H. Riemann - Ideen Zu Einer Lehre Von Den Tonvorstellungen"
H. Riemann - Ideen Zu Einer Lehre Von Den Tonvorstellungen"
H. Riemann - Ideen Zu Einer Lehre Von Den Tonvorstellungen"
Von
Hngo Kiemann
L
Töne, Tonempfindungen und Tonvorstellungen.
Daß das Musikhören nicht nur ein passives Erleiden von Schallwir
kungen im Hörorgan sondern vielmehr eine hochgradig, entwickelte Betätigung
von logischen Funktionen des menschlichen G *tes ist, zieht sich als leiten
der Gedanke durch meine sämtlichen musiktheoretischen und musikästhetischen
Arbeiten seit meiner Dissertation (Musikalische Logik, Leipzig, C. F. Kahnt, 1873).
Ohne mir selbst vollständig begrifflich klar zu machen, was ich eigentlich
suchte und erstrebte, habe ich in der neuen
Harmoniebezifferung („Skizze
einer neuen Methode 1880) in ihren verschiedenen Ent
der Harmonielehre"
wicklungsstadien bis zur Aufstellung der „Lehre von den tonalen Funk
tionen der Harmonie" („Vereinfachte Harmonielehre" 1893) und ebenso in
der Kenntlichmachung der rhythmischen Elemente der Musik (Phrasierungs-
bezeichnung) seit den ersten die Frage anschneidenden Aufsätzen im „Musi
kalischen Wochenblatt" (1882) bis zur Aufstellung eines „Systems der musi
kalischen Rhythmik und Metrik" (1904) ganz allmählich eine Art musikalischer
Grammatik entwickelt, welche ähnlich wie eine sprachliche Grammatik in den
Begriffen „Subjekt", „Prädikat" usw. in den harmonischen Begriffen Tonika,
Dominante, Subdominante und den rhythmischen Begriffen „schwere und
leichte Zeit", „schwerer und leichter Takt", „Vordersatz, Nachsatz" usw. die
Elemente aufweist und handhaben lehrt, über welche die musikalische Logik
verfügt, um musikalische Sätze zu bilden. Rückblickend halte ich es nicht
für einen Fehler, daß ich dabei nicht den Weg „von unten nach oben", die
„induktive Methode" gewählt habe, sondern vielmehr den Weg von oben nach
unten, die „deduktive Methode", d. h. daß ich mich bewußt auf den Stand
punkt der im Vollbesitz ihrer Mittel befindlichen Kunstübung der Gegenwart
gestellt und von ihr aus die letzten Elemente zu finden und zu begreifen ge
sucht habe. Die ungeheuren Schwierigkeiten, auf welche das umgekehrte Ver
fahren stößt, haben sich ja deutlich genug herausgestellt in den Arbeiten von
Carl Stumpf, dessen „Tonpsychologie" (Band 1—2, 1883—1890) die
Jahrbuch 1814/6. 1
2 HUGO RIEM ANN
kühnsten Hoffnungen auf eine befriedigende Lösung der Probleme des Musik
höre na,auf eine Überwindung der Mängel von Helmholtz's „Lehre von den
Tonempfindungen" (1863) erweckte, aber nur allzuschnell die Enttäuschung
gebracht hat, daß der Verfasser selbst die Weiterführung des Werks aufgab
und in den Kleinarbeiten vorbereitender tonpsychologischen Untersuchungen
an Zweiklängen stecken blieb. Die Hoffnung, daß Stumpf die Fundamen-
tierung der Musiktheorie vom physiologischen Gebiete auf das psychologische
überführen würde, hat sich nicht erfüllt, und noch mehr als bei Helmholte
erscheint bei Stumpf das musikalische Hören als ein physisches Erleiden.
Die von mir schon 1873 geforderte „logische Aktivität" des Musikhörens
spielt in seinen Arbeiten keine Rolle.
Nur sehr langsam bin aber auch ich zu der Erkenntnis der Gründe
gelangt, weshalb die Schwierigkeiten des Hinüberfindens von den physikalisch
physiologischen Untersuchungen der klanglichen Erscheinungen zu den ästhe
tischen Betrachtungen der Gebilde lebendiger Musik so schier unüberwindliche
sind. Spuren der keimenden Erkenntnis wird man jetzt in meinem Aufsatze
„Spontane Phantasietätigkeit und verstandesmäßige Arbeit in der tonkünstle
rischen Produktion" im Jahrbuch der Musikbibliothek Peters (1909) und im
3. Bande meiner „Kompositionslehre" (1913) finden. Um es kurz und ohne
Umschweife zu sagen: erst die intensive Beschäftigung mit dem „letzten
Beethoven" bei der Überarbeitung von Thayers fünfbändiger Biographie
Beethovens hat mir vollständig die Augen geöffnet und mich die Formulierung
eines Satzes finden lassen, den wohl die Hörer meiner Vorlesungen zunächst
mit einiger Verwunderung hingenommen haben mögen, daß nämlich gar nicht
die wirklich erklingende Musik sondern vielmehr die in der Ton
phantasie des schaffenden Künstlers vor der Aufzeichnung in
Noten lebende und wieder in der Tonphantasie des Hörers neu er
stehende Vorstellung der Tonverhältnisse das Alpha und das Omega
der Tonkunst ist. Sowohl die Festlegung der tonkünstlerischen
Schöpfungen in Notenzeichen als die klingende Ausführung der
Werke sind nur Mittel, die musikalischen Erlebnisse aus der Phantasie
des Komponisten in die des musikalischen Hörers zu verpflanzen.
Hat man diese grundlegenden Gedanken begriffen, so leuchtet ein, daß die
induktive Methode der Tonphysiologie und Tonpsychologie von
Anfang an auf einem verkehrten Wege geht, wenn sie ihren Aus
gang nimmt von der Untersuchung der Elemente der klingenden
Musik, anstatt von der Feststellung der Elemente der vorgestellten
Musik. Mit anderen Worten: den Schlüssel zum innersten Wesen der
Musik kann nicht die Akustik, auch nicht die Tonphysiologie und
Tonpsychologie sondern nur eine „Lehre von den Ton vorstellungen "
geben, eine Lehre, die freilich bis jetzt nicht einmal als Postulat
aufgestellt, geschweige denn ausgeführt und ausgebaut worden ist.
IDEEN ZU EINEK .LEHRE VON DEN TON VORSTELLUNGEN" 3
Man wird billigerweise hier von mir nicht mit einem Male ein wohl
gefügtes Lehrgebäude dieser neuen Disziplin erwarten. Vorläufig handelt es
Wie der Maler ein Bild, das er malen will, erst vorher innerlich schaut,
so hört der Komponist alles, was er nachher in Noten fixiert, vorher inner
lich. Ich verweise auf meinen Aufsatz im Jahrbuch 1909, der sich bemüht,
für den Sinn und die Bedeutung von Beethovens „Skizzenbüchern" das rechte
Verständnis zu wecken und zu Bewußtsein zu bringen, daß ein Werk even
tuell Jahre lang in der Phantasie des Künstlers eine latente Existenz haben
und wachsen und sich entwickeln kann, ehe es durch die Niederschrift seine
definitive Fassung und Formulierung erhält. Eine ganz ähnliche Existenz in
der Phantasie hat aber auch für den nicht selbst schöpferischen Musiker jedes
Tonstück, das er auswendig weiß und jederzeit in der Erinnerung zu repro
duzieren imstande ist. Daß dieses Vorstellen in der Tonphantasie von sehr
verschieden starker Lebendigkeit sein kann, muß wohl zugegeben werden. Fest
steht aber, daß dasselbe bei intensiv musikalischen Naturen alle
Eigenschaften wirklich klingender Musik gewinnt, einschließlich der
subtilsten Unterschiede der Klangfarbe und auch einschließlich der stärksten
dynamischen Wirkungen. Am bekanntesten und auch jedem Nichtmusiker ge
läufig sind wohl die Qualen, welche irgendein Mode-Gassenhauer durch sein
aufdringliches Immer- wieder -Auftauchen in der Erinnerung bereiten kann.
Nicht ganz überflüssig ist aber vielleicht der Hinweis, daß auch jeder von
Noten oder aus dem Gedächtnis ein Tonstück reproduzierende Sänger oder
Spieler jeden Ton erst vorstellt, ehe er ihn bringt, daß das Erschrecken über
einen Intonationsfehler oder Fehlgriff sich zunächst durchaus durch den
Widerspruch des erklingenden Tons gegen den erwarteten (vorgestellten) er
klärt. Etwas umständlicher ist schon die Erklärung dafür, daß wir auch in
einem uns bis dahin unbekannten zum erstenmale gehörten Werke falsche
1*
4 HCGO KIEMANN
kenn baren Eigenschaften, die ein vorgestellter Ton mit einem wirklich erklingen
den gemein hat, wenn derselbe richtig vorgestellt wird?
Alles wird natürlich darauf ankommen, daß wir das leitende Prinzip fest
im Auge behalten, welches die erstrebte neue Lehre unterscheidet, d. h. daß
wir uns von Anfang an und fortgesetzt auf den Boden der aktiven Phan
tasie, der Tonvorstellung stellen und zu ergründen versuchen, welche
Kategorien die lebendig arbeitende' Tonphantasie leiten und be
stimmen, ihr Gesetze geben. • •
eines Durakkordes oder aber als I, III oder V eines Mollakkordes vorgestellt
wird, ist er etwas wesentlich Verschiedenes, hat er einen ganz anderen Aus
druckswert, Charakter, Inhalt. Denn der Ausdruckswert, Charakter, Inhalt
der Harmonie, die er vertritt, haftet ihm selbst als etwas ganz bestimmt ästhe
tisch zu Wertendes an. Sehen wir zunächst von den weiteren Bedeutungen
ab, die ein Ton als die Konsonanz störender, dissonanter Zusatz einer Har-
') G. Re>£sz, Nachweis, daß in der sogenannten Tonhöhe zwei von einander
unabhängige Eigenschaften zu unterscheiden sind (Nachrichten der Göttinger Gesell
schaft der Wissenschaften, mathematisch-physikalische Klasse 1912.)
6 HUGO RIEMANN
in: a+ d+ f+ °a °e "eis
(I,
Akkorde (Dur oder Moll) die 1, 3, 5 V) heraushört und intoniert,
oder aber (was schon erheblich schwerer ist), daß ein angegebener Einzelton
vom Schüler durch Hinzufügung der beiden anderen Töne zum Dreiklange
ergänzt wird:
in III III
V
1
I
5
I
a+ d+ f+ °a °e "eis
Ist in dieser Ergänzung zur vollen Harmonie eine gewisse Gewandtheit und
Sicherheit erzielt, so ist damit wohl auch die Fähigkeit garantiert, den Einzel
ton bestimmt in jeder der sechs Bedeutungen ästhetisch zu würdigen. Die
Frage, ob ein isolierter Ton, z. B. zu Anfang eines Tonstückes, als wirk
licher Einzelton (ohne harmonischen Sinn als Vertreter eines Klanges) gewertet
wird, ist nicht ohne weiteres mit Ja oder Nein zu beantworten. Solange das
betreffende Tonstück dem Hörer gänzlich unbekannt ist, muß ein Zweifel als
möglich zugegeben werden, wie er zu deuten ist; doch wird schon die Ton
artvorzeichnung, überhaupt die Kenntnis der Tonart des Stückes, diese Unbe
stimmtheit zum größten Teile aufheben, vielleicht auch die Neigung zu kon
statieren sein, wo alle Anhaltspunkte fehlen, den Ton als Prim eines Dur
akkordes zu verstehen. Auch kann ein inmitten eines Tonstückes auftretender,
der vorausgehenden Harmonie stark fremder Ton als eine Art Rätsel wirken,
dessen Lösung erst der Fortgang bringt (Ph. E. Bach, Haydn, Mozart und
Beethoven haben mit solchen Rätselspielen oft besonders fesselnde Wirkungen
erzielt). In solchen Fällen wird man mit Recht die mehrfache Beziehbar
keit im Moment des Eintritts des Einzeltones als eine der Dissonanz ver
wandte kompliziertere Bildung ansehen können, deren frappante Wirkung
bei näherer Bekanntschaft mit dem Werke natürlich stark abnimmt. Auch
Zusammenklänge von zwei Tönen (Zweiklänge) haben noch eine wenn auch
beschränktere Mehrdeutbarkeit, zunächst als (konsonante) Doppel Vertretung
derselben Harmonie (nur zwei Möglichkeiten),
IV HI
1
1
1 3
5
3 5
III
V
*F=f 9^=¥
•9
II
IDEEN ZU EINER „LEHRE VON DEN TONVORSTELLUNGEN" 7
a7 dVII g6 eVI
und unter Umständen auch noch wesentlich kompliziertere (durch den Wider
spruch gegen die vorausgegangene Harmonie, z. B. e, g nach Cismoll oder
Esdur). Darüber besteht aber kein Zweifel, daß jede Ungewißheit über die
Deutung im Sinne der Klangvertretung uns als eine negative Eigenschaft
eines solchen Gebildes erscheint, die wir zu überwinden streben zur Ge
winnung voller Klarheit. Mit anderen Worten: Wir hören heute nach Mög
lichkeit Einzeltöne und auch Zweiklänge stets als Vertreter von Dreiklängen
(Dur- oder Moll-Akkorden); der harmonische Sinn des Einzeltones ist uns
im konkreten Einzelfalle durchaus eine seiner wesentlichsten Eigen
schaften. Auf eins sei aber gleich hier schon aufmerksam gemacht, näm
lich die entschiedene Neigung unserer Auffassung, durch die Wirrnisse der
endlosen Möglichkeiten der Tonkombinationen (in Tonfolge und Zusammen
klang) durch Bevorzugung einfacherer Verhältnisse vor komplizier
terem bequem durchzufinden. Dies Prinzip möglichster Ökonomie der
Ton Vorstellungen geht bis zur direkten Ablehnung komplizierterer Bildungen,
wo — auch in starkem Widerspruch gegen die effektiven Intonationen —
Andersdeutungen naheliegen, welche die Auffassung weniger belasten.
Ein recht krasses Beispiel mag zunächst zu Bewußtsein bringen, wieweit
diese Ökonomie des Vorstellens geht. Dasselbe versetzt uns sogleich mitten
hinein in die Konflikte, zu welchen die rein tonpsychologischen Untersuchungen
im Widerstreit mit dem natürlichen Musikgefühl führen können. Man spiele
auf einem rein gestimmten Harmonium folgenden vierstimmigen Tonsatz in
lauter reinen Harmonien :
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S
S
Intonationsfehler, h. so, -wie sie bei durchgeführtem Cdur ohne die fatalen Ver
d.
rutschungen nach Desdur und Hdur zu bezeichnen wäre. Die einzelnen Funktions
zeichen sind aber auch für die falschen Intonationen richtig, nur gilt z. B. das beim
S
dritten Akkord nicht für Odur sondern für Desdur. Leider muß der Verfasser be
kennen, daß die Möglichkeit, auch sehr weit von der Tonika abliegende Harmonien
8 HCGO RIEM ANN
Kein deutscher Hörer wird auch nur einen Moment im Zweifel sein, was
diese acht Takte vorstellen sollen, weil ihm der Rhythmus und die Linien
führung der Melodie der Oberstimme so vertraut sind, daß er sie trotz der
fürchterlichen Verrenkungen durch falsche Intonationen erkennt. Alle mit einem
t) überschriebenen Akkorde sind einen halben Ton zu hoch, alle mit b bezeich
neten einen halben Ton zu tief intoniert gegenüber den mit H, bezeichneten, in
deren Sinn die ganze Melodie weiter . gehört wird. Da alle vier Stimmen
gleichzeitig dieselben fehler machen, so sind die einzelnen Akkorde in sich
°in. u:.d(9s ist daher möglich, an dem Beispiel die Grenzen der Macht
der reinen Stimmung über die Tonphantasie zu konstatieren. Auf einem
53 stufigen Harmonium, wie solche für akustische Untersuchungen von Bosan-
quet, Helmholtz, Tanaka, v. öttingen und anderen konstruiert worden sind, ist
es ein Leichtes, diese acht Takte so zu spielen, daß die Akkorde mit über
geschriebenem Auflösungszeichen ein reines Cdur, die zu hohen ein
jj)
(mit
ein reines Hdur repräsentieren;
[>)
reines Desdur und die zu tiefen (mit aber
keine Macht der Welt kann den gesunden Musiker zwingen, etwas anderes
zu hören, als ein wiederholtes Verrutschen der Tonlage (überall, wo ein
Wechsel der überschriebenen also eine Reihe widerwärtiger Into
b,
H.
ist),
jj,
[»]
T
T
(8) (S) 3? (S) 3? .)
.
|
|
|
|
Daß mir niemals in den Sinn gekommen ist, einen derartigen harmonischen Nonsens
irgendwie für möglich zu erklären, brauche ich wohl nicht zu versichern. Ein Ver
gleich der beiden Analysen deckt in bester Weise auf, wie hier Logik nur so lange
herrscht, als in den übergeschriebenen dasselbe Zeichen wiederholt wird. Die
b,
jj,
in eckiger Klammer stehenden Funktionszeichen [§], [ö] zeigen deutlich, daß eine
durch den vorausgehenden Akkord bedingte Ausweichung nicht gemacht worden ist und
enthüllen die Halbton -Verrutschungen der Tonalität. Daß aber alle vorkommenden
Einzelakkordfolgen doch ohne Fehler möglich sind, ist den Kennern meiner Harmonie
lehre wohl bewußt. Der Unsinn liegt nur in der Häufung äußerster Komplikationen.
Das Beispiel würde ohne die Verrutschungen ganz in Des dur so aussehen (vergleiche
die Analyse der Funktionen):
jii
5
r
ij
j,
1
1
J
J
i
p 1
f-
£
p
-p7--
\
Analyse: .. ¥ SpD7 D7 ..
T
T
T
3?
S
S
IDEEN ZU EINER .I.EHRE VON DEN TONVOR8TELLUNGEN" 9
usw.
Der Witz dieses Falles liegt darin, daß bei der Wahl gleicher Tonart für
beide Melodien zufolge der Gleichheit der Funktionen die Verkoppelung einiger
maßen möglich ist, und daß dem Musiker das sofort aufgeht; es bleibt daher
als einziger grotesker Fehler die durchweg um einen Ganzton zu hohe oder
zu tiefe Intonation einer der beiden Stimmen gegenüber der anderen. Bei
beiden Beispielen erfolgt ein energischer Protest der apperzipierenden Ton
phantasie gegen die einzelnen Intonationen, die sie glatt ablehnt. Andere
Fälle, die uns weiterhin beschäftigen werden, unterscheiden sich von diesen
beiden dadurch, daß die Fehler so kleine sind, daß die Phantasie sie tatsäch
lich ignoriert. Aber die beiden Beispiele werden nicht ohne Nutzen sein, da
sie uns zeigen, daß unsere Tonphantasie sich durchaus nicht nach Belieben
durch äußere Tonreize herumwerfen läßt, sondern vielmehr gar sehr ihren
eigenen Willen hat und ihn zwingend geltend macht und zwar stets und über
all im Sinne einer Zentralisation, Vereinfachung der Tonbeziehungen.
Wir können daher nun bereits unsere weiteren Untersuchungen an die
Frage knüpfen : Wie weit läßt sich unsere Tonphantasie durch klingende
Musik oder durch die Notierung aus dem zentralen Gebiete der einfachsten
Tonvorstellungen, dem der Grundskalen Cdur und Amoll, wegführen? Ist
es ein Mangel oder eine willkürliche Beschränkung, wenn unsere Notenschrift
bei den doppelt erhöhten und doppelt erniedrigten Tönen der Grundskala halt
macht? Und wie steht es denn um Dinge wie das pythagoreische Komma,
das syntonische Komma und andere dergleichen wichtige Dinge der akustischen
Theorie? was weiß unsere Tonphantasie von ihnen? Kurz: was stellen wir
eigentlich vor?
Daß wir in der Tonphantasie weder Notenbilder noch Tasten noch
Griffe oder Kehlkopfbewegungen, noch gar Zahlenbestimmungen vorstellen und
10 HUGO RIEMANN
mit einander verbinden und vergleichen, ist gewiß. Das alles sind Dinge,
die für die musikalische Pädagogik oder die wissenschaftliche Erörterung musi
kalischer Verhältnisse eine Rolle spielen; sie decken aber doch nicht das
Wesen der musikalischen Vorstellungen auf, wenn sie auch als Versuche an
erkannt werden müssen, demselben näher zu kommen. Sie sind nur Ergeb
nisse von Untersuchungen des zwischen produktiver und reproduzierter Ton
vorstellung vermittelnden Materials. Unter wiederholter Verwahrung dagegen,
daß ich die ästhetischenWerte der sinnlich realen Klanggebung unterschätzte,
weise ich doch darauf hin, daß eine eingängliche Melodie oder eine ausnahms
weise Harmoniewirkung weder durch die Transposition in ganz andere Ton
lagen noch durch den Vortrag ganz anderer Instrumente in ihrer Wesenheit
geändert wird. Man denke nur an die allgemein üblichen Orchester- und
Quartett-Bearbeitungen von Klaviersätzen oder an die Verwandlung von har
monisch reichen Instrumentalstücken in Gesangsstücke und die zahllosen
Klavierbearbeitungen (früher besonders auch Lauten- und Orgelbearbeitungen)
von Vokalsätzen aller Art (Motetten, Madrigalen, Chansons). . Ganz gewiß
entspringen doch alle solche Verkleidungen mit zum Teil sehr starker Ver
änderung des Klanges dem Bewußtsein, daß bei ihnen doch der eigentliche
Kern, die Hauptsache, konserviert bleibt, nämlich das eigentliche Musikalische,
das harmonische, rhythmische und melodische Geschehen. Der hohe ästhetische
Wert der Streichquartettmusik beruht doch unbestrittenermaßen in dem Ver
zicht auf die derberen dynamischen Wirkungen und die kontrastierenden
Farbengebungen des Orchesters zugunsten der Verfeinerung der Zeichnung
und der Vermannigfaltigung des melodischen und harmonischen Details, und
umgekehrt beruht die Geschmacksgefährlichkeit der Militärmusik und auch
schon des modernen Opernorchesters auf der Ablenkung des Interesses von
dem Innerlichen, Intimen, auf das Äußerliche, Grobsinnliche.
II.
Tonhöhe und absolutes Ohr.
Ein solches seelisches Erleben ist jedes musikalische Kunstwerk, nicht nur
bei seinem Entstehen in der produktiven Phantasie des Komponisten,
sondern ebenso auch wieder in der rezeptiven und reproduktiven Phantasie des
Hörers. Der hohe ethische Wert der Musik beruht ja doch darin, daß sie den
empfänglichen Hörer befähigt, nachzuerleben, "was gottbegnadete Künstler vor-_
erlebT haben. Der Grad der Stärke dieses Nacherlebens hängt freilich ab
von der Fähigkeit, dem Ideenfluge des Künstlers zu folgen, einer Fähigkeit,
die Begabung voraussetzt, aber durch ernstes Studium sehr erheblich ent
wickelt werden kann. Man spricht Recht von einei Bildungs
deshalb mit
fähigkeit des Ohrs, von einer Lehrbarkeit und Lernbarkeit der Musik. Über
die zweckmäßigsten und förderndsten Wege, welche die musikalische Pädagogik
einzuschlagen hat, sind aber sehr verschiedene Meinungen möglich, und gerade
die vorliegende Arbeit ist ja bestimmt, wieder einen neuen Weg zu zeigen,
der sich von den bisher bekannten und gangbaren weniger im Beiwerk als
in der Gesamtrichtung unterscheidet, im Ausgangspunkt und Endziel. Nicht
ohne Berechtigung wird man dieselbe der Literatur der Musikästhetik1) zuzu
rechnen geneigt sein, aber ihr fester Kontakt mit der musikalischen Praxis
der Komposition sowie der Exekution (Reproduktion) ordnet sie doch der
Musiktheorie im engeren Sinne ein, und zwar als einen neuen Zweig der
spekulativen Theorie der Musik, die man wohl auch Philosophie der
Musik nennt. Wenn dieselbe vielleicht am allerstärksten sich in Gegensatz
stellt zu der noch jungen Tonpsychologie, so ist die Erklärung dafür in
der engen Verwandtschaft mit ihr zu suchen, in der überwiegenden Gemein
samkeit des Materials der Untersuchungen, die natürlich alle Divergenzen im
Detail zu Bewußtsein zu bringen geeignet ist. Wenn die Lehre von den Ton
vorstellungen in höherem Maße als alle anderen Fassungen der spekulativen
Theorie der Musik es unternimmt, zu erklären, wieso das Musikhören ein
seelisches Erleben bedeuten kann, so ist ihr damit zugleich der Weg vorge
schrieben, den sie einzuschlagen hat, d. h. es wird sich zunächst darum
handeln, wo die Wurzeln seelischen Werte der Elemente der
der
Musik (Melodik, Harmonik, Rhythmik, Metrik) zu finden sind.
Da stehen wir nun zunächst vor den Verschiedenheiten der ästhetischen
Bewertung der Tonhöhe. Daß hoch und tief eigentlich Übertragungen
der Benennung räumlicher Vorstellungen auf etwas ganz Heterogenes sind, hat
die Ästhetik längst festgestellt, aber die Verbreitung dieser Übertragung über
alle Völker der Erde beweist wohl eine Berechtigung für ihren Gebrauch.
Neben hoch und tief sind hell und dunkel, spitz (scharf) und breit (stumpf,
') Vielleicht wird gerade die Musikästhetik durch die Aufstellung des neuen
Namens und der neuen Betrachtungsweise der musikalischen Geschehnisse einen kräf
tigen Impuls erhalten. Auch eine Einwirkung auf die ästhetische Theorie anderer
Künste ist durchaus nicht ausgeschlossen, da bei allen die Entstehung in der Phan
tasie und die letzte Wertung wieder in der Phantasie zweifellos ist.
12 H0GO RIEMANN
aigu — grave, fein — grob). Alle diese Benennungen sind wohl verständ
lich, wenn man bedenkt, daß die schwingenden Körper, welche die verschie
denen Töne hervorbringen, desto kleinere Dimensionen aufweisen je höhere
Töne sie geben, und desto größere, je tiefer die ihnen entsprechenden Töne
sind. Der alte deutsche Name „grob" für tief B. im „Grobgedakt" der
(z.
Orgel bis heute erhalten) hebt das sehr hübsch hervor. Die schwere Masse
des schwingenden Körpers tiefer-1* ;Töne zieht gleichsam zu Boden, die win
digen Dimensionen der schwingenden Körper sehr hoher Töne scheinen feder
eicht, gewichtlos nach oben verschwebend.
Damit wird zunächst verständlich, warum die Tonbewegung als ein
Hinauf und Hinab im Raume gewertet wird und zugleich als eine Ver
änderung der Lichtstärke. Das Höher ist sogleich ein Heller, das Tiefer
zugleich ein Dunkler. So verwandelt sich das Hören von Tonhöhenverände
ein Schauen von und wir ahnen bereits die
in
rungen Ortsveränderungen,
letzte Identität des Wesens von Gesichts- und Gehörsvorstellungen.
Aber noch fehlt uns die volle Erklärung dafür, daß Tonbewegungen auch
einen bestimmten Wert für unser Wohl und Wehe haben, daß wir sie
erleben, wie Glück und Leid, Freude und Schmerz. Aber auch dafür liegt
nahe genug dem uns von der Natur gegebenen Musikinstrument,
in
der Schlüssel
der Singstimme. Sehen wir zunächst von deren kunstmäßiger Verwendung im
Gesänge ab, so ist schon an der Sprechstimme leicht zu_ Jieobachten, daß
steigende Tonhöhe sich ohne weiteres mit_ lebhafterer Erregung verbindet und
Sinkejide Tonhöhe ein Zeichen der Beruhigung ist. Man kann daher sogar
sagen, daß schon dem Einzeltone vermöge seiner Lage im Tonraume ein be
stimmter ästhetischer Wert eignet, ein Wert der Lust- oder Unlustempfindung,
des Wohls oder Wehes, der durch die Entfernung von den Grenzen der
möglichen Höherspannung und Abspannung (Senkung) bestimmt ist. Unsere
Notenschrift gibt die Möglichkeit der klaren Bestimmung dieses ästhetischen
Wertes durch den Platz, den sie der einzelnen Tonhöhe auf dem Liniensystem
anweist. Das Notensymbol für den Einzel ton ist dem Musiker so vertraut,
daß es mit größerer oder geringerer Genauigkeit die Vorstellung des betreffen
den Tones in der Phantasie hervorruft. Bei Musikern mit ausgeprägtem so
genannten „absoluten Ohr" oder „absolutem Tonbewußtsein" ver
bindet sich mit der einzelnen Note ohne weiteres die sehr bestimmte und
genaue Vorstellung der betreffenden Tonhöhe. Wir können hinzufügen, daß
der Vorstellung der Tonhöhe sich auch gleich die sehr bestimmte Vor
stellung der Klangfarbe gesellen kann, z. B. beim Lesen einer Partitur,
welche die Verteilung an die einzelnen Instrumente erkennen läßt. Auch die
Tonstärke und sonstige Details der speziellen Hervorbringung (Flageolett,
Pizzicato der Streichinstrumente, staccato usw.) gehen ohne weiteres aus den
Angaben der Notierung die Tonvorstellung über, bilden
in
integrierende Be
IDEEN ZU EINER .LEHRE VON DEN TONVORSTEILUNGEN" 13
standteile derselben, wie sie vor der Niederschrift der Notenzeichen Bestand
teile der Vorstellung des Komponisten gewesen sind.
Machen wir aber zunächst bei der Vorstellung der Tonhöhe selbst Halt,
und suchen wir uns darüber klar zu werden, welche Bedeutung es für den
Grad der Stärke des Erlebens der Tonbewegungen hat, ob der Hörer mit dem
„absolute Ohr" im Wege steht. Ein Musiker, der das absolute Tonbewußt
sein in ausgeprägtem Maße besitzt, steht Qualen aus, wenn er fortgesetzt andere
Töne bringen muß, als die er aus der Notierung abliest und somit vorstellt,
erwartet.
Ernstliche Skepsis ist am Platze, wenn der Besitzer eines absoluten
Ohres enharmonisch zusammenfallende Töne wie fis und ges bestimmt zu
unterscheiden behauptet. Denn diese Unterschiede der Benennung als j>Töne
oder Töne haben mit der absoluten Tonhöhe überhaupt nichts zu tun, son
dern ergeben sich lediglich aus dem inneren Ausbau unseres Tonsystems und
der Notierung. Es erfolgt daher in allen Fällen solcher angeblich verschärften
Bestimmungen eine Hineintragung von theoretischen Begriffen der Harmonik
in das Gebiet der absoluten Tonhöhe, eine Begriflsvermengung, die zwar wohl
begreiflich und schwer zu verhüten ist, die aber das Erkennen des Wesens
der absoluten Tonhöhe nicht erleichtern kann, sondern erschweren muß. Einen
Fisdur- oder Ges dur- Akkord, die in unserer temperierten Stimmung identisch
sind, als das eine oder das andere zu qualifizieren, ist lediglich Sache der Vor
stellung und nicht abhängig von einer verschiedenen Intonation. Gewiß sind
Fisdur und Ges dur zwei sehr wesentlich von einander verschiedene Vorstellungen,
die nicht ohne weiteres mit einander vertauscht und gleichgesetzt werden dürfen,
aber die Garantie ihrer Unterscheidung bietet lediglich die Notierung und die
harmonische Logik, welche auf ganz verschiedenen Wegen zu der einen oder
anderen Schreibweise und Benennung führt.
So beruht also die ästhetische Bewertung der absoluten Tonhöhe und
der bloßen Tonhöhenbewegung (Melodik) zunächst lediglich auf dem Steigen
und Fallen der Tonhöhe und dessen erregender bezw. beruhigender Wirkung.
IDEEN ZU EINER .LEHRE VON DEN TONVOR6TELLÜNGEN" 15
III.
Klang Vertretung.
Wären die Unterschiede der Tonhöhe nur eindimensionale, wären sie
erschöpft mit der Feststellung des mehr oder weniger Hoch, d. h. des mehr
oder weniger Schnell der Schwingungsfolge, des mehr oder weniger Groß der
16 HUGO RIEMiNN
Schallwellen, so müßten von der tiefsten Tiefe aufsteigend bis zur höchsten
Höhe, oder von der höchsten Höhe absteigend zur tiefsten Tiefe die Töne
einander immer fremder erscheinen, je weiter sie voneinander abstehen, oder
umso ähnlicher, je näher sie aneinander rücken. Das ist aber ganz und gar
nicht der Fall. Schon längst hat die theoretische Betrachtung der Tonverhält
nisse zu der Erkenntnis geführt, daß neben den Differenzen der Schwingungs
geschwindigkeiten und Schall Wellengrößen, welche ja nur eine sehr
große Zahl verschiedener Einzelintonationen ergeben kann, die nebeneinander
liegjn, die Kommensurabilität dieser selben Maßbestimmungen die
ELizelintonationen zu Gruppen zusammenschließt und der Ton!.öhe nach von
einander fern abliegende Einzeltöne einander näher bringt, in ähnlicher Weise,
wie der Sternenhimmel mit seineu unzählbaren Einzelweltkörpern sich für den
Astronomen zu einer Anzahl von Systemen ordnet, von denen eins von vielen
unser Sonnensystem ist. So fern es mir liegt, diesen Vergleich irgendwie
weiter zu verfolgen, so sei doch wenigstens mit einem Worte der Tatsache ge
dacht, daß schon die alten Griechen und vor ihnen die Ägypter allen Ernstes
den Bau der Skala dem Sonnensystem verglichen haben. Auf sie geht die
Erkenntnis zurück, daß das Wesen der Konsonanz, der Verschmelzbarkeit von
zunächst zwei Tönen zu einer höheren Einheit, auf der Kommensurabilität
ihrer Verlaufsbedingungen beruht, d. h. auf den einfachsten Zahlenverhältnissen,
welchen ihre Schallwellengrößen oder Schwingungsgeschwindigkeiten entsprechen.
Schon das ausgehende Mittelalter ist von dem Begriff der Konsonanz von
Intervallen zu dem von Akkorden fortgeschritten, und unsere Zeit hat in dem
Begriff der Klangvertretung das Zauberwort gefunden, welches den Schlüssel
zur Lösung der letzten Rätsel der Tonbeziehungen gibt. Schon Scotus Erigena
(gest. 880) ist über den Quaternarius numerus der Pythagoreer zum Se-
narius numerus fortgeschritten und sieht in der Zahlenreihe 1—6 die Ent
schleierung der Rätsel der Natur der Harmonik (De divisione naturae, ed.
Schlüter, Seite 533). Gioseffö Zarlino (1558) endlich hat durch Gegenüber
^
stellung der zwei Formen des Senarius 1:2:3:4:5:6 und , „ .
_. — =— -
1:2:3:4:5:6
als Divisio arithmetica und Divisio harmonica das Wunder der Gegensätzlich
keit der Durharmonie und der Mollharmonie aufgedeckt, d. h. die Erkennt
nis gebracht, daß die einfachsten Zahlenverhältnisse 1 — 6 bezüglich der
Schwingungszahlen das Wesen der Durkonsonanz umschreiben und die
selben bezüglich der Schallwellengrößen das Wesen der Mollkonsonanz. Den
Zahlenverhältnissen 1:2, 2:3, 3:4, 4:5, und 5 : 6 entsprechen nämlich die
Intervalle: Oktave, Quinte, Quarte, große Terz und kleine Terz, d. h. nach
oben (Schwingungszahlen) die Bestandteile der Durharmonie:
T 2 3 4 5 6
IDEEN ZU EINER „LEHRE VON DEN TON VORSTELLUNGEN" 17
1 2 3 4 5 6
Schon die Messeltheorie der Araber im 14. Jahrhundert geht aber mit
der letzteren Zahlenreihe •.bie zur XII weiter, um auoh die Konsonanz der
Sexten zu beweisen (vgl. , mejne „Studien zur- Geschichte •der Notenschrift"
Seite 7,7->-85)f •• ...
[1878]
Durch diese Aufdeckung der harmonischen Zusammengehörigkeit der Töne
zu Harmonien, als deren Vertreter die Einzeltöne verstanden und vorgestellt
werden, hat sich die Definition der Einzeltöne sehr stark vermannigfaltigt,
aber das Gesamtsystem ist dadurch doch nicht mehr kompliziert, sondern im
Gegenteil vereinfacht und übersichtlicher gemacht worden. Durch die Gleich
setzung oder doch innigere Beziehung der Töne, die im Oktavverhältnis
stehen, schmilzt die Zahl der zu einer Harmonie zusammengehörigen Töne
auf drei zusammen, die Prim (und ihre Oktaven = 1:2:4:8:16 usw.), die
Quint (und ihre Oktaven = 3:6: 12 usw.), und die Terz (und ihre Oktaven
= 5 : 10 : 20 usw.) sowohl nach oben als nach unten.
Die Einzeltonzeichen unserer Notenschrift gewinnen nun aber mehrfache
Bedeutungen, je nachdem sie von einem zentralen Ton aus (Prim einer Tonika)
durch Quintschritte oder Terzschritte oder Kombination beider bestimmt werden,
z. B. e als vierte Quinte von c (c : g : d : a : e) oder aber direkt als Terz von
c; ersteres ist um etwa i/io Ganzton höher als letzteres, wenigstens nach den
akustischen Zahlenbestimmungen. Wir stehen damit vor der Frage, wie sich
die Ton Vorstellung gegenüber diesen verschiedenen akustischen Werten des
Einzeltones verhält? Daß wir den Stimmungsunterschied des Quinttones e und
des Terztones e sehr wohl bemerken, ist längst erkannt und festgestellt. Ebenso
steht aber fest, daß wir uns mit einem Mittelwerte für beide sehr wohl ab
finden können, wie ihn die gleichschwebende 12 stufige Temperatur bietet (ver
gleiche die Tabelle unter „Tonbestimmung" in meinem Musik-Lexikon):
Terzton e = 0,32192
12 stufig temperiert e = 0,33333
in Logarithmen auf Basis
2
'/,
(= Oktave)
Quintton = 0,33984
e
(pythagoreische Terz)
für die Einführung von Schulinstrumenten
welche reiner
in
Diejenigen,
Stimmung eintreten, sind der Ansicht, daß die Surrogatwerte der Temperatur
das Unterscheidungsvermögen des Ohres für exakte Intonationen abstumpfen,
also das Organ schädigen; sie erhoffen von der Darbietung reiner Verhältnisse
eine Steigerung des Verlangens nach deren ausnahmsloser Durchführung und
damit eine Verschärfung des Tonsinnes. Die Verhältnisse liegen aber leider
Jahrbuch 1914/5.
2
18 HUGO RIEMANN
so, daß diese Hoffnungen sich als trügerische erweisen müssen. Einerseits
würde die Durchführung der reinen Stimmung die Apparate und Methoden
der praktischen Musikübung ganz bedeutend komplizieren und ihre sichere
Handhabung fast zur Unmöglichkeit machen, und andererseits ist unser
Hörorgan glücklicherweise so geartet, daß ihm die absolut reinen
Intonationen gar nicht Bedürfnissache sind. Gewiß nimmt dasselbe
rein gestimmte Harmonien mit Freuden hin, genießt den sinnlichen Wohllaut
derselben mit Vollbewußtsein; aber dieser Gewinn ware >i teiR. erkauft, wenn
er ~'\r möglich vräre durch einen Verzicht auf freie Be vegl^nkeit de* Harmonie,
durch Beschränkung der Modulation. Die Kardinalfrugc .st und bleibt aber
doch: Was stellen wir vor? Denken wir in temperierten oder reinen Inter
vallen? Da die Herstellung einer wirklichen exakt gleichschwebenden Temperatur
überhaupt kaum möglich ist, vielmehr auch die Stimmer nur durch künstliche
Abweichungen von den klar zutage liegenden Anforderungen des Ohrs sie
annähernd erreichen können, so scheint es allerdings auf den ersten Blick,
daß alles Temperieren eine Notlüge, daß also die absolut reinen als 2:3 in
tonierten Quinten und die als 4:5 intonierten Terzen das sind, was unser
natürlicher Tonsinn heischt. Ein kleines praktisches Beispiel mag uns zur
Stellungnahme in dieser grundlegenden Frage zwingen. Die Kadenz:
T (D) Sp D T
(c+
— a+ — °a — g+ — c+)
der Terz der Subdominante, d als Quinte der Dominante). Unsere musikalische
Praxis weiß von diesem zweierlei d in Cdur nichts, und unser Tonbewußt
sein weiß noch weniger etwas davon, daß das d : f : a kein reiner Mollakkord,
IDKEN ZU EINER „LEHRE VON DEN TON VORSTELLUNGEN" 19
wäre. Zweifellos stellen wir uns den Dmoll- Akkord als Parallelklang des
d :
f^a
und nicht als ein Mixtum compositum von Subdominante und Dominante, wie
Hauptmann will: .
. ... - ,-v S T T>
<
•••:
.±
fTcTg^d
,
Wäre er nicht ein reiner Dreiklang, so könnten wir uns nicht seine Dominante
vorstellen (gibt es z. B. eine Dominante von [Hauptmanns D FJ?
h
d
h
f
II
Ganz gewiß nicht!). Mit anderen Worten: Unsere Vorstellung weiß nichts
stellt
d,
von der Stimmungsdifferenz von und sondern setzt beide gleich,
d
als Unterquinte von und doch zugleich auch als Oberquinte von vor.
a
d
g
Diese enharmonische Identifikation der um das syntonische Komma
verschiedenen akustischen Werte ist für unser Musikhören schlechterdings un
entbehrlich. Nach der Meinung der Verfechter der reinen Stimmung ist der
Parallelklang der Subdominante von Cdur:d:f:a von dem Akkord der zweiten
Dominante fis durchaus verschieden und hat keinen Ton gemein, sofern
a
d
:
das verbindet. Wir wollen über diesen Einzelfall hinausgehen und über
d
IV.
festgelegt
als feststehend annehmen, daß alle Musiker Cdur als quintverwandt mit Gdur
und Fdur vorstellen und daß Amoll durch die Gemeinsamkeit aller Töne
(Parallelität) ebenfalls Cdur sehr nahe steht; aber auch Cmoll muß als Cdur
nächstverwandt anerkannt werden, was schon nicht mehr so absolut selbst
\>,
verständlich erscheinen wird wegen der drei welche leicht dazu verleiten
2»
20 ncOO RIEM ANN
könnten, Cmoll in der Lage des Esdur zu suchen und vorzustellen, das drei
strichen (fes, f, fis, fisis), die schräg von links nach rechts hin auflaufenden
Kolumnen geben große Terzfolgen (deses, fes, as, c, e, gis, his) die schräg von
links nach rechts herablaufenden kleine Terzfolgen (h, d, f, as, ces, eses usw.).
Der eingerahmte Mittelteil gibt die Töne der Grundskala Cdur bezw. rein
Amoll, beide mit den Doppelwerten d und d. Die Tabelle gibt ohne weiteres
die Bestimmung jedes Intervalls nach Quint- und Terzschritten an die Hand
und verrätfür jeden mehrfach bestimmbaren Ton die einfachste nächstliegende
Ableitung z. B. für fisis als Q 3 T (Quint der 3. Terz oder 3. Terz der Quint).
Fragen wir an der Hand dieser Tabelle nach dem Sitz, d. h. der Verwandt
schaftsbestimmung der üblichen transponierten Tonarten, so sieht
man ohne weiteres, daß wir nur G dur, D dur, F dur und B dur als rein Quintver
wandte von Cdur verstehen, d. h.: die Tonikaprimen nur dieser vier Tonarten stellen
wir als durch Quintschritte von dem Zentrum C aus erreicht vor. Direkt mit
IDEEN ZU EINER „LEHRE VON DEN TON VORSTELLUNGEN
ihnen verknüpft (durch Identität der Elemente ihrer reinen Skalen ) verstehen wir
ihre Paralleltonarten Emoll, Hmoll , D moll und Gmoll , deren Tonikaprimen
(I) durch Quintschritte von dem zentralen e aus bestimmt sind . Also nur
die
Tonarten der ersten und zweiten Quint nach oben und nach unten von
den
zentralen Tonarten Cdur und moll gelten uns als rein Quintver
A
wandte Schon für dur und Es dur und ebenso für Cmoll und Fis moll
A
.
von
die
Advə Ddur
ist
,
3
.
die
die
Variante von Amoll Cmoll nicht Subdominante von Gmoll sondern
,
,
'
Vari nte von Cdur beide rücken durch diese Andersdeutung ganz wesent
,
-
cis cis
dur statt
[g
A
d
e
e
a
a
:
:
c
]
moll statt da
g
g
C
e
c
)
:
es
est
Es
Ebenso begreifen wir dur nicht als Subdominante von dur sondern als
,
von B
Parallele Cmoll und Fismoll nicht der Dominante moll sondern
,
von
H
als
:
Es
es
dur statt
es g
b
:
:
c
c
[f
.
]
b
Fis
cis
fiscis
fis
moll statt
[h
:
:
e
]
e
a
Der Verwandtschaftsgrad der Tonikaprimen stellt sich aber durch diese Mani
als
,
=
=
Q
T
(
):
[
Prim
Q
=
3
a
A
c
a
)
:
Es
es
von
=
c
:
)
go
statt
moll
von
Prim
aus
C
=
:
g
=
)
:
e
Fis
cis
Prim
=
).
(
:
:
Das Gesetz möglichster Ökonomie des Vorstellens zeigt hier also seine zwingende
Kraft mit großer Deutlichkeit Die weiter folgenden transponierten Tonarten
.
die
als
an
an
dur und dur sind wieder die Tonarten der und Quint aufwärts
H
2
d
h
E
.
.
von dur Für Edur macht sich sogar die direkte Terzverwandtschaft der Tonika
A
.
22 HUGO RIEMANN
die
primen geltend Asdur Unterterztonart von Cdur und Des dur
ist
ebenso
die
für
ist
deren Subdominanttonart Entsprechend moll und moll Domizi
B
F
.
als
für
lierung Tonart der und Unterquint von Cmoll zweifellos und
2
.
.
Cismoll und Gis moll ebenso die als Tonarten der und Oberquinte von
2
.
.
Fismoll
: dur
T
e
)
E
caus
:
As dur
as
von
QT
:
.
dur
=
h
H
: von Caus
.
mal
dur
Des
des
:
moll
gis
=
Cis moll
F
c
:
T
:
von aus
>
e
von aus
QTS
.
e
dis
Gismoll
=
:
moll
QT
=
B
f
:
die
Cis
Für entferntesten Tonarten Fis dur und dur Ges dur und Ces dur
,
Esmoll und Asmoll und Dis moll und Aismoll scheint wieder die Vermitte
lung durch ihre Varianten oder ihre Parallelen geboten die bereits domiziliert
,
sind nämlich
,
von
als
Fis
Fis dur
= fis
Variante von moll
=
=
,
aus
d
h
I
.
.
e
(
).
Q
2
als
ci
,
d
h
e
I
.
.
).
(
als
Es
Es
c
.
(
I
).
als
As
Asmoll
es
c
I
).
(
Fis
als
aus
,
e
I
).
(
Cis
als
von aus
e
I
).
Es
als
=
,
c
-
).
(
I
As
als
=
,
von
I
).
c
"(
die als
ist
gerückt nämlich
,
e
cgd
oais
as
dest
es
+
ces gest
+
IDEEN ZU EINER „LEHRE VON DEN TONVORSTELLUNGEN" 23
also in Summa 22 Tonwerte, von denen aber ais und eis (und auch gis und
dis) nur als Mollprimen (in Dis moll und Ais moll bezw. Cis moll und Gis moll)
und ces und ges (sowie auch des und as) nur als Durprimen (in Cesdur und
Gesdur bezw. Desdur und Asdur) in Frage kommen. Ich will nicht be
haupten, daß damit die Gesamtheit der überhaupt vorstellbaren Töne um
schrieben ist, wohl aber die der Tonikaprimen. Durch die Durdominanten der
letzten Molkonarteii mit Kreuzen, wachsen noch einige Töne der 4. Oberterz
reihe hinzu und durch die "Subdominanten der letzten Durtonarten m\ Been
einige Töne der 3. Unterterzreihe:
- - Cesdur: fes
Noch weiter zu gehen, hat wenig Sinn. Des moll und Ges moll kommen wohl
gelegentlichnoch für kurze Strecken als Tonarten vor (in Tonsätzen in Desdur
und Gesdur); dieselben bringen aber kaum neue Töne hinzu. Noch höhere
Durtonarten mit Kreuzen (Gisdur und Disdur) sind ohne enharmonische Uni-
denkung kaum noch glatt vorstellbar und mögen aus dem Spiele bleiben, so
leicht sie ja schließlich schematisch aufweisbar sind. Die aufgezeigten 14 Trans
positionen der Dur- und Moll-Grundskala von Gesdur bis Cisdur und von
Asmoll bis Ais moll repräsentieren aber gewiß einen gewaltigen Raum für die
Harmoniebewegung, welche neben das bloße Auf- und Absteigen der absoluten
Tonhöhe als etwas ganz Anderswertiges tritt. Jede Tonart hat durch die Art
ihrer Ableitung von der Grundskala d. h. durch die Quint- und Terzschritte
nach oben und nach unten einen besonderen Charakter, der kurz dahin zu
definieren ist, daß alle Schritte nach oben den Charakter heller, strahlender,
alle nach unten ihn dunkler, trüber Da aber Dur gegenüber Moll
machen.
schon selbst strahlend, hell wirkt, so sind die hellsten Tonarten die Durtonarten
mit vielen Kreuzen und die dunkelsten die Molltonarten mit vielen Been. Wie
dieser Charakter der Tonarten auf die thematische Erfindung in denselben ein
wirkt, habe ich in meinen Analysen des „Wohltemperierten Klaviers" nachzu
weisen versucht. Raumrücksichten verbieten mir, hier mehr ins Detail der
Probleme der Harmonik als Gebiet der Ton Vorstellungen einzudringen, denn
natürlich kann ich hier nicht ein Lehrbuch der Tonvorstellungen ausführen,
sondern versuche nur, mit wenigen
Strichen einen Begriff zu geben, um was
für ein weitschichtiges Gebiet es sich dabei handelt. Vollends verzichte ich
ganz darauf, auch für das Gebiet der musikalischen Rhythmik hier eine
ähnliche Orientierung des Vorstellens zu versuchen. Nicht daß ee dafür an
24 HUGO RIEMANN
die
Anhaltspunkten mangelte Die gesamte Phrasierungslehre und Lebre vom
ja
musikalischen Periodenbau beruhen
rhythmischem Gebiete Die Unterscheidung von Leicht und Schwerin nie
die
Graden Umdeutung schweren Werten
zu
und höheren leichten
,
deren von
und umgekehrt die Grenzbestimmungen der Motive und Phrasen usw usw
.
als
Tonvorstellungen
ja
sind doch nichts anderes Ausschnitte einer Lehre von den
die
auf rhythmischem Gebiete Auch Unterscheidungen gegensätzlicher Themen
,
.
die
thematischer und nichtthematischer Partien also gesamte praktische Kom
,
positionslebre und musikalische Formenlehre handeln fortgesetzt von nichts
die
anderem als den Gebilden der Komponist vorstellt und kombiriert
.
V
.
Hilfsvorstellungen Leittöne
).
eine Frage möchte grund
ich
Nur zur Sprache bringen
zu
noch die den
,
legenden primitiven der Musiklehre gehört nämlich die wie wir kompli
,
ziertere Stimmschritte vorstellen
;
?
.
Am einfachsten vorzustellen sind zweifellos die Schritte von einem
Klangbestandteil zum anderen Prim Terz Quint bei bleibender
,
,
(
)
Harmonie bezw Moll
in
—
—
, ,
,
V
(1
I, 1
3
). 1
3
1
-
, -
-
–
:
III
III
III
III
in
,
I,
V
V
-
-
I
Vorstellungsvorgang
ist
anderen nahe verwandten Nur Teil der dabei sich ergebenden Schritte
.
,
D
T
(
-
.
°S
°T
, )
—
, ,
, ,
, 1,
1
1
5
-
. 3.
,
D
D
T
T
-
.-
-
"
:
, , -
)
—
, 1,
, ,
, 3,
, , , 1,
, ,
, 5,
1
1
- -
- -
- - - -
- -
–
D
S
S
-
11
,
, ,
, ,
, ,
3
D 5
5
--
- -
,
(
D
—
S
,
D
)
S
S
D
-
S
-
S
DSĆsind
,
1
1
)] u
.
(
,
D
S
-
ist
zu
.
(
Tonvorstellungen anknüpfende
an
künftigen Übungen denke ich speziell, wenn ich hier noch auf einen Umstand
aufmerksam mache, der sich dabei ergibt. Ganze Kategorien von Intervallen
werden nämlich nicbt direkt vorgestellt, sondern bedürfen einer Hilfsvorstellung.
Streng genommen gilt das sogar schon für die harmonischen (konsonanten)
3 5
Schritte von einer Harmonie in eine andere, wie z. B. (in Cdur: a — d).
S—D
Sich dabei nicht der narmoniefortschreitung S — D bewußt zu werden, sondern
mechanisch eine Quarte oder Quinte zu singen, als wenn I— V als 5 — 1 bei
bleibendem Dmoll oder Ddur vorläge, wäre eine verderbliche Notlüge, die sich
durch ihren. Mangel an Nutzen für die Ausbildung der Treffähigkeit schnell
genug rächen würde. Stellt man aber bei dem a bestimmt die Subdominante
Fdur und bei dem d ebenso bestimmt die Dominante Gdur vor, so findet man
eben das d von dem a aus nicht direkt, sondern über die Hilfsvorstellung der
beiden Primen f und g:
IL
Auch der Tritonus f— h ist mit Sicherheit zu intonieren über die Hilfsvorstellung
des g, aber es gibt für ihn noch eine andere Möglichkeit, nämlich, wenn dem
h weiterhin das c folgt:
(verminderte Quinte)
In einzelnen dieser Fälle ist der als Hilfe vorgestellte Ton mehrfach deutbar,
worauf aber nicht allzuviel ankommt. Das wichtige Gemeinsame aller dieser
Fälle ist eben nur, daß ein an sich schwer Stimmschritt durch
vorstellbarer
die Hilfsvorstellung des Tones, zu dem er leitet, zu dem er Leit
ton (nach oben oder nach unten) ist, leicht wird. Da der Leitton stets
Terz der Quint (bezw. Unterterz der Unterquint) des Tones ist, zu dem er
leitet, so ist eine enge Verwandtschaft, wo nicht Identität dieses Phänomens der
Vorstellung mit den leicht verständlichen und leicht vorstellbaren „Zwischen
dominanten" zu statuieren; aber auch die Leitklänge, welche zu allen drei
Tönen der folgenden Harmonie Leittonschritte machen, gehören in dieselbe
Kategorie B. fis+ — g+, ges+ — f+ usw.).
(z.
Max Schneider
') Die Urheber sind Wilhelm Rust (Joh. Seb. Bachs Werke, hrsg. von der Bach
gesellschaft, Jg. XXII, Vorrede S. XIV) und Philipp Spitta (Joh. Seb. Bach, Bd. 2
S. 112 und 769).
28 MAX SCHNEIDER
also nicht selbständig spielbar1). Dieser wertvolle Nachweis soll und kann
aber keineswegs die besonderen, bis jetzt leider nicht urkundlichen Fälle aus
schließen, in denen der Dirigent Bach (durchaus nach damaligem Brauche)
schwierige Begleitungen von Arien ohne Orchester vermutlich selbst übernahm ;
ob an der Orgel oder am Cembalo, wissen wir noch nicht. _^Immerhin erscheint
es glaubhafter, daß der Meister seine Aufführungen nicht von der Orgelbank
aus leitete, wobei er die Mitwirkenden im Rücken gehabt hätte. Auch be
') (Über Seb. Bachs Kantaten mit obligater Orgel). Bach - Jahrbuch 1908,
S. 51-53.
*) („Das thronende Leipzig". 1727. S. 22 s. Spitta, J. S. Bach, Bd.l, S. 829.
f.)
a. a. O.
G) 6) ') 8)
Spitta a. a. O. Bd.
2,
S. 873.
a. a. 0.
S.
282.
Näheres über Geschichte und Bestimmung der Kantaten mit obligater Orgel
s. B. Fr. Richter a. a. 0.
DER GENERALBASS JOHANN SEBASTIAN BACHS 29
') Aus den Chemnitzer Rateakten mitgeteilt von Georg Schünemann in der Fest
schrift zum 90. Geburtstage des Freiherrn Rochus von Liliencron (Leipzig 1910), S. 294.
*) Joh. Christian Kittel, der angehende praktische Organist, 3. Abtheilung, Erfurt
1808, S. 33; vgl. Spitta a. a. O. Bd. 1, S. 712.
i).
Philipp Emanuel Bach in jenem vorhin erwähnten Briefe, daß sein Vater, „eine
gute durchdringende Stimme von großer Weite und gute Singart" hatte. — Zu
sammenfassend wäre nun folgendes zu sagen:
Accompagnement
Regel einem Schüler; deshalb darf die künstlerische Beschaffenheit dieser
Die Verwendung von Orgel und Cembalo in der Kirche steht fest; ein
3.
ja
erwarten.
f.)
„Haec omnia, Fabi, paucissima esse diceres, videre tibi ab inferis excitato contin-
si
geret, Bachium, ut hoc potissimum utar, quod meus non ita pridera in Thomano Li-
psiensi collega fuit: manu utraque et digitis omnibus tractantem vel polychordum nostrum,
multas unum citharas complexum, vel organon illud organorum, cujus infinitae numero
tibiae follibus animantur, hinc manu utraque, illinc velocissimo pedum ministerio per-
currentem, solumque elicientem plura diversissimorum, sed eorundem consentientium
inter se sonorum quasi agmina: hunc, inquam, videres, dum illud agit, quod plures
si
citharistae vestri et sexcenti tibicines non agerent, non una forte voce canentem citharoedi
instar, suasque partes, sed omnibus eundem intentum et de XXX vel
[!]
peragentem
XXX adeo symphoniacis, hunc nutu, alterum supplosione pedis, tertium digito minaci
X
revocantem ad rhythmos et ictus; huic summa voce, ima alii, tertio media praeeuntem
tonum, quo utendum sit, unumque adeo hominem, in maximo concinentium strepitu,
cum difficillimis omnium partibus fungatur, tamen eadem (eundem statim animadvertere,
?)
si
titubetur restituere, membris omnibus rhytlimicum, harmunias unum omnes arguta aure
voces unum omnes, angustis unis faucibus edentem . . Spitta übersetzt
."
metientem,
„suasque peragentem partes" mit: „und so seine Aufgabe löst". Das ist nicht deutlich
genug; der Zusammenhang und der Gegensatz fordert zu sagen: „und (somit) seinen
eignen Part spielt (durchführt)". Rust (Bachs Werke, Jg. 22, S. XV) hat die ganze
Stelle offenbar mißverstanden; er bezieht das „dum illud agit" fälschlich auf die
Vordersätze.
DER GENERALBASS JOHANN SEBASTIAN BACHS 31
im einzelnen nur örtliche Bedeutung. Auch für den Thomaskantor gab es häu
fige Besetzungswechsel, die ihm wohl weniger wichtig erschienen, als wir sie heute
nehmen zu müssen glauben. Was besonders den dritten der eben angeführten
Punkte anbetrifft, so wäre vor allem geltend zu machen, daß wir heute Bachsche
Werke unter erheblich veränderten Verhältnissen erklingen lassen, Verhält
nissen, über die der Meister ohne Zweifel beglückt wäre. Nicht, weil wir es
so herrlich weit gebracht, nein, weil er die Möglichkeit fände, seinem gewal
tigen Künstlergeiste freie Bahn zu schaffen und die Anerkennung zu erreichen,
die ihm in seinem beengten Leben zum guten Teile versagt blieb, versagt
bleiben mußte. Keine Kunst ist ganz zeitlos, auch die Bachs nicht, aber gerade
sie enthält so viel Zeitenüberdauerndes in ihrer noch immer weitausstrahlenden
Eindruckskraft und Gedankentiefe. Soll der Gedanke wirksam werden, bedarf
er der Mitteilung; in welcher Sprache oder in welcher Schrift, ist für ihn selbst
im Grunde von nur beschränkter Bedeutung. Auch für die Musik gilt das, und
für die ältere, die ja technisch stärker gehemmt war, insbesondere. So kam
es, daß selbst ein Johann Sebastian Bach das für den Gedanken an sich
wirklich Unwesentliche nur andeutungsweise niederschrieb und dann bei Auf
führungen klanglich mehr oder weniger dem Zufall nach Maßgabe vorhandener
Mittel überließ. Das Untergeordnete, schriftlich nur Angedeutete ist bei Bach
das Accompagnement von Orgel und Cembalo, und wir stellten fest, daß ein
Schema für die Verteilung dieses Accompagnements auf beide Instrumente fehlt.
Tatsächlich hat nun ein solches Schema, wie sich aus vielen praktischen und
theoretischen Quellen erweisen läßt, wenigstens für die Allgemeinheit nicht
existiert; wo es bestanden zu haben scheint, galt es für den Ort und für un
bestimmte Zeit und wurde durch zufällig eintretende Besetzungsveränderungen
ohne weiteres umgestoßen. Auch bei Bach, wie die Prüfung des uns über
lieferten Stimmenmaterials lehrt. Wenn heute jemand ein älteres Werk, be
sonders eins aus dem Generalbaßzeitalter aufführt und dabei, was nur rechtens
ist, den basso continuo ausfüllt, so heißt es gleich „Bearbeitung von . . ." ,
und da fängt der Streit der „Meinungen" gewöhnlich an; häufig sogar nur
deswegen, weil ein nomen ein omen bedeutet. Wir kämen ohne Nennung solcher
„Bearbeitungen" heute oftmals weiter, denn das aufgeführte Werk bliebe aus
schlaggebend. Wer das nicht einsehen will, der möge sich logischerweise mit
der Folgerung abzufinden suchen, daß auch unter Bach selbst immer nur
„Bearbeitungen" erklangen.
Alles das bedeutet für heutige Bachaufführungen aber nicht eine Recht
fertigung der Planlosigkeit und Willkür. Chöre und Orchester, die sich jetzt
an Bach heranwagen dürfen, sind einheitlich zusammengesetzte, sorgsam ge
') Auch dieser Brief, dem Forkel viele Stellen für seine Bachbiographie wört-
lieh entnahm, soll demnächst in anderem Zusammenhange veröffentlicht werden.
DER GENERALBASS JOHANN SEBASTIAN BACHS 33
tenden Schüler Johann Sebastians schwerlich mit den „reinen und gemäch
lichen Griffen" etwa von Telemanns (für Anfänger bestimmten) „Singe-,
Spiel- und Generalbaßübungen" ausgekommen sein werden. Wohl konnten
sie ihre Aufgabe auf verschiedene und nicht ein für allemal festgelegte Weise
lösen, aber wir müssen annehmen, daß dabei ein gewisser Grad von Schön
heit nicht unterschritten werden durfte. Zum Glück sind bekanntlich zwei
solcher von Bachschülern ausgearbeiteter Aufgaben erhalten, beide allerdings
nur für Instrumentalsoli. Die eine als Sonate für Violine und Baß von
Albinoni vollständig ausgesetzter und von Bach korrigierter General baß-
mit
begleitung von Heinrich Nicolaus Gerber1), die andere ist Kirnbergers Beglei
tung zu der im „Musikalischen Opfer" befindlichen Triosonate für Flöte,
Violine und Cembalo2). Beide zeigen den „reinen vierstimmigen Generalbaß".
Am wertvollsten ist die von Gerber ausgearbeitete Albinonisonate, weil sie
stilistisch deutliche Merkmale Bachscher Schulung3) zeigt. Kirnbergers Arbeit
steht nicht auf gleicher Höhe und hat Bach offenbar nicht vorgelegen, denn
die Art, wie Kirnberger mit seiner Begleitung die komponierten Stimmen Bachs
zuweilen verwischt und belastet, ist der immer so blank geschliffenen, durch
andere Stimmen klanglich nicht irritierten Melodik Johann Sebastians durch
aus zuwider. Gerbers Begleitung, von diesem Fehler frei, überragt die Kirn-
bergersche an Technik und Geschmack ganz bedeutend. Es bleibt nur be
klagenswert, daß nicht noch mehrere solcher Beispiele vorliegen, um unter
scheiden zu können zwischen dem, — wie Spitts*) treffend bemerkt — was
Bach in dieser Beziehung gestattete und was er forderte. Immerhin sehen wir
aus der ungekünstelten, vielleicht darf man auch sagen „nicht komponierten"
Fassung der beiden Accompagnements, daß diese wohl den guten Durchschnitt
darstellende Art bei genügender Begabung und Übung unschwer improvisiert
werden kann. In der Tat haben wir auch heute wiederin Bach ge
einige
schulte, vortreffliche Generalbaßspieler. Daß einige von diesen sich beharrlich
weigern, ihre oft ausgezeichnet wirkenden Accompagnements aufzuschreiben,
ist ganz natürlich, denn die schriftliche Fixierung nimmt dem echten Accom-
pagnement gar zu leicht den Charakter des Enklitischen, Ungebundenen, Nicht-
komponierten und läßt es unversehens ins „obligato" gleiten.
«) a. a. O. Bd. 2, S. 127.
Jahrbuch 1914/5. 3
34 MAX SCHNEIDER
[in
Capellmeister Leipzig] zu hören,
welcher einen ieden General-Baß zu einem Solo so accompagnirt, daß man
denket, es sey ein Concert, und wäre die Melodey, so er mit der rechten
Hand machet, schon vorhero also gesetzet worden. Ich kan einen lebendigen
Zeugen abgeben, weil ich es Selbsten gehöret". Daß Johann Sebastian unter
Umständen sehr vollstimmigT und harmonisch reiche Griffe in der Begleitung
zu hören wünschte, geht aus seines Schülers Kittel schon erwähnter Äußerung
hervor: wie „sich oft plötzlich Bachs Hände und Finger unter die Hände und
Finger des Spielers mischten, und ohne diesen weiter zu genieren, das
Accompagnement mit Massen von Harmonien ausstaffierten". 756 macht der
1
Württembergische Kammermusikus und Theoretiker Johann Friedrich Daube
s)
folgende Angaben: „Bey der vollkommenen praktischen Ausübung des General
basses hat man dreyerley Arten zu wissen nöthig: die simple oder gemeine;
1)
die natürliche oder die der Eigenschaft einer Melodie oder eines Stücks
2)
Bach besaß diese dritte Art im höchsten Grade, durch ihn mußte die Ober
stimme brillieren. Er gab ihr durch sein grundgeschicktes Accompagniren
das Leben, wenn sie keines hatte. Er wußte sie, entweder mit der rechten
oder linken Hand so geschickt nachzuahmen, oder ihr unversehens ein Gegen
thema anzubringen, daß der Zuhörer schwören solte, es wäre mit allem Fleiß
so gesetzt worden. Dabey wurde das ordentliche Accompagnement sehr wenig
verkürzt. Ueberhaupt sein Accompagniren war allezeit wie eine mit dem
größten Fleiße ausgearbeitete, und der Oberstimme an die Seite gesetzte con-
certierende Stimme, wo zu rechter Zeit die Oberstimme brilliren mußte. Dieses
Recht wurde sodann auch dem Basse ohne Nachtheil der Oberstimme über
lassen. Genug! wer ihn nicht gehöret, hat sehr vieles nicht gehöret". Auch
Carl Philipp Emanuel Bach weiß in dem Forkel-Briefe von 1774 besonderes
über die Begleitkunst seines großen Vaters zu berichten: „Vermöge seiner
Größe in der Harmonie, hat er mehr als einmahl Trios accompagnirt, und,
weil er aufgeräumet war, u. wußte, daß der Componist dieser Trios es nicht
übel nehmen würde, aus dem Stegreif und aus einer elend bezieferten ihm
vorgelegten Baßstimme ein vollkommenes Quatuor daraus gemacht, worüber
der Componist dieser Trios erstaunte3)".
Generalbaß in drey Accorden, gegründet in den Regeln der alt- und neuen
Autoren. Leipzig 1756, S. 195 u. 204 Anm.
h.
Diese Briefstelle liegt der Mitteilung Forkels auf S. 46, Abs. seiner Schrift:
2
')
Aus allen diesen uns sehr hilfreichen Mitteilungen geht in erster Linie
hervor, daß Bachs Accompagnement eines Solo (nur um dieses handelt es sich)
als etwas Außergewöhnliches angesehen wurde, obwohl es, wie leicht erweisbar
ist,grundsätzlich im engsten Zusammenhange mit der Generalbaßlehre seiner
Zeit bleibt. Besondere, Lehrzwecken dienende eigene Beispiele scheint der
Meister nicht hinterlassen zu haben. Seine noch vorhandenen „Reguln" zum
Generalbaß sind ja nur elementar, und ohne weiteres ergeben sie noch kein
Accompagnement im eigentlichen Sinne. Aber wenn wir in Bachs Werken
Umschau halten, finden wir genug Stellen, die in Verbindung mit den ange
geführten Zeugnissen wenigstens einen ungefähren Begriff von seiner Begleit
kunst gewähren. Die, wie Daube sagt, „simple oder gemeine Art" des Ac-
compagnements *) scheint für Bach nur noch an solchen Stellen inbetracht ge
kommen zu sein, wo sie in gewollter, ganz bestimmter Weise wirken sollte,
wie z. B. im Adagio der Cdur-Orgeltoccate2). Hier sehen wir die wunder
volle Oberstimme auf einfachste Art dreistimmig begleitet:
Adagio
Angenommen, man hätte diesen oder einen ähnlichen Satz einfach als Solo
(Melodie und Baß) notiert vor sich: würde er nicht, wie gewöhnlich, voller
d. h. vierstimmig begleitet werden? Man denke daran, wie Kirnberger den
Anfang des oben erwähnten Trios aus dem „Musikalischen Opfer" setzt.
Wie würde sein Verfahren die schöne Orgel weise beeinträchtigen! Melodien,
die Bach wie diese schon an sich harmonisch reich gestaltete, können durch
zu dicke Begleitung nur verlieren; auf der Orgel mehr als auf dem Cembalo,
welches vollere Griffe erlaubt. Und mit wie feinen Zügen ist in dem schlichten
dreistimmigen Accompagnement, das hier in diesem besonderen Falle erst durch
die Solostimme harmonisch vollständig wird, Monotonie vermieden! z. B.:
') Daube, S. 19f> § 2: „. ... die leichteste. Sie wird bey Solo, Trio, Concerto,
Arien etc. gebraucht."
3*
36 MAX SCHNEEDE!?
und
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mit der rechten Hand eine frei erfundene (Gegen-) Melodie spielen oder dann
und wann die komponierte Solostimme nachahmen darf. Der Generalbaß
braucht keineswegs „mit lauter Spanischen Schritten einherzugehen". „Wer
verhindert, wenn der Baß allein gehet, oder aber die Umstände es sonst leiden,
daß ich mein Ciavier nicht auch hören lasse? Daß es inzwischen mit guter
Art geschehen müsse, wenn andere ebenfalls hervorragen sollen, solches ver
stehet sich", sagt Mattheson1). Und an einer andern Stelle2): „Hievon nun,
und wie gedachtes Spielen [der rechten Hand] soll eingerichtet seyn, etwas
gewisses oder eigentliches zu sagen, ist die lautere Unmüglichkeit: massen
solches aus freien Einfällen herfließen muß, und gar nicht gezwungen seyn
will. So viel ist überhaupt zu melden, daß der Baß accompagnirt oder voll
greift; die rechte Hand aber nur einstimmig, i. e. solo, auf das allersingbarste,
Man soll nur darauf achten, mit der den Baß nebst
3).
dabey eingehet"
akkordisehen Griffen spielenden linken Hand nicht zu tief zu spielen. Auch
der ebenso fortschrittliche Heinichen4) warnte schon vor dergleichen, „damit
das Gemurre so vieler tieften Tone dem Gehöre (sonderlich auf Pfeiffwerck)
nicht verdrießlich fället, und beyde Hände desto näher aneinander geschlossen
werden". In Bachs großen und kleinen Klavierwerken sehen wir diese be
gleitende linke Hand in der verschiedensten Weise. Allerdings sind das fast
nur sogenannte „Handstücke"; sie dürfen nicht zu der Annahme verleiten,
jedes Accompagnement bei Bach müsse einer vollständig und virtuos ausge
arbeiteten Klavier- oder Orgelkomposition gleichen. „Hand-Sachen wollen
geübet seyn, und wer sich unterstehet, dieselbe so gleich zu treffen, handelt
sehr vermessen, und gedencket den Zuhörern, durch seine Gauckel-Streiche,
eins aufzubinden, wenn er auch der Ertzcymbalist selbst wäre"5).
Wie man sich die Nachahmung der komponierten Solostimme durch die
rechte Hand etwa denken kann, zeigt Heinichen an folgendem Beispiel6).
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Hier wäre unter Umstanden auch das „geteilte" Accompagnement, die Verteilung
der Stimmen auf beide Hände möglich.
Der General-Baß in der Composition. Dreßden 1728, S. 548.
6) ')
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Er schickt ihm die höchst nötige Bemerkung voraus, daß man dem Solisten
nicht den Weg kommen dürfe. Da überdies anzunehmen sei, daß der
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aber schwindet die Plastik dahin; Bachs angebliche „Skizze" erscheint als
„Bearbeitung von . . .". Mit welcher Vorsicht, nebenbei bemerkt, eine solche
vermeintliche „Skizze" Bachs manchmal zu beurteilen ist, zeigt im Magnificat
das Altsolo „Esurientes implevit bonis, divites dimisit inanes", dessen Nach
spiel so schließt:
Fast überall wird bei modernen Aufführungen dieser Schluß (meist vom Ge
des zweiten Satzes im Facsimile.) Wie schön die Teilschlüsse mit ihrer lediglich
vom guten Klang regulierten Stimmenzahl:
Wirkung verbessern, das ist ja stets bei der Wiedergabe älterer Musik auf
neuen Instrumenten inbetracht zu ziehen; die Begleitung, auf dem Cembalo
bedarf jedenfalls keiner weiteren Ergänzung.
gespielt,
Die übrigen Sonaten des Bandes gewähren nicht weniger reiche Ausbeute,
auch an Stellen, wo „das ordentliche Accompagnement" der linken Hand je
nach Bedürfnis durch vollere Griffe zu ergänzen wäre. Eine Fundgrube sind die
sechs begleiteten Geigensonaten, und in den verschiedenen Klavierkonzerten
existiert noch manches Unverwertete, z. B. die Art der Baßfiguration. Wie
streng andrerseits Dreistimmigkeit bei entsprechend harmoniös gestalteter Melodik
bestehen kann, zeigen die sechs Orgelsonaten1). Nur in der zweiten von ihnen
findensich zwei, wegen der harmonischen Eindeutigkeit nötige, vierstimmige
Sekundakkorde, und im ersten Satze der sechsten ist der Schlußakkord vier
stimmig.
Auffallend geringe buchstäbliche stecken in den Kantaten Es
2).
Beispiele
bleiben aber wenigstens Anhaltspunkte für wechselnde Zahl der accompag-
nierenden Stimmen (nicht selten vier Ziffern übereinander) und für melodische
Forderungen an
Begleiter; die Ziffern geben da manchmal
den melodische
Linien an, welche bereits im Orchester erklingen. Angesichts der uneinheit
lichen Beschaffenheit des Stimmenmaterials, dem die Bezifferung meist entstammt,
und der offenbaren früheren Besetzungswechsel ist es heikel, daraus Schlüsse
zu ziehen. Man erinnere sich hierbei der Feststellungen Bernhard Friedrich
Richters über die Kantaten mit obligater Orgel3). — Nur Einzelfälle haben
für unsern Zweck aufklärenden, dokumentarischen Wert: Das Lautenaccom-
pagnement („Betrachte, meine Seel'") in der Johannispassion und die bemerkens
werten Gambenpartien der Matthäuspassion.
in
Daube hat wohl Recht: wer Bachs Accompagnement „nicht gehöret, hat
vieles nicht gehöret"! Aber die soeben erörterten Tatsachen dürften wiederum
ergeben, daß auch in der Behandlung des Continuo nicht nur ein Weg zu
Bach führt. Sicherlich muß selbst das schönste Accompagnement zurück
treten vor dem kompositorisch fertigen Werke des Meisters. Das Wesen seiner
Musik kann kaum von dem abhängen, was er selbst als nicht wesentlich be
zeichnete: von gewiß gutgemeinten, doch maßlos „nachschaffenden" Zutaten.
J.
S. Bachs Werke, Jg. XV.
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