Reflexionen 2022

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RE-

FLEXIONEN
2022
SCHWERPUNKT: NATIONALSOZIALISMUS
ALS TRANSNATIONALES PHÄNOMEN

JAHRESMAGAZIN der Stiftung


Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau-Dora

Preis: 5 Euro buchenwald.de dora.de


Die „Verschwindende Wand – mit Botschaften,
die bleiben“ ist eine interaktive Kunstinstallation
kuratiert vom Goethe-Institut, die zurückgeht auf
eine Idee der russischen Studentin Maria Yablonina
und dem Architekten Werner Sobek: Ein Plexiglasgerüst,
in das rund 6.000 Hölzchen mit Zitaten eingesetzt
werden, die anschließend vom Publikum ausgewählt
und mitgenommen werden können. Nach Moskau,
Israel und den verschiedensten Orten in Europa ist das
Projekt für Weimar (10./11. April 2021, eröffnet von
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) und Dresden
(9./10. November 2021) adaptiert worden mit über
160 Statements von Überlebenden der Konzentrations-
lager Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Fotos: Darko Velazquez

2 / 1
Editorial
Sie halten Heft 2 unserer „Reflexionen“ in der Hand.
Sein inhaltliches Schwerpunktthema ist den national-
sozialistischen Verbrechen als transnationalem Phäno-
men gewidmet. Mitarbeiter:innen der Stiftung und
externe Autor:innen gehen der Frage nach, inwieweit
NS-Herrschaft, Zwangsarbeit, Shoah und Zweiter
Weltkrieg als transnationale Erfahrungen beschrieben
Foto: Jens Meyer
werden können. Ziel ist es, den Blick auf die europa-
weiten und teils sogar globalen Folgen der NS-Herr-
schaft zu richten – in historischer Perspektive, aber auch Der Blick in die Zukunft ist derzeit allerdings verdüstert.
hinsichtlich der Frage, inwieweit die Erfahrung des Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine endeten 77
Nationalsozialismus und seiner Verbrechen so etwas Jahre Frieden in Zentraleuropa. Entsetzen lösten bei uns
wie ein europäisches Gedächtnis geprägt hat. Berichte von ehemaligen Häftlingen der Konzentrations-
lager Buchenwald und Mittelbau-Dora aus, die in den
Das Jahr 2021 war das zweite Jahr unter Corona-Be- Lagern gemeinsam mit ihren russischen Mithäftlingen
dingungen und damit auch das zweite Jahr, in dem ein gelitten hatten und uns nun Hilferufe aus Kellern schick-
wesentlicher Teil unserer Arbeit, nämlich die Begegnung ten, in denen sie Schutz vor den russischen Raketen
zwischen Menschen bei Veranstaltungen oder bei und Bomben suchten. Bestürzt hat uns auch die von den
Gruppenbetreuungen, weitgehend wegbrach. Über lange russischen Behörden angeordnete Auflösung der
Zeiträume war es – wie auch schon im Vorjahr – sehr Menschenrechtsorganisation Memorial, mit der wir vor
still auf dem Ettersberg und am Kohnstein bei Nord- zehn Jahren die erste große Ausstellung in Deutschland
hausen. Und auch die Jahrestage der Lagerbefreiungen zum sowjetischen Gulag-System erarbeitet haben.
standen 2021 wieder im Zeichen der Pandemie. Wieder Voller Bewunderung und Solidarität, aber auch in großer
konnten keine KZ-Überlebenden anreisen, und ein großer Sorge blicken wir auf die Kolleg:innen von Memorial
Teil des umfangreichen und über Monate vorbereiteten und andere Vertreter:innen der russischen und belarus-
Veranstaltungsprogramms (eigentlich sollte ja der 2020 sischen Zivilgesellschaft, die mutig gegen den Krieg und
ausgefallene „runde“ 75. Jahrestag der Befreiung nach- für Demokratie eintreten und damit um ihre Sicherheit
geholt werden) musste auf Onlinevarianten ausweichen. fürchten müssen.

Und doch ging die Arbeit in den Gedenkstätten weiter, Angesichts der aktuellen Ereignisse können einen manch-
an der Digitalisierung unserer Bestände, an neuen mal Zweifel befallen, ob wirklich aus Geschichte gelernt
Ausstellungen, an einer vollständigen inhaltlichen und werden kann.
gestalterischen Überarbeitung unserer Webseiten, an
unserem neuen Museum Zwangsarbeit im Nationalsozia- Doch gerade der Umstand, dass Wladimir Putin den
lismus, das im kommenden Jahr eröffnet werden soll, Angriff auf die Ukraine mit der Instrumentalisierung und
und natürlich an innovativen neuen Bildungsformaten. Verfälschung der Geschichte zu legitimieren versucht,
Die wichtigsten Projekte werden Ihnen im vorliegenden zeigt, wie wichtig es ist, fundiertes Geschichtsbewusst-
Heft vorgestellt. Sie verdeutlichen, wie vielfältig die sein und historische Urteilskraft in der Gesellschaft zu
Arbeit an den Gedenkstätten ist, welche geschichts- stärken. Darin sieht die Stiftung Gedenkstätten Buchen-
kulturellen Implikationen sie hat und welche Anstrengun- wald und Mittelbau-Dora ihre Hauptaufgabe. Und wie wir
gen wir unternehmen, eine manchmal in Ritualen und das umsetzen, können Sie in diesem Heft nachlesen. Ich
Entlastungsnarrativen erstarrte Erinnerungskultur wünsche allen Leserinnen und Lesern eine spannende
auf unsere Gegenwart und die Zukunft auszurichten. Lektüre.

Jens-Christian Wagner
Direktor der Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora
1 _ _ Editorial Inhalt
6 __ Stiftung
6 __ Der Blog #otd1945. Geschichten von Hoffnung, Verzweiflung und Terror
10 __ Jugend im Konzentrationslager. Neue Online-Ausstellung zu minderjährigen
Häftlingen in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora
12 __ Alles allen? Digitaler Zugang zu Quellen der nationalsozialistischen Verbrechen
16 __ „Da könnte mir so viel einfallen!“. Menschen aus dem Inklusionsprojekt berichten von ihrer Arbeit.
20 __ „Rechtsextremismus ist ein Thema, das uns alle angeht.“
Der Fotograf Jakob Ganslmeier über die Ursprünge, Umwege
und das große Potential seines Projektes „Haut, Stein“
26 __ Weimarer Erklärung für ein solidarisches Miteinander
28 __ Nachruf Bertrand Herz (1930 – 2021)
30 __ Boris Timofejewitsch Romantschenko (1926 – 2022)

20 „Rechtsextremismus ist ein Thema, das uns alle angeht.“


Der Fotograf Jakob Ganslmeier über die Ursprünge, Umwege
und das große Potential seines Projektes „Haut, Stein“

6 Der Blog #otd1945


Geschichten von Hoffnung,
Verzweiflung und Terror

92
Photoshopping History.
Ein Gespräch mit dem
Grafik-Designer Jean-Sin Kin
über ein Lächeln, das es nie gab

2 / 3
58
Verbotene Liebe in Zeiten des Krieges.
Ein Gespräch mit Gwendoline Cicottini
über die Beziehungen deutscher Frauen
zu französischen Kriegsgefangenen

32 __ Schwerpunkt: Nationalsozialismus als transnationales Phänomen


32 __ Nationalistisches Doppeldenk: Der Potempa-Mord, der
Nationalsozialismus und der Zwiespalt des Nationalismus in Grenzgebieten
39 __ Neid und Missgunst als Herrschaftsprinzip. War Zwangsarbeit im
Nationalsozialismus ein transnationales Phänomen?
48 __ Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa –
eine transnationale Erfahrung?

76
58 __ Verbotene Liebe in Zeiten des Krieges. Ein Gespräch mit
Gwendoline Cicottini über die Beziehungen deutscher Frauen
zu französischen Kriegsgefangenen
Europa von Buchenwald her denken.
62 __ „Für jedes deutsche Heim ein Westküsten-Beobachter.“
Für sein Buchprojekt traf NSDAP-Presse im Ausland: Transnationale Volkserziehungsarbeit
Ronald Hirte Überlebende der Shoah
aus den verschiedensten Regionen
des NS-Regimes am Beispiel Chile
Europas in Israel. 68 __ „Organisiertes Gedächtnis“. Kollektive Aktivitäten von Überlebenden
der nationalsozialistischen Verfolgung in transnational-vergleichender
Perspektive
70 __ Zeugenschaft, Wissensproduktion und moralische Lehren des Holocaust.
Kritik einer Erwartungshaltung gegenüber Interviews mit
Holocaust-Überlebenden
76 __ Europa von Buchenwald her denken. Für sein Buchprojekt traf
Ronald Hirte Überlebende der Shoah aus den verschiedensten Regionen
Europas in Israel.

86
„… am empirischen Material
abarbeiten.“ Ein Gespräch
mit Axel Doßmann
über Audio-Interviews mit
Überlebenden aus dem
Sommer 1946

80 __ Geschichtskultur
80 __ Historikerstreit 2.0? Zur Debatte um das Wechselverhältnis
zwischen Shoah- und Kolonialismus-Erinnerung
86 __ „… am empirischen Material abarbeiten.“ Ein Gespräch mit
Axel Doßmann über Audio-Interviews mit Überlebenden aus dem Sommer 1946
92 __ Photoshopping History. Ein Gespräch mit dem Grafik-Designer Jean-Sin Kin
über ein Lächeln, das es nie gab
100 __ Inwiefern ist „Gedenken braucht Wissen“ eigentlich universal? Barbara Thimm,
Gedenkstättenfachkraft in Kambodscha, über die Reichweite universaler Leitmotive
108 __ Antifaschismus ist Handarbeit. Heiko Clajus von der Initiative Gedenkweg Buchenwaldbahn
über seine Arbeit am partizipativen Denkmal „Gedenksteine Buchenwaldbahn“.
Inhalt

134
„Dass die Erinnerung an Buchenwald im Leben
der Völker wachgehalten wird, sind wir allen
Opfern des Faschismus schuldig.“ Günter
Pappenheim (1925 – 2021) übergab dem Archiv
der Gedenkstätte Unterlagen aus seiner Zeit

112
als Vizepräsident des Internationalen Buchen-
80 Jahre danach: „Der
waldkomitees und als Vorsitzender der Lager-
Überfall auf die Sowjetunion“.
arbeitsgemeinschaft als Vorlass.
Eine Outdoor-Ausstellung
an drei Orten

112 __ Gedenkstätte Buchenwald


112 __ 80 Jahre danach: „Der Überfall auf die Sowjetunion“.
Eine Outdoor-Ausstellung an drei Orten
114 __ Ein Lehrer im Widerstand:
Michail Wassilewitsch Lewschenkow (1914 – 2004)
120 __ Blog: Radsport und das Konzentrationslager Buchenwald
124 __ Dr. Gotthard Martin Gauger (1905 – 1941). Eine Spurensuche
in Buchenwald 80 Jahre nach seiner Ermordung
130 __ Kennen Sie Peroutka? Ein tschechischer Jahrhundertroman
über das KZ Buchenwald wird neu entdeckt.
134 __ „Dass die Erinnerung an Buchenwald im Leben der Völker
wachgehalten wird, sind wir allen Opfern des Faschismus schuldig.“
Günter Pappenheim (1925 – 2021) übergab dem Archiv der
Gedenkstätte Unterlagen aus seiner Zeit als Vizepräsident des
Internationalen Buchenwaldkomitees und als Vorsitzender
der Lagerarbeitsgemeinschaft als Vorlass.
138 __ Sowjetische Speziallager im Kontext. Einblick in eine Neuerscheinung
141 __ Neue Fragestellungen – neue Formen der Vermittlung.
Das Online-Seminar „Infektionskrankheiten in Vergangenheit
und Gegenwart“
147 __ Könnt Ihr mich hören?! Digitale Bildungsarbeit in der
Gedenkstätte Buchenwald. Chancen und Herausforderungen

130 Kennen Sie Peroutka? Ein tschechischer


Jahrhundertroman über das KZ Buchenwald

152
wird neu entdeckt.
Ein Oscar für die Erinnerungskultur.
Der Dokumentarfilm „Colette“ und
das Ende der Zeitzeugenschaft

4 / 5
138
Sowjetische Speziallager im Kontext.
Einblick in eine Neuerscheinung

120 Blog: Radsport


und das Konzentrationslager
Buchenwald

150 __ KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora


150 __ Rückblick auf das Fegefeuer:
Pierre Bletons Le temps du purgatoire
152 __ Ein Oscar für die Erinnerungskultur. Der Dokumentarfilm
„Colette“ und das Ende der Zeitzeugenschaft
156 __ Literatur, Kolonialismus und der Nationalsozialismus.

118
Dr. Gotthard Martin Gauger
Sharon Dodua Otoos Roman „Adas Raum“

(1905 – 1941). Eine Spurensuche


in Buchenwald 80 Jahre nach
seiner Ermordung

156 Literatur, Kolonialismus und der


Nationalsozialismus. Sharon Dodua Otoos
Roman „Adas Raum“

158 __ Informationen
158 __ Gedenkstätte Buchenwald
160 __ KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
164 __ Impressum
STIFTUNG

DER

B log

#otd1945
Geschichten von
Hoffnung, Verzweiflung
und Terror
VON ANETT DREMEL, MICHAEL LÖFFELSENDER UND KARSTEN UHL

+++ Am 1. Januar 1945 notierte der Buchenwald- befreiten KZ Buchenwald die erste Trauerfeier für die
Häftling Jean-Louis Guellerin in das Erinnerungsbuch Toten des Lagers statt. +++ Am 1. Mai 1945 marschier-
eines französischen Mitgefangenen: „Ein Jahr voller ten 150 Überlebende der KZ Buchenwald und Mittelbau-
trauriger Erinnerungen ist vergangen. Aber heute haben Dora in Paris über die Champs-Élysées. +++ Am 3. Mai
mehrere tausend französische Häftlinge das Jahr 1945 1945 befand sich der belgische Buchenwald-Häftling
mit Hoffnung begrüßt.“ +++ Am 20. Januar 1945 Isidoor Mols auf einem Todesmarsch in einem offenen
berieten Manager des unterirdischen Raketenwerks Kohlewaggon in der Nähe der tschechischen Grenze und
im Kohnstein bei reichlich Wermuth und Zigarren über notierte in sein Notizheft: „Meine zwei Freunde sind tot.
den weiteren Einsatz von KZ-Häftlingen. +++ Am Die Sterberate erreicht im Moment eine unglaubliche
26. Januar 1945 erreichten in offenen Güterwaggons Quote“; wenige Tage später starb auch er. +++
fast 4.000 Männer und Jungen aus Auschwitz das
KZ Buchenwald; Hunderte waren unterwegs gestorben. Auf den ersten Blick scheinen diese zehn Ereignisse
+++ Am 13. Februar 1945 trieben SS-Wachen Hunderte des Jahres 1945 nur wenig miteinander gemein zu
KZ-Häftlinge des Buchenwalder Außenlagers Witten- haben. Und dennoch sind sie repräsentativ. Sie stehen
Annen im Ruhrgebiet wie jeden Tag quer durch die für die Bandbreite und Gleichzeitigkeit ganz unter-
Stadt zur Zwangsarbeit im örtlichen Gußstahlwerk. schiedlicher Geschehnisse in den Konzentrationslagern
+++ Am 21. März 1945 ließ die SS in Dora dreißig Buchenwald und Mittelbau-Dora in den Monaten und
Häftlinge auf dem Appellplatz des Lagers erhängen. Wochen vor und nach ihrer Befreiung 1945. Der Blog
+++ Am 23. März 1945 brachte Fela Herling in einem mit dem programmatischen Titel „#otd1945“ nimmt diese
Buchenwalder Frauenaußenlager in Leipzig ihren Sohn Zeit genauer unter die Lupe. Vom 1. Januar bis zum
Szymon zur Welt. +++ Am 13. April 1945 verübten 8. Mai 2021 wurde in ihm Tag für Tag über Geschehnisse
Angehörige der SS, der Wehrmacht, der NSDAP und aus der Geschichte der beiden Konzentrationslager
Einheimische in Gardelegen ein Massaker an mehr als berichtet, die sich an diesem Tag vor genau 76 Jahren
tausend KZ-Häftlingen. +++ Am 19. April 1945 fand im ereignet hatten.

6 / 7
„Achter prikkeldraad” (Hinter Stacheldraht), 1945.
Zeichnung: Henri Pieck
„Buchenwald“, Reproducties naar zijn Teekeningen uit het Concentratiekamp,
Den Haag, ohne Datum
STIFTUNG

Die Beiträge des Blogs führen in eine Zeit, in der die Im Zentrum des Blogs stand zum einen die Situation der
deutsche Kriegsniederlage nur noch eine Frage der Zeit Häftlinge in den Lagern. Es sind Geschichten der Hoff-
war. Die Häftlinge in den Lagern hofften auf eine baldige nung und der Verzweiflung, des massenhaften Sterbens;
Befreiung, auf ihre Rückkehr zu ihren Familien. Doch ihre Geschichten der gegenseitigen Hilfe, der Rettung, des
Hoffnung war trügerisch. Denn gleichzeitig verschärfte Überlebens und des Starts in ein Leben nach dem Lager,
sich der Überlebenskampf in den zunehmend überfüllten aber auch des weiteren Sterbens nach der Befreiung.
Lagern. Der Terror, das Morden und das Sterbenlassen Zum anderen galt der Blick der deutschen Tätergesell-
brachen angesichts des sich abzeichnenden Kriegsendes schaft. Es sind Geschichten des Mordens, der Ausbeu-
nicht ab. Im Gegenteil: Sie entfalteten eine neue Dyna- tung, des Mitmachens und des Weitermachens, der
mik. Erst die Ankunft der alliierten Truppen stoppte die Gleichgültigkeit und des Wegsehens sowie – in seltenen
Verbrechen. Fällen – Geschichten der Mitmenschlichkeit und der
Solidarität. Der tägliche Blog endete nach 128 Tagen
am 8. Mai 2021, dem Jahrestag des Kriegsendes in
Europa. Bis Ende Juni folgten sechs längere Beiträge
mit weiterführenden Informationen zur Geschichte der
Der Blog #otd1945 war Teil des digitalen Angebots Opfer, der Täter und der Nachgeschichte der Orte.
der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau-Dora anlässlich des 76. Jahrestags der
Die Politologin und Historikerin
Befreiung im April 2021. Mit dem Kürzel „otd“ Anett Dremel leitet die Dokumentationsstelle
(on this day) werden in den Social Media Beiträge der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

markiert, die sich auf historische Ereignisse beziehen, Der Historiker Michael Löffelsender
die an diesem Tag stattfanden. Begleitet und bewor- promovierte mit einer Studie zur Justiz
im Nationalsozialismus und ist
ben wurde der Blog über die Social Media-Kanäle wissenschaftlicher Mitarbeiter der
der Stiftung. Nachzulesen sind die Gedenkstätte Buchenwald.

insgesamt 144 Blogbeiträge unter: Der Historiker Karsten Uhl ist Leiter der
liberation.buchenwald.de/otd1945 KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Ein polnischer KZ-Überlebender


zeigt einem Soldaten der US-Armee
den Krematoriumsofen im befreiten
KZ Mittelbau-Dora, April 1945.
Foto: John R. Driza
(U.S. Army Signal Corps),
National Archives Washington

8 / 9
Frauen aus dem Buchenwalder
Außenlager Penig nach der
Befreiung, nach dem 17. April 1945.
Foto: David E. Scherman,
Gedenkstätte Buchenwald

Erklären Sie den jüngeren Generationen


den Wert der Worte
„Frieden“ und „Freiheit“.
Floréal Barrier
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
STIFTUNG

Jugend im
Konzentrationslager.
Neue Online-Ausstellung
zu minderjährigen Häftlingen
in den Konzentrationslagern
Buchenwald und
Mittelbau-Dora
VON JENS-CHRISTIAN WAGNER

Einige Hundert Kinder sowie weit über Zehntausend


Jugendliche unter 21 Jahren wurden bis 1945 in die Suzanne Pic (1927 – 2018)
vor der Verhaftung, 1944. Als 17-jähriges
Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora Résistance-Mitglied wurde sie 1944 über
verschleppt, Tausende starben. Ihrem Schicksal widmet Ravensbrück in das Buchenwalder
KZ-Außenlager HASAG-Leipzig deportiert.
sich die im April 2021 fertiggestellte Online-Ausstellung
„Jugend im KZ. Buchenwald und Mittelbau-Dora“
(www.jugend-im-kz.de). Erarbeitet wurde sie von
Studierenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena am
Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit.

Ursprünglich war geplant gewesen, ergänzende analoge


Module zu Buchenwald und Mittelbau-Dora für die
Wanderausstellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“ zu
erarbeiten. Diese wurde seit 2018 an mehreren Orten
in Deutschland und der Schweiz gezeigt und sollte zum
76. Jahrestag der Befreiung in Weimar oder Erfurt
präsentiert werden. Doch die Corona-Pandemie ver-
hinderte das. Aus der Not machten die Studierenden
eine Tugend: Sie konzipierten eine Online-Ausstellung –
mit dem Nebeneffekt, dass diese sehr viel umfangreicher
werden konnte als die eigentlich geplanten analogen
Module.

Eingeleitet wird die Ausstellung durch ein kontextualisie-


rendes Kapitel zum Thema Kindheit und Jugend im
Nationalsozialismus. Es wird deutlich, dass die Behand-
lung der Kinder und Jugendlichen der rassistischen
Gesellschaftsordnung im Nationalsozialismus entsprach:
Die Kinder der „Volksgenossen“ wuchsen in dem Glauben
auf, einer überlegenen „Herrenrasse“ anzugehören. Ihnen
Unbekanntes Kind im befreiten Außenlager
standen die Kinder von Juden, Sinti und Roma, Kranken Boelcke-Kaserne des KZ Mittelbau-Dora, Mitte April 1945.
und politisch Andersdenkenden gegenüber. Sie wurden KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

10 / 11
Screenshot der Titelseite im Kapitel „Jugend im KZ Buchenwald“

ausgegrenzt und verfolgt, viele von ihnen wurden Manche Kinder und Jugendliche starben noch nach der
während des Krieges ermordet. Befreiung an den Folgen von Hunger, Auszehrung und
Krankheiten. Die anderen versuchten, so schnell wie
Im ersten Kapitel werden die Haftgründe und die möglich nach Hause zu kommen. Doch für viele, insbe-
Deportationswege der Kinder und Jugendlichen in den sondere Juden sowie Sinti und Roma, gab es kein Zuhau-
Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora se mehr, weil die Eltern ermordet oder in andere Länder
vorgestellt. Die Rettungsbemühungen politischer Häft- verschleppt worden waren. Sie blieben zunächst in den
linge für die Kinder in Buchenwald und die Existenzbe- Displaced-Persons-Camps oder wurden in Kinderheime
dingungen junger Juden sowie Sinti und Roma, die 1944 in der Schweiz, in Frankreich oder Schweden gebracht.
in das KZ Mittelbau-Dora verschleppt wurden, sind
weitere Themenseiten. Das Schlusskapitel fragt nach der Rolle der sogenannten
Child Survivors von Buchenwald und Mittelbau-Dora im
Exemplarische Biographien zeigen die Vielfalt der Opfer- öffentlichen Gedächtnis. Die Kinderüberlebenden wurden
gruppen unter den Minderjährigen: Jüdinnen und Juden, lange nicht als eine spezifische Gruppe wahrgenommen.
Sinti und Roma, aus besetzen Gebieten verschleppte Erst in den letzten 20 Jahren erhielten die als Kinder oder
politische Häftlinge, Mädchen in Außenlagern, sogenann- Jugendliche Befreiten größere Aufmerksamkeit – auch
te Asoziale und Arbeitserziehungshäftlinge. weil es kaum noch Überlebende gibt, die als Erwachsene
befreit wurden.
Ein Schwerpunkt der Ausstellung ist der erfahrungsge-
schichtlichen Perspektive gewidmet: Kindheit und Didaktisch ist die Ausstellung so konzipiert, dass sie
Jugend im Konzentrationslager bedeutete die Allgegen- Einzelinteressierten, aber auch Schulklassen die Möglich-
wart von Gewalt, Misshandlungen, Krankheiten und Tod. keit geben soll, sich im Rahmen des forschenden Lernens
Welche spezifischen Erfahrungen machten Kinder und intensiv mit der Geschichte der Kinder und Jugendlichen
Jugendliche in den Lagern, was unterschied sie von in Buchenwald und Mittelbau-Dora auseinanderzusetzen.
den Erfahrungen der Erwachsenen? Wie reagierten die Die farbige Gestaltung (Design: Büro It’s about, Charlotte
minderjährigen Häftlinge auf eine derart lebensfeindliche Kaiser, Berlin) ist an die Ausstellung „Kinder in Bergen-
Umwelt? Was half ihnen, zu überleben? Wie erlebten Belsen“ angelehnt, setzt aber auch bewusst eigene
sie die Befreiung im April 1945? Zeitgenössische Doku- Akzente.
mente wie Briefe und Zeichnungen, aber auch Video-
Der Historiker Jens-Christian Wagner
interviews mit Überlebenden geben Antworten. leitete das Seminar der FSU Jena, aus dem heraus
die Online-Ausstellung erarbeitet wurde.
STIFTUNG

Alles Digitaler Zugang zu


Quellen der nationalsozialistischen
allen? Verbrechen

In den Sammlungen der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora liegt ein Fundus
historischer Quellen, der in Teilen schon digital zugänglich ist. In den nächsten Jahren soll der
Zugang zu diesen Quellen ausgebaut werden. Wie offen kann der Zugang dazu gestaltet sein?
Und welches Potenzial steckt in diesen besonderen Quellen?

VON MARKUS WEGEWITZ

An Quellensammlungen zur nationalsozialistischen das in den Gedenkstätten vorhanden ist, und die
Verbrechensgeschichte müssen bei der Digitalisierung Verknüpfung mit Quellen in anderen Institutionen gibt es
besondere Anforderungen gestellt werden. In vielen noch keine Lösung, die eine vergleichbare Akzeptanz
Gedenkstätten sind diese Sammlungen über Jahrzehnte gefunden hat.
zusammengetragen worden. Sie enthalten Originale aus
der NS-Zeit und den folgenden Jahrzehnten ebenso Im Unterschied zu anderen digitalen Quellensammlungen,
wie Kopien aus anderen Institutionen und Schenkungen die (scheinbar) selbstevident wertvolles Kulturgut um-
von Einzelpersonen in verschiedenen Formen und fassen oder Grundlagen für die historische Forschung
Formaten. Fragen des Zugangs zu diesen Beständen legen, müssen bei Quellenbeständen zur Geschichte
wurden bisher größtenteils unter rechtlichen Gesichts- der nationalsozialistischen Verbrechen gesellschaftliche
punkten diskutiert. Einschränkungen durch Urheberrecht Vermittlungsformate von Anfang an mitgedacht werden.
und Datenschutz sind für Archive und Forschungsinsti- Das hat gute Gründe: Herrschaftswissen des National-
tutionen wichtige Faktoren bei der Regelung der Ein- sozialismus, das in diesen Beständen enthalten ist,
sichtnahme in ihre Bestände. Beim Umgang mit Quellen konnte und kann zur Aufrechterhaltung von Diskriminie-
aus der Zeit des Nationalsozialismus ist die historische rungsstrukturen beitragen. Sinte:zza und Romn:ja, als
Kontextualisierung als inhaltliche Anforderung allerdings „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Verfolgte, Homo-
entscheidend – sowohl für Gedenkstätten, aber auch sexuelle, Angehörige von Opfern der nationalsozialisti-
für alle anderen Institutionen, die solche Quellen in schen Patient:innenmorde und andere Opfergruppen
ihren Beständen haben. mach(t)en auch nach 1945 viele leidvolle Erfahrungen,
in denen historisches Wissen gegen sie gewendet wurde.
Versprechen der digitalen Zugänglichkeit Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Deutsche Behörden
nutzten Adressdaten für rassistisches Profiling und po-
Ein großes Versprechen der Digitalisierung ist eine mög- litische Diskriminierung, das Stigma einer Sterilisation
lichst freie und barrierearme Verfügbarkeit historischer nach den Maßstäben der nationalsozialistischen „Rassen-
Quellen. Internationale Normen für Informationsmodelle hygiene“ wirkte fort und die Wiedergutmachungsbüro-
und digitale Archivierung ermöglichen die Sichtbarkeit kratie nutzte Angaben aus den Personalkarteien der
von Quellensammlungen in einer Fülle von Anwendungen, Konzentrationslager, um Ansprüche auf Entschädigung
Portalen und Katalogen. Dadurch werden zunächst ins Leere laufen zu lassen. Zugang gerade zu den
nur grundlegende Informationen (wie Personennamen, Quellen, die individuellen Opfern zugeordnet werden
Dokumententitel oder Entstehungszeitpunkt) verfügbar können, muss daher diese verschiedenen Dimensionen
gemacht. Für die Kontextualisierung mit dem Wissen, des nach 1945 fortgeführten Unrechts mitdenken.

12 / 13
Auszug aus einem Bericht über das Novemberpogrom am 9.11.1938 in Erfurt, BwA-K-31/117.
Der Bestand BwA-K-31 im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald ist der erste Bestand, den das Digitalisierungsprojekt der Stiftung bearbeitet.
Archiv der Gedenkstätte Buchenwald

Gleichzeitig bieten ein offener, digitaler Zugang und die Eine vergleichbare Öffentlichkeit für die Namen der
Nutzung digitaler Werkzeuge für die Millionen Kartei- Täter:innen gab es in den Nachfolgestaaten des
karten, Deportationslisten und Verwaltungsdokumente, NS-Regime nie. Für die erhaltenen Mitgliederlisten
die aus den verschiedenen Verfolgungskontexten über- der Wehrmacht, der SS und der NSDAP steht auch
liefert sind, eine große Chance. Die Ausmaße der natio- 76 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht
nalsozialistischen Gesellschaftsverbrechen können zur Debatte, ob sie digital zugänglich gemacht werden
damit ebenso nachvollziehbar gemacht werden, wie sollen. Aufrufe wie „Macht die Personalakten der
individuelle Verfolgungsbiografien. Wehrmacht öffentlich!“ anlässlich des 80. Jahrestags
des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion
Opfer- und Täter:innen-Quellen (https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/macht-
die-personalakten-der-wehrmacht-oeffentlich)
Die schrittweise Öffnung der Archive des Internationa- verhallen meist ungehört. Dieses Missverhältnis beim
len Tracing Service in Bad Arolsen seit 2015 markiert Zugang zu historischen Dokumenten verhindert die
einen wesentlichen Schritt, die Namen der Opfer der Verknüpfung zwischen der verbrecherischen deutschen
Konzentrationslager digital präsent zu machen. In den Vergangenheit mit persönlichen und gesellschaftlichen
frei zugänglichen Sammlungen der Arolsen Archives Verantwortlichkeiten. Auch diese Dimension muss
(https://collections.arolsen-archives.org/search/) in der Diskussion um digitalen Zugang problematisiert
können viele der erhaltenen Dokumente aus dem Ver- werden.
waltungssystem der Lager eingesehen werden.
STIFTUNG

Kritische Kontextualisierung

Beim Umgang mit Informationen zu den Opfern des Es kommt in jedem Fall darauf an, einen möglichst freien
Nationalsozialismus ebenso wie bei Täter:innen-Quellen Zugang zu den Quellen, den respektvollen Umgang
kommt es auf die Kontextualisierung an. Ebenso wenig mit den Informationen der Opfer und Überlebenden
wie im analogen Archiv gibt es in digitalen Sammlungen sowie kontextualisierende Informationen zusammenzu-
unvermittelte dokumentarische Evidenz. Aber es gibt denken. Digitale Sammlungsbestände zu nationalsozialis-
die Chance, die gewachsene Ordnung der Quellen, ihre tischen Verbrechen sind so zu erschließen, dass ihr
Lücken und ihre Aussagekraft nachvollziehbar zu kritisches Potenzial auch für die Gegenwart erkennbar
machen. Dazu müssen ihnen Informationen beiseitege- ist. Dabei müssen Werkzeuge und Arbeitsschritte gefun-
stellt werden, die eine kritische Einordnung ermöglichen. den werden, die mit den knappen Ressourcen auch klei-
Digitale Werkzeuge, gemeinsam genutzte Forschungs- nerer Institutionen vereinbar sind. Das Digitalisierungs-
daten, Infrastruktur und offene Erschließungsinformatio- projekt der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
nen helfen dabei, solches Wissen aus verschiedenen Mittelbau-Dora will zu diesen Anforderungen Lösungs-
Quellen bereitzustellen. wege aufzeigen und zusammen mit anderen Institutionen
diskutieren.
Voraussetzung für eine kritische Kontextualisierung ist
auch die Verfügbarkeit der Forschungsergebnisse in
wissenschaftlichen Publikationen, die bisher hinter der
Zugänglichkeit zu digitalen Quellen zurückbleibt. Das
Primat der Verwertungslogik in der Verlagslandschaft
sorgt hier für Wissenslücken, die eine konsequente
Hinwendung zu Open-Access Publikationen schließen
Der Historiker Markus Wegewitz
kann. koordiniert an der Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora seit 2021
die Digitalisierung zentraler Bestände aus
Archiv, Sammlung und Bibliothek.

Weiterführende Literatur

Nestl, Andreas (2020): Zugang im Archiv. Möglichkeiten und Grenzen für ein
offenes Archiv im digitalen Zeitalter, in: Recht und Zugang 1 (1), S. 5–15.
https://doi.org/10.5771/2699-1284-2020-1-5

Stumpf, Markus, Petschar, Hans, Rathkolb, Oliver (Hrsg.) (2021):


Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven
und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der
NS-Zeit im Netz, Göttingen. https://doi.org/10.14220/9783737012768.19

Urban, Susanne (2018): „Mein einziges Dokument ist die Nummer auf
der Hand…“. Aussagen Überlebender der NS-Verfolgung im International
Tracing Service, Berlin.

Das Digitalisierungsprojekt ist eine Kooperation mit


der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und
der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.
In einem Teilprojekt zur Online-Präsentation ist die
HPI School of Design Thinking des Hasso-Plattner-
Instituts an der Universität Potsdam zusätzlicher
Partner. Von 2021 bis 2024 wird das Gesamtpro-
jekt durch die Beauftragte der Bundesregierung
für Kultur und Medien, die Länder Thüringen und
Brandenburg sowie mit einer Spende
der Fondation Tour du Monde
gefördert. Mehr Informationen zum
Projekt gibt es unter
https://sgbmdigital.hypotheses.org/

14 / 15
Foto: Darko Velazquez
STIFTUNG

„Da könnte mir so viel einfallen!“


Menschen aus dem Inklusions-projekt
berichten von ihrer Arbeit.*

Mit Aussagen von Christin, Claudia, David, Emily, Eric, Felix, Friedrich,
Jessica, Jonas G., Jonas W. und Scott.**

Zusammengestellt von Franziska Bula, Isabel Gennen-Mücke,


Sascha Nowotny und Tim Thonagel.

Seit einem Jahr arbeiten Menschen aus Werkstätten in Nordhausen und Weimar
mit Menschen aus den Gedenk-stätten Mittelbau-Dora und Buchenwald zusammen
in einem Projekt. Im letzten Stiftungs-magazin haben die Menschen aus den
Gedenk-stätten über das Projekt berichtet. Der Artikel war in schwerer Sprache.
Gemeinsam haben wir überlegt: Wie wollen wir dieses Jahr über unser Projekt
schreiben? Wir haben entschieden: Wir schreiben in barrierearmer Sprache.
Und wer soll dieses Jahr über das Projekt berichten? Die Menschen aus den
Werkstätten. Hier sprechen sie:

Warum gibt es dieses Projekt?

„In der Geschichte ist ja nicht immer alles einfach oder sonst wie erklärt,
also probieren wir ja eigentlich eine Idee zu entwickeln, wie wir den Personen
das leichter erklären können, ohne die Geschichte zu verfälschen.“

„Jede einzelne Person hat unterschiedliche Lösungen. Ich find die Aufgabe
in diese Richtung zu lösen einfacher, als wenn ich deinen Weg gehen würde,
das Ziel wäre aber vielleicht das Gleiche.“

* Der Artikel wurde barrierearm geschrieben und gestaltet.


** Die Teilnehmer:innen des Inklusions-projekts sind zwischen 17 und 43 Jahren alt.

16 / 17
Warum eigentlich erst jetzt?

„Keine Möglichkeiten, vielleicht hats keinen interessiert, vielleicht wollten sie sich
damit nicht auseinandersetzen, vielleicht war das auch noch zu früh zu dem
Zeitpunkt.“

„Ich würde einfach mal sagen, dass solche Projekte jetzt erstens schon von der
Planung her viel Zeit beanspruchen und zweitens ist ja noch die Umsetzung,
das heißt, es ist nun mal schwieriger da nun mal was umzusetzen.“

Warum dann nicht ohne Euch?

„Na das wär ja wieder einfach nur Heuchlerei. Weil dann würdet ihr ja einfach
Dinge versprechen, ohne sie wirklich zu machen. Also ihr macht das ja dann mit
anderen Leuten, nie mit den weswegen ihr es ja eigentlich tun wolltet.“

Über was sprechen wir im Projekt?

„Wir sprechen über früher. Wegen dem Konzentrationslager und wie das mit
den Häftlingen war. Das die auch Appell stehen mussten. Also das ist hier ne
Gedenkstätte und das draußen war ein Lager.“

„Wie die Häftlinge behandelt wurden. Wie die Wärter sich den Häftlingen
gegenüber verhalten haben, die misshandelt haben. Das durften die ja gar nicht,
aber das haben die einfach gemacht.“

„Wie ist das Verbrechen überhaupt zustande gekommen?!“

„Ich glaub das ist so das, was man sich da hauptsächlich fragen sollte.
Die Leute, die sich diese Zeit zurück wünschen, die sollten sich eigentlich die
Frage stellen, ob die selber erstens so behandelt werden wollen und ob das,
was die dann tun auch mit den Gewissen überhaupt jemals leben könnten.“
STIFTUNG

Wie arbeiten wir im Projekt?

„Mit unseren Treffen probieren wir, diese Ideen zu entwickeln. Ihr testet viel,
was von Lernmethoden her funktioniert. Wir geben ja viel Feedback: Was wir
jetzt toll fanden, was jetzt wir nicht toll fanden. Ihr probiert, uns das Lernen
leichter zu machen und wir probieren natürlich auch, viel dadurch zu lernen
und uns weiter mit einzubringen. Mal klappt es so, mal klappt es so.“

„Als wir den Museumsbesuch hatten. Das Museum hat mir gut gefallen,
weil ich da noch nie war. Ausstellung und Gelände waren wichtig zu sehen
aber die Ausstellung war schon schwer.“

„Ein bisschen hatte ich am Ende des Tages vergessen, was hier war. Aber dann
hab ich Bilder gemalt. Bilder aufgehängt. Dann hab ich noch nicht vergessen.“

Hier arbeiten wir. Hier arbeiten wir.


Foto: KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora Foto: Gedenkstätte Buchenwald

18 / 19
„Das andere Mal haben wir dann den Zeitstrahl gemacht. Wie alles begann.
Von wann die Zeit und wie lange die Zeit ging. Von 1935, glaub ich, bis 1945 ging
das. Und dann haben wir noch gemacht, wie alt wir sind. Wie viele Jahre die
Jahre davor waren.“

Gemeinsam haben wir gemerkt: Oft braucht es nur kleine Veränderungen.


Im Material. In den Methoden. Im Ablauf. Dann können damit mehr Menschen
lernen. Trotzdem sind manche Methoden noch zu schwer. Deswegen verändern
wir die Methoden weiter. Und arbeiten an neuen Methoden. Wir wollen
„mehreres anbieten. Also für Schüler und Erwachsene, die lesen können und für
Schüler und Erwachsene, die nicht so lesen können. Aber immer leicht erklärt.“

Wie soll es weiter gehen?

„Ich würde noch einen Vorschlag machen. Ich würde Fotos machen vom Gelände
oder vom Museum und wir das so noch erstellen. Wir können dann ein Heft
machen. Damit wenn anderen herkommen und gar nicht wissen worum es geht.
Da kommen Bilder rein und Text rein. Da könnte mir so viel einfallen!
Das haben wir dann gemacht und das wäre ein Schlussstrich vom Projekt.“

„Dass das weiter läuft alles. Andere Menschen hier weiterarbeiten. Schreiben,
Bilder gucken.“

„10 Jahre in die Zukunft? Also dass es gar keinen Unterschied mehr macht, ob
du jetzt aus ner Lebenshilfe kommst oder ob du jetzt einfach teilweise ohne
Einschränkungen herkommst. Dass es keinen wirklichen Unterschied macht,
dass man sagen kann, wir haben für jeden hier was! Da haben wir einiges vor,
da habt ihr einiges vor!“

Ich glaube,
dass man im Leben glücklich ist,
wenn man sich engagiert.
Stéphane Hessel
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
STIFTUNG

Jakob Ganslmeier
Foto: Darko Velazquez

Beim Workshop mit Aussteigenden, Weimar, April 2021

20 / 21
„Rechts-
extremismus
ist ein
Thema,
das uns alle
angeht.“
Der Fotograf
Jakob Ganslmeier
über die Ursprünge,
Umwege und das
große Potential
seines Projektes
„Haut, Stein“
im Gespräch mit
Dorothee Schlüter
STIFTUNG

Frage: Wie kam es zu der Idee und was war der Frage: Sie haben über drei Jahre intensiv ehemalige
Auslöser, das Projekt in Gang zu bringen? Neonazis im Prozess ihres Ausstiegs begleitet –
zusammen mit Mitarbeiter:innen von EXIT-
Jakob Ganslmeier: Den Zugang zu dem Thema – Deutschland. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ausstieg aus dem Rechtsextremismus – bekam ich
über EXIT-Deutschland. Mein früherer Dozent an der JG: Ich bin in Dachau aufgewachsen, insofern ist die
Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin, Ludwig Rauch, Frage nach dem Umgang mit der deutschen Geschichte
hatte im Zusammenhang mit seiner Arbeit „Unsere für mich nicht neu. Die Arbeit an „Haut, Stein“ hat diese
Jungs“, die sich mit Rechtsextremisten nach der Wende Auseinandersetzung und Reflexion ein weiteres Mal
beschäftigt, den Kontakt zu Fabian Wichmann herge- aufgemacht und vertieft. Die Betrachter:innen müssen
stellt, der als Fallbegleiter bei EXIT arbeitet. So bekam ich den Bildern oder den
erste Einblicke in die Arbeit mit ehemaligen Neo-Nazis. abgebildeten Aussteigen-
Was mich sofort interessiert hat, waren Fragen wie: den nicht unbedingt glau-
Ist es überhaupt möglich, diese menschenverachtende ben im Sinne von „Meinen
Ideologie abzulegen, und wenn ja, wie funktioniert das? die den Ausstieg wirklich
Wie sehen frühere Neo-Nazis die rechtsextreme Szene, ernst, schaffen sie das?“
wie sieht der Perspektivenwechsel aus? Wie funktioniert Was ich aber mit meinen
der Einstiegs- und der Ausstiegsprozess? Viele dieser Bildern sehr deutlich
Fragen lassen sich natürlich nicht pauschal beantworten. machen möchte, ist, dass
Aber es hat mich interessiert, wie man den Ausstiegs- es um individuelle Men-
prozess in Bildern zeigen kann. Anstatt dem Rechts- schen geht und dass die
extremismus eine weitere Plattform mit meinen Bildern Menschen nicht auf ihre
zu liefern, wie es womöglich gewesen wäre, wenn ich Tätowierung reduziert
aktive Mitglieder fotografiert hätte, habe ich eine werden sollten. Die Bilder
Chance darin gesehen, den Ausstieg aus diesem zu und die Interviews zeigen,
zeigen, nämlich die Chance zu zeigen, dass Menschen dass es eben kein Kli-
sich auch ändern können. scheebild gibt, kein einheit-
liches Muster für Rechts-
Frage: Haben Sie die Komponenten extremisten und brechen
„Haut“ und „Stein“ von Anfang an zusammen unsere Vorstellung über
gedacht? Oder was war zuerst da? den Neo-Nazi auf. Auch ich habe mein Bild, das ich über
die rechtsextreme Szene hatte, in Frage gestellt und
JG: Zuerst kam der „Haut“-Teil, das heißt die Arbeit mit revidiert, damit ich mich darauf einlassen konnte, was mir
den Aussteigenden. Der „Stein“-Teil, das heißt die Unter- die Aussteigenden über sich erzählt haben. Für mich als
suchung der deutschen Stadtlandschaften im Umgang Fotograf bestand bildnerisch die besondere Herausforde-
mit der NS-Symbolik nach den Denazifizierungsmaß- rung darin, wie diese Symboliken auf der Haut und im
nahmen, entstand im Zuge der Unterhaltungen mit den Stein überhaupt gezeigt werden können, ohne dabei in
früheren Neo-Nazis. Diese erzählten immer wieder von eine Bildästhetik wie von Leni Riefenstahl zu fallen und
„ideologischen Fahrten“, also Fahrten, die beispielsweise ohne die im Stein-Teil abgebildeten Symbole zu monu-
von Kameradschaften zu Orten wie der Wewelsburg mentalisieren. Eine weitere Herausforderung bestand für
organisiert werden, um sich gegenseitig ideologisch zu mich darin, mit den Fotografien einen zeitlichen Bogen
festigen und beispielsweise in ihrem Sinne der „Helden“ vom Nationalsozialismus zu heute zu schließen.
zu gedenken. Tatsächlich bin ich so zu den ersten Orten
gekommen. Beide Teile, Haut und Stein, sind eng mitein- Frage: Acht Männer und zwei Frauen werden in der
ander verbunden. Die Analogie der Symbolik, in Form Ausstellung fotografisch porträtiert. Außerdem
der Tattoos auf der Haut und den Ornamenten im Stein, haben Sie mit ihnen Interviews geführt über ihre
bringt den historischen Umgang mit NS-Symbolik mit Einstiege in die rechtsradikale Szene und Prozesse
heutigen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus des Aussteigens. Diese individuellen Geschichten
zusammen. wurden im Auftrag von EXIT-Deutschland als Pod-
cast eingesprochen, der die Ausstellung begleitet.
Kaum veröffentlicht im Frühjahr 2021, kletterte der
Podcast die Rankinglisten der üblichen Plattfor-
men hoch. Welche Hoffnung verbinden Sie damit?

22 / 23
JG: Die Interviews mit den Aussteigenden habe ich
geführt, weil ich zum einen die Chance gesehen habe,
dass das Thema damit über die rein fotografisch-künstle-
rischen Kreise hinaus=geht. Zum anderen können die
Bilder zwar viele Fragen stellen, sie können aber nicht
alle Zusammenhänge der fotografierten Person erzählen.
Bilder sind insgesamt sehr gut darin, Fragen zu stellen
und Räume zu öffnen, aber eher schlecht im Erklären.
Ich hatte schon immer vor, dass die Interviews einge-
sprochen werden. Das erste Mal zu hören waren sie
dann in einer verkürzten
Version in der Ausstellung
in der Zitadelle Spandau.
Daraus entstand die Idee,
Podcasts zu erstellen mit
Nordhausen, Mai 2021
Menschen, die auf die
Arbeit „Haut, Stein“ wie
auch die Arbeit von EXIT Frage: Ursprünglich war „Haut, Stein“ als klassi-
aufmerksam machen sche Innenraum-Ausstellung konzipiert. Was
wollen. Dadurch haben bedeutete es für Sie, daraus eine Außenausstellung
wir die Reichweite noch- zu entwickeln? Und welche Auswirkungen hat es
mal um ein Vielfaches für das Projekt selbst, dass es nun als großforma-
vergrößert. Ein künstleri- tige Installation im öffentlichen Raum platziert und
scher Prozess in der sogar auf Wanderschaft gehen kann?
Auseinandersetzung mit
einem Thema ist nicht mit JG: Die Außenausstellung, die auf Ihre Initiative hin und
dem Ende des Fotografie- in Kooperation mit dem niederländischen Designbüro
rens, mit dem „letzten“ Kummer & Herrman entstanden ist, war eine riesige
Foto oder einer abschlie- Chance. Die Bilder im großen Format im öffentlichen
ßenden Ausstellung Raum zu zeigen, erhöht die Rezeption und Aufmerksam-
erreicht, sondern die Bilder wirken weiter und können, keit, und auch Menschen, die nicht regelmäßig ins
eigentlich sollen sie neue Prozesse in Gang bringen. Museum gehen, können sich die Bilder anschauen und
Also im Fall von „Haut, Stein“ hat sich das Projekt weiter- sich ihre Gedanken machen. Und mich persönlich hat
entwickelt, zum Beispiel mit den Podcasts, den Work- natürlich auch gefreut, dass die Bilder auch im großen
shops in Schulen mit Aussteigenden wie z. B. in Weimar, Format und anderer Zusammenstellung als im Museum
der Zusammenarbeit mit dem Brandenburgischen funktionieren und wirken. Aber ich sah die Gefahr, dass
Landesmuseum für moderne Kunst in Cottbus oder die Arbeit nicht verstanden wird, dass der oder die
zuletzt auf Initiative des Friedensfests in Ostritz. Besucher:in möglicherweise nur ein Hakenkreuz sieht
und das auch noch toll findet und ein Selfie macht. Das
wäre natürlich katastrophal gewesen. Deshalb haben
wir entschieden, den Stein-Teil nach Außen, quasi als
Außenwand, zu setzen und den Haut-Teil auf die Innen-
seiten in teilweise sehr spitzen Winkeln zu platzieren,
sodass man die Bilder teils gar nicht mehr gerade an-
schauen kann. Dadurch haben wir einer falschen Helden-
Verehrung und entsprechenden Selfies vorgebeugt.
Gleichzeitig waren auch die Bilder, die aufgrund der
Symbolik offensichtlich problematisch sind, aus den
Sichtachsen von außen genommen, sodass man zuerst
in die Installation eintreten musste, um diese Bilder zu
sehen. Besonders spannend war natürlich auch der
Stéphane-Hessel Platz in Weimar, auf dem die Ausstel-
lung das erste Mal zu sehen war – zwischen dem
Weimar, April 2021
Fotos: Jakob Ganslmeier
STIFTUNG

ehemaligen Gauforum und dem neuen Bauhaus-


Museum. Dieses örtliche Spannungsverhältnis korres-
pondiert sehr gut mit dem Thema der Arbeit und
wir haben die Möglichkeit genutzt, aus dem Stein-Teil
eine Sichtachse auf das ehemalige Gauforum zu werfen.
In Nordhausen war die Ausstellung an einem sehr
frequentierten Ort zu sehen, was meiner Meinung nach
auch sehr gut funktioniert hat, – und sie wurde auch,
wie wir leider wissen, von der örtlichen rechtsextremen
Szene wahrgenommen. Tatsächlich ist die Außenaus-
stellung auch eine Weiterentwicklung der Innenvariante
und genauso dafür konzipiert zu wandern. Natürlich ist
der Aufwand ein größerer.

Frage: Ihre künstlerische Perspektive hat zwei


Arbeitsfelder zur Auseinandersetzung mit Rechts-
extremismus zusammengeführt: die aktuelle
Sensibilisierungs- und Deradikalisierungsarbeit
von EXIT-Deutschland und die historisch-politische
Bildungsarbeit, die wir für gewöhnlich in den
Gedenkstätten umsetzen. Die Wirkung des
gemeinsamen Ausstellungsprojektes wird durch
Nordhausen, Mai 2021
den jeweiligen öffentlichen Ort der Präsentation Foto: Jakob Ganslmeier
noch potenziert. Welcher wäre der perfekte Ort
für „Haut, Stein“?

JG: Den perfekten Ort gibt es glaub ich nicht, ich bin
froh über jede Zusammenarbeit mit Institutionen, die die
Arbeit zeigen. Gerade in Deutschland hat man leider oft
konzeptionelle Probleme und Vorbehalte, wenn man eine
Ausstellung über Neo-Nazis an historischen Orten wie
Gedenkstätten zeigt. Mir persönlich geht es aber darum,
einen Diskurs zu beginnen und gleichzeitig die richtigen
Fragen aus einer künstlerischen Perspektive zu stellen.
Mit manchen Institutionen kann dann eine sehr intensive
und produktive Zusammenarbeit entstehen, wie z. B. im
Anfangsstadium mit dem NS-Dokumentationszentrum
in Köln. Ich würde mir wünschen, dass die Ausstellung
auch im westlichen Teil Deutschlands gezeigt wird. Bisher
war sie bis auf die Zitadelle Spandau und Bielefeld vor
allem in den östlichen Bundesländern zu sehen. Dabei ist
Beim Workshop mit Aussteigenden, Weimar
der Rechtsextremismus ein Thema, das uns alle, egal in
welchem Teil Deutschlands, angeht.

Die Fragen stellte die Kulturwissenschaftlerin


Dorothee Schlüter, sie initiierte als Medienreferentin des
zukünftigen Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus
die Outdoor-Ausstellung in Weimar und Nordhausen.

24 / 25
Haut, Stein
Wie vergangen ist die deutsche Vergangenheit? Mit dieser Frage konfrontiert
das fotografische Langzeitprojekt „Haut, Stein“ von Jakob Ganslmeier
(Berlin/Den Haag) und rückt dabei den Umgang mit nationalsozialistischen
Symbolen bis heute in den Blick. Schwarz-weiße Architektur-Fotografien
treffen auf Farbporträts von Aussteigenden aus der rechtsextremen Szene.
Dokumentiert wird einerseits das Entfernen einschlägiger Tätowierungen und
andererseits die im öffentlichen Raum noch immer sichtbaren, baulichen
Relikte des NS.
Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora präsentierte
das Projekt „Haut, Stein“ als Outdoor-Wander-Ausstellung 2021 im Kontext
des 76. Jahrestages der Befreiung beider KZ auf öffentlichen Plätzen in
Weimar und Nordhausen.
Der begleitende Podcast zur Ausstellung erzählt die individuellen Geschichten
hinter den Porträts über die Abwendung von der rechtsextremen Szene und
den Prozess der Deradikalisierung.
Erhältlich unter https://exit-deutschland.de/
und bei allen üblichen Podcast-Anbietern.

„Haut, Stein“ auf Instagram folgen: @exhibition_haut.stein

Weimar, April 2021


Foto: Jakob Ganslmeier
STIFTUNG

Foto: Thomas Müller

Weimar, 25.1.2022
Für Rücksichtnahme,
Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie – gegen
Verschwörungsmythen,
Antisemitismus und
gegen die Spaltung der
Gesellschaft
Als Unterzeichnende der „Weimarer Erklärung für demo-
kratische Bildungsarbeit“ (2019) sehen wir mit großer
Sorge, dass die Gedenkstätte Buchenwald in den vergan-
genen Wochen in bisher ungekanntem Ausmaß Ziel von
Hass in Form von Mails und Anrufen geworden ist. In
diesen werden die Corona-Schutzmaßnahmen mit dem
Nationalsozialismus gleichgesetzt. Wir zeigen uns solida-
risch mit den Mitarbeitenden der Gedenkstätte und
wehren uns gegen eine Instrumentalisierung der Pande-
mie durch Geschichtsrevisionisten und Demokratiefeinde.

26 / 27
Keine Instrumentalisierung der Pandemie für Die Erstunterzeichner:innen
demokratiefeindliche Zwecke
Prof. Dr. Winfried Speitkamp
Die große Mehrheit der Bevölkerung trägt die Belastun- Bauhaus-Universität Weimar
gen der Pandemie solidarisch, denn sie weiß: Nur mit
gegenseitiger Rücksichtnahme und gesellschaftlichem Harms Achtergarde
Miteinander kann es gelingen, sie zu überwinden. Doch Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus Weimar
bei den „Spaziergängen“ – auch in Weimar – und in den
einschlägigen Telegram-Gruppen geht es inzwischen Hasko Weber und Sabine Rühl
vielen längst nicht mehr nur um Kritik an einzelnen Infek- Deutsches Nationaltheater
tionsschutzmaßnahmen, sondern auch darum, die und Staatskapelle Weimar GmbH
demokratische Gesellschaftsordnung an sich und ihre
Grundwerte zu delegitimieren. „Spaziergänge“ werden Henrich Herbst
von Rechtsextremen und „Reichsbürgern“ unterwandert. Evangelisch-Lutherischer Kirchenkreis Weimar
Es werden wissenschaftsfeindliche Desinformationen
und antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet. Prof. Dr. Christoph Stölzl
Vielfach betreiben „Spaziergänger“ und „Corona-Kritiker“ Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar
Geschichtsrevisionismus: Infektionsschutzmaßnahmen
setzen sie mit dem Holocaust gleich und behaupten, Dr. Ulrike Lorenz
wir würden in einer „Corona-Diktatur“ leben. Solche Klassik Stiftung Weimar
Gleichsetzungen verharmlosen nicht nur den National-
sozialismus und verhöhnen dessen Opfer, sie sind der Peter Kleine
gezielte Versuch, Zwiespalt zu säen und die liberale Stadtverwaltung Weimar
Demokratie zu bekämpfen. Deshalb verwahren wir uns
dagegen in aller Deutlichkeit. Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller
Stiftung Ettersberg
Demokratischer Diskurs muss sein
Eric Wrasse
Als Weimarer Institutionen der historischen, politischen Stiftung Europäische Jugendbildungs- und
und kulturellen Bildung schaffen wir Räume für demokra- Jugendbegegnungsstätte Weimar
tische Debatten. Wir stehen für einen wissenschaftlich
fundierten Austausch von Argumenten, der gegensätz- Prof. Dr. Jens-Christian Wagner
liche Meinungen akzeptiert, ohne undemokratischen und Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
menschenfeindlichen Positionen Raum zu geben. Denn
Kritik an staatlichen Maßnahmen gehört wie das Recht Ulrich Dillmann
auf freie Meinungsäußerung und das Versammlungsrecht Volkshochschule Weimar / Jugend- und Kulturzentrum
zu einer funktionierenden Demokratie. Die Achtung der mon ami
Menschenrechte und der Respekt gegenüber anderen
Meinungen und Personen bleiben dabei wichtige Grund- Prof. Dr. Michael Dreyer
voraussetzungen für das gesellschaftliche Miteinander. Weimarer Republik e. V.

Für ein solidarisches Miteinander Ulrike Köppel


weimar GmbH /Gesellschaft für Marketing,
Gemeinsam setzen wir auf Solidarität und Rücksicht- Kongress- und Tourismusservice
nahme in der Pandemie. Schützen wir nicht nur uns und
andere, sondern auch unsere demokratische, offene, freie
und solidarische Gesellschaftsordnung, indem wir unsere
Stimme erheben: Für ein solidarisches Miteinander!

Zeichnen Sie die Erklärung


ebenfalls unter:
www.weimarer-erklaerung.de
STIFTUNG

Bertrand Herz
(24. April 1930–21. Mai 2021)
Am 21. Mai 2021 starb unser Freund Bertrand Herz im
Alter von 91 Jahren in Paris. Im August 1944 war er
mit seinem Vater als jüdischer Franzose in das KZ
Buchenwald deportiert worden. Der Vater überlebte
nicht. Bertrand Herz kehrte nach der Befreiung nach
Frankreich zurück. Von 2001 bis 2016 war er Präsident
des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora et
Kommandos und seit 2016 dessen Ehrenpräsident.

Bertrand Herz erhielt verschiedene staatliche Auszeich-


nungen, unter anderem den nationalen französischen
Verdienstorden „Chevalier de l'ordre national du mérite“
und die Mitgliedschaft in der französischen Ehrenlegion.
Am 3. Oktober 2009 verlieh ihm die Stadt Weimar die
Ehrenbürgerwürde, am 10. April 2010 erhielt er den
Verdienstorden des Freistaats Thüringen. Seit 1997 war
Bertrand Herz Generalsekretär der Association Française
Buchenwald Dora et Kommandos und seit 2001 Präsi-
dent des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora
und Kommandos, seit 2016 sein Ehrenpräsident.

Im Folgenden dokumentieren wird die Trauerrede, die


Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner bei der
Beisetzung von Bertrand Herz in Paris hielt.

28 / 29
Foto: Juliane Werner

Foto: Peter Hansen


Liebe Familie Herz,

vor fast 25 Jahren habe ich Bertrand Herz kennengelernt –


anfangs bei Besuchen von ihm in der KZ-Gedenkstätte
Mittelbau-Dora, dann auch in Buchenwald. Bei den jähr-
lichen Gedenkveranstaltungen im April, bei Sitzungen des
IKBD, in Sitzungen des Stiftungsrates, bei Ausstellungs-
eröffnungen, einem Treffen der Präsidenten der Lager-
komitees in Berlin, beim Besuch von US-Präsident Obama –
immer war er präsent. Auch in Frankreich habe ich ihn
immer wieder treffen dürfen, zuletzt 2014 anlässlich einer
Tagung der französischen Amicale Bergen-Belsen hier in
Paris. Da hatte ich gerade meine neue Stelle in der
niedersächsischen Gedenkstätten-Stiftung angetreten.
Leider konnte ich ihn nicht mehr treffen, als ich im
vergangenen Herbst nach Thüringen zurückgekehrt war,
um die Leitung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald
und Mittelbau-Dora zu übernehmen. Umso mehr habe
ich mich über seine Videobotschaft zum 76. Jahrestag
der Befreiung gefreut, aus der wir am 11. April diesen
Jahres bei der Gedenkveranstaltung mit Bundespräsi-
dent Steinmeier einen Ausschnitt gezeigt haben. Ich
weiß, wie wichtig es ihm war, diese Videobotschaft noch
aufzunehmen, obwohl er schon geschwächt war.

In all den Jahren wurde er nicht nur für mich, sondern


für uns alle in der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald
und Mittelbau-Dora zu einem wichtigen Ratgeber und
Freund. Wir haben Bertrand Herz unglaublich viel zu
verdanken. Er ist mit großer Offenheit und mit Vertrauen
auf uns Deutsche zugegangen, obwohl es unsere Groß-
väter waren, die Frankreich angegriffen und Mord und
Gewalt über Europa gebracht haben, insbesondere
gegen die jüdische Bevölkerung.

Mit nie endendem Engagement und einem klaren politi- Europa darf
schen Kompass hat sich Bertrand Herz dafür eingesetzt,
dass diese Verbrechen nicht vergessen werden. Dafür nicht zulassen,
verdient er unser aller Dank. Seinen klugen Rat, sein
feines Gespür auch für Zwischentöne, seine herzliche dass sich in
Freundschaft, sein schelmisches Lächeln – ich werde es
vermissen. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen der seinem Herzen
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
verneige ich mich vor einem großen Mann und engen Hass
Freund – und vor seiner Familie. Wir alle wünschen Ihnen
viel Kraft! entwickelt.
Bertrand Herz
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
STIFTUNG

Foto: Peter Hansen


Boris Timofejewitsch
Romantschenko
(20. Januar 1926–18. März 2022)
Wir trauern um Boris Romantschenko, Vizepräsident griffen und im Januar 1943 in das Konzentrationslager
des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Buchenwald eingewiesen. Weitere Stationen waren
Kommandos (IKBD) für die Ukraine und ehemaliger Peenemünde, wo er an der V2-Rakete mitbauen musste,
Häftling der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er ist und das KZ Mittelbau-Dora. Bei seiner Befreiung im
am Freitag, den 18. März 2022, im Krieg in der Ukraine KZ Bergen-Belsen wog er nur 34 Kilogramm. Bis 1950
gewaltsam um sein Leben gebracht worden. blieb Boris Romantschenko in der Sowjetischen Besat-
zungszone, bzw. der DDR, wo er in der Roten Armee
Nach dem Tod seiner Ehefrau lebte Boris Romantschenko Dienst leisten musste. Nach der Rückkehr in seine
allein in einer Wohnung im achten Stockwerk eines Heimat studierte er an der Bergbau-Akademie in
Hauses am Stadtrand von Charkiw, wo er von seiner Charkiw und arbeitete als leitender Ingenieur.
Enkelin versorgt wurde. Er war zu krank, um sich in
einem Keller in Sicherheit bringen zu können. Als eine Boris Romantschenko war lange Jahre im Internationalen
Bombe das Hochhaus traf, fing seine Wohnung Feuer. Komitee Buchenwald-Dora als Vizepräsident für die
Er verbrannte in den Flammen. Ukraine engagiert. So sprach er auch am 12. April 2015
auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Buchenwald
Boris Romantschenko wurde am 20. Januar 1926 in den Schwur von Buchenwald in russischer Sprache:
Bondari bei Sumy geboren und 1942 nach Dortmund „Наш идеал – построить новый мир мира и
verschleppt, wo er unter Tage Zwangsarbeit leisten свободы.“ („Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens
musste. Er versuchte zu fliehen, wurde jedoch aufge- und Freiheit ist unser Ideal!)

30 / 31
Boris Romantschenko
auf dem ehemaligen Appellplatz
beim Verlesen des Schwurs
von Buchenwald, 12.4.2015.
Foto: Michael Reichel

Der entsetzliche Tod von Boris Romantschenko


zeigt, wie bedrohlich der Krieg in der Ukraine
auch für die KZ-Überlebenden ist. Gemeinsam
mit über 30 weiteren Gedenkstätten hat die Stiftung
Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
ein Hilfsnetzwerk für ehemalige NS-Verfolgte in der
Ukraine gegründet. Mit Spendengeldern werden
für sie Medikamente und Lebensmittel organisiert.
Außerdem soll praktische Hilfe für geflüchtete
In seiner Wohnung in Charkiw
KZ-Überlebende organisiert werden (Abholung von Foto: Maximilian-Kolbe-Werk
der ukrainischen Grenze, Hilfe bei der Unterbringung
in Deutschland). Mit einer Spende können Sie die
Überlebenden der NS-Verfolgung in der Ukraine
unterstützen:

Spendenkonto bei der Berliner Volksbank


Empfänger: Kontakte-Kontakty
IBAN: DE59 1009 0000 2888 9620 02
BIC: BEVODEBB

KONTAKTE-KOHTAKTbI e. V.
verwaltet die Spenden
treuhänderisch.
Weitere Informationen unter:
https://hilfsnetzwerk-nsverfolgte.de/
S C H W E R P U N K T: N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S A L S T R A N S N AT I O N A L E S P H Ä N O M E N

Nationalistisches
Doppeldenk:
Der Potempa-Mord,
der Nationalsozialismus
und der Zwiespalt des
Nationalismus in
Grenzgebieten
Neue Forschungsergebnisse zeigen den
Pragmatismus und die Widersprüchlichkeiten der
Nationalitätenpolitik der frühen NSDAP auf.
VON LUISA HULSRØJ

Im Spätsommer 1932 machte das kleine oberschlesische Dorf Potempa deutschland-


weit Schlagzeilen: Dort, nur drei Kilometer von der polnischen Grenze entfernt,
waren SA-Männer in die Hütte von Konrad Pietrzuch, einem kommunistisch gesinnten,
arbeitslosen Landarbeiter aus einer polnischsprachigen Familie, eingebrochen und
hatten diesen erschlagen. Der Mord ereignete sich kurz nach Mitternacht am
10. August; um Mitternacht war eine Notverordnung in Kraft getreten, die politischen
Mord unter Todesstrafe stellte. Die SA-Männer wurden daher noch im selben Monat
vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Nationalsozialistische und andere rechte
Medien sprachen sich vehement gegen das Urteil aus. Auch die SA-Führung stellte
1 Bessel, Richard (1977): The sich öffentlich hinter die Mörder und zwang so Adolf Hitler zur Stellungnahme. Dieser
Potempa Murder, in: Central
European History 10 (3),
schloss sich der Unterstützung für die Mörder letztendlich an. Der öffentliche Druck
S. 241-254. führte dazu, dass die Mörder noch Anfang September 1932 zu lebenslanger Haft
2 Beispiele für diesen Fokus sind,
begnadigt wurden. Im März 1933 kamen sie schließlich ganz frei.1
neben Bessels Aufsatz, Paul Klukes
Artikel „Der Fall Potempa“ im
Vierteljahresheft für Zeitgeschichte
Der Fall erntete von politischen Beobachter:innen damals sowie von Historiker:innen
5 (3) vom Juli 1957 und Johann später Aufmerksamkeit als Beleg für die öffentliche Abkehr Hitlers von der Politik der
Chapoutots Monographie
„Le meurtre de Weimar“ aus dem
Legalität und Respektabilität, die er seit dem Scheitern des Münchner Putschs verfolgt
Jahr 2010. hatte.2 Die Geschichtsschreibung hat hingegen kaum beachtet, dass der Mord regional,

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„Deutsche Ostsiedlung vom 11. bis 19. Jahrhundert“. Der Anspruch auf eine deutsche Vorherrschaft in Mittel- und
Osteuropa wurde aus mittelalterlichen deutschen „Ostsiedlungen“ und „deutschem Kulturboden“ abgeleitet.
Dazu dienten auch willkürlich gezogene Grenzen der deutschen Sprache und des mittelalterlichen Deutschen Reiches.
Der Neue Brockhaus, 1937

zum Zweck der Legitimierung der Tat, als Produkt des deutsch-polnischen Nationali-
tätenkonflikts dargestellt wurde. Dieses apologetische Narrativ stieß in einer Region,
in der die Erinnerung an die Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg lebendig und
nationalistische Gewalt an der Tagesordnung war, auf viel Resonanz. Da die nationalen
Verhältnisse in den Grenzgebieten aber keineswegs so eindeutig waren, wie von den
Nationalsozialisten behauptet, bot die gleichzeitige Duldung nicht eindeutig deutsch-
stämmiger Mitglieder in den Reihen der NSDAP Angriffsfläche für Kritik an dieser
nationalistischen Rechtfertigung für den Potempa-Mord.

Der Diskurs rund um den Mord bietet somit einen Einblick in den Zwiespalt zwischen
völkischem Anspruch und dem Pragmatismus, der zum Vergrößern und Festigen der
Nation in Grenzgebieten nötig war. Diese Diskrepanz, die die Forschung der letzten
zwanzig Jahre herausgearbeitet hat, kompliziert das gängige Bild vom „Dritten Reich“
als „Rassenstaat“. Der Umgang der Nationalsozialisten mit dieser Spannung wurde
3 Der Begriff „Rassenstaat“ geht
bislang allerdings hauptsächlich mit Blick auf die Besatzungspolitik während des auf die gleichnamige Monographie
Zweiten Weltkrieges erforscht.3 Die Kluft zwischen nationalistischem Anspruch und „The Racial State: Germany
1933-1945“ von Michael Burleigh
Wirklichkeit begegnete den Nationalsozialisten allerdings bereits vor Machtübernahme und Wolfgang Wippermann aus
und Krieg in Deutschlands eigenen Grenzgebieten. dem Jahr 1991 zurück.
S C H W E R P U N K T: N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S A L S T R A N S N AT I O N A L E S P H Ä N O M E N

Deutschlands Grenzländer und der Nationalismus:


Die Ausgangslage

Dass Menschen verschiedener Ethnizitäten gemeinsam Staaten und Regionen be-


wohnten, galt, trotz ab und an aufflammender Rivalitäten, jahrhundertelang als normal
und unproblematisch, denn Staaten definierten sich hauptsächlich über die sie regieren-
den Dynastien.4 Als dann im 19. Jahrhundert der Nationalismus Fuß fasste und die
Deckungsgleichheit von Staat und Nation anstrebte, stand dieses Ziel im Widerspruch
zu den Lebensrealitäten vieler Menschen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gab es in
Europa viele, die mit dem Nationalismus und dessen Vorstellung, dass Nationalität
zentral für die persönliche Identität sei, wenig anfangen konnten.5 Diese sogenannte
4 Hagen, William (1980): Germans, nationale Indifferenz war insbesondere in Ost- und Mitteleuropa gängig, aber nicht
Poles, and Jews. The Nationality
Conflict in the Prussian East, nur dort. Auch in Schleswig, das kulturelle, wirtschaftliche und politische Anbindungen
1772-1914, Chicago. sowohl an Dänemark als auch an Deutschland hatte, standen viele zwischen den
5 Den besten Einstieg in die Literatur Stühlen.6 Selbst wo sich, wie im ostpreußischen Masuren, schnell eine stabile nationale
zum Thema der nationalen Indiffe- Identifikation herausbildete – in diesem Fall mit Deutschland – wurden dieser zuwider-
renz bietet Tara Zahras Aufsatz
„Imagined Noncommunities: laufende Merkmale, wie der masurisch-polnische Dialekt, nicht aufgegeben.7 In
National Indifference as a Category Oberschlesien hemmte die Zentralität des Katholizismus für die Selbstdefinition der
of Analysis“ in Slavic Review 69 (1)
aus dem Jahr 2010. Einwohner:innen die Ausbreitung und Festigung nationaler Identitäten.8

6 Thaler, Peter (2009): Of Mind and


Matter. The Duality of National Als die Grenzen Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg neu ausgearbeitet
Identity in the German-Danish wurden, entschieden sich die Alliierten dafür, in einigen Regionen, in denen das Verhält-
Borderlands, West Lafayette.
nis zwischen Ethnizität und Nationalität nicht offensichtlich war, Volksabstimmungen
7 Kossert, Andreas (2001): Preussen, durchzuführen. All diesen Abstimmungen gingen hitzige Wahlkämpfe voraus, was nur
Deutsche oder Polen? Die Masuren
im Spannungsfeld des ethnischen hervorhob, dass die Abstimmungen keine reinen Erhebungen der zahlenmäßigen Stärke
Nationalismus 1870-1956, Wies- der Nationalitäten waren, sondern dass es möglich und nötig war, Stimmen aus dem
baden; Blanke, Richard (2001):
Polish-speaking Germans? großen Block der national Unentschiedenen zu gewinnen.9 In Oberschlesien stimmte
Language and National Identity im Plebiszit von 1921 die Mehrheit der Stimmberechtigten für Deutschland, woraufhin
among the Masurians since 1871,
Köln. ein polnischer Aufstand losbrach, der gewaltsam Fakten zu schaffen suchte. Freikorps
aus ganz Deutschland und lokale Selbstschutzverbände schlugen diesen Aufstand
8 Bjork, James (2008): Neither
German Nor Pole. Catholicism and blutig nieder. Einige Monate später sprachen die Entente-Mächte Deutschland den
National Indifference in a Central größeren, westlichen Teil Oberschlesiens zu, Polen aber das wertvolle ostoberschlesi-
European Borderland, Ann Arbor.
sche Industriegebiet.10 Auch Schleswig wurde nach einem Referendum geteilt: Nord-
9 Blanke, Richard (1975): schleswig ging an Dänemark, Südschleswig verblieb bei Deutschland. Masuren blieb,
Upper Silesia, 1921. The Case for
Subjective Nationality, in: Canadian bis auf ein Gebiet eines Landkreises, vollends Teil Deutschlands.
Review of Studies in Nationalism 2,
S. 251-252.
Der völkische Diskurs
10 Tooley, T. Hunt (1997): National und der Potempa-Mord
Identity and Weimar Germany.
Upper Silesia and the Eastern
Border, 1918-1922, Lincoln. Zu der in Oberschlesien seit der Abstimmungszeit aufgeheizten nationalistischen Stim-
11 Bessel, Richard (1977): The
mung kam in den frühen 1930er Jahren die allgemein aufgeladene politische Situation
Potempa Murder, in: Central hinzu. Unter diesen Umständen stellte Konrad Pietrzuch, als Polnisch sprechender
European History 10 (3), S. 245.
Kommunist, „eine fast perfekte Zielscheibe für nationalsozialistischen Hass“ dar, zumal
12 „Das war der ‚arme‘ Pietrzuch! vier seiner Mörder aus ostoberschlesischen Ortschaften stammten, die 1921 Polen
Und wegen dieses Subjektes sollen
5 Deutsche dem Henker ausgelie-
zugeschlagen worden waren.11 Diesen Umstand nutzte die nationalsozialistische Presse,
fert werden“, Völkischer Beobach- um den Mord zu rechtfertigen und den Umgang der Justiz mit den Mördern zu
ter, 28./29. August 1932.
Cambridge University Library.
verurteilen.

13 „Neues Belastungsmaterial gegen


den Insurgenten Pietrzuch“, Völki-
Zahlreiche Artikel der deutsch-nationalistischen Presse beschuldigten Pietrzuch, sich
scher Beobachter, 6. September 1921 auf brutalste Weise am polnischen Aufstand beteiligt zu haben. Ihm wurden
1932. Geheimes Staatsarchiv
Preußischer Kulturbesitz, I. HA,
Gräueltaten angehängt, von dem gewaltsamen Ausrauben einer deutschen Butterhänd-
Rep. 77, St 18, Nr. 218. lerin12 bis zu einem Massaker an sieben deutschen Bergarbeitern.13 Pietrzuchs Mörder

34 / 35
14 „Ein kommunistischer polnischer
Insurgent wird erschossen… Ein
deutsches Gericht fällt fünf
Todesurteile: Das Schreckensurteil
Karlsruher Tagblatt, 23.8.1932
von Beuthen darf nie und nimmer
vollstreckt werden“, Der Angriff,
23. August 1932. Geheimes Staats-
archiv Preußischer Kulturbesitz, I.
HA, Rep. 77, St 18, Nr. 218.

15 „Die unmöglichen Todesurteile von


Beuthen“, Oberschlesische Tages-
hingegen wurden als gute Deutsche und vorbildliche Selbstschutzkämpfer präsen- zeitung, 23. August 1932. Archiwum
tiert. Es wurde behauptet, der Kampf zwischen deutschen Patrioten und polnischen Państwowe w Opolu, NPO, 1025.

Gewaltmenschen gehe seit einigen Jahren unter einem politischen Deckmantel weiter: 16 Z. B.: „Der wahre Pieczuch!“,
Während Polen wie Pietrzuch sich dem Kommunismus zugewandt hätten, weil dieser Deutsche Ostfront, 4./5.
September 1932. Archiwum
ein Ventil für Hass auf Deutschland bot, versammelten SA und Stahlhelm die deutschen Państwowe w Opolu, NPO, 1025.
Verteidiger Oberschlesiens in sich.14 Aus dieser fortgesetzten, bürgerkriegsähnlichen
17 Zeitungen der polnischen Minder-
Dynamik heraus ließ sich der Mord angeblich erklären: “Die Verurteilten handelten als heit trugen Fälle von Gewalt
ehemalige Selbstschutzleute in dem zwar irrigen, aber deshalb nicht weniger starken während Wahlkämpfen in Artikeln
zusammen, siehe z. B.: „Wahlterror
Glauben, mit der Beseitigung eines ehemaligen polnischen Aufständischen etwas zu im Oppelner Schlesien“, Nowiny
tun, was sich verantworten läßt und was vor 11 Jahren [während der Niederschlagung Codzienne, 10. Mai 1932, übersetzt
im Gesamtüberblick über die
des polnischen Aufstandes] in nationaler Notwehr wiederholt getan worden ist.”15 polnische Presse vom 20. Mai 1932.
Außerdem sei es ohnehin ungerechtfertigt, fünf deutsche Männer mit ihrem Leben Archiwum Państwowe w Opolu,
RO, 1882.
für den Tod nur eines einzigen Polen büßen zu lassen.16
18 Siehe z. B. den Bericht „Mißhand-
lung und Beleidigung von Angehöri-
Die Täter, die in der Tatnacht Jagd auf Potempas Kommunisten gemacht hatten, gen der polnischen Minderheit am
ordneten ihre Tat nie selbst als nationalistisch ein. Trotzdem fiel die nationalsozialistische 9.3.1931 in Hindenburg-Biskupitz“,
18. März 1931. Archiwum
Rechtfertigung auf fruchtbaren Boden. Tatsächlich völkisch motivierte Gewalt war Państwowe w Opolu, NPO, 110.
schließlich nicht unüblich: Sie flammte gerade vor Wahlen auf17, konnte aber auch
19 Karch, Brendan (2018): Nation
Menschen treffen, die einfach nur auf Polnisch sprachen oder sangen.18 Zwei Jahre vor and loyalty in a German-Polish
dem Mord hatte ein Mob sogar im großen Stil Musiker:innen und Schauspieler:innen borderland. Upper Silesia,
1848-1960, Cambridge.
zusammengeschlagen, die in der Provinzhauptstadt Oppeln eine polnische Oper auf-
geführt hatten.19 Die oberschlesische Rechte war es gewohnt, sich hinter solche 20 Z. B.: „Stellungnahme des Deut-
schen Ostbundes“, Oberschlesische
Taten zu stellen und tat es auch im Fall des Potempa-Mordes. Zahlreiche Unterstützer- Tageszeitung, 26. August 1932.
schreiben von nationalistischen Vereinen an Kanzler von Papen nahmen auf das apolo- Archiwum Akt Nowych, Konsulat
RP w Opolu, 17.
getische Narrativ Bezug.20 Selbst der prominente Vertreter der Deutschen Demo-
kratischen Partei und erklärte Gegner der Nationalsozialisten Kurt Urbanek unterzeich- 21 Brief vom Kreistag Beuthen-
Tarnowitz an von Papen,
nete ein Schreiben, das um die Begnadigung der Mörder bat, um weiteres Blutvergie- 25. August 1932. Archiwum
ßen im sogenannten Volkstumskampf zu vermeiden.21 Państwowe w Opolu, NPO, 1025.
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Es war außerdem durchaus gängig, politische Feindseligkeiten in nationalistische


Ressentiments zu kleiden. So wurde Albert Grzesinski, der sozialdemokratische preußi-
sche Innenminister, immer wieder wegen seines slawisch klingenden Nachnamens
angefeindet. Nationalsozialistische Redner in Ostpreußen und Ostpommern warfen
ihm vor, der Sohn einer polnischen Magd22 und – in manchen Darstellungen –
ihres jüdischen Dienstherrn zu sein.23 Der Vorwurf hatte keinerlei Basis in den Fakten:
Der Minister war als Albert Ehler als unehelicher Sohn einer Berliner Magd und eines
Metzgergesellen geboren worden. Den Namen hatte er von seinem, ebenfalls deut-
schen, Adoptivvater erhalten.24 Nichtsdestotrotz nutzte man anti-slawische Verleum-
dungen, um Grzesinski zu unterstellen, er sei als Pole ungeeignet, Regierungsämter
zu bekleiden.25

Diffamiert wurde auch ein oberschlesischer Polizist, der eine Veranstaltung mit dem
NSDAP-Redner Ludwig Münchmeyer abgebrochen hatte. Laut dem Schlesischen
Beobachter reagierte Münchmeyer auf die Schließung mit dem Vorwurf, der Polizist
22 Z. B.: „Betrifft: Bericht über eine sei 1921 polnischer Insurgent gewesen und spräche kein Deutsch.26 Als ein Gericht
öffentliche Versammlung der Münchmeyers Fall verhandelte, musste der Inspektor auf Nachfrage des Verteidigers
National-Sozialistischen Deutschen
Arbeiter-Partei Ortsgruppe Lauen- hin tatsächlich zugeben, dass seine Muttersprache der oberschlesische polnische
burg Pom.,“ June 14, 1929. Dialekt war. Dieser Umstand wurde genutzt, um ihn als unverlässlichen, des Deutschen
Archiwum Państwowe w Koszalinie,
RK, 4363. nicht mächtigen Zeugen hinzustellen. Dass der Polizist in Wahrheit fließend Deutsch
sprach und sich selbst als Deutscher verstand, tat aus Sicht der nationalsozialistischen
23 Urteil im Fall Helmut Richter, [1931].
Archiwum Państwowe w Koszalinie, Polemik nichts zur Sache.27 Ethno-nationalistische Anfeindungen beruhten auf einem
RK, 4363. binären Weltbild, das nur deutsch oder nicht-deutsch kannte.
24 „Grzesinski, Albert Karl Wilhelm,“
Deutsche Biographie, Die Grenzen des völkischen Nationalismus
https://www.deutsche-biographie.
de/sfz24423.html. und der Potempa-Mord

25 Urteil im Fall Helmut Richter, [1931].


Archiwum Państwowe w Koszalinie, In Wahrheit aber waren die Nationalitätenverhältnisse in Grenzgebieten voller Unein-
RK, 4363. deutigkeiten. Diese Tatsache machten sich Gegner des Nationalsozialismus zunutze,
26 „Sie können die Wahrheit nicht um Kritik an den völkischen Herabwürdigungen zu üben. So hob ein Artikel hervor, dass
vertre[unleserlich],“ Schlesischer fast die gesamte Einwohnerschaft Potempas 1921 für Polen gestimmt hatte, also auch
Beobachter, 3. Januar 1931.
Archiwum Państwowe w Opolu, diejenigen, die nun die NSDAP wählten. Da diese NSDAP-Mitglieder genauso ethnisch
RO, 1802. polnisch waren wie Pietrzuch, sei die nationalsozialistische Darstellung des Mordes
27 Bericht an den Polizeipräsidenten, scheinheilig.28 Auch einem der am Mord beteiligten SA-Männer unterstellte das sozial-
23. Februar 1932. Archiwum demokratische Oberschlesische Volksblatt, einst Pole gewesen zu sein. 1921 sei er als
Państwowe w Opolu, RO, 1805.
Agent Provocateur Mitglied im Selbstschutz gewesen und habe ein Waffenversteck
28 „Potempa in neuem Licht,“ an die Franzosen, die Oberschlesien während der Abstimmungszeit verwalteten und
15. September 1932. Archiwum
Państwowe w Opolu, RO, 1806.
sicherten, verraten. Um der Entlarvung durch seine Selbstschutz-Kameraden zu
entgehen, sei er nach Polen geflüchtet und habe dann auf der Seite der polnischen
29 „Hitlers Kamerad – ein Insurgent
und Verräter,“ Oberschlesisches
Aufständischen gekämpft. Anschließend sei er in der französischen Ehrenlegion gewe-
Volksblatt, [August 1932]. Archiwum sen. Erst kürzlich sei er nach Deutschland zurückgekehrt, wo er sich den Nationalsozia-
Państwowe w Opolu NPO, 1025.
listen angeschlossen hatte.29 Diese Geschichte schlug solche Wellen, dass sie vom
30 „‚Alte Kameraden.‘ Pietrzuch- Vorwärts aufgegriffen30 und von der Provinzregierung – ergebnislos – geprüft wurde.31
Mörder Gräupner ein Insurgent und
französischer Spion,“ Vorwärts,
Ähnliche Vorwürfe wurden auch gegen einen der Verteidiger der SA-Männer laut.
28. August 1932. Geheimes Staats- Zwar sei seine Mutter eine regional hochrangige Politikerin der Deutschnationalen
archiv Preußischer Kulturbesitz,
I. HA, Rep. 77, St 18, Nr. 218.
Volkspartei, doch ihr Vater habe selbst kein Deutsch gesprochen. Ihre Geschwister
seien ihrerseits überzeugte Polen.32 Mit der deutschen Abstammung des Anwalts, der
31 Brief an den Regierungspräsiden-
ten, 8. September 1932. Archiwum
sich in seinem Plädoyer auf die oberschlesische Geschichte und den Volkstumskampf
Państwowe w Opolu, RO, 1806. berufen hatte, sei es also nicht weit her.
32 „Rechtsanwalt Lowaks polnischer
Stammbaum,“ Oberschlesisches Auch in anderen Fällen betonte die sozialdemokratische Presse, dass die Nationalsozia-
Volksblatt, 25. August 1932.
Archiwum Państwowe w Opolu,
listen ihren eigenen rassistischen Standards nicht gerecht wurden. So verwiesen sie
NPO, 1025. darauf, dass in der regionalen Parteipresse Mitglieder mit Nachnamen wie Idzinski

36 / 37
und Plusczyk schreiben durften, während der oben erwähnte Polizist aufgrund seiner
polnischen Muttersprache diffamiert werde.33 Selbst viele nationalsozialistische Kandi-
daten für die preußische Landtagswahl trugen, wie der Vorwärts im Frühjahr 1932
feststellte, slawisch klingende Nachnamen.34

Diese Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis war keine Übertreibung der Gegner des
Nationalsozialismus. Es trugen tatsächlich sehr viele Nationalsozialisten in Grenzgebie-
ten nicht-deutsche Nachnamen, die sie allerdings ab 1938, als auch die Umbenennung
von Ortschaften Fahrt aufnahm, vielfach änderten.35 Der oberschlesische Untergau-
leiter Josef Adamczyk beispielsweise änderte 1939 seinen Namen in Adams, was für
ihn offenbar germanischer klang.36 Auch die Umgangssprache vieler Nationalsozialisten
in Grenzländern war nicht Deutsch. An der Grenze zu Dänemark beispielsweise stellte
ein Aktivist, der 1932 mit einem propagandistischen Film durch die Dörfer zog, fest:
„Fremd und unverständlich klingt uns ihre Sprache, wenn sie sich miteinander unter-
halten, zumeist sprechen sie friesisch oder plattdänisch, aber – Nationalsozialisten sind
sie alle, jung und alt …“37 Für ein ähnliches Klientel unterhielt die oberschlesische Partei- 33 „Die deutschblutigen Nazis in Ober-
zeitung sogar eine eigene Kolumne mit dem Titel „Pierona Fransek spricht“.38 Pieron schlesien.“ Oberschlesisches Volks-
blatt, 24. November 1931. Archiwum
war ein umgangssprachlicher Begriff für autochthone, meist polnischsprachige Ober- Państwowe w Opolu, NPO, 1025.
schlesier. Selbst während der nationalistischen Gewalttaten wurde gelegentlich auf
34 „Nazi-Lügner in der Zange.“ Cech,
polnische Dialekte zurückgegriffen. Bei einer Schlägerei im masurischen Ortelsburg Juli/August 1932. Staatsbibliothek
drohten Nationalsozialisten vermeintlichen Polen auf Polnisch.39 Konrad Pietrzuchs zu Berlin.

Mörder beschimpften ihn – laut der Aussage seines Bruders – gleichfalls auf Polnisch.40 35 Olszewski, Michał und Rafał
Żytyniec (2014): Ełk – spacerownik
po niezwykłym mieście, Ełk, S. 291.
Dieses Dulden der nicht-deutschen Namen und Sprachen ihrer Mitglieder durch die
NSDAP hatte zweierlei Gründe: Zum einen war es in Grenzgebieten schlichtweg nur 36 Lilla, Joachim, Martin Döring und
Andreas Schulz (Hrsg.) (2004):
Zugezogenen möglich, eine lupenrein deutsche Herkunft nachzuweisen. Zum anderen Statisten in Uniform: Die Mitglieder
war auch den Nationalsozialisten bewusst, dass man die vielen national noch Unent- des Reichstags 1933-1945,
Düsseldorf, S. 3.
schiedenen für das Deutschtum gewinnen musste, wenn man eine deutsche Dominanz
in den verbleibenden Grenzgebieten sichern und in den verlorenen Territorien wieder- 37 „Auf Filmfahrt an der Grenze.“
Schleswig-Holsteinische Tages-
herstellen wollte. Zum Zeitpunkt der Volksabstimmungen waren Deutschlands Nachbar- zeitung, 3. Juli 1932. Kreis- und
länder, die vom Kriegsausgang profitiert hatten und nicht durch internationale Ächtung Stadtarchiv Itzehoe.

und Reparationen belastet waren, in einer viel besseren Position als Deutschland gewe- 38 Janus, Bolko (1995): Germans
sen, um eine aussichtsreiche Zukunft zu versprechen. Nun jedoch, so waren die Natio- and Poles: Identity, Culture, and
Nationalism in German Upper
nalsozialisten überzeugt, waren viele wieder für das „Deutschtum“ zugänglich.41 So Silesia, 1918-1933, Buffalo, S. 81.
schrieb die schleswig-holsteinische Parteizeitung über Nordschleswig, dass jeweils 25 %
39 Urteil im Fall Werner Schulz, 5. Juni
der Bevölkerung gefestigte Deutsche beziehungsweise Dänen seien. Die übrigen 50 % 1931. Geheimes Staatsarchiv
seien unentschlossen und für das „Deutschtum“ noch einnehmbar. Dazu müsse man Preußischer Kulturbesitz, XX. HA,
Rep. 240 C, 67b.
das national unschlüssige Segment der Bevölkerung aber auch ansprechen. Der Artikel
in der Parteizeitung warb daher ganz bewusst dafür, dass die Nationalsozialisten den 40 Zeitungsartikel, [1932]. Archiwum
Akt Nowych, Konsulat RP w Opolu,
Vorsitz des etabliertesten nationalistischen Vereins Schleswig-Holsteins übernehmen 17.
und diesen wieder aktivistischer machen sollten.42 In Oberschlesien waren sie verein-
41 Z. B.: „Entrissenes deutsches Land
zelt, aber auch hier gab es Stimmen, die auf eine Abkehr vieler Ostoberschlesier vom muß wieder deutsch werden!
Polentum hofften, insbesondere wenn eine starke nationalsozialistische Regierung an Nordschleswigs Schicksal.“
Flensburger NS-Zeitung,
die Macht käme.43 Diese Bestrebungen erforderten selbstverständlich, dass man bereit 20. August 1932. Schleswig-
war, diejenigen, die von einer Nationalität zur anderen wechselten, auch aufzunehmen. Holsteinische Landesbibliothek.

42 „Gedanken zur Tagung der


Ähnlich pragmatisch handhabte man während des Zweiten Weltkriegs die Bevölke- Landesversammlung des Schleswig-
Holsteiner-Bundes.“ Schleswig-
rungspolitik in den besetzten beziehungsweise annektierten Teilen Ost- und Mitteleuro- Holsteinische Tageszeitung,
pas, die weit besser erforscht ist als die Nationalitätenpolitik der frühen NSDAP. Zwar 25. August 1932. Landesarchiv
Schleswig-Holstein, Abt. 417 Nr. 91.
waren die Prinzipien der Besatzungspolitik streng rassistisch formuliert, doch gleichzei-
tig setzte man auf die Germanisierung weiterer Bevölkerungsteile, die keineswegs 43 Brief an Josef Adamczyk,
14. Februar 1933. Archiwum
durchweg nachweislich deutsche Wurzeln hatten. Als beispielsweise in den annektier- Państwowe w Katowicach,
ten Teilen Polens die Deutsche Volksliste eingeführt wurde, um die darauf Erfassten 147/228.
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rassistisch einzuteilen, wurde die überwiegende Mehrheit für germanisch oder germani-
sierbar befunden.44 Im Protektorat Böhmen und Mähren erhielten ebenso die allermeis-
ten, die darum ansuchten, deutschen Status.45 Um den sogenannten Volkstumskampf
zu gewinnen, wurden die Grenzen der Rasse immer weiter gefasst.

Zwischen Rassenpolitik und Nationalismus,


Feindseligkeit und Duldung

Der völkische Nationalismus, ja Rassismus, stellte ohne Frage eine zentrale Komponente
des Nationalsozialismus dar. Gerade die Konzentrations- und Vernichtungslager und
der Völkermord an den europäischen Juden, die den Nationalsozialisten nie als germani-
sierbar galten, stehen beispielhaft für die mörderischen Konsequenzen der nationalso-
zialistischen Rassenpolitik. Trotzdem sollte man nationalsozialistische Ideologie nicht
mit nationalsozialistischer Realität gleichsetzen. Sowohl im besetzten und annektierten
Osteuropa des Zweiten Weltkrieges als auch, wie bislang kaum erforscht, in Deutsch-
lands eigenen Grenzgebieten vor Machtübernahme und Krieg berief man sich auf die
für die Situation jeweils passendsten nationalistischen Grundsätze und Ziele. Gegner
wie Konrad Pietrzuch diffamierte man rassistisch, für die eigenen Leute ließ man die
rassistischen Standards im Namen des Volkstumskampfes schleifen, selbst wenn man
44 Wolf, Gerhard (2017): Volk Trumps
Race. The Deutsche Volksliste in
sich dadurch eine Blöße gab. Oft richtet sich der Blick der Historiker:innen nur auf
Annexed Poland, in Pendas, Devin, eines der beiden Phänomene: auf Herabwürdigungen und Gewalt oder auf das Werben
Mark Roseman und Richard Wetzell
(Hrsg.): Beyond the Racial State.
und Tolerieren ethnisch nicht eindeutig Deutscher. Dabei existierten beide Herange-
Rethinking Nazi Germany, hensweisen gleichzeitig, vermutlich sogar in den Köpfen derselben Menschen: Es
Cambridge.
handelte sich um eine Art nationalistisches Doppeldenk.
45 Zahra, Tara (2008): Kidnapped
Souls. National Indifference and the
Battle for Children in the Bohemian
Das Untersuchen von Kontexten wie diesem, in denen der Nationalismus konzeptionell
Lands, 1900-1948, Ithaca, S. 190. an seine Grenzen stieß, weil er nicht so griff wie beabsichtigt, kann helfen, den Fokus
46 Zahra, Tara (2010): Imagined
der Geschichtsschreibung nicht einfach auf die trans- oder subnationale Ebene zu
Noncommunities. National verlagern, sondern die Nation als Baustein der Geschichte gänzlich zu hinterfragen.
Indifference as a Category of
Analysis, in Slavic Review 69 (1),
Nur so, um es mit der Historikerin Tara Zahra zu sagen, kann die Geschichte vor der
S. 94. Nation gerettet werden.46

Die Historikerin Luisa Hulsrøj promovierte 2021


an der University of Cambridge mit ihrem Thema
„The Rise of National Socialism in the German Borderlands,
1930-1933“.

Man könnte meinen,


die Geschichte des Lagers sei damit beendet.
Das ist sie nicht.
Yves Béon
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“

38 / 39
Ausschnitt aus einer 1944 vom Chef der
deutschen Militärverwaltung in Frankreich
herausgegebenen Publikation. Bei
den Frauen war der Anteil sowjetischer
Zwangsarbeiterinnen sehr hoch.
Archives Nationales, Paris

Neid und Missgunst als


Herrschaftsprinzip.
War Zwangsarbeit im Nationalsozialismus
ein transnationales Phänomen?
VON DANIEL LOGEMANN

„Die schmutzigste Suppenbrühe und die schmutzigste Im Zweiten Weltkrieg wurden 13 Millionen Menschen
Arbeit war uns Russen zugedacht und vorbehalten. zur Arbeit im Deutschen Reich gezwungen. Eigentlich
Die Polen bekamen etwas mehr Brot und Zigaretten. war dies ein soziales Experiment mit unbekanntem
Der Unterschied bemaß sich nach Grammen. Wichtig Ausgang, denn die deutsche Gesellschaft war durch
war nicht die Menge, wichtig war der Unterschied. […] den Einsatz von Zwangsarbeiter:innen so divers wie nie
Die Franzosen durften in der deutschen Kantine zuvor. Deshalb wollte eine rassistische Gewaltherrschaft
mitessen, sie bekamen ihre Suppe aus dem deutschen Kontakte unterbinden und spielte alle Beteiligten gegen-
Suppenkübel eingegossen“, skizzierte Vitalij Sjomin in einander aus. Kann vor dem Hintergrund unzähliger
seinem autobiographischen Roman, worauf die Herr- Kontakträume zwischen Zwangsarbeiter:innen und
schaft über Zwangsarbeiter:innen im Deutschen Reich Deutschen dennoch von einem transnationalen Geflecht
beruhte: Auf rassistischer Ausgrenzung und Ungleich- gesprochen werden? Etablierten sich transnationale
behandlung. [Vitalij Sjomin (1989): Zum Unterschied Praktiken, die den Herrschaftsanspruch der National-
ein Zeichen, Hamburg, S. 71.] sozialisten unterliefen?
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Rassistische Unterschiede

Die Maxime der Nationalsozialisten lautete, Kontakte


von Deutschen und Zwangsarbeiter:innen auf ein
Minimum zu beschränken bzw. ganz zu verbieten.
Abhängig von der ethnischen Herkunft der Zwangs-
arbeiter:innen variierte die Strenge der Umsetzung.
So durften französische, niederländische oder
tschechische Zwangsarbeiter:innen zum Beispiel
Gaststätten, Kinos und Schwimmbäder besuchen;
Zwangsarbeiter:innen aus Polen und der Sowjetunion
war dies untersagt. Zusätzlich mussten letztere
Abzeichen sichtbar auf der Oberbekleidung tragen.

Es löste Protest bei dänischen Zwangsarbeitern aus,


Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion waren zum Tragen eines
als sie ebenfalls Armbinden tragen sollten: „Wir haben „OST“-Abzeichens verpflichtet. Der Ukrainer Nikolaus Telitschko, geboren
dagegen protestiert, genau wie die Juden, Polaken [sic] 1925, der nicht mit auf dem Foto ist, aber bereits 1942 nach Silbertal
(Österreich) kam, berichtete: „Zuerst, als wir gekommen sind, war das
und Italiener gekennzeichnet zu werden.“ [Bundesarchiv, Lager nagelneu, französische Gefangene haben es aufgestellt. Daneben
R 3901/20264, F. 3, Bl. 140.] Dieses Beispiel zeigt, wie war ein Viehstall, ungebraucht. Dort hinein streute man Stroh und fast
einen Monat hausten wir in dem Stall. [...] Dann durften wir in das um-
rassistische Regeln auch die Beziehungen zwischen zäunte Lager einziehen. [...] Zuerst waren wir 270 Mann. Es waren auch
Zwangsarbeiter:innen beeinflusste und eigene Privilegien einige Ältere aus der Region Shitomir dabei, einige waren noch viel jünger
als ich, 14-jährige Kinder, nicht umsonst weinten viele ohne Mama.“
verteidigt bzw. andere Gruppierungen rassistisch ab- Das Hitlerporträt im Hintergrund wurde nachträglich zerkratzt.
gewertet wurden. Privatsammlung Matthias Breit, Absam

Verbotene Kontakte und Kontaktzonen

Freundschaften oder gar sexuelle Beziehungen von


Zwangsarbeiter:innen und Deutschen wurden nicht
geduldet. Polnische und russische Männer wurden für
Beziehungen zu deutschen Frauen mit dem Tode
bestraft. Deutsche wurden in Merkblättern und Aus-
hängen darauf hingewiesen, die angebliche deutsche
Ehre zu schützen und (sexuelle) Kontakte zu unterlassen.
„Deutsche, seid zu stolz, Euch mit Polen einzulassen!“,
lautet zum Beispiel die Quintessenz von Verhaltensvor-
schriften für Deutsche gegenüber polnischen Zwangs-
arbeiter:innen. [Thüringer Staatsarchiv Rudolstadt, VEB
Chemiefaserkombinat Schwarza Nr. 1330, Bl. 1.] Trotz der
rigorosen Kontaktbeschränkungen unterliefen Alltags-
Polnische Zwangsarbeiter:innen mussten ein „P“-Abzeichen auf ihrer
Kleidung anbringen. Der Besitz von Gruppenfotos konnte für polnische praktiken das Ansinnen vieler überzeugter Parteigänger.
oder sowjetische Arbeitskräfte gefährlich sein, da fast alle Kontakte zu In einem Bericht eines rassenpolitischen Amtes an den
Angehörigen anderer Gruppen als „verbotener Umgang“ geahndet wurden.
„Das Photo wurde im Dorf Gąski von einem Hobby-Photographen namens Gauleiter von Oberdonau, August Eigruber, hieß es im
Fysior aus der Kolonie Gąski aufgenommen und ich wurde gewarnt, es August 1940: „Sie [polnische Zwangsarbeiter] beginnen
niemandem zu zeigen, denn dafür drohte das Konzentrationslager“,
schrieb der im ostpreußischen Oletzko als Landarbeiter eingesetzte sich intensiv in unser ureigenstes Volksleben hineinzu-
Zbigniew Olszewski, vorne in der Mitte, 2005. Die Gefahr bestand drängen, suchen in Gruppen Gaststätten auf, benehmen
in der Abbildung mit polnischen Kriegsgefangenen.
Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“, Warschau sich dort, wie wenn sie zu Hause in ihrer Heimat wären,
singen slavisch Lieder, besaufen sich und werden, wenn
sie in bedeutender Überzahl sind, sogar schon frech
gegen Deutsche.“ [Bundesarchiv Berlin, NS 18/108, Bl.
14.] An solchen Stellen wird deutlich, dass transnationale
Einflüsse in den Alltag einsickerten und als Angriff auf
die nationale Selbstverortung verstanden wurden.

40 / 41
„Teile und Herrsche“

Ausgeweitet wurden Kontaktverbote auch in die Lebens-


bereiche zwischen den Zwangsarbeiter:innen. In seinem
Bremer Betrieb beobachtete ein französischer Zwangs-
arbeiter, dass die Pissoire der sowjetischen Zwangs-
arbeiter von denen für Franzosen separiert waren.
„Wo pissten die Deutschen?“, fragte er sich. [Yves Bert-
ho (2016): Ich war Pierre, Peter, Pjotr, Bremen/Boston,
S. 95.] Der Russe Sergej, der Protagonist Sjomins, war
in einem umfunktionierten Fabrikgebäude zusammen
mit Landsleuten untergebracht. Doch: „Im ersten Stock
wohnten einige Polen. Mehrere zusammengerückte
Saunaspinde aus Preßpappe trennten unsere Pritschen
von den zweistöckigen Pritschen der Polen. Dort hinter
Die dürftige Versorgung sowjetischer Zwangsarbeiterinnen lässt sich
ihren Spinden pflegten die Polen ihren Sonderstatus, an der Essenausgabe im Lager Barth-Holz ablesen. „Das Foto zeigt Lage
sogar zum Ofen kamen sie nur selten.“ [Sjomin, S. 51.] und Umgebung meiner Unterkunft während des Mittagessens hinter dem sogenann-
ten Bunker. Tage des Lebens und der Arbeit in Deutschland. Zur Erinnerung
Konflikte zwischen unterschiedlichen nationalen Gruppen für Mama und Papa, und Brüderchen Schura. Barth Holz, 31. Januar 1943”,
von Zwangsarbeiter:innen in Gemeinschaftslagern waren schrieb die 1924 geborene Marija Jakowliewnja Borisenko an ihre Eltern.
Sofern die Eltern die Postkarte erhielten, freuten sie sich sicher über das
keine Seltenheit. [Katarzyna Woniak (2020): Zwangswel- Lebenszeichen ihrer Tochter, wohl aber nicht über ihre Situation hinter
ten. Alltags- und Emotionsgeschichte polnischer „Zivil- dem Stacheldraht eines Kriegsgefangenenlagers in Pommern.
Internationale Gesellschaft MEMORIAL, Moskau
arbeiter“ in Berlin 1939 1945, Leiden u. a., S. 269-272.]

Mangel und Konkurrenz

Die Anwesenheit von Millionen von Zwangsarbeiter:innen


brachte unzählige Herausforderungen mit sich, die im
Rahmen der Kriegswirtschaft kaum zu lösen waren.
An fast allen Gebrauchsgütern herrschte Mangel und sie
wurden ungleich verteilt. Zwangsläufig kam es deswegen
zu Auseinandersetzungen und zu Schwarzmärkten. Die
Versorgung der Zwangsarbeiter:innen variierte je nach
Kriegslage und nationaler Gruppe. Besonders schlecht
wurden sowjetische Zwangsarbeiter:innen versorgt.

Qualitativ hochwertige Lebensmittel sollten nur Deut-


schen zugänglich sein. Daraus entspann sich im länd-
lichen Raum Thüringens eine Provinzposse. Verschiedene
offizielle Stellen und die Bevölkerung gerieten in Konflikt
miteinander, weil anstatt Margarine Butter an polnische
Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene ausgegeben
wurde. Einerseits wollte die Verwaltung die Gleichstellung
von Polen unbedingt vermeiden, andererseits waren
„Schaubild der Woche“. Amstettner Anzeiger, 18. April 1943.
Auf Bauernhöfen sollten Zwangsarbeiter:innen ihre Mahlzeiten zumindest Teile der deutschen Bevölkerung nicht abge-
getrennt von Deutschen einnehmen. neigt, Polinnen und Polen angemessen zu versorgen.
Bibliothek der Universität Wien
[Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches
Landesernährungsamt Abteilung B Nr. 206, BI. 11r und
12r.] Ironischerweise war jedoch stellenweise Margarine
Mangelware, sodass pragmatisch auf Butter ausgewi-
chen wurde. So hieß es, das Staatsgut Dornburg könne
für seine ausländischen Arbeiter nur so lange Margarine
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statt Butter beziehen, wie der Vorrat reiche. [Thüringi- Fazit


sches Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches Landes-
ernährungsamt Abteilung B Nr. 205, BI. 116r.] Und auch Die nationalsozialistische Politik setzte alles daran,
abgelegene Höfe könnten polnische Zwangsarbeiter nur Zwangsarbeiter:innen und Deutsche zu trennen. Zusätz-
mit Butter versorgen, da Margarine nicht beschafft lich wurden Zwangsarbeiter:innen durch ein rassistisches
werden könne. [Bundesarchiv Berlin, R 3601/3214 Bl. 64.] Regelwerk dominiert und mittels unterschiedlicher
Privilegien und Strafen gegeneinander ausgespielt. Vor
Die Ungleichheiten sorgten für Neid. So beschwerte sich diesem Hintergrund von einer transnationalen Geschichte
ein kroatischer Arbeiter, der mit Versprechungen nach der Zwangsarbeit zu sprechen, scheint auf den ersten
Deutschland gelockt worden war, in einem abgefangenen Blick unangemessen. Doch ein genauerer Blick zeigt,
Brief: „Sie bekommen alles, Zigaretten, Schnaps und dass sowohl innerhalb wie abseits der nationalsozialisti-
was immer verteilt wird, alles bekommen die Deutschen schen Regeln ein transnationales Geflecht entstand.
und wir Kroaten nichts.“ [Bundesarchiv, R 3901/20266, So entwickelte sich eine paradoxe Situation: Erwünschte
F. 4, Bl. 165.] In einem weiteren Brief eines Kroaten hieß und unerwünschte Beziehungen zwischen Deutschen
es in Bezug auf tschechische Zwangsarbeiter: „Selbst die und Zwangsarbeiter:innen beeinflussten den Kriegsalltag –
Tschechen werden gegenüber den Kroaten bevorzugt. und je nach Gemengelage konnten sie diesen erschweren
Sie bekommen Kleiderkarten und Bezugsscheine, wir oder erleichtern.
nicht.“ [Bundesarchiv, R 3901/20265, F. 1, Bl. 28.]
Schlechtgestellte Zwangsarbeiter:innen freuten sich Und vielleicht waren es gerade eher zufällige Nuancen,
bereits über kleine Dinge. Yves Bertho beschreibt, wie die von der Transnationalität der Zwangsarbeit zeugen.
ukrainische und polnische Zwangsarbeiter:innen treue Sjomins Sergej beschreibt verwundert rauchende fran-
Kund:innen einer deutsche Eisverkäuferin waren: zösische Kriegsgefangene: „Und auch der Geruch ihrer
„Straßenbahnfahren war für sie verboten, Kneipen Zigaretten, an denen sie offenbar keinen Mangel litten,
auch – aber Eis nicht!“ [Bertho, S. 142.] Festzuhalten war ungewöhnlich […] genau wie ihre Art zu rauchen,
ist, dass sowohl Besser- wie Schlechterstellung von ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, ohne die
Zwangsarbeiter:innen den Deutschen nützte und Asche abzuschütteln, eine Art des Rauchens, die keiner
Konflikte zu den Ausgegrenzten verlagerte. anderen glich, die ich bisher zu Gesicht bekommen
hatte: das Feuer ist schon an den Lippen, verbrennt die
Netzwerke und Sympathien Lippen aber nicht, das Papier ist angekohlt, aber nicht
verbrannt, das Feuer ist durch das Innerste der Zigarette
Doch die Not der Zwangsarbeiter:innen brachte auch hindurchgegangen. Die Angewohnheit zu paffen und zu
Zusammenhalt hervor. Sie vernetzten sich und organi- schnaufen, aber keine gierigen Züge zu machen.“
sierten, tauschten und verkauften Kleidung, Nahrungs- [Sjomin, S. 71.] Zwangsarbeit bedeutete im Guten und
mittel oder Tabak. Der Protagonist Sjomins berichtet im Schlechten die Erweiterung von Wissen, Erfahrungen
auch von einfachen Gesten der Solidarität: „Diese Italie- und Praktiken. Sie war damit transnational gegen den
ner litten noch schlimmeren Hunger als wir. Wir machten Willen der Nationalsozialisten.
für sie eine Lagersuppensammlung. Aber dann geschah
wieder etwas, und die Ration der Italiener wurde erheb-
Daniel Logemann
lich aufgebessert.“ [Sjomin, S. 241.] Empathische Bezie- ist als Historiker spezialisiert auf die Geschichte
hungen zwischen Zwangsarbeiter:innen entstanden auch Osteuropas und heute Kustos für das Museum Zwangsarbeit
im Nationalsozialismus in der Stiftung Gedenkstätten
dann, wenn Konkurrenz keine Rolle spielte. Es gibt ein Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Foto, das zwei niederländische Zwangsarbeiter mit einem
Säugling und dessen Mutter aus der Sowjetunion zeigt.
Dieses Foto konnte entstehen, weil Niederländer Kame-
ras besitzen und Fotos knipsen durften. Es zeigt, dass
die jungen Männer die Zwanglosigkeit, Selbstbewusst-
sein und die Solidarität aufbrachten, sich mit Mutter und
Kind zu fotografieren.

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Der Holländer Adrianus Markus
hielt auf seinen Fotos auch die
sowjetischen Lagerinsassen fest,
darunter eine sowjetische Frau
und ihr Kind, den jüngsten
„Bewohner des Ostlagers
Berlin 1943“.
Foto: Adrianus Markus, Berliner
Geschichtswerkstatt e. V.

Die Freiheit des Menschen


ist Freiheit sowohl zum Guten
als auch zum Bösen.
Jorge Semprún
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
44 / 45
Im ehemaligen Gauforum von Weimar, zukünftiges
Museum „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“
Foto: Claus Bach
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Ehemaliges Gauforum Weimar.


Fotos: Claus Bach, Sammlung
Gedenkstätte Buchenwald

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Widerstand gegen
den Nationalsozialismus
in Europa – eine trans-
nationale Erfahrung?
VON JENS-CHRISTIAN WAGNER

Ohne Zweifel hat der europaweite Widerstand von Zivilist:innen – zusätzlich zum mili-
tärischen Kampf der Alliierten – ganz wesentlich zum Sieg über den Nationalsozialismus
und zum Ende der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa beigetragen. Insbeson-
dere betrifft das den Widerstand in den besetzten Gebieten, also außerhalb des Deut-
1 Vgl. etwa das Kapitel „Widerstand schen Reiches. Umso erstaunlicher ist es, dass sich viele deutsche Online-Portale beim
gegen den Nationalsozialismus“ im
Portal „Lebendiges Museum online“ Thema „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ weitgehend auf Widerstandshand-
des Deutschen Historischen lungen Deutscher beschränken.1
Museums (https://www.dhm.de/
lemo/kapitel/ns-regime/
widerstand-im-nationalsozialismus. Für eine erweiterte
html, abgerufen am 21.12.2021).
Auch die Online-Übersucht zum Perspektive
Thema „Verfolgung und Wider-
stand“ der Bundeszentrale für
politische Bildung führt mit Für die Gedenkstättenarbeit wie auch für den Geschichtsunterricht sollte das Anlass
Ausnahme eines Aufsatzes von sein, die Perspektive zu erweitern – zum einen auf die Gegenwehr von überwiegend
Wolfgang Benz über die Gegen-
wehr von Verfolgten in den nichtdeutschen Verfolgten in Lagern und Ghettos, zum anderen auf den breiten sowohl
Konzentrationslagern und Ghettos zivilen als auch militärisch organisierten Widerstand in den besetzten Gebieten. Dort
ausschießlich Beiträge zum
Widerstand Deutscher auf hatten Opposition und Widerstand einen anderen Charakter als im Deutschen Reich.
(https://www.bpb.de/geschichte/ Nicht nur waren sie sehr viel breiter aufgestellt und beinhalteten deutlich stärker mili-
nationalsozialismus/dossier-
nationalsozialismus/39555/
tärische Elemente, sondern die Motivation der Akteure unterschied sich auch von der
verfolgung-und-widerstand, deutscher Oppositioneller: In den besetzten Gebieten richtete sich der Widerstand in
abgerufen am 21.12.2021). Das gilt
auch für die Print-Ausgabe: Johan-
erster Linie gegen die deutsche Besatzungsherrschaft und galt als Fortsetzung des
nes Tuchel/Julia Albert, Widerstand Kampfes der eigenen Armee, die besiegt worden war. Insbesondere in Osteuropa war
gegen den Nationalsozialismus,
hrsg. von der Bundeszentrale für
Widerstand auch ein existenzieller Überlebenskampf. In Deutschland hingegen steckten
politische Bildung, Berlin 2016 Opposition und Widerstand in dem Dilemma, in den Augen der Mehrheitsgesellschaft
(Informationen zur politischen
Bildung Nr. 330/2016). Ein ähn-
mit dem NS-Regime auch ihr eigenes Land zu bekämpfen, also „Hochverrat und
liches Bild zeigt der Blick auf die Landesverrat zugleich“ zu begehen, wie es Hans Mommsen einmal formuliert hat.2
Online-„Lernplattform für offenen
Geschichtsunterricht“ Segu
Die Motivation, Praxis und gesellschaftliche Wahrnehmung des Widerstandes unter-
(https://segu-geschichte.de/ schieden sich zwischen den besetzten Gebieten und dem Deutschen Reich also
widerstand/, abgerufen am
21.12.2021).
deutlich. Gleichwohl gab es jenseits nationaler und ideologischer Unterschiede auch
Gemeinsamkeiten: Für fast alle wurde die Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors
2 Vgl. Hans Mommsen, Die Opposi-
tion gegen Hitler und die deutsche
zu einer ganz wesentlichen Motivation, sich gegen das Regime aufzulehnen. Wider-
Gesellschaft 1933-1945, in: stand hatte – für die einen mehr, für die anderen weniger – immer auch das Ziel,
Klaus-Jürgen Müller, Der deutsche
Widerstand 1933-1945, Paderborn
zivilisatorische Werte und eine auf Frieden und Humanität beruhende Gesellschafts-
1986, S. 22-39, hier S. 24. ordnung in Europa wiederherzustellen.

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„Résistez“ (leistet Widerstand).
Flugblatt der französischen Résis-
tance mit Lothringer Kreuz, 1942.
Nach der deutschen Besetzung
Frankreichs 1940 wurde das
Croix de Lorraine zum Symbol des
französischen Widerstandes gegen
die Besatzer. Auch die Freien
Französischen Streitkräfte unter
General de Gaulle nutzen es als
Erkennungszeichen.
Foto: bpk

„Résistez“ (leistet Widerstand).


Flugblatt der französischen
Résistance mit Lothringer
Kreuz, 1942. Nach der deutschen
Besetzung Frankreichs 1940 wurde
Wie das umgesetzt werden sollte und welche Ziele außerdem verfolgt wurden, war je das Croix de Lorraine zum Symbol
des französischen Widerstandes
nach Land und ideologischer Verortung der Widerstandsgruppen sehr unterschiedlich. gegen die Besatzer. Auch die Freien
Transnational agierende Gruppen gab es kaum. Überwiegend handelte es sich in den Französischen Streitkräfte unter
General de Gaulle nutzen es als
jeweiligen Ländern um nationale, teils untereinander konkurrierende Befreiungsbewe- Erkennungszeichen.
gungen, die meist auf sich allein gestellt waren und nur selten mit dem Widerstand in Foto: bpk

anderen Ländern zusammenarbeiteten. Es stellt sich damit die Frage, inwieweit der
Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa überhaupt ein transnationales
Phänomen war. Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, zunächst den Blick auf
das Deutsche Reich und anschließend auf die besetzten Gebiete zu richten.

Widerstand während des Krieges


im Deutschen Reich

Nach dem deutschen Überfall auf Polen und noch einmal mehr nach dem Angriff auf
die Sowjetunion radikalisierte sich die deutsche Verfolgungs- und Vernichtungspolitik.
Insbesondere betraf das den Mord an den europäischen Juden sowie an den Sinti und
Roma, aber auch die Politik gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen, von
denen die meisten einen qualvollen Tod starben.

Eine Minderheit der Deutschen reagierte auf die Verbrechen (die trotz aller Geheim-
haltung weitgehend öffentliche Taten waren) mit Abscheu und Empörung, woraus
teilweise Widerstand erwuchs. Dieser speiste sich aus allen sozialen Schichten und
weltanschaulichen bzw. politischen Richtungen (vertreten waren vor allem sozialdemo-
kratische und kommunistische sowie kirchliche Gruppen) und äußerte sich in Hilfe-
leistungen für Verfolgte (etwa das Sammeln von Lebensmittelmarken und das Ver-
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Im Mai 1942 änderte ein junger


Pole eine Parole an einem
Anwerbebüro der deutschen
Arbeitsverwaltung in Warschau.
Aus dem Schriftzug „Fahr mit uns
nach Deutschland!“ machte er stecken von untergetauchten Jüdinnen und Juden), dem Versuch der Herstellung von
durch einige Pinselstriche
den Spruch „Fahrt doch selbst Gegenöffentlichkeit (die Dokumentation und Weitergabe von Nachrichten über
nach Deutschland!“ NS-Verbrechen, dem Herstellen und Verteilen von Flugblättern und Klebezetteln)
Foto: Wilhelm Nortz,
Stadtarchiv München und der Kontaktaufnahme mit Widerstandsgruppen unter ausländischen Zwangsarbei-
ter:innen und Kriegsgefangenen sowie den Alliierten. Einzelne Gruppen versuchten
zudem, die Rüstungsindustrie zu sabotieren.

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 bewirkte – nach dem Einbruch
infolge des Hitler-Stalin-Paktes – eine erneute Verstärkung der Tätigkeit kommunis-
tischer Widerstandsgruppen vor allem in Form illegaler Betriebszellen, etwa in Berlin,
Hamburg und im Ruhrgebiet. Teils arbeiteten sie auch mit sozialistischen Gruppierungen
zusammen, außerdem unterhielten einige von ihnen Kontakte zur KPD-Leitung im
Moskauer Exil.3

Angesichts des umfassenden Verfolgungsdrucks und des Zwangs zur Konspiration


waren die Gruppen überwiegend sehr klein. Allerdings schlossen sich während des
Krieges in einigen Städten zuvor einzeln agierende Freundeskreise locker zusammen –
3 Vgl. auch im folgenden Michael auch über parteipolitische Grenzen hinweg, in Berlin etwa in der „Europäischen Union“
Schneider, In der Kriegsgesell-
schaft. Arbeiter und Arbeiter-
um Georg Groscurth und Robert Havemann sowie in der „Roten Kapelle“ (eine Bezeich-
bewegung 1939 bis 1945, nung der Gestapo, die in der Gruppe eine sowjetische Spionageorganisation vermutete)
Bonn 2014, S. 1100.
um Arvid Harnack und Hans Coppi. Fast alle Gruppen flogen früher oder später auf,
4 Vgl. Hans Coppi, Jürgens Danyel, auch die beiden zuletzt genannten. Die meisten Mitglieder wurden von der Gestapo
Johannes Tuchel (Hg.), Die Rote
Kapelle im Widerstand gegen den
verhaftet oder in Konzentrationslager eingewiesen. Viele von ihnen ließ die NS-Justiz
Nationalsozialismus, Berlin 1994. hinrichten, im Fall der Roten Kapelle rund 50 Menschen.4

50 / 51
Tödlich endete der Widerstand auch für die meisten Mitglieder der „Weißen Rose“,
der studentischen Widerstandsgruppe in München um die Geschwister Hans und
Sophie Scholl. Sie hatten mit Flugblättern gegen die NS-Verbrechen protestiert und
Kontakte zu Gruppen und Einzelpersonen in anderen Städten geknüpft. Im Februar
1943 wurden sie von der Gestapo verhaftet und noch im selben Monat zum Tode
verurteilt und enthauptet.

Dem Widerstand zugerechnet werden können auch diverse jugendoppositionelle


Gruppen wie die Swing-Jugend, die Edelweißpiraten oder die Leipziger Meuten, auch
wenn sie sich nicht explizit gegen die NS-Verbrechen wandten. Vielmehr ging es ihnen –
ähnlich wie bündischen und kirchlichen Jugendgruppen – um Unabhängigkeit gegen-
über dem umfassenden Machtanspruch der „Hitler-Jugend“ und um einen individuellen
Lebensstil. Für das Regime war das Grund genug, brutal gegen sie vorzugehen. Tau-
sende Jugendliche und junge Erwachsene wies es in Gefängnisse und Konzentrations-
lager ein.5

Einige kommunistische Widerstandsgruppen nahmen Kontakt zu sowjetischen Zwangs-


arbeiter:innen oder Kriegsgefangenen auf und agierten gemeinsam mit ihnen. So
bildeten 1942/43 in München die „Antinazistische Deutsche Volksfront“ und die sowjeti-
sche Widerstandsorganisation „Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen“
(BZW) ein Widerstandsnetz, das mehrere Hundert Mitglieder umfasste. Anfang 1944
wurde es von Gestapo-Spitzeln aufgedeckt. Fast 400 Personen wurden festgenommen
und fast alle von ihnen umgebracht, die meisten im KZ Dachau.6 Ähnlich erging es den
Mitgliedern des „Internationalen Antifaschistischen Komitees“ in Leipzig, das sowjeti-
sche Zwangsarbeiter:innen und deutsche Kommunist:innen verband und Flugblätter
in Zwangsarbeitslagern verteilte. Fast alle Mitglieder der Gruppe wurden nach der
Verhaftung durch die Gestapo im Sommer 1944 als „Sowjetagenten“ im KZ Auschwitz
ermordet.7

Gemeinsames Agieren deutscher und ausländischer Widerstandsgruppen blieb jedoch


auf Ausnahmen beschränkt. Insbesondere der militärische Widerstand sah die vielen
Millionen ins Deutsche Reich verschleppten ausländischen Kriegsgefangenen und Zivil-
arbeiter:innen nicht als potentiell Verbündete. Nationalkonservative Opposition gegen
die Partei und Hitlers Kriegskurs hatte sich in der Reichswehr bzw. in der Wehrmacht
bereits lange vor Kriegsbeginn geregt.8 Mit der Verschlechterung der militärischen Lage
Deutschlands 1943 nahmen Umsturzplanungen, die bereits 1938 angestellt worden
waren, innerhalb der Wehrmacht wieder konkretere Formen an. Bekanntlich scheiterte
der Putschversuch der Männer um Graf Stauffenberg vom 20. Juli 1944. Dennoch
zeigte die misslungene Operation „Walküre“, dass der Kreis der Widerständler innerhalb 5 Vgl. überblicksartig und mit einer
Quellensammlung Arno Klönne,
der Wehrmacht recht weit verzweigt war und auch Kontakte zu zivilen Gruppen, Jugendliche Opposition im
etwa dem Kreisauer Kreis, aufgebaut hatte. Seine politischen Vorstellungen waren „Dritten Reich“, Erfurt ²2013.

widersprüchlich, wenn auch überwiegend konservativ. Das NS-Regime reagierte mit 6 Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter.
brutaler Gewalt: Etwa 600 Personen nahm die Gestapo fest, weitere 300 wurden in Politik und Praxis des „Ausländer-
Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft
„Sippenhaft“ genommen. 150 tatsächliche oder vermeintliche Verschwörer wurden des Dritten Reiches, Berlin/Bonn
hingerichtet oder von SS und Gestapo ermordet. Darüber hinaus wies die Gestapo 1985, S. 317 f.

etwa 5000 Funktionsträger:innen und Mandatsträger:innen der Weimarer Republik, 7 Vgl. Volkhard Knigge u. a. (Hg.),
viele schon im betagten Alter, nach dem 20. Juli nach vorbereiteten Listen im Rahmen Zwangsarbeit. Die Deutschen,
die Zwangsarbeiter und der Krieg,
der „Aktion Gitter“ in die Konzentrationslager ein, darunter fast 750 Männer in das Essen 2012, S. 126 f.
KZ Buchenwald. Viele überlebten das nicht.
8 Vgl. auch im folgenden Winfried
Heinemann, Der militärische
Widerstand und der Krieg, in:
Das Deutsche Reich und der Zweite
Weltkrieg, Band 9/1, München
2004, S. 743-892.
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Bewaffnete italienische Wider-


standskämpferinnen, Aufnahmeort
und -datum unbekannt (1943)
Foto: bpk
Widerstand ausländischer Zwangsarbeiter:innen
und Kriegsgefangener

Weitaus gefährlicher als von Deutschen schätzte die Gestapo den Widerstand von
Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeiter:innen ein, und hier bekommt das
Thema Widerstand tatsächlich eine deutliche transnationale Dimension: Seit Beginn
des Krieges galt der Schwerpunkt der Gestapo-Tätigkeiten der Überwachung der
„Fremdvölkischen“, die millionenfach zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert wurden,
um Lücken auszugleichen, die unter deutschen Beschäftigten durch Einberufungen
zur Wehrmacht entstanden waren.

Der Überwachungsdruck durch die Gestapo hatte zwei Gründe: Zum einen befürchte-
ten die Partei und die NS-Repressionsorgane „volkstumspolitische“ Gefahren durch
Kontakte zwischen Deutschen und Ausländer:innen. Insbesondere intime Kontakte
zwischen deutschen Frauen und ausländischen Männern sollten verhindert werden.
Zum anderen gab es sicherheitspolitische Befürchtungen, die nicht ganz unbegründet
waren. Immerhin stammten die meisten der insgesamt 13 Millionen Zwangsarbeiter:in-
nen aus Ländern, mit denen das Deutsche Reich im Krieg stand. Die NS-Repressions-
organe konnten damit – auch wegen der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen –
zu Recht annehmen, dass die Zwansgarbeiter:innen dem Regime wenig freundlich
gegenüber stehen würden. Ab 1943 machte sich im Überwachungsapparat zunehmend
eine nervöse Stimmung breit. Im Land Braunschweig etwa erwarteten die Behörden
im Sommer 1943 einen kollektiven Aufstand der sowjetischen Kriegsgefangenen und
9 Vgl. Jens-Christian Wagner, Zivilarbeiter:innen, die in manchen Betrieben die Hälfte der Belegschaft stellten. Die
Produktion des Todes. Das KZ
Mittelbau-Dora, Göttingen ²2015,
Polizei wurde angewiesen, für diesen Fall rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu
S. 162. machen.9 Hier wie anderenorts blieben kollektive Aufstände angesichts des Terror-

52 / 53
SS-Fotografie gefangengenommener
jüdischer Kämpferinnen des Ghetto-
Aufstandes in Warschau, Mai 1943.
Małka Zdrojewicz (rechts) über-
lebte die Gefangennahme und die
anschließende Haft im KZ Majdanek.
1946 emigrierte sie nach Palästina.
Foto: bpk

apparates und eines umfassenden Spitzelnetzes in den Zwangsarbeitslagern zwar


aus, tatsächlich war aber das Ausmaß des Widerstandes aus den Reihen insbesondere
der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter:innen deutlich größer als aus
der deutschen Bevölkerung. So waren von 38 Widerstandsgruppen, die die Gestapo
zwischen März und September 1944 aufdeckte, 33 von sowjetischen Zwangsarbei-
ter:innen oder Kriegsgefangenen dominiert.10

Das Spektrum widerständigen Verhaltens seitens der ausländischen Arbeitskräfte


reichte von organisierten Revolten (etwa wegen unzureichender Verpflegung und
menschenunwürdiger Unterbringung) über Sabotage der Rüstungsproduktion bis zu
individueller Auflehnung gegen deutsche Vorgesetzte oder Behörden. Eines der von
der Gestapo am meisten geahndeten Vergehen war das unerlaubte Entfernen vom
Arbeitsplatz. Zehntausende Zwangsarbeiter:innen, vor allem aus der Sowjetunion und
Polen, aber auch aus Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern, wurden
deshalb in Arbeitserziehungs- und Konzentrationslager eingewiesen. Unter den sowjeti-
schen KZ-Häftlingen waren solche, denen Verstöße gegen die repressiven Arbeits-
und Aufenthaltsbestimmungen zur Last gelegt wurden, in der Mehrheit. in den Konzen-
trationslagern trugen auch sie auf ihrer Häftlingskleidung den roten Winkel der politi-
schen Häftlinge.

Zwar konnten Selbstbehauptung und Widerstand aus den Reihen der Zwangsarbei-
ter:innen das NS-Regime nicht ernsthaft bedrohen. Für die Selbstwahrnehmung der
10 Vgl. Mark Spoerer, Zwangsarbeit
Betroffenen hatte die Auflehnung gegen die Peiniger aber große Bedeutung. Das gilt unter dem Hakenkreuz. Ausländi-
auch für den Widerstand in Konzentrationslagern und Ghettos. Angesichts der sche Zivilarbeiter, Kriegsgefangene
und Häftlinge im Deutschen Reich
absoluten Macht der SS und der Ghettoverwaltungen waren die Möglichkeiten für und im besetzten Europa 1939-
organisierte Aktionen extrem gering. Dennoch bildeten sich in vielen Konzentrations- 1945, Stuttgart 2001, S. 172.
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lagern konspirative Widerstandsgruppen, häufig getragen von erfahrenen politischen


Häftlingen aus den Reihen deutscher Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen sowie
ausländischer Widerstandkämpfer:innen aller politischen Richtungen. In den meisten
Fällen blieb die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen nationalen Gruppen aber
begrenzt – allein schon aus Gründen der Geheimhaltung und begrenzter Verständi-
gungsmöglichkeiten. Es gab aber Ausnahmen – etwa im Außenlager Holzen des
KZ Buchenwald: Dort illustrierte der französische Widerstandskämpfer Camille Delétang
eine Lagerzeitung, die polnische politische Häftlinge heimlich zu ihrem Nationalfeiertag
am 11. November 1944 anfertigten (siehe Abbildung).

Auch Jüdinnen und Juden sowie Sinti:zze und Rom:nja wehrten sich gegen ihre Peiniger
und Mörder. In den deutschen Großstädten bildeten sich jüdische Untergrundgruppen
mit dem Ziel, das Leben in der Illegalität zu organisieren und den Mördern zu entgehen.
In Ghettos und Lagern gab es Aufstände. Am bekanntesten ist sicherlich der jüdische
Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Im „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau wieder-
um führte ein kollektiver Aufstand im Mai 1944 dazu, dass die SS ihre Mordpläne
verschieben musste.

Es bleibt festzuhalten: Widerstand leisteten während des Krieges innerhalb der Reichs-
grenzen vor allem ausländische Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene. Aber auch
Deutsche widerstanden dem Regime, selten allerdings in Zusammenarbeit mit auslän-
dischen Gruppen. Die Durchsetzung von Vernichtungskrieg und Holocaust vermochte
der Widerstand im Deutschen Reich nicht zu verhindern. Resistenz bewirkte jedoch,
dass sich der totalitäre Geltungsanspruch von Ideologie und Praxis auch in der deut-
schen „Volksgemeinschaft“ nicht umfassend durchsetzen konnte. Konkreten Wider-
standshandlungen ist es zudem zu verdanken, dass Tausende politisch oder rassistisch
Verfolgte gerettet werden konnten, indem man ihnen half, sich zu verstecken, sie mit
falschen Papieren ausstattete oder sie ins Ausland schleuste.

Besetztes Europa

Weitaus gefährlicher für das Regime und personell deutlich stärker aufgestellt als im
Deutschen Reich war der Widerstand von Nichtdeutschen in den besetzten Gebieten.
Zwar konnten die deutschen Besatzer überall auf die Hilfe einheimischer Kollaborateure
zählen, jedoch bildeten sich in allen besetzten Ländern schon bald nach dem deutschen
Einmarsch weitverzweigte Netzwerke diverser, politisch heterogen ausgerichteter
Widerstandsgruppen.11 Häufig waren diese militärisch organisiert und wurden von
ausgebildeten Soldaten angeführt – etwa in vielen Partisan:innengruppen in Ost- und
Südeuropa oder auch in der polnischen Heimatarmee sowie in der Résistance in Frank-
reich und Belgien. Zugleich waren fast immer auch Zivilist:innen eingebunden, wie über-
haupt ziviler Widerstand in Form von Streiks oder dem Verteilen von Flugblättern –
soweit das unter den Bedingungen der repressiven Besatzungsherrschaft möglich
war – insbesondere in West- und Nordeuropa eine wichtige Rolle spielte.

Knotenpunkte in den Netzwerken bildeten die Exilregierungen bzw. militärische Exilfüh-


rungen wie die polnische Regierung und die französische Militärführung unter General
de Gaulle in London, zudem die Kommunistische Partei in der Sowjetunion und der
britische Geheimdienst Special Operations Executive (SOE) sowie das amerikanische
11 Vgl. auch im folgenden die einzel- Office of Strategic Services (OSS). Sie koordinierten die lokal häufig eigenständig agie-
nen Länderstudien in: Gerd R.
Ueberschär (Hg.), Handbuch
renden Gruppen und unterstützten sie mit Informationen, falschen Papieren oder
zum Widerstand gegen National- Waffen.
sozialismus und Faschismus in
Europa 1933/39 bis 1945,
Berlin 2011.

54 / 55
Gedicht „KZ-Pleite“, 11. November 1944.
Unter Lebensgefahr fertigten polnische politische
Häftlinge des Buchenwalder KZ-Außenlagers Holzen
(Kreis Holzminden) zum polnischen Nationalfeiertag
am 11. November 1944 eine handschriftliche Zeitung an,
die sie heimlich herumreichten. Die Zeitung enthielt
vor allem Spottgedichte gegen die SS und die
Deutschen, so auch das Gedicht „KZ-Pleite“.
Die Illustrationen stammen vom französischen
Häftling und Résistance-Kämpfer Camille Delétang.
Muzeum Teatralne we Warszawie

Übersetzung des Gedichtes „K.L. apa“:

K.L. Pleite
‚Am Anfang war das Wort...’
das bedeutet Schrei, schloss der Schwabe.
Er hat dies geschrien, er hat jenes geschrien, –
Und am Ende hat er gebrüllt:
Mützen ab!!

So hat er vier Jahre geschrien –


Hitlerjunge, Hundesohn,
Er hat sich prima in der Rolle des Scharfrichters gefühlt,
Er hat geschrien, hat gebrüllt:
Köpfe ab!!

Heute steht er mit trauriger Fratze


vor dem germanischen Massengrab, –
Und Europa befiehlt
den Hurensöhnen:
Helme ab!!!
S C H W E R P U N K T: N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S A L S T R A N S N AT I O N A L E S P H Ä N O M E N

Die militärischen Aktionen gegen die Besatzer richteten sich vor allem gegen deren
Infrastruktur. Überfälle auf Straßenkonvois und die Sprengung von Bahnanlagen störten
die deutschen Nachschubwege; Sabotageakte trafen die Rüstungsproduktion. Ein
wesentliches Element der deutschen Herrschaft war die Ausplünderung der besetzten
Gebiete – gerade auch hinsichtlich einer ganz wesentlichen Ressource, an der im Reichs-
gebiet große Knappheit herrschte: den Arbeitskräften. Auch hierbei versuchten Wider-
ständler die Besatzer empfindlich zu treffen. Gezielt überfielen sie Arbeitsämter und
Anwerbebüros, um die Karteien zu vernichten, die zur Rekrutierung von Zwangsarbei-
ter:innen für den „Reichseinsatz“ genutzt wurden. Auch mittels Flugblättern versuchten
sie die deutsche Anwerbung und Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften zu stören.

Die deutschen Besatzer reagierten auf den Widerstand mit großer Brutalität. Razzien
von Wehrmacht, SS, Polizei und einheimischen „Hilfswilligen“ waren an der Tagesord-
nung, Hunderttausende tatsächliche oder vermeintliche Partisan:innen wurden allein
in den besetzten Gebieten der Sowjetunion im Rahmen der „Bandenbekämpfung“
ermordet. Sehr häufig trafen die „Vergeltungsaktionen“ vollkommen Unbeteiligte; ganze
Ortschaften wurden bei Überfällen und Geiselerschießungen von den deutschen
Besatzern ausgelöscht, vor allem in Griechenland, Italien und Serbien, aber auch in
vielen anderen besetzten Ländern. Viele weitere Menschen wurden in den besetzten
Gebieten wegen Widerstandes verhaftet, gefoltert und in Konzentrationslager im
Reichsgebiet deportiert, insbesondere aus Polen, Frankreich, Belgien, dem „Protekto-
rat“ und den Niederlanden. Die dort verhafteten Widerständler stellten ab 1943 den
größten Teil der KZ-Insassen. Viele erlebten das Kriegsende nicht mehr.

Einig waren sich die diversen Widerstandsgruppen und -bewegungen in Europa im


Ziel, die deutschen Besatzer zu vertreiben. Einen einheitlichen europäischen Wider-
stand hat es gleichwohl nicht gegeben. Die meisten Gruppen waren national organisiert.
Zunächst einmal ging es ihnen um die Befreiung des jeweils eigenen Landes, auch wenn
es vor allem in Westeuropa und in Polen zu einer transnationalen geheimdienstlichen
und militärischen Zusammenarbeit mit den (westlichen) Alliierten kam. Zu den nationa-
len kamen die ideologischen Barrieren zwischen Kommunist:innen und Sozialist:innen
auf der einen und bürgerlichen oder rechtsnationalen Gruppen auf der anderen Seite.
Auch bündnispolitische Rücksichtnahmen erschwerten den gemeinsamen Kampf.
So waren etwa die kommunistischen Parteien in den besetzten Ländern West-, Nord-
und Mittelosteuropas bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 in
ihrem Widerstandswillen gegen die Besatzer wegen des Hitler-Stalin-Paktes geradezu
paralysiert.12 Nur in wenigen Fällen und teilweise auch erst spät gelang es den Gruppen,
die Gräben zu überwinden und gemeinsam gegen die Besatzer zu kämpfen. Dazu trug
sicherlich maßgeblich der im Laufe des Krieges auch in West- und Nordeuropa immer
deutlicher sichtbare repressive Charakter der Besatzungsherrschaft bei: Gewaltmaß-
nahmen der Besatzer (wie etwa Razzien oder die Deportation von Arbeitskräften und
Gefangenen ins Reich) schweißten die Widerstandsgruppen zusammen. In Frankreich
etwa stellte im Februar 1944 die Gründung der Forces françaises de l’intérieur (FFI)
den weitgehend gelungenen Versuch dar, die rivalisierenden gaullistischen Forces
françaises libres und die kommunistischen Francs-tireurs et partisans (FTP) unter
einem gemeinsamen Kommando zu vereinen.

12 Vgl. Wacław Długoborski, Kollektive


Reaktionen auf die deutsche
In Polen kam es hingegen nicht zu einer solchen Zusammenarbeit, im Gegenteil: Nicht
Invasion und die Errichtung der zuletzt wegen der sowjetischen Besetzung Ostpolens im September 1939 stand die
NS-Besatzungsherrschaft. Ein
Prolegomenon, in: Wolfgang Benz
bürgerlich bis rechtsnationalistisch ausgerichtete Armia Krajowa in starkem Gegensatz
u. a. (Hg.), Anpassung, Kollabora- zur kommunistischen Gwardia Ludowa, was insbesondere gegen Kriegsende auch zu
tion, Widerstand. Kollektive
Reaktionen auf die Okkupation,
offenen militärischen Auseinandersetzungen führte. Ähnlich entwickelte sich in Serbien
Berlin 1996, S. 11-24, hier S. 16. der Gegensatz zwischen den nationalistischen Tschetniks und den kommunistischen

56 / 57
Partisanen unter Josip Broz Tito. Noch gewalttätiger war die Feindschaft zwischen
Kommunist:innen und nationalistischen Gruppen in Griechenland: Dort mündeten die
gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der kommunistischen ELAS und der
republikanisch bis monarchistisch gesinnten EDES (die von den Westalliierten unter-
stützt wurde) nach der Befreiung von der deutschen, italienischen und bulgarischen
Besatzungsherrschaft im offenen Bürgerkrieg, der bis 1949 andauerte und bis zu
150.000 Todesopfer forderte.

Erinnerung
und Geschichtspolitik

In den besetzten Gebieten trug der Widerstand insbesondere seitens der militärisch
organisierten Gruppen deutlich zum Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische
Deutschland bei. Der Bezug auf den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherr-
schaft prägte auch aus diesem Grund im Nachkriegseuropa massiv die jeweiligen
nationalen geschichtspolitischen Narrative. Wie die sehr unterschiedliche Entwicklung
des Widerstandes in den europäischen Staaten erwarten lässt, entwickelte sich gleich-
wohl keine einheitliche europäische Erzählung. Dazu trug auch die Erfahrung der stali-
nistischen Diktatur bei, die der deutschen Besatzung nach 1944/45 in Ost- und Ost-
mitteleuropa folgte und sich vielfach als Deckgeschichte über die Erinnerung an die
NS-Herrschaft gelegt hat. Sie verstärkte in manchen Staaten die geschichtspolitischen
Auseinandersetzungen zwischen (post)kommunistischen und nationalkonservativen
Erinnerungsräumen, die ihre Wurzeln in der Kriegszeit und der Rivalität zwischen
den entsprechenden Widerstandsgruppen haben. Einig waren sich beide Richtungen
lediglich im weitgehenden Verschweigen der verbreiteten Kollaboration mit den deut-
schen Besatzern. Hier hat sich, insbesondere in Westeuropa, erst in den vergangenen
20 Jahren eine differenziertere öffentliche (und fachwissenschaftliche) Wahrnehmung
durchgesetzt.

Daher kann der Widerstand in Europa nur in Ansätzen als transnationale Erfahrung
bezeichnet werden. Zu sehr beschränkte sich der Bezugsrahmen in den meisten Fällen
auf das jeweils eigene Land. Gleichwohl sorgten die Widerstandsgruppen in den besetz-
ten Ländern zusammen mit den alliierten Streitkräften gemeinsam dafür, dass das
nationalsozialistische Deutschland besiegt und Europa vom Nationalsozialismus befreit
wurde. Hierin liegt eine gemeinsame europäische Erfahrung, auf der – jenseits ge-
schichtspolitscher Affirmation – nicht zuletzt auch die transnationalen Projekte der
europäischen Einigung und der Erklärung der universalen Menschenrechte fußen. Es ist
eine Erfahrung, die angesichts des Abschieds von den Zeit-zeugenschaft, aber auch
wegen des zunehmenden Nationalismus in Europa zu verblassen droht – Grund genug
für die Gedenkstätten, dem Thema Widerstand im vom nationalsozialistischen Deutsch-
land besetzten Europa in der historisch-politischen Bildung breiten Raum zu widmen.

Jens-Christian Wagner kuratierte inhaltlich


u. a. die Ausstellung „Zwangsarbeit. Die Deutschen,
die Zwangsarbeiter und der Krieg“.

Denn immer wieder hörten wir von den Sterbenden:


„Vergesst uns nicht. Seid unsere Zeugen!“
Danuta Brzosko-Mędryk
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
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Verbotene Liebe
in Zeiten
des Krieges
Ein Gespräch mit Gwendoline Cicottini
über die Beziehungen deutscher Frauen
zu französischen Kriegsgefangenen

„Die Frauen und Männer


betrachteten sich als Menschen und nicht
mehr als Deutsche oder Franzosen.“

Frage: Begegnungen zwischen deutschen Frauen überführt. Sie hatten dadurch mehr Freiheiten als Kriegs-
und französischen Kriegsgefangenen, die als gefangene anderer Nationen und konnten beispielweise
Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, galten im in der Stadt Zivilkleidung tragen. Demzufolge waren
Nationalsozialismus als „verbotener Umgang“ sie nicht sofort zu erkennen. Für sie galt aber weiterhin
und standen unter Strafe. Wo und wie sind sie die Verordnung zum „verbotenen Umgang“. Die Behand-
sich dennoch begegnet? lung und die Lebensbedingungen lassen sich jedoch nicht
einmal für alle französischen Kriegsgefangenen verallge-
Gwendoline Cicottini: Die Verordnung zum „ver- meinern. In den untersuchten Quellen ist die Verteilung
botenen Umgang mit Kriegsgefangenen“ wurde am der Fälle zwischen ländlichen und städtischen Gebieten
25. November 1939 erlassen und galt für Kriegsgefange- ausgeglichen. Allerdings kann man davon ausgehen, dass
ne aller Nationalitäten. Solche Kontakte wurden unter- die Beziehungen im ländlichen Gebiet, mangels Bewa-
sagt, sowohl aus Gründen der militärischen Sicherheit chung und Zeug:innen, in der Strafverfolgung unterreprä-
als auch im Namen der nationalsozialistischen Rassen- sentiert sind. Durch den Mangel an Unterkünften waren
ideologie. Die Mehrzahl der Anklagen wegen „verbotenen viele nicht nur in Lagern, sondern auch in öffentlichen
Umgangs“ mit deutschen Frauen betraf Beziehungen Gebäuden oder zusammen mit der Bevölkerung in deren
zu französischen Kriegsgefangenen. Mindestens 14.000 Wohnhäusern untergebracht. Die deutschen Frauen
solcher Kontakte wurden verfolgt. Das lässt sich unter und die französischen Kriegsgefangenen sind sich also
anderem damit erklären, dass sich die französischen sowohl auf der Arbeit als auch auf dem Weg zur Arbeit
Kriegsgefangenen im Laufe der Zeit relativ frei bewegen oder in der arbeitsfreien Zeit begegnet. Ein Drittel der
konnten. Schon Ende 1941 wurde eine Auflockerung der dokumentierten Treffen fand direkt am Arbeitsplatz statt.
Bewachung nur für Franzosen erlassen. Ab 1943 wurde Alle anderen dokumentierten Treffen fanden meist
zusätzlich ein Teil der Kriegsgefangenen formal aus der abends, entweder draußen unter freiem Himmel oder
Kriegsgefangenschaft entlassen und in einen Zivilstatus in den Wohnungen der deutschen Frauen, statt.

58 / 59
Französische Kriegsgefangene im Einsatz
in einer Werkstatt in Leipzig-Eutritzsch, undatiert
Private Sammlung Lutz Würzberger

Frage: Wie viele dieser Fälle haben Sie untersucht?


Und was waren Ihre Quellen?

GC: Zentrale Quellen waren für mich die Prozess- und


Ermittlungsakten zum „verbotenen Umgang“. Meine
Recherche musste ich auf drei Regionen eingrenzen:
Berlin-Brandenburg, Sachsen und Baden-Württemberg.
Insgesamt konnte ich dann für meine Arbeit 1.785
Einzelakten auswerten. Diese Akten beziehen sich auf
die deutschen Frauen, die vor ein Zivilgericht gestellt
wurden. Für die französischen Kriegsgefangenen waren
demgegenüber die deutschen Militärgerichte zuständig.
Sie wurden wegen „Ungehorsam“ verurteilt. Mangels
Zeit und aus konservatorischen Gründen konnte ich von
diesen Akten nur eine Stichprobe von 100 Stück aus-
werten. Schwächen und Lücken der schriftlichen Über-
lieferung wurden außerdem durch gedruckte Quellen-
bestände, etwa die „Meldungen aus dem Reich“, aber
auch durch Zeitzeugengespräche mit „Kriegskindern“
und in zwei besonderen Fällen sogar durch Gespräche
mit betroffenen Müttern kompensiert.
Beispielurteil von Eugenie E., vor dem Landgericht Stuttgart, 01.09.1942
Staatsarchiv Ludwigsburg E 351 i Bü 4812
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Frage: Konnten Sie den gerichtlichen Quellen


etwas über die Formen, die Praktiken dieser
„verbotenen Lieben“ entnehmen?

GC: Diese Akten offenbaren wertvolle Details über alltäg-


liche Begegnungen und konkreten Tatsachen: Wo, wann
und wie die Paare sich getroffen haben. Jedoch werden
diese Akten durch das Prisma der nationalsozialistischen
Justiz im „Dritten Reich“ betrachtet. Die Vernehmungen
dringen in die Privatsphäre ein und zeigen die Brutalität
oder die Einmischung in die Sexualität von Frauen durch
die Polizei- und Justizbehörden, in denen meist männ-
liche Mitarbeiter tätig waren. Die Motivationen lassen
sich also schwierig von der Argumentation der Vertei-
digung oder eventuell falschen Geständnissen durch aus zutiefst menschlichen Interaktionen zwischen den
Drohungen während der Vernehmung trennen. Jedoch Siegerinnen und den Besiegten. Der Kontext des Krieges
erkennt man unterschiedliche Formen des „verbotenen führte zwar für manche Frauen zu einem emanzipatori-
Umgangs“, von dezidierten Liebesbeziehungen über schen Gefühl, unter anderem wegen der Abwesenheit
gegenseitigen Austausch von Dienstleistungen oder des männlichen Familienoberhaupts. Außerdem brachten
Waren bis hin zur Belästigung. die Beziehungen mit Kriegsgefangenen das klassische
Muster der geschlechtsspezifischen „Besatzer/Besetz-
Frage: Wie lässt sich die Norm der national- ten“-Verhältnisse durcheinander. In diesem Fall standen
sozialistischen Sexualität beschreiben, die Ihnen die Besiegten, die französischen Kriegsgefangenen inner-
in den Quellen entgegentritt? halb des Reiches, den Siegerinnen, den deutschen Frauen,
gegenüber und stellten die traditionellen Zuweisungen in
GC: Der Umgang mit Sexualität im „Dritten Reich“ Frage. Aber trotz der Umkehrung der Rollenverteilung
schwankte zwischen Verfolgung und staatlicher Förde- bestanden nach wie vor geschlechtsspezifische Mecha-
rung. Die Förderung der Fortpflanzung zwischen nismen. Die persönlichen Interaktionen, die im Rahmen
„rassisch wertvollen“ Menschen war Teil der national verbotener Beziehungen stattfanden, deuten auf die
sozialistischen „Rassenhygiene“. Gleichzeitig sollten aber Macht hin, die von den Gefangenen auf ihre Partnerin-
Geburten „minderwertiger“ Individuen unbedingt ver- nen ausgeübt wurde. Die Vorstellung einer weiblichen
hindert werden, da diese als Gefahr für die Reinheit Zustimmung, die durch den sexuellen Akt mit Fremden
der „Rasse“ galten. Das Paradigma der Rassenhygiene erworben wurde, ist daher nicht selbstverständlich.
verstärkte die sozialen Geschlechterrollen: Die Sexualität
der deutschen Frau existierte nur insoweit, als sie mit Frage: Die Frauen, auch die Männer, erfuhren
ihrer Rolle als gebärende Mutter verknüpft wurde. Die- in ihren Begegnungen in gewisser Hinsicht ihre
jenige des deutschen Mannes hingegen sollte stimuliert Nation und deren kulturellen und politischen
werden, damit er sich sowohl fortpflanzen als auch an Prägungen neu. Wie können Sie diese trans-
der Front für sein Wohlbefinden sorgen konnte. nationale Erfahrung beschreiben?

Frage: Die Frauen entzogen sich dieser Norm, GC: Die deutsch-französischen Beziehungen begannen
wie lässt sich ihr Verhalten im Spannungsfeld von nicht erst, als die französischen Kriegsgefangenen
Emanzipation und Widerständigkeit einordnen? feindlichen Boden betraten, sondern schon viel früher.
Die Franzosen kamen voller Klischees über die Deut-
GC: Durch das Einsehen der Quellen kann man davon schen an. Es galt auch andersherum für die deutsche
ausgehen, dass die deutschen Frauen sich nicht bewusst Bevölkerung gegenüber den Franzosen. Die gegenseiti-
waren, gegen die Rassenideologie zu verstoßen. Die gen Feindbilder wurden, sowohl in Deutschland als in
Beziehungen wurden zwar in dem Moment politisch, in Frankreich, durch das Regime bzw. von staatlichen
dem sie eine Bedrohung für das NS-Regime darstellten. Akteuren bestärkt. Hier zeigen diese Beziehungen: Die
Jedoch lässt sich die Übertretung der Norm der deut- Frauen und Männer betrachteten sich als Menschen und
schen Frauen anders erklären. Es ist vielmehr als ein nicht mehr als Deutsche oder Franzosen. Konflikt und
Zeichen ihrer Aktionsfähigkeit und weniger als ein wider- Annäherung erscheinen in dieser Hinsicht nicht mehr als
ständiger Akt anzusehen. Die Beziehungen resultierten Gegensätze, sondern als wechselseitig bedingte und

60 / 61
Lutz Würzberger und seine Mutter,
Leipzig, circa 1947
Private Sammlung Lutz Würzberger

dynamisch miteinander verschränkte Kategorien. Jedoch


André Prévost, der Vater von
endete diese transnationale Erfahrung oft mit dem Lutz Würzberger, als Kriegsgefangener
Krieg. Die französischen Kriegsgefangenen kehrten nach in Leipzig-Eutritzsch, undatiert
Private Sammlung Lutz Würzberger
Frankreich zurück, die deutschen Frauen in ihren Alltag.
Sehr wenige französische Kriegsgefangene sind geblie-
ben, und nur wenige Beziehungen führten zu einer Ehe.

Frage: Ein Schwerpunkt Ihrer Untersuchung waren


die aus diesen Beziehungen hervorgegangenen
Kinder. Sie stellen fest, dass nach dem Krieg
keines von ihnen von seinen Eltern gemeinsam
erzogen wurde. Mit welchen Stigmata hatten sie
zu kämpfen? Wie verliefen ihre Lebenswege?

GC: Die Aussagen der in Deutschland geborenen Kinder Zwischen 1940 und 1945 gab es rund
aus verbotenen Beziehungen zeigen im Gegensatz zu 1.285.000 französische Kriegsgefangene
den „Wehrmachtskindern“ in Frankreich, dass die Stig- in Deutschland.
matisierung unterschiedlich erfolgte. Sie wurden stigma-
tisiert, weil sie uneheliche Kinder waren oder sie ohne Mindestens 14.000 von ihnen wurden wegen
Vater aufwuchsen, aber nicht unbedingt, weil der Vater des Delikts des „verbotenen Umgangs“
„Franzose“ war. In Frankreich wiederum trugen die mit deutschen Frauen verurteilt. Deutsche
„Enfants de Boches“ das Stigma des deutschen Feindes, Militärgerichte verurteilten sie wegen
der Frankreich im Zweiten Weltkrieg besetzt hatte. „Ungehorsam“ gemäß § 92 Militärstraf-
Außerdem erfuhren die Kinder in beiden Ländern oft sehr gesetzbuch (MStGB). Im Durchschnitt
spät davon. Anders war es für einen Interviewpartner bekamen sie eine Strafe von zwei Jahren
von mir, Lutz Würzberger, der im März 1944 in der Nähe und zwei Monaten Militärgefängnis.
von Leipzig geboren ist. Er wusste bereits als Kind, dass
sein Vater, André Prévost, ein französischer Kriegsgefan- Die deutschen Frauen wurden von deutschen
gener war. André Prévost hatte ihn sogar schon im zivilen Strafgerichten verurteilt. Im Durch-
August 1944 beim Jugendamt anerkannt. Er kehrte nach schnitt wurden sie zu 7,4 Monaten Gefängnis
Ende des Krieges aber nach Frankreich zurück. Es gab (42 %) oder zu 2 Jahren Zuchthaus mit
später in der Familie von Lutz kein Tabu über seine strafverschärfenden Bedingungen (32 %)
französischen Wurzeln, wobei außerhalb der Familie verurteilt. Die Mehrheit der Frauen, die
aufgrund der politischen Situation in der DDR darüber wegen sexueller Beziehungen verurteilt
geschwiegen wurde. wurden, erhielten Zuchthausstrafen.

Die Historikerin Gwendoline Cicottini ist wissenschaftliche Volontärin in Mindestens 1.000 Kinder wurden aus diesen
der Kustodie zur Geschichte des KZ Buchenwald an der Gedenkstätte
Buchenwald. Sie hat zu den Beziehungen deutscher Frauen zu französi-
Beziehungen geboren.
schen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs promoviert.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.


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„Für jedes deutsche


Heim ein Westküsten-
Beobachter“
NSDAP-Presse im Ausland:
Transnationale Volkserziehungsarbeit
des NS-Regimes am Beispiel Chile
VON DOROTHEE SCHLÜTER

Wenig ist bekannt darüber, dass und zugleich wie von den Nationalsozialisten sogar
bis in weit entfernte Länder parteipolitische Presse organisiert und vertrieben wurde.
Unter Aufbringung enormer personeller, materieller und finanzieller Ressourcen hatte
der NS-Staat alte Behörden aus- und neue Institutionen eingerichtet und sich dadurch
ein international operierendes Propagandanetzwerk geschaffen, in das NSDAP-eigene
Publikationen im Ausland maßgeblich eingebunden waren. Dem wohl bekanntesten
Agitationsinstrument der NS-Propaganda in Deutschland, dem „Völkischen Beobach-
ter“, nachempfunden, gab es beispielsweise den „Italien-Beobachter“, in Shanghai
den „Ostasiatischen-Beobachter“, in Kolumbien einen „Karibischen Beobachter“, in
Argentinien erschien „Der Trommler“ und in Chile der „Westküsten-Beobachter“. Sie
gehören zu den wenigen namentlich bekannten und zumeist noch undokumentierten
Beispielen der insgesamt mindestens 30 Auslandsparteiblätter (Stand 1936), die die
NSDAP über ihre bereits 1931 gegründete Auslands-Organisation (AO) herausgab.
Es ging vorrangig um außenpolitischen Imagegewinn. Die Außenwahrnehmung von
Hitlers „neuem Deutschland“ galt es, positiv zu beeinflussen, den ideologischen
Zuspruch und Anhängerkreis stetig und weltweit auszubauen.

Funktion von Propaganda-


und Organisationsarbeit

Bereits Mitte der 1920er Jahre hatte Hitler in seiner Kampfschrift unmissverständlich
festgehalten, dass die Durchsetzung der Weltanschauung nur in einem gegenseitigen
Aufschaukeln von Propaganda- und Organisationsarbeit zu erreichen sei:
„Die Propaganda versucht eine Lehre dem ganzen Volke aufzuzwingen […]. Der
Sieg einer Idee wird um so eher möglich sein, je umfassender die Propaganda die
Menschen in ihrer Gesamtheit bearbeitet hat und je ausschließlicher, straffer und
fester die Organisation ist, die den Kampf praktisch durchführt. […] Die erste Aufgabe
der Propaganda ist die Gewinnung von Menschen für die spätere Organisation; die
erste Aufgabe der Organisation ist die Gewinnung von Menschen zur Fortführung der
Propaganda. Die zweite Aufgabe der Propaganda ist die Zersetzung des bestehenden
1 Hitler, Adolf (1925/1927): Mein Zustandes und die Durchsetzung dieses Zustandes mit der neuen Lehre, während
Kampf, erster und zweiter Bd.,
636.-640. Aufl. (1941), München,
die zweite Aufgabe der Organisation der Kampf um die Macht sein muß, um durch
S. 651ff. sie den endgültigen Erfolg der Lehren zu erreichen.“1

62 / 63
Hitlerdeutschlands
Auswärtiges Amt
„Wir schlagen die Brücke zu unseren
auslandsdeutschen Volksgenossen.
Nach der Machtübernahme wurde die Werbung für die Politik und Ideologie des „neuen Deutscher Kurzwellensender und
Auslandsorganisation der N.S.D.A.P.“
Deutschland“ schnell zu einem der wichtigsten Aufgabenbereiche im NS-Außenauf- Abb. im „Westküsten-Beobachter“,
tritt. Im Auswärtigen Amt (AA), der traditionellen außenpolitischen Behörde, die sich Jahrg. 4, Nr. 159, 22. Oktober 1936.

entgegen jahrzehntewährender Behauptungen nachweislich in den Dienst des Regimes


gestellt hatte, wurden die Abteilungen und Personalmengen für Propagandafragen
stetig aufgestockt: Bereits Mitte 1933 begann die Selbstgleichschaltung des AA unter
Außenminister Neurath, 1936 wurden die Abteilung Presse-Protokoll und das Partei-
Referat eingerichtet, unter dem seit 1938 amtierenden Minister Ribbentrop und nach
Ausbruch des Krieges gab es schließlich drei Abteilungen im AA, die sich mit Kommuni-
kations- und Propagandafragen beschäftigten. Allein in der Nachrichten- und Presse-
abteilung nahm die Zahl der Beschäftigten von 70 (vor dem Krieg) auf 330 (Ende 1941)
zu.2 Das Ansehen der Traditionsbehörde wie ihr Netzwerk von Vertretungen im
Ausland wurden für die nationalsozialistische Programmatik ausgenutzt, ebenso wie
der diplomatische Dienstverkehr, über den mitunter propagandaförderliches Material
verschickt wurde.

Volkserziehungsarbeit
transnational

2 Vgl. hierzu insbesondere die


Größten Einfluss übte das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda (ProMi) erhellende Studie von Conze,
unter Joseph Goebbels aus, denn es stellte – der Name war richtungsweisend – den Eckart / Frei, Norbert / Hayes,
Peter / Zimmermann, Moshe
institutionellen Fanatismus des NS-Regimes dar, die nationalsozialistische „Lehre dem (2010): Das Amt und die Vergan-
ganzen Volk aufzuzwingen“ und „die Menschen in ihrer Gesamtheit“ zu bearbeiten. genheit. Deutsche Diplomaten im
Dritten Reich und in der Bundes-
Laut Führerverordnung vom 30. Juni 1933 war Goebbels mit seinem Ministerium republik, München., bzgl. der
„zuständig für alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation, der Werbung für Zahlenangaben S. 142-145.

Staat, Kultur und Wirtschaft, der Unterrichtung der in- und ausländischen Öffentlichkeit 3 Verordnung über die Aufgaben
über sie und der Verwaltung aller dieser Zwecke dienenden Einrichtungen“3. Durch die des Reichsministeriums für Volks-
aufklärung und Propaganda,
Gleichschaltung alles wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen, sprich meinungsbil- 30. Juni 1933 (RGBl. 1933 I, S. 449)
denden Schaffens in und für Deutschland und die inhaltliche, bis ins Private gelangende (Zitiert nach Findbuch BArch R55:
Reichsministerium für Volksaufklä-
Volkserziehungsarbeit verfolgte das ProMi zielgerichtet „die Zersetzung des bestehen- rung und Propaganda, Einleitung
den Zustandes und die Durchsetzung dieses Zustandes mit der neuen Lehre“. Dies galt (Online) <http://startext.net-build.
de:8080/barch/MidosaSEARCH/
innerhalb Deutschlands ausnahmslos und außerhalb der deutschen Grenzen soweit, R55–347/index.htm>
wie propagandistisches Schrift- und Bildmaterial verbreitet und staatlich-parteiliche [letzte Abfrage: 27.04.2012]).
S C H W E R P U N K T: N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S A L S T R A N S N AT I O N A L E S P H Ä N O M E N

v.l.n.r.:
Impressum
„Westküsten-Beobachter“
1935, Jahrg. 3, Nr. 100,
5. September 1935.

Titelblattgestaltung
„Westküsten-Beobachter“
August bis Dezember 1934.

Titelblatt „Westküsten-Beobachter“,
Jahrg. 1., Nr. 1, 15. November 1932.

Titelblattgestaltung „Westküsten-
Beobachter“ 1938 – 1939, hier Jahrg. 7,
Ausg. 286, 30. März 1939.

Titelblattgestaltung „Westküsten-
Beobachter“ 1940 – 1941, hier Jahrg. 8,
Ausg. 328, 18. Januar 1940.

Vertreter aktiv werden konnten. Das ProMi erließ Sprachregelungen, unterhielt eigene
Pressedienste, genehmigte den Nachdruck innerdeutscher Presseartikel im Ausland,
setzte Presseattachés in verschiedenen deutschen Auslandsmissionen ein, die im Grun-
de als Spionageagenten der Reichsregierung fungierten, und stand der nach außen hin
unabhängig auftretenden, tatsächlich staatlichen Nachrichtenagentur Transocean (TO)
vor. Die Überseeagentur Transocean war im Kontext des Ersten Weltkrieges gegründet
worden und unterhielt spätestens ab Mitte der 1930er Jahre weltweit Niederlassungen,
die vor allem mit Parteifunktionären besetzt wurden. Gemeinsam mit dem Deutschen
Nachrichtenbüro (DNB) sollte die TO in Konkurrenz treten gegenüber den etablierten
internationalen Diensten wie Havas, Reuter oder Associated Press, um auf die Bericht-
erstattung und somit Meinungsbildung im Ausland einzuwirken. Mit unterschiedlich
großem Erfolg gelang es, über gezielt kooperierende ausländische Medien Kabelmel-
dungen und Artikel aus Deutschland in Presse und Rundfunk zu verbreiten.

NSDAP
als Weltorganisation

Ineinandergreifend mit einer ständigen Ausweitung und Perfektionierung der Propa-


ganda wurde die einstige Kampfbewegung Hitlers zur Staatspartei und simultan zu
einer Weltorganisation, der Auslands-Organisation der NSDAP, ausgebaut. Die Aufga-
ben der in- und auswärtigen Parteiorganisation waren „der Kampf um die Macht […], um
durch sie den endgültigen Erfolg der Lehren zu erreichen“. 1931 als „Auslands-Abteilung
der Reichsleitung der NSDAP“ mit Sitz in Hamburg begründet, um die im Ausland
entstandenen deutschen nationalsozialistischen Vereinigungen und Initiativen organisa-
torisch zu erfassen, erfolgte nach intensivem – nötigenfalls konspirativem – Ausbau
weltweiter Stützpunkte, Orts- und Landesgruppen Anfang 1934 die Umbenennung in
„Auslands-Organisation der NSDAP – NSDAP-AO“ und die Aufwertung zu einem
selbstständigen Gau. Unter dem Gauleiter Ernst Wilhelm Bohle und dessen Stellvertre-
ter Alfred Heß war die AO fortan zuständig für alle Parteigliederungen und -genossen
im Ausland einschließlich der zur See fahrenden Parteimitglieder. Jeglicher Dienstver-
4 Diese Berliner Adresse sollte
kehr einzelner NS-Organisationen mit Auslandsdienststellen hatte über sie zu erfolgen.
traurige Berühmtheit erlangen: Im März 1935 zog die AO-Zentrale nach Berlin um, an die Tiergartenstraße 44; in dieser
Nach dem Umzug der NSDAP-AO
innerhalb Berlins wurde aus dem
Dienststelle sollten bereits Anfang 1937 mehr als 700 Mitarbeiter:innen tätig sein.
Gebäude an der Tiergartenstraße
das Programm „T-4“, das soge-
nannte Euthanasieprogramm,
Die Betreuung der Auslandsdeutschen wurde organisiert durch Länderämter, die sich
geleitet. als „Nervenzentren“ verstanden mit ordnender und überwachender Funktion. Die

64 / 65
jeweiligen Leiter reisten häufig in die ihnen unterstehenden Regionen und waren
bestens unterrichtet über die Verhältnisse in den jeweiligen „Gastländern“ sowie die
sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der dortigen deutschen Kolonien und Landes-
gruppen. In ausgewählten Ländern setzte die AO außerdem so bezeichnete Auslands-
kommissare ein, die teilweise mit der Organisation in einem ganzen Erdteil betraut
waren. Mit den Zielen, die Kontrolle seitens der Zentrale in Deutschland noch besser zu
gewährleisten und die gesamte Auslandsarbeit zu vereinheitlichen, hatten die Auslands-
kommissare die Aufgabe, innerparteiliche Opposition auszuschalten sowie Erschei-
nungsbild, Programm und die Außenbeziehungen der einzelnen Gruppen entsprechend
zu (re)organisieren. Sie galten als die ranghöchsten Parteivertreter ihres Zuständigkeits-
bereichs und waren als Sonderbeauftragte dem Gauleiter unmittelbar unterstellt.

Betreuung und Angebote für die Auslandsdeutschen, die sich beispielsweise 1938 auf
über 580 Ortgruppen in 82 Ländern verteilten5, wurden zumeist im Zusammengang
mit weiteren Gliederungen der NSDAP wie der Deutschen Arbeitsfront (DAF) oder
der NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF) geschaffen. Neben der Unter-
stützung von Notstandsgebieten, der Förderung von Heimat-Erholungsaufenthalten,
Jugendausbildung oder der Schaffung von Hilfswerken, um nur einige Beispiele zu
nennen, wurde das „Gemeinschaftsleben“ durch die Gestaltung der Nationalfeiertage
gefördert, inklusive aus Deutschland entsandter Redner. Die Verbundenheit zur Heimat
sollte weiterhin gefestigt werden durch den Einsatz von Funk und Film, insbesondere
durch Kurzwellensender, den Ausbau von Schallplattenarchiven und die Wochenschau-
Zusammenstellung „Echo der Heimat“. Und auch die Deutschen Auslandsschulen
erhielten Förderung durch die AO. Als Symbol für die Verbundenheit der Auslands-
deutschen mit der Heimat wurde im August 1936 Stuttgart zur „Stadt der Auslands-
deutschen“ erklärt.6 Darüber hinaus veranstaltete die AO jährliche Reichstagungen in
5 Vgl. Koop, Volker (2009): Hitlers
wechselnden deutschen Städten. Das besondere Interesse der AO galt allerdings der fünfte Kolonne. Die Auslands-Orga-
Herausgabe bzw. Unterstützung von Partei- und Kolonialblättern oder -zeitungen, nisation der NSDAP, Berlin, S. 17.

die, wie sich am Beispiel des „Westküsten-Beobachter“ aus Chile aufzeigen lässt, 6 Stuttgart war für Auslandsdeut-
mit größtem Aufwand verfolgt wurde. sche bereits seit Kaiserreichzeiten
von Bedeutung: 1917 wurde hier das
Deutsche Auslandsinstitut (DAI)
Eine Nationalsozialistische Deutsche Wochenzeitschrift gegründet, dass sich seitdem –
zusätzlich zum Verein (später
für die Westküste Südamerikas Volksbund) für das Deutschtum im
Ausland (VDA) – für die Förderung
deutscher Kultur- und Bildungsein-
Über zehn Jahre lang betrieb die NSDAP in Chile deutschsprachige Parteipresse. richtungen, insbes. der Deutschen
Bereits 1929 hatte sich die Landesgruppe Chile der NSDAP-AO etablieren können, Schulen, im Ausland einsetzte.
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v.l.n.r.:
„Erntedankfest der Ortsgruppe
Valparaíso in Limache am 3.10.37.“ ab November 1932 gab sie ihr eigenes offizielles Parteiorgan heraus. Der „Westküsten-
Abb. im „Westküsten-Beobachter“,
Jahrg. 5, Nr. 212, 28. Oktober 1937, Beobachter. Nationalsozialistische Deutsche Wochenzeitschrift für die Westküste
S. 48. Südamerikas“ (WB), wie die Parteipublikation bald nach ihrer Gründung betitelt wurde,
„Reichsminister Dr. Goebbels lässt sich erschien bis Ende Januar 1943 in Santiago de Chile. Die Einstellung passierte notge-
gelegentlich seines Besuches bei der drungen, nachdem Chile auf Druck der USA hin die diplomatischen Beziehungen zu
Leitung der A O. der N. S. D. A. P. über
die Entwicklung und den Stand des Deutschland abbrach. Das Verbreitungsgebiet der Zeitschrift erstreckte sich bis nach
auslandsdeutschen Parteischrifttums Argentinien sowie Peru, Bolivien und Ecuador, also entlang der kompletten südamerika-
Bericht erstatten. (Vorn in erster Reihe
der W. B.) – Von rechts nach links: nischen Westküste. Zu Anfang erschien die Zeitschrift noch halbmonatlich und mit dem
Gauleiter Bohle, Reichsminister zweckdienlichen Titel „Mitteilungsblatt der N.S.D.A.P. (Hitler Bewegung) Landesgruppe
Dr. Goebbels, Pg. Tröbst.“.
Abb. im „Westküsten-Beobachter“, Chile“, wurde dann aber zu August 1934 und ihrer 43. Ausgabe in „Westküsten-Beob-
Jahrg. 4, Nr. 112, 28. November 1935. achter“ umbenannt und zur Wochenzeitschrift erweitert. Der seit der Umbenennung
außerdem verwendete Untertitel sollte mit den Jahren mehrfach variieren, charakteri-
sierte die Zeitschrift in seiner zwischenzeitlich vollständigsten Version allerdings eindeu-
tig als „Parteiamtliches Organ der Landesgruppe Chile der Auslands-Organisation der
N.S.D.A.P./Nat.Sozialistische Deutsche Wochenzeitschrift für die Westküste Südameri-
kas“. Fast 500 Publikationen sind unter dem Titel „Westküsten-Beobachter“ erschienen,
gelegentliche Sonderveröffentlichungen und Jahrbücher mit einbezogen. Zum Zielpubli-
kum, das die Zeitschrift zu erreichen suchte, gehörten nicht nur die NSDAP-Mitglieder
im südamerikanischen Ausland, sondern alle Deutschen und deutschstämmigen Bewoh-
ner:innen in Chile und den angrenzenden Ländern. „Für jedes deutsche Heim ein West-
küsten Beobachter“7 lautete ein Motto und selbstgestecktes Ziel der Zeitschrift, die in
Südamerika sowohl parteipolitische als auch kulturpolitische Ansprüche verfolgte.

Networking und
Federführung à la AO

Gegründet wurde das Parteiblatt in Chile von Willi Köhn, einem deutschen Nazi der
ersten Stunde, der Anfang der 1930er Jahre zugleich für den Auf- und Ausbau der
Landesgruppe der NSDAP in Chile verantwortlich gewesen war und dem das NS-
Regime bald darauf zu einer rasanten Auslandskarriere verhelfen sollte. Köhn hatte es
nicht nur zum mächtigsten Mann der NSDAP in Südamerika gebracht als er vom
Landesgruppenleiter in Chile und Schriftleiter des „Westküsten-Beobachter“ bereits
1933 zum Auslandskommissar der AO für sieben südamerikanische Länder berufen
sowie bald darauf mit dem Posten des ProMi-Presseattachés in der Deutschen
Botschaft in Buenos Aires betraut wurde. Darüber hinaus war er Mitte 1936 als Pro-
7 Westküsten-Beobachter, Jahrg. 4,
pagandaspezialist des Deutschen Reiches in den Spanischen Bürgerkrieg, nämlich
Nr. 156, 1. Oktober 1936, S. 19. nach Salamanca, beordert und dort zum Generalkonsul ernannt worden. Auch die

66 / 67
Männer, die Köhn in Chile nachfolgten – ob in der Führung der Parteigliederung oder in
der Schriftleitung des „Westküsten-Beobachter“ –, zeichneten sich durch einen hohen
Grad an Engagement aus, das wiederholt auch mit höheren Posten in Deutschland
belohnt wurde. Die Redaktion des WB in Santiago entwickelte sich immer mehr zum
Knotenpunkt aller in Südamerika geschaffenen Propagandaverbindungen – als Empfän-
gerin und Vor-Ort-Vertretung der Dienste von TO, DNB, ferner des klandestin bis
fälscherhaft arbeitenden Materiallieferanten „Aufklärungsausschuss Hamburg-Bremen“
und selbstredend der NSDAP-AO mit allen ihr angeschlossenen Pressediensten.

Tatsächlich wurde der WB im Gros mit textueller Fertigware und aufbereitetem Nach-
richten-, Bild- und Propagandamaterial aus Deutschland ausgestattet. Von Anfang an
charakterisierte sich das Mitteilungsblatt der NSDAP-Gliederung in Chile vor diesem
Hintergrund als „eine Zeitschrift von drüben“8. Über das eigene Presseamt kanalisierte
die AO Medien verschiedenster Art und Quellen aus dem Reich zu den Gruppen im
Ausland und umgekehrt. Über Untereinrichtungen wie die Nationalsozialistische Partei-
korrespondenz (NSK) oder den NS-Dienst für auslandsdeutsche Blätter bezog der WB
druckreife Artikel und Aufsätze, ja sogar Fortsetzungsromane wie Karl Aloys Schlenzigers
„Der Hitlerjunge Quex“. Was in der Redaktion im Ausland entstand, folgte genauen
Anweisungen der AO-Zentrale. Über die Ausgabe von Presserichtlinien und einer Art
Mutterblatt, dem „Mitteilungsblatt der AO. der NSDAP“, wurde die Auslandspressearbeit
bis in kleinste – sprachliche wie inhaltliche – Detail vorgegeben. Selbstverfasste Berichte
über Aktivitäten und Anlässe im Ausland waren an die Pressestelle der AO zurückzusen-
den zur Kontrolle und möglichen Weiterverwendung in der deutschen Inlandspresse.
So verwundert es nicht, dass mitunter hochrangige NS-Persönlichkeiten, wie beispiels-
weise Goebbels, Alfred Rosenberg, Otto Dietrich oder Walter Darré, zu den vom WB
abgedruckten Verfassern zählten. Darüber hinaus veröffentlichen die Auslandsmission
des Auswärtigen Amtes in Chile und der Deutsche Botschafter persönlich im „West-
küsten-Beobachter“ und nutzten die Zeitschrift für Bekanntmachungen. Seit Ende
1939 teilten sich die Redaktion des Parteiorgans und die Deutsche Botschaft in Chile
sogar dieselben Räumlichkeiten. An der finanziellen Versorgung und Absicherung
des Propagandanetzwerkes waren nicht zuletzt die deutschen Banken und führende
Industrieunternehmen involviert. Beispielsweise traten die Dresdner Bank, die AEG
oder die IG Farben als Gesellschafter der Überseeagentur Transocean auf, Firmen
wie Bosch, Bayer oder Siemens sowie die großen Reedereien finanzierten das Auslands-
parteiblatt über ständige Anzeigenschaltung mit.

Vom Kampfblatt zur


Staatspropaganda

Der „Westküsten-Beobachter“, der als Kampfblatt der in Chile zunächst noch losen
Hitlerbewegung begonnen hatte, das für die Parteimitglieder und zur Werbung neuer
Anhänger bestimmt war, entwickelte sich bald zur NS-Deutschen Wochenzeitschrift
mit Verbreitungsgebiet über mehrere südamerikanische Staaten. Seine Inhalte gaben
bald nicht mehr allein parteiliche, sondern staatliche Interessen wieder, denn das partei-
amtliche Organ der NSDAP-Landesgruppe Chile war vor allem eins: ein vom Reich aus
dirigiertes, kontrolliertes, materiell ausgestattetes, inhaltlich und sprachlich diktiertes
Propagandainstrument, um den Auslandsdeutschen und deutschstämmigen Bewoh-
ner:innen Chiles vom „neuen Deutschland“ zu berichten, sie im Sinne der Partei „aufzu-
klären“, ideologisch zu fixieren und nach Deutschlands Interessen auszurichten.

Die Kulturwissenschaftlerin 8 Vgl. Westküsten-Beobachter,


Dorothee Schlüter promovierte 2013 zur auswärtigen Jahrg. 1, Nr. 1, 15. November 1932,
Pressearbeit der NSDAP in Chile. S. 1.
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„Organisiertes
Gedächtnis“.
Kollektive Aktivitäten von Überlebenden der
nationalsozialistischen Verfolgung in transnational-
vergleichender Perspektive

VO N PH I L I PP N EU MAN N -TH E I N

Die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungs- an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Juni 2016
politik traf Millionen Menschen aus Europa und anderen in der Gedenkstätte Buchenwald. Ein Drittel der Texte
Teilen der Welt. Nach der Befreiung entstanden zahl- entstand im Zusammenhang mit diesem Workshop.
reiche Initiativen und Organisationen ihrer Überlebenden. Erweitert durch Beiträge aus der internationalen histori-
Informelle Netzwerke, Amicales, Komitees, Lagergemein- schen Forschung wird der Band einen schlaglichtartigen
schaften, nationale Interessenverbände und internatio- Überblick zu den kollektiven Aktivitäten von Überleben-
nale Dachorganisationen versammelten jüdische wie den der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Ver-
nicht-jüdische Verfolgte, Antifaschist:innen aus dem nichtungspolitik geben. Dabei nimmt er vor allem die
Exil, ehemalige Angehörige des Widerstands, Veteranen, Verbindung zwischen den gemeinsamen Erfahrungen
kommunistische wie auch nicht-kommunistische Enga- in der NS-Verfolgung – bis hin zu fortbestehenden bzw.
gierte. In vielen Fällen wirkten diese Zusammenschlüsse neuentstehenden Personennetzwerken – und den kollek-
über Grenzen von Staaten und politischen Systemen tiven Aktivitäten nach der Befreiung in den Blick, die in
hinweg. Oftmals erstritten sie erste Erinnerungszeichen, den Organisationen der Überlebenden vielfältig aufeinan-
waren entscheidend für die Entstehung von NS-Gedenk- der bezogen blieben. Die insgesamt 19 Beiträge des
stätten und trieben – nicht selten gegen erhebliche Sammelbands behandeln vier Schwerpunktthemen.
Widerstände – die juristische Verfolgung von NS-
Täter:innen voran. In den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus
umfasst – zum Teil unmittelbar vergleichend angelegte –
Gerade vergleichende Forschungen zu den Aktivitäten Untersuchungen zu Verbänden in der Bundesrepublik,
von Überlebenden und ihren Organisationen sind bislang der DDR und Österreich, darunter zur Vereinigung der
noch selten. Der demnächst erscheinende Sammelband Verfolgten des Naziregimes (VVN) und dem konkurrie-
adressiert dieses Defizit. Er geht zurück auf den Work- renden Zentralverband demokratischer Widerstands-
shop „Organisiertes Gedächtnis. Ehemalige Häftlinge kämpfer und Verfolgtenorganisationen (ZdWV), dem
der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernich- westdeutschen Sachsenhausen-Komitee sowie Lager-
tungslager und ihre (trans-)nationalen Verbände” der gemeinschaften von Ravensbrück-Überlebenden in
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora allen drei Ländern. Widerstandsgedächtnisse beinhaltet
und des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts Studien zu Organisationsformen Überlebender in

68 / 69
Widerstandskämpfer (FIR) sowie zu
jugoslawischen Überlebenden im
Spannungsfeld des (inter-)nationalen
Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg.
Wichtiger Kontext vieler Organisations-
geschichten ist dabei der Kalte Krieg.
Dachverbände auf europäischer oder
internationaler Ebene, aber auch ande-
re Vereinigungen Überlebender wirkten
in vielen Fällen über die Grenzen von
Staaten und Blöcken hinweg. Zugleich
stellte der Kalte Krieg mit seinen ideo-
logischen Grenzziehungen in manchen
Verbänden den Bezug auf eine gemein-
same Verfolgungserfahrung als Organi-
sationsgrundlage in Frage. So blieben
der Koreakrieg seit 1950 oder die Nie-
derschlagung der Reformbewegungen
in Ungarn 1956 bzw. in der Tschecho-
slowakei 1968 nicht ohne Auswirkun-
gen auf die Überlebendenverbände.
Für sie waren die Spaltungen in (pro-)
kommunistische und nicht-kommunis-
tische Verbände ein konfliktreicher
Prozess. Tief- und weitreichende
Veränderungen brachte zudem das
Ende der sozialistischen Länder Ost-
europas seit den ausgehenden 1980er
Jahren: Staatliche Sammel- und Dach-
verbände verloren an Bedeutung,
wurden politisch marginalisiert oder
Frankreich, den Niederlanden, Polen, Spanien und der ganz aufgelöst. Andere Organisationen, wie etwa die
Sowjetunion ebenso wie einen Beitrag zur künstlerischen internationalen Komitees der KZ-Überlebenden, über-
Verarbeitung der Buchenwald-Erfahrung französischer standen diese Zäsur, veränderten sich aber hinsichtlich
Kommunisten in der frühen Nachkriegszeit. Die Texte Zusammensetzung, politischer Ausrichtung und
unter Nach Shoah und Porajmos beschäftigen sich mit (geschichts-)politischer Bedeutung.
den Selbstorganisationen jüdischer Überlebender am
Beispiel des Kibbuz Buchenwald und der Pluralität der Zugunsten der besseren Zugänglichkeit wie der zusätz-
Überlebenden-Verbände des KZ Bergen-Belsen, dem lichen Vernetzung der Texte untereinander verfügt der
Wirken und Netzwerken individueller jüdischer Verfolgter mehr als 700-seitige Band über detaillierte Register zu
beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde zu Köln den erwähnten Organisationen, Orten und Personen.
sowie von Sinti:zze und Rom:nja als Akteur:innen in der Er ist ab Frühsommer 2022 im Buchhandel wie auch im
bundesdeutschen Erinnerungskultur. Den letzten Schwer- Onlineshop der Stiftung erhältlich.
punkt des Bandes Internationale Organisationen bilden
Untersuchungen zu den Komitees der Überlebenden
Philipp Neumann-Thein veröffentlichte 2014 seine Promotion
des Lagerkomplexes Auschwitz, von Buchenwald bzw. „Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee
Ravensbrück und zur Internationalen Föderation der Buchenwald-Dora und Kommandos“.
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Zeugenschaft,
Wissensproduktion und
universelle Lehren des
Holocaust.
Kritik einer Erwartungshaltung
gegenüber Interviews
mit Holocaust-Überlebenden
VON DANIEL SCHUCH

Sowohl die Verbrechen des Holocaust als auch deren nachträgliche


Zeugenschaft sind transnationale Phänomene. Überlebende emigrierten in
verschiedenste Länder auf der ganzen Welt, wo sie teilweise bereits frühzeitig
von ihren Erfahrungen berichteten. Doch mit der global wirkmächtigen
Institutionalisierung von Zeitzeugeninterviews seit Ende der 1970er Jahre
hat sich eine fragwürdige Erwartungshaltung entwickelt: Aus den Leiderfah-
rungen sollen universelle Lehren für die Nachwelt abgeleitet werden.

„Inzwischen erleben wir eine Globalisierung, ja, eine Inflation des Holocaust. Der
Holocaust-Überlebende, der Auschwitz aus lebendiger Erfahrung kennt, beobachtet
das alles aus der ihm zugewiesenen Ecke. Er schweigt oder gibt der Spielberg-Stiftung
Interviews, er empfängt die ihm mit fünfzigjähriger Verspätung zugesprochene
Entschädigung, der Prominentere hält hier und dort eine Rede. Und er stellt sich
die Frage: Was hinterläßt er, was für ein geistiges Erbe? Hat er das menschliche
Wissen mit seiner Leidensgeschichte bereichert? Oder nur Zeugnis abgelegt von der
unvorstellbaren Erniedrigung des Menschen, in der keine Lehre steckt und die man
besser möglichst rasch vergißt?“1

Der ungarische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Imre Kertész (1929–2016)


beschrieb in seiner Rede über „Die exilierte Sprache“ im Jahr 2000 einen globalen
Bedeutungswandel des NS-Massenmords an den Jüdinnen und Juden. Insbesondere
die gesellschaftliche Rolle von Überlebenden des Holocausts habe sich nach „fünfzig-
jähriger Verspätung“ stark gewandelt.

Was ist damit gemeint? Exemplarisch für die verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit für
den Holocaust nannte Kertész die Videointerviews der sogenannten Spielberg-Stiftung.
Im Folgenden wird danach gefragt, welche Bedeutung solche audio-visuellen Zeugen-
berichte für die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust haben und wie sich
1 Imre Kertész (2004): Die exilierte
Sprache, Frankfurt am Main,
die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber Zeug:innen des Holocaust seit
S. 220. dem Ende des Zweiten Weltkrieges verändert haben.

70 / 71
Videointerviews
mit moralischen Lektionen

Im August 1994 gründete der amerikanische Regisseur Steven Spielberg die Survivors
of the Shoah Visual History Foundation, heute angegliedert an die University of Cali-
fornia (USC) in Los Angeles und bekannt als USC Shoah Foundation. Im Anschluss an
seine weltweit erfolgreiche Hollywoodproduktion Schindlers Liste (1993) konzipierte er
eine transnational agierende Institution, die Videointerviews mit hauptsächlich jüdischen
Überlebenden aufzeichnete. Heute gilt diese Sammlung von Interviews mit Holocaust-
Überlebenden als die größte weltweit: Etwa 52.000 archivierte Videoclips stehen für
Forschung und pädagogische Programme zur Verfügung.

Diese Videos sollten jedoch nicht als neutrale Dokumentation der Erinnerungen von
Überlebenden missverstanden werden. Bereits während der Produktion dieser Holo-
caust Testimonies, wie sie im englischsprachigen Raum genannt werden, spielen päda-
gogische Zwecke eine zentrale Rolle. Die Überlebenden sollen nicht nur von ihren
Erfahrungen der NS-Verfolgung berichten, sondern aus der Geschichte ebenso univer-
selle Lehren für die Menschheit ableiten, sogenannte Moral Lessons. Die Überwindung
von Holocaustleugnung, Vorurteilen und Hass durch diese Moral Lessons sind elemen-
tare pädagogisch-moralische Ziele der Stiftung. Diese Videointerviews haben das
Bild derer, die wir heute als Zeitzeug:innen des Holocaust kennen, maßgeblich geprägt.
Es handelt sich vornehmlich um Personen im Rentenalter, die auf eine leidvolle Ver-
gangenheit und gleichzeitig auf ein erfolgreiches Leben nach dem Holocaust zurück-
blicken. Basierend auf diesen Erfahrungen sollen sie Ratschläge für die kommenden
Generationen ableiten. Ausgeblendet werden mit diesem vermeintlichen Happy End
allerdings die Millionen der Ermordeten sowie jene Überlebenden, die in der post-
nationalsozialistischen Welt nicht mehr heimisch wurden.

Globalisierung des
Holocaustgedenkens

Das Archiv der USC Shoah Foundation ist exemplarisch für weitere transnational
agierende Projekte, die sich auf die Produktion von Interviews mit Überlebenden
spezialisiert haben. Als Pionierprojekt in den USA gilt das Fortunoff Video Archive for
Holocaust Testimonies, das 1979 in New Haven damit begonnen hatte, Befragungen
von Holocaust-Überlebenden mit der damals neuen Technologie der tragbaren Video-
rekorder aufzuzeichnen. Seit 1989 wurden im Department of Oral History des 1994
eröffneten United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington, D.C.,
Audio- und Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden für die Dauerausstellung des
Museums aufgenommen. Zahlreiche lokale Museen und Gedenkstätten sind bei der
Etablierung von Holocaust Testimony als internationalem Genre der Holocaust-Erinne-
rung ebenso zu beachten: Vermehrt seit den 1980er Jahren wurden Interviews mit
Überlebenden in den USA und darüber hinaus aufgezeichnet, archiviert, digitalisiert
und damit global zugänglich. Insbesondere in Ausstellungen, die sich mit der Geschichte
und Nachgeschichte von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust aus-
einandersetzen, begegnen uns zumeist kurze Ausschnitte ihrer Videoaufnahmen.

Diese Überlieferungen könnten wir mit Kertész vielleicht als „geistiges Erbe“ der
Überlebenden begreifen. Doch welche Bedeutung haben diese Interviews für die Inter-
pretation des NS-Massenmords? Welche Ziele verfolgten die Befragten mit ihren
Erzählungen und welche Erwartungen hatten die Interviewer und beteiligten Institu-
tionen? Der Blick auf eines der 52.000 Interviews der USC Shoah Foundation kann
einen Einblick in die institutionelle Produktion von Holocaust Testimonies gewähren.
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Abb. 1
Digitalisat des Videointerviews
mit Gert Silver (#19626) im Visual
History Archive, Screenshot von
Daniel Schuch.
USC Shoah Foundation. The Institute
for Visual History and Education

Finale Worte und


universelle Botschaften

Am 20. September 1996 wurde der 68-jährige Holocaust-Überlebende Gert Silver im


Auftrag der UC Shoah Foundation in seinem Wohnzimmer in Melbourne interviewt.
Eine digitale Kopie des knapp zweistündigen Videos ist über das Visual History Archive
der USC Shoah Foundation (passwortgeschützt) online zugänglich (Abb. 1).

Gert Silver, geboren 1928 in Berlin, hatte als Jugendlicher die Konzentrationslager
Auschwitz und Buchenwald überlebt und war nach seiner Befreiung nach Australien
emigriert. Gegen Ende des Interviews wird Silver nach einer universell gültigen
Botschaft gefragt:
Interviewer: Gibt es irgendwelche abschließenden Worte, die Sie über [1 Sekunde]
die Erfahrungen, die Sie gemacht haben, sagen möchten? Irgendeine Botschaft, die
Sie gerne weitergeben möchten?
Silver: Ich denke einfach, dass es eine wunderbare Sache ist, dass jemand wie
Spielberg die Mittel zur Verfügung gestellt hat, um das zu tun, was Sie im Moment tun,
nämlich die wenigen verbliebenen Überlebenden zu interviewen, so dass, wenn/ zu
einem späteren Zeitpunkt, vielleicht in zehn, fünfzig oder hundert Jahren, Leute wie
David Irving kommen/ neue David Irvings auftauchen und sie davon überzeugen, dass
es das nie gegeben hat [1 Sekunde] Es ist einfach schrecklich, dass etwas Ähnliches,
wenn auch nicht in demselben Ausmaß, heute in Bosnien, in Burundi, in Ruanda, in
Afghanistan und an so vielen anderen Orten existiert. Nicht in demselben Ausmaß,
weil es dort keine Gaskammern und so weiter gibt, aber trotzdem werden Menschen
wegen ihrer Rasse und ihrer Religion getötet.
Interviewer: [2 Sekunden] Vielen Dank.2

Auf die Frage des Interviewers nach einer Botschaft und finalen Worten reagierte
Silver zunächst mit einer persönlichen Danksagung an Steven Spielberg. Er ehrte den
2 Zitiert nach Daniel Schuch (2021): Filmemacher als Schirmherren der Interviewproduktion. Zudem thematisierte er zen-
Transformationen der Zeugen-
schaft. Von David P. Boders frühen
trale Motive der Geschichtskultur der 1990er Jahre. Er griff den Topos vom Tod der
Audiointerviews zur Wiederbefra- Zeitzeug:innen auf und verband ihn mit der Bedeutung von Holocaust Testimony als
gung als Holocaust Testimony,
Göttingen, S. 313. (Hier: Über-
historischem Beweis der NS-Verbrechen im Kampf gegen Holocaustleugnung. Der
setzung aus dem Englischen.) namentlich benannte britische Geschichtsrevisionist David Irving war insbesondere

72 / 73
Abb. 2
David P. Boder im Sommer 1946
mit seinem Drahttonrekorder
in Europa.
Fotograf unbekannt, Nutzung
der Abbildung mit freundlicher
Genehmigung von Bill Jarrico im
Auftrag des Boder/Levien Family
Trust

seit den 1990er Jahren als Holocaustleugner international bekannt. Mit dem Vergleich
zu genozidalen Gewaltverbrechen wie dem Völkermord in Ruanda machte Silver zudem
deutlich, dass als Konsequenz aus dem Holocaust solcherart Verbrechen eigentlich
verhindert werden sollten.

Mit seiner individuellen Formulierung hatte der Befragte exakt jene Aspekte themati-
siert, die für die institutionellen Erwartungen an das Interview als Holocaust Testimony
zentral waren: eine deutliche Stellungnahme gegen Intoleranz, Rassismus und Gewalt
und die Botschaft, dass sich der Holocaust nicht wiederholen dürfe.

Inwiefern müssen solche Erwartungen historisiert werden? Lassen sie sich auch in
frühen Zeugenberichten finden? Ein Blick zurück auf die frühe Nachkriegszeit ver-
deutlicht, dass der Beginn einer auditiven Zeugenschaft des Holocaust durch andere
Erkenntnisinteressen, Methoden und Ziele der Interviewproduktion geprägt war.

David P. Boders Audioaufnahmen


im Nachkriegseuropa

Die erste systematische Sammlung von Audiointerviews mit hauptsächlich jüdischen


Überlebenden der NS-Verbrechen geht auf den lettisch-amerikanischen Psychologen
David P. Boder zurück.3 Im Sommer 1946 überquerte der aus Europa stammende
Forscher den Atlantik und begann Ende Juli in Paris mit seinem Interviewprojekt.
Im Gepäck hatte er einen an seiner Universität in Chicago damals neu entwickelten
Drahttonrekorder sowie 200 Spulen als Aufnahmemedium (Abb. 2). Von Juli bis Oktober
1946 zeichnete der Forscher in diversen Sammelunterkünften für sogenannte Displaced
Persons, in Frankreich, der Schweiz, Italien und Deutschland insgesamt etwa 130 Inter-
views in neun Sprachen auf.

Was war das Ziel dieses Interviewprojekts und warum kann man es als eine frühe
transnationale Initiative zur Erforschung des NS-Massenmords an den Jüdinnen und
Juden begreifen? Um einen Einblick in das Interviewprojekt von Boder zu bekommen,
bietet es sich an, sein Interview in den Blick zu nehmen, das er ebenfalls mit Gert Silver
3 Zum Ansatz von David P. Boder
führte, der im Sommer 1946 unter seinem Geburtsnamen Gert Silberbard in der siehe auch das Interview mit Axel
Schweiz lebte. Doßmann in diesem Magazin.
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Frühe Versuche,
die „Katastrophe“ zu begreifen

Am 27. August 1946 interviewte David P. Boder den damals 17-jährigen Gert Silberbard
in einem Kinderheim in Genf.4 Befreit worden war Silberbard am 11. April 1945 als
eines der sogenannten Buchenwaldkinder, also jenen etwa 900 minderjährigen Häft-
lingen des KZ Buchenwald. Im Juni 1945 hatte er sich freiwillig für einen humanitären
Hilfstransport des Schweizerischen Roten Kreuzes gemeldet, der ihn zur Erholung und
Ausbildung nach Genf brachte.

Auffällig an diesem frühen Interview sind insbesondere die zahlreichen Konflikte, die
während der Befragung auftraten. Der Psychologe Boder war an den individuellen
Erfahrungen seines Gegenübers interessiert, die er Wort für Wort und in der Stimme
des Überlebenden aufzeichnete. Silberbard berichtete im Interview über seine Diskrimi-
nierungserfahrungen als Jude im NS-Deutschland, über die Deportation seiner Familie
nach Auschwitz im Februar 1943, über Zwangsarbeit für die Firma Siemens sowie über
seinen Todesmarsch zum KZ Buchenwald im Januar 1945. Die Erzählung von Silberbard
war insgesamt durch einen auffällig nüchternen Tonfall geprägt. Nahezu emotionslos
beschrieb der damals 17-Jährige seine Gewalterfahrungen in den Konzentrationslagern
und verwendete in seiner Erzählung mehrfach Begriffe der Täter für seine Beschreibun-
gen. Die extreme Gewalt in den KZ bezeichnete er durchgehend als selbstverständlich,
was Boder als Interviewer nicht verstehen konnte und mehrfach in Frage stellte:
Boder: Warum ist das so selbstverständlich?
Silberbard: Das ist selbstverständlich, glaub’ in/ Ich glaub’, dass das eben von Büchern
und Vorträgen und Filmen genug bekannt ist, dass ich das gar nicht mehr erwähnen
brauch, denn die Schläge waren einfach etwas, was zu/ was zum Konzentrationslager
gehört, genauso wie zu einem Büro eine Schreibmaschine gehört.5

Die lebendige Erfahrung der extremen Gewalt, die Silberbard in Auschwitz und Buchen-
wald überlebt hatte, war in seinem frühen Interview zugleich allgegenwärtig und auf-
fällig abwesend: Er distanzierte sich mit seiner scheinbar neutral berichtenden Sprache
4 Das digitalisierte Audiointerview
davon und erklärte gegenüber Boder, dass die brutale Behandlung im KZ längst be-
ist über die Website „Voices of the kannt sei. Der Psychologe wiederum versuchte, im Nachgang seiner Forschungsinter-
Holocaust“ zugänglich, wo der
Befragte fälschlich als „Silberbart“
views, die Erfahrungen der Überlebenden analytisch zu begreifen: Es handele sich um
benannt wird, vgl. Paul V. Galvin eine menschengemachte Katastrophe, die sich auf die Persönlichkeit und Psyche der
Library: David P. Boder Interviews
Gert Silberbart, August 27, 1946,
Befragten ausgewirkt habe.
Geneva, Switzerland, URL:
https://voices.library.iit.edu/
interview/silberbartG;
In der sozialwissenschaftlichen Auswertung seiner Interviews legte Boder daher auch
letzter Zugriff am 24.02.2022. großen Wert auf den sprachlichen Ausdruck der Erzählungen. Darin zeige sich das,
5 Zitiert nach Schuch,
was er später als „Dekulturation“ bezeichnete: „das Schrittweise Zurückstutzen eines
Transformationen, S. 154. menschlichen Wesens, um sie oder ihn in Konzentrations- und Vernichtungslager ein-
6 David P. Boder (2011): Die Toten
zupassen.“6 Die Zusammenhänge zwischen sprachlichem Ausdruck, als Einblick in die
habe ich nicht befragt. Deutsche Persönlichkeit der Befragten, sollten Erkenntnisse über den Aspekt der Traumatisierung
Erstausgabe herausgegeben von
Julia Faisst, Alan Rosen und
erlauben. Bis zu seinem Tod im Jahr 1961 suchte Boder, mithilfe der Erzählungen der
Werner Sollors, Heidelberg, S. 17. von ihm befragten Überlebenden, diese Auswirkungen zu begreifen.

Wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts lediglich


ein einmaliger Ausrutscher, dann hätte die große Katharsis
längst einsetzen müssen.
Imre Kertész
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“ 74 / 75
Erlebnisse, als vielmehr die Einforde-
rung von universellen Botschaften
und Lehren aus dem Holocaust im
Zentrum. Doch die Befragten hatten
verschiedene Motivationsgründe, an
den Interviewprojekten teilzunehmen
und bewiesen damit auch ein eigen-
sinniges Verhalten im Umgang mit der
pädagogischen Funktionalisierung
ihrer Erzählungen. Sie adressierten
vornehmlich eigene Familienmitglieder
und gerade nicht die gesamte Mensch-
heit als Publikum. Oftmals wurden
Erinnerungen an die im Holocaust er-
mordeten Familienangehörigen sowie
Freunde und Geliebte mit den von
den Institutionen eingeforderten mora-
lischen Botschaften in eigenwilliger
Form verknüpft.

In der Auseinandersetzung mit


Erinnerungsinterviews von Holocaust-
Überlebenden sollten wir uns stets
bewusst darüber sein, dass es sich um
zeit- und ortsgebundene Interpretatio-
nen der gewaltsamen Vergangenheit
handelt. Die sozialen Interaktionspraxen
sind von unterschiedlichen Erwar-
tungshaltungen geprägt. Wissen über
die NS-Verbrechen wurde durch Inter-
views mit Betroffenen maßgeblich
verbreitert und darin besteht ihr großer
wissenschaftlicher Wert. Eine morali-
sche Läuterung können wir von diesen
Zeugnissen allerdings nicht erwarten.
Bezüglich der Verwendung von Zeit-
zeugeninterviews sollte der Fokus
Moralische Zeugenschaft daher weniger in der Hoffnung auf universell moralischen
als Sackgasse Lehren für die Nachwelt liegen. Vielmehr erlauben uns
die vielfältigen Zeugnisse der Überlebenden einen empha-
Der kulturelle Wandel von Zeugenschaft des Holocaust tischen Einblick in die Verarbeitung der NS-Verbrechen,
zeigt sich insbesondere durch den Vergleich von frühen die es auch im 21. Jahrhundert noch als „unannehmbare
mit späteren Zeugnissen. Durch die Analyse der mehr- Geschichte“ (Kertész) zu begreifen gilt.
fachen Befragung von fünf jüdischen Überlebenden
durch Boder (1946) sowie später durch transnationale
Abb. 3
Institutionen wie die USC Shoah Foundation und das Die Monografie über Transformationen der Zeugenschaft erschien im
US Holocaust Memorial Museum (1990er und frühe November 2021 als Band 1 der neuen Reihe „Buchenwald und Mittelbau-
Dora – Forschungen und Reflexionen“ im Wallstein Verlag Göttingen.
2000er Jahre) konnte ich Kontinuitäten und Wandel im
Wiedererzählen herausarbeiten (Abb. 3). Die Einflüsse
Der Historiker Daniel Schuch arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter
der beteiligten Institutionen und eine gewandelte am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der
Geschichtskultur in Bezug auf den Holocaust sind Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte
umfassen die Geschichte und Nachgeschichte von Nationalsozialismus
zentrale Faktoren dieses Wandels. In den späteren Inter- und Holocaust, audio-visuelle Zeugenschaft sowie Überlebendenverbände
views standen tendenziell weniger die individuellen und deren Organisationen nach 1945.
S C H W E R P U N K T: N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S A L S T R A N S N AT I O N A L E S P H Ä N O M E N

Europa von Buchenwald


her denken
Für sein Buchprojekt traf Ronald Hirte
Überlebende der Shoah aus den verschiedensten
Regionen Europas in Israel.

Frage: Nachdem Sie Europa in Frankreich und Polen Frage: Für Ihre Gespräche sind Sie zumeist
gesucht hatten, sind Sie nun nach Israel gereist. von Tel Aviv aus aufgebrochen. Wer waren Ihre
Findet sich dort mehr Europa als in Europa selbst? Gesprächspartner:innen und wie haben Sie
sie gefunden?
Ronald Hirte: Da Israel zwar „nicht in Europa, aber
doch von Europa“ ist, wie der Historiker Dan Diner RH: Viele fanden wir über befreundete Menschen
zuspitzt, findet sich dort viel Europäisches. Israel kann und Bekannte. Sehr schön und hilfreich war es auch,
durchaus als eine westliche, aufgeklärte Gesellschaft im Land von den einen zu den anderen geschickt zu
wahrgenommen werden, eine Demokratie mit einer werden. Wir bekamen so viele Tipps: „Mit ihr müssen Sie
lebhaften Zivilgesellschaft und einer Kultur, die denen in sprechen“ oder „Bei diesem Thema müsst ihr unbedingt
europäischen Ländern ähnelt. Auch deswegen haben wir ihn treffen“. Wir wollten möglichst viele verschiedene
uns, Fritz von Klinggräff und ich, dort vielleicht so wenig Perspektiven aufstöbern, möglichst viel über unter-
fremd gefühlt, als wir für die Gespräche in dieses Land schiedliche familiäre, kulturelle, politische, ethnische,
hineinplatzten. Welch Europa sich in Israel natürlich noch nationale oder religiöse Zugehörigkeiten erfahren, ohne
findet, ist eines, das es seit dem Zweiten Weltkrieg und die Menschen mit ihren Markierungen zu belästigen.
der Shoah auf dem europäischen Kontinent so kaum Wesentlich waren einige Israelis, die wir bereits vor
mehr gibt: ein jüdisches. Von diesem herkömmlich Jahren als Gäste der Gedenkstätten Buchenwald und
Europäischen ausgehend haben uns bei diesem Projekt Mittelbau-Dora kennengelernt hatten: Überlebende der
zunehmend Elemente eines möglichen, zukünftigen Konzentrationslager sowie ihre Kinder und Enkelkinder.
Europas interessiert. So fragten wir unsere Gesprächs-
partnerinnen und Gesprächspartner nach ihrem gelebten
und gleichzeitig immer wieder nach einem lebenswerten
Europa – nach Ideen und Vorstellungen von einem
kommenden Europa.

76 / 77
Abram Kimelman, Ramat Gan, August 2015
Foto: Manuel Fabritz

Frage: Welche Bedeutung hatte das noch Frage: Für die Interviews hatten Sie einiges mit
im Juni 1945 in Thüringen gegründete „Kibbuz im Gepäck: Dokumente und Fotos aus den Archiven
Buchenwald“ für die erste Generation? in Buchenwald, Washington und Jerusalem.
Welche Rolle spielen sie für den Gesprächsverlauf?
RH: Die Wurzeln dieses Kibbuz hachschara, dieses
landwirtschaftlichen Trainingskibbuzes, liegen in den RH: Diese überlieferten Fragmente halfen in den
Netzwerken der Akteurinnen und Akteure in den Kon- Gesprächen enorm, sich schnell konkreten historischen
zentrationslagern Auschwitz-Monowitz und Buchenwald Ereignissen nähern zu können. Gleichzeitig betrieben
sowie in den Displaced-Persons-Lagern Buchenwald wir mit ihnen auch ein wenig Forschung, wenn es zum
und Bergen-Belsen. Entsprechend der Kibbuzidee Beispiel gelang, die auf den Fotos Abgebildeten etwas
wollten seine Mitglieder sich und anderen Überlebenden der Anonymität zu entreißen. Unsere Gesprächspartne-
jenseits von unterschiedlichen politischen und religiösen rinnen und Gesprächspartner konnten noch viele
Überzeugungen ein Heim bieten und selbstbewusst Fotografierte namentlich benennen und in kleinen
jüdisches Gemeinschaftsleben organisieren. Besonders Geschichten über diese Menschen die Bilder genauer
für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter den kontextualisieren. In dieser Hinsicht ist leider sehr viel
Überlebenden war der Kibbuz angesichts der ermordeten versäumt worden. „Und warum sind Sie nicht früher
Familienmitglieder so etwas wie eine Ersatzfamilie. Sie gekommen?“, brachte es eine der Kibbuz Buchenwald-
hofften, durch diese aktive Gemeinschaft und durch Gründerinnen, Hilde Zimche, auf den Punkt. Die Doku-
die Hilfe anderer Organisationen Europa bald für immer mente bildeten oft so etwas wie ein Geländer für den
verlassen zu können. Ziel war Palästina. Mit ihrem Gesprächsverlauf, auch wenn sie uns genauso oft von
Kibbuz, der später seinen beständigen Ort in Israel fand, all unseren vorbereiteten Fragen wegführten. Kurzum:
bauten sie sich eine Brücke zwischen der Zerstörung Sie erhöhten die Performativität der Gespräche.
ihrer Lebenswelt in Europa und der Erneuerung ihres
Lebens im jüdischen Staat.
S C H W E R P U N K T: N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S A L S T R A N S N AT I O N A L E S P H Ä N O M E N

Frage: Ihr Buch ist kein Interviewband im Frage: Von außen betrachtet wirkt das heutige
engeren Sinne. Es enthält auch mehrere Aufsätze. Israel sehr konfliktbeladen. Der Soziologe
Welche Funktion übernehmen sie? Natan Sznaider betont jedoch: „Nicht der Konflikt
ist überraschend, sondern die Stabilität.“
RH: Im Band finden sich 25 Interviews. Die Aufsätze Was begründet diese Stabilität?
nehmen einerseits zwei zentrale inhaltliche Stränge auf:
die Geschichte der Buchenwaldkinder und die Geschich- RH: Natan Sznaider geht davon aus, dass das ständig
te des Kibbuz Buchenwald. Andererseits kommen in konflikthafte Geschehen in Israel für das Denken von
ihnen, ähnlich wie in der umfangreichen Einleitung, noch Staaten und Gesellschaften im Allgemeinen bedeutsam
all die Interviewten wenigstens kurz zu Wort, die nicht ist – schließlich gibt es ja nicht nur in Israel Probleme
zu den 25 im Buch veröffentlichten Gesprächen gehören. mit dem Verständnis der Zivilgesellschaft als einer auf
Dan Diners Aufsatz „Konflikte begreifen“ erzählt eine Gleichheit und Universalismus basierenden Vergemein-
Geschichte Israels in der Chronologie seiner Kriege und schaftungsform, die die Partikularinteressen verschie-
bildet gewissermaßen die Blaupause auf unsere Ge- denster Gruppen im Namen universaler Rechte aus-
spräche. Samantha Font-Salas Fotoessay „Wadi Salib, gleichen möchte. In dieser Hinsicht kann die soziologi-
Haifa, 3. Januar 2017“ zeichnet die Ruinenlandschaft sche Analyse der Gesellschaften Israels „Europa einen
Wadi Salibs und damit einige für Israel charakteristische Spiegel seiner eigenen Zukunft vorhalten“, so Sznaider.
Konfliktgeschichten am Beispiel dieses Haifaer Stadt- Die Stabilität ist möglich, weil die Gesellschaften in Israel
viertels nach. ihre radikal offenliegenden Differenzen in den Lebens-
weisen und Staatsverständnissen stetig untereinander
aushandeln müssen.

Frage: Und was kann das heutige Europa, das


zunehmend von neuen Ethno-Nationalismen
geprägt wird, davon lernen?

RH: Ein Horizont des Lernens könnte sein, offener, ehrli-


cher, vielleicht auch gelassener mit Aporien umzugehen.
In den gut sieben Jahrzehnten seines Bestehens ist der
jüdische Staat in der Levante zu einem vitalen Gemisch
der verschiedensten Gruppen geworden, Diversität ist
dort trotz aller Schwierigkeiten eine Grunderfahrung.
Zudem scheint es in diesem, wie es der Filmemacher
Amos Gitai nennt, „fortwährend dramatischen Land“
weniger Angst vor komplexen Lebenswirklichkeiten zu
geben. Gelernt werden könnte außerdem, dass sich
Privates und Politisches kaum trennen lassen – eine
weitere in Israel längst gemachte Erfahrung.

Moshe Kravec, Beit Lochamei haGeta’ot, Januar 2017


Foto: Samantha Font-Sala

Der Archäologe Ronald Hirte ist Referent


der Bildungsabteilung der Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Stefan Cohn, Herzliya, August 2015
Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau. Foto: Manuel Fabritz

78 / 79
Michael Urich, Bne Berak, Januar 2017
Foto: Samantha Font-Sala

Yossef Farkash, Netanya, November 2016


Foto: Manuel Fabritz
FRAGEN NACH / EUROPA

In Israel sprachen Ronald Hirte und Fritz von Die Leute verstehen zu selten, dass das hier immer noch RONA L D H I RT E
Klinggräff mit Menschen, deren weltumspan- eine Art Provisorium ist und dass wir nur eine gewisse Zeit F R I T Z VON K L I NG G R Ä F F
nende jüdische Herkünfte so vielstimmig sind,
wie die der Europäer erst in Jahrhunderten sein haben, um uns richtig zu organisieren.
Ronald Hirte, Jahrgang 1970, Histori
werden. Und doch wäre dies wohl die Hoffnung: (Abram Kimelman)

Israel, Fragen nach / Europa


Europa aus seiner furchtsamen, furchterregenden
Weltfremdheit zu befreien. Nicht mit Israel als Dass Europa sein kann. Mit dieser Vorstellung starteten
Archäologe, Mitarbeiter der Stiftung
stätten Buchenwald und Mittelbau-D
einem leuchtenden Vorbild; aber mit seinen öffentlichung u.a.: ›Offene Befunde. Z
unendlichen Anregungen für eine offene Zu- Ronald Hirte und Fritz von Klinggräff vor zehn Jahren liche Archäologie und Erinnerungskult
kunft. ein Rechercheprojekt, das hier mit dem dritten Band sein (Goslar 2000).
Ende findet. Es führte sie durch Frankreich (noch mit
Dass Europa sein kann. Mit dieser Vorstellung starteten Ronald Hirte
Man lebt im Diversen. Egal, wie man zu diesem
Hannah Röttele), durch Polen und nun: nach Israel – in
lange, wiederholte Begegnungen mit weit über hundert
Fritz von Klinggräff, Jahrgang 1959, is
Begriff steht – Diversität ist in Israel einfach
ISRAEL,

journalistischer Autor und Deutschl

und Fritz von Klinggräff vor zehn Jahren ein Rechercheprojekt, das nun
eine Grunderfahrung. Man hat im Alltag ständig
Unterschiede zu überbrücken, man ist perma-
nent am Übersetzen.
Menschen.
Zugleich führte dieser Weg durch einen Kontinent, der mit
Genf. In Weimar bei Buchenwald lebte
schen 2000 und 2010. Letzte Buchve
dem von Jorge Semprún nach 1945 beschworenen „euro- lichung: ›111 Orte in Genf, die man g
mit dem dritten Band sein Ende findet. Es führte sie durch Frankreich
(Yfaat Weiss)
päischen Geist“ heute nicht mehr viel zu tun haben will. haben muss‹ (mit Ambroise Tièche un
rina Hohmann, 2020).
Europa wendet sich in weiten Teilen ab von jenem Pro-

(noch mit Hannah Röttele), durch Polen und nun: nach Israel – in lange,
Die beiden Autoren haben Interviews geführt,
jekt, das es einst von Buchenwald her als rechtsstaatlich und
solidarisch erdachte. Ethnie und Nation finden heute mit
RONA L D H I RT E
F R I T Z VON K L I NG G R Ä F F

wie man sie – zu selten – auch in Zeitungen le- Von den beiden Autoren (gemeinsam
Gewalt ihren Weg in den europäischen Alltag zurück.
wiederholte Begegnungen mit weit über hundert Menschen.
sen kann. Aber sie haben den nötigen Abstand, Hannah Röttele) erschien 2011 in der
um die radikalen Veränderungen, die inzwischen Also kehrten Ronald Hirte und Fritz von Klinggräff Eu- Europa der Weimarer Verlagsgesellsch
geschahen, zu erkennen und deutlich zu machen. ropa von 2015 bis 2018 immer wieder den Rücken, um ›Von Buchenwald(,) nach Europa. Gesp
(Arno Widmann) Europa mit ehemaligen Buchenwald-H
es dort aufzusuchen, wohin es einst zu Hunderttausenden
in Frankreich‹. 2015 erschien Band II
auswanderte oder floh. Sie trafen Überlebende der Shoah
ISRAEL, len her. Europa denken. Gespräche über

Zugleich führte dieser Weg durch einen Kontinent, der mit dem von
aus den verschiedensten Regionen Europas, ihre Kinder und auf Reisen in Polen‹.
Kindeskinder, Freunde und Nachbarn aus anderen Regio-
nen der Welt. Und statt Zeitzeugenaussagen begegneten
FRAGEN NACH / EUROPA
Gespräche über einen fernen, nahen Kontinent
Jorge Semprún nach 1945 beschworenen „europäischen Geist“ heute ihnen offene Lebenserzählungen.

nicht mehr viel zu tun haben will. Europa wendet sich in weiten Teilen ab
von jenem Projekt, das es einst von Buchenwald her als rechtsstaatlich
weimarer
verlagsgesellschaft
€ 29,90 (D) / € 30,80 (A)

und solidarisch erdachte. Ethnie und Nation finden heute mit Gewalt ihren
Weg in den europäischen Alltag zurück. Also kehrten Ronald Hirte und
SU_Hirte/Klinggraeff_Israel, Fragen nach Europa_DRUCK.indd Alle Seiten

Fritz von Klinggräff Europa von 2015 bis 2018 immer wieder den Rücken, Ronald Hirte, Fritz von Klinggräff (2020):
Israel, Fragen nach / Europa. Gespräche
um es dort aufzusuchen, wohin es einst zu Hunderttausenden auswander- über einen fernen, nahen Kontinent,
te oder floh. Sie trafen Überlebende der Shoah aus den verschiedensten Weimar.

Regionen Europas, ihre Kinder und Kindeskinder, Freunde und Nachbarn


aus anderen Regionen der Welt. Und statt Zeitzeugenaussagen begegne-
ten ihnen offene Lebenserzählungen.
G ES C H I C H TS KU LT U R

Historikerstreit 2.0?
Zur Debatte um das Wechselverhältnis zwischen
Shoah- und Kolonialismus-Erinnerung
VON JENS-CHRISTIAN WAGNER

Seit einiger Zeit tobt in den deutschen Feuilletons und in den Social Media ein
erbitterter Streit um die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus
und ihrer Verortung in der deutschen Erinnerungskultur, insbesondere in Bezug auf die
Holocaust-Erinnerung bzw. die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen als der
geschichtspolitischen Richtschnur der Bundesrepublik. Zusätzlich angefacht wurde
die Diskussion, die bereits vor über zwanzig Jahren begann1, in den vergangenen zwei
1 Vgl. etwa Jürgen Zimmerer (2003): Jahren durch den Streit um israel-kritische Äußerungen des südafrikanischen Histori-
Holocaust und Kolonialismus. kers Achille Mbembe und die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)
Beitrag zu einer Archäologie des
genozidalen Gedankens, Zeitschrift samt dem Papier der „Initiative GG5.3 Weltoffenheit“ und der „Jerusalem Declaration“,
für Geschichtswissenschaft 51 die Debatten um die Entschädigung der Herero und Nama, die Black-lives-matter-
(2003), H. 12, S. 1098-1119, ders.
(2011): Von Windhuk nach Bewegung sowie die Diskussionen um das Humboldt-Forum in Berlin und das dort
Auschwitz? Beiträge zum präsentierte koloniale Erbe in Deutschland.
Verhältnis von Kolonialismus und
Holocaust, Münster, sowie Birthe
Kundrus (2006): Kontinuitäten, Manche bezeichnen die Debatte als neuen Historikerstreit. Der erste Historikerstreit
Parallelen, Rezeptionen.
Überlegungen zur „Kolonialisierung“ von 1987 war ein Rückzugsgefecht rechtskonservativer Historiker (Frauen waren
des Nationalsozialismus, in: kaum beteiligt) gegen die sich allmählich durchsetzende normative Stellung der Erinne-
WerkstattGeschichte 43 (2006),
S. 45-62. rung an die Shoah als demokratischem Grundkonsens der Bundesrepublik gewesen.
Anfang der 1990er Jahren war er in der Debatte um den Umgang mit dem Stalinismus
2 Bernd Faulenbach (2002):
Konkurrenz der Vergangenheiten?
und dem in der DDR begangenen Unrecht noch einmal aufgeflammt. Spätestens mit
Die Aufarbeitung des SED-Systems der Formel von Bernd Faulenbach („Die NS-Verbrechen dürfen nicht mit Hinweis auf
im Kontext der Debatte über die
jüngste deutsche Geschichte, in:
das Nachkriegsunrecht relativiert, dieses Unrecht jedoch nicht umgekehrt angesichts
Annegret Stephan (Hg.), 1945 der NS-Verbrechen bagatellisiert werden“2) hatte sich aber bald eine Sichtweise
bis 2000. Ansichten zur deutschen
Geschichte, Opladen, S. 17-32,
durchgesetzt, die die Dominanz der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
hier S. 25. als Staatsräson in der Berliner Republik anerkannte, ohne den Stalinismus und das
3 Michael Rothberg (2021):
DDR-Unrecht auszublenden.
Multidirektionale Erinnerung.
Holocaustgedenken im Zeitalter der
Dekolonisierung, Berlin. Seine
Nun scheint dieser Grundkonsens wieder infrage gestellt zu werden – allerdings von
Thesen ablehnend: Steffen Klävers links. Literaturwissenschaftler wie Michael Rothberg3 oder Historiker wie Jürgen
(2019): Decolonizing Auschwitz?
Komparativ-postkoloniale Ansätze
Zimmerer, die im März 2021 in der ZEIT einen Beitrag mit dem programmatischen Titel
in der Holocaustforschung, Berlin, „Enttabuisiert den Vergleich!“ veröffentlichten4, argumentieren, die Fixierung auf die
S. 133-177.
Shoah und ihre tatsächliche oder vermeintliche Singularität sei zu einem geschichtspoli-
4 Vgl. Michael Rothberg/Jürgen tischen und damit unwissenschaftlichen Glaubenssatz verkommen und verhindere eine
Zimmerer, „Enttabuisiert den
Vergleich!“, in: Die Zeit, Nr. 14/2021,
Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus. Zudem werde sie genutzt,
31.3.2021. um Kritik an israelischem Regierungshandeln als antisemitisch zu diskreditieren.

80 / 81
Und schließlich: Die Fixierung auf die Shoah und die Abwehr des Antisemitismus
trage, so formulierte es der australische Historiker A. Dirk Moses in einer im Mai 2021
veröffentlichten Streitschrift5, sakrale Züge, sie sei ein Katechismus, und ihre Protago-
nist:innen seien „Glaubenswächter“, ja sogar „Hohepriester“.

Moses‘ Polemik richtete sich vor allem gegen Publizisten wie etwa Thomas Schmid,
die harsche Kritik am ZEIT-Artikel von Rothberg und Zimmerer geübt hatten.6 Sie traf
aber auch Menschen (insbesondere auch aus den Gedenkstätten), die sich in den
1980er und 1990er Jahren mit viel Engagement und vielfach gegen heftigen Wider-
stand aus der Mehrheitsgesellschaft für das emanzipatorische Projekt einer kritischen
Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte eingesetzt hatten. Vor diesem Hintergrund
diskreditiert sich Moses‘ Angriff gegen die vermeintlichen „Hohepriester“ von selbst.7
Die von ihm und anderen aufgeworfene Frage jedoch, ob die Fixierung auf die Shoah,
also den Mord an den europäischen Juden, bzw. ob die Singularitätsthese den Blick
auf die Bandbreite der NS-Verbrechen verengt und/oder eine Auseinandersetzung mit
den Verbrechen des Kolonialismus verhindert, verdient ebenso eine kritische Betrach-
tung wie der Vorwurf, der „Katechismus“ diene als Totschlagargument gegen jede
Kritik am Staat Israel bzw. dessen Politik.

Post colonial vs.


Holocaust studies?

Mit ihrem universalistischen Geltungsanspruch verdecke die Shoah-Erzählung, so ihre


postkolonialen Kritiker:innen, historische und gegenwärtige koloniale Verbrechen und
genozidale Gewalt im globalen Süden. Ganz falsch ist das nicht. Tatsächlich ist die
Shoah in den vergangenen drei Jahrzehnten – teils mit affirmativer Stoßrichtung –
zur universalen Chiffre für das Thema Gesellschafts- und Regimeverbrechen geworden
und wird bisweilen der Auseinandersetzung mit ganz anderen Verbrechen übergestülpt
und damit historisch entkontextualisiert. Selbst Überlebendenverbände schließen sich
solchen Deutungen an. Im Mitteilungsblatt der französischen Fédération Nationale des
Déportés et Internés, Résistants et Patriotes (FNDIRP) etwa hieß es im Februar 2016
unter der Überschrift „Die universelle Botschaft von Auschwitz“, der Jahrestag der
Befreiung von Auschwitz am 27. Januar (der in Deutschland offizieller Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus ist) sei „auch der Erinnerung an die Opfer aller Geno-
zide und der Prävention gegen jegliche Verbrechen gegen die Menschheit gewidmet“.8
Deutsche Gedenkstättenpraktiker:innen sind denn auch überall auf der Welt gern
gesehene Expert:innen für die öffentliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen
Regime- und Gesellschaftsverbrechen. In Chile etwa wurden vor einigen Jahren bei 5 A. Dirk Moses (2021): Der
einer Regierungs-Ausschreibung für einen nationalen Koordinator der Arbeit von Katechismus der Deutschen, in:
geschichte-dergegenwart.ch,
Gedenkstätten, die an die Opfer der Pinochet-Diktatur erinnern, explizit Berufserfah- (https://geschichtedergegenwart.
rungen in der deutschen Gedenkstättenarbeit gefordert. ch/der-katechismus-der-
deutschen/, abgerufen am
5.12.2021).
Sicherlich ist es richtig, besser: für die Erkenntnisbildung sogar zwingend erforderlich,
6 Thomas Schmid, „Der Holocaust
Vergleiche zwischen verschiedenen Formen des Genozids und staatlicher bzw. gesell- war kein Kolonialverbrechen“,
schaftlicher Massengewalt anzustellen, allein schon, um falsche historische Analogie- in: Die Zeit, Nr. 15/2021, 7.4.2021.

bildungen zu vermeiden. Um den Völkermord in Ruanda, die Terrorherrschaft der Roten 7 Deutlicher Widerspruch zu Moses
Khmer in Kambodscha oder die Verbrechen der lateinamerikanischen Militärjuntas u. a. hier: Friedländer, Saul/Frei,
Nobert/Steinbacher, Sybille/Diner,
der 1970er Jahre zu analysieren bzw. in den jeweiligen Ländern innergesellschaftliche Dan (Hrsg.) (2022): Ein Verbrechen
Diskurse darüber anzuregen, braucht man jedoch nicht die didaktische Folie der soge- ohne Namen. Anmerkungen zum
neuen Streit über den Holocaust,
nannten Holocaust Education. München.

8 Le Patriote Résistant, Heft 905


(Februar 2016), Titelseite (Überset-
zung aus dem Französischen).
G ES C H I C H TS KU LT U R

Einerseits kann eine so verstandene Holocaust Education also in ahistorischer Univer-


salisierung, in einer Öffnung „teilweise bis ins Absurde“9 münden. Auf der anderen Seite
birgt sie, auch wenn es paradox klingt, die Gefahr der thematischen Engführung, indem
die Bandbreite der NS-Verfolgung aus dem Blick gerät. In der öffentlichen Wahrneh-
mung werden, verstärkt durch mediale Präsentationen, oft alle NS-Opfer unter der
Shoah subsumiert oder gar nicht mehr gesehen. So wird der 1996 von Bundespräsident
Herzog eingeführte Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in Medien und
Öffentlichkeit mittlerweile fast nur noch „Holocaust-Gedenktag“ genannt (international
heißt er offiziell so). Tatsächlich waren die Interdependenzen zur politischen und rassis-
tischen Verfolgung anderer Gruppen im Nationalsozialismus aber zu offenkundig, als
dass die Shoah isoliert betrachtet und historiographisch analysiert werden könnte.
Und zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gehört, dass
alle Opfergruppen gleichermaßen in den Blick genommen werden. Nicht zuletzt für die
Gedenkstätten ist das eine Grundvoraussetzung für eine differenzierte Bildungsarbeit,
die der Komplexität der Geschichte gerecht wird.

Sicherlich war die Shoah das monströseste Verbrechen der Nationalsozialisten, aber
wie der Krankenmord, die Zwangsarbeit, der Mord an Sinti:zze und Rom:nja und sowje-
tischen Kriegsgefangenen sowie die Verfolgung von Homosexuellen, „Asozialen“ und
politischen Gegnern und die mörderische deutsche Besatzungsherrschaft vor allem in
Polen und in der Sowjetunion entwickelte sie sich aus einer radikal rassistischen Gesell-
schaft, die zwischen Eigenen und Fremden sowie zwischen nützlichem und „unwertem“
Leben unterschied. Auf die enge Verbindung zwischen dem Krankenmord und der
Shoah (das Ersticken von Kranken in Gaskammern und Gaswagen in den Jahren
1940/41 war gewissermaßen der Probelauf für den fabrikmäßigen Massenmord an
Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern) hat etwa Ernst Klee bereits vor fast
40 Jahren hingewiesen.10 Aus dem Gesamtgefüge der Ideologie- und Gesellschaftsge-
schichte des Nationalsozialismus kann der Mord an den europäischen Juden daher
9 Elke Gryglewski (2016): nicht herausgelöst werden. Genau dies geschieht aber allzu oft im öffentlichen
Gedenkstättenarbeit zwischen Geschichtsdiskurs.
Universalisierung und Historisie-
rung, in: Aus Politik und Zeitge-
schichte 66, H. 3-4, S. 23-28, Analytisch ebenso zu kurz greift auf der anderen Seite die These (zumindest wenn sie
hier S. 26. Die Universalisierung
der Holocaust Education hingegen monokausal vorgebracht wird), die NS-Verbrechen und damit auch die Shoah ließen
positiv wertend Levy, Daniel/ sich als Teilgeschichte genozidaler kolonialer Gewalt erzählen, es führe gewissermaßen
Snaider, Natan (Hrsg.) (2001):
Erinnerung im globalen Zeitalter. ein direkter Weg vom ersten deutschen Genozid in „Deutsch-Südwestafrika“ nach
Der Holocaust, Frankfurt/Main. Auschwitz. Zwar trug die deutsche Besatzungsherrschaft im Osten deutliche koloniale
10 Vgl. Ernst Klee (1983): Euthanasie
Züge, etwa hinsichtlich der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch Zwangs-
im NS-Staat. Die Vernichtung arbeit oder auch angesichts der nationalsozialistischen Siedlungspläne. Deutlich wird
lebensunwerten Lebens, Frankfurt/
Main. Vgl. auch Henry Friedländer
das etwa beim „Generalplan Ost“, der die Versklavung, Umsiedlung und das Verhun-
(1995): The Origins of Nazi gernlassen von Millionen Menschen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und
Genocide. From Euthanasia to the
Final Solution, Capel Hill/London
zugleich die „Germanisierung“ und Ansiedlung deutscher „Wehrbauern“ vorsah. Solche
sowie Sara Berger (2013): Experten Pläne und die mörderische Praxis in den besetzten Gebieten waren zweifellos auch
der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-
Netzwerk in den Lagern Belzec,
durch das „koloniale Archiv“ bedingt, also das von den Kolonialmächten über Jahrhun-
Sobibor und Treblinka, Hamburg, derte gespeicherte Wissen über die Ausbeutung und Unterdrückung der als „minder-
sowie den aktuellen Sammelband
von Osterloh, Jörg/Schulte, Jan
wertig“ angesehenen Bevölkerung in den Kolonien. Doch hatte nur eine kleine Zahl von
Erik (Hrsg.) (2021): „Euthanasie“ NS-Funktionären und Germanisierungsplanern persönliche koloniale Erfahrungen. Über-
und Holocaust. Kontinuitäten,
Kausalitäten, Parallelitäten,
dies erklärt das koloniale Archiv nicht die neuartige rassistische Radikalität der Shoah.
Paderborn. Überhaupt wäre es falsch, den Mord an den europäischen Juden und Jüdinnen mono-
11 Vgl. hierzu kritisch: Birte Kundrus
kausal auf den Tabubruch des Genozids an den Herero und Nama zurückzuführen.11
(2005): Von den Herero zum Andere Faktoren, etwa die radikalisierende Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges und
Holocaust? Einige Bemerkungen
zur aktuellen Debatte, in: Mittelweg
die vergiftete politische Atmosphäre in der Weimarer Republik, insbesondere aber die
36, 14, S. 82-92. spezifische Herkunft und Radikalität des deutschen Antisemitismus und die Vision der

82 / 83
Nationalsozialisten von den deutschen „Herrenmenschen“ als den Beherrschern
Europas, werden durch monokausale Erklärungsversuche ausgeblendet.12

Gleichwohl bieten die vergleichenden Ansätze der Post Colonial Studies eine große
Chance, die Geschichte der NS-Verbrechen und damit auch der Shoah historisch
besser zu verstehen und sie nicht aus der Geschichte herauszureißen.13 Aber wider-
spricht das nicht der Singularitätsthese, also der Behauptung, die Shoah sei einzigartig,
weil sie die uneingeschränkte Vernichtung aller Juden und Jüdinnen allein um ihrer
Vernichtung willen zum Ziel gehabt habe? Als „Zivilisationsbruch“ in der deutschen
Geschichte, wie Dan Diner die Shoah als das Morden um des Mordens willen bezeich-
net hat14, sei der Mord an den europäischen Juden und Jüdinnen anders zu bewerten
als andere Genozide, die pragmatische oder begrenzte Ziele gehabt hätten.

Singularität der
Shoah?

Moralisch und geschichtspolitisch ist die Singularitätsthese durchaus nachvollziehbar:


ersteres wegen der Ungeheuerlichkeit der Shoah, die frühere und parallele Verbrechen
in Mitteleuropa sowohl hinsichtlich der mörderischen Praxis als auch bezüglich der 12 Vgl. Sybille Steinbacher (2015):
ideologischen Legitimation in den Schatten stellt (Auschwitz, Sobibor oder Treblinka Sonderweg, Kolonialismus,
Genozide: Der Holocaust im
waren historisch etwas grundlegend Neues), zweiteres angesichts der jahrzehntelangen Spannungsfeld von Kontinuitäten
notorischen Versuche aus dem rechtskonservativen Milieu, die Verbrechen des Natio- und Diskontinuitäten der deutschen
Geschichte, in: Bajohr, Frank/
nalsozialismus gegen die des Stalinismus aufzurechnen und deutsche Schuld bzw. Löw, Andrea (Hrsg.): Der
Verantwortung damit zu relativieren. Holocaust. Ergebnisse und neue
Fragen der Forschung, Frankfurt
a. M. , S. 83-101, hier S. 87 f. Vgl.
Die Rede von der Singularität der Shoah kann jedoch, wenn sie rein normativ verstan- auch – als Antwort auf die These
von A. Dirk Moses vom Paradigma
den wird, ideologisch derartig erstarren, dass sie Interdependenzen zwischen ver- „permanenter Sicherheit“ als dem
schiedenen Regime- und Gesellschaftsverbrechen verwischt – insbesondere aber den gemeinsamen Tatmotiv massen-
mörderischer Systeme (A. Dirk
Umstand, dass, wie bereits ausgeführt, die Ermordung der europäischen Juden und Moses (2021): The Problems of
Jüdinnen trotz ihrer Monstrosität nicht losgelöst von den anderen NS-Verbrechen Genocide. Permanent Security and
the Language of Transgression,
betrachtet werden kann. Ganz eng gesehen ist jedes historische Ereignis einzigartig; Cambridge) Michael Wildt (2021):
Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins (eine Feststellung, die eigentlich trivial ist Permanente Paranoia, in: Journal
of Modern European History 19
und deshalb auch schon heftig kritisiert wurde15). Wer historische Ereignisse verstehen (2021), S. 400-404.
möchte, muss sie aber in ihre Kontexte setzen und als historische Prozesse vergleichen –
13 Vgl. Steinbacher, Sonderweg,
nicht um sie gleichzusetzen, sondern um wissenschaftlich fundiert Parallelen und auch S. 92 f.
Unterschiede herausarbeiten zu können. Wenn sie im geschichtspolitischen Diskurs
14 Vgl. etwa Dan Diner (1988):
verwendet wird, ist die Rede von der Singularität daher weder überzeugend noch hilf- Zivilisationsbruch. Denken nach
reich, hebt sie doch den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden aus seinem Auschwitz. Frankfurt/Main.
Vgl. auch ders. (2012):
eigenen Kontext, nämlich der ganzen Bandbreite der NS-Verbrechen, heraus, ganz „Zivilisationsbruch“ – oder der
abgesehen von den längeren Entwicklungslinien. Statt von Singularität wäre es vermut- Verfall ontologischer Gewissheit,
in: Bielefeld, Ulrich/Bude, Heinz/
lich besser, von Präzedenzlosigkeit zu sprechen. Greiner, Bernd (Hrsg.): Gesellschaft –
Gewalt – Vertrauen: Jan Philipp
Reemtsma zum 60. Geburtstag,
Auf der anderen Seite war die ideologische Triebfeder der Shoah, der Antisemitismus, Hamburg, S. 458-470.
aber nicht einfach nur eine Spielart des Rassismus. Der Antisemitismus ist ein eigen-
15 Vgl. etwa Margalit, Avishai/
ständiges Phänomen, dem Rassismus verwandt, aber doch mit ganz eigenen ideologi- Motzkin, Gabriel (1997): Die
schen Aufladungen, die historisch weit hinter die Genese des modernen Rassismus Einzigartigkeit des Holocaust,
in: Deutsche Zeitschrift für
im 19. Jahrhundert zurückreichen. Wenn die Shoah präzedenzlos war, dann nicht nur Philosophie 45:1 (1997), S. 3-18.
wegen der Ungeheuerlichkeit der umfassenden Vernichtungspraxis, sondern auch,
16 Vgl. Saul Friedländer (2007):
weil es mit dem Antisemitismus eine andere ideologische Begründung gab als bei Erlösungsantisemitismus. Zur
früheren Genoziden – ein Antisemitismus, der als Erlösungsideologie im Nationalsozia- Ideologie der „Endlösung“, in ders.:
Den Holocaust beschreiben. Auf
lismus noch über den ohnehin schon radikalen deutschen Rassen-Antisemitismus dem Weg zu einer integrierten
des 19. Jahrhunderts hinausging.16 Geschichte, Göttingen, S. 28-53.
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Besetztes Instituto Nacional


de Derechos Humanos in Santiago de Chile,
Dezember 2021
Foto: J. Wagner

Wenn auf die Singularität der Shoah verwiesen wird, dann ist damit immer auch die
Forderung nach einer generellen Absage an jeden Antisemitismus verbunden. Und
genau hier ist die Stelle, an der die Shoah-Erinnerung mit dem berechtigten Anspruch
des globalen Südens auf Anerkennung seiner Geschichte kolonialer Ausbeutung kollidie-
ren kann: Den Opfern des einen Verbrechens (bzw. deren Nachkommen), den Jüdinnen
und Juden, wird vorgeworfen, selbst Täter:innen eines anderen Verbrechens zu sein,
indem Israel in Palästina als Kolonialmacht auftrete. Umgekehrt wird denjenigen, die die
israelische Siedlungspolitik kritisieren, oftmals Antisemitismus vorgeworfen, vor allem,
wenn dies aus postkolonialer oder „antiimperialistischer“ Perspektive erfolgt. Häufig
genug sind diese Vorwürfe berechtigt. Manchmal geht die „Kritik“ an Israel bis zur
Schuldumkehr: Vor dem von Studierenden besetzten Instituto Nacional de Derechos
Humanos (Nationales Institut für Menschenrechte) in Chile etwa prangte Ende 2021
ein Plakat, auf dem es hieß: „Von Kolumbien bis Palästina widerstehen wir Völker dem
Faschismus und dem kriminellen Zionismus.“ Das ist offener Antisemitismus im Gewand
des Antiimperialismus und wirft den Faschismus mit dem Zionismus in einen Topf.
Nun ist aber nicht jede Kritik an der israelischen Siedlungspolitik antisemitisch. „Erschei-
nungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei
als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten“, heißt es in der Antisemitismus-
Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2017, zu
der sich u. a. die Bundesrepublik bekannt hat. Und weiter heißt es dort: „Allerdings kann
Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch
betrachtet werden.“ Die Grenze einer legitimen Kritik wird jedoch dann überschritten,
wenn aus der Kritik am staatlichen Handeln Kritik am Staat an sich (im Sinne der Dele-
gitimation des Staates Israel) und an seinen Bürger:innen als Kollektiv wird. Es gibt also
israelbezogenen Antisemitismus, aber nicht jede gegen staatliches Handeln bzw. die
Regierung in Israel gerichtete Kritik ist antisemitisch. Eigentlich ist das eine Selbstver-
ständlichkeit, denn eine demokratische Regierung muss sich immer der Kritik stellen –
wie es in Israel selbst ja auch geschieht.

84 / 85
Zwei wichtige emanzipatorische
erinnerungskulturelle Projekte

Kontraproduktiv ist es daher, wenn der Vorwurf des Antisemitismus als pauschale Waffe
benutzt wird, um inhaltliche Kritik zu delegitimieren. Umgekehrt muss jeder explizite
oder auch nur implizite Versuch, die Shoah mit Verweis auf die Verbrechen des Kolonia-
lismus zu relativieren, zurückgewiesen werden. Es muss verhindert werden, dass, wie
im Fall Mbembe, zwei wichtige emanzipatorische erinnerungskulturelle Projekte gegen-
einander ausgespielt werden: die antirassistische Perspektive der Postcolonial Studies
auf der einen und die Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Antisemitismus auf
der anderen Seite. Hier einen Konkurrenzkampf auszufechten, stellt die reflexive
Erinnerungskultur als Grundkonsens der liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung
in der Bundesrepublik in Frage – und ist Wasser auf die Mühlen extrem rechter und
geschichtsrevisionistischer Politiker wie Björn Höcke, die schon länger eine erinne-
rungspolitische Wende um 180 Grad fordern und sich zugleich gegen die Kritik am
Kolonialismus stellen.

Die Anerkennung der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus darf mithin nicht zu
einer Konkurrenzsituation führen oder zur Verdrängung der einen Erinnerung durch die
andere. Dass das durchaus geht, zeigt die Bundestagsresolution von 2016 zum Genozid
an den Armeniern. Sie hatte nicht einmal ansatzweise die Relativierung des Holocaust
zur Folge. Prinzipiell gilt das auch für den Kolonialismus und die Shoah. Beide müssen
ihren Platz in der Erinnerungskultur haben – in globaler Perspektive wie auch mit Blick
auf die deutsche Gesellschaft, die längst durch Migration geprägt ist, was sich nicht
zuletzt auch am vielfältigen Publikum in den Gedenkstätten zeigt.

Der Kolonialismus und seine Folgewirkungen bis heute sind ein Verbrechen, dessen
Anerkennung nicht der Analogie mit der Shoah bedarf. Und es muss anerkannt werden,
dass für die Menschen aus dem globalen Süden der Kolonialismus eine Primärerfahrung
ist, die nicht durch eine universalistisch verstandene Holocaust Education überschrie-
ben werden kann. Es darf keine Master-Leiderzählung geben, der sich alle anderen
Leiderzählungen unterzuordnen haben. Ansonsten würden wir blind für die Vergangen-
heit – und für die Gegenwart. Vielmehr ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, das
jeweilig Spezifische der Shoah und des Kolonialismus – wie auch anderer Verbrechen –
17 Beispiele in: Bajohr, Frank/
herauszuarbeiten und es zugleich im historischen Längsschnitt zu kontextualisieren. O‘Sullivan, Rachel (2022):
So verstanden können die Postcolonial Studies der Holocaust-Forschung wertvolle An- Holocaust, Kolonialismus und
NS-Imperialismus. Forschung im
regungen geben17 – und umgekehrt, und das, ohne das eine gegen das andere Schatten einer polemischen
auszuspielen. Debatte, in: VfZ 79, H. 1, S. 191-202.

Jens-Christian Wagner
ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in
Medien und Öffentlichkeit an der FSU Jena.

Ob unsere Welt lebenswert sein wird oder nicht,


hängt in unserer Zeit allein von der Solidarität
zwischen den Menschen ab.
Boris Pahor
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
G ES C H I C H TS KU LT U R

Etwa 8 cm Durchmesser haben


die Spulen, umwickelt mit
Karbon-Stahldraht. Boder nahm
zweihundert Spulen mit nach
Europa – Speicherplatz für etwa
120 Stunden akustische Welt.
Spezialsammlung der Charles E.
Young Research Library an der
University of California Los Angeles
(UCLA), Foto: Axel Doßmann, 2018

„… am empirischen
Material abarbeiten.“
Ein Gespräch mit Axel Doßmann
über Audio-Interviews mit Überlebenden
aus dem Sommer 1946
Frage: David P. Boders Tonaufnahmen aus dem
Jahr 1946 bilden die weltweit erste Sammlung von
Audio-Interviews mit Überlebenden der national-
sozialistischen Ghettos und Lager. Was waren die
Beweggründe für sein Projekt?

Axel Doßmann: Für eine Antwort lohnt es, sich Boders


Biografie zu vergegenwärtigen: Der Sozialpsychologe
David P. Boder war in Lettland in eine jüdische Familie
geboren worden. Er hatte 1919, mit 33 Jahren, seine
russische Heimat verlassen. Nach Jahren in Mexiko
lebte er seit 1926 in den USA, spezialisierte sich dort
auf Sprachforschung. Sein Bruder starb im Ghetto Riga,
wie er erst später erfuhr.

86 / 87
Im Frühling 1945 wurde auch Boder mit den Bildern der
NS-Verbrechen konfrontiert, darunter Fotos aus dem
befreiten KZ Buchenwald. Dem Sprachforscher war sofort
klar: Diese schockierenden Filme und Fotos von anonymen
„Muselmännern“ und Leichenbergen sind zwar Beweise
für die Verbrechen der Nationalsozialisten – aber sie sind
stumm. Will man jedoch die Erfahrungen der Opfer be-
greifen, dann muss man die Überlebenden systematisch
befragen – und mehr noch: ihre Erzählungen und ihr
Erfahrungswissen akustisch aufzeichnen und bewahren.

„Es erscheint aus psychologischen und historischen Gründen


von größter Wichtigkeit, dass die Eindrücke, die bei den Opfern
in den Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie in den
Gebieten, die in den nächsten Tagen befreit werden, noch
lebendig sind, nicht nur direkt in ihrer eigenen Sprache,
sondern auch mit ihrer eigenen Stimme aufgezeichnet werden.“

David P. Boder, Memorandum vom 1. Mai 1945,


in: David Pablo Boder Papers, Box 1, Boder um 1953
Charles E. Young Research Library, Fot:o Robert Donohue, coll. Yair Aharanowitz
Department of Special Collections,
UCLA (Hier: Übersetzung aus dem Englischen).

Im Sommer 1946 nahm der Sprachpsychologe David P. Boder (1886–1961) für seine Feldforschung einen
Drahtton-Rekorder mit auf die Reise nach Europa. Er interviewte über 100 Displaced Person (DPs) in DP-Camps
und Waisenheimen, in Frankreich, Italien, der Schweiz und in der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands.
Er zeichnete auch Sologesänge, Chöre und religiöse Gedenkzeremonien auf. Die meisten seiner Interview-
partner:innen waren jüdisch. Zu hören sind überwiegend junge Stimmen, ein Drittel davon sind Frauen.
Er sprach mit Religiösen und Kommunist:innen, mit Zionist:innen und Nicht-Zionist:innen, mit Mennonit:innen
und Christ:innen. Viele der Interviewten kamen aus Mittel- und Osteuropa, andere aus Frankreich und
Griechenland. Die meisten hatten den deutschen Vernichtungskrieg in Ghettos und Lagern oder im Untergrund
überlebt. Nach ihrer Befreiung durch die Alliierten waren diese Heimatlosen auf der Suche nach einer Zukunft
und warteten auf Visa.

Diese einzigartig frühe Interviewsammlung hat das Illinois Institute of Technology


in Chicago seit 2009 online zugänglich gemacht: https://voices.library.iit.edu

Der Blog „Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute. Die Interviews von David P. Boder“
ist ein Forum, das seit 2021 diese lange vergessenen Schätze öffentlich befragt und neu reflektiert:
als ein frühes Deutungsangebot von Überlebenden: www.dp-boder-1946.uni-jena.de.
Der Blog entstand als Gemeinschaftsprojekt des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und
Öffentlichkeit an der Universität Jena, der Gedenkstätte Buchenwald und der Bundeszentrale
für Politische Bildung.
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Boder wollte den Worten der DPs Gehör schenken, Frage: Wonach fragte Boder konkret?
solange ihr Gedächtnis noch „frisch“ ist. Mit Hilfe des
Drahtton-Recorders sollte jede interpretative Verände- AD: Er fragte lebensgeschichtlich, mit starkem Fokus
rung des Wortlauts vermieden werden – anders als auf die Kriegszeit. Er verstand seine Interviews mit Rück-
bei den oft stark bearbeiteten, schriftlichen Protokoll- griff auf den Psychologen Gordon Allport als „themati-
Berichten der Jüdischen Historischen Kommissionen. sche Autobiographien“. Die DPs sollten davon erzählen,
Es war Boders dokumentarischer und ethischer was ihnen seit dem Einmarsch der Deutschen in ihre
Anspruch, dass die DPs nicht allein in ihrer eigenen Heimatländer widerfahren war. Boder wollte chronolo-
Sprache, sondern auch mit ihrer eigenen Stimme die gisch dokumentieren, wie militärischer Überfall und
Chance erhalten, das persönlich Erlittene und Erlebte Besatzungsherrschaft, wie Zwangsarbeit, Deportationen,
zu erzählen. Boder beherrschte viele Sprachen sehr Ghetto und Lager, wie Hunger und Ungewissheit, wie
gut: Jiddisch, Russisch, baltische Sprachen, Deutsch, Trennung und Verlust von Angehörigen, wie psychische
Spanisch und Ladino1 sowie Englisch. und physische Gewalt, wie Widerstand, gegenseitige
Hilfe und Solidarität im Deutschen Reich und im besetz-
Frage: Wow, das ist beeindruckend, ten Europa erlebt, erlitten, verarbeitet worden sind.
ein großer Vorteil für die Interviewführung. Auch Rache und Sexualität sprach Boder an, er wollte
mehr über die Rolle von Kapos und Judenräten hören.
AD: Ja, man wird neidisch. Allerdings verstand er
Polnisch und Französisch nur schlecht. Darum brachte Frage: Wie ging der Psychologe in den
er einige DPs aus Polen, Frankreich und anderen Ländern Interviewsituationen vor?
dazu, mit ihm deutsch oder jiddisch zu reden. Und da
Boder die Amerikaner als erste potentielle Hörerschaft AD: Um Details besser verstehen, fragte er oft nach.
imaginierte, lud er auch zum Gespräch in Englisch ein, Er forderte chronologisches Erzählen ein. Sein Vor-
eine Fremdsprache für alle, die er interviewt hatte. gehen irritiert uns heute, doch Boder war halt kein Oral
Darunter litt die Qualität der Gespräche. Doch auch die Historian. Als Psychologe begab er sich selbst in Lern-
auf unserem Blog veröffentlichte Forschung gewinnt prozesse, modifizierte seine Konzepte. Er wollte von den
daraus wichtige Einsichten: In Fremdsprachen stellen sich DPs keine langen historischen Abrisse oder allgemeinen
Menschen anders dar, manche ändern ihre Botschaft politischen Einschätzungen hören, sondern beharrte auf
auch mit dem Wechsel der Sprachen und den jeweils detaillierter Augen- und Ohrenzeugenschaft. Im Ver-
vorgestellten Zuhörer:innen. lauf seiner Feldforschung ermunterte er öfter zu exemp-
larischen Episoden und erhielt besonders eindrückliche
Schilderungen.

Frage: Was hat David P. Boder über das


Dokumentieren hinaus wissenschaftlich
interessiert?

AD: Die Interviews sollten eine solide empirische Grund-


lage bilden für universell angelegte, psychologische und
anthropologische Studien. Zu solchen Studien kam
Boder selbst nur in ersten Ansätzen, zu sehr war der
herzkranke Mann bis in sein 71. Lebensjahr mit den
Übersetzungen beschäftigt. Gleichwohl ist, was ihm
analytisch gelang, bisher noch zu wenig gewürdigt
worden. Als Sozialpsychologe hoffte er, in der Wortwahl
und in den Erzählweisen der DPs Spuren eines Prozesses
zu identifizieren, den er Dekulturation nannte. Dekultur-
ation war für Boder das „schrittweise Zurechtstutzen
eines menschlichen Wesens“ unter der nationalsozialisti-
schen Terrorherrschaft, bis zur Preisgabe aller bisherigen
Einer der letzten originalen „magnetic wire recorder, Model 50“.
Das schwere Gerät ist heute Exponat im Jüdischen Museum Berlin, Werte und Moralvorstellungen. Besonders extreme Situ-
eine Leihgabe aus Chicago. ationen charakterisierte er als traumatisch.
Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology, Chicago,
Foto: Axel Doßmann, 2018

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Frage: Hatte er auch politische Anliegen?

AD: Ja, 1947 machte Boder öffentlich deutlich, dass er


auch gesellschaftspolitische Ziele verfolgte. Die Erzäh-
lungen der „Displaced People of Europe“ sollten vor allem
in den USA ein empathisches Verständnis fördern für
diese entwurzelten Menschen. Boder hegte die Hoff-
nung, über die Konfrontation mit den Interviews Einfluss
auf die strikte, ausgrenzende Einwanderungspolitik der
USA zu erlangen. Er betonte, dass diese „entwurzelten
Menschen“ nicht der „Abschaum der Welt“ sind, dass sie
auf solidarische Hilfe angewiesen sind.

Frage: Was macht es mit einem Historiker, wenn er


mit diesen frühen Interviews konfrontiert wird?

AD: Meinen Student:innen in Jena ging es ähnlich wie


mir, als ich die Interviews 2010 bei der wissenschaftlichen
Beratung der Hörinstallation „Kinder in Buchenwald“ der
Gedenkstätte entdeckte. Es war, mit Lutz Niethammer
gesprochen, ein Enttypisierungsschock. Das wiederholte
Hören von Boders Gesprächen verdeutlichte das eigene
konventionelle Denken über „Holocaust-Interviews“.

Wir haben doch medial gelernt, dass man Zeitzeugen


vor allem zuzuhören habe, in Demut, Ehrfurcht und
Dankbarkeit. Boder sah in den DPs aber gar keine
„Zeitzeugen“. Diese moralisch überladene Figur des
„Zeitzeugen“ entwickelte sich erst seit den späten 1970er
Bereits 1949 gab Boder acht der ins Amerikanische übersetzten
Interviews bei University of Illinois Press heraus – sie wurde von Jahren mit dem „Memory Boom“ und der Videographie.
Zeitgenossen in den USA als außergewöhnliche Edition und Heraus- Boder suchte 1946 die DP-Camps auf, um Menschen
forderung gelobt. Boder betonte mit dem Buchtitel „Die Toten habe
ich nicht befragt“ die fehlenden Perspektiven derjenigen, die umge- in konkreter Notlage die Chance zu geben, über ihre
bracht worden sind. Es ist ein millionenfacher Verlust, den die individuellen Erfahrungen als „Kriegsleidende“ („war
Stimmen und Worte der Überlebenden zwar oft bezeugen, damit
aber nicht ersetzen können. sufferers“) zu berichten. Sie waren fast immer jünger
Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology, Chicago, als der 59-jährige Professor aus Chicago. Er war mit
Foto: Axel Doßmann, 2018
ihnen meist auf respektvoller Augenhöhe. Er agierte
zugewandt, aber auch fordernd, keineswegs demütig
Bis Mitte der 1950er Jahre hat er ein „Traumatic Inven- oder schüchtern. Seine ungehemmte Neugierde mag
tory“ erarbeitet, das mich sehr beeindruckt. Es ist ein heute tolldreist erscheinen, junge Frauen überforderten
Inventar bzw. Verzeichnis, das auf der Inhaltsanalyse der ihn öfter, nicht immer hörte er gut zu, manches
Transkriptionen von 70 seiner Interviews mit DPs beruht. Gespräch verlief spannungsvoll. Er zeigte sich offen
Boder ordnete auf zunächst 18 Seiten systematisch alle ergriffen vom Gehörten. Wenn er aber Zweifel hatte,
von den DPs benannten sozial-psychischen und physi- scheute er sich nicht, Berichte als unglaubwürdig zu
schen Stress-Situationen, denen sie bis zur Befreiung hinterfragen. In den Antworten erfahren wir oft Neues
ausgesetzt waren. Dann kommentierte er das nochmal über das, was in NS-Lagern zum Alltag gehörte. Oder
auf erhellende Weise. Seine konzise Durchdringung des die Antwort der DPs konkretisiert die Binse, dass auch
Erzählten stellt vielleicht den ersten Versuch überhaupt DPs politische Interessen verfolgten, sie heikle Aspekte
dar, aus den wörtlichen Schilderungen von Überleben- vermieden oder Konflikte einseitig darstellten.
den eine systematische, hochdifferenzierte Vorstellung
von der erlittenen Gewalt zu gewinnen. Ein extremes
Leid, das für die meisten mit dem Tod endete – die
Millionen Opfer, die er 1946 nicht befragen konnte, wie 1 Sprache der sephardischen Juden
Boder betonte. des Osmanischen Reiches.
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Boder verteilte die Interviewüber-


setzungen auch als Micro-Cards
an Bibliotheken, lesbar an speziel-
len Vergrößerungsgeräten. Doch
die akustischen Aufzeichnungen
blieben fast 50 Jahre lang
verstummt. Erst ab Mitte der
1990er Jahre gelang es der Sound
Division der Library of Congress,
die Drahtspulen von 1946 wieder
hörbar zu machen. Es fehlten
geeignete Abspielgeräte für dieses
alte Speicherformat, doch vor
allem mangelte es an historischer
Neugierde für die frühen
Zeugnisse der Shoah.
Spezialsammlung der
Charles E. Young Research Library
an der University of California Los
Angeles (UCLA),
Foto: Axel Doßmann, 2018

Frage: Was lässt sich an Boders Interviews spürten Hass in sich, forderten Rache. Wieder andere
besonders gut erkennen oder verstehen? wirken depressiv. Den DPs von 1946 zuzuhören, macht
klar: Diese deutschen Verbrechen werden nie wieder
AD: Dass es sich lohnt, wenn wir uns für die selbstkriti- gut zu machen sein.
sche Historisierung von Zeugenschaft künftig noch
stärker und vergleichend am empirischen Material ab- Frage: Das Chicagoer Archiv „Voices of Holocaust“
arbeiten, noch genauer hinhören und hinsehen lernen, stellte die Interviews seit 2009 online. Sie haben
am besten in kleinen Gruppen. Das erst ist konkrete sie mit vielen Kolleg:innen unterschiedlicher
Würdigung der wertvollen, mehr oder weniger im Dialog Profession gemeinsam gehört und beforscht.
erzeugten Worte, Erzählungen und Gesten. Seit mehr Was konnte dieser interdisziplinäre Ansatz
als 30 Jahren erleben wir die Zeug:innen der Lager meist zu Tage fördern?
nur noch als videografierte oder gefilmte „talking heads“:
oft in hohem Alter, im Rückblick auf das Leben, in der AD: Die ersten Ergebnisse präsentieren wir auf unserem
öffentlichen Rolle von „Zeitzeugen“ mit starker pädago- Blog „Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute.
gischer Botschaft, freundlich-sanft, mitunter auch Die Interviews von David P. Boder“: Es ist aufschluss-
abgeklärt und routiniert. reich, wenn eine Literaturwissenschaftlerin und eine Oral
Historian die Konventionen kritisch reflektieren, die eine
Im Unterschied zu den sogenannten letzten Zeugen Interviewführung prägen, von 1946 bis heute. Welche
heute, hatten fast alle Interviewpartner:innen 1946 den Folgen hat es für unser Hören und die Analyse, wenn
größeren Teil ihres Lebens noch vor sich. Ihre Zukunft immer wieder „Authentisches“ erwartet wird? Ich habe
indes war noch ganz ungewiss. Sie sollten nicht am als Historiker u. a. von Soziolog:innen und Literaturwissen-
Lebensabend bewusst „Zeugnis ablegen“ oder sich als schaftler:innen gelernt, wie sich mit einer Untersuchung
hologrammatische Antwort-Automaten verewigen lassen, zur Diskursfigur des Muselmanns anhand von Boders
damit auch noch in 100 Jahren pädagogische „Zeitzeu- Interviews die soziale Ordnung und die sozialen Dynami-
gen-Gespräche“ simuliert werden können. Die große ken innerhalb der Lagergesellschaften besser verstehen
Mehrheit der DPs war 1946 ohnehin noch nie interviewt lassen. Eine Historikerin hat anhand eines Interviews mit
worden. Viele waren Waisen. Die Trauer, das Ungebor- einem Buchenwald-Überlebenden die Deutungshoheit
gensein, die Verzweiflung ist deutlich hörbar, andere der männlichen Überlebendenkollektive auf die Wahr-

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nehmung von Sex-Zwangsarbeit rekonstruiert.
Das populäre Gerede über „KZ-Bordelle“ nahm
auch in Boders Interviews seinen Anfang. Andere
Wissenschaftler:innen zeigen, wie neue Fragen
an diese frühe Dokumentation unser Wissen
bereichern: etwa durch eine konstruktive Kritik
von fehlerhaften Transkripten oder durch eine
Reflexion auf Erkenntnischancen beim tagelangen
Rewind & Play-Hören und Sich-Vertiefen in ein
Interview für eine Neu-Transkription.

Es bleibt also noch sehr viel zu tun: Auch Boders


Interviews mit überwiegend sehr jungen DPs, die
das KZ Buchenwald überlebt hatten, lohnen die
weitere Analyse ebenso wie etwa seine Gesangs-
aufnahmen. Forschung und Bildung sollten dabei
dicht verzahnt werden, wir laden alle Interessier-
ten dazu ein. Die Historikerin Lisa Schank und
ich haben im Sommer 2021 auf dem Twitterkanal
unseres Blogs (@DP_Boder_1946) David P. Boders
Interview-Expedition durch Europa über drei Monate
nachvollziehbar gemacht, 75 Jahre danach. Auch das
kann ein guter Einstieg sein in diese wertvolle Sammlung.

Der Historiker und Publizist Axel Doßmann entwickelte seit 2014 am Lehrstuhl
für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit der Friedrich-Schiller-Universität Jena
das Forschungs- und Bildungsportal zu den Interviews von David P. Boder.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.


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Photoshopping
History
Ein Gespräch mit
dem Grafik-Designer
Jean-Sien Kin
über ein Lächeln,
das es nie gab

Tweet von John Vink, 10.4.2021

Frage: Wie sind Sie auf die digital manipulierten Über das Kontaktformular seiner Website schickte ich
Fotos von Matt Loughrey gestoßen? Loughrey eine E-Mail, um ihm mein Unbehagen über die
Kolorierung der Photografien aus S-21 mitzuteilen. Ich
Jean-Sien Kin: Am Morgen des 9. April 2021 erhielt argumentierte, dass diese Porträts, bei denen es sich
ich eine Nachricht von einem engen Freund von mir, um historische und juristische Beweise handelt, vielleicht
Jean-Baptiste Phou. Er fragte mich nach meiner nicht koloriert werden sollten, da dies eine subjektive
Meinung zu einem gerade veröffentlichten Artikel auf Deutung über sie lege, die in den Originaldokumenten
der Website des Magazins VICE. Es handelte sich um nie vorhanden war. Ich fügte hinzu, dass diese Schwarz-
ein Interview mit Matt Loughrey, einem irischen Foto- Weiß-Fotos aussagekräftig genug seien, um nicht in
künstler, über eine seiner jüngsten Arbeiten, die aus einer Farbe „aufgewertet“ werden zu müssen.
Reihe kolorierter Fotos von meist nicht identifizierten
Porträts von S-21-Gefängnisopfern bestand. Einige von Frage: Wie reagierte Matt Loughrey auf die
ihnen lächelten auf seltsame Weise. Die frischen und Vorwürfe, er würde mit seinen Manipulationen
lebhaften Farbtöne, die Loughrey bei der Kolorisierung die Würde der Opfer beschädigen?
verwendete, bereiteten mir Unbehagen. Ich konnte nicht
umhin, mich zu fragen, auf welcher Grundlage er die JSK: Er leugnete jedes Problem, indem er behauptete,
Farben ausgewählt hatte. Auch Jean-Baptiste meinte, sein Kolorierungsprojekt sei „ein staatlich geförderter
sie sähen sehr hell aus, sie wirkten „verwestlicht“. Auftrag, abgestimmt mit den heutigen Verwandten
Das empfand ich auch so. Am Ende des Artikels waren und mit ihrer ausdrücklichen Genehmigung“. Zudem
zwei Links, einer zu Loughreys Instagram-Account und sei ein Drittel der Originalnegative ohnehin 6 x 6 Farb-
ein weiterer zu seiner Website, auf der er für sein Fujichromes gewesen, was meine Zweifel an der Recht-
Geschäftsmodel als Kolorist alter Aufnahmen wirbt. mäßigkeit der Kolorierung irrelevant mache.

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Montage der ursprünglichen, erkennungsdienstlichen Aufnahme aus S-21, einem Gefängnis der Roten Khmer in Phnom Penh,
mit dem von Matt Loughrey kolorierten und manipulierten Bild. Foto: Tuol Sleng Genocide Museum

Eine Reihe der in dem Artikel gezeigten kolorierten Fotos ausgiebig geteilt, er tauchte den ganzen Tag lang in
war jedoch mit Worten wie „Ein unbekanntes Mädchen“, meinem Facebook-Feed auf. Viele meiner Kontakte
„Eine unbekannte Frau lächelt“, „Eine Blutspur hinter lobten die kolorierten Fotos und waren von ihnen bewegt.
einem unbekannten Häftling“ oder „Eine unbekannte Frau Einige erklärten, sie hätten das Gefühl, dass die Gefange-
zeigt Verletzungsspuren“ beschriftet, so dass es sehr nen plötzlich lebendig, real und präsent seien – was mich
unwahrscheinlich schien, dass die Erlaubnis der Angehö- ehrlich gesagt sehr deprimiert hat. Hat es die Wahrheit
rigen eingeholt worden war. In 2019 hatte ich mit dem wirklich nötig, sich in ein buntes Gewand zu hüllen, um
derzeitigen Direktor des Tuol Sleng Genocide Museum, in den Augen der Öffentlichkeit zu existieren? Am Ende
Herrn Hang Nisay, zusammengearbeitet, um den Katalog habe ich mich gefragt, ob alles, was nicht zeitgemäß
zum 40-jährigen Jubiläum der Gründung des Museums aussieht, dann unwirklich wirkt? Würde die Vergangen-
zu gestalten. Ich fragte ihn nach dem „staatlich geför- heit manchen von uns nicht real erscheinen, wenn sie nur
derten Auftrag“ von Loughreys Kolorierungsprojekt. Er in Schwarz und Weiß dargestellt würde? Ich hoffte
antwortete, dass es einen solchen Auftrag nie gegeben inständig, dass dies nicht der Fall war und dass ich nur
hat. Später erhielt ich auch die Bestätigung, dass es nie negativ eingestellt war. Für die positiven Reaktionen auf
Farbnegative von den Photos der Gefangenen gab. die kolorierten Fotos könnte es jedoch eine konstruktive-
re Erklärung geben: Vielleicht haben wir eine natürliche
Frage: Und wie hat die kambodschanische Neigung, uns an die Toten lebendig und schön zu erin-
Öffentlichkeit auf diese Kolorierungen reagiert? nern. Wenn wir den Fotos leuchtende Farben hinzufügen,
könnte das ein Weg sein, um zu zeigen, dass sie uns am
JSK: Zunächst gab es gemischte und emotionale Reak- Herzen liegen, genauso wie wir die Leichen vor der
tionen auf die neun kolorierten Porträts der S-21-Opfer. Beerdigung vorbereiten: Wir kleiden die Leichen in ihre
Der VICE-Artikel wurde in Kambodscha auf Facebook schönsten Kleider, schminken ihre Gesichter und arran-
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gieren ihre Haare. Es könnte eine Art sein, die Ver- Fehler ein. Die Autorin des Artikels war in der Tat eine
schwundenen in Ehren zu halten. In dieser Hinsicht Praktikantin, die bei diesem Thema, bei dem es um
wären die positiven Reaktionen sehr verständlich. Völkermord geht, offensichtlich allein gelassen wurde.
Auch auf offizieller Ebene gab es eine Reaktion: Das
Frage: Aber die Entdeckung, dass auch die kambodschanische Ministerium für Kultur und Bildende
Gesichtsausdrücke der S-21-Opfer manipuliert Künste, dem das Tuol Sleng Genocide Museum unter-
wurden, hat diese Wahrnehmung verändert, steht, verurteilte die Manipulationen und forderte die
nicht wahr? Entfernung der Bilder.

JSK: Das ist richtig, das war wirklich der Wendepunkt. Die Geschichte wurde daraufhin international verbreitet,
Die Manipulation kam heraus, nachdem ich die Idee und das VICE Magazine sah sich gezwungen, sich in
hatte, in der Datenbank der Website des Tuol Sleng der darauffolgenden Woche offiziell bei den Opfern zu
Genocide Museum, die erst zwei Monate zuvor freige- entschuldigen, nachdem es zunächst die emotionale
schaltet worden war, nach den originalen Schwarz-Weiß- Belastung und die entstandenen Verletzungen in den
Fotos zu suchen. Was mich insbesondere antrieb, war kambodschanischen Gemeinschaften ignoriert hatte.
meine Skepsis gegenüber der Kolorierung des Fotos VICE setzte sich mit einer ad hoc Petitions-Gruppe in
eines Mädchens im Teenageralter mit der Nummer 253, Verbindung, an der ich beteiligt war, um die allgemeine
das als Titelbild für den Artikel diente. Sie hatte braunes Wut zu besänftigen. Der Vertreter von VICE versprach,
Haar und blaue Augen, als ob sie ein Mischling wäre. Ihre in Zusammenarbeit mit Mitgliedern der kambodschani-
Haut leuchtete wie bei einer Hollywood-Schauspielerin. schen Gemeinschaft solide und historisch begründete
Als ich das originale Schwarzweißfoto fand, gab es für Berichte über die Weitergabe der Erinnerung zu ver-
mich keinen Zweifel mehr: Das Mädchen sah offensicht- öffentlichen. Heute müssen wir konstatieren, dass diesem
lich kambodschanisch aus, hatte einen matten Hautton, Versprechen keine Taten gefolgt sind.
wahrscheinlich schwarze Haare und schwarze Augen.
Als ich das herausgefunden hatte, suchte ich weiter Frage: Menschen berichteten, dass diese Geschich-
nach den restlichen Fotos und war schockiert über te ein psychologisches Trauma in ihrer Familie
das nächste: das Foto eines jungen kambodschanischen wachgerufen hat. Wie präsent ist die Erinnerung
Mannes mit der Nummer 3 auf der Brust. Sein über- in der kambodschanischen Gemeinschaft heute?
raschend strahlendes Lächeln in der kolorierten Version
seines Fotos war in Wirklichkeit ein Ausdruck von Angst JSK: In asiatischen Gemeinschaften und Kulturen wer-
(wie ich es sehe) in der ursprünglichen Schwarz-Weiß- den Fragen der psychischen Gesundheit oft herunter-
Fotografie ... Loughrey hatte das Foto nicht nur verän- gespielt. Die Generation, die unter dem Regime der
dert, sondern absichtlich gefälscht. Das hat mich sehr Roten Khmer lebte, ist bestrebt, die Vergangenheit
erschüttert, es hat mein Herz in Stücke gebrochen. zu vergessen, ja sogar zu ignorieren, um besser in die
Zukunft blicken zu können. Ich denke, der Grund, warum
Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, fand ich die meisten jungen Kambodschaner:innen wenig über
heraus, dass er dasselbe mit drei anderen Opfern getan die Roten Khmer wissen, ist: weil ihre Eltern nicht oder
hatte. Daraufhin stellte ich die kolorierten Fotos neben nur indirekt darüber sprechen. Man könnte fast meinen,
den Originalen ins Internet. Ein bekannter Magnum- dass die Erinnerung aus dem Alltag der Kambodscha-
Fotograf, John Vink, teilte sie auf Twitter, und das wirkte ner:innen fast verschwunden ist, dass Organisationen
wie eine Bombe auf die allgemeine Meinung. Sie änderte wie das Tuol Sleng Genocide Museum die allerletzten
sich sofort. Einige von uns, die anfangs die kolorierten Verbindungen in die Vergangenheit sind.
Bilder begrüßt hatten, fühlten sich nun hintergangen,
betrogen. Durch die Veränderungen war die Geschichte In dem Artikel gab Loughrey vor, von den Familien der
der Opfer negiert worden. Die düsteren Gesichtsaus- Opfer beauftragt worden zu sein und nannte als Beispiel
drücke der Opfer verwandelten sich in ein Lächeln, als den Sohn eines Bauern, der angeblich Bora hieß. Später
ob ihr bevorstehender Tod eine heitere Geschichte wäre. erfuhren wir von seiner echten Familie, die in den USA im
Ihre Würde wurde verletzt und ihr Schicksal verharmlost. Exil lebt, dass sein Name nicht Bora, sondern Khva Leang
war. Er war kein Bauer, sondern ein Lehrer und früher
Die Grenzen erlaubter Veränderungen waren weit idealistischer Partisan der Roten Khmer, bevor er in S-21
überschritten, und die Verurteilung war einhellig. VICE inhaftiert wurde. Die Familie von Khva Leang war beim
entfernte den Artikel 48 Stunden nach seiner Veröffent- Lesen des Artikels schwer erschüttert. Die falschen
lichung, räumte jedoch zunächst nur einen redaktionellen Angaben im Artikel hatten sie für kurze Zeit annehmen

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lassen, dass es doch noch ihnen bisher nicht bekannte JSK: Sie haben recht, streng genommen handelt es sich
Familienmitglieder in Kambodscha geben könnte. Das in den meisten Fällen um Kopien und Reproduktionen.
stellte sich dann als unwahr heraus. Die Tatsache, dass Es liegt in der Natur der Sache, dass sie bereits ein
Loughrey dazu übergegangen war, die Mimik zu verän- gewisses Maß an menschlicher Intervention enthalten,
dern und unwahre Geschichten zu erfinden, hat in der aber der Grad der Intervention ist dennoch wichtig.
Tat die Erinnerung an die Opfer wachgerufen, von der Wir leben heute in einer hypervisuellen Ära, in der wir
viele von uns dachten, dass sie tief verborgen oder auch täglich mit Hunderten von Bildern konfrontiert werden,
verschwunden ist. Einerseits ist es bedauerlich, Schmerz die so dicht sind, dass sich unser Gehirn unbewusst
und Trauma wieder aufblitzen zu sehen, andererseits anpassen muss, indem es sie alle homogenisiert. Das ist
beweist es, dass sie auch heute noch sehr präsent sind. jedoch eine große Gefahr, denn nicht alle Bilder haben
Trotz der Tatsache, dass die Erinnerung in vielen Familien den gleichen Stellenwert. So werden zum Beispiel Fotos
schweigt, ist sie nicht tot. Mit viel Arbeit und Hoffnung von wahren Ereignissen mit gefälschten Bildern ver-
lässt sich das Leid der Vergangenheit vielleicht in Frieden mischt – dahinter stecken manchmal gefährliche Absich-
und Widerstandsfähigkeit verwandeln. ten, um unseren Verstand zu beeinflussen. Auch wenn
es sich um einen großen Kampf handelt, können wir es
Frage: Matt Loughrey veränderte ja auch Fotos uns nicht leisten, ihn zu verlieren.
aus Auschwitz. Wie hat die dortige Gedenkstätte
reagiert? Wenn die überwiegende Mehrheit der Fotos heute retu-
schiert und/oder gefälscht ist, dann glaube ich, dass
JSK: Um genau zu sein, fand ich am Tag nach der wir eine noch größere Verantwortung haben, die echten
Veröffentlichung des VICE-Artikels ein animiertes Foto- Fotos zu schützen. Wenn wir ein echtes historisches
porträt von Czesława Kwoka, einer 14-jährigen Gefange- Foto für ein Projekt oder eine Präsentation verwenden,
nen des Konzentrationslagers Auschwitz, auf Loughreys sollten wir ethisch und vielleicht sogar rechtlich verpflich-
Facebook- und Instagram-Feed. Er ließ die Augen des tet sein, einen genauen Verweis auf das Original anzuge-
jungen Opfers digital blinzeln und fügte dem Bild eine ben. Diese Idee entlehne ich dem Verhaltenskodex für
Verwacklung hinzu, die den Effekt einer mit einer Hand- Koloristen, der auf Initiative von Jordan J. Lloyd – selbst
kamera aufgenommenen Aufnahme imitierte. Für mich ein professioneller Kolorist – erarbeitet wurde, nachdem
war dies erschreckend und wirkte morbide, weil er im das Agieren von Loughrey Konsequenzen nach sich
Grunde das Foto eines Opfers als computergesteuerte gezogen hatten. Es ist leider unmöglich, den Missbrauch
Marionette in einem empörenden Versuch benutzte, für oder die Instrumentalisierung eines Bildes von vornherein
die Technologie zu werben, die er als bezahlten Dienst zu verhindern, vor allem jetzt, wo uns so viele Technolo-
anbietet. Ich finde keine Worte, um auszudrücken, wie gien zur Verfügung stehen, die Manipulationen einfacher
betroffen und entsetzt ich war. Ich habe mich sofort als je zuvor machen. Das bedeutet aber nicht, dass wir
per E-Mail an die Gedenkstätte Auschwitz gewandt. es geschehen lassen müssen. Wir müssen unser Bestes
Ich bin sehr dankbar, dass sie die Haltung des Tuol Sleng tun, um die Täuschungen und Manipulationen von Bildern
Genocide Museums voll und ganz unterstützte. Und ich aufzudecken und keine Angst haben, wenn dies zu
war erleichtert, als ich erfuhr, dass es dem Team der Debatten führt. Jede Debatte ist fruchtbar, da sie dazu
Gedenkstätte gelang, das animierte Foto von Czesława beiträgt, die ethischen, moralischen und politischen
Kwoka eine Woche später von Loughreys Instagram- Implikationen manipulierter Dokumente zu klären und
Account zu entfernen. Es ist von großer Bedeutung, sich zu identifizieren.
in solchen Situationen gegenseitig zu helfen. Und es ist
schön zu sehen, dass es keine nationalen Grenzen gibt, Frage: Für uns in den deutschen Gedenkstätten
wenn es darum geht, die Erinnerung an die Opfer zu ist die digitale Veröffentlichung von historischen
verteidigen. Die Bewahrung der Erinnerung ist ein kollek- Bildern oft auch ein Mittel, mehr über die
tiver, nie endender Kampf, um die Zukunft zu sichern. Menschen zu erfahren, die auf ihnen zu sehen sind.
Erst auf diesem Wege bekommen wir Kontakte
Frage: Die Fotos, denen wir heute begegnen, sind zu Angehörigen oder Freunden. Das ist uns in
zumeist keine Originale. Sie werden in Ausstellun- bestimmten Fällen wichtiger, auch auf die Gefahr
gen vergrößert, für Publikationen an ihren Rändern hin, sie eventuell dann wieder offline stellen zu
beschnitten. Und im Digitalen werden sie schnell müssen. Die digitale Präsentation von Fotos kann
zum Treibgut. Wie kann man verhindern, dass auch ein sinnvolles Kommunikationsmittel sein,
sie ohne Respekt vor ihrer Herkunft für eigene oder?
Interessen instrumentalisiert werden?
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Tuol Sleng Museum (ehemaliges Gefängnis S-21 der Roten Khmer), 2021.
Fotos: Jean Sien Kin

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JSK: Ja, das kann es in der Tat. Ich stimme voll und Dokumente „anzupassen“, um sie für die Öffentlichkeit
ganz mit dem Punkt überein, dass historische Fotos die „verdaulicher“ zu machen, nimmt man dem Dokument
Öffentlichkeit erreichen müssen. Es mag zwar einigen dann seinen ursprünglichen Wert? Fügen Sie dem
paradox erscheinen, dass die Erinnerung bzw. die Bewei- Dokument einen Filter hinzu? Könnte dies als stille Be-
se der Vergangenheit bewahrt und geschützt werden stätigung einer traurigen Tendenz betrachtet werden,
sollen, die Museen und Gedenkstätten sind gewisser- die Öffentlichkeit zu infantilisieren und sie für unfähig zu
maßen ihr Tresor ... und dennoch müssen sie geteilt halten, unformatierte visuelle Inhalte nach ihrem
werden. Die schwierige Herausforderung besteht darin, Geschmack zu akzeptieren? Wie unscharf kann die
sie in einer achtsamen und respektvollen Weise zu teilen. Grenze zwischen Anpassung und Unterhaltung sein?
Ihr Charakter als historischer Gegenstand bedeutet
nicht, dass sie der Vergangenheit verhaftet bleiben Was die Fotos der S-21-Opfer betrifft, so hatte die von
sollen. Im Gegenteil: Wir können uns sicher darauf Loughrey vorgenommene Kolorierung definitiv eine
verständigen, dass die Geschichte Bewusstsein schaffen Wirkung auf die Öffentlichkeit, allerdings auf Kosten der
soll, also quer durch die Zeit in die Zukunft. Sie liegt nicht Missachtung der historischen Wahrheit. Loughrey fügte
hinter uns, sondern begleitet uns. Und die digitale Welt vor allem Farben hinzu, die die Gesichter der Frauen
ist heute ein notwendiges Mittel dafür. Je mehr wir über wie Make-up aussehen ließen: Rosa auf den Lippen,
die Vergangenheit lernen und wissen können, desto Rouge auf den Wangen, entfernte Hautunreinheiten.
besser können wir die Zukunft vorbereiten. Doch die Bei zwei von ihnen fügte er ein Lächeln hinzu, was
Natur jedes Dokuments, das manchmal aus einzigartigem die Sache verschlimmerte. Eine Veränderung, die er in
und extremem Material besteht, ist mit menschlichen der Befragung eklatant verneinte. Denn als er zu diesem
Schicksalen verbunden, die immer mehr Gewicht haben Lächeln befragt wurde, behauptete er, dass der Über-
müssen als alle Überlegungen zur „Kommunikation“. Ich lieferung zufolge (für die es kein Beleg gibt) Frauen
würde es vorziehen, sie immer als wesentliche Bestand- ihre Entführer häufiger anlächelten als Männer. Seine
teile eines sinnvollen Projekts zu definieren, das Wege Kolorierung trug in der Tat dazu bei, diese erfundene
eröffnet, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu suchen Geschichte zu unterstützen.
und zur gegenseitigen Aufklärung beizutragen.
Ich glaube, dass Loughrey versucht hat, das Projekt
Frage: Heutige Sehgewohnheiten sind andere der brasilianischen Koloristin Marina Amaral zu imitieren,
als früher. Schwarz-Weiß-Bilder rücken z. B. die die 2018 Hunderte von Fotos von Auschwitz-Häftlingen
Geschichte weg vom Heute, so empfinden es coloriert hat, mit dem Unterschied, dass Amarals Projekt
zumindest einige. Darf man Ihrer Meinung nach „Faces of Auschwitz“ eine echte Zusammenarbeit mit
Fotografien gar nicht an heutige Sehgewohnheiten dem Museum Auschwitz-Birkenau war, an der Histori-
anpassen, um mit ihnen die Menschen noch zu ker:innen und Journalist:innen beteiligt waren. Sie wählte
erreichen? jeden Farbton und jede Farbe auf der Grundlage von
Fakten und Dokumenten aus. Auch wenn ich der Kolorie-
JSK: Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. rung von Fotografien von Opfern skeptisch gegenüber-
Ich würde sagen, es kommt auf das Thema an. Bei stehe, kann ich nicht leugnen, dass Amaral im Gegensatz
nicht sensiblen Fotos ist es wahrscheinlich akzeptabel. zu Loughrey einen künstlerischen Ansatz verfolgte, der
Ich vermute, dass Sie mit „Anpassung an unsere heutige mit Einfühlungsvermögen und Sorgfalt umgesetzt wurde:
Sichtweise“ „Farben hinzufügen“ meinen. Nun, ich Jedes kolorierte Porträt wurde neben seinem ursprüng-
verstehe, dass Museen das Interesse der Öffentlichkeit lichen Schwarz-Weiß-Foto präsentiert, zusammen mit
brauchen. In visueller Hinsicht stimmt es, dass Schwarz- dem echten Namen und der Geschichte des jeweiligen
Weiß-Fotos „flacher“ aussehen als Farbfotos. Farbe Opfers. Es war ein aufrichtiger, vorsichtiger und emo-
vermittelt ein 3D-Gefühl. Ich habe kolorierte Fotos gese- tionaler Versuch, Licht in die Schicksale der Opfer zu
hen, die unsere visuelle Wahrnehmung radikal verändern. bringen.
Dennoch könnte man argumentieren, dass Schwarz-
Weiß-Fotos auch eine Information über ihr Produktions- Frage: Die Verwendung von historischen Bildern ist
datum enthalten. Wenn man ihnen Farbe hinzufügt, immer auch eine Form der kulturellen Aneignung.
erschafft man in gewisser Weise einen Anachronismus. In diesem Fall ist es in Person von Matt Loughrey
Aber ist ein Anachronismus bereits eine Manipulation? der westliche Kulturbetrieb, der sich kambodscha-
Kann dies bereits als Fälschung gewertet werden? Sind nische Geschichte einverleibt. Inwiefern spielen
alle Veränderungen nur unterschiedliche Grade auf der bei der Empörung darüber in Kambodscha auch
Skala ein und derselben Handlung? Wenn man beginnt, aktuelle Kolonialismusdebatten eine Rolle?

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JSK: Ich stimme zu, dass jede Verwendung historischer an die Opfer allmählich verschwinden würde. Die kollekti-
Bilder zwangsläufig verzerrend ist, aber ich denke, dass ve Mobilisierung hat mich eines Besseren belehrt.
es dennoch möglich ist, diese Art von Aufgabe mit gutem
Willen und Strenge zu erfüllen. Ja, viele haben in der Tat Der freie Grafik-Designer Jean-Sien Kin wurde 1979 in Frankreich geboren,
auf dieses Problem der westlichen kulturellen Aneignung nachdem seinen kambodschanischen Eltern die Flucht aus Kambodscha
gelungen war. Seit 2017 lebt und arbeitet er in Phnom Penh, Kambodscha.
hingewiesen, auch ich. Die Situation in Kambodscha ist
Er ist Vize-Präsident der französischen Vereinigung „Le Cercle des Amis
jedoch ungewöhnlich, da das Regime der Roten Khmer de Vann Nath“ (Kreis der Freunde von Vann Nath). Vann Nath (1946–2011)
war Maler und Überlebender von S-21. Er hat sich mit seinen Bildern,
die meisten Intellektuellen des Landes ins Visier genom-
in Filmen und Interviews sowie vor Gericht für die Erinnerung an die Opfer
men und ermordet hat, was zu einer tiefen Wissenslücke engagiert. Jean-Sien Kin war ein enger Freund von Vann Nath und hat
2021 dessen künstlerisches Werk herausgegeben.
zwischen den Generationen geführt hat. Heute sind
viele Experten:innen und Forscher:innen auf dem Gebiet
Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.
der kambodschanischen Geschichte, Soziologie und (Das Interview wurde in englischer Sprache geführt.)
Kultur Ausländer:innen, die zum Teil die Lücke füllen,
die die ermordeten Intellektuellen hinterlassen haben.
Das Bildungswesen in Kambodscha macht täglich Fort-
schritte, aber es gibt immer noch deutliche Mängel, die Timeline:
ihren Ursprung aus der Zeit der Roten Khmer haben.
9. April 2021: Veröffentlichung eines Interviews mit
Mein Eindruck ist, dass der ausländische Einfluss auf die Matt Loughrey über seine von ihm kolorierten und, wie
Bildung und Wissensproduktion von der einheimischen Jean-Sien Kin herausfindet, digital manipulierten Porträts
kambodschanischen Gesellschaft nicht feindselig aufge- der S-21-Opfer auf der Website des Magazins VICE.
nommen wird. 11. April 2021: Offizielle Verurteilung der Bearbeitung
der S-21 Fotografien durch das Ministerium für Kultur
Der Aspekt der kulturellen Aneignung ist dagegen in den und bildende Künste in Kambodscha. VICE entfernt
Köpfen der kambodschanischen Gemeinschaften im den Artikel.
Ausland, in den Vereinigten Staaten und in Europa, viel 16. April 2021: VICE entschuldigt sich offiziell. Die
stärker präsent. Ich denke, dass Menschen aus der Gedenkstätte Auschwitz erreicht, dass Matt Loughrey
kambodschanischen Diaspora wie ich oder Jean-Baptiste ein von ihm animiertes Bild (GIF) des Häftlings Czeslawa
Phou oder unsere amerikanischen Kollegen:innen schon Kwoka aus dem Netz nimmt.
sehr früh mit den Schwierigkeiten der Integration in
ihrem Umfeld konfrontiert wurden, und das schärft wahr-
scheinlich unseren Blick für dieses Thema. Wir können
also sagen, dass dies ein wichtiger Faktor auf internatio-
naler Ebene war. Wir fühlten uns unserer jüngsten
Geschichte beraubt, die plötzlich von jemandem, der
noch nicht einmal einen Fuß nach Kambodscha gesetzt
hat, in einer verzerrten geschichtsrevisionistischen Weise
umgeschrieben wurde. Wir befürchteten, dass in diesem
Fall Kambodscha als kleinem Land nicht viel Aufmerk-
samkeit geschenkt würde – so wie die Verbrechen der
Roten Khmer von der internationalen Gemeinschaft
während ihrer Ausübung und sogar noch danach igno-
riert wurden (die Roten Khmer behielten ihren Sitz in
den Vereinten Nationen bis 1993, 14 Jahre nach ihrer
Niederlage).

Es war herzerwärmend und erleichternd zu sehen,


dass in diesen seltsamen Zeiten der Hyperinformation Tweet der Gedenkstätte Auschwitz, 16.4.2021
die kambodschanischen Gemeinschaften sowohl in
Kambodscha selbst als auch in Europa und in den Verei- 20. April 2021: Auf Initiative des Koloristen
nigten Staaten in der Lage waren, sich gemeinsam für Jordan J. Lloyd wird ein Verhaltenskodex
die Verteidigung ihrer Geschichte und ihrer Opfer einzu- für Koloristen aufgestellt:
setzen. Vor diesem Fall dachte ich, dass die Erinnerung https://www.ccoc.online
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Tuol Sleng Museum (ehemaliges Gefängnis S-21 der Roten Khmer), 2021. Fotos: Jean Sien Kin

Inwiefern ist „Gedenken


braucht Wissen“
eigentlich universal?
Barbara Thimm,
Gedenkstättenfachkraft in Kambodscha,
über die Reichweite universaler Leitmotive

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Frage: „Gedenken braucht Wissen“ ist ein Leit- und es – trotz eines umfangreichen Archives, das
motiv unserer Stiftung. Inzwischen drucken wir seit 2009 im UNESCO Memory of the World Register
es sogar auf unsere Büchertaschen. Inwiefern war eingetragen ist – keine Rechercheprojekte und keine
es hilfreich für Ihre Tätigkeit in Kambodscha? Praxis gab, die Vermittlungsangebote auf Faktizität zu
überprüfen. Um die Angebote mit Wissen anzureichern
Barbara Thimm: Als ich 2017 anfing, am Tuol Sleng und zu qualifizieren, galt es, dies zu ändern. Chhay Visoth
Genocide Museum zu arbeiten, war der damalige griff das Motto „Gedenken braucht Wissen“ begeistert
Direktor, Chhay Visoth, erst drei Jahre im Amt. Er war auf.
es, der das Museum aus einem „Dornröschenschlaf“
aufweckte, in den es – nach seine Gründung 1979 und Auch in Kambodscha gibt es Menschen, die aus politi-
sehr aktiven Anfangsjahren – gefallen war. Ein viel zu schen Gründen in Zweifel ziehen, dass S-21 existierte
romantisches Wort für die politischen Turbulenzen und und eine Folter- und Mordstätte war. Das hängt mit dem
Unsicherheiten, in denen sich das Land bis in die 2000er weiterhin angespannten Verhältnis zu Vietnam und der
Jahre hinein befand; die Zeit der Khmer Rouge war aktuellen politischen Lage zusammen. Dieser Kreis argu-
erst mit dem Tode Pol Pots 1998 wirklich vorbei. Chhay mentiert, dass das Museum 1979 von den Vietnamesen
Visoth schuf Abteilungen (Verwaltung, Archiv, Konservie- gestaltet wurde und vornehmlich propagandistischen
rung, Pädagogik, Ausstellungswesen, etc.) und versuchte, Zwecken zu ihrem Machterhalt in Kambodscha diente.
junges Fachpersonal an die Gedenkstätte zu holen, in (Vietnamesische Berater:innen und Militärs waren bis
der bisher nur Angestellte ohne spezifische Ausbildung 1989 im Land und kontrollierten die kambodschanische
arbeiteten. 2018 stellten wir den ersten Historiker ein. Regierung.) Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Be-
völkerung der aktuellen Regierung nicht traut. Da das
Ursprünglich war ich eingeladen worden, am Tuol Sleng Museum eine staatliche Institution ist, gehen nicht
zu arbeiten, um die pädagogischen Angebote mit fortzu- wenige kambodschanische Besucher:innen davon aus,
entwickeln. Vor Ort stellte sich heraus, dass das Kern- dass sie hier maximal eine gefärbte Wahrheit zu sehen
team nur über schwaches Basiswissen zu S-21 verfügte bekommen.
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Eine Situation ist mir eindringlich in Erinnerung: Im die eigene Familie nicht aus Deutschland stammt. Anders
Museum hängen Fotos von ermordeten Gefangenen in in Kambodscha. Hier ist es oft noch die Geschichte der
ihren Zellen, die am Tag der Entdeckung des verlassenen Eltern und Familienmitglieder werden vermisst. Anders
Gefängnisses aufgenommen wurden. Ein Team der als in Deutschland war hier jede(!) Familie betroffen von
Gedenkstätte hat versucht, den damaligen Standort Vertreibung und anhaltender Todesgefahr sowie der
des Fotografen nachzuvollziehen und in drei Fällen war Erfahrung, dass nahe Menschen abgeholt wurden und
es gelungen, die Fotos in den Raum zu platzieren, in nie wieder auftauchten. Eine gesamte Bevölkerung
dem die Aufnahme 1979 gemacht worden war. Als wir wurde traumatisiert und dieses Trauma löst sich nicht
diese Veränderung dem gesamten Team am Museum einfach in der nächsten Generation auf.
vorstellten, und die Kolleg:innen, die z.T. seit 30 Jahren
am Museum arbeiten, mit ihren eigenen Augen sehen Ähnlich wirkmächtig für die Erinnerungskultur sind
konnten, dass zum ersten Mal Foto und Raum miteinan- meinem Eindruck nach aber auch Aspekte wie: sichere
der übereinstimmten, drehte sich eine Kollegin zu uns um Lebensverhältnisse, gibt es demokratische Strukturen,
und fragte: Also ist das hier wirklich geschehen? wird auf Geschichtsschreibung Einfluss genommen, gibt
es laufende juristische Verfahren gegen damalige Täter,
Frage: Was sind die wesentlichen Unterschiede wird Verantwortung thematisiert bzw. als wichtig erach-
zwischen einer KZ-Gedenkstätte in Deutschland tet, wie hierarchisch orientiert sich die Gesellschaft?
und einem ehemaligen Folter-Gefängnis wie Und: wird gerne gelesen, werden Neugierde, kritisches
Tuol Sleng in Kambodscha? Denken und Wissenschaftlichkeit wertgeschätzt und
welche Rolle spielen religiöse Vorstellungen, die Weltbil-
BT: Zunächst einmal sind der zeitliche Abstand und die der prägen? Vor diesem Hintergrund gibt es drei wesent-
Kontexte sehr verschieden. In der Gedenkstätte Buchen- liche Unterschiede, die mir ins Auge fallen: Die aller-
wald sind Überlebende (wenn überhaupt) nur noch an meisten Menschen, die die Zeit der Khmer Rouge selbst
den Jahrestagen vor Ort und die Mitarbeitenden haben erlebt haben, sehen sich ausschließlich als Opfer, die
die NS-Zeit nicht selbst erlebt. Für die jungen Besuchen- Täter:innen sprechen von ihren Taten und das Thema
den in Deutschland ist es die Geschichte der (Ur-) „Widerstand/Widerständigkeit“ begegnet einem kaum.
Ur-Großeltern, also weit weg oder der anderen, wenn

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Frage: Das müssen Sie noch ein wenig erläutern. Frage: Sie arbeiten bereits seit fünf Jahren in
Phnom Penh. Inwiefern hat sich herausgestellt,
BT: Auch die Deutschen in beiden Staaten nach 1949 dass es mehr als Wissen für Gedenken braucht?
haben sich überwiegend als Opfer gesehen, bis sich
diese Lesart nicht mehr aufrechterhalten ließ. In Kam- BT: Öffentliches Gedenken braucht – wie überall auf
bodscha kommt die historische Tatsache hinzu, dass der Welt – eine Gesellschaft, die um Ermordete und Ver-
Befehlsverweigerung mit wenigen Ausnahmen zum misste trauert und eine Regierung, die die Erinnerung
Tode führte. Auch einer der führenden Vernehmer und an diese mindestens zulässt bzw. sie aktiv unterstützt.
Totschläger in S-21, Him Huy, bezeichnet sich als Opfer: In Kambodscha tut die Regierung beides, weil es in ihr
„Wenn ich mich geweigert hätte, wäre ich selbst Gefan- politisches Narrativ passt. Aber dieselbe Regierung
gener von S-21 geworden und umgebracht worden.“ fasst den Rahmen eng, in dem Geschichtsschreibung
Neben der anhaltenden Straflosigkeit auch für diese stattfinden kann, zumindest wenn sie an einer staatlichen
Tätergruppe hilft ihm diese Einstellung, offen über S-21 Einrichtung, wie dem Museum, erfolgt. Insofern ist der
zu sprechen, für Interviews zur Verfügung zu stehen eine Teil der Antwort: dass wissenschaftliche Freiheit und
und damit sein Einkommen als Kleinbauer aufzubessern. institutionelle Unabhängigkeit hinzukommen müssen.
(Selbstverständlich lässt sich nur darüber spekulieren,
ob und wie sich in Deutschland der Diskurs verändert Im internationalen Diskurs wird weniger ein Begriff wie
hätte, wenn in der NS-Zeit eine Befehlsverweigerung im „Gedenken“ benutzt, sondern zurzeit die Begriffe
Militär oder NS-Personal ebenfalls zum sicheren Tode „Dealing with the past“ (dt.: Erinnerungsarbeit) und
geführt hätte.) Die Vorstellung, dass jemand Täter und „Transitional Justice“ (dt: Vergangenheitsaufarbeitung).
Opfer gewesen sein kann, ist wenig verbreitet. Die Tat- Der letzte beinhaltet vier Säulen, eine davon ist „das
sache, dass nach S-21 insbesondere die Kader der Khmer Recht zu wissen“, aber eben auch die Säule „das Recht
Rouge gebracht wurden, denen das Zentralkomitee der auf Gerechtigkeit“, also das Einfordern von juristischer
Partei unterstellte, konterrevolutionär zu arbeiten, bringt Aufarbeitung. In Kambodscha hat es unter vietna-
mit sich, dass in S-21 besonders viele (Mit-)Täter Opfer
ihres eigenen Regimes wurden. Auf dem zentralen
Mahnmal, an dem alle Namen zu lesen sind, steht statt
einer Gedenkformel: „Nie werden wir die Verbrechen
des Regimes in Demokratisch Kampuchea vergessen.“

Frage: Und was hat das mit dem Thema


der „Widerständigkeit“ zu tun?

BT: Außer der vom Premier verbreiteten Geschichte


seiner Flucht und der führenden Rolle der militärischen
Befreiung des Landes 1979, muss ich als Gast in Kam-
bodscha auf intensive Suche gehen, um Geschichten
von Selbstbehauptung (ein Vater entscheidet sich dafür
lieber zu verhungern, als unter diesem Regime zu leben),
Widerständigkeit (ein Gefangener verweigert in seinem
letzten nach Folter erzwungenen Geständnis fälschlich
zu schreiben, er habe seine Tochter vergewaltigt) und
Widerstand (in April 1976 gibt es ungeklärte Explosionen
in der Innenstadt) zu finden. Es gibt sie, aber sie werden –
ganz anders als in beiden Deutschlands – nicht erzählt.
Vermutlich hat dies zwei Gründe: Es ist weiterhin heiß
umstritten – dies nun ähnlich wie lange in Westdeutsch-
land bezogen auf den 8. Mai –, ob der 7. Januar 1979 ein
Tag der Befreiung oder der Besatzung (durch die Viet-
namesen) war. Und auch das derzeitige Regime möchte
alles andere als widerständiges Verhalten in der Bevölke-
rung sehen.
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mesischer Führung 1979 einen kurzen Prozess gegen Frage: Inzwischen läuft der Antrag von Kambodscha
die Führungsriege der Roten Khmer in Abwesenheit bei der UNESCO, Tuol Sleng und das „Killing Field“
gegeben, der immerhin einiges an Beweismaterial zusam- von S-21 als Welterbe anzuerkennen. Damit ist
menstellte. Und seit 2006 hat das internationale Khmer das Land weiter als Deutschland, das den Antrag
Rouge Tribunal (ECCC) zwei Verfahren gegen fünf Ange- zu Buchenwald nicht in die internationale Öffent-
klagte (fast) abgeschlossen. Die Regierung hatte von lichkeit getragen hat. Welche Umstände machten
Anfang an nur Verfahren gegen die oberste Führungsrie- das möglich?
ge – den Leiter von S-21 eingeschlossen – zugelassen.
Forderungen, weitere Täter:innen vor Gericht zu stellen BT: Um eines Tages den Status UNESCO Welterbe zu
und den Zeitraum der Anklage auszuweiten, sind sehr tragen, braucht es zunächst den Eintrag in die UNESCO
verhalten. Ein Grund ist sicherlich auch das nicht vorhan- tentative list, also eine vorläufige Aufnahme in die Liste.
dene Vertrauen in kambodschanische Gerichte. Sie sind Die Regierung muss diese beantragen und damit bestä-
nicht unabhängig und stehen unter Korruptionsverdacht. tigt sie, dass der Ort von nationaler Bedeutung ist und
sie gewillt ist, ihn zu schützen. Inhaltlich ist dies von
Darüber hinaus versuche ich noch immer zu verstehen, großer Bedeutung, weil damit Kambodscha international
wie sehr es eine Rolle spielt, dass die große Mehrheit bekundet, nicht nur mit ihren einmaligen Tempeln
der Kambodschaner:innen tief buddhistisch geprägt ist, (wie Angkor Wat) in der Welt berühmt sein zu wollen,
auch wenn nicht alle täglich Riten praktizieren. Der sondern auch mit den grauenvollen Teilen ihrer Geschich-
Buddhismus lehrt die Vorstellung, dass Menschen die te bekannt zu sein. Das Kulturministerium, dem das
Böses tun, in ihrem nächsten Leben dafür büßen werden. Museum untersteht, hat sich entschieden, sich mit drei
Die Menschen brauchen/sollten nicht selbst richten. Orten gemeinsam um den Status zu bewerben: dem
Vorgänger-Gefängnis M-13, dem Tuol Sleng Genocide
Frage: Wenn die Rahmenbedingungen in Museum (früheres S-21 Gefängnis) und der Mordstätte
einer Gesellschaft so eng gefasst sind: von S-21, dem heutigen Choeung Ek Genocidal Center.
Was bedeutet das für die Glaubwürdigkeit Die Idee dazu kam zu einem günstigen Zeitpunkt, denn
der Gedenkstättenarbeit? das UNESCO Büro in Kambodscha war gerade dabei,
die tentative list nach Jahrzehnten wieder zu beleben.
BT: In dieser Atmosphäre – dass einer staatlichen Die Museumsleitung will mit dem Antrag in erster Linie
Einrichtung nicht getraut wird – muss das Tuol Sleng sicherstellen, dass die Orte langfristig gesichert sind
Museum agieren. Auch ich musste mich fragen, was ich und nicht dem starken Urbanisierungsdruck im Land zum
hier eigentlich unterstütze, wenn ich helfe, diesen Ort Opfer fallen. Und es ist auch eine Art Vorsorge für den
weiterzuentwickeln und gleichzeitig akzeptieren muss, unerwünschten Fall, dass eines Tages eine Regierung an
dass der Direktor (selbstverständlich Parteimitglied) sich der Macht ist, die kein inhaltliches/politisches Interesse
nur im Rahmen des Regierungsnarrativs bewegen kann. mehr an diesem Zeitabschnitt haben könnte bzw. die
historischen Orte nicht für schützenswert hält.
Zu meinen Leitmaximen wurden mit der Zeit: a) solange
wir nicht aufgefordert werden, die Geschichte falsch Gleichzeitig gibt es jedoch seit ein paar Jahren eine
darzustellen, müssen wir damit leben, nicht das gesamte sehr polarisierte Debatte im UNESCO Welterbe Komitee,
Bild zeichnen zu dürfen. (Zum Beispiel dürfen wir die ob überhaupt und wenn ja unter welchen Bedingungen,
Unterstützung Chinas für die Roten Khmer nicht er- „Orte, die sich auf Konflikte beziehen“ weiter in die
wähnen, die aber für S-21 unseres jetzigen Wissens Welterbe-Liste aufgenommen werden sollen. Vereinzelt
nach keine Rolle gespielt hat), b) wir haben den gesetz- wurden sie auch „negative Orte“ genannt. Auf der Liste
ten Rahmen noch lange nicht ausgeschöpft und finden sich einige wenige wie die Gedenkstätte Ausch-
erforscht. Diesen Rahmen nicht zu nutzen, hieße, witz (1979), Hiroshima bzw. der Gedenkdom (1996) oder
Geschichtsfälschern das Feld zu überlassen. Es lohnt Robben-Island in Südafrika (1999). Weitere sehr unter-
weiterhin, die Erinnerung an die Opfer und Täter in den schiedliche Bewerbungen z. B. aus Belgien/Frankreich,
Vordergrund zu rücken, faktenbasierte Forschung zu Ruanda und Argentinien sind in der Vorbereitung. Auf
unterstützen und die Gedenkstätte in allen Bereichen der letzten Sitzung des Komitees wurde 2021 jedoch
zu professionalisieren, um Tuol Sleng als Erinnerungsort der Antrag gestellt, vor weiteren Aufnahmen eine prinzi-
zu erhalten. Was es also ebenso braucht: den Mut der pielle Entscheidung zu treffen. Interessanterweise haben
Verantwortlichen, bei den Fakten zu bleiben, die Bereit- sich besonders viele afrikanische Staaten vereint und
schaft, Gratwanderungen zu ermöglichen, die nicht wortstark für die Aufnahme von „conflict sites“ ausge-
verfälschen, und Spielräume auszuschöpfen. sprochen. Es wurde vereinbart, eine Arbeitsgruppe

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einzurichten, an der nicht nur die staatlichen Vertreter:in- Gedenkraum hunderte von Totenschädeln zu sehen
nen teilnehmen dürfen, die bis zur nächsten Sitzung und diese nicht wie hier üblich eingeäschert worden?
2022 einen Vorschlag vorlegen soll. Das Hauptargument Weshalb gibt es auf die Frage nach den „Lehren aus
der Gegner:innen weiterer Aufnahmen ist, dass sich das dieser Geschichte“ oft nur das Wort Peace und weiter
historische Narrativ zu den Bewerber-Orten oft noch wenig Konkretes? Warum sind so viele Täter nie belangt
nicht ausbalanciert habe und die Bewerbungen ein worden? Und und und. Der große Vorteil, lange an einem
Versuch der politischen Instrumentalisierung sein könn- Ort zu sein, ist natürlich, die frühen, oft vorschnellen
ten. Es wird interessant, wenn in diese Situation hinein Erklärungen mehrfach korrigieren zu können und die
eine Bewerbung aus Asien (Kambodscha) kommt, von Geschichten dahinter kennenzulernen. Manche Ant-
der wir annehmen, dass die Erinnerungswürdigkeit inter- worten auf die oben genannten Fragen stellten sich als
national unumstritten ist. Aber noch ist die Bewerbung lapidar heraus, andere als hochpolitisch.
in Vorbereitung. Daumen drücken lohnt sich!
Richtig fremd ist mir eigentlich nur der verbreitete
Frage: Was ist und bleibt Ihnen fremd im Glaube, dass Seelen von Menschen, die nicht friedlich
kambodschanischen Umgang mit der Vergangen- sterben konnten, als unruhige, unglückliche Geister
heit, aus westeuropäischer Perspektive? immer noch anwesend sind. Diesen Geistern will man/
frau hier nicht begegnen. Viele meiner Kolleg:innen
BT: Wenn ich versuche, mich an meinen ersten Besuch erzählen von Erscheinungen im Museum und manche
zu erinnern, dann gab es viel Vertrautes (das Anliegen, trauen sich nicht alleine in bestimmte Räume. Dieser
den Ort, die Objekte und Dokumente erhalten zu wollen; Geisterglaube ist auch die meist genannte Erklärung,
Gespräche mit Zeitzeugen anzubieten; Schulklassen warum viele Kambodschaner:innen nicht in die Gedenk-
einzuladen; etc.) und einiges, das mich stark irritiert hat: stätte kommen wollen. Er führt aber auch dazu, dass die
Warum gibt es keine erklärenden Texte in der Daueraus- Erinnerung an die Toten wachgehalten wird und ihre
stellung? Wieso werden so wenige Einzelbiografien Präsenz offenbar für Menschen bis heute spürbar ist. So
vorgestellt und die Fotos der Gefangenen ohne Namen werden zum jährlichen Pchum Ben Fest allen unruhigen
und in Masse ausgestellt? Warum werden Fotos von Seelen, auch jenen von Tuol Sleng, Reis und andere
Leichen und Gefolterten gezeigt? Warum sind im Gaben dargebracht, um sie zu versorgen.
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Der buddhistische Ritus schreibt vor, dass die Kinder mit Leben – gefüllt werden. Wenn ein Him Huy sich hier
die Gebeine der Eltern einäschern und die Totenrituale in der Gedenkstätte an seinem ehemaligen Tatort als
durchführen müssen. Teil der Traumatisierung in der Opfer bezeichnen kann und nicht dagegen gehalten wird,
älteren Bevölkerung ist, dass sie dies meist nicht tun dann bleibt es unklar für die junge Generation, welche
konnten. In den Anfangsjahren in der Gedenkstätte Lehren sie aus der Geschichte ziehen sollen. Dann kann
wurde eine wandgroße Landkarte Kambodschas aus Massenmord wieder geschehen, weil alle mussten/
realen Totenschädeln gestaltet. Die Botschaft der Karte müssen ja den Anordnungen folgen. In einer schon so
war: Das gesamte Land war zum Massengrab geworden. lange autoritär orientierten Gesellschaft wie der kambod-
Diese Karte hing 20 Jahre lang in der Gedenkstätte, schanischen, in der Widerstand (zumindest von oben)
bis der König intervenierte und sie abgenommen wurde. keinen positiven Wert zugesprochen wird, ist der Boden
Die Regierung entschied jedoch (wie im gesamten Land), weiterhin bereitet.
die Gebeine nicht einzuäschern, sondern sichtbar zu
lassen: sie sollten weiter an die Verbrechen erinnern. Frage: Sie arbeiten für den Zivilen Friedensdienst,
Für viele Besucher:innen – sicher nicht nur für die dessen Ziel es ist, einen nachhaltigen Beitrag zu
ausländischen – muss es irritierend sein, die Schädel Frieden und Konfliktfähigkeit im Land zu leisten.
zu sehen, wissend, dass der Ritus ein anderer ist. Dazu gehört auch, die eigene Fachperspektive
gezielt und temporär, aber nicht dauerhaft in die
Ein weiterer Aspekt ist mir nicht fremd, er stimmt mich Weiterentwicklung der Gedenkstätte einzubringen.
nur nachdenklich und traurig. Da die derzeitige politische Sprich: Sie werden Kambodscha bald verlassen.
Lage kein kritisches Denken, keine Opposition, keine Was nehmen Sie als wesentliche Erfahrung für
Meinungsfreiheit erlaubt und fördert, gehen Fragen die deutsche Erinnerungskultur mit?
nach der Verantwortung für die Verbrechen zusammen
mit der anhaltenden Straflosigkeit ins Leere. So werden BT: Ich glaube, ich nehme nichts für die deutsche Erinne-
Redewendungen wie „Nie wieder“, „Lernen aus der Ge- rungskultur mit, außer der großen Dankbarkeit, dass ich
schichte“ zu hohlen Phrasen, die in den pädagogischen die Chance hatte, eine andere Erinnerungskultur intensiv
Programmen nicht mit Argumenten, Diskussionen – kennenzulernen. Es ist wenig in beide Richtungen

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übertragbar und natürlich eine Binsenweisheit, dass jede
Gesellschaft und jede neue Generation Opfer von staat-
lichen Massenverbrechen anders und immer wieder
verändert erinnert.

Zu einer allgemeinen Erfahrung wurde für mich, dass


wir uns eine Scheibe davon abschneiden könnten,
entspannter zu arbeiten. In Kambodscha hat weiterhin
die Familie den höchsten Stellenwert, und dann kommt
erst die Arbeit. Auch finde ich den Pragmatismus hier
beeindruckend und ansteckend. Immer wieder ist es
Die Kulturpädagogin Barbara Thimm arbeitete als Bildungsreferentin
herrlich zu erleben, welche Lösungen möglich sind. unter anderem in der Gedenkstätte Buchenwald, der Europäischen
Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar und leitete
die Pädagogische Abteilung des Internationalen Jugendgästehauses
Erinnerungskulturell beindruckt mich die Spiritualität Dachau. Das Trainingsangebot „Verunsichernde Orte. Weiterbildung
und die gefühlte Nähe der Toten, die mich zu einem Gedenkstättenpädagogik“ hat sie mitinitiiert und entwickelt. Für den
Zivilen Friedendienst ist sie seit 2017 am Tuol Sleng Genocide Museum
weiteren Thema führt: den weiterhin teilweise sichtbaren in Phnom Penh tätig.
und im Gedächtnis der lokalen Bevölkerung präsenten
Massengräbern im Land. Eine Zählung in den 1990er
Jahren hat über 30.000 aufgelistet. (Wieder ist es nur
eine Spekulation, ob die NS-Verbrechen in Deutschland
anders präsent wären, wenn sich die Massengräber
der NS-Verbrechen nicht im Osten, in Russland, in
Belarus, in der Ukraine, in Polen, sondern in Deutsch-
land befinden würden.)

Die Unvorstellbarkeit dieser Gewalt führt in Kambodscha


dazu, dass eine Frage immer wieder gestellt wird, die Die Bewegung der kommunistischen Roten Khmer
ich als rhetorische Frage höre: „Warum sollen Kambod- erstarkte in den 1960er Jahren in Kambodscha und
schaner Kambodschaner umgebracht haben?“ Gemeint kontrollierte das gesamte Land vom April 1975 bis zum
ist in der Regel: Das anzunehmen ist so abwegig, dass Januar 1979. In dieser Zeit starben zwischen 1,7 und
es nicht sein kann, also waren es andere, nämlich 2,2 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung
wechselweise die Vietnamesen oder die Chinesen. von etwa 6,5 Millionen) an den geschaffenen Lebens-
Die Kambodschaner können es jedenfalls nicht gewesen und Arbeitsbedingungen oder weil sie ermordet wurden.
sein. Auch der Hinweis, dass die gesamte Führungsriege Auf der Suche nach inneren Feinden, mordete die
der Roten Khmer Kambodschaner:innen waren, hilft „Angkar“ (die „Organisation“, wie die Roten Khmer sich
nicht. Als ich diesen Satz zum ersten Mal gehört habe, nannten) direkt in den Dörfern oder ließ Gefangene
hat er Neid bei mir ausgelöst. Ich war neidisch darauf, zunächst in eines der 196 Gefängnisse bringen, um
dass die Opfer offenbar als die eigenen identifiziert Geständnisse unter Folter zu erzwingen. Das „S-21 Büro“,
werden. Ich habe in Deutschland noch nie die abwehren- so der offizielle Name der Folter- und Mordstätte in
de Argumentation gehört: „Warum sollen Deutsche Phnom Penh, unterstand direkt dem Zentralkomitee der
deutsche Juden getötet haben? Das wäre doch absurd.“ Partei und war den „wichtigen“ Gefangenen vorbehalten.
Zurzeit sind über 18.000 Namen von Opfern bekannt, der
Abgleich von Listen ist jedoch noch nicht abgeschlossen.
Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.
Im April 2017 begleitete der Kulturhistoriker in Phnom Penh Die meisten der bis zu 21.000 Gefangenen – überwie-
mehrere Workshops zur Weiterbildung von Mitarbeiter:innen gend Männer, aber auch Frauen und Kinder – wurden in
des Tuol Sleng Museums.
Choeung Ek, einem etwa 10 Kilometer entfernten „Killing
Field“, ermordet. Nach 1979 sind nur zwölf Menschen als
Überlebende von S-21 bekannt geworden.

Weitere Informationen unter


www.tuolsleng.gov.kh
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Antifaschismus
ist Handarbeit
Heiko Clajus von der Initiative
Gedenkweg Buchenwaldbahn über seine Arbeit
am partizipativen Denkmal
„Gedenksteine Buchenwaldbahn“.

Frage: Ein Gedenkweg, wie der auf der ehemaligen Frage: Wer gehört, neben der Uni, zu Ihrem
Buchenwaldbahn, ist nicht einfach „da“. Er muss Netzwerk?
jedes Jahr aufs Neue freigelegt und befestigt
werden. Was sind die wichtigsten Aufgaben dabei? HC: Das ganze Jahr über arbeite ich mit drei Jugend-
lichen des Johannes-Landenberger-Förderzentrums
Heiko Clajus: Tatsächlich muss die „Pflegesicherung“ zusammen, einer sonderpädagogischen Schule in
des Weges über das ganze Jahr realisiert werden: Weimar. Darüber hinaus natürlich der Thüringer Forst,
Von August bis Anfang März sind die Baumfällarbeiten der Eigentümer des Geländes ist und mit dem wir uns
zu machen; Äste, die trocken sind und herunterfallen eng abstimmen. Die Hinweise der Waldarbeiter helfen
könnten, müssen entfernt werden. Dann kommen die uns z. B. zu verstehen, welche Pflanzen auf der roten
Brut- und Nistzeiten, in denen nicht gefällt werden darf. Liste stehen. Dann werden wir finanziell unterstützt
Danach, wenn das Wachstum beginnt, müssen wiederum u. a. durch die Stadt Weimar, die Weimarer Wohnstätte
die Mäharbeiten erledigt werden. Und dann ist da noch und die Sparkasse Mittelthüringen und seit einigen
der wilde Müll, den wir leider immer wieder beseitigen Jahren auch durch die Gedenkstätte Buchenwald.
und entsorgen müssen. Total hilfreich: aus Überschussmitteln der Staatslotterie
haben wir nun zwei akkubetriebene elektrische Frei-
Es gibt Gutachter, die überprüfen, was Nutzer:innen schneider. Sie schonen die Umwelt und sind auch
des Weges gefährlich werden könnte. Auf dem Bahn- weniger störend für die Ohren der Besucher:innen.
damm der ehemaligen Buchenwaldbahn sind vor allem
Bäume aus weichem Holz, wie Pappeln und Weiden, Frage: Seit 2008 werden Sie jeden Sommer von
problematisch. Wir schauen daher: Was wächst hier Internationalen Freiwilligen der sog. Summer
ansonsten von Natur aus? Dann stellen wir so viel wie Camps unterstützt. Sie kommen aus so unter-
möglich Linden, Kirschen, Eichen oder Buchen, also schiedlichen Ländern wie Taiwan, Belarus oder den
Bäume aus härterem Holz, frei. So erreichen wir zudem USA, insgesamt aus über 30 Ländern. Was macht
eine möglichst große Artenvielfalt, was wiederum für das Arbeiten mit diesen Menschen aus?
die Insekten und Vögel wichtig ist. Konkret haben wir
derzeit vor, die Bäume insgesamt zu bestimmen und HC: Die Zeit der Summer Camps ist für mich und die
dies den Nutzer:innen des Gedenkweges auch sichtbar Jugendlichen der Landenberger-Schule immer das High-
zu machen. Dabei wird uns auch die Uni Jena helfen. light des Jahres. Es kommen Menschen aus der ganzen

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Welt, die motiviert sind und sich für unsere Sache inter-
essieren. Die Zusammenarbeit ist abwechslungsreich
und angenehm. Die Teilnehmer:innen der Summer Camps
sind vor allem für die „inhaltlichen“ Arbeiten, also größ-
tenteils für die Bearbeitung der Gedenksteine und für
die biographischen Recherchen verantwortlich. Aber
auch dort, wo viele Hände gebraucht werden, wie z. B.
zur Befestigung des Weges oder zur Reinigung der
Entwässerungsgräben.

Schön ist aber auch die Arbeit mit den Schulklassen,


die uns z. B. dabei unterstützen, das über den Winter
entfernte Holz dahin zu bringen, wo es dann als Brenn-
holz abgeholt werden kann. Ähnliches gilt für Jugend-
vereine, Gewerkschaften oder auch buddhistische
Gruppen, die regelmäßig – zumeist vermittelt von der
Gedenkstätte – zu uns kommen. Mit uns können sich
auch die, die sich körperlich betätigen wollen, engagieren.

Wichtig ist vor allem: Die Gruppen bringen auch immer


neue Ideen mit, wie z. B. den Impuls, dass wir bei den
Gedenksteinen inzwischen mit unterschiedlichen Farben
und Schriftarten arbeiten. Damit die Steine einen würde-
vollen Anblick bieten, hatten wir anfangs, auf Anraten
der Gedenkstätte, mit immer der gleichen Schriftart
gearbeitet, die wir „vorschrieben“. Doch dies wirkte
arg gleichförmig. Inzwischen sind auch die individuellen
Handschriften der „Steinmetze“ gut sichtbar. Das tut
dem Denkmal gut.
Matthias Schneider und Steven Keilhaupt unterstützen Heiko Clajus
bei der Pflege des Gedenkweges.

Frage: Diese Erfahrung betont auch den


prozessualen Charakter dieses partizipativen
Denkmals. Was hat sich darüber hinaus im
Laufe der Zeit verändert?

HC: Ich habe gelernt, dass es häufig wichtig ist, einfach


anzufangen. So hatte ich anfangs keine Ahnung von
Waldarbeiten oder Baumbestimmung. Aber mir wurde
schnell klar, dass wir das selber übernehmen müssen,
damit die Gedenksteine erreichbar bleiben. Also legten
wir einfach los. Und lernten. Bis heute.

Zugleich heißt es, über Jahre dran zu bleiben. Dann erge-


ben sich immer wieder neue Möglichkeiten: So ignorierte
die Deutsche Bahn lange unsere Anfrage, eine Informa-
tionstafel auch am Weimarer Hauptbahnhof aufzustellen.
Erst als ein Mitarbeiter der Bahn, der sich auch bei uns
engagierte, innerbetrieblich einen Antrag stellte, ging es
dann plötzlich. Wenn ich heute dort vorbeikomme, freue
ich mich jedes Mal, an welch zentraler Stelle nun das
Heiko Clajus (2. v. links) bei der Einweihung einer Erinnerungstafel am
Weimarer Hauptbahnhof. Fotos: Gedenkinitiative Buchenwaldbahn Schild steht.
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Und als wir den damaligen Revierförster des Etters- Für mich persönlich war sehr bewegend, dass 2015,
berges fragten, einen Gedenkweg auf dem Bahndamm zum 70. Jahrestag, Nachfahren von KZ-Häftlingen am
anzulegen, war die klare Antwort: „Nein, auf keinen Fall!“ Gedenkweg 13 Obstbäume für ihre Väter und Opas
Nach der schlechten Erfahrung mit der Pflege der pflanzten und ein weiterer Erinnerungsort entstand.
„Zeitschneise“, die im Kulturstadtjahr 1999 angelegt Bei der Rede für Frédéric Manhès kam zur Sprache,
worden war und um die sich dann keiner mehr kümmer- dass ein Kirschbaum im Land der Täter gepflanzt wird
te, wollte er sich nicht noch „so ein Problem“ – auch und die Früchte auch die Enkel der einstigen SS-Ange-
mit den ganzen Haftungsfragen, die daran hängen – hörigen ernten können. Das hat mich tief getroffen,
ans Bein binden. Wir mussten warten, bis er pensioniert da auch ich so ein Enkel bin. Danach konnte ich den
wurde. Dann ging´s. Worten der Rede nicht mehr genau folgen, bis zu dem
Schlusssatz: „Der Kirschbaum wird bewusst gepflanzt
Frage: Wo öffneten sich weitere überraschende als Zeichen der Versöhnung!“
Optionen für das Projekt?
Noch zu DDR-Zeiten hatte ich so meine Schwierigkeiten
HC: Das Weimarer a&o Hostel steht ja direkt neben der mit der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte“, wie sie
einstigen Bahnlinie. Daher haben wir dort auch immer damals hieß. Einen Besuch lehnte ich ab. Für mich war
unsere Faltblätter hingegeben. Sie kontaktierten uns das „nur“ verordneter Antifaschismus. Erst nach der
eines Tages: „Wir wollen mehr Informationen. Wir wollen Wende, mit den Antifa-Workcamps, beschäftigte ich
eine eigene Tafel aufstellen.“ Nun steht eine große Tafel mich mit Buchenwald. Mit einer Projektgruppe legten
direkt vor dem Hostel, auch mit Fotos der Buchenwalder wir damals jedes Jahr – mal mehr, mal weniger – den
Jungs, die deportiert wurden, was uns besonders freut. Holzverladeplatz an der Bahnlinie frei, dort, wo heute
Es ist schön zu merken, dass nicht alles von uns ausgeht, die Bushaltestelle steht. Nach dem vierten oder fünften
sondern sich das Projekt auch verselbstständigt. Jahr realisierte ich: Um nicht jedes Jahr wieder bei Null
Die Universität Jena hat 2021 im Rahmen der Tagung anfangen zu müssen, müsste die Bahnlinie eigentlich
„Den Begriff Rasse überwinden“ unseren Gedenkweg über das ganze Jahr begehbar sein. Das war die erste
mit in das Programm aufgenommen und es wird ein Idee.
weiterer Artikel über ihn in dem Tagungsband erscheinen.

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Frage: Am 31. Juli 2022 werden weitere über
100 Gedenksteine eingeweiht. Wieviel sind es Initiative Gedenkweg Buchenwaldbahn
nun insgesamt?
Die in dem „Zug der Erinnerung“ fahrende Ausstellung
HC: Es werden dann 316 sein. Das erklärte Ziel bleibt „11.000 Kinder. Mit der Reichsbahn in den Tod“ von
weiterhin, Steine für alle 2.000 Jugendliche zu erschaf- Serge und Beate Klarsfeld machte 2008 auch Station
fen. Ich weiß, das ist sehr ambitioniert. Aber es geht in Weimar. Sie war im Vorfeld die Initialzündung dafür,
ja nicht darum, soviel Gedenksteine wie möglich anzu- in einem Projekt, das Bildungsarbeit mit praktischen
fertigen, sondern diesen Gedenkort würdevoll zu erhal- Arbeiten verknüpft, auf der ehemaligen Bahntrasse von
ten, zu pflegen und für die Besucher:innen interessant Weimar nach Buchenwald einen Gedenkweg anzulegen.
zu machen. Zusätzlich zur Pflege des Weges gestalteten Hunderte
von Helfer:innen individuelle Gedenksteine. Sie erinnern an
Frage: Was motiviert Sie, die nächsten Jahre die 2.000 Kinder und Jugendlichen, die auf der Bahnlinie
noch weiterzumachen? 1944 zur Ermordung nach Auschwitz gebracht wurden
oder in den letzten Kriegswirren in die zahlreichen Außen-
HC: Björn Höcke hat gesagt, er will die Erinnerungs- lager deportiert wurden und dort umkamen. Die Gedenk-
kultur in Deutschland um 180 Grad drehen. Und da steine sind ein in Deutschland einmaliges prozessuales
habe ich natürlich das Bild der Kinder vor meinen Augen. und partizipatives Denkmalsprojekt. Es soll fortgesetzt
Rechte Gruppen behaupten ja immer „Unsere Großväter werden, bis für jedes deportierte Kind und jeden depor-
waren keine Verbrecher“. Doch am Gedenkweg kann tierten Jugendlichen ein Gedenkstein niedergelegt wurde.
man zeigen: Sie haben z. B. am 25. September 1944
kleine Kinder in einen Waggon nach Auschwitz gesteckt. Mittlerweile wird die ehrenamtlich tätige Initiative von
Für mich ist es Motivation, denen das unter die Nase unterschiedlichen Vereinen, Institutionen und Einzelperso-
zu reiben. Wir müssen das Gedenken tatkräftig wach- nen unterstützt und begleitet. Hier einige Beispiele:
halten, auch um die Demokratie und den gesellschaft- Friedrich-Schiller-Universität Jena, Roter Baum e. V. aus
lichen Zusammenhalt zu stärken. Antifaschismus ist Dresden, Gerberstraße 1 e. V. aus Weimar, Deutsche Bahn,
Handarbeit. Genauso ist es – und war es! Hans-Böckler-Stiftung, Stadt Weimar, Gedenkstätte
Buchenwald, Förderverein Buchenwald e. V., Sparkasse
Der gelernte Umwelttechniker Heiko Clajus hat
Mittelthüringen, Weimarer Wohnstätte, Lernort Weimar
seine Wurzeln in der „Gerberstraße 1“, einem seit 1990 e. V., Diakonie Holzdorf, Stadtwerke Weimar. Das Projekt
besetzten Haus in Weimar. Dort schob er auch das
„Projekt Spurensuche“ an, aus dem die Initiative
wurde im Jahr 2014 mit dem regionalen Thüringer
zum Gedenkweg hervorging. Demokratiepreis ausgezeichnet und Heiko Clajus erhielt
Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.
die silberne Ehrennadel der Stadt Weimar für sein
Engagement.

Der Gedenkweg kann heute das ganze Jahr über began-


gen werden. Er bietet die einzige Möglichkeit, sich dem
ehemaligen Lager auf dem Ettersberg zu Fuß zu nähern.
Die Gedenkstätte Buchenwald und der Förderverein bieten
auf ihm Rundgänge an, die in zunehmendem Maße von
Schulklassen und anderen Gruppen nachgefragt werden.
Darüber hinaus lädt der Gedenkweg mittlerweile viele
Menschen auch zum Wandern, Joggen und Radfahren ein.

Am 31. Juli 2022 werden mit einem Gang von Weimarer


Hauptbahnhof zum Ettersberg weitere über 100 Gedenk-
steine feierlich eingeweiht. Zugleich begeht die Initiative
ihr 15-jähriges Bestehen.

www.gedenksteine-buchenwaldbahn.de
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80 Jahre danach:
„Der Überfall auf die Sowjetunion“.
Eine Outdoor-Ausstellung an drei Orten
VON MICHAEL LÖFFELSENDER

Fragende Blicke waren im Sommer und Herbst 2021 Buchenwald? Die Ausstellung näherte sich dieser Frage
bei nicht wenigen Besuchenden der Gedenkstätte schlaglichtartig über die Geschichte dreier Orte im
Buchenwald zu beobachten, nachdem sie das ehema- Lagergelände – drei Orte, die für die Geschichte der
lige Häftlingslager betreten hatten. Farbige hölzerne sowjetischen Häftlinge im Konzentrationslager Buchen-
Konstruktionen im Gelände, auf ihnen wehende silberne wald von besonderer Bedeutung sind. Gleichzeitig waren
Fahnen, gaben ihre Funktion für die meisten erst auf und sind es Orte, die für gewöhnlich etwas abseits der
den zweiten oder dritten Blick preis: Es waren Stationen klassischen Besucherströme liegen. Die Ausstellung
einer temporären Outdoor-Ausstellung. Ihre auffallende brachte sie mit konkreten Geschichten und Schicksalen
Gestaltung – inspiriert von Entwürfen der osteuropäi- der öffentlichen Wahrnehmung wieder näher.
schen Avantgarde der 1920er Jahre – war als bewusste
Störung und Intervention im Gelände angelegt. Ihr Station 1 markierte den historischen Ort „Block 8“.
Thema: Der Überfall auf die Sowjetunion. Unter den über 30.000 sowjetischen Zwangsarbeitern
und Zwangsarbeiterinnen, die die Gestapo oft wegen
Am 22. Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland die Sowjet- kleinster Vergehen ab Mitte 1942 in das Konzentrations-
union. Es ging um die Eroberung von Land, den Raub lager Buchenwald einwies, befanden sich viele Jugend-
von Ressourcen, um die Versklavung der Bevölkerung liche, manche kaum dem Kindesalter entwachsen.
und die systematische Ermordung von Juden und Roma. Für viele Jungen aus der Ukraine, Belarus und Russland
Mit 27 Millionen Opfern und zahllosen verbrannten wurde die Holzbaracke mit der Nummer 8 zur Durch-
und verwüsteten Orten trug die Sowjetunion die Haupt- gangsstation. Auf Betreiben politischer Häftlinge fungier-
last des Zweiten Weltkrieges. Doch welche Auswirkungen te sie ab Sommer 1943 als „Kinderblock“ des Lagers.
hatten der Überfall auf und der Vernichtungskrieg Die Untergrundorganisation der Häftlinge sorgte für
gegen die Sowjetunion für das Konzentrationslager zusätzliche Lebensmittel, Kleidung und medizinische

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Hilfe. Selbst Unterricht gab es. Neben den Jungen aus
der Sowjetunion kamen ab 1944 auch jüdische Kinder
aus Polen und Ungarn in Block 8 unter. Für viele wurde
er zum Ort ihrer Rettung.

Station 2 markierte das Gelände des ehemaligen


Sonderlagers für sowjetische Kriegsgefangene. Vom
ersten Tag des Überfalls auf die Sowjetunion verstieß
die Wehrmacht im Umgang mit sowjetischen Kriegsge-
fangenen vorsätzlich gegen die völkerrechtlichen
Konventionen. Zur Zwangsarbeit verlegte sie im Oktober
1941 die ersten 2.000 sowjetischen Kriegsgefangenen
aus einem Stalag bei Hamburg in das Konzentrations-
lager Buchenwald. Untergebracht wurden sie in einem
umzäunten separaten Teil des Häftlingslagers. Innerhalb Untersuchung wurden sie in Buchenwald unmittelbar
von sechs Monaten starben in diesem Sonderlager für nach der Ankunft ohne Registrierung per Genickschuss
sowjetische Kriegsgefangene 600 Männer an Krank- ermordet. Bis 1944 fielen in Buchenwald rund 8.000
heiten und Hunger. Ab 1942 mussten die Kriegsgefange- sowjetische Kriegsgefangene dieser Mordaktion zum
nen im Steinbruch und beim Bau der Buchenwaldbahn Opfer. Die am Morden beteiligten SS-Männer erhielten
arbeiten. Auch an Firmen in der Umgebung vermietete Auszeichnungen, manche wurden befördert.
die SS ihre Arbeitskraft. Insgesamt durchliefen rund
3.500 sowjetische Kriegsgefangene das Sonderlager in Das Format einer Outdoor-Ausstellung an verschiedenen
Buchenwald. Durch ihre Uniformen unterschieden sie Orten im Lagergelände war für die Gedenkstätte auch
sich von den übrigen Häftlingen des Konzentrations- ein Experiment. Nach einer Standzeit von über fünf
lagers. In der geheimen Untergrundorganisation des Monaten und einem regen Interesse bei den Besuchen-
Lagers spielten sie eine zentrale Rolle. den kann es als geglückt bezeichnet werden, da mit ihr
der historische Ort Buchenwald in seiner Bedeutungs-
Die dritte Station führte zum Tatort des größten plan- vielfalt neu nachvollzogen werden konnte. Weitere
mäßig betriebenen Massenmords in der Geschichte des Outdoor-Ausstellungen zu anderen Themen werden in
Konzentrationslagers Buchenwald: dem „Pferdestall“. den nächsten Sommern folgen.
Im Oktober 1941 richtete die SS dort eine Erschießungs-
anlage ein. Sie war eigens für die massenhafte Ermor-
Der Historiker Michael Löffelsender
dung sowjetischer Kriegsgefangener konzipiert worden, erarbeitete die Ausstellung gemeinsam mit
die von Gestapobeamten in Kriegsgefangenenlagern aus Julia Landau und Harry Stein.

rassistischen und ideologischen Gründen ausgesondert


worden waren. Unter Vortäuschung einer medizinischen

Der Überfall auf die Sowjetunion.


Eine Outdoor-Ausstellung in der
Gedenkstätte Buchenwald

Gedenkstätte Buchenwald
(22. Juni bis 30. November 2021)
Gestaltung und Produktion:
Schroeter und Berger, Berlin
Bau:
Tischlerei Rietschel, Weimar
Übersetzung:
EGLS Judith Rosenthal, Frankfurt am Main
Kirill Levinson, Moskau
Fotos: Katharina Brand
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Ein Lehrer im
Widerstand:
Michail Wassilewitsch Lewschenkow
(1914 – 2004)
VON JULIA LANDAU

Michail Lewschenkow, seine Frau und Kinder der Dorfschule Krutzy, 1934.

Mit dem Blick auf die Biographie und das Schicksal eines einzelnen Menschen entfaltet
sich Geschichte besonders eindrücklich – so auch am Beispiel des russischen Lehrers,
sowjetischen Soldaten und Buchenwald-Überlebenden Michail Lewschenkow, der als
Foto- und Technikenthusiast bereits vor dem Zweiten Weltkrieg seine Umgebung port-
rätierte und uns einzigartige fotografische Zeugnisse hinterließ. Nach seiner Befreiung
aus Buchenwald und der Rückkehr in seine durch den deutschen Überfall und beim
Rückzug der deutschen Armee zerstörte Heimat nahm Lewschenkow den Kontakt
zu anderen ehemaligen Häftlingen auf. Sein umfangreiches Archiv, den das militärhisto-
rische Freiluftmuseum bei Pskow im nordwestlichen Russland verwahrt, konnte das
1 Wir danken herzlich der ehema-
Archiv der Gedenkstätte Buchenwald nun in digitaler Form für die Forschung und
ligen wissenschaftlichen Volontärin historische Bildung erwerben.1
Elena Petuhova, die den Kontakt
für die Gedenkstätte vermittelte,
sowie der Bearbeiterin des Michail Wassilewitsch Lewschenkow wurde am 15. August 1914 in eine Bauernfamilie im
Nachlasses, Marina Michajlowna
Pachomenkowa, und dem
Dorf Zaretsche bei der Stadt Pskow geboren. Sein Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg
Direktor des Militärhistorischen in den Reihen der Zarenarmee. Mit neun Jahren wurde Michail im benachbarten Dorf
Freiluftmuseums Pskow, Pjotr
Michajlowitsch Grintschuk, für
eingeschult. Er konnte jedoch, da er zu Hause als Arbeitskraft gebraucht wurde, kaum
die Zusammenstellung und den Unterricht besuchen und eignete sich den Schulstoff weitgehend selbstständig an.
Überlassung eines digitalen
Teil-Nachlasses von Michail
Als Externer erreichte er nach sieben Klassen einen Schulabschluss. Es war die Zeit
Lewschenkow. nach der Gründung der Sowjetunion 1922. Die damit verbundenen Hoffnungen auf

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einen gesellschaftlichen Aufbruch nach Zarenherrschaft und Krieg, die Versprechen
von Fortschritt, Entwicklung und moderner Technik ebenso wie von Teilhabe und
Bildung erreichten auch das russische Dorf. Michail begeisterte sich für das sowjetische
Bildungsideal, ließ sich für die Alphabetisierungskampagne mobilisieren und brachte
den Erwachsenen im Dorf das Lesen und Schreiben bei. Im Jahr 1931, als Siebzehn-
jähriger, absolvierte er einen 8-monatigen Kurs in der Abteilung für Volksbildung in der
nahe gelegenen Kleinstadt Noworschew. In den folgenden drei Jahren arbeitete er
als Lehrer einer Dorfschule in Wetschno. Mit 21 Jahren wurde er bereits zum Direktor
einer kleinen Dorfschule in Krutzy ernannt, wo er bis zu seiner Einberufung in die sowje-
tische Armee im Jahr 1940 tätig war.

Aus den Bildern, die uns Michail Lewschenkow aus seiner Zeit als Direktor der Dorf-
schule überlieferte, spricht eine besondere Nähe und eine intensive Beziehung der
Lehrer:innen zu den Schüler:innen. Die wenigen Schüler:innen unterschiedlichen Alters
wirken skeptisch angesichts der neuen Foto-Technik, aber konzentriert und aufmerk-
sam. Viele Kinder bedurften in dieser Zeit der Fürsorge. Die repressive Politik der sowje-
tischen Regierung unter Stalin richtete sich in besonderem Maße gegen die Dörfer.
Die Bauern wurden gedrängt, in die kollektivierten Landwirtschaftsbetriebe einzutreten,
die Familien von Bauern, die als wohlhabend galten, wurden verfolgt. Viele flohen vom
Land in die Städte oder wurden zwangsweise umgesiedelt. Kinder trugen in dieser Zeit
des gesellschaftlichen Umbruchs, der forcierten Industrialisierung und Kollektivierung
häufig das meiste Leid, Familien wurden auseinandergerissen.

Es gibt keine Hinweise im vorliegenden Material, dass Michail Lewschenkow selbst


oder seine Familie von Repressalien betroffen waren. Privat scheinen die 1930er Jahre
für Michail Lewschenkow eine glückliche Zeit gewesen zu sein: Er lernte seine Frau
kennen, die gemeinsam mit ihm an der Dorfschule unterrichtete. Sie heirateten 1938,
ein Jahr später wurde ihre Tochter geboren. Lewschenkow schloss im Fernstudium
eine Fotokorrespondentenausbildung ab. Ausgestattet mit einem für die damaligen
Verhältnisse auf einem sowjetischen Dorf seltenen und sehr wertvollen Fotoapparat
dokumentierte er seinen Alltag und die technischen Neuentwicklungen dieser Zeit: den
ersten Radioempfänger, das erste Grammophon. Neben seiner praktischen Arbeit als
Lehrer und Direktor an der Dorfschule schloss er 1937 als externer Student die Lehrer-
ausbildung an der pädagogischen Hochschule in der Stadt Opotschka ab.

Das erste Grammophon im


Dorf Krutzy bei der Familie
Lewschenkow, Mai 1938.
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Michail Lewschenkow (links)


als Soldat, 1940.

1940 wurde Michail Lewschenkow zum Militärdienst eingezogen. Nach dem deutschen
Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geriet er bereits am 15. Juli 1941 bei
Minsk in Gefangenschaft. Von Beginn an verstieß die deutsche Wehrmacht vorsätzlich
gegen die Genfer Konvention des Völkerrechts im Umgang mit Kriegsgefangenen.
Die Umstände in den direkt hinter der Front eingerichteten Gefangenenlagern waren
entsetzlich: Die Gefangenen litten an Durst und Hunger, sie wurden auf dem nackten
Erdboden bei großer Hitze ohne jegliche Infrastruktur festgehalten, es gab keinen Ort
für die Notdurft. Viele starben. Von diesen provisorischen Durchgangslagern transpor-
tierte die Wehrmacht einen Teil der Gefangenen in Kriegsgefangenenlager („Stalag“)
im Reich. Lewschenkow wurde zunächst im Lager Bela-Podljaska in Polen festgehalten
und von dort in das Stalag 310 in Wietzendorf (Lüneburger Heide) gebracht.

Auch das Stalag in Wietzendorf wies noch nicht einmal eine rudimentäre Infrastruktur
auf: Die Gefangenen bauten sich einfachste Erdhütten, sie wurden kaum mit Wasser
und Nahrung versorgt. Am 18. Oktober 1941 wurde Lewschenkow mit 2.000 weiteren
Kriegsgefangenen in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert. Nach den
Vorstellungen Himmlers sollten sowjetische Kriegsgefangene in den Konzentrations-
lagern zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Für ihre Unterbringung wurden gesonderte
Bereiche mit Stacheldraht als Kriegsgefangenenlager abgezäunt – in Buchenwald
zunächst drei Baracken. Allerdings fand die geplante Zwangsarbeit zunächst nicht statt.
Stattdessen wurden die sowjetischen Häftlinge isoliert und ihre Verpflegung herabge-
setzt. Die kargen Rationen beschrieb Nikolai Simakow, ebenfalls als sowjetischer Kriegs-
gefangener seit dem 18. Oktober in Buchenwald, in seinen Erinnerungen wie folgt:
„Zum Frühstück gab es einen halben Liter dünne Suppe mit Holzspänen und einer Prise
Roggen. Mittags 300 g Ersatzbrot, das aus Holzspänen, Kartoffeln, 30 Prozent Roggen
und 20 g Margarine bestand. Abends, nach einem 14-stündigen Arbeitstag, erhielten
die Gefangenen 800 g Suppe aus Steckrüben. Die Ration war so bemessen, dass ein
Mensch einen langsamen Tod starb.“2 Bereits innerhalb eines halben Jahres war jeder
dritte sowjetische Kriegsgefangene in Buchenwald an Hunger oder Krankheit
gestorben.

Erst ab 1942 mussten die Kriegsgefangenen im Steinbruch oder beim Bau der Bahnlinie
Weimar-Buchenwald arbeiten. Die SS vermietete ihre Arbeitskraft auch an Firmen
der Umgebung, was nicht selten eine gewisse Verbesserung der Ernährung bedeutete.
2 G. Polivin (1959), Eto bylo v Lewschenkow war zur Zwangsarbeit im Steinbruch eingesetzt, er arbeitete auch
Buchenval´de [G. Polivin nach dem
Bericht von N. Simakov, Das war in
im Tischlereikommando und als Sanitäter. Nach den Erinnerungen sowjetischer
Buchenwald], Novosibirsk, S. 21. Häftlinge, die ab Ende der 1950er Jahre in der Sowjetunion erscheinen konnten,

116 / 117
war Lewschenkow auch als Pädagoge im Lager tätig: Er habe mit den Mitgefangenen
Gespräche über patriotisch-historische Themen geführt, wie über die Vertreibung der
französischen Armee aus Moskau und den Sieg des Zaren Alexander über Napoleon
1813.3 Ab 1943 begannen sowjetische Häftlinge, eine militärische Widerstandsorganisa-
tion im Lager aufzubauen. Lewschenkow beteiligte sich als Verantwortlicher für Agita-
tion und Propaganda. In Schulheften, die im Lager weiterverbreitet wurden, sammelte
er Informationen für eine selbstgefertigte Broschüre „Prawda Plennych“ (Prawda der
Gefangenen). Gemeinsam mit anderen Häftlingen organisierte er eine Schule für in-
haftierte sowjetische Kinder und Jugendliche, meist minderjährige Zwangsarbeiter,
die wegen Fluchtversuchen oder vermeintlichen Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin
in das in Buchenwald existierende Arbeitserziehungslager (AEL) eingewiesen worden
waren. Er brachte den Jugendlichen, die häufig vor ihrer gewaltsamen Verschleppung
nach Deutschland kaum eine Schule hatten besuchen können, Lesen und Schreiben
bei. Heimliche Konzerte, Schachturniere und ein Weihnachtsbaum halfen den Jugend-
lichen, den Lebenswillen zu erhalten.

Kurz vor der Befreiung Buchenwald, am 10. April 1945, war Lewschenkow in einer
Gruppe von 600 sowjetischen Kriegsgefangenen, die die SS auf einen Todesmarsch
schickte. Die Kriegsgefangenen wurden im Weimarer Bahnhof in Güterwaggons
gepfercht und in Richtung tschechische Grenze gebracht. Lewschenkow und einigen
anderen gelang es jedoch, von dem Transport zu fliehen und sich sowjetischen Ein-
heiten anzuschließen, die nach Prag vorrückten.4 Bis zu seiner Demobilisierung Ende
September 1945 diente Lewschenkow in den Reihen der Roten Armee, unter anderem
im besetzten Deutschland; er wurde schließlich als Lehrer in die Heimat entlassen,
auch da Pädagogen dort dringend benötigt wurden.

Im Juni 1945 schrieb er in einem Brief an seine Eltern: „Ich kann es selbst kaum 3 Polivin, S. 45.

glauben, dass ich noch lebe! Als ich im Konzentrationslager Buchenwald war, über das 4 Bericht Ju. Sapunov (1958), in:
Ihr sicher in der Iswestija vom 26.4.1945 gelesen habt, beschäftigte ich mich mit politi- M. Vilenskij, Vojna za koljučej
provolokoj, Moskau, S. 28.
scher Untergrund-Arbeit und wusste über das Herannahen unserer Front Bescheid. […]
Ich floh von dem Zug in der Tschechoslowakei, dort traf ich in der Partisaneneinheit 5 Brief M. Lewschenkow an
seine Eltern, 15.06.1945, NL
einen Flieger, der an den Kämpfen um unsere Ortschaft teilgenommen hatte. Lewschenkow, Archiv
Er teilte mir mit, dass unser Noworschew vollständig zerstört ist […].“5 Gedenkstätte Buchenwald.

Nach der Befreiung in einer


Militäreinheit der Roten Armee,
Mai 1945. (Lewschenkow in der
Mitte mit Mandoline)
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Über die Rückkehr in sein Heimatdorf hielt Lewschenkow


am 1. Dezember 1945 in seinem Tagebuch auf einem
Notizblock fest:
„Auf den alten Wegen. Am 1. Dezember 1945 kehrte
ich nach Hause zurück. Wie viel Freude und wieviel
Kummer.“6

Lewschenkows Heimatort war von den deutschen


Besatzern vollständig zerstört worden. Seine beiden
Brüder waren im Krieg gefallen, seine Frau 1942 an
Tuberkulose verstorben. Er fand den Rest seiner Familie
in einer selbstgebauten Erdhütte vor: seine Eltern,
die Frau seines Bruders und seine Tochter. Er arbeitete
wieder als Lehrer und leitete eine Schule im Dorf
Dubrowi. 1952 beendete er ein Abendstudium und wurde
Lehrer für Biologie und Chemie, 1954 stellvertretender
Schulleiter in der Stadt Noworschew. Er setzte sein
Abendstudium ausländischer Sprachen an der päda-
gogischen Hochschule fort, 1964 wurde er zum Fakul-
tätsleiter der pädagogischen Hochschule für berufliche
Schulen ernannt, vier Jahre später ging er krankheits-
bedingt in den Ruhestand.

Wie viele andere sowjetische Kriegsgefangene musste


auch Lewschenkow lange um Anerkennung ringen. In
der stalinistischen Sowjetunion waren Kriegsgefangene
dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, nicht tapfer genug
gekämpft zu haben und hatten Repressionen zu fürch-
ten. Der zwangsweise und völkerrechtswidrige Einsatz
der Kriegsgefangenen für die deutsche Rüstungsindust-
rie galt als Kollaboration mit dem Feind. Zudem wurde
es bereits als Verstoß gegen das sowjetische Kriegs-
recht angesehen, überhaupt in Gefangenschaft geraten
zu sein. Erst in der „Tauwetter“-Periode unter Chruscht-
schow erhielten die ehemaligen Kriegsgefangenen eine
eigene Sektion im Veteranenverband.

Nun konnten sie ihre Erinnerungen publizieren; sie


wurden auch über das Radio in der gesamten Sowjet-
union verbreitet. Ein Korrespondent der Lenfilm-Produk-
tion interviewte Lewschenkow 1958 für die Nachrich-
tensendung „Kinojournal“. Der kurze Beitrag proträtiert
Lewschenkow als ehemaligen Widerstandskämpfer in
seiner Vorbildfunktion als Biologie-Lehrer.7 Die öffentliche
Resonanz der Lager-Erinnerungen führte auch zu einer
gewissen Rehabilitierung ihrer Autoren, die nun wieder
in die Partei aufgenommen wurden oder sich dem Vete-
Tagebuch von M. Lewschenkow in einem
Notizbuch, Dezember 1945. ranenverband anschließen konnten. Dies war angesichts
der schlechten gesundheitlichen Verfassung der ehema-
ligen Häftlinge wichtig, da der Status des Veteranen auch
eine entsprechende medizinische Versorgung und die
Zuteilung von Sanatoriumsaufenthalten bedeutete. Im
Juni 1959 fand das erste allrussische Veteranentreffen

118 / 119
Lewschenkow auf dem Ersten
Allrussischen Veteranenkongress in
Moskau, Juni 1959. (Von links nach
rechts: Waleri Cheifez, Nikolai
Simakow, Michail Lewschenkow,
Nikolai Kjung)

der „Buchenwalder“ in Moskau statt, an dem auch Lewschenkow teilnahm. Zahlreiche


Fotografien halten diese wichtige Begegnung der ehemaligen Häftlinge fest. Rechts
neben Lewschenkow ist Nikolai Simakow zu sehen, einer der Köpfe der Widerstands-
organisation, der nach seiner Rückkehr nach Nowosibirsk mehrfach verhört und 1948
bis 1950 erneut inhaftiert war.

Bis zu seiner Verrentung aus gesundheitlichen Gründen im Jahr 1968 war Lewschen-
kow als Lehrer tätig. Er wurde 1985 mit einem Orden für seine Kriegsteilnahme ausge- 6 Tagebuch-Aufzeichnungen
M. Lewschenkow, 1.12.1945.
zeichnet und starb neunzigjährig im Jahr 2004. Sein umfangreiches Archiv übergab NL Lewschenkow, Archiv
er der Sammlung des militärhistorischen Museums Pskow. Neben zahlreichen persön- Gedenkstätte Buchenwald.

lichen und beruflichen Dokumenten enthält es Fotografien und Schriftwechsel, unter 7 https://www.net-film.ru/film-
anderem mit anderen ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald in der Sowjetunion und 71725/; Наш край № 29 (1958).
Киножурнал №71725, 1 часть,
der DDR. Die Buchenwald bezogenen Dokumente konnten nun als Scans für das хронометраж: 0:10:21, ценовая
Archiv erworben werden. категория G

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte


der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen
Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau-Dora.

Das ist der einzige Trost, den man noch hat:


an seine Menschen denken.
Otto Rosenberg
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Blog: Radsport und


das Konzentrationslager
Buchenwald
VON MICHAEL LÖFFELSENDER

Am 27. August 2021 passierte das Fahrerfeld der


Deutschland Tour den Ettersberg nahe der
Gedenkstätte Buchenwald und die Stadt Weimar.
Ursprünglich hatten die Veranstalter des mehr-
tägigen, internationalen Profi-Radrennens einen
Streckenverlauf durch die Gedenkstätte geplant.
Nach öffentlicher Kritik, unter anderem seitens der Weimar und die Deutschland-Rundfahrt 1937
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittel-
bau-Dora, wurde der Streckenverlauf geändert. 68 Radprofis starteten am 6. Juni 1937 zur ersten
Die Etappe über den Ettersberg war dennoch Etappe der Deutschland-Rundfahrt, dem Vorläufer der
Anlass, sich kritisch mit der Verflechtung des heutigen Deutschland-Tour. Nach einer sechsjährigen
Radsports mit der Geschichte des Konzentrations- Unterbrechung war es die erste Austragung des inter-
lagers Buchenwald auseinanderzusetzen – nationalen Radrennens in Nazideutschland. 12 Etappen
ein bislang vollkommen unbekanntes Terrain. führten quer durch das Deutsche Reich mit Start und
Ziel in Berlin.
Kurzfristig entstanden sechs kleinere Beiträge,
die einige Schlaglichter auf das Thema werfen. Die dritte Etappe am 8. Juni startete in Chemnitz
Über die Social-Media-Kanäle der Stiftung wurden und endete in Erfurt. Kurz vor dem Ziel passierte das
sie parallel zur Austragung der Tour veröffentlicht, Fahrerfeld Weimar. Die für seine Kulturstätten bekannte
um das Ereignis zumindest digital auch historisch Stadt war zu dieser Zeit als Landes- und sogenannte
zu begleiten. Andere Radsportblogs nahmen die Gauhauptstadt auch das Zentrum der NS-Bewegung in
Geschichten auf. Thüringen. Für den ersten Fahrer, der Weimar erreichte,
hatte der NS-Gauleiter Fritz Sauckel einen Ehrenpreis
Die Spurensuche führte unter anderem ins Weimar gestiftet. Reinhold Wendel aus Schweinfurt sicherte sich
des Jahres 1937, zur Tour des France im Jahre ihn. Rund fünf Wochen nach der umjubelten Durchfahrt
1921, in das radsportbegeisterte Belgien und auf der Deutschland-Fahrer erreichten 149 Männer den
den Gipfel des Col d’Aubisque in den französischen Ettersberg vor den Toren der Stadt. Es waren die ersten
Pyrenäen. Häftlinge des neu gegründeten Konzentrationslagers
Buchenwald.

120 / 121
Siegerehrung der Deutschland-
Rundfahrt am 20. Juni 1937 im
Olympiastadion Berlin.
Deutsche Illustrierte, 6. Juli 1937

Alfred Salomon (links) mit


seinem Vater, um 1930
Stadtarchiv Bochum/Erinnern
für die Zukunft Bochum e. V.

Radrennen unter falschem Namen

Bereits mit sechs Jahren trat Alfred Salomon (1919-2013) Beim Novemberpogrom 1938 entging der gelernte
in seiner Heimatstadt Bochum in den Radrennverein Fleischer nur knapp seiner Verhaftung. Er floh nach
Westfalia 1895 ein. Er stammte aus einer jüdischen Berlin, wo er bei Freunden unterkam und als angelernter
Familie und wurde ein begeisterter Radfahrer. Sein Onkel Elektriker arbeitete. Mit seiner Frau wurde er 1943
Moritz Lindau hatte maßgeblichen Anteil am Bau der nach Auschwitz deportiert. Er kam in das Lager Auschwitz-
Bochumer Radrennbahn. In der Gastwirtschaft seiner Monowitz, seine Frau ermordete die SS nach der
Eltern fanden viele lokale Sportvereine ein Zuhause. Ankunft. Mit der Räumung des Lagers wurde Alfred
Salomon im Januar 1945 in das KZ Buchenwald ver-
Mit Freunden nahm er an Radrennen teil – auf der schleppt. Von dort schickte die SS ihn in das Außen-
Straße und der Bahn. Als Preise erhielten sie Pokale oder lager Langenstein-Zwieberge. Nach der Befreiung kehrte
Schlauchreifen. Ab 1933 schlossen viele Vereine ihre er nach Bochum zurück. Er baute sich ein neues Leben
jüdischen Mitglieder aus. Alfred Salomons Vereinsfreunde auf und engagierte sich wieder für den örtlichen
standen jedoch zu ihm. Damit er weiter Rennen fahren Radsport.
konnte, startete er nun unter falschem Namen. Ab 1935
war dies jedoch nicht mehr möglich.
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Alfred Mottard und die Tour de France

Der 27. Juni 1920 war der Höhepunkt in der Radsport-


karriere des Belgiers Alfred Mottard (1892-1945). An
diesem Tag ging er als einer von 113 Fahrern in Paris an
den Start der 14. Tour de France. Die Rundfahrt fand für
ihn jedoch ein schnelles Ende. Bereits auf der ersten
Etappe, die über 380 Kilometer von Paris nach Le Havre
führte, stürzte er und musste aufgeben.

Alfred Mottard wurde 1892 in Jemelle bei Namur in eine


Arbeiterfamilie geboren. Seit früher Jugend trainierte
der Radsportbegeisterte mit seinem Bruder auf einer
nahegelegenen Radrennbahn. Über seine Karriere als
Radprofi ist wenig überliefert. In den 1920er-Jahren ging
er bei Rennen in Belgien und Luxemburg an den Start.
Seinen Lebensunterhalt verdiente der Familienvater mit
einem kleinen Fahrradgeschäft. Später arbeitete er als
Schweißer und Taxifahrer. Im Krieg geriet er in die Fänge
der Gestapo. Als politischer Gefangener wurde er in
verschiedenen Gefängnissen in Belgien inhaftiert.
Aus dem Fort Breendonk, dem zentralen Gefängnis
der Gestapo in Belgien, kam er mit einem Sammeltrans-
port im Mai 1944 in das KZ Buchenwald. Er wurde in
verschiedenen Arbeitskommandos eingesetzt. Im Januar
1945 überstellte ihn die SS in das KZ Mittelbau-Dora.
Dort starb er kurz darauf am 24. Januar 1945. Alfred
Mottard wurde 52 Jahre alt.
Alfred Mottard
La dernière heure,
16.8.1921

Ein Radprofi im Widerstand

Frans Hotag (1920-1945) stammte aus Stabroek bei


Antwerpen. Seit frühester Jugend war der Radsport Frans Hotag, ohne Datum
seine Leidenschaft. In zahlreichen Nachwuchswettbe- Heemkring Molengalm

werben machte er sich schon bald einen Namen in


seiner radsportbegeisterten belgischen Heimat. Der
Krieg ließ seinen Traum von einer Karriere als Radprofi
in weite Ferne rücken. Mit Glück entging er der Kriegs- Anfang 1944 verhaftete die Gestapo Frans Hotag.
gefangenschaft. Zwei Jahre nahm er an keinem Rennen Mit anderen hatte er eine Widerstandsgruppe gegen
mehr teil und arbeitete bei der Eisenbahngesellschaft. die deutschen Besatzer gebildet. Nach Wochen in einem
Erst 1942 kehrte er zurück in die Radsportszene. Ein Jahr Gefängnis in Antwerpen wurde er im Mai in das KZ
später bereits wurde er Berufsrennfahrer. Mit Erfolgen Buchenwald deportiert. Zur Zwangsarbeit schickte die
empfahl er sich. Unter anderem gewann er das bis heute SS ihn in das Außenlager Dora, später nach Ellrich. Den
ausgetragene Eintagesrennen Nationale Sluitingsprijs Bedingungen dort hielt er nicht stand. Mit 24 Jahren
Putte-Kapellen. Für 1944 nahm ihn das französische starb Frans Hotag am 6. Februar 1945 im KZ-Außenlager
Radteam Alcyon unter Vertrag. Doch seine Karriere fand Ellrich. In seiner Heimatstadt erinnert heute eine Straße
ein abruptes Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. an den jungen Radprofi und Widerstandskämpfer.

122 / 123
Totenzettel für André Dekeyser, Juni 1945 André Bach, ohne Datum
Nederlands Bidprentjes Archief Cyclo Club Béarnais

Ein hoffnungsvoller Nachwuchsfahrer Ein passionierter Radfahrer in der Résistance

„Radrennfahrer André Dekyser verstorben. Ein Opfer der Auf dem Gipfel des Col d’Aubisque, einem Bergpass in
Nazis“ – so die Schlagzeile in der Sportrubrik der Roode den französischen Pyrenäen, erinnert seit 1948 ein Denk-
Vaan, der Zeitung der kommunistischen Partei Belgiens, mal an André Bach. Generationen von Teilnehmern der
vom 15. Juni 1945. Fünf Wochen zuvor war André Tour de France passierten es seitdem. Doch wer war
Dekeyser (1922-1945) aus dem KZ Buchenwald in seine André Bach?
Heimatstadt Torhout in Westflandern zurückgekehrt.
André Bach (1888-1945) stammte aus Paris. Im Ersten
In der Radsportszene Belgiens galt er als ein hoffnungs- Weltkrieg wurde er schwer verwundet. Er verlor seinen
volles Talent. 1938 nahm er erstmals an Juniorenrad- linken Arm. Sport und insbesondere das Radfahren
rennen teil. Schon bald erschien er in den Siegerlisten. verliehen ihm neue Lebensfreude. 1936 zog der Familien-
Seit 1942 ging er als Nachwuchsfahrer für den Radsport- vater ins südfranzösische Pau. Dort arbeitete er als
verein W.S.C. Torhout an den Start. Ab Mitte 1943 Journalist und Redakteur. Dem Radsport blieb er nicht
jedoch tauchte sein Name in keiner Starterliste mehr auf. nur journalistisch treu. Regelmäßig erklomm er die Berg-
André Dekeyser wurde nach Deutschland verschleppt, pässe der Pyrenäen, insbesondere den Col d’Aubisque.
vermutlich als Zwangsarbeiter. Im Februar 1945 wies die Mit nur einem Arm war dies eine außerordentliche
Gestapo Dresden ihn als politischen Häftling in das KZ Leistung. Über Jahre amtierte er zudem als Präsident
Buchenwald ein. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits im Cyclo Club Béarnais, einem lokalen Radsportverein.
sehr schwach. Die folgenden Wochen bis zur Befreiung Seit Kriegsbeginn engagierte sich André Bach in der
verbrachte er im Kleinen Lager von Buchenwald, dem Résistance. Er schmuggelte Nachrichten und Kuriere
Elendsquartier des Lagers, in das die SS nicht mehr über die Grenze und half jüdischen Familien bei der
arbeitsfähige Häftlinge pferchte. Flucht in die Schweiz. 1943 wurde er verhaftet und im
Januar darauf in das KZ Buchenwald deportiert. Seine
Bei seiner Rückkehr nach Torhout wog er nur noch Befreiung erfolgte auf einem Todesmarsch im April 1945.
37 Kilogramm und kam sofort in ein Krankenhaus im Doch die Strapazen waren zu groß. Anfang Mai 1945
nahegelegenen Brügge. Von den Folgen der KZ-Haft starb André Bach auf dem Weg in seine Heimat.
erholte er sich jedoch nicht mehr. André Dekeyser starb
am 11. Juni 1945 im Alter von 23 Jahren. Er hinterließ Das Denkmal auf dem Col d’Aubisque entstand auf Initia-
eine Frau und eine Tochter. tive des Cyclo Club Béarnais. Bis heute treffen sich dort
jedes Jahr Radsportbegeisterte, um mit einer Gedenk-
fahrt an den ehemaligen Vereinspräsidenten zu erinnern.

Der Historiker Michael Löffelsender promovierte 2011


mit einer Studie zur Justiz im Zweiten Weltkrieg.
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Dr. Gotthard Martin


Gauger (1905 – 1941)
Eine Spurensuche in Buchenwald
80 Jahre nach seiner Ermordung
VON HARRY STEIN

Dr. Gotthard Martin Gauger,


geboren am 4. August 1905 in Elberfeld, stammte
aus einer protestantischen Pfarrersfamilie. Mit
28 Jahren war er zum Dr. jur. promoviert worden.
Mit 29 warf man ihn aus dem Staatsdienst; er wollte
den Eid auf Hitler nicht leisten. Vorübergehend stellte
ihn die Leitung der Bekennenden Kirche in Berlin an.
Martin Gauger, um 1936, Foto: Familie Gauger
Er half Verfolgten. Als überzeugter Pazifist konnte er
der Aufforderung, sich für den Kriegsdienst mustern
zu lassen, nicht Folge leisten. Er versuchte sich um- Anlässlich seines 80. Todestages wurde vom
zubringen und floh schließlich, kurz vor der Besetzung 10. bis zum 18. Juli 2021 in Weimar und Buchenwald
der Niederlande durch deutsche Truppen, über die an den evangelischen Kirchenjuristen in einer Reihe
niederländische Grenze. Bei der weiteren Flucht von Veranstaltungen gedacht, die von der Gedenk-
wurde er angeschossen und geriet in Gestapo-Haft. stätte Buchenwald, der Evangelisch-Lutherischen
Vor Gericht drohte ihm ein Todesurteil, doch das Kirchengemeinde Weimar und der Evangelischen
Regime, in Siegesstimmung, wollte offensichtlich Kirche in Mitteldeutschland in Kooperation mit der
keinen öffentlichen Prozess. Nach einem Jahr im Katholischen Pfarrgemeinde Weimar und der
Gefängnis Düsseldorf-Derendorf verlegte ihn die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen
Gestapo in das Konzentrationslager Buchenwald. organisiert wurde. Die Evangelische Kirche in
Nur einen Monat später, am 15. Juli 1941, wurde er in Deutschland erinnert Martin Gauger als einen der
der Tötungsanstalt Sonnenstein (Pirna) ermordet. Märtyrer des 20. Jahrhunderts.

124 / 125
I Carachoweg

Hier hielt am Nachmittag des 12. Juni 1941 ein Gefange-


nenwagen aus Weimar – zum zweiten Mal an diesem
Tag. 22 Männer mussten vor der „Politischen Abteilung“,
der Lager-Gestapo, antreten. Nach der Ankunft ihrer
Züge aus dem Rheinland und Sachsen hatte man sie
im Polizeigefängnis, 200 Meter vom Weimarer Haupt-
bahnhof entfernt, gesammelt: Zwei, die schon einmal
in Buchenwald waren; fünf Vorbestrafte, die im Lager
den grünen Winkel der „Berufsverbrecher“ tragen muss-
ten; ein Dresdner Jude, der eine Haft wegen „Rassen-
schande“ verbüßt hatte; vier politische Häftlinge und
zehn junge Polen. Die nun folgende „Aufnahme“ verlief
Wegweiser am Carachoweg. SS-Foto 1943
nach immer gleichem Muster, denn sie diente der Ab-
schreckung und nur nebenbei der Kontrolle der Perso-
nendaten. Ein ebenfalls im Sommer 1941 eintreffender bekreuzigten, bevor sie eintraten. Mit dem Gesicht zur
politischer Gefangener erinnert sich: „Die Wagentür Wand standen wir da und warteten auf unseren Aufruf.
wurde geöffnet. SS stand mit Maschinenpistolen bereit. […] Dann kam die Reihe an mich. Als ich die Tür geschlos-
Einer nach dem anderen sprang oder fiel aus dem sen hatte, sagte ich mein Sprüchlein her und wartete,
Wagen. Jeder drängte, um schnell herauszukommen. bis man mich rief. ‚Komm her, du Schwein!‘“1
Niemand wollte der letzte sein. Wir wurden aufgestellt,
gezählt und der Lager-SS übergeben. Dann wurden wir In den Aufnahmebogen des Häftlings Nummer 4953,
in eine Baracke geführt, vor der wir standen. Es war Martin Gauger, wurde die „Wehrdienstentziehung“ nicht
die Baracke der ‚Politischen Abteilung‘, die Baracke, genannt. Stattdessen hielt man fest: „nach Holland
vor der sich die frommen polnischen Häftlinge immer emigriert“.

II Block 10

Im Frühsommer 1941 befanden sich im Konzentrations-


lager Buchenwald 6.800 Häftlinge. Block 10, eine Holzba-
racke in der zweiten Barackenreihe, war Aufnahmeblock
Block 10
für „Zugänge“. Er bestand aus zwei Flügeln: der Abteilung
für die Neuankömmlinge und dem „Arbeitserziehungs-
lager“, das die Weimarer Gestapo dort im April 1941 einge-
richtet hatte. Die „Arbeitserziehungshäftlinge“ – im Lager
nannte man sie auch 56-Tage-Häftlinge – sollten binnen
Carachoweg
kurzer Zeit mit Gewalt demoralisiert und „umerzogen“
werden.

Block 10 war umzäunt, es gab keinen Kontakt zum übri-


gen Lager. „Zugänge“ blieben in der Regel vier Wochen
hier. In dieser Zeit waren sie dem Steinbruch zugeteilt,
dem härtesten Arbeitskommando. Martin Gauger musste
ab Montag, dem 16. Juni 1941, dort arbeiteten. Tags
zuvor schrieb er die erste Nachricht nach Hause: „Liebs-
te Mutter! Am vorigen Donnerstag, den 12., bin ich hier
eingetroffen. Es geht mir gesundheitlich gut. Anfragen
1 Finkelmeier, Conrad (1947): Die braune Apokalypse. an die Lagerleitung sind verboten und zwecklos. An Geld
Erlebnisbericht eines ehemaligen Redakteurs der Arbeiter-
presse aus der Zeit der Nazityrannei, Weimar, S. 67f.
können mir höchstens 30,- RM im Monat – durch Post-
anweisung gesandt werden. Dir, allen Geschwistern
2 Zitat in: Böhm, Boris (2018): „Recht muss doch Recht
bleiben!“ Die Verfolgung des Juristen Martin Gauger
und Bekannten, die sich meiner noch erinnern, die herz-
(1905-1941) im Nationalsozialismus, Dresden, S. 99. lichsten Grüße/ Dein dankbarer Sohn Martin“2
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

IV Steinbruch
Block 1

Die Steinbruchkolonne sammelte sich täglich unter


den Fenstern des Zellenbaus und zog mit Marschmusik
durch das Lagertor zum tausend Meter entfernten
Steinbruch. Der Häftling, der das Kommando führte,
Kapo Johann Herzog, war ein früherer Fremdenlegionär.
Er kollaborierte mit der SS und verschärfte in eigener
Initiative den Terror im Kommando. Im Bruch wurde Kalk-
stein abgebaut, der im Straßenbau Verwendung fand.
Die Zwangsarbeit war körperlich aufreibend, Häftlinge
mussten die mit Steinen beladenen Loren aus der Sohle
des Bruchs nach oben zur Straße schieben. Schon in der
ersten Woche im Steinbruch erlebte Martin Gauger,
Steinbruch
wofür dieser Ort außerdem berüchtigt war. Am frühen
Vormittag des 23. Juni 1941 wurde Horst Reichel,
23 Jahre alt, Musikschüler aus Breslau, im Steinbruch
„auf der Flucht erschossen“; zwei Wochen später, am
10. Juli 1941, Siegfried Jacobsohn, der einen Monat zuvor
III Block 1 mit Martin Gauger nach Buchenwald gekommen war.
In den Hitzetagen der ersten Julidekade 1941 starben
In Block 10 blieb Martin Gauger wahrscheinlich nur fünf Häftlinge an Hitzschlag. Martin Gauger musste sich,
wenige Tage, denn eine Woche nach seinem Eintreffen vermutlich im Rahmen einer Reihenuntersuchung auf
in Buchenwald erhielt er auf Anweisung der Gestapo Tuberkulose, in diesen Tagen im Krankenbau vorstellen,
den Buchstaben „K“ in den roten Winkel. Er war jetzt ein Röntgenbild wurde angefertigt.
K-Häftling und wurde bald darauf in Block 1 verlegt,
wo die SS diese Gruppe konzentrierte.

Seit Sommer 1940 ließ die „Politische Abteilung“ einzelne


Gefangene als „K-Häftlinge“ kennzeichnen. „K“ stand
für jede Form von Kriegssabotage, sei es aus politischen
oder kriminellen Motiven oder als spontane Reaktion auf
Zumutungen des Regimes. In der Lagersprache nannte
man die K-Winkel-Träger auch „Kriegsverbrecher“. Das
hatte Folgen: Die meisten gehörten zum Steinbruch-
kommando, mit wachsender Zahl wurden sie in einem
Block zusammengezogen; aus dieser Gruppe entstand
Mitte Juli 1941, die „K-Kompanie“, eine Abteilung der
Strafkompanie, die vom übrigen Lager isoliert und per-
manenten Schikanen ausgesetzt war.

Martin Gauger kam zu dieser Gruppe, als die Baracke der


K-Häftlinge noch nicht umzäunt war. Dadurch konnte er
in Kontakt mit anderen politischen Häftlingen treten.
Abends oder an Sonntagen traf er sich mit dem elf Jahre
jüngeren Alfred Leikam, vor der Haft Notariatsanwärter
und Anhänger der Bekennenden Kirche. Der Kontakt
ging wohl von Leikam aus, der als Schreiber im Häftlings-
krankenbau arbeitete und schon fast zwei Jahre im Lager
war. Sie tauschten sich über Glaubensfragen aus und
über den Zustand der deutschen Gesellschaft.
Steinbruch, April 1945. Foto: Alfred Stüber

126 / 127
V Häftlingskrankenbau, die „Alm“

Wegen ihrer in den Hang gebauten Lage mit dem nach


Norden ausgerichteten Giebel wurde die Mitte 1941
eröffnete Baracke für Tuberkulosekranke in Buchenwald
„Alm“ genannt. Diese Bezeichnung war nicht ohne
Sarkasmus, denn die „Alm“ war von Beginn an auch
ein Ort der Aussonderung und des Krankenmords. Seit
Beginn seiner Tätigkeit in Buchenwald hatte der von
der SS-Zentrale beauftragte SS-Offizier für den „Arbeits-
einsatz“ darauf gedrängt, die nicht mehr zur Arbeit taug-
lichen Häftlinge loszuwerden. Von „unproduktiven Juden“
und „Gesox“ war in diesem Zusammenhang die Rede.
Gebäude des Operationssaales II, links unten Eingang zum Wechselbad, April 1945.
Kranke und Schwache störten das Bild der SS von einer Foto: Alfred Stüber
möglichen wirtschaftlichen Effizienz der Lager. So kam
es 1941 zur Kontaktaufnahme mit dem Personal der
Krankenmord-Aktion „T4“ und schließlich zur Nutzung VI Häftlingskrankenbau, Wechselbad
der Mordstätten der „T4“ bei der Ermordung von Häft-
lingen. In den Konzentrationslagern lief sie unter der Bis Mitte 1941 gehörten zum Häftlingskrankenbau drei
Deckbezeichnung „Sonderbehandlung 14f13“. Baracken, eine vierte, die „Alm“, war gerade fertigge-
stellt. Im Kellergeschoss der Baracke 3, dem Wechselbad –
Gleichzeitig begann in der „Alm“ der Mord an Tuberkulo- heute durch archäologische Grabungen wieder freigelegt –
sekranken mittels Injektionen. Zahlreiche der Mitte Juli fanden Aufnahmeuntersuchungen und auch Selektionen
1941 aus dem Konzentrationslager Dachau eintreffenden statt. Hier fiel vermutlich schon am Tag der Ankunft
2.000 Häftlinge wurden so ausgesondert und, nament- von Martin Gauger eine Vorentscheidung – jeder Vierte
lich durch den SS-Arzt Dr. Hanns Eisele, ermordet. Nach aus seiner Gruppe, die sich am Nachmittag oder Abend
dem Überfall auf die Sowjetunion, der mit beispiellosen des 12. Juni 1941 zur Zugangsuntersuchung stellen
Massenmorden einher ging, kannte auch die Lager-SS musste, stand später auf der Todesliste des Transports
keine Grenzen mehr. nach Sonnenstein – aus dem Vormittags-„Zugang“
vom 12. Juni niemand.

Die genauen Umstände sind nicht mehr rekonstruierbar.


Nur das Tagebuch des Häftlingskrankenbaus stützt den
Verdacht. Es verzeichnet am 13. Juni 1941: „Transport-
untersuchungen: 200“3 – die Zusammenstellung der
zwei Transporte in die Tötungsanstalt Sonnenstein, die
vier Wochen später folgten. Die Selektion führte eine
Kommission externer, eigens dafür angereister Ärzte
durch: der Leiter der Tötungsanstalt Sonnenstein, Horst
Schumann, und sein Mitarbeiter Hans Bodo Gorgaß.
Mit Sicherheit waren sie am 13. Juni, wahrscheinlich
Wechselbad
schon am Nachmittag des 12., in Buchenwald. So fiel
die Zugangsuntersuchung des zweiten Transports vom
12. Juni, in dem sich Martin Gauger befand, mit ihrem
Die „Alm“
Erscheinen zusammen.

Die am 13. Juni 1941 erstellte Liste für die Mordstätte


Sonnenstein ist nicht erhalten geblieben. Sie wurde
offensichtlich im Laufe der folgenden vier Wochen noch
korrigiert. Einen Monat später, am 13. Juli 1941, nahm die
SS einen Transport mit 94 Personen, einen Tag später
3 Dienstbuch des Häftlingskrankenbaues vom 22. April 1941 einen Transport mit 93 Personen aus der Lagerstärke.
bis 15. Dezember 1941, Teilbestand 1.1.5.1., Individuelle
Unterlagen Männer Buchenwald, ITS Digital Archive,
Auf der ersten Liste stand der Name von Martin Gauger.
Arolsen Archives.
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Steinbruchkommando, angetreten unter den


Zellenfenstern am Lagertor, Herbst 1938.
Foto: International Court of Justice, The Hague

VII Lagertor

„Folgende Häftlinge sind morgen früh 3 Uhr am Haupttor Von da ab wussten wir mit Gewißheit, dass die Häftlinge
des Schutzhaftlagers transportfertig bereitzustellen:“4 getötet worden waren. Auf meine Frage sagte der SDG
Es folgen sieben Namen von Patienten des Häftlings- [Sanitätsdienstgrad] etwa sinngemäß: ‚Hoven kommt
krankenbaus, alle von der Liste des ersten Sonnenstein- gleich runter und wird dir das Nötigste sagen.‘ Kurz
Transportes. SS-Unterscharführer Gotthold Michael, darauf erschien auch der SS-Lagerarzt, und nachdem
ein enger Vertrauter des SS-Lagerkommandanten Karl er mich nochmals auf meine Verschwiegenheit verpflich-
Koch, der am 14. Juli 1941 diesen Befehl an den Kranken- tet und auf etwaige Folgen, wenn das, was gesprochen
bau schrieb, war offensichtlich für die Organisation der werde, in die Öffentlichkeit gerate, hingewiesen hatte,
geheim gehaltenen Transporte zuständig. Noch vor übergab er mir eine Liste der abtransportierten und
Anbruch des Tages trat am 15. Juli der Transport am getöteten Häftlinge und befahl mir, diese Häftlinge vom
Lagertor an. Wahrscheinlich wurden sie in Lastkraft- Revierbestand abzusetzen und die Karteikarten auszu-
wagen gepfercht und von hier nach Pirna-Sonnenstein sondern. Hoven bestätigte mir, daß die Häftlinge der
gebracht. Gleich nach der Ankunft dort wurden die beiden Transporte tot seien, und daß ich die amtlichen
94 Männer des ersten Transportes, und mit ihnen auch Totenpapiere fertigzumachen hätte. Auf meine Frage
Martin Gauger, in der Gaskammer der „T4“-Anstalt nach der Todesursache wurde mir gesagt, ich solle mir
Sonnenstein erstickt. irgend etwas aus dem medizinischen Wörterbuch aus-
suchen. Im Laufe der nächsten 8 bis 14 Tage war ich
Vom 18. bis 21. Juli (1. Transport) und vom 22. bis 26. Juli unter Aufsicht von SDG Wilhelm beschäftigt, nachträg-
(2. Transport) meldete die SS den Tod der 187 Menschen lich Krankengeschichten anzulegen, die zu dem angeb-
dem Standesamt Weimar II. Der ehemalige Schreiber lichen Tod des einzelnen Häftlings geführt haben ...“5
des Häftlingskrankenbaus, Rudolf Gottschalk, sagte Auch die Angehörigen von Martin Gauger erhielten
darüber aus: „Als die Transporte weggingen, wußten eine gefälschte Krankengeschichte. Es dauerte Jahre,
wir noch nicht, wohin die Häftlinge verbracht wurden. bis das Verbrechen aufgeklärt war.
Einige Tage später kam der Sanitätsdienstgrad Wilhelm
Der Historiker Harry Stein ist Kustos
mit den Effekten ins Revier und übergab mir in einigen für die Geschichte des KZ Buchenwald
Persilschachteln Zahnprothesen, Brillen, ferner Krücken. an der Gedenkstätte Buchenwald.

4 Befehl des SS-Unterscharführers Gotthold Michael an den Häftlings-


krankenbau, 14.7.1941, Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv
Weimar, KZuHafta Buchenwald, Nr. 9, Bl. 65.

5 Zitat in: Kogon, Eugen/Langbein, Hermann/Rückert, Adalbert u. a.


(Hrsg.) (1986): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas.
Eine Dokumentation, Frankfurt a. M., S. 72f.

128 / 129
Èva Fahidi-Pusztai während
ihrer Videobotschaft, 11.4.2021.
Foto: Darko Velazquez

Das Beste,
was ich unseren Enkelkindern wünschen kann, ist:
dass sie sich ein angstloses Leben schaffen können.
Éva Fahidi-Pusztai
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“

Der Chor der Staatskapelle Weimar singt das „Buchenwaldlied“ anlässlich des 76. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald, 11.4.2021.
Foto: Darko Velazquez
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Kennen Sie Peroutka?


Ein tschechischer Jahrhundertroman
über das Konzentrationslager Buchenwald
wird neu entdeckt.
VON RENE EMMENDÖRFFER UND FRANZ WAURIG

Literarische Performance „Wolke und Walzer“ im Deutschen Nationaltheater Weimar am 10. April 2021.
Foto: Darko Velazquez

Der Autor

Ferdinand Peroutka wurde am 6. Februar 1895 als Sohn


Vor fast 50 Jahren veröffentlichte Ferdinand einer Deutschen und eines Tschechen in Prag geboren.
Peroutka im Exil seinen Roman „Oblak a valčík“ Dort besuchte bis 1913 das Gymnasium.
(Wolke und Walzer) über die Zeit der national-
sozialistischen Besatzung in Prag. Dieses bisher in Während des Ersten Weltkrieges versteckte er sich
Deutschland nahezu unbekannte Werk erhielt im zunächst vor seiner Einberufung in den Alpen, letztend-
Rahmen des 76. Jahrestages der Befreiung des lich wurde er aufgrund von gesundheitlichen Problemen
Konzentrationslagers Buchenwald im April 2021 vom Wehrdienst entbunden.
mit einer szenischen Lesung seine Bühne im
„Deutschen Nationaltheater Weimar“. Zeit, Bereits in dieser Zeit arbeitete Peroutka als Journalist,
sich Autor und Werk zu nähern. größere Bekanntheit gewann er jedoch erst nach der
Gründung der Tschechoslowakei. 1919 übernahm er die
Peroutka, Ferdinand (2015): Wolke und Walzer, Leitung der unabhängigen Zeitung „Tribuna“ (Tribüne).
Berlin. Aus dem Tschechischen übersetzt von 1924 wurde er Chefredakteur des angesehenen Journals
Mira Sonnenschein. „Přítomnost“ (Gegenwart), das auch der erste Präsident
der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk unter-

130 / 131
Wenige Wochen nach seiner Befreiung verfasste er
eine kurze Zeugenaussage über die Situation im Konzen-
trationslager Buchenwald. Darüber hinaus begann er,
ein Tagebuch zu schreiben.

Nach der Rückkehr 1945 in die Heimat war Ferdinand


Peroutka für kurze Zeit Mitglied des tschechoslowaki-
schen Parlaments, der Nationalversammlung. Er arbeite-
te als Chefredakteur der demokratischen Tageszeitung
„Svobodné noviny“ (Freie Zeitung) und der Wochenzeit-
schrift „Dnešek“ (Heute). In seinen Leitartikeln und
Kolumnen zeigte er sich weiterhin als Gegner des Kommunis-
mus, weshalb er die Tschechoslowakei nach dem kom-
munistischen Putsch 1948 verlassen musste. Die nun
regierenden Kommunisten warfen ihm eine prodeutsche
Haltung vor und versuchten, ihn durch gefälschte Zitate
zu diskreditieren. In den folgenden Jahrzehnten wurde
er in der Tschechoslowakei und anderen sozialistischen
Ferdinand Peroutka in New York, 1951.
Památník národního písemnictví Praha Staaten zur persona non grata erklärt.

Zunächst im britischen Exil verließ Peroutka 1950 Europa


stützte. Für das demokratisch orientierte Blatt schrieben in Richtung Amerika. In den USA leitete er von 1951 bis
zahlreiche Autoren. Dazu zählten Außenminister Kamil 1961 die tschechische Abteilung von „Radio Free Europe“
Krofta, der Schriftsteller Karel Čapek und die Journalistin und war weiterhin schriftstellerisch tätig. Ferdinand
Milena Jesenská. Peroutka starb am 20. April 1978 in New York. Erst 1991
konnte seine Urne auf den Ehrenfriedhof Vyšehrad in
Mit den Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk und Prag umgebettet werden.
Edvard Beneš stand Ferdinand Peroutka nicht nur in
beruflichen, sondern auch freundschaftlichen Beziehun- Das Werk
gen. Zwischen 1924 und 1939 kommentierte er in der
Zeitung „Lidové noviny“ (Volkszeitung) die politische Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentra-
Lage im Land. In den 1930er Jahren zählte Peroutka zu tionslager Buchenwald fasste Peroutka den Entschluss,
den wichtigsten Intellektuellen der Tschechoslowakei. die Ereignisse der letzten Jahre literarisch zu verarbeiten.
1947 veröffentlichte er in der Tschechoslowakei den
Als solcher geriet Peroutka nach der deutschen Beset- dramatischen Text „Oblak a valčík“. In zwölf Bildern
zung ins Visier des Verfolgungsapparates. Während zeigte er darin ein Panorama der Jahre 1939 bis 1945
der Verhaftungsaktion „Albrecht I.“ im September 1939 auf. Die einzelnen Szenen des sich chronologisch ent-
wurde Peroutka über das Konzentrationslager Dachau wickelnden Stückes sind nur lose miteinander verbunden.
in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Nach Peroutka versuchte, möglichst viele Themen der jüngs-
der „Aktion Gitter“ vom Frühjahr 1939 war dies die ten Geschichte anzusprechen: den Einmarsch der
zweite große Verhaftungswelle im Protektorat Böhmen Besatzungstruppen und das (Über-)Leben in einem
und Mähren. Sie diente als präventive Maßnahme zur Konzentrationslager, die Stalingrader Schlacht und das
Schwächung des tschechischen Widerstandes und Ende des Krieges.
betraf Sozialdemokraten, Kommunisten, Intellektuelle,
deutsche Emigranten oder Juden. Das Theaterstück erlebte 1947 seine Premiere an den
Nationaltheatern in Prag und Bratislava. Nach dem
Im April 1943 wurde Peroutka in das Gefängnis Prag- kommunistischen Februarputsch 1948 verschwand es
Pankratz (Věznice Pankrác) überstellt. Er sollte die von den Spielplänen. Planungen, den Text auch im Deut-
Tätigkeit bei „Přítomnost“ wieder aufnehmen, jedoch schen Nationaltheater in Weimar zu inszenieren, wurden
das Blatt im Interesse der Nationalsozialisten ausrichten. verworfen. Im US-amerikanischen Exil baute Peroutka
Dieses Angebot schlug er aus und kam daraufhin im das Theaterstück schließlich zum Roman aus, der 1976 in
August 1944 zurück nach Buchenwald, wo er im April der tschechischsprachigen Exiledition „68 Publishers“
1945 befreit wurde. in Toronto publiziert wurde. In seiner Heimat konnte das
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Buch bis zum Niedergang des Regimes 1989 nicht er-


scheinen und wurde beschwiegen. Auch in der Biblio-
graphie fremdsprachiger Buchenwaldliteratur, von der
Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald 1986
veröffentlicht, finden sich keine Verweise auf Ferdinand
Peroutka und sein literarisches Schaffen.

Worum geht es im Roman?

Prag im Frühjahr 1939. Im Restaurant „Baroque“ treffen


sich die gehobenen Kreise zum Kartenspiel, während
sich vor den Türen die Katastrophe der deutschen Besat-
zung ankündigt. Im Mittelpunkt von Peroutkas Roman
steht die tschechische Tischgesellschaft um die Bankan-
gestellten Kraus und Novotný und den Arzt Dr. Pokorný.
Auf unterschiedliche Weise und zu verschiedenen Zeiten
werden die Protagonisten vom Terror des Besatzungs-
regimes erfasst. Während der eine durch seine Unter-
stützung des Widerstandes ins Gefängnis kommt, wird
der andere durch eine Namensverwechslung ins KZ
verschleppt. Jene, die Krieg und Lagerhaft überleben,
kehren zurück in der Hoffnung, das gewohnte Vergange-
ne anzutreffen. Doch das Vergangene scheint tot, fremd
und verlassen. Wie das Prager Restaurant „Baroque“,
in dessen Räumen den Rückkehrenden nur noch die
gestapelten Tische mit dem eingeritzten Namenszug des
Cover der deutschsprachigen Auflage
von „Wolke und Walzer“. vormals lebenslustigen Herrn Kraus an die alten Zeiten
Elfenbein-Verlag Berlin 2015 erinnern.

Peroutka benennt im Roman deutlich, aber nicht auf-


dringlich die Zwangslagen des mörderischen Systems,
in denen sich der:die Einzelne immer wieder befindet
und entscheiden muss. So zeichnet er u. a. das Dilemma,
dem ein Häftling ausgesetzt ist, der auf Druck der Lager-
SS einen anderen Häftling bestrafen soll. Er macht
dies schließlich aufgrund der eigenen Angst, obwohl er
sich der Verachtung seiner Mitgefangenen bewusst ist.
Die Häftlingsgesellschaft ist bei Peroutka keine heroi-
sche, homogene Gruppe. Er zeichnet das Bild einer
ausdifferenzierten Zwangsgemeinschaft – mit Privilegien
und Verrat, aber auch mit Zusammenhalt und Courage.
Doch Peroutka geht es nicht nur um die Gefangenen
und Leidenden. Er skizziert in seinem Roman ebenso die
Charaktere ihrer Peiniger – etwa des Gestapomitarbei-
ters Jänicke – nach. Während sich dieser in der Theater-
fassung in die Nachkriegszeit hinüberzuretten versucht,
endet sein Leben im Roman ähnlich qualvoll wie er es
selbst andere spüren ließ.

132 / 133
An vielen Stellen des Romans wird deutlich, dass sich
Peroutka bei der geschilderten Topographie des Lager-
ortes am Hauptlager des KZ Buchenwald orientierte,
auch wenn der Name im Gegensatz zum Schriftzug im
Tor – „Jedem das Seine“ – nicht genannt wird.

Über allem stehen die titelgebenden Elemente: Wolke


und Walzer. Die Wolken verdunkeln den Lauf der
Geschichte und reißen auf, nachdem US-amerikanische
Panzer das Lager befreiten. Der Walzer begleitet im
Radio den Auftakt des Krieges, ist auf den Appellplätzen,
bei Peinigungen und in den Träumen der Häftlinge
zugegen.

Seit 2015 liegt nun eine deutsche Übersetzung des


Romans mit Auszügen aus Peroutkas Tagebuchnotizen
von 1945 vor. Im gleichen Jahr wurde die Person
Peroutkas erneut zur Zielscheibe von Falschinformation
und Diffamierung. Der tschechische Präsident Miloš
Zeman bezichtigte ihn der Affinität gegenüber dem
Nationalsozialismus. Als Beweis diente ihm dafür ein –
wie sich schnell herausstellte – gefälschter Artikel
der Zeitschrift „Přítomnost“ mit dem Titel „Hitler je
gentleman“ (Hitler ist ein Gentleman) aus den 1930er
Jahren. Peroutkas Enkelin Terezie Kaslová ging dagegen
gerichtlich vor. Nach einem mehrjährigen Rechtsstreit
entschuldigte sich das tschechische Finanzministerium
im November 2021 bei ihr. Der Fall zeigt eindringlich, wie
versucht wird, aus der Fälschung historischer Dokumente
politisches Kapital zu schlagen. Ein besorgniserregender
Trend, dem es immer wieder entgegenzutreten gilt.

Der Historiker und Westslavist Franz Waurig ist wissenschaftlicher


Mitarbeiter für das Forschungsprojekt „Gedenken ohne Wissen?
Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungs-
kultur“ an der Gedenkstätte Buchenwald.

Der Historiker und Jiddist Rene Emmendörffer ist wissenschaftlicher


Volontär in der Kustodie zur Geschichte des sowjetischen
Speziallagers Nr. 2 an der Gedenkstätte Buchenwald.

Dafür gibt es keine Worte,


doch Worte müssen gefunden werden,
um die Realität wiederzugeben,
so wie sie gewesen ist.
Albert van Dijk
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
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„Dass die Erinnerung


an Buchenwald im Leben
der Völker wachgehalten
wird, sind wir allen
Opfern des Faschismus
schuldig.“
Günter Pappenheim
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“

Als 14-Jähriger, 1939

Günter Pappenheim (1925 – 2021)


übergab dem Archiv der Gedenkstätte Unterlagen
aus seiner Zeit als Vizepräsident des Internationalen
Buchenwaldkomitees und als Vorsitzender der
Lagerarbeitsgemeinschaft als Vorlass.
134 / 135
VON SABINE STEIN

Im Juli 1997 traf ich Günter Pappenheim zum ersten Mal direkt in der Gedenkstätte.
Auf einer Veranstaltung anlässlich der 60. Wiederkehr der Lagergründung sprach er
über seine Erlebnisse während der Haft in Buchenwald. Meine Aufgabe bestand darin,
das historische Umfeld der Lagergründung zu erläutern. Damals waren wir zwei Akteure
einer Veranstaltung – der ehemalige Häftling und die Historikerin, die sich mit Zurück-
haltung begegneten. Erst im Laufe der Jahre entstand eine engere Verbindung, wuchs
Vertrauen.

Im August 2015 beging Günter Pappenheim seinen 90. Geburtstag, zu dem auch
ich eingeladen war. Seine Kameraden der Lagerarbeitsgemeinschaft gratulierten ihm
mit einer Laudatio. Erst da erfuhr ich Details aus seinem langen Leben.

Geboren im August 1925 in der kleinen thüringischen Stadt Schmalkalden, wuchs er


in einer sozialdemokratischen Familie auf. Sein Vater Ludwig Pappenheim, Parteivorsit-
zender des SPD, Stadtrat und Leiter der „Volksstimme“ wurde bereits im März 1933
verhaftet und am 4. Februar 1934 im Lager Neusustrum ermordet. Die Mutter Frieda
blieb mit vier Kindern mittellos zurück. Da der Vater aus einer jüdischen Familie stamm-
te, erfuhr die Familie Pappenheim Ausgrenzung und antisemitische Beschimpfungen.
Es gelang, für Günter eine Lehrstelle als Schlosser in der Schmalkalder Werkzeugfabrik
„Gebrüder Heller“ zu bekommen. Hier fand er zusammen mit seinem Bruder Kurt
Anschluss an die dort beschäftigen Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeiter.
Einer von ihnen, der junge Flame Etienne de Belair gehörte bald zur Familie. Gemeinsam
hörten sie in der Wohnung Nachrichten von Radio London. Am 14. Juli 1943 spielte
Günter Pappenheim auf seiner Ziehharmonika für die französischen Arbeiter zu ihrem
Nationalfeiertag die „Marseillaise“. Eine Tat, die sein ganzes Leben verändern sollte.1

Er wurde denunziert und in das Suhler Polizeigefängnis gebracht – später in das Arbeits-
erziehungslager Römhild. Auf einer nicht ungefährlichen Radtour besuchten ihn dort
Kurt und Etienne de Belair. Mit „Schutzhaftlagerbefehl“ kam Günter Pappenheim im
Oktober 1943 als 18-Jähriger in das KZ Buchenwald.

In seiner, für den 75. Jahrestag der Befreiung vorbereiteten Rede, sprach er aus, was
entscheidend für sein Überleben war: „Ich, der wenig Erfahrene, neunzehnjährige
politische Häftling, wäre gnadenlos dem Mordterror der SS ausgeliefert gewesen,
hätten mir nicht erfahrene Kameraden beigestanden. Noch heute verneige ich mich
vor dem Sozialdemokraten Hermann Brill und dem Kommunisten Eduard Marschall, die
mich im Kleinen Lager ausfindig machten und dafür sorgten, dass ich in’s Hauptlager
kam. Ich verneige mich vor Hermann Schönherr und Walter Wolf, die mutig und un-
eigennützig solidarisch als Kapos das Leben von anderen Kameraden beschützten –
auch mein Leben. Und ich erinnere mich in Dankbarkeit an den Stubendienst im Block
45 Fritz Pollack, der für mich eine Schlafstelle fand.“ Und er erinnerte auch an das
Totengedenken auf dem Appellplatz vom 19. April 1945. „Wo sich heute die Gedenkplat-
te befindet, war ein schlichter hölzerner Obelisk errichtet und vor diesen traten block-
1 Das Hörstück „Die Marseillaise
weise die 21.000 Überlebenden an, um im Gedenken an die 51.000 Toten (später sollte als eine ‚staatsfeindliche Ein-
die Zahl auf 56.000 ergänzt werden) den Schwur zu leisten mit der Grundaussage: stellung‘“ ist zu finden unter:
https://www.buchenwald.de/
pl/1631
‚Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.
2 Buchenwalder Nachrichten,
Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.‘“2 Nr. 5, 20.4.1945: „Die endgültige
Zerschmetterung des Nazismus ist
unsere Losung. Der Aufbau einer
Diese Worte begleiteten Günter Pappenheim sein ganzes weiteres Leben, ihnen neuen Welt des Friedens und der
fühlte er sich als seinem Kompass verpflichtet. Freiheit ist unser Ideal.“
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Bereits 1946 engagierte er sich in der SED, war


später in der staatlichen Verwaltung der DDR und als
Parteifunktionär tätig, so zum Beispiel als Erster
Sekretär der SED-Kreisleitungen von Schmalkalden
und Luckenwalde und Vorsitzender des Rates des
Bezirkes Potsdam. Erst nach seinem Ruhestand im
Jahr 1990 widmete Günter Pappenheim seine Zeit
intensiv der Erinnerung an Buchenwald. Er machte
sie zu seinem Lebensinhalt – ab 2000 als Erster Vize-
präsident des Internationalen Buchenwaldkomitees
und von 2005 bis zu seinem Tod als Vorsitzender
der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald. Darüber
gibt der Teilnachlass sehr detailliert Auskunft. Unter-
lagen zu seiner beruflichen Tätigkeit in der DDR
finden sich nicht darin.

Im September 2018, zur Trauerfeier für seinen


27.1.2017: Günter Pappenheim wird
zum Kommandeur im Nationalorden der
Bruder Kurt in Schmalkalden, sprach er mich als
Ehrenlegion Frankreichs ernannt. Archivarin der Gedenkstätte an. Er bat um die baldige Übernahme der Unterlagen aus
seiner Zeit als Vertreter der verschiedenen Häftlingsorganisationen. Schon einen Monat
später trafen wir uns bei ihm in Zeuthen mit Gerhard Hoffmann, einem langjährigen
Mitglied der Lagerarbeitsgemeinschaft und engem Vertrauten, zu einer ersten Sichtung
der Materialien. Gerhard Hoffmann übernahm die Sortierung, gemeinsam mit Günter
Pappenheim. Bis Ende November 2018 hatten sie bereits ca. 800 Blatt Korrespondenz
geordnet. In dreizehn gemeinsamen Sitzungen sortierten beide das umfangreiche
Schriftgut und im Anschluss erfasste es Gerhard Hoffmann akribisch. Am 3. August
2019 erhielt das Archiv das vorläufige Findbuch. Zwei Monate später konnte ich bereits
große Teile des Vorlasses geordnet übernehmen.

Im Juli 2020 erfolgte die Unterzeichnung des Depositalvertrages zwischen Günter


Pappenheim und dem Archiv der Stiftung zum Vorlass. In einer Anlage bestimmte er
Gerhard Hoffmann als Person seines Vertrauens, die in Bezug der Nutzung inhaltlich
zu konsultieren ist. „Das betrifft insbesondere Material, dass sich zu meinen Lebzeiten
in meinem Besitz befindet, im Vorlass aber bereits erfasst ist.“

Kurz nach seiner Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Weimar verstarb Günter
Pappenheim am 31. März 2021 in Zeuthen. Gemäß seinem Wunsch übergab Gerhard
Hoffmann bis zum Juli 2021 die persönlichen Dokumente und Fotografien, die noch bei
Günter Pappenheim verblieben waren. Sie werden in seinen Nachlass eingegliedert.
Ich bin sehr froh, dass der „Buchenwald Nachlass“ von Günter Pappenheim Teil des
Archivs geworden ist. Nach seiner abschließenden Bearbeitung wird er zur Nutzung
zur Verfügung stehen. Eine Meldung zur Zentralen Datenbank Nachlässe (ZDN)
des Bundesarchivs wird erfolgen.

Die Historikerin Sabine Stein leitet das


Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.

136 / 137
Brief aus Buchenwald, 4.2.1945

Mit Etienne de Belair, 12.5.1943


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Sowjetische
Speziallager
im Kontext
Einblick in eine
Neuerscheinung
VON JULIA LANDAU

Das Cover des Bandes zeigt sowjetische Offiziere


und Wachmannschaften vor dem sowjetischen Klub Was genau waren eigentlich „sowjetische Speziallager“
in der Vorzone des Speziallagers Nr. 1 in Sachsen- und wie ordnen wir sie historisch ein? Zum Handwerk
hausen, November 1949. (Archiv Gedenkstätte und von Historikerinnen und Historikern gehört, vergangene
Museum Sachsenhausen) Sachverhalte in ihre jeweiligen historischen Kontexte zu
setzen und bei der Beurteilung komplexer Vergangenhei-
Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob sich die ten verschiedene Perspektiven einzunehmen. Bei diesen
sowjetischen Speziallager als Instrument von Beurteilungen sollen sie sich nicht von Vorannahmen
Herrschaftssicherung, als Arbeitskräfte-Reservoir oder Vorurteilen leiten lassen, sondern von den wissen-
für die Sowjetunion oder als Entnazifizierungsmaß- schaftlichen Kriterien der Quellenkritik. Der Sammelband
nahme charakterisieren lassen. Häufig verstellen „Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik.
Deutung und Interpretation der Speziallager deren Die sowjetischen Speziallager 1945–1950 im Kontext“,
eigentliche Geschichte. Der Sammelband will mit gemeinsam herausgegeben von den Gedenkstätten
zahlreichen Beiträgen aus unterschiedlichen Sachsenhausen und Buchenwald, setzt sich zum Ziel,
Perspektiven neues Licht auf ein seit nunmehr in einzelnen empirischen Studien neue Impulse zur
30 Jahren historisch bearbeitetes und unterschied- Speziallagergeschichte zu vermitteln. Er vereint selbst
lich eingeordnetes Thema werfen. verschiedene Perspektiven, möchte die Wahrnehmung
des Themas Speziallager erweitern und zu weiteren
Forschungen und Debatten anregen.

138 / 139
Die Kontexte, in die die Geschichte der sowjetischen Gestapo Potsdam im Speziallager Sachsenhausen inhaf-
Speziallager einzuordnen ist, geben auch die Gliederung tiert waren, welche Tätigkeiten sie vor 1945 ausgeübt
des Sammelbandes in drei Teile vor: Das Kriegsende und hatten und wie der sowjetische Geheimdienst mit dieser
die Internierungs- und Verurteilungspraxis in Ost und Gruppe umging: ob er sie vor Gericht stellte oder ohne
West (1), der Kontext des Stalinismus in der Sowjetunion weitere Untersuchungen aus dem Lager entließ. Andreas
nach dem Zweiten Weltkrieg (2) und die Aufarbeitung Weigelt stellt synthetisierend die von ihm untersuchten
der Speziallager-Geschichte im politischen Diskurs der Todesurteile sowjetischer Militärtribunale vor und ordnet
1950er, 1990er Jahre und heute (3). sie entlang der verhandelten Deliktgruppen ein. Dabei
geht er auch auf die engeren Zusammenhänge zwischen
1 Das Kriegsende und die Internierungs- und Internierung im Speziallager und der Verurteilung durch
Verurteilungspraxis in Ost und West sowjetische Militärtribunale ein.

Der Aufbau des Bandes folgt der historischen Chrono- 2 Speziallager im Kontext des Stalinismus in
logie. Zunächst nimmt Jost Dülffer, emeritierter Professor der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg
für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität
Köln, überblicksartig die Situation in Europa nach dem Im zweiten Teil des Sammelbandes werden die Spezial-
Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blick. Alle vier lager im Kontext der sowjetischen Lagerpolitik nach
Besatzungsmächte hatten zunächst ähnliche Probleme Kriegsende diskutiert. In einer biographischen Studie
und sahen sich angesichts der Zerstörungen in Folge des stellt Nikita Petrov, Experte für das Personal des sowjeti-
von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs mit schen Innenministeriums und der Geheimdienste, den
enormen Herausforderungen konfrontiert: Millionen Hauptverantwortlichen für die Speziallager in der sow-
Obdachlose und Flüchtlinge, darunter die befreiten jetischen Besatzungszone, den NKWD-Beauftragten und
ehemaligen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen, stellvertretenden Innenminister Ivan A. Serov, vor. Galina
Versorgungsprobleme und das damit verbundene Nahen Ivanova, wissenschaftliche Leiterin des Gulag-Museums
einer gesamteuropäischen Hungersnot. Auch bei der Moskau, ordnet das Speziallagersystem in das größere
Internierungspolitik, die zunächst unter anderem der System sowjetischer Lager nach dem Zweiten Weltkrieg
sicherheitspolitischen Prävention und – im weiten ein. Dabei betont sie den Wandel des Lagersystems in
Verständnis des Begriffs – der Entnazifizierung dienen der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, als es
sollte, verfolgten die Besatzungsmächte zunächst über- zunehmend eine wichtige ökonomische Rolle spielte.
einstimmende Ziele. In der Durchführung unterschied Zwischen 1945 und 1950, insbesondere nach 1947/48,
sich ihre Praxis jedoch sehr deutlich, wie der australische stiegen die Häftlingszahlen von 1,5 auf 2,5 Millionen
Historiker Andrew Beattie in seiner Einführung in die Menschen an. Nachdem sich die Vereinten Nationen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der alliierten Inter- für die Abschaffung der Zwangsarbeit eingesetzt und
nierungspolitik nach 1945 zeigt. Andrea Genest stellt Untersuchungskommissionen in der Sowjetunion gefor-
in ihrem Beitrag die Besonderheiten der britischen Inter- dert hatten, reagierte die sowjetische Regierung mit
nierungspraxis heraus. Die Beiträge von Natalia Jeske einer Verschärfung der Haftbedingungen für politische
und Julia Landau befassen sich mit regionalen Beispielen Häftlinge. Gleichzeitig machte sie auch begrenzte Zu-
und untersuchen das Vorgehen der sowjetischen geständnisse, die zu Entlassungen führten. Auf Wider-
Geheimdienste bei Verhaftungen in Neubrandenburg sprüche der sowjetischen Politik in Bezug auf die Spezial-
bzw. in Altenburg. Weitere Beiträge im ersten Teil lager in Deutschland macht Jörg Morré aufmerksam,
nehmen bislang unbekannte Aspekte in den Fokus: der genauer auf die Problematik der Entlassungen 1948
So untersucht Enrico Heitzer die Auslieferung von etwa eingeht. Dabei diskutiert er die ebenfalls 1948 vollzogene
400 mutmaßlichen NS- und Kriegsverbrechern aus der Eingliederung der Speziallager in das übergeordnete
britischen in die sowjetische Gefangenschaft im Jahr sowjetische Gulag-System. Er kommt zu dem Schluss,
1946. Diese Personen waren aufgrund in Norwegen Speziallager seien dem Gulag-System letztlich nur nomi-
verübter Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen nell untergeordnet worden, da es sich bei letzterem um
von der britischen War Crimes Investigation Branch an ein nach grundsätzlich anderen Prinzipien funktionieren-
die sowjetischen Behörden ausgeliefert worden. Sie des System handelte: Die Arbeitsfähigkeit der Häftlinge
wurden im Speziallager Sachsenhausen gesondert wie auch die Planbarkeit von deren Arbeitskraft, die sich
untergebracht und zum Teil später von sowjetischen nach der Länge der Strafen bemaß, waren hier entschei-
Militärgerichten verurteilt. Sjoma Liederwald geht dend. Ausgehend von diesen Voraussetzungen waren die
im darauffolgenden Artikel in einer Stichprobenunter- Speziallagerhäftlinge – bis auf Ausnahmen, zu denen
suchung der Frage nach, welche Angehörigen der beispielsweise der Transport von über 1.000 Lager-
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insassen im Februar 1947 aus Buchenwald nach Kara- festzustellen sind, zeigt Andrew Beattie in einem Rück-
ganda zählte – für das späte Gulag-System nicht blick. Die zeitgenössische Debatte um Speziallager führte
einsetzbar: Sie waren zum größeren Teil nicht verurteilt, jedoch auch zu einer Ergänzung im Grundgesetz, wie der
und ihr Alter wie auch ihre körperliche Konstitution Jurist Kai Cornelius anhand des westdeutschen Prozes-
erlaubten keine Arbeitseinsätze unter schwierigsten ses der Verfassungsgebung zeigen kann: Anhand der
Bedingungen in den Lagern der Sowjetunion. Die völlig Beispiele von Speziallager-Internierten und der Ent-
unzureichende Ernährung und Versorgung in den Spe- führungen aus West-Berlin durch sowjetische Geheim-
ziallagern nehmen Julia Landau und Anne Kolouschek dienste wurde ein subjektives Grundrecht auf Kontakt-
schließlich aus verschiedenen Perspektiven in den Blick: aufnahme zu Angehörigen im Grundgesetz etabliert.
Julia Landau untersucht die katastrophale Unterversor-
gung in den Lagern mit Lebensmitteln um die Jahres- Der Sammelband geht in seinem Kern auf eine Konfe-
wende 1946/47, Anne Kolouschek setzt sich aus medi- renz zur Speziallagergeschichte 2015 in Weimar zurück,
zinischer Perspektive mit der mangelhaften medizini- organisiert von den Gedenkstätten Sachsenhausen
schen Versorgung im Lager auseinander und geht dabei und Buchenwald. Den Band beschließt die damalige
auch auf Biographien des medizinischen Personals am Abschlussdiskussion, moderiert von Prof. Jörg
Beispiel des Speziallagers Mühlberg ein. Ganzenmüller, mit Beiträgen von Prof. Dr. Volkhard
Knigge, Prof. Dr. Günter Morsch, Prof. Dr. Bonwetsch (Ɨ),
3 Speziallager im politischen Diskurs der 1950er, Prof. Dr. Sergej Mironenko und Prof. Dr. Andrew Beattie.
1990er Jahre und heute Dabei plädiert etwa Günter Morsch dafür, die „For-
schungsergebnisse und -defizite der Speziallager-
Im dritten Teil des Bandes geht es um die wechselvolle Forschung konkret [zu benennen] und gemeinsam
Nachgeschichte der Speziallager. Die Debatte um die [zu diskutieren].“ Volkhard Knigge verweist auf die
Deutung der Speziallager stand früh im Schatten des „spezifischen Bildungsgehalte der Speziallagergeschich-
Kalten Krieges. So wurde in den 1950er Jahren mit dem te“: „Etwa, dass im Fall dieser Lager die Kategorie einer
Begriff „rote Konzentrationslager“ das sowjetische gerechten Bestrafung der vorausgegangenen national-
Unrecht in den Kategorien der NS-Zeit angeprangert sozialistischen Gewalt und Verbrechen stalinistisch
und damit die NS-Verbrechen und die Verantwortung beschädigt und ad absurdum geführt wurde, dass
der deutschen Gesellschaft in den Hintergrund gerückt. niemand das Recht hat, Menschen verschwinden zu
Bis heute überlagert häufig die Deutung der Lager deren lassen, oder dass Unrecht sich durch Unrecht nicht aus
eigentliche Geschichte. Die Debatten dienen zum Teil der Welt schaffen lässt.“ Sergej Mironenko, wissen-
ganz anderen Zielen als der historischen Erkenntnis. schaftlicher Direktor des Russischen Staatsarchivs,
Am Beispiel des Schauspielers Heinrich George, inhaftiert verweist in seinem Abschlussplädoyer auf den Historiker
im Speziallager Sachsenhausen, zeigt Norman Warne- M. N. Pokrovskij, der Geschichtsschreibung als Politik
münde wie stark dessen Bild von der unkritischen Sicht bezeichnet hatte, die in die Vergangenheit zurückgewor-
seiner Nachkommen dominiert wird. Wie Wolfram von fen werde. Aufgabe der Historiker:innen sei es, „solchen
Scheliha an zahlreichen Beispielen bis in die Gegenwart Vorstellungen zu widerstehen und sich auf Fakten zu
darlegt, wird die Geschichte sowjetischer Speziallager stützen, zu versuchen, die historische Wahrheit zu
in geschichtsrevisionistischen Diskursen häufig instru- finden“. Man müsse die Prozesse „in ihrer Kompliziert-
mentalisiert, wenn es darum geht, NS-Verbrechen zu heit erklären [und könne sie nicht] vereinfachend darstel-
relativieren oder sogar zu leugnen. Dass die Debatte um len“. Dies wird weiterhin gleichermaßen Aufgabe und
Speziallager inzwischen selbst zu historisieren ist und Herausforderung für die Forschung und Didaktik zu
welche „beharrlichen Tendenzen“ dabei immer wieder sowjetischen Speziallagern nach Kriegsende bleiben.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte


der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen
Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau-Dora.

140 / 141
Neue Fragestellungen –
neue Formen
der Vermittlung
Das Online-Seminar
„Infektionskrankheiten in Vergangenheit
und Gegenwart“
VON TIMO GALKI

Im März 2020 musste die Gedenkstätte Buchenwald ihre pädagogischen Präsenzver-


anstaltungen Schritt für Schritt herunterfahren und schließlich vollends einstellen.
Rasch gab es in der Bildungsabteilung Überlegungen, wie wir unserem Bildungsauftrag
weiterhin gerecht werden konnten. Während der Faktor des historischen Ortes schwer-
lich ins Digitale zu übertragen war, wollten wir zumindest bei unseren pädagogischen
und inhaltlichen Zielen keine Abstriche machen. Die Teilnehmenden unserer Programme
sollen, egal ob analog oder digital, dabei unterstützt werden, sich Wissen über den
Nationalsozialismus anzueignen und ein kritisches, selbstreflexives Geschichtsbewusst-
sein zu bilden. Geschichte ist dabei immer auch Perspektive, verbunden mit gegen-
warts- und zukunftsbezogenen Fragen. Oder wie Walter Benjamin es im Angesicht der
Katastrophe ausdrückte: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen
‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie
sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“1 Wenn wir über Buchenwald ins Gespräch
kommen, dann schlagen wir Brücken. Fragen und Antworten weisen wie die histori-
schen Zusammenhänge selbst stets über den Ort und dessen Überreste hinaus, zeit-
lich, räumlich und gesellschaftlich. Neue Fragestellungen ermöglichen neue Erkennt-
nisse. Im Zuge der Corona-Krise ergaben sich zahlreiche neue Fragestellungen, die
nun auch neuer Formen der Vermittlung bedurften.

Krise und Pandemie als


Ausgangspunkte

Im Zentrum unserer Konzeptionen und Programme stehen unsere meist jungen Teil-
nehmenden. Deren Interessen, Sorgen und Vorkenntnisse prägen ihre Auseinander-
setzung mit Geschichte. Ein bestimmender Faktor ist gegenwärtig die Pandemie.
Zahlreiche politische Auseinandersetzungen, soziale Spannungen und ökonomische
Konstellationen traten mit dieser in Wechselwirkungen, riefen Unsicherheiten, Irritatio-
nen und Ohnmachtsgefühle hervor. Für uns stand die Frage im Mittelpunkt, wie wir
als Bildungsabteilung in dieser Situation Orientierung durch Wissen anbieten konnten.
Mittels neu entwickelter Programme wollten wir Pandemie und Gesellschaft in ein 1 Walter Benjamin: Geschichts-
historisches Verhältnis setzen, ohne unsere inhaltlichen Schwerpunkte zu vernachlässi- philosophische Thesen (2019), in:
Zur Kritik der Gewalt und andere
gen. Ausgehend von der krisenhaften Konstellation begannen wir, gesellschaftliche Aufsätze, 15. Aufl., Frankfurt am
Problemlagen zu analysieren und mit historischen Fragestellungen zu verknüpfen. Main, S. 78–94, hier S. 81.
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Relativierung des National-


sozialismus durch Teilnehmer
einer Kundgebung der Partei
dieBASIS in Jena; 20.11.2021.
Foto: Timo Galki

Antisemitismus und
Geschichtsverfälschung

Augenfällig war der sich ausweitende Bezug auf antisemitische Narrative: die Neuerfin-
dung der Ritualmordlegende im Zuge der QAanon-Bewegung, der Rückgriff auf eine
angebliche Weltverschwörung über die Legende eines „Great Reset“, die Anlehnungen
an mittelalterliche Legenden von Brunnenvergiftungen zu Zeiten der Pestwellen und
eine wachsende okkult-esoterische Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die an
Deutungen einer als jüdisch markierten Schulmedizin erinnerte. Es gab zahlreiche histo-
risch unhaltbare und den Nationalsozialismus relativierende Gleichsetzungen zwischen
diesem und den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Das Ermächtigungsgesetz
von 1933, die Ausgrenzungen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland und
selbst der Zivilisationsbruch der Shoa wurden zu Chiffren für pandemiebedingte Ver-
haltensregeln herabgesetzt, mit denen man nicht einverstanden ist.

Diese Herabsetzung geschah häufig durch Personen und Gruppen, bei denen ein zwei-
felndes bis ablehnendes Verhältnis zu demokratischen Errungenschaften erkennbar
ist und ein politisches Interesse daran besteht, Nationalsozialismus wie Vernichtungs-
antisemitismus zu bagatellisieren sowie sich selbst als Opfer von Ausgrenzung und
Spaltung zu inszenieren.

142 / 143
Irrationale Revolte und
reale Krise

Bei den Hygiene-Demos formierte sich eine Revolte, deren Kern auch ein Unvermögen
ist, die Krise kritisch zu deuten. Tatsächliche Problemlagen wurden kaum erkannt
und sich mit den Hintergründen eigener Ohnmacht nicht näher auseinandergesetzt.
Stattdessen wurde dieser mit autoritären Bestrafungsfantasien gegenüber vermeintlich
Schuldigen sowie Repräsentant:innen von Staat und Gesundheitswesen begegnet und
die Aggression gegen das konstruierte Fremde gerichtet. Während demokratische
Institutionen als bevormundend abgelehnt wurden, unterwarf man sich Symbolfiguren
der Szene bereitwillig. Und während wissenschaftliche Erkenntnisse als Lügen abgetan
wurden, schien die Bereitschaft, dem vermeintlichen Wissen der eigenen Autoritäten zu
glauben, keine Grenzen zu kennen – Phänomene, die historisch nicht unbekannt sind.2

Doch es brauchte nicht erst den Blick in diese Zusammenhänge, um Gefahren für
individuelle Menschenwürde und demokratische Errungenschaften auszumachen.
Das Recht auf Leben und dessen Stellung in unserer Gesellschaft wurden bereits
wenige Wochen nach Beginn der Pandemie verhandelbar und abgewogen nicht nur
im Verhältnis zu anderen Grundrechten, sondern auch zu ökonomischen Bilanzen.
Während die Todeszahlen stiegen, wurden breite wirtschaftliche Bereiche weiterhin
von Beschränkungen ausgenommen. Die Frage, welche Leben im Ernstfall mehr und
welche weniger schützenswert seien, wurde öffentlich gestellt und Fachstellen erarbei-
teten besorgniserregende Kategorien zu Ressourcenzuteilungen in der Notfall- und
Intensivmedizin3. Ungleichheiten, Antagonismen und Ausgrenzungen, allerdings in einem
anderen Sinne als durch Querdenker:innen oder die radikale Rechte öffentlichkeitswirk-
sam propagiert, sind bei der Auseinandersetzung mit der Krise unweigerlich erkennbar.
Sie trafen und treffen nicht alle Menschen gleich, weder als Pandemie noch in Form
gesellschaftlicher Auswirkungen. Ökonomisch benachteiligte Menschen und viele
Berufsgruppen, zuvorderst in der Medizin, in eher weiblich besetzten Care-Berufen und
in denjenigen Wirtschaftszweigen, in denen Rassifizierungstendenzen stärker wirken,
sind besonders betroffen. Von Beginn an gab es eine mindestens implizite Ausgrenzung
von Menschen, die als Angehörige von Risikogruppen bezeichnet wurden und sich in
einen stetigen individuellen Lockdown begeben mussten. Dazu war die Pandemie rasch
begleitet durch rassistische und nationalistische Zuschreibungen. Solche fanden sich
nicht nur in Form von Übergriffen infolge pandemiebezogener rassistischer Markierun-
gen.4 Auch in politischen Stellungnahmen und staatlichem Handeln schlugen sie sich
nieder. In der ersten Welle kam es zur polizeilichen Abriegelung von Geflüchtetenunter-
künften und von Wohnblocks in ärmeren und migrantisch geprägten Vierteln. National-
staatliche Grenzen wurden zu Infektionsgrenzen stilisiert und die Bilder aus den nicht 2 Vgl. Rensmann, Lars (2020): Die
Rückkehr der falschen Propheten.
evakuierten europäischen Flüchtlingslagern standen und stehen in frappierendem Leo Löwenthals Beitrag zur kriti-
Gegensatz sowohl zu den humanitären Ansprüchen europäischer Gesellschaften als schen Theorie des autoritären
Populismus der Gegenwart, in:
auch zu den in ihnen umgesetzten Infektionsschutzmaßnahmen. Katrin Henkelmann u.a. (Hrsg.):
Konformistische Rebellen. Zur
Aktualität des autoritären Charak-
Ausgestaltung des ters, Berlin, S. 21–51, hier S.25.
Online-Seminars
3 Vgl. Deutsche Interdisziplinäre
Vereinigung für Intensiv- und
Mit solchen Beobachtungen waren wir konfrontiert, als wir an der Entwicklung unserer Notfallmedizin: Entscheidungen
über die Zuteilung von Ressourcen
Online-Angebote saßen – und machten sie nach längerem Abwägen zum Gegenstand in der Notfall- und Intensivmedizin
unserer Programmentwicklungen. Wir lasen uns ein in die Geschichte von Pandemien, im Kontext der COVID-19-
Pandemie, 25.03.2020.
Krisen, Gesellschaftsentwicklungen und deren Wechselwirkungen. Dabei waren wir uns
der Gefahr unzulässiger Gleichsetzungen und einfacher Antworten stets gewahr. Umso 4 Kampagnen und Netzwerke
intervenierten unter dem
bedachter arbeiteten wir historische Fakten, Kontinuitäten und Differenzen heraus, Schlagwort ‚Ich bin kein Virus‘:
setzten dabei den Nationalsozialismus als unser Kernthema durch Fragestellungen in https://www.ichbinkeinvirus.org/
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Der rechtsfreie Raum eines KZ bot


Pharmafirmen und medizinischen
Instituten neue Möglichkeiten für ihre
Forschungen. Gemeinsam mit der SS
führten sie in Buchenwald Menschen-
versuche zur Wirksamkeit von Impfstoffen
gegen Fleckfieber durch. Häftlinge
starben einen qualvollen Tod.
Sammlung Gedenkstätte Buchenwald

Beziehung zu anderen Epochen und gewichteten die Themen anhand der thematischen
Schwerpunkte der Bildungsabteilung. So entwickelten wir ein Seminar zum Thema
Infektionskrankheiten und Gesellschaften, das von der Gegenwart ausgehend einen
weiten Bogen in die Geschichte schlägt. Anhand eines Zeitstrahls vermitteln wir histo-
risches Wissen über den Umgang mit Infektionskrankheiten und den jeweils damit
verknüpften gesellschaftlichen Phänomenen. Damit versuchen wir Sensibilität für die
historische Bedingtheit von Seuchendiskursen und Bewusstsein über das Zusammen-
spiel von Krisenerfahrungen, Herrschaft und Ausgrenzung anzuregen. Auseinander-
setzung mit der Gegenwart und Einblicke in die Geschichte von Pandemien bilden so
die Basis, auf der eine themenbezogene Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer
Ideologie, Politik und Gesellschaftsformation stattfinden kann.

Seuchendiskurse und Besatzungspolitik


im Nationalsozialismus

Den Nationalsozialisten waren Antisemitismus und Rassismus logische Antworten auf


die Ambivalenzen und Herausforderungen moderner Gesellschaft. Dies galt in weiten
Teilen auch für die Deutung von Krankheiten und Medizin, wobei sie auf bereits vorhan-
dene Vorstellungen zurückgreifen konnten. Antisemitische Erklärungen der Syphilis
beispielsweise wurden aktualisiert und mit als jüdisch markierter Prostitution und Stadt-
gesellschaft in Verbindung gebracht.5 Im Seminar werden historische Kontinuitäten wie
Spezifika nationalsozialistischer Politik diskutiert. Im Zentrum steht die eigenständige
5 So durch Hitler in seinem Buch Auseinandersetzung der Teilnehmenden mit Quellenmaterial und erstellten Kontextuali-
Mein Kampf. Vgl. Hitler, Adolf sierungen. Ein Fokus liegt dabei auf antisemitischen, rassistischen und raumbezogenen
(1943): Mein Kampf. Zwei Bände in
einem Band. Ungekürzte Ausgabe, Seuchendeutungen und -politiken. Den Nationalsozialisten galten die Sowjetunion und
Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher der Osten Europas nicht nur als ideologische Hauptfeinde und Zielgebiete rassistischer
Nachf., G.m.b.H., München, S.269f.
Kolonialisierung, sondern auch als Hort von Krankheiten. So wurden z. B. an der deut-
6 Süß, Winfried (2003): Der Volkskör- schen Ostgrenze sogenannte Seuchenkordons eingerichtet.6 Im besetzten Polen deute-
per im Krieg. Gesundheitspolitik,
Gesundheitsverhältnisse und ten die Besatzungsbehörden Fleckfieber nicht einfach als Infektionskrankheit, „sondern
Krankenmord im nationalsozialisti- als geopolitisch und rassisch zuweisbare Gefahr, die besonders von Juden ausgehe“.7
schen Deutschland 1939–1945,
München, S. 225ff. Von den deutschen Besatzungsbehörden wurde die Furcht vor Epidemien genutzt, um
die antisemitische Ausgrenzungspolitik voranzutreiben. Auf Plakaten wurde die Abriege-
7 Werther, Thomas (2004):
Fleckfieberforschung im Deutschen lung des Warschauer Ghettos und die angekündigte Todesstrafe für das unbefugte
Reich 1914–1945, Marburg, S.86. Verlassen mit dem Schutz der übrigen Bevölkerung der Stadt vor Fleckfieber erklärt.

144 / 145
links: Jakob Ihr wurde 1939 von Wien nach
Buchenwald deportiert. Er überlebte das
jüdisch-polnische Sonderlager und
arbeitete nach der Befreiung als Journalist.
Naturhistorisches Museum Wien

rechts: Otto Schmidt wurde 1938 nach Buchen-


wald deportiert. Nach einer Fleckfieber-
Versuchsreihe wurde er 1942 ermordet.
Sammlung Gedenkstätte Buchenwald

Vermeintliche Krankheitsbekämpfung, Antisemitismus und Rassismus waren praktisch


wie metaphorisch ineinander verwoben. So wurden menschenverachtende Seuchen-
deutungen Teil der Besatzungspolitik der Nationalsozialisten und des Antisemitismus,
der auf eine angeblich die Welt erlösende völlige Vernichtung von Jüdinnen und Juden
zielte.

Infektionskrankheiten und das


Konzentrationslager Buchenwald

Das breit eingekreiste Thema wird am historischen Ort Buchenwald fokussiert, welcher
mit themenspezifischen Fragestellungen neu in den Blick genommen wird. Das Konzen-
trationslager war eng verbunden sowohl mit der deutschen Gesellschaft und ihrer
Formierung als rassistischer Volksgemeinschaft als auch ab 1939 mit dem Verlauf
des Krieges. Mit Kriegsbeginn wurden die Konzentrationslager im Reichsgebiet zu
Instrumenten der Besatzungsherrschaft.8 1939 deportierte die SS Polen und zumeist
polnischstämmige Juden aus Wien nach Buchenwald. Sie wurden in ein mit Stachel-
draht abgegrenztes Sonderlager gepfercht, in dem es zu einem Ausbruch von Ruhr
kam. Rund 1.500 Erkrankte wurden sich selbst überlassen. In einem Artikel in einer
Medizin-Zeitschrift9 griffen SS-Ärzte zur Erklärung der Epidemie auf antipolnischen
Rassismus zurück und sahen die Ursache in angeblichen Lebensweisen und Hygiene-
standards der Häftlinge.10

8 Vgl. Löffelsender, Michael (2020):


Im Online-Seminar wird der Artikel konfrontiert mit dem Bericht des Wiener Juden Das KZ Buchenwald 1937 bis 1945,
Jakob Ihr. Er vermittelt einen Eindruck von den Zuständen im Sonderlager, den Weimar, S.41f.

schlechten hygienischen Bedingungen, der fehlenden Versorgung, der harten Zwangs- 9 Doetzer, Walter/Schuller, Andreas
arbeit und den Misshandlungen durch die SS. Jakob Ihr überlebte das Sonderlager (1941): Erfahrungen bei zwei Ruhr-
seuchenausbrüchen in Lagern, in:
und verstarb 1983 an den Spätfolgen seiner Haft. Der deutsche Militärarzt. Zeitschrift
für die gesamte Wehrmedizin, Jg. 6,
Heft 2, S.95ff.
Otto Schmidt, ein Sinto aus Magdeburg, überlebte das Konzentrationslager nicht.
Auf Betreiben von Wehrmacht, medizinischen Instituten und Pharmaunternehmen 10 Vgl. Löffelsender, Michael (2020):
Das KZ Buchenwald 1937 bis 1945,
wie der IG Farben AG und in Begleitung von Ärzten und Wissenschaftlern wurden in Weimar, S.44ff.
Versuchsreihen ab 1941 in Buchenwald Impfstoffe gegen Fleckfieber getestet.11 Die
11 Vgl. Löffelsender, Michael (2020):
Versuche hatten mit ethischer medizinischer Forschung nichts zu tun und waren aus Das KZ Buchenwald 1937 bis 1945,
wissenschaftlicher Sicht unbrauchbar. Otto Schmidt wurden sie zum Verhängnis. Weimar, S.56ff.
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Er war als 20-jähriger aus rassistischen Gründen von der Polizei in Vorbeugehaft
genommen wurden, 1938 kam er nach Buchenwald. 1942 wurde Otto Schmidt für
die Kontrollgruppe einer Fleckfieber-Versuchsreihe ausgewählt und infiziert, um den
unbehandelten Krankheitsverlauf beobachten zu können. Die SS ermordete ihn nach
dem Abschluss der Versuchsreihe.12 Im Seminar setzen sich die Teilnehmenden mit
seiner Geschichte auseinander: Mit einem Brief seiner Mutter, in welchem sie um
die Freilassung ihres Sohnes bittet. Mit Dokumenten der SS, die in sachlicher, empathie-
loser Sprache den Verlauf der Versuche dokumentieren. Und mit Briefen, die die rege
Zusammenarbeit zwischen SS und IG Farben belegen.

Historisch-politische Bildung
als Intervention

Wenn in der Gedenkstättenpädagogik Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft, der


Politikwissenschaft und der Soziologie schlüssig gewichtet und gegenwartsbezogen
aufbereitet werden, kann sie ihren Teil zu Aufklärung und Reflexion beitragen. Mithilfe
der Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Shoa als katastrophalen Kerner-
eignissen des 20. Jahrhunderts und mit dem Konzentrationslager Buchenwald können
so auch die gegenwärtigen Gleichsetzungen als unzulässig erkannt und zurückgewiesen
werden. Wissen um Geschichte von Infektionskrankheiten, Krisen und deren Begleiter-
scheinungen kann dazu ein gegenwartsbezogenes selbstreflexives Problembewusstsein
stärken und dabei unterstützen, der eigenen Ohnmacht mit geschichtsbewusster
Orientierung zu begegnen, falsche Projektionen und Antisemitismus von Gesellschafts-
kritik zu unterscheiden und Sensibilität für die Gefahren ermöglichen, welche mit der
Abschaffung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Standards verbunden sein
können. Durch detektivisches Arbeiten, biografische Bezüge und dialogische Ausein-
andersetzung wird Geschichte greifbar. Gesellschaftskritisches Bewusstsein kann
gestärkt werden, indem sich mündige Menschen in ein bewusstes Verhältnis zu Gesell-
schaft und Geschichte setzen. Der fragende und forschende Blick kann dabei deutlich
machen, dass historische Kontinuitäten in der Gegenwart wirken, wie sie zu dem
Selbstbild einer aufgeklärten, gerechten Gesellschaft nicht so recht passen wollen.

Aus sozioökonomischen und politischen Konstellationen resultierende Problemlagen


einzig zum Gegenstand der Pädagogik zu machen, wäre freilich eine verkürzte Heran-
gehensweise. Didaktik allein ersetzt keine grundlegende Demokratisierung gesellschaft-
licher Verfasstheit. Vermittlung solidarischer Werte kann nur begrenzt wirksam sein,
wenn Menschen zueinander in ein stetiges Konkurrenzverhältnis gesetzt werden. Auch
eine klare Positionierung für die unteilbare Würde eines jeden Menschen muss in Leis-
tungsgesellschaften stets verteidigt werden. Die kritische Auseinandersetzung mit
Geschichte kann jedoch in einer krisenhaften Situation Anlass und Orientierung sein,
im Sinne von Humanismus, Menschenwürde und Emanzipation zu intervenieren.
Anstatt dem Leiden Anderer gegenüber gleichgültig zu sein und sich den autoritären
Revolten dieser Tage anzuschließen, gibt ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein die
Chance, sich gegen Ausgrenzung und Benachteiligung, gegen Verachtung des mensch-
lichen Lebens, gegen antisemitische Ideologien und gegen rassistische Diskurse ver-
halten zu können.

Der Historiker Timo Galki


ist Bildungsreferent in der Gedenkstätte Buchenwald.
12 Vgl. Stein, Harry/Gedenkstätte
Buchenwald (2007): Konzen-
trationslager Buchenwald,
1937-1945: Begleitband zur
ständigen historischen Ausstellung,
5. Auflage, G
‎ öttingen.

146 / 147
Könnt ihr
mich hören?!
Digitale Bildungsarbeit in der
Gedenkstätte Buchenwald.
Chancen und
Herausforderungen
VON LISA RETHMEIER UND ZSUZSANNA BERGER-NAGY

Nach Momenten der Unsicherheit durch die Schließung Die technische Umsetzung der angedachten Online-
der Gedenkstätte beim ersten Lockdown im März 2020 Seminare stellte uns vor neue Aufgaben, denn weder
kam die Frage auf, wie wir Gruppen entgegenkommen, die Gedenkstätte noch die Schulen konnten auf einen
die nicht mehr anreisen können, aber sich mit Themen Erfahrungsschatz in digitalen Begegnungen zurück-
des Nationalsozialismus im Allgemeinen und des Systems greifen. Wir wurden von externen Fachleuten technisch
der Konzentrationslager im Besonderen auseinander- geschult, haben uns mit datenschutzrechtlichen Fragen
setzen wollen. auseinandergesetzt und über verschiedene Plattformen
nachgedacht. Die Entscheidung fiel auf BigBlueButton,
Im Kollegium der Bildungsabteilung waren wir uns denn diese Meetingplattform versicherte Datenschutz-
schnell einig, was wir nicht möchten: den Ort in Form konformität. Anders als bei anderen Videokonferenz-
von digitalen Besuchen zu simulieren und live oder plattformen marktführender Unternehmen stellte die eher
aufgezeichnet Rundgänge in die Wohn- und Jugend- junge Software BigBlueButton einige Betriebssysteme vor
zimmer unserer Gruppen zu bringen. Denn was wäre technische Herausforderungen. Probleme bei der Ton-
der Mehrwert einer eventuell mit Handykamera aufge- und Bildeinwahl sowie fehlende Leistungsstärke der indivi-
zeichneten Erzählung entlang der Überreste des ehema- duellen Internetverbindung von Teilnehmer:innen waren
ligen KZ gegenüber den im Netz zahlreich verbreiteten Faktoren, die erste Online-Veranstaltungen leider prägten.
Dokumentationen, den professionell aufgenommenen Die entsprechenden Rückfragen „Könnt ihr mich hören?“
Bildern und Filmen? Die einstimmige Meinung war, oder „Bin ich zu sehen?“ begegneten uns öfters. Im Laufe
dass die gemeinsamen Erfahrungen, die Menschen am der vergangenen Monate haben wir festgestellt, dass die
historischen Ort machen und reflektieren, digital nicht aktuellen Updates BigBlueButton bedienungsfreundlicher
simuliert werden können. gemacht haben. Dies hat unsere Arbeit erleichtert.

Die Herausforderung war nun, die Grundsätze der Die ersten inhaltlichen Gedanken formierten sich um die
Bildungsarbeit der Gedenkstätte Buchenwald dennoch aktuelle Krise, die im Zusammenhang mit der Pandemie
zum Teil in digitale Vermittlungsformate zu übersetzen entstanden ist. Wir beschäftigten uns mit den gesell-
und diesen gerecht zu werden, nämlich: zu begreifen, schaftlichen, politischen und ökonomischen Dimensionen
sich differenziert mit komplexen Themen der Vergangen- der Krise bzw. mit den dadurch entstandenen Ausgren-
heit auseinanderzusetzen, ein kritisches Geschichtsbe- zungsmechanismen1 sowohl in der Vergangenheit als
wusstsein zu entwickeln und vor allem darüber aktiv zu auch in der Gegenwart. Die spannende und intensive
diskutieren bzw. sich zu positionieren. Unser Kompromiss Recherche sollte letztendlich zu einem dreitägigen
und Anspruch zugleich waren, neugierig auf den Ort Online-Seminar führen, mit dem Titel:
zu machen, Fragen zu generieren und für einen Besuch „Infektionskrankheiten in Vergangenheit und
in einer Zeit nach der Pandemie zu animieren. Gegenwart mit Fokus auf den Nationalsozialismus
und das Konzentrationslager Buchenwald“.
1 Siehe dazu auch der Artikel von Timo Galki in diesem Magazin.
G ED EN K STÄT T E B U C H ENWA L D

Das Lager und seine Menschen bildet eine Auswertung der Kleingruppendiskussionen
sowie eine Reflexion zu den Inhalten des Programms und
Es kam allerdings auch bald die Erkenntnis, dass der zur gegenwärtigen Relevanz der Beschäftigung mit dem
inhaltliche Anspruch dieses Formates für manche Nationalsozialismus.
Gruppen möglicherweise überfordernd bzw. zu speziell
sein könnte. Wir richteten daher den Blick auf Vermitt- Rahmenbedingungen und erste Erkenntnisse
lungsformate, die uns in der Vergangenheit in den analo-
gen Bildungsprogrammen sowohl einen niederschwelligen Das Online-Seminar ist für eine Gruppe von bis zu
als auch komplexeren Zugang ermöglichten: Wir setzten 15 Teilnehmenden konzipiert, denn ein Seminarcharakter,
den Schwerpunkt auf eine biografische Annäherung. in dem alle „im Blick“ gehalten werden können, war uns
sehr wichtig. Die Durchführung der Veranstaltung kann
Was wir hiermit vermitteln wollten, war grundlegendes sowohl für Gruppen im Klassenzimmer als auch für
Wissen über die Geschichte des Konzentrationslagers Einzelne im Homeschooling ermöglicht werden. Zwei
Buchenwald und die Formierung der nationalsozialisti- Teamende in abwechselnden Rollen und Verantwortlich-
schen „Volksgemeinschaft“ durch Ausgrenzung und keiten (technische Einführung und Begleitung, Moderie-
Gewalt. Des Weiteren sollte die enge Verflechtung der ren des Chatverlaufs, Diskussionsführung, Einrichten der
Konzentrationslager mit der NS-Gesellschaft heraus- Breakout-Rooms bzw. das inhaltliche Befüllen dieser)
gearbeitet und verdeutlicht werden. Mittelpunkt des führen die Gruppe durch das digitale Programm.
Online-Seminars wurde somit eine vielfältige Auswahl der
Lebensgeschichten von Betroffenen und Akteur:innen Die Auftaktveranstaltung fand am 27. Januar 2021
des Konzentrationslagersystems mit dem Schwerpunkt mit einer Gruppe Auszubildender der Daimler AG statt.
auf Buchenwald und dessen Außenlager. Im Rahmen des Azubi-Programms von Aktion Sühne-
zeichen Friedensdienste (ASF) wollten die Auszubilden-
Etwa 50 der 85 Biografien der historischen Daueraus- den ursprünglich ein Vorbereitungsseminar in Berlin
stellung „Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis wahrnehmen. Anschließend hätten sie deutsche ASF-
1945“, die als Audiotakes auf der Webseite der Gedenk- Freiwillige in verschiedenen Ländern der Welt besucht
stätte Buchenwald seit Ende 2020 zu hören sind, dienten und begleitet. Da diese internationalen Programme
uns als wichtige Quellen. Die persönlichen Erfahrungen pandemiebedingt unmöglich waren, bot unser Online-
von Menschen unterschiedlicher Herkunft im Kontext Angebot eine Auseinandersetzungsmöglichkeit.
der nationalsozialistischen Konzentrationslager, eingebet-
tet in die Darstellung und kritische Analyse historischer Im Laufe des Frühjahres bis zur Wiedereröffnung der
Ereignisse, sollten den Kern des Seminars bilden. Gedenkstätte Buchenwald folgten mehrere Online-
Seminare sowohl als eintägiges wie auch zweitägiges
Es entstand das Online-Seminar: Das Lager und seine Programm.
Menschen – biografische Annäherungen an die
Geschichte Buchenwalds. Die Resonanz sowie die von uns durchgeführte Evalua-
tion waren durchweg positiv. Doch neben den teilweise
Das konzeptionelle Ziel des drei- bis vierstündigen Pro- erheblichen technischen Problemen, die oft sehr kreativ
gramms war ein möglichst interaktives und die Teilneh- von den Teilnehmenden angegangen wurden, standen
menden einbeziehendes Online-Seminar. Eine Kombination wir vor der unbefriedigenden Erkenntnis, dass trotz
aus asynchronen Vorbereitungsrecherchen, Gruppenge- regem Methodenwechsel und partizipativen Elementen
sprächen und synchronen Diskussionsrunden, partizipati- des Programms die Kommunikation schwieriger verlau-
ven Methoden und Kleingruppenarbeiten sollte eine fen ist, als wir es von Face-to-face-Formaten gewohnt
möglichst abwechslungsreiche Herangehensweise bilden. sind. Die gedankenvolle oder ratlose Stille einer Gruppe
wirkt in digitalen Räumen zuweilen besonders drückend.
Das Verstehen und kritische Hinterfragen der Formierung Gegenüber dem analogen Gespräch und Dialog mitein-
der NS-„Volksgemeinschaft“ war der Ausgangspunkt für ander, in dem es manchmal ein Wort, eine Geste oder
die weitere Annäherung an die Lagergeschichte. Eine gar nur einen Gesichtsausdruck braucht, um Gedanken
dialogisch angelegte kurze Inputphase mit Fotografien, und Befindlichkeiten zu äußern, wirkt ein digitaler Raum
Dokumenten und Zeichnungen aus der Zeit des Konzen- distanzierend: Zuhören, Mitdenken, das Mikrofon anstel-
trationslagers sowie historischen Luftbildern und aktuel- len, in den Raum sprechen und dabei doch eher mit dem
len Drohnenaufnahmen geht der Kleingruppenarbeit mit Computer oder dem Headset reden, mit der Sorge, dabei
Biografien voraus. Den Abschluss des Online-Seminars jemandem ins Wort zu fallen ... All das muss innerhalb

148 / 149
weniger Augenblicke geschehen. Auch heute noch stellt Sollte die pandemische Lage bald vorbei sein, so dass
dies viele Menschen vor Herausforderungen. Begegnungen vor Ort unter gewohnten Bedingungen
möglich sind, wünschen wir uns, dass diese Online-
Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass die Begegnung Bildungskonzepte nicht in der digitalen Ablage verschwin-
im digitalen Raum wesentlich anstrengender ist als in den, sondern auch als Vor- und Nachbereitung eines
der analogen Welt. Zeitliche und inhaltliche Reduktion Seminars in der Gedenkstätte zusätzlich gebucht werden.
gepaart mit mehreren Pausen sowie Energizern sind hier Vereinzelt geschieht dies bereits. Den historischen Ort
der Schlüssel für eine gelungene und für beide Seiten neben der unersetzbaren persönlichen Begegnung
zufriedenstellende Veranstaltung. mit zeitgemäßen digitalen Formaten zu kombinieren,
erschließt neue Möglichkeiten einer nachhaltigeren
Während wir im analogen Seminar meist eine große Auseinandersetzung mit der Geschichte.
Auswahl an Materialien, Dokumenten und Bildern an-
Lisa Rethmeier und Zsuzsanna Berger-Nagy
bieten, die interessengeleitet ausgewählt werden können, arbeiten als Bildungsreferentinnen
müssen wir im Digitalen eine stärkere Vorauswahl treffen: an der Gedenkstätte Buchenwald.

so z. B. pro Kleingruppe zwei Biografien zur Auswahl


anbieten oder nur zwei historische Bilder respektive
Zeichnungen zur Analyse vorstellen. Die Sorge, Teilneh-
mende so einzugrenzen, war unbegründet, denn auf
diese Weise – so ihr Feedback – konnten sie besser
fokussieren. Die digitalen Vorteile des Heranzoomens Die Online-Bildungsformate der Gedenkstätte
(im Falle der Bilder) lassen sie dabei Details erkennen, Buchenwald bieten eine Kombination aus interaktiven
die das bloße Auge normalerweise übersieht. und diskursiven Elementen, selbstständigem Arbeiten
nach dem Prinzip des entdeckenden Lernens und
Wie weiter? digitaler Kleingruppenarbeit.

Ideen zu weiteren inhaltlichen Schwerpunkten sind Das Online-Seminar „Biografische Zugänge zur
entstanden und zum Teil bereits im Analogen vorhanden: Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald“
Beschäftigung mit Fundstücken, Kunst, Musik im Lager, bietet einen Einstieg in das Thema. Es ist auch für
weitere Biografien zu Täterschaft und gesellschaftlicher inklusive Gruppen und Schüler:innen mit individuellem
Beteiligung etc., unter anderem unterstützt auch durch Förderbedarf geeignet.
Film- bzw. Drohnenaufnahmen.
Dauer: ab ca. 4 Stunden (inklusive Pausen.
Im Laufe des Frühjahres und Sommers 2021 sind die Auch als mehrtägiges Online-Projekt durchführbar).
Anfragen für Online-Seminare deutlich zurückgegangen,
die Gruppen bevorzugen wieder die Auseinandersetzung Anhand von Quellenarbeit ermöglicht das mehrtägige
am historischen Ort. Gleichwohl ist der Fortgang der Online-Seminar „Infektionskrankheiten in Vergangenheit
Pandemie ungewiss. Wir haben daher auch freien und Gegenwart mit Fokus auf den Nationalsozialismus
Mitarbeiter:innen die Möglichkeit gegeben, das Seminar und das Konzentrationslager Buchenwald“ eine
kennenzulernen und sich fürs Teamen eines digitalen vertiefende Auseinandersetzung.
Seminars zu qualifizieren.
Dauer: 2 Tage mit jeweils ca. 6,5 Stunden oder
Ein ein- respektive dreitägiges Online-Seminar für Multi- 3 Tage mit jeweils ca. 4,5 Stunden (inklusive Pausen).
plikator:innen wird unser digitales Bildungsangebot in der Bei Interesse an einem Online-Seminar, kontaktieren
nahen Zukunft erweitern. Auch für internationale Gruppen Sie uns unter:
wäre ein Online-Seminar gewiss sehr attraktiv und von
besonderer Bedeutung: Die Welt digital zusammenzu- Betreff: Online-Bildung Gedenkstätte Buchenwald
führen und über Ländergrenzen hinweg Erkenntnisse zu jbs(at)buchenwald(dot)de
historischen Zusammenhängen von aktuellen globalen
Themen zu diskutieren, wie Menschenrechte, Aufklärung Bitte geben Sie an:
gegen Rassismus und Antisemitismus, Rechte von Minder- – welches Online-Format Sie interessiert,
heiten sowie die Macht von Propaganda oder die Bedeu- – wann Sie eine Durchführung planen und
tung von Zivilcourage in einer demokratischen Gesell- – wie viele Teilnehmer:innen Sie erwarten.
schaft – all das kann nun nur einen Klick entfernt sein.
K Z- G E D E N K S TÄT T E M I T T E L B A U - D O R A

Rückblick auf das


Fegefeuer: Pierre Bletons
Le temps du purgatoire
Erinnerungsbericht wirft ein Licht auf die
Zustände in der Boelcke-Kaserne und die Zeit
nach der Befreiung in Nordhausen
VON LUISA HULSRØJ

Die Freude war groß: Im März dieses Jahres erhielt die Zustände dort und seine Gefühlslage: Bleton schämte
die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora eine E-Mail von sich seiner Darmentzündung und dem damit einherge-
den Nachfahren des inzwischen verstorbenen Dora- henden Kontrollverlust über seine Ausscheidungen
Überlebenden Pierre Bleton. Bleton hatte 1951 seine zutiefst. Gleichzeitig versuchte er, die Hoffnung auf das
Erinnerungen an seine KZ-Haft niedergeschrieben, 1953 Überleben und die nahende Befreiung nicht aufzugeben.
waren sie auf Französisch als Le temps du purgatoire Damit ging die Weigerung einher, sich einzugestehen,
erschienen. Da der Erinnerungsbericht nie vollständig wie fürchterlich sein Gesundheitszustand wirklich war.
auf Deutsch erschienen und auf Französisch längst Häftlingsärzte mühten sich, seine offene Wunde mit
vergriffen ist, besaß die Gedenkstätte jedoch bislang Pflastern zu behandeln. Sie verschrieben ihm und ande-
keine Ausgabe. Nun aber hatten der Sohn des Überle- ren beliebige der wenigen vorhandenen Medikamente,
benden, Dominique Bleton, und dessen Schwiegertoch- um die Kranken überhaupt im Krankenrevier behalten zu
ter, Elisa Hema, die Memoiren abgetippt. Diese Datei des dürfen und ihnen so eine Chance auf Erholung und
Textes stellten sie der Gedenkstätte jetzt zur Verfügung. Genesung geben zu können. Trotzdem fanden viele im
Krankenrevier den Tod. Ein Mann, mit dem er sich ein
Pierre Bleton hatte sich 1942 im Alter von 18 Jahren der Bett teilen musste, starb, während Bleton neben ihm lag.
französischen Résistance angeschlossen. 1943 wurde
er denunziert und verhaftet. Nach sechs Monaten im Am 18. März wurde Pierre Bleton in die Boelcke-Kaserne,
Gefängnis von Fresnes wurde er nach Deutschland de- das im Januar 1945 gegründete Sterbelager des Lager-
portiert. Dort war er zunächst im gefürchteten Gestapo- komplexes Mittelbau, verlegt. Dort waren die Häftlinge
Lager Neue Bremm und dann in den Konzentrations- sich selbst überlassen, an medizinischer Versorgung
lagern Porta Westphalica, Neuengamme und Groß- mangelte es gänzlich. Diese Vernachlässigung empfand
Rosen inhaftiert. Nach einem fünftägigen Räumungs- Bleton allerdings nicht als unangenehm: Er genoss das
transport aus letzterem Lager kam er schließlich am Ausbleiben der Schikanen. Selbst der Hunger wurde
12. Februar 1945 in Mittelbau-Dora an. Er war zu diesem dadurch erträglicher, dass man den ganzen Tag unge-
Zeitpunkt bereits überaus ausgezehrt, litt an einer stört im Bett liegen bleiben konnte.
Darm- und Blasenentzündung und an einer offenen
Wunde am Rücken. Freundschaft schloss Bleton in der Boelcke-Kaserne
schnell mit seinem Bettgefährten Henri, einem französi-
Aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustandes schen Juden, der mit einem Räumungstransport aus
musste Bleton seine Zeit im Hauptlager Dora in der Auschwitz nach Mittelbau-Dora gekommen war. Von
Schonungsbaracke und später im Krankenrevier ver- Henri hörte er zum ersten Mal vom Holocaust und
bringen. Sein Erinnerungsbericht beschreibt eindringlich dessen Ausmaß.

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Am 3. und 4. April bombardierte die britische Luftwaffe keine unaufgeforderten, wie es ihnen
die Stadt Nordhausen. Da den Briten nicht bekannt schien selbstgefälligen Almosen von
war, dass die Boelcke-Kaserne nicht mehr von der Wehr- Mitgliedern der Tätergesellschaft.
macht genutzt wurde, war auch sie das Ziel der Bomben.
Bleton und sein Freund erlebten den Luftangriff völlig Nach etwa einer Woche sollten die
ungeschützt in ihrem Stockbett im ersten Stock der ehemaligen Häftlinge zur Pflege und zur
Kaserne. Bei der zweiten Welle der Bombardierung Abwicklung der Repatriierung wieder
versuchten die beiden, sich etwas mehr Schutz zu ver- nach Dora gebracht werden. Pierre
schaffen – indem sie eine Stockbettetage tiefer kletter- Bleton und sein Freund Henri lehnten
ten und sich die Decke über den Kopf zogen. Sie kamen diese Rückkehr ins Lager ab. Sie wollten
unverletzt davon, doch ihr Bett war von Glassplittern die Repatriierung in der ihnen zugewie-
übersät. In anderen Teilen der Kaserne rissen die Bom- senen Villa abwarten. Die Deutschen,
ben Löcher in Dach und Boden. befanden sie, könnten ruhig auch noch
ein, zwei Wochen länger auf ihre Häuser
Aufgrund der Bombardierungen hatte die SS die Kaserne verzichten.
fluchtartig verlassen. Damit waren die Häftlinge ihre
Bewacher zwar los, doch frei waren sie dennoch nicht: Als sie sich schließlich doch zurück ins Lager begeben
Außerhalb des Kasernengeländes wütete noch der Volks- mussten, fühlte sich Bleton von den Erinnerungen an
sturm. Deshalb, so beschreibt es Bleton, blieben die seine Ankunft in Dora und an seinen damaligen miserab-
meisten Häftlinge in der Kaserne und organisierten ihr len Gesundheitszustand überwältigt. Gemeinsam mit
Leben fortan selbst. Sie bedienten sich an den zurück- Henri und einem weiteren französischen Freund ging er
gelassenen Vorräten der SS und schafften unter der daher eigenmächtig zur Sammelstation für Flüge, die sich
Anleitung eines Arztes Leichen aus der Kaserne, da im einstigen SS-Bereich des Lagers befand. Mit einem
dieser davor warnte, die im Frühlingswetter schnell Flugzeug, das eigentlich Kriegsgefangenen vorbehalten
verwesenden Leichname mitten unter den Gefangenen war, kehrte Pierre Bleton am nächsten Tag nach Paris
zu lassen. Trotz aller Bemühungen blieb das Leben in der zurück.
Boelcke-Kaserne allerdings leidvoll und unhygienisch:
Wasser wurde schnell ein kostbares Gut und weite Teile Seinen Erinnerungsbericht verfasste Bleton sechs Jahre
des Bodens waren mit Exkrementen bedeckt. nach seiner Rückkehr. Er ist insofern einzigartig, als er
als einer der wenigen Zeugnis über die Zustände in der
Schließlich trafen am 11. April 1945 die lang ersehnten Boelcke-Kaserne und über die Zeit direkt nach der
amerikanischen Befreier ein. Schlagartig musste sich Befreiung in Nordhausen ablegt. Über beides gibt es
Bleton bemühen, sich wieder, wie er es ausdrückt, sonst kaum Erinnerungsberichte. In der Boelcke-Kaserne
zivilisiert zu verhalten und nicht so ungeniert mit dem war die Sterblichkeit hoch. Es waren die Schwerkranken
Gestank, dem Dreck und den Leichen umzugehen. Bald und Sterbenden, die dort – und vereinzelt in den anderen
schon wurden er und andere Häftlinge in beschlagnahm- Lagern des Lagerkomplexes Mittelbau – zurückgelassen
ten Villen in Nordhausen untergebracht. Dort nahmen worden waren. Alle anderen Häftlinge waren Anfang
sie sich Essen, Kleidung und einige kleine Gebrauchsge- April auf Räumungstransporte in Richtung anderer
genstände, aber ansonsten, wie Pierre Bleton betont, Konzentrationslager geschickt worden und wurden
respektierten sie die Rechte der eigentlichen Besitzer. daher andernorts befreit.

Lebensmittel besorgten sich die ehemaligen Häftlinge Da gerade die Boelcke-Kaserne emblematisch für die
zusätzlich in der Nordhäuser Innenstadt, wobei Bleton mörderischen Zustände im KZ-Komplex Mittelbau Anfang
sich erstmals mit der Frage konfrontiert sah, wie er mit des Jahres 1945 steht und das Verhältnis zwischen ehe-
Deutschen umgehen sollte. Sollte er sich bei Geschäfts- maligen Häftlingen und Nordhäuser:innen von jeher für
inhaber:innen, die ihm auf seine Bitte hin Lebensmittel Interesse und Kontroversen sorgt, ist Bletons Bericht ein
überließen, bedanken, obwohl die Deutschen doch jahre- für die Arbeit der Gedenkstätte äußerst wertvoller Neu-
lang die Präsenz ausgehungerter Häftlinge in ihren Städ- zugang, den die Stiftung interessierten Leser:innen gerne
ten hingenommen hatten? Er tat es reflexartig. Doch zugänglich machen möchte. Eine Übersetzung und Veröf-
als Nordhäuser:innen an die Tür der Villa klopften, in der fentlichung von Le temps du purgatoire ist daher geplant.
er und seine Freunde einquartiert worden waren, um
ihnen Essen vorbeizubringen, schlugen Bleton und seine Luisa Hulsrøj ist wissenschaftliche Volontärin
Gefährten ihnen die Tür vor der Nase zu. Sie wollten der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Foto: KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica e. V.


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Ein Oskar für die


Erinnerungskultur
Der Dokumentarfilm „Colette”
und das Ende der Zeitzeugenschaft
VON KARSTEN UHL

Ende April 2021 gab es bei der Oscarverleihung


in Los Angeles eine große Überraschung: Der Film
„Colette“ wurde als beste Kurzdokumentation
ausgezeichnet. Er handelt von der 90-jährigen
Schwester eines französischen Widerstands-
Jean-Pierre Catherine, ca. 1942
kämpfers, der von den Deutschen verschleppt
wurde und im KZ Mittelbau-Dora starb, und ihrem
ersten Besuch in der Gedenkstätte im Jahr 2019.

Ernste Themen haben stets gute Aussichten, einem Nach dem Einmarsch der Deutschen schloss sich Jean-
Film die begehrteste Auszeichnung – den Oscar – zu Pierre Catherine bereits als Schüler der Résistance an.
sichern. Der im Jahr 2021 prämierte Kurzdokumentarfilm Er fiel den Besatzern allerdings nicht bei einer seiner
„Colette“ fällt in diese Kategorie, indem er aus der Sicht eigentlichen Aktionen – er hatte Waffen versteckt und
der Schwester das Schicksal eines französischen Résis- Flugblätter verteilt –, sondern bei einem von den Deut-
tance-Kämpfers thematisiert, der von den deutschen schen verbotenen Gedenkakt in die Hände: Im Juni 1943
Besatzern in Konzentrationslager verschleppt wurde und legte er an einem Denkmal für gefallene französische
schließlich kurz vor der Befreiung wegen der mörderi- Soldaten Blumen nieder. Anschließend verhaftete die
schen Lebensbedingungen im KZ Mittelbau-Dora starb. Sicherheitspolizei den inzwischen Siebzehnjährigen.
Stilistisch erfüllt der Film die notwendigen Bedingungen, Zunächst landete er im Gefängnis in Caen, dann wurde
die bei der Oscarvergabe von großer Bedeutung sind: er über das KZ Natzweiler-Struthof und das Gefängnis in
Zu einem schweren Thema wird ein emotionaler Zugang Brieg ins KZ Groß-Rosen verschleppt.
angeboten, der in diesem Fall von zwei Protagonistinnen
ermöglicht wird. Zudem verspricht ein gezielt konven- Von dort wurde Jean-Pierre Catherine, nachdem das
tioneller filmischer Ansatz die Ansprache eines möglichst Lager vor den vorrückenden sowjetischen Truppen Rich-
breiten Publikums. tung Westen geräumt wurde, mit Tausenden Häftlingen

152 / 153
Filmproduzentin Alice Doyard mit ihren Protagonistinnen
Colette Marin-Catherine und Lucie Fouble
in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, 2019
www.colettedoc.com

in das KZ Mittelbau-Dora verlegt. Nach einem Transport psychischen Druck, mit denen Angehörige oft zu kämp-
unter katastrophalen Bedingungen war auch Catherine fen haben. Wie ihr Bruder war auch die drei Jahre
bei seiner Ankunft am 11. Februar 1945 am Ende seiner jüngere Colette in der Résistance aktiv. Sie spielt jedoch
Kräfte. Fünf Wochen später wurde er aus dem Haupt- ihre eigene Rolle herunter und scheitert daran, für sie
lager Dora in das wenige Kilometer entfernte Außenlager angemessene Formen des Trauerns um ihren ins Über-
Boelcke-Kaserne verlegt, das als zentrales Kranken- und menschliche erhöhten Bruder zu finden. Die stets
Sterbelager des KZ-Komplexes Mittelbau diente. Mit beherrschte Colette Marin-Catherine bricht dann in der
nur 19 Jahren starb Jean-Pierre Catherine dort, mitten KZ-Gedenkstätte nicht deshalb in Tränen aus, weil sie
in der Stadt Nordhausen, am 22. oder 23. März 1945. hier zu einer Form der Trauer gefunden hätte. Vielmehr
ist sie wütend auf sich selbst, weil sie vergaß, Blumen
Der Film unternimmt nun eine äußerst interessante für ihren Bruder mitzubringen.
Perspektivverschiebung. Anders als die meisten Agentur-
meldungen nach der Oscarverleihung vermeldeten, Über die zweite Protagonistin, die 17-jährige Schülerin
handelt es sich genau genommen nicht um eine Doku- Lucie Fouble öffnet der Film ein weiteres Narrativ: das-
mentation über die KZ-Haft (und schon gar nicht über jenige der Fortführung der Erinnerungsarbeit nach dem
den Holocaust, wie vereinzelt in den internationalen Ende der Zeitzeugenschaft. Es lässt sich als eine gezielte
Medien verkündet wurde). Stattdessen steht, darauf Auswahl verstehen, dass ausgerechnet diese Schülerin
weist bereits der Titel hin, die Schwester des KZ-Opfers Colette Marin-Catherine mit dem Filmteam nach Nord-
im Mittelpunkt: Colette Marin-Catherine. Der 24-minüti- hausen begleitet. Lucie Fouble hat im französischen
ge Film (der frei im Internet verfügbar ist) handelt von Museum La Coupole einzelne Beiträge für das „Livre
der Trauer der 90-Jährigen um ihren Bruder und um des 9000 déportés de France à Mittelbau-Dora“
die Schwierigkeit des Gedenkens. Erstmals 2019 war sie geschrieben. In diesem bemerkenswert gründlich recher-
mit dem Filmteam an den Ort gefahren, an dem ihr chierten Gedenkbuch sind Biografien aller aus Frank-
Bruder ums Leben kam: nach Nordhausen und ins KZ reich in das KZ Mittelbau-Dora Deportierten zusammen-
Mittelbau-Dora. Eindrücklich zeigt der Film den getragen.
K Z- G E D E N K S TÄT T E M I T T E L B A U - D O R A

Staatspräsident Macron empfängt


Colette Marin-Catherine
im Élysée-Palast, 18. Juni 2021
www.elsyee.fr

Diese Zweierkonstellation macht sehr deutlich, worum In „Colette“ bleiben Männer Nebenfiguren; der Film
es dem Film geht, und was an ihm – trotz aller filmischen fokussiert die beiden Frauen. Deren Zugriff auf die
Konventionalität – innovativ ist: Es ist keine historische Geschichte bleibt – in der Schnittfassung des Films –
Dokumentation über das KZ, sondern ein Film über die allerdings stark den Geschlechterkonventionen verhaftet:
Schwierigkeit des gleichzeitig persönlichen und politi- Lucie Fouble beginnt mit einer sachlichen Darstellung des
schen Erinnerns am Ort des Verbrechens: der Gedenk- historischen Kontextes, im Laufe des Gedenkstättenbe-
stätte. Colette Marin-Catherine, die Schwester des suchs nahmen jedoch die Emotionen überhand. Colette
Opfers, schafft es erst gegen Ende ihres eigenen Lebens, Marin-Catherine, deren eigener Einsatz für die Résis-
diesen Schritt zu gehen. Durch eine Begleiterin, die der tance nur kurz erwähnt wird, interessiert den Film nicht
Generation der Enkel angehört, suggeriert der Film die als historische Akteurin: Ihr Bruder steht für den Wider-
Notwendigkeit der Fortführung des Erinnerns durch die stand, Colette repräsentiert die Trauerarbeit.
Herstellung eines neuen persönlichen Bezugs zu einem
individuellen Opfer: Colette Marin-Catherine übergibt Der Zwiespalt zwischen der bemerkenswerten Leistung
neben dem Krematorium, in dem die Leiche ihres Bruders des Filmes, die Zuschauer:innen zu berühren – und
verbrannt wurde, das zentrale Erinnerungsstück, das so den wichtigen Aspekt der Nachgeschichte der KZ-
ihr von ihm blieb, an Lucie Fouble: einen Ring. Aus der Verbrechen einem breitem Publikum zuzuführen – und
Sicht einer reflexiven Geschichtskultur lässt sich dieser seinem Verharren in konventionellen Sichtweisen lässt
emotional-personalisierte Weg, den auch die deutsche sich aus seiner Produktionsgeschichte ableiten: Entstan-
Diskussion um sogenannte Zweitzeugen einschlägt, den ist der Dokumentarfilm als Bonusmaterial für das
kritisch betrachten. Aus filmischer Perspektive stellt die Computerspiel „Medal of Honor: Above and Beyond“.
Ringübergabe aber vor allem ein sehr starkes visuelles Darüber hinaus gewann der Film an Aufmerksamkeit,
Symbol dar. nachdem die britische Tageszeitung The Guardian
ihn auf ihrer Website frei verfügbar machte. Über großen
Das Spannungsverhältnis zwischen (verhaltener) Inno- Publikumszuspruch bei mehreren internationalen
vativität und Konventionalität hilft zu verstehen, warum Filmfestivals kam es dann schließlich zur Auszeichnung
der Film seine große Wirkung entfalten kann, die uns von mit dem Oscar, was in Frankreich große Wellen schlug:
vielen Besucher:innen und Kooperationspartner:innen Staatspräsident Macron empfing Colette Marin-
der Gedenkstätte bestätigt wurde. Dies gilt auch für Catherine. Allein diese späte Würdigung einer bemer-
den Geschlechteraspekt. Der Film ist eine erfreuliche kenswerten Frau veranlasst zu haben, ist ein nicht zu
Ausnahme in einer Erinnerungskultur, in der immer noch unterschätzendes Verdienst des Films.
Männer sehr dominant sind: In der Regel berichten in
Dokumentarfilmen männliche Angehörige des Wider-
stands über die NS-Zeit und männliche Historiker ordnen Der Historiker Karsten Uhl
diesen Befund aus wissenschaftlicher Perspektive ein. leitet die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

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Birgit Keller, Präsidentin des Thüringer Landtags, am 76. Jahrestag in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, 12. April 2021.
Fotos: Darko Velazquez

Trotzdem hatten wir uns voller Hoffnung


geschworen „Nie mehr wieder“! Damit die Kriege
unsere Kinder nicht verschlingen.
Albert van Dijk
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“
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Literatur,
Kolonialismus und der
Nationalsozialismus
Sharon Dodua Otoos
Roman „Adas Raum“

VON KARSTEN UHL

Sharon Dodua Otoo verbindet in ihrem Erstlings-


roman vier Geschichten in verschiedenen Jahr-
hunderten miteinander. In unterschiedlichen
Erscheinungsformen sind ihre vier Protagonis-
tinnen – alle heißen Ada – der Gewaltförmigkeit
von Rassismus und Sexismus ausgesetzt.
Für eine dieser Episoden ist das KZ Mittelbau-
Dora zentral.

Am Abend des 1. Juli 2021 fand die erste Veranstaltung


in der KZ-Gedenkstätte nach dem Ende des mehrmona-
tigen Corona-Lockdowns statt. Die britisch-deutsche
Autorin Sharon Dodua Otoo las aus ihrem ersten Roman
„Adas Raum“, der nicht nur sehr breit und weitgehend
positiv besprochen wurde, sondern es sogar zu einer
Platzierung auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste brachte.
Sharon Dodua Otoo in der
Dieser Erfolg ist für einen literarisch ambitionierten KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, 1. Juli 2021
Roman mit ausgesprochen ernstem Thema bemerkens-
wert.

Die Autorin hat sich seit Jahren mit der Geschichte des Wie Sharon Otoo bei ihrem Besuch berichtete, entstand
KZ Mittelbau-Dora beschäftigt. Bereits Otoos Erzählung über diesen Bezug ihr vertieftes Interesse an der
„Herr Gröttrup setzt sich hin“, für die sie im Jahr 2016 Geschichte des Konzentrationslagers. In ihrem nun
in Klagenfurt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis aus- erschienenen Roman „Adas Raum“ ist das KZ Mittelbau-
gezeichnet wurde, weist einen Bezug zum Lager auf. Dora ein zentraler Ort der vielschichtigen Handlung.
Beim titelgebenden Protagonisten Helmut Gröttrup Auch formell gibt es einen Anschluss an ihre preisge-
handelt es sich um einen Peenemünder Raketeninge- krönte Erzählung über eine fiktive Begebenheit im Nach-
nieur, der im Februar 1945 mit seiner Abteilung in den kriegsleben des Herrn Gröttrup: Die Dinge erzählen die
Südharz versetzt wurde. Auch kurz vor Kriegsende Geschichte. War es in der Erzählung noch ein Früh-
gab das NS-Regime seine aberwitzigen Rüstungspläne stücksei, das sich weigert, trotz ausreichender Kochzeit
nicht auf und wollte sie – völlig realitätsfern – unter fort- von exakt siebeneinhalb Minuten hart zu werden, und
gehender Ausbeutung der Zwangsarbeit von Häftlingen damit den rationalistischen Ingenieur nahezu in den
des KZ Mittelbau-Dora mit dieser im Südharz geplanten Wahnsinn treibt, erzählen nun unterschiedliche Gegen-
„Entwicklungsgemeinschaft Mittelbau“ weiter ausbauen. stände die Geschichten vier unterschiedlicher Adas über

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Otoos Darstellung ist nie didaktisch, immer genuin
literarisch. Sie gelangt dabei in Bereiche, über die Histori-
ker:innen aus methodischen Gründen schweigen müssen.
Sie hat gründlich recherchiert, bedient jedoch nicht das
gefällige Genre des historischen Romans. Stattdessen
fängt Otoo die kleinen unmöglichen Gedankenfluchten
der Gefangenen im KZ ein. Die Leistung des Romans
besteht jedoch vor allem in seiner Gesamtkomposition:
Der koloniale Raub eines Armbands führt uns – und die
verschiedenen Adas mit dem jeweiligen Gegenpart
Wilhelm – von Westafrika nach London, in das KZ
Mittelbau-Dora und schließlich ins Berlin der Gegenwart.
Teilweise scheinen vielversprechende Möglichkeiten
für die Protagonistinnen auf – der vermeintliche gesell-
schaftliche Fortschritt im 19. Jahrhundert verspricht
der fiktionalisierten Figur der Computerpionierin Ada
Lovelace eine wissenschaftliche Karriere –, enden aber
in den ersten drei Episoden stets tödlich.

Gerade die gleichzeitige Thematisierung der kolonialen


und der nationalsozialistischen Verbrechen hat Otoo
den vereinzelten Vorwurf eingebracht, sich mit ihrem
Roman an dem nicht zu leugnenden Trend eines neuen
Relativismus bzw. der „Holocaust-Verharmlosung“ zu
beteiligen. Gewicht bekommt dieser Vorwurf dadurch,
dass er von dem ausgesprochen klugen Gegenwartsdia-
gnostiker und einer der wichtigsten Stimmen der Gegen-
wartsliteratur, nämlich von Maxim Biller, in der Wochen-
Otoo, Sharon Dodua (2021):
Adas Raum. Roman, Frankfurt a. M. zeitung DIE ZEIT (Nr. 36/2021) erhoben wurde. In diesem
Fall zielen seine Vorwürfe jedoch ins Leere: Dass in „Adas
Raum“ keine jüdischen Häftlinge ins Bordell gehen, ist
mehrere Jahrhunderte hinweg. Auch der Name Ada schlicht der SS-Direktive geschuldet, die es ihnen unter-
taucht bereits in der Erzählung auf; Gröttrups Putzfrau sagte. Es geht Otoo also keinesfalls darum, „einen Holo-
trägt ihn. caust ohne Juden“ zu erzählen. Vielmehr lässt es sich als
eine gezielte Wahl der Romankonstruktion verstehen,
Sharon Otoo folgt ihren vier Protagonistinnen im verwo- dass die NS-Verbrechen im Konzentrationslager – und
benen Aufbau des Romans von der westafrikanischen eben nicht der Holocaust in einem Vernichtungslager wie
Küste im 15. Jahrhundert bis zur Wohnungssuche in der Auschwitz – in einer Episode thematisiert werden.
Berliner Gegenwart. Die chronologisch dritte Ada wird
gezwungen, im Häftlingsbordell des KZ Mittelbau-Dora Sharon Otoo zielt gar nicht auf zweifelhafte historische
zu arbeiten. Die Erzählstimme dieser Episode gehört dem Parallelisierungen: Der Sexismus der viktorianischen
Zimmer des Bordells, in dem Ada die Männer empfangen Epoche gleicht nicht dem Rassismus der Gegenwart;
muss – „Adas Raum“: „Kleidung, Frisuren, Mahlzeiten, genauso wenig gleicht der Kolonialismus dem National-
Pausen, Stellungen – alles war vom Lagerkommandanten sozialismus. Derartig simplen Gleichsetzungen widersetzt
festgelegt und angeordnet worden. Nur die Belegung der sich der Roman bereits in seiner Komposition. Dabei
Zimmer nicht. Ada landete allerdings des Öfteren in dem gelingt es ihm beeindruckend, das historische Apriori
linken Zimmer am Ende des Ganges, wo, falls sie zur einzufangen: Die jeweilige Zeit lässt sich nur durch ihre
richtigen Zeit ihre Augen geöffnet hatte, die Abenddäm- Vergangenheit als etwas Gewordenes verstehen. Darü-
merung besonders schön erschien. So oft befand sie sich ber hinaus freut es den rezensierenden Ausstellungs-
dort, dass es schließlich den Namen ‚Adas Raum‘ erhielt. macher, dass den Dingen eine Stimme gegeben wird.
Ausgerechnet dieses Zimmer war ich.“ (S. 48)
Der Historiker Karsten Uhl
leitet die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
I N F O R M AT I O N EN

Auf dem Hausberg Weimars, dem Ettersberg, mussten Führungen für Einzelbesucher:innen
im Sommer 1937 Häftlinge damit beginnen, das Konzen-
trationslager Buchenwald zu errichten. Heute ist Buchen- April – Oktober
wald ein Sinnbild für die radikale Konsequenz, mit der 10.30, 11.30, 12.30, 13.30 und 14.30 Uhr
Menschen im Nationalsozialismus aus der Gesellschaft Treffpunkt: Besucherinformation
ausgegrenzt wurden. Von 1945 bis 1950 nutzten die
Sowjets das Gelände für ein Speziallager, nach 1958 Der Verein zur Förderung der Erinnerung an das
baute die DDR die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte“ KZ Buchenwald (Förderverein Buchenwald e. V.) bietet
zur größten deutschen KZ-Gedenkstätte aus. Sie wurde Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen Führungen
nach 1990 neu konzipiert und für die Erinnerung an das für Einzelbesucher:innen an. Um Spenden wird gebeten.
Schicksal weiterer Opfergruppen geöffnet. Neue Aus-
stellungen ermöglichen heute den Blick auf die Kontexte Führungen für Gruppen
der Verbrechen. Die Geschichte von Buchenwald und
Weimar bietet für die historisch-politische Bildungs- Unsere Betreuungsangebote für Gruppen richten sich
arbeit einen einmaligen historischen Resonanzboden. vorrangig an Schulklassen (ab Klasse 9), Jugendgruppen
Wie an kaum einem anderen Ort ergeben sich Zugänge und junge Erwachsene, die im Rahmen der Schule und
zur Vergangenheit, die sowohl die Möglichkeiten als der politischen Bildung ihren Gedenkstättenbesuch
auch die Grenzen menschlichen Handelns erfahrbar vorbereitet haben. Das Mindestalter beträgt 15 Jahre, die
werden lassen. Gruppe kann aus 15 bis maximal 30 Personen bestehen.

Für den Aufenthalt inklusive Führung sind mindestens


Öffnungszeiten – Gedenkstätte drei Stunden einzuplanen. Sie können zwischen einer
Überblicksführung (ca. 2 Std.) und einer ausführlichen
Das ehemalige Häftlingslager, der SS-Bereich, die Geländeführung (ca. 3 Std.) wählen.
Mahnmalsanlage, die Gräberfelder des sowjetischen
Speziallagers Nr. 2 sowie alle weiteren Außenanlagen Die Kosten für Gruppenführungen (bis 30 Personen)
können täglich bis zum Einbruch der Dunkelheit betragen € 80; Schüler, Jugendgruppen, Studierende,
besichtigt werden. Bundesfreiwilligendienstleistende, Freiwillige, Soldaten,
Behinderte und Arbeitslose zahlen € 40 pro Gruppe.
Öffnungszeiten – Museen
Da Führungen sehr gefragt sind, bitten wir um
April – Oktober rechtzeitige Anmeldung bei der Besucherinformation.
Dienstag bis Sonntag und Feiertag Dort werden Sie auch beraten, wie Sie selbstständig
10.00 – 18.00 Uhr (letzter Einlass 17.30 Uhr) ein sinnvolles Programm gestalten können.
November – März
Dienstag bis Sonntag und Feiertag Besucherinformation
10.00 – 16.00 Uhr (letzter Einlass 15.30 Uhr)
Montag geschlossen +49 (0) 3643 430 200
(ehemaliges Torgebäude und Krematorium sind zwischen [email protected]
10 und 15 Uhr zugänglich, Multimedia-Guides können in www.buchenwald.de
der Besucherinformation ausgeliehen werden)

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Foto: Claus Bach
Foto: Claus Bach

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I N F O R M AT I O N EN

Das KZ Mittelbau-Dora steht exemplarisch für die Geschichte der KZ-Zwangsarbeit


und der Untertageverlagerung von Rüstungsfertigungen im Zweiten Weltkrieg.
Mehr als 60.000 Menschen aus fast allen Ländern Europas, vor allem aus der
Sowjetunion, Polen und Frankreich, mussten zwischen 1943 und 1945 im
KZ Mittelbau-Dora Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten.
Jeder dritte von ihnen starb. Heute ist die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora sowohl
zeitgeschichtliches Museum als auch europäischer Lern- und Gedächtnisort.
Die Dauerausstellung präsentiert Mittelbau-Dora nicht nur als Modellfall von
Zwangsarbeit und Untertageverlagerung, sondern auch als Beispiel für die enge
Einbindung der Konzentrationslager in die deutsche Gesellschaft und regt zur
Diskussion um die Ethik von Wissenschaft und Technik an.

Öffnungszeiten Gruppen

Oktober bis Februar Nach Voranmeldung können Sie von Dienstag bis
10.00 bis 16.00 Uhr Sonntag verschiedene Angebote für Gruppen
März bis September (Schulklassen ab Jahrgangsstufe 9) wahrnehmen.
10.00 bis 18.00 Uhr Es können unterschiedliche Betreuungsvarianten
Montag geschlossen und -längen gewählt werden (3 bis 5 Stunden,
Tagesprojekte, mehrtägige Projekte).
Die Außenanlagen können täglich bis zum Einbruch der
Dunkelheit besichtigt werden. Der Eintritt in die Gedenk- Die Kosten für Gruppenführungen (bis 30 Personen)
stätte und in die Ausstellungen ist frei. Der Besuch des betragen € 80; Schüler, Jugendgruppen, Studierende,
Stollens ist nur im Rahmen von Führungen möglich. Bundesfreiwilligendienstleistende, Freiwillige, Soldaten,
Behinderte und Arbeitslose zahlen € 40 pro Gruppe.
Einzelbesucher Wegen der großen Nachfrage melden Sie sich bitte
frühzeitig bei der Besucherinformation.
Durch einen Teil des ehemaligen Lagergeländes und
in die Stollenanlage werden von Dienstag bis Freitag Besucherinformation
täglich um 11 und um 14 Uhr kostenlose Führungen
für Einzelbesucher:innen angeboten. Samstags und +49 (0 )3631 49 58 0
sonntags sowie an Feiertagen bieten wir Führungen [email protected]
um 11, 13 und 15 Uhr an. Die Führungen beginnen www.dora.de
vor dem Museumsgebäude.
B OTS C H A F T EN I N D ER „V ER S C HWI N D EN D EN WA N D“

Denn immer wieder hörten wir von den Sterbenden:


„Vergesst uns nicht. Seid unsere Zeugen!“
Danuta Brzosko-Mędryk

Ich glaube noch 100 Prozent


an die Menschheit und an das Leben.
Heinrich Rotmensch

Nachricht an Hitler:
Ich bin immer noch hier, du Bastard.
Alex Hacker

Wir müssen Menschen sein.


Das ist das Beste,
was man für die Menschheit tun kann.
Vilém Svácha

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Die Bilder dessen, was ich sah und erlebte,
werden niemals verschwinden.
Ich träume fast jede Nacht davon.
Harry Weinroth

Es ist uns unverständlich,


wie das menschliche Herz
so viel Hass hervorbringen kann.
Aimé Bonifas

Wir sind hier,


damit das Vergessen nie die Erinnerung zerstört.
Bernard d‘Astorg

Das absolut Böse gibt es,


man kann ihm begegnen.
Das Gute ist schwer zu finden.
Jorge Semprún
IMPRESSUM

Reflexionen
Jahresmagazin der Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora / 2022

Herausgeberin Titelbild
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald Die „Verschwindende Wand“ mit Botschaften
und Mittelbau-Dora von Überlebenden der KZ Buchenwald und
99427 Weimar Mittelbau-Dora in Weimar, 11.4.2021.
Fon: +49 (0) 3643 430 0 Foto: Darko Velazquez
E-Mail: [email protected]
www.buchenwald.de Soweit nicht anders angegeben, liegen die
www.dora.de Bildrechte bei der Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Konzept
Rikola-Gunnar Lüttgenau, Jens-Christian Wagner Erscheinungsweise
Jährlich
Redaktion
Rikola-Gunnar Lüttgenau Druck
Druckerei Schöpfel, Weimar
Layout und Realisation
werkraum-media.de ISBN
978-3-935598-28-6

Preis
5 Euro

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung


für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses
des Deutschen Bundestages sowie von der Thüringer
Staatskanzlei.

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Freiheit heißt: aufpassen.
Sie heißt, dass es genau darauf ankommt.
Dick de Zeeuw
Botschaft in der „Verschwindenden Wand“

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