliger Frontsol­
daten, 1918 von Franz Seldte (1882-1947) gegründet. Anfangs
ein Interessenverband, der den Wiedereintritt der Frontkämp­
fer ins Berufsleben erleichtern sollte, wurde er bald zu einer
politischen paramilitärischen Organisation, die gegen das
Diktat von Versailles, gegen Marxismus und Pazifismus, gegen
Demokratie und Parlamentarismus kämpfte. Der erbitterte
Widerstand gegen den Young-Plan (vgl. Anmerkung zu
III, 177) führte den Stahlhelm-Führer Seldte 1929 mit dem
Weimarer Pressezar Alfred Hugenberg (1865 -1951) und Hit­
ler zusammen. Gemeinsam bildeten sie 1931 die »Harzburger
Front«. 1933 wurde der Stahlhelm in die SA eingegliedert.
Dreistigkeit, [...], sechzig Millionen Menschen den Untergang
zuzumuten: Den militaristischen Brüllgeist der Nazi-Anhän­
ger nimmt Kästner im Gedicht Marschliedchen aufs Korn:
»Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen / in die Kasernen
der Vergangenheit. / Glaubt nicht, daß wir uns wundern, wenn
ihr schreit. / Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schrei­
en. /[...] //Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht er-

416 KOMMENTAR
wachen./Denn ihr seid dumm, und seid nicht auser­
wählt. / Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt: / Mit die­
sen Leuten war kein Staat zu machen!« (Vgl. I, 220)
191 »zieht euch aus!«: Abweichend im Typoskript (S. 241-242),
wo die Bordellszene drastischer und ausführlicher geschildert
wird:
»Zieh dich aus!« sagte Wenzkat zu der Dritten, die zurückge­
blieben war. Sie stand auf, ging aus dem Zimmer, kam, eine Mi­
nute später, nackt zurück und setzte sich zwischen die Gäste.
Sie war groß, hatte überall blonde Haare und schlug die Beine
übereinander. Wenzkat ergriff ihre Brüste, kniff hinein und
trank ihr zu. »Prost!« sagte sie, trank auch. Und dehnte sich.
Da erschien Lotte. Sie trug Männerkleidung und behauptete
kichernd: »Ich komme von einer langen Reise. Wo ist denn
meine Frau?« Dann kam ihre Kollegin, in einen Spitzenschal
gehüllt, durch die Tür und rief: »Endlich, geliebter Gatte! Ich
bin vor Sehnsucht zerflossen.«
Und nun wurden sie handgemein, wie sich das für Eheleute,
die einander endlich wiedersehen, schickt. Es fielen harte Wor­
te, die gesamte erotische Terminologie wurde abgewickelt,
Lotte zog die Männerhose aus, man sah, sie hatte sich ein
Gummiglied umgebunden. Wenzkat lachte und schlug sich und
der nackten Nachbarin auf die Schenkel. Die zwei Frauen exe­
kutierten dies und jenes, allmählich wurde aus dem albernen
Spiel Ernst.
192 Nun erschien auch Lotte: Zusätzlich im Typoskript: »Sie war
nackt und hielt mit beiden Händen ihre Sitzfläche«. (S. 243)

Vierundzwanzigstes Kapitel
196 Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß: Teils wörtliche
Übereinstimmungen mit Kästners Gedicht Zeitgenossen, hau­
fenweise (1929): »Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,/
fast als benutzten sie es als Gesäß. / Sie werden rot, wenn sie
mit Kindern spielen./Die Liebe treiben sie programmge­
mäß.« (Vgl. I, 70)
197 die Auflageziffer: Abweichend im Typoskript: »Die Auflagen­
höhe des Blattes.« (S. 249)

I. FABIAN 4J7
II. Fabian und die Sittenrichter

Erstdruck: Die Weltbiihne, 43, 27.10.1931, S. 642-643.


In der Erstausgabe von 1931 ist Kästners Nachwort nicht ent­
halten. Es wurde erst in die Ausgaben seiner Schriften von 19 59 und
1969 aufgenommen. Im Typoskript ist es überschrieben mit Nach­
wort für die Sittenrichter. - Der Erstdruck in der Weltbühne ist mit
einer Vorbemerkung versehen: »Die folgenden Ausführungen wa­
ren ursprünglich als Nachwort zu dem soeben in der Deutschen
Verlags-Anstalt, Stuttgart, erschienenen Roman von Erich Kästner
'Fabian. Die Geschichte eines Moralisten» gedacht. Bei der Druck­
legung des Buches mußte dieses Nachwort und ebenso ein zweites
>An die Kunstrichter« wegfallen.« (Die Weltbühne, 27.10. 1931,
S. 642).

III. Fabian und die Kunstrichter

Das Typoskript im Erich-Kästner-Archiv trägt die Überschrift


Nachwort für die Kunstrichter. Es wird in dieser Ausgabe erstmals
abgedruckt (vgl. III, 202-20}).

IV. Der Herr ohne Blinddarm

Erstdruck: Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Hrsg. v.


Wieland Herzfelde. Berlin 1932, S. 441 -451.
Zur Publikationsgeschichte des Textes: vgl. III, 386-387.
Neben dem Erstdruck erschien die Erzählung 1933 in der libe­
ral-demokratischen Berliner Tageszeitung Acht-Uhr-Abendblatt,
16. 12. 1932, unter der Überschrift Der Herr ohne Blinddarm. Al­
lerdings verwischte Kästner alle Spuren zum Fabian'. Die Titelfigur
heißt dort Anton, der Kollege Fischer hat den Namen Körner, und
Direktor Breitkopf firmiert als Direktor Brausewetter. Ansonsten
ist der Text mit der Typoskriptfassung (bis auf geringfügige Ab­
weichungen) identisch.
208 Josephine Beauharnaisi (1763-1814), Kaiserin der Franzosen.
Sie heiratete 1796 Napoleon Bonaparte, von dem sie 1804 zur
Kaiserin gekrönt wurde. Die Ehe blieb kinderlos und wurde
1809 geschieden.
Napoleon I: eigentlich: Napoleone Buonaparte (1769-1821),

418 KOMM LNTAR


französischer Politiker und Feldherr. Krönte sich 1804 zum
Kaiser der Franzosen. Bei seinem letzten Feldzug gegen Ruß­
land scheiterte Napoleon mit seiner 600000 Mann starken
»Grande Armee«. 1813 wurde er von der russisch-preußisch-
österreichischen Koalition in der Völkerschlacht bei Leipzig
geschlagen.
208 Hintern: Abweichend im Typoskript: »Podex«. (S. 26)
210 des Blinddarms wegen: Im Typoskript endet die Erzählung
mit einem sarkastischen Passus (vgl. III, 394).

V. Die Doppelgänger

Erstdruck: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken,


Heft 9, September 1958, S. 861-870.
Kästners Angaben zur Entstehungszeit des Romanfragments
sind widersprüchlich. In seiner Vorbemerkung zur Ausgabe seiner
Gesammelten Schriften von 1959 heißt es, er habe mit der Arbeit
1932 begonnen und sie ein Jahr später aufgegeben. In einem unver­
öffentlichten Typoskript aus dem Erich-Kästner-Archiv dagegen
nennt er das Jahr 1935 als Zäsur; damals habe er sich entschlossen,
das Romanprojekt endgültig ad acta zu legen, da die Nazis ihn mit
Publikationsverbot belegt hätten und eine Veröffentlichung im
Ausland mit Gefahren für seine Person verbunden gewesen wäre.
Kästners Vorbemerkung zur Ausgabe von 1959 lautet:

»Es handelt sich um die ersten Kapitel eines Romans, den der
Autor nach dem Fabian niederzuschreiben begann und dann,
nach 1933, beiseitelegte. Ob es schicklich sei, Fragmente selber
zu veröffentlichen, statt sie eines Tages veröffentlichen zu lassen,
mag eine strittige Frage sein. Der Autor hält, im vorliegenden
Fall und in einigen weiteren Fällen, den Vorgriff für statthaft.«

Etwa im Jahr 1947 beschäftigt sich Kästner noch einmal mit den po­
litischen Zeitverhältnissen, die ihn 1933, beziehungsweise 1935 zur
Aufgabe des Romanprojekts veranlaßt hatten. Seine späte Recht­
fertigung, überschrieben »Vorbemerkung zu Die Doppelgänger«
(Typoskript Erich-Kästner-Archiv), wird hier erstmals gedruckt.

Erich Kästner: Vorbemerkung zu »Die Doppelgänger«


Das bisher unveröffentlichte Romanfragment entstand 1932.
Und es blieb bei dem Bruchstück. Die Gründe hierfür hatten

V. DIE DOPPELGÄNGER 419


und waren Ursachen. Als einem »unzuverlässigen und politisch
unerwünschten« Schriftsteller, der nicht emigrieren wollte, wur­
de es mir 1933 untersagt, in Deutschland zu publizieren. Und die
»Auslandserlaubnis«, die jederzeit rückgängig gemacht werden
konnte (und 1943, als es in Europa kein Ausland mehr gab, rück­
gängig gemacht wurde), bedeutete Kontrolle und, im Ernstfälle,
Gegenmaßnahmen. Der Roman »Die Doppelgänger«, wie er ge­
plant war, hätte, zu Ende geführt und im Ausland veröffentlicht,
einen Ernstfall geschaffen. Um für die Schublade zu schreiben,
fehlte es mir an Lust, Muße und Geld.
Als sich, nach 1945, die Gelegenheit geboten hätte, die 1932 be­
gonnene Arbeit abzuschließen, zeigte sich, bei der »Nachhol-
Lektüre«, daß mittlerweile Engel und andere Zauberwesen in
Mode gekommen waren. Nun hatte ich zwar die »Erlaubnis fürs
In- und Ausland«, sogar etwas Zeit und Geld, aber zum Weiter­
schreiben keine Lust mehr. Was etwa 1935 (wieder einmal) ori­
ginell gewesen wäre, hätte etwa 1947 als Nachahmung wirken
müssen. Diese Vorstellung war mir fatal, und so ist es beim
Bruchstück geblieben. Auch ungeschriebene Bücher haben, wie
man sieht, ihre Schicksale.
Kästner pflegte Ideen für literarische Projekte in sogenannten Stoff­
mappen zu sammeln; sie bestanden aus Zeitungsartikeln oder -mel-
dungen, Entwürfen und Skizzen. In Kästners Stoffmappe 1934
(Erich-Kästner-Archiv) fand sich folgende aufschlußreiche »Ro­
man-Notiz« zu den geplanten Doppelgängern-,
»Astrologische Zwillinge«: In der gleichen Sekunde und in
der gleichen Gegend geborene Menschen. Z. B. hatte Eduard VII.
einen solchen Zwilling, der ihm auch äußerlich bis an Komik
grenzend ähnlich war. War übrigens auch, im Rahmen seiner
Umgebung, ein Dandy etc. Anwendbar auf »Die Doppelgän­
ger«.
Aus einer Stoffmappe ohne Jahresangabe stammt folgender Artikel
aus dem Berliner Tageblatt vom 18. 7. 1936:
Liverpool
Menschen, die sich selbst Briefe schreiben, gibt es wenig. Meist
sind es Einsame, die sich auf diese Weise eine rege Korrespon­
denz vortäuschen möchten. Zu diesen Bedauernswerten gehört
aber Herr George Pratt aus der englischen Stadt Amersham kei­
neswegs, trotzdem er sich täglich Briefe schreiben muß und sie

420 KOMMENTAR
prompt und höflich beantwortet. Herr Pratt hat nämlich zwei
bedeutende Posten inne: den des Stadtsekretärs und den des Se­
kretärs der Baptistenkirche.
Nun geschieht es häufig, daß die Stadtverwaltung mit den Maß­
nahmen der Baptistenkirche und die Baptistenkirche mit den Maß­
nahmen der Stadtverwaltung nicht einig ist; da muß denn Herr
Pratt, der Stadtsekretär, an Herrn Pratt, den Baptistensekretär,
schreiben, bitten, fordern, wünschen oder erklären, beschwich­
tigen, gestatten oder auch verweigern. Letzter Tage kam die Stadt­
verwaltung überein, die Tennisplätze des Schloßparks auch Sonn­
tags offenzuhalten. Darauf erfolgte ein Protest der Baptistenkir­
che, die um die geheiligte Sonntagsruhe besorgt war. Herr George
Pratt richtete also als Sekretär der Kirche einen Brief an sich
selbst, den Stadtsekretär, und gab seinen Einspruch zu erkennen.
Am nächsten Tage erhielt er von seiner Hand eine höfliche Ant­
wort, in der er sich mitteilte, daß sein Protest dem Stadtrate zur
wohlwollenden Erwägung vorgelegt werden würde.
Die Typoskriptfassung des Romanfragments ist mit der Erstaus­
gabe von 1959 identisch.

Erstes Kapitel: Das vegetarische Attentat

Zweites Kapitel: Die dreifältige Nase


218 kolloiden Lösung: Abgeleitet von Kollodium; eine zähflüssige
Lösung von Nitrozellulose in Alkohol und Äther. Ein Kolloid
ist ein Stoff, der sich in mikroskopisch nicht mehr erkennbarer
Verteilung in einer Flüssigkeit befindet.
Ein Selbstmord hatte sich in ein Attentat auf eine Topfpflanze
verwandelt: Kästner gibt hier der Figur des Selbstmörders, die
in seinen Gedichten oft auftaucht, einen doppelten Boden: Ein
Mann ist tot und lebt weiter. Möglicherweise handelt es sich
um ein camoufliertes Selbstporträt, d. h. um die Beschreibung
eines von den Nazis ausgelöschten Schriftstellers, der dennoch
weiter existiert. - Zum Motiv des Selbstmörders in Kästners
Gedichten: vgl. Warnung vor Selbstschüssen, Selbstmörder
halten Asternbuketts, Kurt Schmidt, statt einer Ballade, Saldo
mortale (I, 8j, 11 119, 154).
219 Robinson: Anspielung auf Robinson Crusoe, Titelfigur im
gleichnamigen Abenteuerroman (1719/1720) von Daniel De-
foe (1660-1731). Er erzählt von einem Schiffbrüchigen, der

V. DIE DOPPELGÄNGER 42I


fast 30 Jahre auf einer unbewohnten Insel lebt und dort seinen
Frieden mit Gott und der Natur findet.
219 Nemo: Lateinisch für »niemand«.
proponiert: vom lateinischen proponere: vorschlagen, beantra­
gen.
221 Propädeutik: Aus dem Griechischen abgeleitet: Vorbereitende
Einführung in ein Fachgebiet; auch: Vorübung, Einleitung.

Drittes Kapitel: Rote Schlagsahne


223 Tannhäuser-Marsch: Anspielung auf Richard Wagners (1813
bis 1883) Oper Tannhäuser (1845), in der die historische Tann-
häuser-Sage mit dem ebenfalls sagenhaften Sängerkrieg auf der
Wartburg verbunden wird.
224 junonisches Haupt: Abgeleitet von Juno, der römischen Göt­
tin der Ehe und Geburt; Juno Regina war Gemahlin des Jupi­
ter.

VI. Der Zauberlehrling

Erstausgabe: Gesammelte Schriften. 7 Bände. Zürich, Berlin, Köln


1959, Band 2, S. 227-320.
Die genannte Ausgabe enthält lediglich die ersten vier Kapitel
des Romans, die Kästner 1936 verfaßte. Wann er die Arbeit am Ro­
man wieder aufnahm, ließ sich nicht ermitteln. Die Entstehungszeit
der restlichen sechs Kapitel bleibt ungeklärt. Nur soviel steht fest:
Kästner entdeckte sie wohl eher zufällig in den sechziger Jahren. So
wurden die Kapitel fünf bis zehn erstmals publiziert in den Gesam­
melten Schriften für Erwachsene. 8 Bände. München, Zürich 1969.
Im Erich-Kästner-Archiv fand sich das Typoskript dieser zehn
Kapitel, die mit der Druckfassung übereinstimmen. Ferner war
dort ein interessantes Dokument zu entdecken: ein zweiseitiges
Manuskript mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen und
Ergänzungen Kästners, überschrieben Der Zauberlehrling. Es ist
der Versuch Kästners, sich bei der späten Wiederentdeckung seines
epischen Fragments Klarheit über Anlage und Ziel seines unvoll­
endeten Romans zu verschaffen. Ein Ansatz zur Selbstinterpreta­
tion, der offenbar als Vorwort zur Ausgabe von 1969 geplant war,
indes (soweit zu ermitteln war) unveröffentlicht blieb. Er wird hier
erstmals gedruckt:

422 KOMMENTAR
Der Zauberlehrling (hs.: Von Erich Kästner, ohne Jahresangabe)
Das in den Gesammelten Schriften von 1959 abgedruckte Ro­
manfragment (Kapitel 1-4) aus dem Jahr 1936 entläßt den Leser
ebenso verwirrt wie seinen Helden: den Kunstgelehrten Dr. Al­
fons Mintzlaff, der, wenig mehr als dreißig Jahre alt, Professur
und Privatleben aufgegeben hat, um sich ganz der Theorie der
Künste zu widmen. Als er, in München, eine Vortragsreise nach
Davos unterbricht, setzt sich im Cafe ein merkwürdiger Mann
zu ihm und erklärt ungefragt, daß er Baron Lamotte heiße und
Gedanken lesen könne. Wenigstens das zweite ist wahr. Der Ba­
ron, wie wir ihn jetzt noch nennen müssen, gibt Proben seiner
Kunst, indem er nicht nur auf Mintzlaffs Gedanken antwortet,
noch ehe der ein Wort gesagt hat, sondern indem er auch eine
höchst peinliche Szene am Nachbartisch dadurch provoziert,
daß jeder der drei Leute dort auf einmal »sehen« kann, was die
beiden anderen planen und von ihm denken. Zu früh ist Mintz­
laff beruhigt, das unheimliche Gegenüber wieder los zu sein. Am
nächsten Tag, als sein Zug Zürich passiert hat, tritt der Baron ins
Abteil und kann das Zaubern auch diesmal nicht lassen: Die
Coupetür, durch die Mintzlaff entfliehen will, öffnet sich nicht,
und ein riesiger Baum, auf den der Baron den Doktor Mintzlaff
aufmerksam macht, wird aus heiterem Himmel von einem Blitz
gefällt. Lamotte, stellt sich heraus, ist kein Baron und heißt nicht
Lamotte; er ist überhaupt kein Mensch. Aber wer oder was ist er
dann? Dreimal darf Mintzlaff raten und errät es nicht. - Noch
geheimnisvoller wird alles bei der Ankunft in Davos. Mintzlaff
findet dort seinen Vortrag auf einem Plakat angekündigt, - aber
zu einem anderen Termin und über ein anderes Thema, als aus­
gemacht war. Bei der Kurverwaltung erfährt er, Professor Mintz­
laff sei schon seit einer Woche in Davos und amüsiere sich hier
aufs beste. Der Baron bringt den echten Mintzlaff - der sich jetzt
Jennewein nennt, da der Ort an einem Mintzlaff genug haben
mag - in einem kleinen vornehmen Hotel unter, und auch bei
dieser Gelegenheit stiftet er durch Zauberei Verwirrung. Auf ei­
nem nachdenklichen Spaziergang durch das nächtliche Davos
hält er dem Professor vor, wie falsch es sei, das Herz der Vernunft
unterordnen zu wollen. - Damit schließt das Fragment, im Le­
ser den Verdacht zurücklassend: zu diesem Anfang konnte der
Autor wohl das Ende selber nicht mehr finden; da hängen mehr
Fäden offenbar beziehungslos herum, als sich je wieder aufneh­
men und in ein Muster knüpfen lassen. - Als ich erfuhr, daß der

VI. DER ZAUBERLEHRLING 423


Roman zwar noch immer kein Ende, aber doch eine bisher un­
gedruckte Mitte (Kapitel 5-10) habe, schien es mir allein schon
die Befriedigung von mancherlei Neugier zu rechtfertigen, daß
diese bisher unveröffentlichten Kapitel hier gedruckt werden.
Ich habe sie mit Vergnügen gelesen und meine Neugier befrie­
digt gefunden.

Erstes Kapitel
229 Indolenz: Aus dem Lateinischen für: Unempfindlichkeit ge­
gen Sinneseindrücke; Trägheit, Lässigkeit, Gleichgültigkeit.
apollinische Haltung: Apollon ist in der griechischen Mytho­
logie der Gott der Sühne, der Heilkunde und der Weissagun­
gen, des Lichts und der musischen Künste. Gemeint ist hier ein
von Form und Ordnung bestimmtes künstlerisches Schaffen.
- Das Apollinische und Dionysische sind ästhetische Begriffe,
die Friedrich Nietzsche (1844-1900) in seiner Schrift: Die Ge­
burt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) definiert
hat. Mit Nietzsche setzte sich der Essayist Kästner mehrfach
auseinander.
230 Linne: Carl von Linne (1707-1778), schwedischer Naturfor­
scher, der in seinem Hauptwerk Systema naturae (1735) eine
umfassende Systematik des Pflanzen- und Tierreichs entwik-
kelte.

Zweites Kapitel
239 Bergsons Untersuchung über »Das Lachen«: Henri Bergson
(1859-1941), französischer Philosoph, der eine spiritualisti­
sche Lebensphilosophie begründete: eine Metaphysik aus dem
Geist der Psychologie. Sein Buch Le rire (1900, Das Lachen)
enthält eine philosophische Definition des Komischen: »Ko­
misch ist jede Verkettung von Handlungen und Ereignissen,
die uns die Illusion des Lebens und das deutliche Gefühl eines
mechanischen Arrangements zugleich verschafft.« {Das La­
chen. Zürich 1972, S. 41)
247 Übermensch: Ein zentraler Gedanke in der Philosophie Fried­
rich Nietzsches (1844-1900) ist die Lehre vom Übermen­
schen, entwickelt in seinem Hauptwerk Also sprach "Zarathu­
stra (4 Bände, 1883-1885). Der Übermensch ist der Mensch,
der sich nicht mehr als logisches Wesen definiert, sondern sich
als offenen »Versuch« bejaht. Kästner spielt hier versteckt auf

424 KOMMENTAR
die NS-Ideologie an, die den Begriff von Nietzsche übernahm.
In seinem Tagebuch Notabene 45 schreibt Kästner: »Daß
Nietzsche krank war, ist sein Verhängnis. Uns wurde zum
Verhängnis, daß Bücher anstecken können.« (Vgl. W, j6y)

Drittes Kapitel
249 Kavalkade: Zug geschmückter Reiter; auch: Pferdeschau.
2 5 5 Sumatra: zweitgrößte der Sundainseln in Indonesien.

Viertes Kapitel
257 Victoria: Britische Königin (1819—1901) und Kaiserin von In­
dien. Sie wurde durch ihre lange Amtszeit, in der sie ihr Mann
Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha (1819-1861) beriet,
zu einer epochalen Figur der britischen Geschichte (Viktoria­
nisches Zeitalter).
Robert Louis Stevenson: Schottischer Schriftsteller (1850 bis
1894), bekannt durch seine exotischen und phantastischen Ro­
mane, u. a. Die Schatzinsel (1883) und Dr. Jekyllund Mr Hyde
(1886).
259 Jason: Held der griechischen Sage, Anführer der Argonauten.
Mithilfe seiner Gemahlin Medea entwendete er das Goldene
Vlies.
Theseus: Held der griechischen Sage. Er erschlug im Labyrinth
von Kreta den Minotaurus, um seine Vaterstadt Athen von den
auferlegten Tributen des Königs Minos (Kreta) zu befreien;
mit Hilfe von Ariadnes langem Faden konnte er dem Laby­
rinth entkommen.
Amazone: In der griechischen Mythologie sind die Amazonen
ein kriegerisches Frauenvolk in Kleinasien, das Nachbarvölker
zur Zeugung aufsucht, nur Mädchen als Kämpferinnen groß­
zieht und ihnen die beim Bogenschießen hinderliche rechte
Brust entfernt. Heinrich von Kleist hat diesen Stoff in seinem
Drama Penthesilea aufgegriffen.
260 Lots Weib: Lot, Figur des Alten Testaments, Neffe Abrahams.
Als Gerechter wurde er bei der Vernichtung von Sodom und
Gomorrha verschont, während seine Frau sich gegen die Wei­
sung bei der Flucht umdrehte und daraufhin zur Salzsäule er­
starrte. Vgl. Gen 19.
261 Mauer aus [...] Glas: Das Motiv der Glaswand taucht auch in
Fabians visionärem Traum auf (vgl. III, 124 f.), ebenso das

VI. DER ZAUBERLEHRLING 425


Doppelgänger-Thema (III, I2^)\ im Spiegel begegnet Fabian
sich in drei Abbildern seiner selbst.

Fünftes Kapitel
264 Maurice Chevalier: französischer Schauspieler und Chanson­
nier (1888-1972).
268 Wer nicht lacht, [...] ist nur ein halber Mensch: 1958 schreibt
Kästner einen poetologischen Essay mit dem Titel Gedanken
über das Lachen. Darin beklagt er die Einäugigkeit der deut­
schen Literatur. Ihr fehle »das lachende Auge«, die deutschen
Dichter nähmen nur den Ernst ernst. »Am rarsten jedoch ist
der Humor in der deutschen Literatur«, heißt es dort. Der ein­
zige humoristische Dichter und Denker, auf den sich Kästner
als seinen Lehrmeister bezieht, ist Jean Paul. (Vgl. GSE VIII,
291-300)

Sechstes Kapitel
277 invitieren: Einladen.
282 Zenon: Griechischer Philosoph (ca. 490-430 v. Chr.), ver­
trat die Lehre von der Einheit und Unveränderlichkeit des
Seins.
283 Zeus: Göttervater in der griechischen Mythologie (römisch:
Jupiter); ursprünglich war er Himmels- und Berggott, dann
Gott des Donners und der Blitze, Hüter des Rechts und der
Familie. Er ist Vater zahlreicher Götter.

Siebentes Kapitel
284 Loggia: Säulenhalle, von Pfeilern oder Säulen getragene offe­
ne Bogenhalle; auch: nach einer Seite hin offener Gang oder
Raum in einem Haus.
Kentaur: Fabelwesen in der griechischen Mythologie mit
menschlichem Oberkörper und Pferdeleib.
Olymp: in der griechischen Mythologie der Sitz der Götter.
285 Hephaistos: Griechischer Gott des Erdfeuers, Schutzgott der
Schmiedekunst; er wird mit Hammer oder Zange dargestellt.
Akropolis: Oberstadt, hochgelegener Tempelbezirk. Bekannt
ist die klassische Akropolis in Athen, auf der zahlreiche Tem­
pel erhalten sind.
Hermen: Griechisches Kultmai; ein vierkantiger Pfeiler, der

426 KOMMENTAR
vom bärtigen Kopf des Gottes Hermes gekrönt wird und der
einen Phallus und Armansätze trägt.
285 Hermes: Griechischer Gott des Handels und Verkehrs, auch
der Diebe. Er wurde als Götterbote mit Flügelhelm, Flügel­
schuhen und Heroldstab dargestellt.
286 Hera: Griechische Erd- und Muttergöttin, Schutzgöttin von
Ehe und Geburt; als eine der zwölf Olympier von den Grie­
chen als Himmelskönigin verehrt.
287 Apollon: Vgl. Anmerkung zu III, 229.
Leto: Griechische Muttergöttin, Tochter des Titanenpaares
Koios und Phoibe und Mutter der Zwillinge Apollon und Ar­
temis.
Herakles: Sohn des Zeus und der Alkmene. Durch zwölf hero­
ische Taten erlangte er die Aufnahme unter die Götter. Er ver­
körpert Kraft, Mut, Tapferkeit.
Cagliostro: Alessandro Graf von Cagliostro (1743 — 1795), ita­
lienischer Abenteurer, der als Wunderheiler und Geisterbe­
schwörer durch ganz Europa reiste und mit seinen Scharlata­
nerien höchste Gesellschaftskreise beeindruckte. 1785 war er
in die französische »Halsbandaffäre« verwickelt und starb
schließlich im Kerker.
288 Hebe: Griechische Göttin der Jugend, Tochter des Zeus und
der Hera, Gemahlin des Herakles.
289 Alkmene: In der griechischen Mythologie Ehefrau des Am-
phitryon und Mutter des Herakles, den Zeus, als Amphitryon
verkleidet, mit ihr zeugte. Heinrich von Kleist verarbeitete
den Stoff in seiner Komödie Amphitryon (1807).

Achtes Kapitel
295 beschloß er, [...] ein Engel zu werden: Kästner nimmt hier das
Hauptmotiv aus den Doppelgängern wieder auf, wo ein Engel
einen jungen Mann vor dem Selbstmord rettet (vgl. III, 213 bis
216).
Fortuna: Römische Glücksgöttin, meist mit Glücksrad oder
Füllhorn dargestellt; sie symbolisiert die Wechselhaftigkeit des
Schicksals.
Peloponnesischen Krieg: Konflikt zwischen Athen und Sparta
um die Hegemonie in Griechenland (431-404 v. Chr.). Die
Vernichtung der attischen Flotte in der Schlacht bei Aigospo-
tamoi (405) führte zur Niederlage und schließlich zur Kapitu­

VI. DER ZAUBERLEHRLING 427


lation Athens. Folge war der Zusammenbruch des demokrati­
schen Systems und vorübergehend die Errichtung einer Olig­
archie, der sogenannten Regierung der 30 Tyrannen. Sparta
war bis 371 griechische Hegemonialmacht.
296 >Nun bin ich also endlich tot<, dachte der junge Mann: Auch
hier greift Kästner auf Die Doppelgänger zurück. Dort heißt
es: »Er war tot und lebte weiter.« (Vgl. III, 218)
300 Albions: Poetischer Name für England, wahrscheinlich kelti­
schen Ursprungs; vom lateinischen albus (weiß) abgeleitet, mit
Bezug auf die Kreidefelsen von Dover, die Besucher des Lan­
des, die den Kanal überqueren, als erstes erblicken.

Neuntes Kapitel
304 Leda: Griechische Muttergöttin; Zeus, als Schwan verkleidet,
soll mit ihr zwei Eier gezeugt haben: Aus einem entstand He­
lene, aus dem anderen gingen die Dioskuren hervor.
Antiope: Geliebte des Zeus, der sie in Gestalt eines Satyrs
schwängerte.
Alkmene: Vgl. Anmerkung zu III, 289.
Danae: Tochter des Königs Akrisios und seiner Gemahlin
Eurydike. Zeus schwängerte sie in Gestalt eines Goldregens,
und sie gebar den Perseus.
Demeter: Griechische Göttin der Erdfruchtbarkeit und des
vegetativen Lebens. Sie gehört zu den zwölf Olympiern und
ist eine Hauptgestalt in den Eleusinischen Mysterien.
Semele: Griechische Erdgöttin. Zeus zeugte mit ihr Dionysos,
den Gott des Weines und des Rausches sowie der dramati­
schen Spiele.
Kallisto: Griechische Bärengöttin, später Nymphe im Jagd­
troß der Artemis.
Leto: Vgl. Anmerkung zu III, 287.
Metis: Griechische Göttin der Klugheit und Weisheit; erste
Gemahlin des Zeus, der die von ihm Schwangere aus Furcht
vor einem mächtigen Sohn verschlang. Das Kind Athene ent­
sprang nach neun Monaten aus dem Haupt des Zeus.
Maia: Griechische Göttin des Wachstums, später eine Nym­
phe. Zeus zeugte mit ihr Hermes (vgl. Anmerkung zu III, 283).
Persephone: Griechische Göttin der Unterwelt, später Göttin
der Fruchtbarkeit und des vegetativen Lebens. Tochter des
Zeus und der Demeter (vgl. Anmerkung zu III, 304).

428 KOMMENTAR
304 Themis: Griechische Göttin der Gerechtigkeit, des Rechts und
der Sittlichkeit, über deren Einhaltung bei Göttern und Men­
schen sie wachte.
Mnemosyne: Griechische Göttin, die Gedächtnis und Erinne­
rung verkörpert. Durch Zeus gebar sie die neun Musen.
307 Wischnu: Eine der Hauptgottheiten des Hinduismus; er ver­
körpert das Prinzip der Welterhaltung.
Ödipus: Sohn des griechischen Königs Laios und der Joka-
ste; er wuchs bei Pflegeeltern auf und heiratete später als
König von Theben die Witwe seines Vorgängers, den er er­
mordet hatte, nicht wissend, daß dieser sein Vater und jene
seine Mutter war. Als Ödipus dies später erkannte, blendete er
sich.
308 Hesiod: Griechischer Schriftsteller aus dem 8. Jahrhundert
v. Chr. Er begründete die lehrhafte epische Dichtung mit sei­
ner Theogonie, in der er in 1022 Versen die Entstehung der
Welt und die Genealogie der Götter beschrieb.

Zehntes Kapitel
3 11 weiser Parse: Anhänger der persischen Lehre des Zarathustra,
die besonders in der Sassanidenzeit (224-642) vorherrschte.
Grundzug des Parsismus ist der Dualismus zwischen bösen
und guten Geistern. Mit Hilfe des »Heiligen Buchs«, der Awe-
sta, soll der Mensch den Weg zum Guten finden. Nach der is­
lamischen Eroberung Persiens wanderten die meisten Parsen
nach Indien aus, wo heute noch etwa 120000 Anhänger der
Lehre leben.
313 jenem Esel: Genteint ist der Esel Buridan, der sich zwischen
zwei Heuhaufen nicht entscheiden kann und verhungert. Die­
se gleichnishafte Geschichte wird dem Scholastiker Jean Buri­
dan (1300-1358) zugeschrieben.
314 >Mitleid und Perspektive oder die Ansichten eines Baumes<:
Beim von Mintzlaff zitierten Epigramm eines seiner Freunde
spielt Kästner selbstironisch auf ein Gedicht aus seiner Samm­
lung Kurz und bündig (1950) an (vgl. /, 276)
318 Friedrich von Ofterdingen: Die Schwindeleien des angebli­
chen Professor Mintzlaff steigert Kästner hier zu einem gro­
tesken Scherz: mit der Anspielung auf den Roman Hein­
rich von Ofterdingen (1802) und seinen Verfasser Novalis
(1772-1801), der eigentlich Friedrich Freiherr von Harden­

VI. DER ZAUBERLEHRLING 429


berg hieß. Womit Kästner die Romantiker und die romanti­
sche Poesie spöttisch aufs Korn nimmt.
320 »Widerspruch zwischen dem Erwartungsgemäßen und dem
Unangemessenen»: Anspielung auf Henri Bergsons Defini­
tion des Komischen in Le rire-, vgl. Anmerkung zu III, 239.

VII. Briefe an mich selber

Erstausgabe: Gesammelte Schriften. 7 Bände. Zürich, Berlin, Köln


1959, Band 2, S. 247-254.
Die Titelseite enthält einen knappen Vermerk Kästners, in dem
er sich als vereinsamten Schriftsteller schildert, der nach innen emi­
griert ist und ins Selbstgespräch flüchtet. Die Anmerkung lautet:
»Es handelt sich um keine literarische Fiktion. Der Autor versuch­
te im Jahre 1940 tatsächlich, mit sich selber zu korrespondieren.«
Kästners handschriftliche Fassung der Briefe an mich selber, die
teilweise von der Druckfassung abweicht und zahlreiche Korrektu­
ren und Veränderungen des Autors enthält, fand sich im Erich-
Kästner-Archiv. Zu diesen Briefen hat Kästner sich offenbar von ei­
nem Zeitungsartikel aus dem Berliner Tageblatt vom 18. Juli 1936
anregen lassen, der in der sogenannten Stoffmappe enthalten ist. Er
heißt Der Doppelgänger und wird hier getrennt abgedruckt (vgl.
III, 420).
Die Abweichungen zwischen dem Manuskript und der Erstaus­
gabe der beiden Briefe an mich selber werden nachfolgend doku­
mentiert.

Der erste Brief


327 was stichhaltig wäre: Ergänzend im Manuskript: »was völlig
stichhaltig wäre.«
nicht vermuten, daß Sie einsam sind: Fremdheit und Einsam­
keit sind ein zentrales Thema im Fabian und in Kästners Ge­
dichten; vgl. Apropos Einsamkeit, Repetition des Gefühls, So­
zusagen in der Fremde, Herbstauf der ganzen Linie (l, 48, 92,
180, 251).
328 Kein Händedruck, kein Hieb: Abweichend im Manuskript:
»kein Peitschenhieb.«
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei: Anspielung auf das
Alte Testament, 1. Buch Mose, wo es heißt: »Gott dachte: >Es

43° KOMM ENTAR


ist nicht gut, wenn der Mensch allein ist. Ich will ihm einen
Gefährten geben, der zu ihm paßt.<« (Gen 2, 18)

Anmerkung nach Empfang des ersten Briefes


329 Diese Leute sind mir zuwider: Abweichend im Manuskript:
»sind mir widerlich.«

Der zweite Brief


330 Du glaubtest, Dich nützlich zu machen. Es war ein Irrtum:
Kästner blickt hier melancholisch auf seine früheren Ideale als
Gebrauchslyriker zurück. 1929 schrieb er in seiner Prosai­
schen Zwischenbemerkung: »Die Lyriker haben wieder einen
Zweck. Ihre Beschäftigung ist wieder ein Beruf. Sie sind wahr­
scheinlich nicht so notwendig wie die Bäcker und die
Zahnärzte. [...] Trotzdem dürften die Gebrauchspoeten ein
bißchen froh sein: sie rangieren unmittelbar nach den Hand­
werkern.« (vgl. /, 87). Und noch 1936 hielt er seine Gedichte
für Medikamente: »Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch
verwendbare Strophen zu schreiben. [...] Der vorliegende
Band ist der Therapie des Privatlebens gewidmet. Er richtet
sich [...] gegen die kleinen und großen Schwierigkeiten der
Existenz.« (Vorwort zu Doktor Erich Kästners Lyrische Haus­
apotheke, I, j6j). 1940 hat er von solch hochfliegenden Hoff­
nungen Abschied genommen.
Ihr Weg ist der Kreis: Kästner greift hier auf ein Gleichnis im
Fabian zurück, dargestellt in Daumiers Zeichnung Der Fort­
schritt, wo Schnecken, die im Kreis kriechen, das Tempo der
menschlichen Entwicklung symbolisieren; vgl. Anmerkung
zu III, J4.
Nun Du weißt, daß Du im Irrtum warst, als Du bessern woll­
test: Ergänzend im Manuskript: »als Du bessern wolltest,
mußt Du lächeln.«
wenn sie seine Beschwörungen und schließlich seine Verwün­
schungen mißachten: Abweichend im Manuskript: »wenn sie
sowohl seine Beschwörungen, als schließlich seine Verwün­
schungen mißachten.«
Aber an den Wahn, aus den Menschen [...] eine andere, höhe­
re Gattung von Lebewesen entwickeln zu können: Der hier
formulierte Skeptizismus wird für den Autor lebensbestim­
mend bleiben. 1956 schreibt der Menschenerzieher a. D.: »Er

VII. BRIEFE AN MICH SELBER 431


glaubt heute sehr viel weniger als damals. Aber er weiß ein
bißchen mehr. [...] Er weiß nun, daß Dummheit unbelehrbar
und Bosheit unbekehrbar ist. [...] Man rennt nicht ungestraft
ein Leben lang mit demselben Kopf gegen dieselben Wände.«
(Vgl. GSE VIII, 246 f.)
331 Kriege seien verwerflich: Der Krieg ist ein Hauptthema des pa­
zifistischen Poeten: vgl. Jahrgang 1899, Kennst Du das Land,
wo die Kanonen blühn?, Sergeant Waurich, Primaner in Uni­
form, Verdun, viele Jahre später, Marschliedchen (I, 9, 26, 63,
139,217,220).
Sokrates: Griechischer Philosoph (ca. 470-399 v.Chr.); seine
Lehren sind nur in den Schriften seiner Schüler, vor allem Pla­
tons, überliefert. Er wurde wegen seines vermeintlich verderb­
lichen Einflusses auf die Jugend von der Obrigkeit zum Tode
verurteilt. Seiner öffentlichen Hinrichtung entging er durch
Trinken eines Giftbechers.
Campanella: Tommaso Campanella (1568-1639), italieni­
scher Philosoph. In seinem Hauptwerk Der Sonnenstaat
(1602) entwarf er die Utopie eines theokratischen und sozia­
len Idealstaates. Er verbrachte wegen Widerstands gegen die
spanische Herrschaft in Süditalien 27 Jahre im Kerker.
Morus: Sir Thomas More, latinisiert Morus (1478-1535), eng­
lischer Humanist und Politiker; er verfaßte die satirisch­
staatsphilosophische Schrift Utopia (1516). Kästner nennt die
Utopie seit Thomas Morus eine »Form der Gesinnungslitera­
tur« {Menschen, Göttern gleich, Neue Leipziger Zeitung,
27.9.1927; vgl. Gemischte Gefühle, a.a.O., Bd. 1, S. 106).
Immanuel Kant: Philosoph der Aufklärung (1724-1804); er
formulierte den kategorischen Imperativ als Grundsatz der
Ethik: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könne.« Kästner bezieht sich hier auf Kants Grundlage der
Moral: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und
zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und an­
haltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirn­
te Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« [Kants
Werke. Akademietextausgabe. Berlin 1968, Band V, S. 161)

432 KOMMENTAR
VIII. Kurze Geschichten und Kurzgeschichten
Erstausgabe: Gesammelte Schriften. 7 Bände. Zürich, Berlin, Köln
1959, Band 2 (8 Erzählungen)
und Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bände. München,
Zürich, 1969, Band. 4(11 Erzählungen).
Von den elf publizierten Erzählungen werden in diesem Band acht
gedruckt. Die übrigen drei finden sich aus systematischen Gründen
hier in VIII341, 347,383, da es sich (zumindest vorrangig) um Ge­
schichten für Kinder handelt.
Kästners Kurzgeschichten sind von unterschiedlicher Qualität,
er schrieb sie für diverse Tageszeitungen, manche sind offenbar zum
schnellen Verzehr bestimmt. Von schulischen Erziehungstraumata
und militärisch-sadistischem Drill handeln die durch eigene Erfah­
rungen gestützten und literarisch geglückten Erzählungen Die Kin­
derkaserne und Duell bei Dresden. Aus allen Geschichten aber ragt
eine in ihrer sprachlichen und epischen Verknappung, Dichte und
Lakonie heraus: Verkehrt hier ein Herr Stobrawa? Es ist die Schil­
derung einer ganz alltäglichen Begebenheit; eine kleine, alte Dame
wird von ihrem deftigen, lärmend-lebenslustigen Ehemann mit ei­
ner jungen Geliebten betrogen. Eines Tages versichert sie sich des­
sen, was sie ohnehin weiß. Sie bewahrt ihre Würde vor aller Öf­
fentlichkeit, und nicht gedemütigt verläßt sie schweigend den Ort
der Tat, wo sie zur Augenzeugin des Betrugs wurde.

Es gibt noch Don Juans


Erstdruck: Berliner Tageblatt, 21.2.1930, Abend-Ausgabe, S. 2-3;
Nachdruck: Prager Tagblatt, 25. 2.1930, S. 2. und Nachdruck: Neue
Leipziger Zeitung, 25.3.1930, S. 2.
336 Libertinertum: vom französischen Begriff »libertin«, Frei­
geist; abwertend: ein leichtfertiger, zügelloser Mensch oder
auch Wüstling. Gebräuchlicher ist die Bezeichnung »Liberti-
nage« für Ausschweifungen oder moralische Bedenkenlosig­
keit.
Don Juan: Figur der spanischen Volkssage, Archetyp des skru­
pellosen Verführers. Er lädt am Ende die Statue eines von ihm
Getöteten zum Festmahl ein. Der »steinerne Gast« erscheint
und fährt mit ihm zur Hölle. Die Figur des Don Juan wurde
in der Literatur, Musik und Philosophie zur Weltfigur: Bei Tir-
so de Molina (1584-1648), Moliere (1622-1673), E.T.A.
Hoffmann (1776-1822), Christian Dietrich Grabbe (1801 bis

VIII. KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN 433


1836), Max Frisch (1911-1991) u. a.; in Mozarts Oper Don
Giovanni und von Sören Kierkegaard philosophisch interpre­
tiert (Entweder - Oder, 1843). Kästner widmet der Figur im
Nachkriegskabarett Die kleine Freiheit das Gedicht Don Juans
letzter Traum (II, 253 ).
337 Douglas Fairbanks: Amerikanischer Filmschauspieler (1883
bis 1939) und Stummfilmidol; er verkörperte Abenteuer- und
Liebhaberrollen, u. a. in Die drei Musketiere (1921), Robin
Hood (1922) und Der Dieb von Bagdad (1924).

Die Kinderkaserne
Erstdruck: Neue Leipziger Zeitung, 18.10.192 5, S. 29; Nachdruck:
Beyers für Alle, Kinderzeitung, Jahrgang 2, Heft 23, 8. März 1928,
S. 4- 5 und Nachdruck: Junge deutsche Dichtung. Hrsg. v. Kurt Fir­
neberg und Helmut Hurst. Berlin 1930, S. 199-203.
342 Beranger: Pierre Jean de Beranger (1780-1857), französischer
Schriftsteller. Er rühmte in seinen populären Gedichten Na­
poleon I.
344 Punische Kriege: Die Kriege zwischen Rom und Karthago
fanden 264-241, 218-201 und 149-146 v. Chr. statt. Nach
zeitweiligen Erfolgen, vor allem durch Hannibal (247-183
v. Chr.), endeten sie mit der Niederlage der Punier, und Rom
konnte seine Herrschaft über den westlichen Mittelmeerraum
sichern.
La cigale et la fourmi: Die Grille und die Ameise-, bekannte
Fabel des französischen Dichters Jean de La Fontaine (1621
bis 1695), der mit seinen rund 240 lehrhaft-vergnüglichen Fa­
beln die in der Antike von Asop begründete Gattung wieder­
belebte.

Verkehrt hier ein Herr Stobrawa?


Entstanden zwischen 1924 und 1927, von Kästner 1959 überarbei­
tet; weder ein Typoskript noch ein Erstdruck konnten ausfindig ge­
macht werden.
345 Alter Fritz: Gemeint ist Friedrich II., seit 1740 preußischer
König; vgl. Anmerkung zu III, 10.

Der Kleine Herr Stapf


Erstdruck: Neue Leipziger Zeitung, 12.5.1925, S. 2.
349 Boheme: Gemeint ist die Oper La Boheme (1896) des italieni­
schen Komponisten Giacomo Puccini (1858-1924).

434 KOMMENTAR
349 Soffitten: Vom Schnürboden herabhängendes Dekorations­
stück, das eine Bühne nach oben abschließt.
dionysische Seligkeit: Vom griechischen Gott Dionysos (vgl.
Anmerkung zu III, 229) abgeleitete Bezeichnung für rausch-
hafte Zustände.
Puccini: Giacomo Puccini (1858-1924), italienischer Kompo­
nist, der vor allem spätromantische Opern schuf.
Mimi: Gemeint ist die weibliche Hauptfigur in Puccinis Oper
La Boheme.
350 Korps: Hier: studentische Verbindung.
Ladnerin: Veraltete Bezeichnung für Verkäuferin.

Sebastian ohne Pointe


Erstdruck: Neue Leipziger Zeitung, 19.5.1926, S. 2; Nachdruck:
Jugend, 9, 23.2.1929, S. 145-150.

Duell bei Dresden


Erstdruck: Vierundzwanzig neue deutsche Erzähler. Hrsg. v. Her­
mann Kesten. Berlin 1929, S. 136-142.
358 EK 1: Abkürzung für Eisernes Kreuz 1. Klasse; von König
Friedrich Wilhelm III. 1813 für die Dauer des Krieges gegen
Napoleon gestiftete preußische Kriegsauszeichnung. Das EK
wurde 1817 und 1914 in Preußen und 1939 von Hitler wieder
eingeführt. Heute ist das Tragen des EK laut Gesetz vom
26. Juli 1957 nur ohne Hakenkreuz erlaubt.

Kurzgeschichte in fünf Akten


Erstdruck: Die Neue Zeitung, 28.4.1947, Beilage.
Kästner greift hier stillschweigend auf sein Berliner Feuilleton zu­
rück, das er am 28. Juni 1932 in der Neuen Leipziger Zeitung ver­
öffentlichte unter dem ironischen Titel Der alte gute Bekannte (vgl.
Gemischte Gefühle, a.a.O., Bd. 1, S. 305-306). Erzählt wird exakt
dieselbe Begebenheit, nur etwas knapper, in vier statt fünf Ab­
schnitten (bzw. Akten) und in größtenteils identischen Formulie­
rungen. Der Nachkriegsautor Kästner rechnete wohl damit, daß
seine Zeitungsgeschichte von 1947 unbekannt, beziehungsweise
vergessen war. Der Schlußakt, den er hier hinzufügt, ist überflüssig;
er offenbart die Verlegenheit des Verfassers und verwässert die tref­
fende Pointe im vierten Akt durch einen neuen, beliebigen Schluß.
364 Alfred Döblin: Schriftsteller und Arzt (1878 — 1957); sein be­
ster Roman ist Berlin Alexanderplatz (1929), ein in seiner

VIII. KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN 435


sprachlichen Gestaltung der Großstadt revolutionäres Werk.
In seinem Artikel Berliner Buchzauber {Neue Leipziger Zei­
tung, 24. März 1929) vermerkt Kästner, daß Alfred Döblin bei
einem Treffen von Verlegern, Sortimentern, Schriftstellern
und Journalisten unter dem Motto »Tag des Buchs« auf die
»Diktatur des Snobs« geschimpft habe (vgl. Gemischte Ge­
fühle, a.a.O., Band 1, S. 282).
365 Kurt Tucholsky: Schriftsteller (1890-1935); Mitarbeiter der
Schaubühne und Weltbühne, nach dem Tod des Herausgebers
Siegfried Jacobsohn (1926) kurzzeitig mit Carl von Ossietzky
Herausgeber des Blattes. Er schrieb scharfe politische und ge­
sellschaftskritische Satiren und Essays, Gedichte und auch
zwei heiter-melancholische Romane, beziehungsweise Erzäh­
lungen, Rheinsberg (1912) und Schloß Gripsholm (1931). Der
von den Nazis verbotene Autor, dessen Schriften 1933 ver­
branntwurden, emigrierte nach Schweden, wo er 1935 Selbst­
mord beging. - Er war ein Freund Kästners, der ihm 1946 ein
liebevolles Porträt widmete, Begegnung mit Tucho (VI, 597),
wo es heißt: »ein kleiner dicker Berliner wollte mit der Schreib­
maschine eine Katastrophe aufhalten«.

Ein Herr fällt vom Stuhl


Erstdruck: Neue Leipziger Zeitung, 11.4.1929 (Gemischte Ge­
fühle, 3..3..O., Band 2, S. 172-173).

Die Entstehungsgeschichte des Fabian


in Dokumenten

1 Verlagsgutachten Curt Weller, Deutsche Verlags-Anstalt, vom


10. Juli 1931 (Typoskript, Erich-Kästner-Archiv).
Erlebnisse und Beobachtungen - kein Roman im Sinne des Gat­
tungsbegriffes (s. Nachwort für den Kunstrichter). Dem Verfasser
kommt es darauf an, einen Querschnitt durch die Zeit zu geben und
seine Menschentypen - Träger und Nutznießer dieser Zeit in ihrer
passiven Aktivität vorübergehend oder in markanten Situationen
wiederkehrend - schlaglichtartig zu beleuchten, wobei ihm außer­
ordentlich daran lag, »die Proportionen des Lebens zu wahren«
(s. Nachwort für den Sittenrichter). Es sind die Themen seiner Lyrik.
Zwei Freunde (Jakob Fabian und Labude), deren gegenseitiges

436 KOMMENTAR
inneres Verhältnis, obwohl kein Wort darüber gesprochen wird, je­
dem Leser nahe geht, streifen durch das »Leben dieser Zeit«. Das
Milieu gibt Berlin und Dresden. In ihren Köpfen wird die Not die­
ser Zeit bewußt, in ihren Herzen ringt sie mit Sehnsucht und Hoff­
nung (s. hierzu den prächtigen Schluß des fünfzehnten Kapitels und
Abschiedsbrief Labudes). Auch diese Freundschaft kann keine po­
sitiven Ergebnisse zeitigen. Beide Freunde sterben - gewissermaßen
aus Versehen.
Daß der grundehrliche Charakter Kästners dem Leser mitunter
abstoßende und erschreckende Situationen zumutet, ist nicht Schuld
des Verfassers, sondern Schuld der Zeit. Kästner will bessern, indem
er die Wahrheit aufdeckt. Darauf basiert sein ganzes Schaffen und
dessen Notwendigkeit. In des Verfassers Ehrlichkeit liegt die Ehr­
lichkeit des Buches und seine Absicht begründet. Sie wird deutlich,
wenn dieser keusche Jakob Fabian seinem guten Herzen die Frei­
heit gibt, sich zu zeigen. So wird das Buch zu einer Anklage größ­
ten Stils - zu einem Menetekel.
Das Buch will nicht Dichtung sein - es will wahr sein. Man wird
an der Phantasie des Verfassers keinen Trost suchen können. Es sind
Beobachtungen und Erlebnisse - auch der Selbstmord Labudes und
seine Ursache sind erlebt (aber genügend kaschiert). Ob die Kom­
position oder gewisse Einzelheiten der ersten neun Kapitel nicht
gemildert werden können, darüber wäre wohl noch mit Kästner zu
korrespondieren - aber vielleicht ist es notwendig, das Folgende so
vorzubereiten.
Der Titel ist noch eine ernsthafte Sorge. Kästner bezeichnete ur­
sprünglich das Buch »Saustall«, aber dieser Titel trifft zu höchstens
für die ersten neun Kapitel. (Und Kästner weiß, daß dieser Titel
buchhändlerisch nicht möglich ist.) Ein anderer Gedanke von ihm:
»Saustall ohne Herkules« ist treffender, denn es ist ein Bestandteil
des Buches, aufzuzeigen, daß die Kraft und Fähigkeit, den Saustall
zu säubern, noch fehlt. Aber auch dieser Titel ist noch nicht umfas­
send (s. Fabian mit der Mutter, Fabian mit dem Erfinder, Fabian mit
dem Kind im Warenhaus, Fabian mit Cornelia).
Wieder ein Gedanke Kästners ist der Titel »Jugend im Vacuum«.
Er ist zweifellos treffend, aber Kästner glaubt, daß er nicht gut ge­
nug klinge und aussehe.
Den besten Titel hat Stefan Zweig vorweggenommen. »Verwir­
rung der Gefühle« wäre treffend. Schlachthaus des Herzens, in das
Europa geraten ist, Wartesaal, Provisorium ... aber auch das sind
noch keine Titel.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES FABIAN 437


Im Ganzen genommen ist es ein unendlich trauriges Buch, es ist
ein Buch, das eine heftige Diskussion erwecken wird, einen Streit
um Für und Wider. Aber es wird bei der Resonanz, die Kästner be­
reits gefunden hat - trotz allem oder weil die Zeit seiner bedarf - ein
Erfolg.
Mit ähnlichen Stoffen für ihre diesjährigen Bücher beschäftigen
sich auch Kesten und Glaeser. Kästner würde deshalb Wert darauf
legen, mit seinem Roman bald, d. h. als erster unter den drei, zu er­
scheinen.

2 Brief von Curt Weller an Erich Kästner vom i o. Juli 1931 (Typo­
skript, Erich-Kästner-Archiv).
Lieber Herr Kästner,
das Manuskript ist gelesen. Ich beglückwünsche Sie aufrichtig
und von ganzem Herzen zu dieser ersten größeren epischen Arbeit.
Wer nicht an dem Geschehen hängen bleibt, muß erschüttert sein.
Und daraus erwächst mein Vertrauen zu diesem Buch.
Ich sende Ihnen anliegend die erste Formulierung meines Ein­
drucks, die natürlich noch nicht umfassend ist. Sie werden daraus
ersehen, daß ich einige Bedenken gegen die ersten neun Kapitel
habe. Ich gestehe ein, daß ich direkt aufgeatmet habe, als im zehn­
ten Kapitel Menschlichkeit (wenigstens was man darunter verste­
hen möchte) in Erscheinung tritt. Diese nüchternen Schilderungen
der Erlebnisse in den ersten neun Kapiteln wirken geradezu erkäl­
tend. Vielleicht war es aber Ihre Absicht und ich wäre Ihnen dank­
bar, wenn Sie mir dazu Einiges schreiben wollten.
Die Nachworte halte ich für sehr angebracht. Aber sind sie in
dieser Form endgültig?
Die Titelfrage ist in der Tat schwer zu lösen, aber ich werde mich
weiter damit beschäftigen. Schade, daß Stefan Zweig den besten
Titel vorweggenommen hat. Herr Lang, der eben mit der Lektüre
Ihres Romans beschäftigt ist, weil er nächste Woche in Urlaub geht,
nannte auch einen Titel »Herz unter Null«. Aber ich weiß nicht, ob
Sie nach »Herz auf Taille« dazu den Mut hätten, und er trifft auch
nicht ganz. Ich zweifle aber nicht, daß gemeinsame Bemühungen
doch noch zu einem Titel führen werden.
Herrn Dr. Kilpper werde ich morgen das Manuskript geben. Sie
wissen ja, daß die Annahme von ihm abhängen wird.
Ich zweifle nicht an dem Erfolg des Buches und würde mich

438 KOMMENTAR
freuen, für Ihr neues Werk mich ganz besonders einsetzen zu kön­
nen. Freilich, es wird heftig angegriffen werden, aber dagegen steht
Ihre leidenschaftliche Ehrlichkeit, die durch Ihre Lyrik bekannt ge­
nug geworden ist (- und wie der Vortrag zeigte, selbst in Stuttgart
Verständnis fand).
Wenn Ihr Buch allen so viel gibt wie mir, so hat es seinen Zweck
erfüllt. Und außerdem bin ich vergnügt darüber, Kästner noch bes­
ser kennen gelernt zu haben.
Grüßen Sie Ihre gute und so echte Mutter vielmals von mir. Was
wird sie zu diesem Buche sagen?
Im übrigen geben Sie mir bald Ihre nächste Adresse und seien Sie
herzlich gegrüßt von

Ihrem dankbaren
Curt Weller

3 Brief von Heinrich Mann an Erich Kästner vom 24. November


1931 (Kopie, Erich-Kästner-Archiv).
Sehr verehrter Herr Kästner,
Ihr »Fabian« hat mir wirkliche Theilnahme abgewonnen. Man
wird sentimental, ohne daß Sie es sind, beim Lesen eines so armen
Lebens - nur arm, weil es diese Zeit erlebt. Aber wie munter und
unmittelbar trotz allem seine Eindrücke, seine Wanderungen durch
die unwirthliche Umwelt! Das ergibt Vergnügen für den Leser in­
mitten seiner Ergriffenheit. Nehmen Sie für beides meinen aufrich­
tigen Dank!

Ihnen ergeben
Heinrich Mann

4 Vorwort des Verfassers


Über dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alte Buch kur­
sierten im Laufe der Zeit recht verschiedene Urteile, und es wurde
noch von manchen, die es lobten, mißverstanden. Wird man’s heu­
te besser verstehen? Gewiß nicht! Wie denn auch? Daß im Dritten
Reich die Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasen geliefert und
millionenfach geschluckt wurden, hat Geschmack und Urteil brei­

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES FABIAN 439


ter Kreise bis in unsere Tage verdorben. Und heute sind, noch ehe
sie sich regenrieren konnten, bereits neue, genauer, sehr alte Mäch­
te fanatisch dabei, wiederum standardisierte Meinungen - gar nicht
so verschieden von den vorherigen - durch Massenimpfung zu ver­
breiten. Noch wissen viele nicht, viele nicht mehr, daß man sich Ur­
teile selber bilden kann und sollte. Soweit sie sich drum bemühen,
wissen sie nicht, wie man’s anfängt. Und schon sind, angeblich zum
Schutze der Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne Kunst und Li­
teratur in Vorbereitung. Das Wort »zersetzend« steht im Vokabu­
lar der Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Verunglimp­
fung ist eines jener Mittel, die den Zweck nicht nur heiligen, son­
dern ihn, nur zu oft, auch erreichen.
So wird heute weniger als damals begriffen werden, daß der Fa­
bian keineswegs ein »unmoralisches«, sondern ein ausgesprochen
moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen
krassen Kapiteln, der Erstverleger nicht zuließ, lautete Der Gang
vor die Hunde. Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag deut­
lich werden, daß der Roman ein bestimmtes Ziel verfolge: Er woll­
te warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutsch­
land und damit Europa näherten! Er wollte mit angemessenen, und
das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen Mitteln in letz­
ter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.
Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende
seelische Depression, die Sucht sich zu betäuben, die Aktivität be­
denkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise.
Und auch die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht - die
einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es
trieb manche, sich dem Sturm und der Stille entgegenzustellen. Sie
wurden beiseite geschoben. Lieber hörte man den Jahrmarktschrei­
ern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und giftigen Patent­
lösungen anpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein in den
Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind
und uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.
Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals
schildert, ist kein Poesie- und Fotografiealbum, sondern eine Satire.
Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist
pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vor­
zuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußer­
ste, was er vermag. Wenn auch das nicht hilft, dann hilft überhaupt
nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist - damals wie heute -
keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es allerdings, wenn das den

440 KOMMENTAR
Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der
verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch
hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!

München, Mai 1950 Erich Kästner

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES EABIAN 441


Inhaltsverzeichnis

7 Fabian

9 Erstes Kapitel
16 Zweites Kapitel
24 Drittes Kapitel
35 Viertes Kapitel
44 Fünftes Kapitel
51 Sechstes Kapitel
58 Siebentes Kapitel
66 Achtes Kapitel
75 Neuntes Kapitel
83 Zehntes Kapitel
90 Elftes Kapitel
101 Zwölftes Kapitel
112 Dreizehntes Kapitel
123 Vierzehntes Kapitel
131 Fünfzehntes Kapitel
138 Sechzehntes Kapitel
146 Siebzehntes Kapitel
154 Achtzehntes Kapitel
161 Neunzehntes Kapitel
168 Zwanzigstes Kapitel
175 Einundzwanzigstes Kapitel
182 Zweiundzwanzigstes Kapitel
189 Dreiundzwanzigstes Kapitel
195 Vierundzwanzigstes Kapitel
200 Fabian und die Sittenrichter
202 Fabian und die Kunstrichter

205 Der Herr ohne Blinddarm

INHALTSVERZEICHNIS 443
211 Die Doppelgänger

213 Das vegetarische Attentat


217 Die dreifältige Nase
223 Rote Schlagsahne

227 Der Zauberlehrling

229 Erstes Kapitel


238 Zweites Kapitel
249 Drittes Kapitel
257 Viertes Kapitel
264 Fünftes Kapitel
272 Sechstes Kapitel
284 Siebentes Kapitel
291 Achtes Kapitel
302 Neuntes Kapitel
311 Zehntes Kapitel

325 Briefe an mich selber

327 Der erste Brief


330 Der zweite Brief

333 Kurze Geschichten und


Kurzgeschichten

335 Es gibt noch Don Juans


340 Die Kinderkaserne
345 Verkehrt hier Herr Stobrawa?
348 Der kleine Herr Stapf
352 Sebastian ohne Pointe
357 Duell bei Dresden
363 Kurzgeschichte in fünf Akten
367 Ein Herr fällt vom Stuhl

444 INHALTSVERZEICHNIS
369 Anhang

371 Nachwort
385 Kommentar
436 Die Entstehungsgeschichte des
Fabian in Dokumenten

INHALTSVERZEICHNIS 445
FABIAN
FABIAN UND DIE SITTENRICHTER
FABIAN UND DIE KUNSTRICHTER
DER HERR OHNE BLINDDARM
DIE DOPPELGÄNGER
DER ZAUBERLEHRLING
BRIEFE AN MICH SELBER
KURZE GESCHICHTEN UND KURZGESCHICHTEN
“Fabian, der notorisch hellsichtige Schwarzseher, ist seiner Zeit voraus. Das
verbindet Kästner mit einigen wenigen zeitgenössischen Intellektuellen, mit
Tucholsky, Feuchtwanger, Kesten und Ossietzky. Er wittert die bevorstehenden
Totalitarismen von rechts und links. Vor allem aber ist Fabian der Roman eines
Satirikers, der weiß, daß der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch ist. Und
der dennoch, im verstecktesten Winkel seines Herzens ‘die törichte, unsinnige
Hoffnung’ kultiviert, ‘daß die Menschen vielleicht doch ein ganz klein wenig besser
werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt’.”
Aus dem Nachwort von Beate Pinkemeil

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