Analisis Pormenorizado de Cronopios en Aleman

Als pdf oder txt herunterladen
Als pdf oder txt herunterladen
Sie sind auf Seite 1von 32

153

1. Imagination und Spiel: die Zeichen-Welt der Cronopien

1.0. Einleitung
Der Hinweis auf den poetischen Charakter der Historias de cronopios y famas gehört
zu den Selbstverständlichkeiten der Cortázar-Forschung.1 Die Semiotik bietet für die-
ses in den meisten Fällen intuitiv gefällte Urteil eine wissenschaftliche Argumenta-
tionsbasis. Hierzu bedarf die linguistische Definition der poetischen SpracA-Funktion
bei Jakobson 2 allerdings der Ergänzung durch ihre Einbettung in einen Ansatz der
allgemeinen Semiotik im Sinne der Trans-Linguistik.3 Wenn es richtig ist, die Er-
richtung eines Galgens in einem Vorgarten der Calle Humboldt (CF 33ff.) 4 , die Ver-
wendung bunter, in Stücke geschnittener Gartenschläuche zum Seilchenspringen (CF
130f.), die Einführung des Rumänischen als allgemeiner Verkehrssprache des argen-
tinischen Staatsrundfunks {CF 139f.) oder den Handel mit »gritos y palabras« (CF
103) poetisch zu nennen, so nicht, weil diesen Geschichten Texte entsprechen, die auf
der materiellen Ebene der Sprachverwendung dominant »poetische« Strukturen auf-
weisen, sondern weil die Welt der Cronopien selbst - nicht nur die Sprache, mit der
sie bzw. ihr Autor über ihre Welt zu sprechen pflegen - sich als eine Welt von Zei-
chen präsentiert. Poetisch ist das Tun und Treiben der Cronopien deshalb, weil sie die
Wirklichkeit - allerdings in Analogie zur 'Sprache' - als provisorische, arbiträre Zei-
chen-Welt erfahren, als eine Welt mithin, deren scheinbare Objektivität nur im Hin-
blick auf die spezifischen Fähigkeiten der menschlichen Subjektivität zur Schaffung,
Bewahrung und Veränderung von Zeichensystemen jedweder Art5 zu bestimmen ist.
Das schmale Bändchen der Historias de cronopios y famas6 besteht aus einer Viel-
zahl kurzer Prosatexte, unterteilt in vier Kapitel. Schon das Inhaltsverzeichnis bzw.

1 Vgl. Coulson 1981 (1976); Filer 1970: 121ff.; Pagés Larraya 1972: 277ff.; Durfn 1972 (1965).
2 Vgl. Jakobson 1972.
3 Die Forderung nach Transzendiemng und Öffnung des linguistischen Instrumentariums in Richtung auf den Ge-
samtbereich der Kultur - u.a. eine Folge der Bachtin-Rezeption der 70er Jahre - ist mittlerweile Gemeingut der
»Literatursemiotik«. Vgl. Kristeva 1969: 143ff.; Kloepfer 1975; Todorov 1981.
4 Wir zitieren die folgende Ausgabe: J. Cortázar Historias de cronopios y famas. Ediciones Minotauro, Buenos Ai-
res, 10. Auflage 1976.
5 Zum Begriff der »Semiosefähigkeit« vgl. Kloepfer 1975: 30.
6 An philologischen Versuchen, das arbiträre Eigenleben der Neologismen, die die Protagonisten der Historias be-
zeichnen, zu »erklären«, hat es natürlich nicht gefehlt So weist J. Foicat darauf hin, daß »la correcta interpretación
de 'cronopio', desde el punto de vista etimológico, [es] 'opio del tiempo', mediante la descomposición de 'cronos',
tiempo, y 'opio', en su acepción argentina, aburrimiento, cansancio« (zitiert nach Filer 1970: 133). Daß die
»significación de este personaje de ficción« auf die Konnotierung von »Erschlaffung« und »Müdigkeit« hinauslau-
fen solle, ist nun allerdings eine Deutung, der auch die oberflächlichste Lektüre der Texte widerspricht Näherlie-
gend scheint uns, beim Anagramm »cronos« und »opio« in /cronopio/, der Gedanke an die die gewöhnliche Wahr-
nehmung der Zeit außer Funktion setzenden »paradis artificiéis« von Baudelaire. - Leichter scheint die Deutung
der beiden anderen Titelfiguren: So realisieren die »Famen« ikonisch die ihr Verhallen charakterisierende Hörig-
keit gegenüber den Codes des gesellschaftlichen Lebens, während der Titel »esperanza« umgekehrt im ironischen
Kontrast steht zur Hoffnungslosigkeit der durch Konformität gegenüber den Codes ausgezeichneten sozialen Phy-
siognomie der »Esperanzen«.
154

die Titel der einzelnen Kapitel deuten auf die 'semiotische' Inspiration der Sammlung:
»Este libro contiene el surtido siguiente [...]« (CF 7) Das Buch präsentiert die Welt
der Cronopien - d.h. die phantastische Welt der Poetik1 Cortäzars - in der Tat als
»Sortiment«, als jedermann frei verfügbare, nach Lust, Belieben und Bedürfnis mani-
pulierbare Datenbank von Zeichen. Die List der kreativen Poetik beginnt jedoch be-
reits bei den Titeln. Der durch den Ausdruck »surtido« sowie die klare thematische
Gliederung der Texte hervorgerufenen Erwartung von Ordnung entspricht in den
Texten in Wirklichkeit ein verwirrendes Sortiment von Unordnung: Während die Ti-
tel nur einen einzigen Aspekt der Zeichenwelt beleuchten - Manual de instrucciones
den der Kodifiziertheit, Ocupaciones raras den kreativen Umgang mit den Zeichen,
Material plästico den Primat des Zeichenkörpers -, erscheinen in den den einzelnen
Kapiteln zugeordneten Texten zugleich auch die anderen Aspekte nach wechselnder
Dominanz. So besteht Manual de instrucciones in der Hauptsache gerade aus norm-
brechenden Anti-Instruktionen, ist insofern ein beständiger Prozeß der Deautomati-
sierung des Zeichenkörpers als solchem, und erscheint die normbrechende Funktion
der Ocupaciones raras nur vor dem Hintergrund der in den Texten mit ebensoviel
Gewicht repräsentierten semiotischen Norm. Ahnlich läßt sich auch im Hinblick auf
die Protagonisten der Texte argumentieren: Cronopien, »esos objetos verdes y hüme-
dos« (CF 114) - Verkörperung des dem sozialen Code gegenüber sich Geltung ver-
schaffenden individuellen Lustprinzips - erscheinen nicht nur im kurzen letzten Ka-
pitel, das ihren Namen trägt, sondern sind gegenwärtig ebenso im Subjekt des Verfas-
sers des Manual wie in den Mitgliedern der famosen, sich den Ocupaciones raras
hingebenden Familie der Calle Humboldt.
Ordnung zu schaffen im chaotischen Reich der Erscheinungen bleibt indessen die
(prekäre) Aufgabe der Wissenschaft. Versuchen wir deshalb - anhand exemplarischer
Texte -, die Welt der Cronopien systematisch zu beschreiben.

1.1. Welt und/als Zeichen


Der erste - und allgemeinste - Aspekt der Welt der Cronopien ist ihr Zeichencharak-
ter: Die Welt der Objekte - sowohl solche der sogenannten empirischen Wirklichkeit
als auch solche der menschlichen Einbildungskraft und Phantasie - ist in der Sicht der
Cronopien gleichsam doppelt konstituiert. Was dem unmittelbaren Anschauen als
Identität eines Objektes bzw. als Individualität menschlichen Verhaltens erscheint -
z.B. die Funktion eines bedruckten Stücks Papier als »Zeitung« oder die Bedeutung
einer vergossenen Träne als »Schmerz« -, ist in Wirklichkeit durch ein Bündel sozial
wirksamer, als Norm fungierender Gebrauchsregeln vorstrukturiert. Erst das unbe-
wußte8 Akzeptieren der den Dingen bzw. dem Verhalten als Quasi-Natur innewoh-

7 Kloepfer hebt den kreativen Aspekt der Poetik durch die provokativ etymologische Ubersetzung »Mache« hervor;
vgl. Kloepfer 1975: 30.
8 Der Begriff des Unbewußten ist vielfältig und schillernd. So gehört die These vom unbewußten Funktionieren der
155

nenden semantisch-pragmatischen Instruktionen9 mithin macht sie zu dem, was sie


sind - identischen Objekten bzw. individuellem Verhalten. Umgekehrt bewirkt die
poetische Arbeit am Signifiant der sozialen Zeichen - Weinen (CF 14), Singen (CF
15), Angst-Haben (CF 16), Kunstwerke-Betrachten (CF 18) etc. - die Deautomati-
sierung 10 sozialen Verhaltens, die potentielle Befreiung vom Imperativ der sozialen
Norm bzw. auch - im gegebenen Fall - deren kreative Umgestaltung durch das schöp-
ferische Subjekt. Betrachten wir dies an einigen Beispielen.

1.1.1. Dissoziierung von Bedeutung und Bedeutungskörper (»Instrucciones para


llorar«)
Der Text dissoziiert die automatische Verknüpfung des Tränen-Vergießens mit einem
durch die Stereotypen unserer Kultur vorgegebenen spezifischen Signifié - eben diese
Verknüpfung ist ja der eigentliche Gegenstand der den Wortkörper »llorar« konven-
tionell begleitenden Regel! -, indem er die »Instruktion« zunächst einmal auf den
psycho-physiologischen Vorgang des Weinens selbst - mithin auf seinen Signifiant -
zu beschränken versucht:
»Dejando de lado los motivos, atengámonos a la manera correcta de llorar [...]«
(CF 14).
Schon die zweite Zeile jedoch straft die vermeintlich mögliche Dissoziierung eines
rein physiologischen von einem sozialen Weinen Lügen: Korrektes Weinen ist näm-
lich eine solche Art von Schluchzen, »que no ingrese en el escándalo, ni que insulte a
la sonrisa con su paralela y torpe semejanza« (ebd.). Auch der physiologische Signifi-
ant des Weinens ist mithin bereits durch die soziale Norm strukturiert. Ihre Nichtbe-
achtung gefährdet die Identität des Zeichens sowohl in pragmatischer (»escándalo«!)

»langue« zu den Fundamenten des Saussureschen SprachbegrifTs (vgl. Saussure 1985: 38, 178ff.). Der Begriff des
Unbewußten selbst dagegen wird von Saussure nicht weiter problematisiert Das Unbewußte hat seine Entspre-
chung im Uberindividuellen, »kollektiven« Charakter der übrigen »Institutionen« des gesellschaftlichen Lebens.
Der orthodoxe Freudianismus seinerseits bestimmt das Unbewußte durch die Topik spezifischer Inhalte - »Trieb-
repräsentanzen«, die »nach Überwindung von Widerständen dem Bewußtsein zugänglich werden« (La-
planche/Pontalis 1973: 563). Das Unbewußte wird von Freud also nach wie vor gedacht im Schematismus einer
»métaphysique de la présence«. Demgegenüber heißt es bei Deirida: »[...] l'inconscient n'est pas, comme on sait,
une présence à soi cachée, virtuelle, potentielle. Il se diffère, cela veut dire sans doute qu'il se tisse de différences
et aussi qu'il envoie, qu'il délègue des représentants, des mandataires; mais il n'y a aucune chance pour que le
mandant 'existe', moins devienne conscient En ce sens, contrairement aux termes d'un vieux débat, fort de tous les
investissements métaphysiques qu'il a toujours engagés, l'inconscient' n'est pas plus une 'chose' qu'autre chose, pas
plus une chose qu'une conscience virtuelle ou masquée.« (Deirida 1972c: 21) Als »altérité radicale« (ebd.) ist das
Unbewußte vielmehr »un passé qui n'a jamais été présent« - »la trace et l'énigme de l'altérité absolue: autrui« (ebd:
22) mithin im Sinne von E. Lévinas. (Vgl. auch Derrida 1967: 99f.) Desgleichen verbietet es sich, den Begriff
eines »Unbewußten der Sprache« im Sinne eines Strukturalismus Lévi-Strausscher Prägung zu denken, wenn uns
auch eine Kritik an Lévi-Strauss überspitzt scheint, die in der Verwendung des Ausdrucks 'unbewußt' »nichts
anderes« sieht als die Applikation eines (axiomatischen) »Grundsatz(es), der, einmal erkannt und damit präsent
gemacht, den Ausgangspunkt für ein System bildet, das dem Kalkül in toto zugänglich ist«, wie H. Lang aus der
Sicht der Psychoanalyse J. Lacans heraus formuliert (Lang 1973: 277).
9 Zur Bedeutung des Begriffs im Rahmen der Linguistik, vgl. Weinrich 1976: 113 u.ö.; im Rahmen der Literaturse-
miotik vgl. Cervenka 1978: 168.
10 Vgl. die ausführliche Erörterung dieses Zentralbegriffs des Russischen Formalismus bei Kloepfer 1975: 46ff. u.ö.
156

als auch - der Gefahr der Homonymie mit dem Lächeln wegen - in syntaktischer Hin-
sicht.
Der zweite Abschnitt versucht die Dissoziierung von Zeichenkörper und Bedeu-
tung folglich auf dem genau entgegengesetzten Weg zu vollziehen. Während das
Weinen im allgemeinen nämlich als fraglos hingenommene Manifestation eines be-
sonderen, durch das Zeichen der Tränen indizierten Inhalts - etwa eines tiefen per-
sönlichen Schmerzes oder einer individuell empfundenen Notsituation - gilt, geht der
Text nun umgekehrt von diesem, durch den Begriff des Weinens vorausgesetzten In-
halt aus und fragt nach der äußeren Manifestation dieses Inhalts durch das korrekte
Zeichen des Weinens:

»Para llorar, dirija la imaginación hacia usted mismo, y si esto le resulta imposi-
ble por haber contraído el hábito de creer en el mundo exterior, piense en un pato
cubierto de hormigas o en esos golfos del estrecho de Magallanes en los que no
entra nadie, nunca.« (Ebd.)
Die metatextuelle Instruktion dieses, durch die soziale Konvention nicht länger
vorgegebenen Weinens weist jedoch ins Leere. Es entspricht ihr kein (textuelles)
'Objekt': Gibt es ein »Weinen«, das der reductio ad mortem - bzw. der reductio ad in-
dividuum - des sozialen Charakters des Zeichens adäquat 'Ausdruck' zu verleihen
vermöchte?
Der dritte Abschnitt insistiert infolgedessen auf der - im Sinne der vorausgegange-
nen Entwicklung nurmehr ironisch zu verstehenden - konventionellen Instruktion des
Weinens:
»Liegado el llanto, se tapará con decoro el rostro usando ambas manos con la
palma hacia adentro. Los niños llorarán con la manga del saco contra la cira, y de
preferencia en un rincón del cuarto. Duración media del llanto, tres ir.inutos.«
(Ebd.)

1.1.2. Bedeutung pragmatisch (»El diario a diario«)


Die deautomatisierende Dissoziierung von Bedeutung und Bedeutungsträger im Ma-
nual de instrucciones legt den falschen Schluß einer dualen Struktur der Zeichenwelt
nahe. Die Möglichkeit der Dissoziierung - wie umgekehrt natürlich auch die das Zei-
chen als solches konstituierende Konjunktion von Bedeutung und Bedeutungskörper -
ist jedoch in Wirklichkeit - soweit der vorliegende Text - in einem Dritten fundiert,
der pragmatischen Dimension des Zeichens: Eine einmal gelesene, auf einer Bank
liegengebliebene Zeitung »ya no es el mismo diario, ahora es un montón de hojas im-
presas [...]« (CF 71) - eine »Zeitung« also nur noch im Sinne einer semantischen
Virtualität. Nähert sich jemand, nimmt sie in die Hand, um sie erneut zu lesen, so
aktualisiert er abermals ihre dominante Funktion als Medium der Massenkcmmuni-
kation. Jene Alte aber, die sich schließlich des bedruckten Papiers bemächtigt, es zum
157

dritten Mal liest und auf dem Heimweg »medio kilo de acelgas« (ebd.) drin ein-
schlägt, aktualisiert auf diese Weise eine weitere - latente - Bedeutung des Signifiant
/hojas impresas/, und zwar als »Packpapier«.
Die Dissoziierung von Bedeutung und Bedeutungsträger mittels der deautomatisie-
renden pragmatischen Dimension der Zeichen ist auch das Prinzip des folgenden
Textes.

1.1.3. Entpragmatisierung sozialer Codes (»Simulacros«)


Sein Gegenstand ist nicht eine einzelne Geste wie im ersten oder ein einzelnes
Objekt wie im zweiten Teil, sondern eine soziale Institution: Die Errichtung eines
Galgens und anderer Folterinstrumente aus Gegenwart und Vergangenheit, die der in
der Calle Humboldt ansässige Familienclan im Garten seines Eigenheims praktiziert,
nimmt eine bestimmte Praxis des Strafvollzugs ins Visier, näherhin das von der Ge-
sellschaft usurpierte und bis heute praktizierte Recht auf Verfolgung und Tötung ein-
zelner ihrer Mitglieder. Der Humanismus der Aufklärung, weit davon entfernt, diese
prinzipielle Fundierung des Strafrechts anzutasten, hat ihm in der Theorie des Rechts-
staates eine bis heute akzeptierte, im »Code pénal« fixierte institutionelle Form ver-
liehen, hat die verschiedenen Formen seiner Exekution jedoch - im Gegensatz zum
Strafvollzug des Mittelalters - den Augen der Öffentlichkeit entzogen: Hegels »Dia-
lektik der Sittlichkeit«11 vollzieht sich in der westlichen Hemisphäre hinter abge-
schirmten Gefängnismauern. Die Praxis des Strafrechts ist mithin an ein soziales
Zeichensystem gebunden, dessen Herzstück eine klar definierte Pragmatik ausmacht.
Andererseits: so sehr diese Pragmatik in der Praxis des modernen Rechtsstaates auch
Geltung besitzt, so sehr bewirkt die fiktionale Repräsentation des Strafrechts im Be-
reich der Massenkommunikation ihre Aufhebung: Mord, Totschlag, Hinrichtungen,
Folter sind integrierende, durch die ästhetischen Regeln der Gattung sanktionierte
Bestandteile des modernen Wildwest-, Kriminal- und Horrorfilms und erreichen auf
diesem Wege eine Öffentlichkeit, dergegenüber der mittelalterliche Galgen wie inti-
mes Kammertheater anmutet.
An der Western-Ästhetik scheint der mimetische Eifer der Familie in erster Linie
orientiert:
»Tenemos un defecto: nos falta originalidad. Casi todo lo que decidimos hacer
está inspirado - digamos francamente, copiado - de modelos célebres« (CF 33),
heißt es zu Anfang des Textes programmatisch. Und weiter:
»Mi tío el mayor dice que somos como las copias en papel carbónico, idénticas al
original salvo que otro color, otro papel, otra finalidad.« (Ebd.)

11 Zum Begriff vgl. Habermas 1969: 9ff.


158

Das Schauergerüst, das sie aufzustellen beschließen, ist mit allen Stereotypen ein-
schlägiger Westem- und Horrorromantik überstrukturiert:
- der Vollmond:
»'Empezaremos con la luna llena', mandó mi padre.« (CF 34)
- das Heulen der Wölfe:
»[...] mis hermanas se quedaban en la sala practicando el aullido le los lobos [...)«
(Ebd.)
- die Requisiten des Gruselkabinetts:
»[...] mi tío el mayor [...] discutía con mi madre y mi tío segundo la variedad y
calidad de los instrumentos de suplicio. Recuerdo el final de la discusión: se de-
cidieron adustamente por una plataforma bastante alta, sobre la cual se alzarían
una horca y una rueda, con un espacio libre destinado a dar tormento o decapitar
según los casos.« (CF 35)
- das Ritual des geistlichen Beistandes:
»[...] dejamos terminada la plataforma y las dos escalerillas (para el sacerdote y el
condenado, que no deben subir juntos)« (ebd.);
- als »Totale« das Galgenprofil im Abendschein:
»[...] entre el solferino y el malva del atardecer ascendía el perfil de la horca [...]«
(CF 36);
- Indizien des Schreckens: die balancierende Schlinge, das Quietschen des Rades, das
Krächzen der Raben:
»Una brisa del norte balanceaba suavemente la cuerda de la horca; una o dos
veces chirrió la rueda, como si ya los cuervos se hubieran posado para comer«
(CF 37);
- und schließlich - als Krönung des Werkes - die Perspektive des den Schrecken in
wohlige Plüsch-Romantik aufhebenden Genusses:
»Después del café apagamos la lámpara para dar paso a la luna que subía por los
balaústres de la terraza [...] En el silencio que siguió, la luna vino a ponerse a la
altura del nudo corredizo, y en la rueda pareció tenderse una nube de bordes pla-
teados.« (Ebd.)
Während die Erbauer nach vollbrachter Tat sich in stiller Kontemplation dem äs-
thetischen Genuß ergeben, rotten sich jenseits des Gartenzauns Gruppen von Nach-
barn und Anwohner zusammen, lassen ihrer moralischen Entrüstung freien Lauf und
rufen die Hüter von Sitte und Ordnung herbei. Die Aufregung ist verständlich: Die
Funktion des 'Werkes' im Hinblick sowohl auf den realen als auch den fiktiven Signi-
fiant des »code pénal« ist der der Ent-pragmatisierung. Auf der Grenzscheide gelegen
159

zwischen privater und Öffentlichkeitssphäre, ist der friedliche Vorgarten der Calle
Humboldt ebensoweit entfernt von der öffentlichen Privatheit der Gefängnismauern
wie von der privaten Öffentlichkeit des Vorstadtkinos. Durch die Transposition des
bloßen Signifiant in einen inadäquaten pragmatischen Kontext verwandelt sich der
Vorgarten in die potentielle Schaubühne (»plataforma«) kleinbürgerlicher Hypokri-
sie. Der Signifiant vermeintlicher Rechtsstaatlichkeit bzw. harmloser Abendunter-
haltung offenbart den entsetzten Bürgern den - in beiden Systemen - verdrängten Si-
gnifié der Gewalt. Nur die geschickte Berufung auf das unwiderlegbare Fiktionali-
tätsprivileg der Kunst,12 verbunden mit dem diskreten Hinweis auf das Prinzip des
Privateigentums, das die Schwester des Erzählers dem Polizisten entgegenhält, rettet
die Situation:
»[...] no le fue difícil convencerlo de que trabajábamos dentro de nuestra proprie-
dad, en una obra que sólo el uso podía revestir de un carácter anticonstitucional, y
que las murmuraciones del vecindario eran hijas del odio y fruto de la envidia.«
(CF 36)

Die Kette der Signifikanten (»Historia«)


1.1.4.
Die pragmatische Dimension, wenngleich an der Konstituierung der Bedeutung be-
teiligt, ist dennoch nicht die dominante Funktion der Zeichen. Ausgangspunkt des
folgenden Textes ist gerade eine pragmatische Situation:
»Un cronopio pequeñito buscaba la llave de la puerta de la calle en la mesa de luz
[...]« (CF 135)
Die Unbekannte ist also weder die Bedeutung des Zeichens noch seine pragmati-
sche Funktion. Wonach das Kronopium sucht, ist vielmehr der »Schlüssel« qua Zei-
chen-Körper: Statt seiner findet es eine Anzahl weiterer Objekte, die durch ihre
räumliche Beziehung zum Schlüssel den syntagmatischen Kontext des gesuchten
Objekts konstituieren. Die Suche findet sich mithin einer »Kette von Signifikanten«13
konfrontiert, die der Text syntaktisch durch simple Reihung von vier Akkusativ-
Objekten, die durch Genetivattribute bzw. adverbiale Ortsbestimmungen spezifiziert
sind, ikonisiert:
»[...] buscaba la llave de la puerta de calle en la mesa de luz, la mesa de luz en el
dormitorio, el dormitorio en la casa, la casa en la calle.« (Ebd.)
Der frustrierende Semioseprozeß sieht sich mithin von Objekt zu Objekt, von Si-
gnifiant zu Signifiant verwiesen und gelangt gerade hierin zur Einsicht in sein eigenes
Wesen:

12 Zum Begriff der Fiktion vgl. die textwissenschaftliche Grundlegung bei Landwehr 1973; zum geistesgeschichtli-
chen Rahmen des Begriffs vgl. Assmann 1980.
13 Vgl. die an Peirce anschließende Erörterung des Begriffs bei Eco 1972: 76ff.; zur Verwendung des Begriffs bei J.
Lacan (1966: 502) vgl. H. Lang 1973: 234ff.
160

»Aquí se detenía el cronopio, pues para salir a la calle precisaba la lave de la


puerta.« (Ebd.)
Die Kette der Signifikanten, so sieht das Cronopium, ist nicht durch dei Verweis
auf 'Realität' und ebenfalls nicht durch die Bedürfnisse ihrer potentiellen Beiutzer de-
finiert, sondern - dominant - durch die syntaktischen Bezüge der Signifikanen unter-
einander.
Der vieldeutige Titel »Historia« suggeriert darüberhinaus eine zumindest dreifache
Anwendung des demonstrierten Prinzips: Einmal unterliegt die konkrete »Geschich-
te«, die der Text erzählt - die Suche des Schlüssels - dem Primat des Sigrifikanten.
Im weiteren findet das Prinzip jedoch Anwendung auch auf andere Ge.chichten,
insbesondere auf das Problem des Geschichten-£rzä/i/ens, impliziert dernarrative
Text doch grundsätzlich wie der vorliegende - als »eje del deseo« 14 - die Stuktur der
Suche. Schließlich präsentiert sich auch 'die' Geschichte - die historische Welt im
allgemeinen, auf die sich das Geschichten-Erzählen immer bezieht - iach dem
Modell des vorliegenden Textes dominant als Kette von Signifikanten.

1.2. Die Welt als Sprache


Schlechthin alles verwandelt sich unter den Händen der Cronopien in Zeiihen. Ihre
allgemeinste Bestimmung erhält deshalb die Zeichenwelt zweifellos als tnnslingui-
stische. Andererseits hat das Sprachsystem für die übrigen Zeichensysteme nicht nur
Modellfunktion - ein methodologischer Grundsatz, dessen Beweis wir an diser Stelle
allerdings schuldig bleiben müssen 15 -, sondern enthält an vielen Stellen dir Samm-
lung darüberhinaus thematische Dominanz.

1.2.1. Sprachliche Verfremdung sozialer Zeichen (»Instrucciones para sulir una


escalera«)
Der kulturelle Zeichencharakter der Treppenarchitektur ist evident. Es geiügt, die
steil zum Himmel ragenden Stufen einer Maya-Pyramide zu vergegenwärtgen oder
die sanft nach oben führenden, durch ihre langgezogenen Absätze nur Lngsames
würdevolles Schreiten erlaubenden Repräsentationstreppen einer süddeuts:hen Ba-
rockresidenz, um der kulturellen Instruktion des Treppensteigens inne zi werden.
Wenn die Treppenarchitektur als solche mithin als Teil eines primären arciitektoni-
schen Zeichensystems zu betrachten ist, so läßt sich das Treppen-S/eige« al zugehö-
rig zu einem durch die architektonische Konfiguration der Treppe, mehr jedtch durch
das kulturelle System - dessen Ausdruck die Treppe ist - definierten komotativen
Code beschreiben.
Beide Ebenen spielen für den vorliegenden Text jedoch offensichtlich kum eine

14 Vgl. Blanco/Bueno 1980: 66.


15 Vgl. Lévi-Strauss 1974 (1958): 39.
161

Rolle. Der Text scheint von der kulturellen Bedeutung des Treppensteigens zu ab-
strahieren und erhebt die durch die aufsteigende Stufenfolge einer Treppe bedingte
physische Bewegung des Treppensteigens zum Gegenstand der Beschreibung.
Gewiß sind Glanz- bzw. Wildlederschuhe oder die genau auf die Normalgröße ei-
nes menschlichen Fußes zugeschnittene Tiefe des Treppenabsatzes kulturelle Indi-
zien: Wir ersteigen offenbar eine Treppe des 20. Jahrhunderts. Ihre Benutzer sind
keine Maya-Priester, sondern Angehörige der sogenannten westlichen Kultur. Aber
diese Indizien sind nicht Thema des Textes. Dieses ist vielmehr von Anfang an das
sprachliche Problem der Beschreibung als solcher: Die Verknüpfung von Signifiant
/subir una escalera/ mit dem Signifié einer entsprechenden Körperfunktion ist im
Rahmen einer gegebenen Kultur normalerweise durch die Motorik des Ablaufs der
physischen Bewegung automatisiert. Wie der Tanz durch Verzögerung und Stilisie-
rung bzw. der Film durch Naheinstellung und Zeitlupe den physischen Signifiant der
Bewegung, so versucht der vorliegende Text den Wortkörper /subir una escalera/ zu
deautomatisieren. Das Problem besteht dann darin, die automatisch durch den Wort-
körper hervorgerufene Vorstellung sprachlich zu verfremden, d.h. den scheinbar evi-
denten Begriff neu zu definieren. Der Text beginnt folglich mit der Definition der er-
sten semiotischen Ebene des Treppensteigens (s.o.!) - der Definition der Architekto-
nik einer Treppenstufe:
»Nadie habrá dejado de observar que con frecuencia el suelo se pliega de manera
tal que una parte sube en ángulo recto con el plano del suelo, y luego la parte si-
guiente se coloca paralela a este plano, para dar paso a una nueva peipendicular,
conducta que se repite en espiral o en línea quebrada hasta alturas sumamente va-
riables.« (CF 25)
Folgt im zweiten Abschnitt die Definition der eigentlichen Bewegung:
»Para subir una escalera se comienza por levantar esa parte del cuerpo situada a
la derecha abajo, envuelta casi siempre en cuero o gamuza, y que salvo excepcio-
nes cabe exactamente en el escalón.« (CF 26)
Das eigentliche sprachliche Problem der Verfremdung des Wortkörpers - im vor-
liegenden Fall seine Definition - besteht in der Konstituierung einer vom
»definiendum« unabhängigen Metasprache - oder einfacher: in der Vermeidung von
Tautologien. Das Problem ist dadurch verschärft, daß der Wortkörper einen Prozeß
bezeichnet, besteht doch Treppensteigen gerade in der Wiederholung gleicher Bewe-
gungen mit gleichen Körperteilen. Der Versuch der Verfremdung fällt mithin 'auto-
matisch' zurück in den Fehler, den es zu vermeiden galt - die automatische Subsump-
tion prozeßhafter, mithin heterogener Bewegungen (bzw. Vorstellungen) unter einen
einzigen Begriff (bzw. Wortkörper):

»Puesta en el primer peldaño dicha parte, que para abreviar llamaremos pie, se
recoge la parte equivalente de la izquierda (también llamada pie, pero que no ha
162

de confundirse con el pie antes citado), y llevándola a la altura del pie, se la hace
seguir hasta colocarla en el segundo peldaño, con lo cual en éste descansará el
pie, y en el primero descansará el pie. (Los primeros peldaños son siempre los
más difíciles, hasta adquirir la coordinación necesaria. La coincidencia de nom-
bres entre el pie y el pie hace difícil la explicación. Cuídese especialmente de no
levantar al mismo tiempo el pie y el pie).« (Ebd.)
Der Versuch der verfremdenden Beschreibung des Treppensteigens konfrontiert
deshalb unversehens mit einem neuen Problem - der der Sprache eigenen Tendenz
zur Abstraktion, zur Kodifizierung des Einzelnen durch den (allgemeinen) Begriff.
Die Auffassung der Wirklichkeit als semiotisches System, als Inbegriff einer Viel-
zahl von »Instruktionen« - jene Grundthese der Welt der Cronopien - ist mithin keine
unmittelbare. Die Zeichen der Welt sind für das rezipierende Subjekt nicht frei ver-
fügbar. Ihre Vergegenwärtigung im Bewußtsein ist vielmehr gleichbedeutend mit ih-
rer (Re-)Produktion durch ein sekundäres Zeichensystem - dasjenige der (im vorlie-
genden Falle: 'abstrahierenden') Sprache. Das Verhältnis der Sprache der Welt ge-
genüber ist also kein passiv-abbildendes, sondern ein 'produktives'. Diesen Aspekt
der Sprache unterstreichen auch die folgenden Texte.

1.2.2. Grenzüberschreitung durch Neologismen (»Los posatigres«)


Der vorliegende Text ist in gewissem Sinne die Umkehrung des realistischen. Wäh-
rend der produktive Aspekt realistischer Schreibe vor allem auf der Ebene der
sprachlich-formalen Gestaltung eines (anderweitig) 'gegebenen' Inhalts liegt,16 wird
hier der 'Inhalt' - die erzählte Handlung des Textes - umgekehrt recht eigentlich erst
produziert durch Sprache: Thema des Textes ist die 'Realisierung' (»llevar nuestra
idea a la práctica« - CF 49) - d.h. die Darstellung mittels erzählter Handlung - eines
Neologismus: »los posatigres«.
»Posar el tigre« (CF 50) nämlich ist keine rhetorische Metapher eines simplen re-
alen Tatbestandes. Das Problem der exzentrischen Familie der Calle Humboldt näm-
lich besteht keineswegs darin - beispielsweise -, 'dem Tiger einen Käfig zu bauen',
sondern genau dies zu 'tun', was die Instruktion des Neologismus befiehlt.
Das Kompositum »posatigres« besteht aus zwei Lexemen, deren Verknüpfung -
wenngleich sie jedes für sich einen kodifizierten Sinn besitzen - neue Bedeutung pro-
duziert. Die Sinnproduktion des Kompositums hat Ähnlichkeit mit jener Struktur, die
H. Weinrich unter dem Titel der »kühnen Metapher« 17 beschrieben hat: Anders als
im Slogan »Pack den Tiger in den Tank«, wo die große Bildspanne zwischen
bildspendendem und bildempfangendem Bereich die leichte Akzeptabilität - und

16 M. Vargas Llosa, die große Altemativfigur zu Cortázar im Bereich der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur,
hat diesen Aspekt in seinen literauirtheoretischen Arbeiten unter dem Stichwort des »elemento añadido« immer
wieder betont. Vgl. Cano Gavina 1972:47; vgl. auch W.B. Berg 1986c.
17 Weinrich 1963: 325ff.
163

mithin ihre Instrumentalisierung in der Werbung - garantiert, ist der »posatigre«


durch das Merkmal der »kühnen« kleinen Bildspanne ausgezeichnet: Die verschie-
denen lexikalisierten Bedeutungen von /posar/ (»1. Reposar. 2. Situarse ante un pin-
tor o fotógrafo. 3. Detenerse las aves, insectos, etc. en un lugar u objeto. 4. Hospedar.
5. Aterrizar.« - Diccionario Anaya de la Lengua, Madrid 1980) sind auf Menschen,
Vögel und Insekten zwar anwendbar, nicht jedoch auf das Raubtier »Tiger«. Die
'phantastische', die kodifizierte Verwendung der Lexeme sprengende Bedeutung des
Neologismus entsteht mithin durch die Tatsache ihrer Verknüpfung zum Komposi-
tum. Diese verwandelt beide Lexeme in Elemente einer neuen phantastischen
Sprachwelt. Es geht in der Geschichte mithin auch nicht um das - ebenfalls noch im
Bereich der realen Vorstellung bleibende - Problem, einen irgendwie vorhandenen,
durch welche Umstände auch immer in den Besitz der Familie gelangten (realen) Ti-
ger zu domestizieren - eine Bedeutung, die durch das semantische Feld des Lexems
»posar« vielleicht abgedeckt werden mag: Nicht nur die Domestizierung ist somit
Thema der produktiven Handlung der Familie, sondern auch die Beschaffung des
(somit ebenfalls phantastischen) Tigers selbst:

»No hablaré aquí de la obtención del primer tigre: fue un trabajo sutil y penoso,
un correr por consulados y droguerías, una complicada urdimbre de billetes, car-
tas por avión y trabajo de diccionario.« (CF 49f.)
Die Schwierigkeiten der Familie - wenngleich ihr Tun im Detail betrachtet ebenso
'real' ist, wie die Elemente des Neologismus "kodifiziert' sind - sind denjenigen lingui-
stischer Neuschöpfungen weitgehend analog:
»Posar el tigre no es demasiado difícil, aunque puede ocurrir que la operación
fracase y haya que repetirla; la verdadera dificultad empieza en el momento en
que, ya posado, el tigre recobra la libertad y opta - de múltiples maneras posibles
- por ejercitarla.« (CF 50)
Der Tiger verhält sich mithin wie eines der beiden Elemente des sprachlichen
Kompositums: Das eigentliche Problem besteht nicht in der arbiträren Zusammenfü-
gung der Lexeme, sondern in der Verhinderung ihres erneuten Auseinanderstrebens.
»Posar el tigre« - zu verhindern, »[que] el tigre recobra la libertad« - ist mithin
gleichbedeutend mit dem Problem, den Neologismus zu lexikalisieren:
»Es preciso que el tigre acepte ser posado, o que lo sea de manera tal que su
aceptación o su rechazo carezcan de importancia« (CF 51)
Die Exaltation der Familie angesichts des gelungenen Experimentes hat zur Vor-
aussetzung das Wittgensteinsche Prinzip, demzufolge - wenn die Grenze unserer
Sprache die Grenze unserer Welt markiert - die kreative Überschreitung der kodifi-
zierten Grenzen der Sprache einem kreativen Akt der Erweiterung unserer Welt ent-
spricht:
164

»Posar el tigre tiene algo de total encuentro, de alineación frente a un absoluto


[...]«(Ebd.)
Die Erweiterung seiner Welt ist jedoch gleichbedeutend mit der Erneuerung des
schöpferischen Subjekts. Nicht nur die Identität des Objekts, sondern auch diejenige
des Subjekts steht mithin im Augenblick des Gelingens der Schöpfung auf dem Spiel:
»[...] el equilibrio depende de tan poco y lo pagamos a un precio tan alto, que los
breves instantes que siguen al posado y que deciden de su perfección nos arreba-
tan como de nosotros mismos, arrasan con la tigredad y la humanidad en un solo
movimiento inmóvil que es vértigo, pausa y arribo. No hay tigre, no hay familia,
no hay posado.« (Ebd.)

1.23. Mythopoietische Funktion der Sprache (»Cuenta sin moraleja«)


Die Geschichte der »posatigres« demonstriert eine Eigenschaft der Sprache, die die-
ser einen Vorrang einräumt gegenüber den übrigen Zeichensystemen. Wir wollen
diese Eigenschaft im folgenden »mythopoietisch« nennen. Der Begriff bringt sowohl
den schöpferischen (»poetisch«) als auch den ideologischen (»Mythos«) Aspekt des
Sachverhalts zum Ausdruck. Letzterer steht im Vordergrund des folgenden Textes.
»Cuenta sin moraleja« erzählt das Schicksal eines Mannes, »(que) vendía gritos y
palabras« (CF 103), u.a. die »últimas palabras« (ebd.) eines Tyrannen, bestimmt,
»para configurar fácilmente un destino histórico retrospectivo« (ebd.). Der Tyrann ist
interessiert; doch bevor es zum Kauf kommt, wird er gestürzt. Ein Schuß verhindert,
daß er seine letzten Worte noch über die Lippen bringt. Seine Nachfolger versuchen
nun mit Gewalt und Folter, dem Wort-Verkäufer zu entreißen, »cuáles hubieron po-
dido ser las últimas palabras del tiranuelo« (CF 105). Da sie das Geheimnis nicht er-
fahren können, töten sie ihn mit Fußtritten. Doch die verkauften Rufe werden an den
Straßenecken von fliegenden Händlern bereits wiederverkauft. Einer der Rufe wird
später der Konterrevolution, die das Regime der Generäle und ihrer Sekretäre zu Fall
bringen wird, als Losungswort dienen. Die Moral dieses kurzen »cuento sin mora-
leja« ist weitläufig und explizit:
»Algunos, antes de morir, pensaron confusamente que en realidad todo aquello
había sido una torpe cadena de confusiones, y que las palabras y gritos eran cosas
que en rigor pueden venderse pero no comprarse, aunque parezca absurdo«
(ebd.).
Die mythopoietische - die Wirklichkeit nicht nur interpretierende, sondern verän-
dernde - Macht der Sprache, so lautet die (zu) späte Einsicht der sterbenden Generäle,
entfaltet sich hinter dem Rücken ihrer Benutzer. Ihre Wirksamkeit liegt auf der Ebene
des Signifiant (»grito«). Als solche widersteht sie sowohl der Manipulation im -
durch den vorliegenden Text mit überraschender Klarheit der Zirkulation von Waren
165

gleichgesetzten - Prozeß der Kommunikation (»las palabras y los gritos eran cosas
que en rigor pueden venderse pero no comprarse«) als auch dem Versuch der ideolo-
gischen Inanspruchnahme ihres Signifié durch die Tyrannen (»lo torturaron para que
revelase cuáles hubieran podido ser las últimas palabras del tiranuelo«). Die Sprache
gibt ihre "moraleja" nicht preis. Als Signifiant erweist sie sich der physischen Gewalt
der Generäle überlegen:
»Y se fueron pudriendo todos, el tiranuelo, el hombre, y los generales y secreta-
rios, pero los gritos resonaban de cuando en cuando en las esquinas.« (Ebd.)

1.2.4. Verba sive res (»Fin del mundo del fin«)


Sprache ist auch im folgenden Text dominant Zeichenkörper. Produkt von Schreiber-
lingen (»escribas«), entzieht sie sich mehr und mehr dem kommunikativen Kreislauf
von Produktion und Rezeption:
»Como los escribas continuarán, los pocos lectores que en el mundo había van a
cambiar de oficio y se pondrán también de escribas.« (CF 75)
Fraglich indessen, ob der Aktivismus der Schreiberlinge weiterhin 'Sprache' ist.
Zumindest läßt sie sich nicht mehr bestimmen als »écriture-lecture«, 18 als intertextu-
elle Fortschreibung sozialer und kultureller Diskurse, eine Eigenschaft, die J. Kri-
steva zufolge vor allem die poetische Sprachverwendung auszeichnet. Die Produkte
der Schreiberlinge reproduzieren vielmehr nur die schlechte Unendlichkeit der um
den Austausch von Bedeutungen unbekümmerten Kette papierner Signifikanten. Der
Vorrang des Signifiant - jenes Grundprinzips der »écriture«, demgemäß die Kette der
Signifikanten, nicht jedoch eine von ihrem Zeichencharakter emanzipierte Bedeutung
den primären Referenten der sprachlichen Zeichen ausmacht - wandelt sich unter den
Händen der Schreiberlinge zum Absolutismus des puren Zeichen-Körpers. Wenn
auch ohne Bedeutung, so ist er als solcher dennoch nicht ohne pragmatische Wir-
kung: Als erstes überschwemmen die Schreibprodukte die privaten und öffentlichen
Bibliotheken. Bald weichen Kinderspielplätze, Theater, Entbindungsheime, Kantinen
und Hospitäler dem Ansturm der Bücher. Die Armen verwenden sie zum Bau ihrer
Hütten und schließlich ergießen sie sich aufs Land und versperren die Straßen. Die
Staatspräsidenten beschließen, die Bücher ins Meer zu versenken, in der Meinung,
»que la mar no tiene fondo« (CF 76). Auf dem Meeresgrund indessen häuft sich Pa-
pier auf Papier, verbindet sich mit Wasser, verursacht Überschwemmungen, formt
neue Erde und Kontinente. Die Produktion des Schrifttums indessen steigt unaufhalt-
sam. Papier verbindet sich weiter mit Wasser, blockiert die Rotation der Antriebs-
schrauben der Schiffe, so daß diese schließlich »se detienen en distintos puntos de los
mares, atrapados por la pasta, y los escribas del mundo entero escriben millares de

18 Kristeva 1969: 181 ff.


166

impresos explicando el fenómeno [...]« (ebd.). Die Unendlichkeit der Signifikanten


hat also wieder eine Bedeutung, doch diese ist nichts als die 'Auto-Referentialität' des
eigenen Prozesses. Papier und Tinte werden rarer, doch die Zahl der Schreiberlinge
nimmt zu. Als beides aufgebraucht ist, wird weiter geschrieben auf Tafeln und auf
Fliesen. Man erlernt die Kunst, »intercalar un texto en otro para aprovechar las entre-
líneas« (CF 77). Doch das Ende ist absehbar:
»En la tierra vive precariamente la raza de los escribas, condenada a extinguirse,
y en el mar están las islas y los casinos o sea los transatlánticos donde se han re-
fugiado los presidentes de las repúblicas, y donde se celebran grandes fiestas y se
cambian mensajes de isla a isla, de presidente a presidente, y de capitán a capi-
tán.« (Ebd.)
Der vorliegende Text verleiht der These Michel Foucaults, derzufolge das Verhält-
nis von Welt und Sprache seit dem 19. Jahrhundert dadurch gekennzeichnet ist, daß
letztere ihr transzendentes Fundament im menschlichen Bewußtsein verloren hat -
mithin selbst auf die Ebene eines »Dinges unter Dingen« abzusinken im Begriff ist19
- apokalyptische Dimensionen. Das autonomisierte Sprachwesen - »[...] le langage
s'enfonçait dans son épaisseur [...], il se reconstituait ailleurs, sous une forme indé-
pendante, difficile d'accès, repliée sur l'énigme de sa naissance et toute entière référée
à l'acte pur d'écriture« 20 - hat jede Bindung an einen humanen Zweck preisgegeben
und ist ganz dem Automatismus seines internen Funktionierens überantwortet. Die
Beziehung der Sprache zur Welt ist deshalb jedoch nicht verschwunden. Sie ist le-
diglich der Hand des Menschen entglitten: Einer Schar von Zauberlehrlingen gleich
sieht die Rasse der Schreiberlinge ihrem eigenen Ende entgegen angesichts der wach-
senden Unendlichkeit der sprachlichen Produkte. Der Titel des Textes - sowohl
(semantisch) in der Form der doppelten Negation als auch (syntaktisch) in der Form
des Chiasmus - suggeriert insofern eine zweifache Lesart: Im Hinblick auf die Spra-
che bedeutet er deren Emanzipation vom endlichen (Bewußtseins-) Wesen des Men-
schen. Die automatisierte Sprache ist potentiell der Un-Endlichkeit ihres internen
Funktionierens überlassen. In der Perspektive des Textes ist dies dagegen gleichbe-
deutend mit dem Untergang (»fin del mundo«) einer menschlichen - und das impli-
ziert: einer endlichen - Welt (»mundo del fin«). Das Ende der menschlichen Welt er-
scheint somit als Produkt einer un-menschlichen Verwendung von Sprache. Auf den
Trümmern der humanen Welt überlebt allein die Sprache der Macht und feiert zy-
nisch ihre Feste. 21

19 Foucaull 1966: 313.


20 Ebd.
21 W. Promies, der die Übersetzung der deutschen Ausgabe der Cronopien bei Suhrkamp besorgt hat, übersetzt
»Ende der Welt am Ende«. Abgesehen von der grammatikalisch unzulässigen Wiedergabe des Genitivattributs
»del fin« durch einen adverbiellen Ausdruck bleibt bei der Übersetzung die im Original ironisch ikonisierte
»schlechte Unendlichkeit« der doppelten Negation auf der Strecke.
167

1.3. Die kodifizierte Welt


»Fin del mundo del fin« ist die Zerstörung der humanen Welt als Resultat einer spezi-
fischen Verwendung von Sprache. Obwohl von »escribas« geschaffen, führen die
Produkte in gewisser Weise ein Eigenleben. Die Gesetze des internen Funktionierens
der Sprache bleiben denen, die sich ihrer bedienen, verborgen: Die Schreiberlinge
fahren fort, die Welt zu kommentieren - blind für die Tatsache, daß diese längst dabei
ist, von Kommentaren überschwemmt zu werden. »Fin del mundo« allegorisiert inso-
fern die Erfahrung einer mit Sprache gesättigten, 'kodifizierten' Welt. Es ist die Welt,
wie sie die Famen erfahren - und akzeptieren; die gleiche Welt, die den Cronopien ih-
rerseits zum Ausgangspunkt dient für ihr kreatives, die Wirklichkeit kontinuierlicher
Veränderung unterwerfendes Spiel.
Die Kodifizierung der Wirklichkeit betrifft nicht nur ihre sprachliche Seite. Wenn
es stimmt, daß »die Kodes [...] die notwendige und hinreichende Bedingung für das
Bestehen des Zeichens« 22 im allgemeinen sind, das Akzeptieren der Codes jedoch
andererseits notwendig an die Bedingung ihres unbewußten Funktionierens gebunden
ist, 23 so ist die poetische Deautomatisierung der Kodiertheit der Wirklichkeit als Zei-
chen - das verfremdende Vorzeigen der Tatsache der Kodiertheit als solcher - ein er-
ster Schritt zu ihrer Dys-funktionalisierung. Dies ist die Funktion der beiden folgen-
den Texte.

1.3.1. Hamlets Problem (»¿Qué tal, López?«)


Der Text ist symmetrisch aufgebaut. Er besteht aus zwei jeweils dreigliedrigen Se-
rien, die zueinander in Opposition stehen, sowie einem kurzen Schlußteil, der das er-
ste Glied der ersten Serie verkürzend wiederholt. Auch die Anordnung der Glieder
innerhalb der Serien folgt dem Prinzip der semantischen Opposition: Während die
Dreiteilung der ersten Serie eine Klimax bildet - als Aufstieg vom Evidenten zum
Femliegenden -, beschreibt die zweite die Bewegung der Antiklimax - als 'Abstieg'
vom Allgemeinen zum Besonderen. Worin besteht mithin das - bereits auf der for-
malen Ebene des Textes angedeutete - Paradox? Die erste Serie nennt drei Aspekte
der kodierten Welt: das Ritual der in unseren Gesellschaften üblichen Geste des Grü-
ßens; das automatische Schutzsuchen vor Regen unter Arkaden und schließlich »los
gestos del amor, ese dulce museo, esa galería de figuras de humo« (CF 82).
Was bei der Grußformel wohl kaum jemand in Abrede stellt, wird im Falle der
Liebe - zumindest für die Betroffenen - zur Provokation:
»[...] la mano de Antonio buscó lo que busca tu mano, y ni aquélla ni la tuya bus-
caban nada que ya no hubiera sido encontrado desde la eternidad.« (Ebd.)
»¿Qué se busca?« heißt es - entschiedener noch - in Rayuelo: »Terrible tarea la de

22 Eco 1972: 171.


23 Vgl. Anmerkung 8!
168

chapotear en un círculo cuyo centro está en todas partes y su circunferencia en nin-


guna, por decirlo escolásticamente. ¿Qué se busca?« (R 561) 24 »No se buscaría si ya
no se hubiera encontrado.« (R 560)
Wirklichkeit - so läßt sich die erste Serie zusammenfassen - erscheint mithin als
transsubjektives System von Regeln, das insofern den Namen 'Code' verdient, als die
Regeln denen der Einzelne beim Kontakt mit der Wirklichkeit (unbewußt) folgt - sei
es, er affirmiert explizit die Konvention des Grüßens, sei es, er aktualisiert eine den
Dingen eigene Gebrauchsfunktion oder er manifestiert seine eigene Individualität im
Akt der Liebe -, den Sinn, den die Wirklichkeit durch das jeweilige Handeln erhält,
bereits im vorhinein festgelegt haben.
Die zweite Serie setzt dieser Diagnose die Erfahrung der Cronopien entgegen: Da
wir der Wirklichkeit normalerweise nur als 'kodierter' - hinsichtlich ihres Sinnes und
Funktionierens im vorhinein festliegender - innewerden, ist davon auszugehen,
»[que] lo verdaderamente nuevo da miedo o maravilla« (CF 82). Solcherlei Sensatio-
nen begleiten gewöhnlich einen Akt prometheischer Schöpfung (erster Abschnitt).
Beispiel eines modernen Prometheus ist Hamlet (zweiter Abschnitt). Seine Entschei-
dung zugunsten der »solución auténtica« (CF 83) lehnt die vorfabrizierte Lösung des
kodifizierten Handelns ab:
»Los príncipes de Dinamarca, esos halcones que eligen morirse de hambre antes
de comer carne muerta.« (Ebd.)
Doch die Gelegenheit zur Suspendierung vorgegebener Wirklichkeitsmodelle Fin-
det sich auch im alltäglichen Leben (dritter Abschnitt):
»Cuando los zapatos aprietan, buena señal.« (Ebd.)
Monster und die Geburt doppelköpfiger Kälber, die die Phantasie des Volkes und
der Journalisten beflügeln: »¡Qué oportunidades, qué esbozo de un gran salto hacia lo
otro!« (Ebd.)
Der Schlußteil jedoch dämpft den Enthusiasmus der zweiten Serie:
»Ahí viene López.
- ¿Qué tal, López?
- ¿Qué tal, che?
Y así es como creen que se saludan.« (Ebd.)
Die Rückkehr zur Ordnung der kodifizierten Welt ist nicht nur ein Stück ironischer
Rhetorik. Sie trägt der Tatsache Rechnung, daß die Lösung ä la Hamlet, der Ab-
sprung aus der Scheinwelt prästabilisierter Codes (»así creen que se saludan«) in das
'Andere' authentischen Seins, in der Regel mißlingt, sich am Ende erneut als eine
Form kodifizierten Handelns erweisen könnte.
Als die Problematik von Sein und Schein, von Autonomie und Heteronomie er-

24 Wir zitieren die folgende Ausgabe: J. Cortázar: Rayuelo, Editorial Sudamericana, 18. Auflage 1975. Buenos Aires.
169

scheint das Thema der kodierten Welt insofern unter ethischem Aspekt. Mehrere
Texte der Sammlung behandeln das Thema in expliziter Form.

1.3.2. Der enge Pfad des Tugend-Codes (»La cucharada estrecha«)


Wenn es stimmt, daß der »microbio redondo y lleno de patas« (CF 136), die der
Fame entdeckt hat, Tugend ist, so müßte die Entdeckung der Lösung des Problems
der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem entsprechen, wie es die Idee der
Kantischen Ethik enthält: Das in Form der Mikrobe vermittelte subjektiv-moralische
Bewußtsein müßte zugleich die Regel enthalten, die das friedliche Zusammenleben
aller mit allen gewährleistet. Indessen: »El resultado fue horrible« (ebd.): Zwar ent-
hält die Mikrobe eine Regel zum Handeln, statt der Tugend jedoch lediglich die An-
maßung der Tugend:
»[...] esta señora renunció a sus comentarios mordaces, fundó un club para la
protección de alpinistas extraviados, y en menos de dos meses se condujo de ma-
nera tan ejemplar que los defectos de su hija, hasta entonces inadvertidos,
pasaron a primer plano con gran sobresalto y estupefacción del fama. No le quedó
más remedio que dar una cucharada de virtud a su mujer, la cual lo abandonó esa
misma noche por encontrarlo grosero, insignificante, y en un todo diferente de los
arquetipos morales que flotaban rutilando ante sus ojos.« (Ebd.)
Die Mikroben-Tugend des Famen ist - kantisch gesprochen - die vollendete Hete-
ronomie. Sie besteht darin, das Leben dem Dogmatismus eines starren Tugend-Codes
zu unterwerfen, ohne daß dieser noch am Maßstab eines allgemein verbindlichen
Vernunftprinzips - so die traditionelle Idee der Tugend' - zu messen wäre. Im Ge-
genteil: Jeder einzelne Löffel scheint Ausgangspunkt für eine separate Mikroben-
Kultur, für ein individuelles, arbiträres Veriialtensmuster zu werden. Als solche ist
die Mikroben-Tugend jedoch nicht nur dem traditionellen Inhalt von Tugend' inad-
äquat; als lediglich individuell gültiges System von Verhaltensregeln erfüllt sie
gleichzeitig auch nur bedingt die Kriterien eines funktionierenden Zeichensystems.
Der Doppelcharakter von Willkür und Konventionalität, der die Zeichen konstituiert,
hat sich im Falle der Tugend-Mikrobe zugunsten des ersteren Kriteriums verschoben.
Die »Enge« (»la cucharada estrecha«) des Tugend-Codes des Famen besteht darin,
arbiträr zu sein, jedoch gleichzeitig intersubjektiver Verbindlichkeit zu ermangeln.
Insofern entspricht er dem semiotischen Begriff eines Ideolekts. Als der Fame der
sich anbahnenden Kommunikationslosigkeit gewahr wird, greift er selbst zur Tugend-
Flasche (»se tomó un frasco de virtud«):
»Pero lo mismo sigue viviendo solo y triste. Cuando se cruza en la calle con su
suegra o su mujer, ambos se saludan respectuosamente y desde lejos. No se atre-
ven ni siquiera a hablarse, tanta es su respectiva perfección y el miedo que tienen
de contaminarse.« (Ebd.)
170

1.4. Zeichen in Bewegung


Die allgemeine Funktion der Zeichen besteht in der Ermöglichung (intersubjektiver)
Verständigung über die Wirklichkeit. Die Semiotik hält der Erfahrung einer beständi-
ger Veränderung unterworfenen Wirklichkeit die Hypothese eines im »kollektiven
Bewußtsein« existierenden Codes entgegen, d.h. eines »Repertoire(s) von elementa-
ren und einigen komplexen Zeichen und ein(es) Komplex(es) von Instruktionen für
deren Abwandlungen und Verknüpfungen« 25 . Als kodierte hat die veränderliche Welt
als Inbegriff syntaktischer, semantischer und vor allem pragmatischer Regeln im Ge-
dächtnis26 Bestand. Die Erfahrung der kodierten Welt ist deshalb - wie in den vor-
ausgehenden Abschnitten dargelegt - ein Famen und Cronopien gemeinsamer Aus-
gangspunkt. Ihre Unterschiede liegen dagegen in der je verschiedenen Weise, den
Codes gegenüber zu reagieren:
»Los famas para conservar sus recuerdos proceden a embalsamarlos [...] Los
cronopios, en cambio, esos seres desordenados y tibios, dejan los recuerdos
sueltos por la casa, entre alegres gritos, y ellos andan por el medio y cuando pasa
corriendo uno, lo acarician con suavidad y le dicen: 'No vayas a lastimarte', y
también: 'Cuidado con los escalones'. Es por eso que las casas de los famas son
ordenadas y silenciosas, mientras en las de los cronopios hay gran bulla y puertas
que golpean. Los vecinos se quejan siempre de los cronopios, y los famas mue-
ven la cabeza comprensivamente y van a ver si las etiquetas están todas en su
sitio.« {CF 123)

¡ .4.1. Pragmatische Modifikation der Zeichen (»La foto salió movida«)


Eine erste Bewegung, die die Cronopien in die kodierte Welt hineinbringen, besteht
in der Tat im Verschieben der »Etiketten«, der Veränderung nämlich des pragmati-
schen Kontextes, in dem uns die Dinge für gewöhnlich erscheinen. Die selbstver-
ständliche Welt des alltäglichen Lebens - so entdeckt ein Cronopium beim Griff in
die Hosentasche - ist durch eine Anzahl pragmatischer Regeln konstituiert, denen wir
unbewußt folgen, wenn wir die Dinge »an ihrem Platz« vermeinen. Der Fehlgriff in
die Hosentasche, der statt des gesuchten Haustürschlüssels eine Zündholzschachtel
zutage fördert, wird für phantasievolle Wesen zum Hebel des Archimedes, der die
Welt aus den Angeln hebt (»este cronopio [...] empieza a pensar que [...] el mundo se
hubiera desplazado de golpe« - CF 137). Nichts nämlich hindert uns, die an Schlüssel
und Zündhölzern gemachte Erfahrung an anderen Gegenständen zu wiederholen und
folglich
»la billetera llena de fósforos, y la azucarera llena de dinero, y el piano lleno de

25 Cervenka 1978: 168.


26 Für die zentrale Funktion der Memoria im Hinblick auf eine Theorie der Welt als Zeichen vgl. bereits Augustinus:
Confessiones, XI, 18ff.; vgl. H.-J. Kaiser: Augustinus. Zeil und »memoriaBonn 1969.
171

azúcar, y la guía del teléfono llena de música, y el ropero lleno de abonados, y la


cama llena de trajes, y los floreros llenos de sábanas, y los tranvías llenos de ro-
sas, y los campos llenos de tranvías« (ebd.)
zu finden. Die im vorliegenden Text als Gedanken- bzw. Sprachspiel vollzogene
SedeM/angíverschiebung der die Wirklichkeit konstituierenden Zeichen ist das Pro-
dukt der Modifikation des Verhältnisses der Zeichenbenutzer zum Zeichen&örper.
Das phantasiebegabte Cronopium kombiniert - ohne Rücksicht auf die Regeln der
alltäglichen Pragmatik - die Elemente zweier Paradigmen (»billetera llena de ...«,
»azucarera llena de ...« etc. einerseits; »fósforos«, »dinero« etc. andererseits) und er-
zeugt hierdurch neue Bedeutungen. Diese sind mithin sowohl gegenüber dem Zei-
chenkörper als auch gegenüber dem Prozeß ihrer Verknüpfung seitens des Zeichen-
benutzers sekundär. Der Text macht insofern die Konstitution von Gegenständen zu
Elementen kultureller Signifikanz - nach dem Muster: »Schweinslederhüllen mit Sei-
denfutter dienen in unseren Breiten zum Aufbewahren von Geldscheinen, nicht von
Zündhölzern« etc. - als Semioseprozeß wieder sichtbar.

1.4.2. Umfiinktionierung öffentlicher Institutionen (»Correos y Telecomunicaciones«)


Die vorübergehende Besetzung eines Postamtes in der Calle Serrano durch die Prot-
agonisten der Ocupaciones raras dagegen ist nicht nur ein Sprachspiel, sondern die
reale Umfunktionierung einer öffentlichen Institution und ruft als solche - wie so oft
in den Geschichten Cortázars - die Intervention der Ordnungskräfte auf den Plan. Die
Störung der öffentlichen Ordnung ist wiederum die Folge - wie im vorhergehenden
Text - einer neuen Pragmatik des Zeichenkörpers. Dessen interne Ordnung wird von
den neuen Beamten genau respektiert: Wie so viele ihrer lateinamerikanischen Kolle-
gen ist auch für sie der öffentliche Dienst die natürliche Fortsetzung der Familie:
»Una vez que un pariente de lo más lejano llegó a ministro, nos arreglamos para
que nombrase a buena parte de la familia en la sucursal de correos de la calle
Serrano.« (CF 40)
Ebenso vollzieht sich die zwangsweise Entfernung aus dem Amt in den Formen
einer normalen Pensionierung:
»Cantamos el himno nacional y nos retiramos en buen orden [...]« (CF 41).
Auch der Schalterdienst - Briefmaikenverkauf, Geldverkehr, Paketabfertigung -
wird pünktlich vollzogen. Doch hier ist die erste Abweichung zu beobachten: Die
neue Mannschaft vollzieht ihren Dienst mit so außerordentlicher Geschwindigkeit,
daß ein Inspektor der Zentralpost sie mit seinem Besuch und La Razón mit einer
Sonderkolumne beehren. Am dritten Tag ist ihre Popularität bereits derart gestiegen,
daß Leute aus den angrenzenden Vierteln erscheinen, »a despachar su corresponden-
cia y a hacer giros a Purmamarca y a otros lugares igualmente absurdos« (CF 40).
172

Nun hält das Oberhaupt des Clans - »mi tío el mayor« 27 - den Zeitpunkt für gekom-
men, daß die Familie das Publikum bedient, jedoch »con arreglo a sus principios y
predilecciones« (ebd.): Jeder Briefmarkenkäufer erhält einen bunter. Globus ge-
schenkt. Die Geldiiberweiser werden mit Grappa und Fleischpasteten traktiert, und
die Kunden am Paketschalter sehen mit Verwunderung, daß die Beamten die Pakete
vor der Abfertigung teeren und federn. Gaffer und Polizei bleiben schließlich nicht
aus und werden von einer Wolke bunter, aus Telegramm- und Überweisungsformula-
ren und Einschreibebriefen gefertigten Papierschwalben empfangen, die die Mutter
über ihnen ausgießt.
Die semiotische Formel dieses Happenings läßt sich nach folgendem Schema tran-
skribieren:

A (offizielle = ideologische B (das Zeichen als »reale« C (das Zeichen in den


Version des Zeichens) Erfahrung im lateiname- Händen der
rikanischen Kontext) Cronopien)

Signifiant:
Institution »Correos (dto.) (dto.)
y Telecomunicaciones«
pragmatische Ebene:
- Pfichterfüllung - Nepotismus; - Elemente aus A (z.B.
Unbestechlichkeit; Korruption; Pflichterfüllung,
Patriotismus Faulheit Patriotismus)
-Elemente aus B (z.B.
Nepotismus)
plus:
-neue Elemente:
Schnelligkeit;
Selbstverwirklichung
(vgl. »con arreglo a sus
principios y predilec-
ciones«);
Uneigennützigkeit
(vgl. die Geschenke!);
Betonung der appella-
tiven Funktionen des
Zeichensystems (»mi
padre [...] además reci-

27 Zur Funktion des Avunkulats im Rahmen eines »elementaren Verwandtschaftssystems« - dessen karikaturales
Modell die Familie der Calle Humboldt darstellt - vgl. Lévi-Strauss 1974 (1958): 47ff.
173

taba a gritos los mejores


consejos del viejo
Vizcacha«);
(ästhetisches,
poetisches) Spiel mit
dem Signifiant

Signifié:
Dienst am Bürger, Bewirtschaftung priva- neue (d.h. lustigere bzw.
an der Allgemeinheit; ter Taschen; (teilweise) lustvolle) Formen
Ziel: soziale Verhinderung sozialer sozialer Kommunikation
Kommunikation Kommunikation;
Resultat: Unlust, Ärger

1.4.3. Konnotationen der Musik (»Instrucciones para cantar«)


Eine weitere Möglichkeit, Bewegung in die kodierte Welt der Zeichen zu bringen,
liegt in der Exploration der Ebenen der Konnotation. Der vorliegende Text läßt die -
zwischen Semiotikem offene - Frage, 28 ob das musikalische Zeichensystem auf de-
notativer Ebene neben syntaktischen auch semantische Funktionen ausübt, ob es
mithin die Kriterien eines Zeichensystems überhaupt erfüllt, hinter sich und handelt
vom Gesang von vornherein auf der Ebene der Konnotation. Hier ist die Fragestel-
lung müßig, erfüllt das Singen zweifelsfrei semantische Funktionen. Ein weiteres:
Wenn die Denotation der Musik identisch ist mit einer strikten syntaktischen Ord-
nung, so indiziert die Ebene der musikalischen Konnotation das weite Feld der durch
den Zeichenkörper /Musik/ evozierten, mit zunehmender Entfernung vom denota-
tiven Kern des Zeichens an Konventionalität - mithin an Ordnung - verlierenden so-
zialen Bedeutungen, Attitüden und Gesten. Im entschiedenen Gegensatz zur her-
kömmlichen Rezeption von Musik, bei der der akustische Eindruck des Klangkörpers
die Semantik der sozialen Konnotationen 'automatisch' indiziert,29 nimmt die Bewe-
gung, die die vorliegenden »instrucciones para cantar« in die kodierte Ordnung der
Musik hineinbringen, ihren Ausgangspunkt umgekehrt von der 'Unordnung' der so-
zialen Konnotation:
»Empiece por romper los espejos de su casa, deje caer los brazos, mire vaga-
mente la pared, olvídese. Cante una sola nota, escuche por dentro.« (CF 15)

28 Vgl. Jean Molino: »Fail musical et sémiologie de la musique«, in: Musique en jeu, N* 17 (Jan. 1975). Paris: Ed. du
Seuil; Jean-Jacques Nattiez: »De la sémiologie à la sémantique musicale«, in: Musique en jeu, a.a.O.
29 Nach diesem Schema funktioniert die traditionelle Filmmusik. Vgl. Adorno 1969: 56f.; vgl. auch Th.W. Ador-
no/H. Eisler: Komposition für den Film, 1969.
174

Die Kette der konnotativen Indizien erlaubt in diesem Fall eiie weitgehend präzise
Rekonstruktion der mutmaßlich zugrundeliegenden musikaliscien Syntax: 'Gemeint'
ist offenbar die steinerweichende (»Glas zum Zerspringen bringende«), durch die tra-
ditionellen Gesten der Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit üihnengerecht darge-
stellte Sentimentalität spätromantischer Opemmusik.
Weniger eindeutig ist demgegenüber der folgende Satz:
»Si oye (pero esto ocurrirá mucho después) algo como ur paisaje sumido en el
miedo, con hogueras entre las piedras, con siluetas semiiesnudas en cuclillas,
creo que estará bien encaminado, y lo mismo si oye un río p r donde bajan barcas
pintadas de amarillo y negro, si oye un sabor de pan, un taco de dedos, una som-
bra de caballo.« (Ebd.)
Die Rekonstruktion dieses Klangkörpers, der in Gefühle venunkene Landschaften,
bewegte Farben, Geschmacks- und Tastempfindungen sovie vorbeihuschende
Schatten zu hören erlaubt, führt hinein in die synästhetische W:lt impressionistischer
Klanggebilde, bei welchen - der Eindeutigkeit und Konkrethet mancher ihrer Titel
zum Trotz - (vgl. Debussys »La cathédrale engloutie«, »La M;r« etc.) - das Prinzip
der polyvalenten Semantik konstitutives Kompositionselemeit der musikalischen
Syntax geworden ist.
Der letzte, durch eine Leerzeile vom übrigen Text getrennte Satz läßt jedoch auch
diese Phase der Musikgeschichte hinter sich und scheint die inarchistisch-kameva-
leske De- bzw. Rekonstruktion überkommener Formen schle:hthin zum Komposi-
tionsprinzip einer »neuen« (?) Musik zu erheben:
»Después compre solfeos y un frac, y por favor no cante jor la nariz y deje en
paz a Schumann.« (Ebd.)

1.4.4. Destruktion ikonischer Codes (»Instrucciones para enteider tres pinturas fa-
mosas: 'El amor sagrado y el amor profano' por Tziano«)

Die Werke der großen Renaissancemaler haben für die Gesclichte der Neuzeit die
Funktion kultureller Ikone: Der Begriff des »Humanen« - eüu neue Sichtweise des
Menschen, der Natur, der Religion und des gesellschaftlichen Lebens - eThält durch
die Bindung an spezifische Ausdrucksformen (Sujet, Farbe und Perspektive) die
Funktion eines - in der Folge mit der Darstellung der humaren 'Natur' schlechthin
gleichgesetzten - Codes, der bis spät ins 19. Jahrhundert hineii Geltung besitzt. Die
Verfestigung des Codes - als Produkt einer spezifischen Rezeption und Lesart 30 -
steht indessen in seltsamem Widerspruch zur Ratlosigkeit dei Kunstgeschichte, die
genaue Bedeutung einzelner Gemälde zu entschlüsseln. So heiße es in einer populären

30 Zur Bedeutung der Allegorie in Literatur und Kunst vgl. J. BurckhardL Die Cultui der Renaissance in Italien, 2.
Auflage 1869: 322ff.
175

Sammlung, die eine Abbildung des Gemäldes enthält, das den Anlaß für den vorlie-
genden Text gebildet hat:
»Die Kunstgeschichtsschreibung hat lange Zeit versucht, den Inhalt dieses Ge-
mäldes, das von Licolö Aurelio in Auftrag gegeben und in den Jahren 1515-1516
ausgeführt wurde, zu deuten.«31
Mit anderen Worten: Es ist der Kunstgeschichte bis heute nicht gelungen, eine ein-
deutige Bedeutung des Bildes zu ermitteln. Hiermit ist der Kunsthistoriker natürlich
nicht am Ende seines Lateins. Er verlegt sich auf die Methodik der Archäologie und
beschreibt die angeblich objektive Struktur seines Fundes, d.h. den Signifiant:
»Tizians klassische Farbskala wird jetzt durch die offene und weite Landschaft
und die auf die ruhende Natur abgestimmten Farben außerordentlich lebendig.«
Cortázars Text destniiert nicht nur die sterile Sophistik einer gewissen Kunstge-
schichte, sondern stellt darüberhinaus ein allgemeines semiotisches Prinzip in Frage,
demgemäß sich das ikonische Zeichen gegenüber dem (symbolischen) Sprach-Zei-
chen durch die Eigenschaft »geringerer Kodebedingtheit«, mithin »größeren Wahr-
heitsgehalt(es) und größere(r) Verständlichkeit«32 auszeichnet. Im Vorgriff auf die
Skepsis Oliveiras gegenüber dem Maler Etienne - »Tus colores no son más seguros
que mis palabras, viejo« (R 191) - durchbricht der Text den kodifizierten Schematis-
mus der traditionellen Deutung und unterlegt dem Gebäude einen neuen - arbiträren -
Sinn. Doch auch die neue Deutung hat als solche 'Struktur'. Einerseits respektiert sie
weitgehend - auch im Detail - die Materialität des ikonischen Signifiant, andererseits
funktioniert sie als Um-Schreibung der Paradigmen des traditionellen Signifié:
1. Auch für Cortázar hat das Gemälde symbolisch-allegorische Bedeutung. Figuren
und Szenerie bedeuten nicht sie selber, sondern sind Ausdruck - 'Darstellung' - eines
Inhaltes, der sich den Augen des Betrachters entzieht:
»Esta detestable pintura representa un velorio a orillas del Jordán. Pocas veces la
torpeza de un pintor pudo aludir (Hervorh. W.B.B.) con más abyección a las espe-
ranzas del mundo en un Mesías que brilla por su ausencia (Hervorh. im Origi-
nal); ausente del cuadro que es el mundo, brilla horriblemente en el obsceno bos-
tezo del sarcófago de mármol, mientras el ángel encargado de proclamar la re-
surrección de su carne patibularia espera inobjetable que se cumplan los signos.
No será necesario explicar que el ángel es la figura desnuda [...] El niño que
mete la mano en el sarcófago es Lulero, o sea el Diablo. De la figura vestida se
ha dicho que representa la Gloria [...]«. (CF 18f. - Hervorh. W.B.B.)
2. Auch auf einer zweiten Ebene ist der Text weniger willkürlich als es zunächst den
Anschein hat: Isolierte Elemente der pikturalen Signifikanten - die rechteckige Form

31 Bastei. Galerie der Großen Maler, Nr. 9, Tizian, 1. Teil, 1969.


32 Lotman 1972:91.
176

des Marmorbrunnens, die beiden am vorderen Brunnenrand sitzenden Frauengestal-


ten, die von hinten die Hand ins Wasser tauchende Putte sowie der perspektivisch in
die Ferne verlegte, nur durch zwei blaue Flecke angedeutete Fluß - werden zu einer
biblisch-mythologisch inspirierten Allegorie verbunden, eine Deutung, die bei allem
Widerspruch zum 'Augenschein' des Betrachters Elemente des gleichen Paradigmas
verwendet, dem der Titel des Gemäldes - »El amor sagrado y el amor profano« - ent-
stammt.
3. Seine eigentlich verfremdende Wirkung bezieht der Text durch eine dritte Isotopie
- diejenige eines profanen, kreatürlichen Realismus -, welche, indem sie die religiös-
mythologische Allegorie überlagert, eine spezifisch neue, durch den Text produzierte,
aber auf die Semiosemöglichkeiten des pikturalen Signifiant weiterhin bezogene Les-
art der Verquickung »sakraler« und »profaner« Thematik - auf die der Titel des Ge-
mäldes ja anspielt! - produziert:
»No será necesario explicar que el ángel es la figura desnuda, prostituyéndose en
su gordura maravillosa, y que se ha disfrazado de Magdalena, irrisión de irrisio-
nes a la hora en que la verdadera Magdalena avanza por el camino (donde en
cambio crece la venenosa blasfemia de dos conejos).
[...] De la figura vestida se ha dicho que representa la Gloria en el momento de
anunciar que todas las ambiciones humanas caben en una jofaina; pero está mal
pintada y mueve a pensar en un artificio de jazmines o un relámpago de sémola.«
(CF 18f.)
Die provozierende Kontamination des sakral-biblischen - »orillas del Jordán«,
»Mesías«, »resurrección de [...] carne«, »ángel«, »Magdalena«, »Gloria« etc, - durch
die Isotopie profan-obszöner Alltäglichkeit - »obsceno bostezo del sarcófago«, »su
carne patibularia« (auf den abwesenden Messias bezogen), »la figura desnuda, pro-
stituyéndose en su gordura maravillosa«, »Todas las ambiciones humanas caben en
una jofaina«, »relámpago de sémola« etc. - verleiht dem Text einen blasphemischen
Akzent, der, wenngleich im Titel virtuell enthalten, auf der Ebene des pikturalen Si-
gnifiant durch die konventionelle Formgebung der beiden Protagonisten verdrängt
wird: Für die Augen eines Betrachters des 20. Jahrhundert ist die (halb-) nackte
»amor profano« nicht weniger sakral als die elegant bekleidete »amor sagrado« pro-
fan wirkt.
Analog zum ersten Text der Sammlung (»Instrucciones para llorar«) enthält die
poetische Instruktion des Textes mithin ebenfalls die Aufforderung zur kreativen
Veränderung des pikturalen Signifiant, dessen semantische Instruktion sie dem Titel
zufolge vorgibt zu sein (vgl. Abschnitt 1.1.!). Der kreative Appell bezieht sich jedoch
nicht allein auf das 'Werk', sondern schließt die Subjektivität des Künstlers mit ein.
Er bezieht sich insbesondere auf den - gleichfalls codebedingten - Geniekult der Re-
naissancemalerei, auf dessen Destruktion der Text wiederholt (»esa detestable pin-
tura«, »la torpeza de(l) pintor«, »está mal pintada«) insistiert.
177

1.5. Jenseits der Zeichen


Die durch die Cronopien in die Zeichenwelt hineingebrachte Bewegung ist jedoch
mehr als nur reines Spiel. Ihre Intentionalität liegt nicht nur im Aufweis des konven-
tionellen Charakters der kodierten Welt, sondern macht eine Grenze sichtbar, die das
Prinzip der Konventionalität als Grundbestimmung des Zeichens selbst in Frage
stellt. Der spielerische Umgang mit den Zeichen hat insofern in verschiedenen Texten
den Charakter einer semiotischen Grenzerfahrung. 33 Ohne die Grenze zu verwischen
oder gar zu überschreiten, zielt er paradoxerweise auf einen Raum 'jenseits' der Zei-
chen.

1.5.1. Zeichen und Bedürfnisstruktur (»Su fe en la ciencia«)


Der folgende Text ist zunächst einmal eine Parabel des schon im Mittelalter disku-
tierten Satzes de singularibus non est scientia: Eine Esperanze betätigt sich als Phy-
siognome und teilt ihre Mitmenschen ein in Plattnasen, Aufgeblasene, Griesgrämige,
Fisch- und Intellektuellengesichter. Bei näherem Zusehen allerdings stellt sie fest,
daß jede Gruppe weitere Unterteilungen zuläßt. So z.B. die Plattnasen in Schnauz-
bärtige, Boxertypen und Ministerialamtsboten. Als sie ihre Leute jedoch schließlich
zu Kaffee und Kuchen ins Paulista de San Martin bestellt, um das System zum Ab-
schluß zu bringen, zerfällt ihr dieses unter den Händen. Auch die zu Untergruppen
geordneten Exemplare lösen sich auf in ebensoviele, der klassifizierenden Erfassung
entzogene Individuen.
Doch der Text ist mehr als eine philosophische Parabel, die Moral der Geschichte
mehr als ein epistemologisches Paradox. Die Ironie des auktorialen Erzählers gegen-
über dem scheiternden Experiment entdeckt für den Leser, was der wissenschafts-
gläubigen Esperanze entgeht. Das physiognomische Modell der Menschheit, so sehr
es die Rhetorik wissenschaftlicher Systematik zur Schau trägt, hat in Wirklichkeit
nichts gemein mit der Methode rationalistischer Skepsis, wie es dem originären wis-
senschaftlichen Denken - z.B. dem Positivismus eines Popper - zu eigen ist. Seine
Voraussetzung ist vielmehr ein Akt des Glaubens (»Una esperanza creia en los tipos
fisionömicos [...]« - CF 140, Hervorh. W.B.B.), sein Gegenstand infolgedessen ein
universaler. Das physiognomische Modell ist offenbar von vornherein auf die Wirk-
lichkeit 'Mensch-überhaupt' bezogen. Die Esperanze vergißt, daß wissenschaftliche
Modelle nur in dem Maße 'Wirklichkeit' abbilden, in dem sie diese durch ihre eigenen
Voraussetzungen konstituieren. Modell (»Physignomie«) und empirische Wirklich-
keit (»Mensch«) befinden sich im vorliegenden Fall mithin auf grundsätzlich ver-
schiedenen Ebenen. Sie sind inkommensurabel. Dies - die Erfahrung grundsätzlicher
Inkommensurabiliät zwischen Modell und Wirklichkeit - ist mithin die eigentliche
Pointe der Geschichte. Die Erfahrung des Inkommensurablen liegt nicht so sehr auf

33 Vgl. Solers 1968.


178

der Ebene der Unvereinbarkeit zweier logischer Größen (»singulare« vs. »scientia«) -
ein Paradox, das jeder wissenschaftliche Ansatz für sich zu bewältigen hat - als viel-
mehr in der Konfrontation mit einer Ebene menschlicher Wirklichkeit, die, wenn
überhaupt, zu allerletzt mit den Kriterien physiognomischer Deskription zu erfassen
ist: Der auf Objektivierung und rationelle Verallgemeinerung erpichten wissenschaft-
lichen Methode steht auf seiten der menschlichen Spezies, die das Modell zu be-
schreiben versucht, die irrationale Wirklichkeit einer individuellen Bedürfnisstruktur
gegenüber:

»Así fue como se le disolvió el subgrupo, y del resto no hablemos porque los de-
más sujetos habían pasado del mazagrán a la caña quemada, y en lo único que se
parecían a esa altura de las cosas era en su firme voluntad de seguir bebiendo a
expensas de la esperanza.« (CF 141)

1.5.2. Subjekt und Zeichen (»Los exploradores«)


Der 'Glaube an die Wissenschaft' sieht sich erschüttert aufgrund einer Erfahrung, der-
zufolge die vermeintlichen Objekte der physiognomischen Beschreibung sich als le-
bendige Subjekte gebärden. Die Struktur des Subjekts erscheint mithin als Grenze des
wissenschaftlichen Oiye£/-Bereichs.
Der folgende Text zeigt das Subjekt dagegen auch als Grenze der Pragmatik der
Wissenschaft, als Grenze mithin des Wissenschaft treibenden Subjekts: Zwei Höhlen-
forscher - ein Cronopium sowie ein Farne - begeben sich auf die Suche nach einer
unterirdischen Quelle. Schon zu Beginn des Abstiegs manifestieren beide je unter-
schiedliche Interessen: Während der Farne in seinem Tagebuch alle Einzelheiten der
Expedition sorgfaltig notiert, gibt das Cronopium der Bodenstation die wütende Mel-
dung durch, man habe ihm statt seiner Lieblingsstullen lediglich Schinkenbrote mit-
gegeben. Nur mit Mühe widersetzt sich der Farne der Forderung nach Abbruch der
Expedition. Inzwischen ist sein Begleiter bereits auf die Wasserquelle gestoßen und
meldet nach oben, »que todo va mal, entre injurias y lágrimas informa que los sánd-
wiches son todos de jamón, que por más que mira y mira, entre los sándwiches de
jamón no hay ni uno solo de queso« (CF 148f.).
Während oben das Subjekt die Konstitution eines wissenschaftlichen Objekts
überhaupt verhinderte, erscheint es im vorliegenden Fall - wenngleich am Akt der
Konstitution noch unbeteiligt - in 'transzendenter' Position. Der Eigensinn des seine
Käsebrote reklamierenden Cronopiums zeigt, daß die Konstitution des wissenschaft-
lichen Objekts an bestimmte, durch die Wissenschaft treibenden Subjekte zu ratifizie-
rende Interessen gebunden bleibt. Die Universalität des wissenschaftlichen Objekts
hat mithin ihren Preis. Sie verlangt die Unterordnung des Subjekts unter intersubjek-
tive Interessen.
Auf dieser Ebene betrachtet geht die Bedeutung der Texte über einen Gemeinplatz
179

der Wissenschaftstheorie (bzw. ihrer Kritik) jedoch kaum hinaus. Der verlorengegan-
gene Glaube an die Operabilität des Physiognomiemodells sowie das demonstrative
Desinteresse des höhlenforschenden Cronopiums am Ergebnis der Expedition betref-
fen 'Wissenschaft' vielmehr auf der Ebene einer allgemeinen Zeichentheorie. Die bei-
den Texten gemeinsame Position der Wissenschaftskritik ist auf semiotische Systeme
überhaupt übertragbar. Zum einen: Wie der wissenschaftliche Begriff ist die Seman-
tik des Zeichens aufgrund der Zugehörigkeit zum Code grundsätzlich auf ein Allge-
meines bezogen und kollidiert insofern mit der den Zeichensystemen zugeschriebe-
nen Funktion der Mimesis (auch) individueller Realität. Zum anderen: Semiotische
Systeme sind keinesfalls - ebensowenig wie der spezielle Fall der Wissenschaft - zu-
reichend gekennzeichnet durch das Merkmal der Interesselosigkeit bzw. der inter-
subjektiven Verbindlichkeit. Ihre Konstitution ist vielmehr bedingt durch einen spe-
ziellen Akt subjektiver énonciation.34 Ihre Verbindlichkeit ist - wie die von Zeichen
überhaupt - 'arbiträrer' Natur.

1.5.3. Subjekt und System


Es gilt an dieser Stelle einem Mißverständnis entgegenzutreten, das der - wie wir
meinen: unumgängliche - Begriff des Subjekts mit sich bringt. Vorauszuschicken ist
vor allem, daß 'Subjekt' im vorliegenden Kontext mitnichten die Bedeutung hat, die
der Begriff in der neuzeitlichen Philosophie gewonnen hat. Subjekt ist keineswegs
jene denkende 'Substanz', die Descartes zufolge jeder sinnvollen Rede vom Sein im
Sinne der Selbstgewißheit notwendigerweise zugrundeliegt. Subjekt ist auch nicht die
Instanz eines transzendentalen 'Ich', jenes apriorische Vermögen subjektiver Synthe-
sis, welches die durch das Denken hervorgebrachten Kategorien mit den in den For-
men der Anschauung gegebenen Daten empirischer Erfahrung in Erkenntnis verwan-
delt. 35 Der Subjektbegriff dient schließlich erst recht nicht zur Stützung eines ver-
meintlichen 'Subjektivismus', der hier gegenüber dem Objektivitätsideal der Wissen-
schaft ins Feld zu führen wäre. Den Vertretern der letzteren freilich - gerade auch
manchen 'Semiotikem' unter ihnen -, sofern ihre Entwürfe vom impliziten Vertrauen
in eine immer schon gegebene, unabhängig vom Einzelsubjekt bestehende - nach dem
Modell eines trivialisierten naturwissenschaftlichen Weltbilds gedachten - 'Realität'
getragen sind, 36 ist das Dichterwort entgegenzuhalten: »Nous ne sommes pas au

34 Vgl. E. Benveniste: »L'appareil formel de l'énonciation« (Bd. 2 1974: 79f.) sowie - neuerdings - O. Ducrot Es-
quisse d'une théorie polyphonique de l'énociation (1984: 171ff.).
33 Zur Kritik des untergründigen Cartesianismus der modernen Wissenschaftstheorie vgl. Derridas programmatische
Auseinandersetzung mit Husserl, in: La voix et le phénomène (Derrida 1976).
36 Dieser Vorwurf trifft das »Rahmenkonzept zur (Re-) Konstruktion und Evaluation von Vorschlägen zur wissen-
schaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft«, das L. Danneberg und H.-H. Millier vorgelegt haben
(Eschenbach/Rader 1980: 17ff.) nicht. Die Frage allerdings, wie die Distanz, die den Theorie-Himmel, wie ihn
Danneberg/Müller ausmalen, von der konkreten literaturwissenschaftlichen Forschung eiTeicht werden kann - wie
mithin der von den Verfassern selbst beklagten »mangelnden Durchschaubaikeil und [...] Praxisferne der Vor-
schläge zur wissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft« (18) in concreto Abhilfe geschaffen werden
könne -, gehört in die Liste jener Desiderata, die die Verfasser bedauerlicherweise in ihrem interessanten Rahmen-
180

monde«. 37 In diesem verschafft sich ein Subjekt Geltung, das sich gegenüber der
texttranszendenten, im Absoluten des Geistes, der Wissenschaft oder der Materie ver-
ankerten Rede von 'Welt' - wir nennen sie in der Arbeit die 'logozentrische' - als un-
überschreitbare Grenze erfährt. Das Subjekt des modernen Textes ist keine selbst-
identische, außerhalb des Textes (der Welt) gelegene Substanz. Es erfährt sich viel-
mehr selber als Text, als jene grundlegende, jeder Rede vom Subjektiven oder Objek-
tiven immer schon vorausgehende »Bewegung der Differenz«. 38 Nicht das Subjekt
konstituiert die Differenz, sondern - umgekehrt - diese das Subjekt. Letzteres findet
sich mithin der Differenz ursprünglich »unterworfen« (»subjectum«). Die Differenz
ist andererseits das Generationsprinzip jedweder Struktur, sofern wir diese - semio-
tisch - bestimmen als System von Differenzen. Die von J. Derrida eingeführte
Schreibweise »différence« vs. »différence« weist darauf hin, daß die - auf phoneti-
scher Ebene neutralisierte - Unterscheidung der Ordnung der »écriture« angehört.
Das in die Bewegung einer ursprünglichen »différance« eingeschriebene Subjekt ist
insofern vom Standpunkt einer logozentrischen statischen Struktur her gesehen ein
Nicht-Seiendes. Umgekehrt - wenn es stimmt, »(que) les différences sont [...]
'produites' - différées - par la différence« 39 - ist das Subjekt als Differenz nicht nur
Anfang, sondern vielmehr auch Ende jedweden logozentrischen Systems:

»Si le langage, et en particulier le langage littéraire, ne s'élançait constamment,


par avance, vers sa mort, il ne serait possible, car c'est ce mouvement vers son
impossibilité qui est sa condition et qui le fonde.« 40
Grenzerfahrung des kodifizierten Zeichens, hat die Bedeutungspraxis 41 des moder-
nen Textes mithin den Charakter einer fortgesetzten Transgression. Gegenüber dem
Objektivismus der 'Wissenschaft' nicht weniger wie der Statik eines vermeintlichen
»bon sens«, 42 dem das »Meinen« (Hegel!) des natürlichen Bewußtseins als unum-
stößliche Wahrheit und Realität zu gelten pflegt, bedeutet die Erfahrung des Subjekts
die Freilegung einer Ebene ursprünglicher Produktivität: Im Hinblick auf die Erfah-
rung einer grundlegenden »différence« erscheint das kodifizierte Zeichen mithin als
Prozeß.

konzept zu diskutieren unterlassen.


37 A. Rimbaud: Une saison en enfer, in: Oeuvres (1960: 224); das Zitat erscheint mehrfach in Rayuela (R 216,253).
38 Vgl. Derrida 1972b: 39.
39 Derrida 1972c: 15.
40 M. Blanchot: La pari dufeu, S. 28; zitiert nach Todorov 1970: 184.
41 Zum Begriff vgl. Kristeva 1969: 208ff.
42 Zur Funktion des »gesunden Menschenverstandes« (beispielsweise) in der Wahrheitsdefinition bei Tarski, vgl.
Danncbcrg/Müller 1980: 26.
181

1.5.4. Brosamen des Todes (»El Almuerzo«)

Die Erfahrungen der Cronopien sind Subjekterfahrungen im angedeuteten Sinne. Bei-


spielsweise die folgende:
Einem Cronopium gelingt die Herstellung eines Lebens-Thermometers. Anläßlich
des Besuchs dreier seiner Freunde appliziert es seine Entdeckung und klassifiziert
seine Gäste nach diesem Schema: Der Fame ist »infra-vida«, die Esperanze »para-
vida« und der Dritte im Bunde - ein »profesor de lenguas« - »inter-vida« (CF 127).
Die Lebenstemperatur des Gastgebers zeigt eine leichte Tendenz in Richtung auf
»super-vida, pero más por poesía que por verdad« (ebd.). Beim Mittagessen dann läßt
es die Gäste reden ...
Die Simplizität des Ausdrucks bildet einen ironischen Kontrast zum weitreichen-
den Sinnangebot des Textes. Es genügt, an die klassische Definition des Menschen zu
denken, und der Text verliert auf der Stelle seine vordergründige Naivität. Das Le-
bensthermometer gewinnt dann die Funktion eines technologischen Maßstabs zur Be-
stimmung des Grades, inwieweit die Individuen ihre Zugehörigkeit zur Gattung
'Lebe-Wesen' realisieren. Die Spezifik menschlichen Lebens ist indessen - gemäß der
alten Definition - die Rationalität, eine Eigenschaft, die im aristotelischen Text be-
kanntlich durch den Begriff des Logos bezeichnet wird (SvOpomoq ¡¡G3ov \6yov
exiov). Der 'Logos' - für die Griechen Sprache, Vernunft und Denken zugleich -
bezeichnet die allgemeine Fähigkeit des Menschen, mit seinesgleichen mittels der
Sprache zu 'vernünftigen' Übereinkünften zu gelangen. Es ist hier nicht der Ort, die
theologische Filiation dieses Gedankens sowie die fundamentale Rolle, die er in der
Geschichte des abendländisch-logozentrischen Sprachmodells gespielt hat, zu
erörtern. 43 Gewiß ist, daß die moderne Linguistik, indem sie 'Kommunikation' nicht
nur zu den Effekten der Sprachverwendung rechnet, sondern sie sogar in den Rang
einer ihrer Prämissen versetzt, der logozentrischen Geschichte des abendländischen
Sprachmodells umso weniger entgeht, als sie dessen theologischen Ursprung durch
die positivistischen Modelle der linguistischen Analyseverfahren unkenntlich macht.
Das Vergnügen unserer Gastgeber beim Anhören der Unterhaltung ist insofern
verständlich. Wenn es stimmt, daß Fortschritt in der Wissenschaft nur auf dem Wege
der Falsifikation zu erreichen ist, so indiziert die Freude des Cronopiums in der Tat
einen Erkenntnisfortschritt: Im Hinblick auf die in Frage stehende differentia speci-
fica des Lebewesens Mensch falsifiziert die Unterhaltung die Prämisse 'Kommunika-
tion':
»A la hora del almuerzo este cronopio gozaba en oír hablar a sus contertulios,
porque todos creían estar refiriéndose a las mismas cosas y no era así.« (Ebd.)
Das Vergnügen des Cronopiums ist des weiteren verständlich, da die verhinderte
Kommunikation - bei welcher der »intra-vitale« Linguistik-Professor über Geist und

43 V g l . Krisleva 1981: 105ff.


182

Kommunikation - bei welcher der »intra-vitale« Linguistik-Professor über Geist und


Bewußtsein dissertiert, die »para-vitale« Esperanze offenen Mundes zuhört, der »in-
fra-vitale« Farne beständig den geriebenen Käse verlangt, während der »super-vitale«
Gastgeber das Hühnchen tranchiert - die fundamentalen Lebensäußerungen mitnich-
ten beeinträchtigt. Ist es dies oder sind es die von den Gästen schließlich zurückgelas-
senen pedacitos sueltos de la muerte« (CF 128), die den Gegenstand der Freude
unseres Gastgebers ausmachen?
Versuchen wir die Andeutung einer Antwort in einem letzten Text der Sammlung
zu finden.

7.5.5. Poesie und Transgression (»Pegue la estampilla en el ángulo derecho del


sobre«)
Auf den ersten Blick wiederholt der Text lediglich ein Verfahren, das wir oben
ausführlich analysiert haben: die Modifikation der pragmatischen Instruktion des so-
zialen Zeichens: Ein Fame und ein Cronopium bringen Briefe an ihre auf einer ge-
meinsamen Reise befindlichen Ehefrauen zur Post. Während der Fame ohne Verzug
den postalischen Vorschriften Folge leistet und seinen Brief ordnungsgemäß frankiert
in den Kasten wirft, damit die Nachricht über sein persönliches Wohlbefinden die
Empfängerin erreicht, verwickelt das Cronopium die Beamten in ein nutzloses Streit-
gespräch bezüglich der ästhetischen Qualitäten der Briefmarken. Niemand werde ihn
dazu bringen, so teilt er den erstaunten Beamten mit, seine »cartas de amor conyugal«
(CF 152) durch dergleichen traurigen Schund zu entehren. Schließlich erscheint der
Amtsleiter und setzt das lamentierende Cronopium samt seinem Brief auf die Straße.
Sein Freund, der Fame, tröstet ihn mit folgenden Worten:
»Por suerte nuestras esposas viajan juntas, y en mi carta anuncié que estabas bien,
de modo que tu señora se enterará por la mía.« (CF 153)
- eine Meldung, die für das Cronopium offensichtlich ohne Belang ist.
Die Modifikation der gewohnten Zeicheninstruktion des /Briefschreibens/ weist im
vorliegenden Fall indes eine Besonderheit auf, die es näher zu betrachten gilt: Die
Sitte, Briefe zu schreiben, dient seit den frühesten Epochen der kulturellen Entwick-
lung der Menschheit zur Übermittlung von Nachrichten bei räumlich und zeitlich ge-
trennten Kommunikationspartnern. Papier, Schrift, Umschlag und - seit De Valayer -
die Briefmarke konstituieren insofern den materiellen Träger der Nachricht. Auf sie
ist - Jakobson zufolge - die poetische Sprachfunktion bezogen. 44 Das auf die materi-
elle Seite der Nachricht bezogene Interesse des Cronopiums, welches das bei einem

44 Kommunikationswissenschaftler werden argumentieren, die Schrift nur bilde im strengen Sinne die Nachricht,
während Papier, Umschlag und Briefmarke eher auf den Kanal der Nachrichtenübermittlung zu beziehen seien.
Die Unterscheidung ist hier jedoch nur von theoretischem Interesse, bilden im Normalfall moderner Korrespon-
denz doch alle genannten Elemente eine Einheit. Beschriftetes Papier, Umschlag und Marke also sind zusammen
die 'Nachricht', welche mittels des Bolen - und die durch diesen repräsentierte, als 'Kanal' fungierende Institution
Post' - vom Absender zum Empfänger befördert wird.
183

durchschnittlichen Briefschreiber vorauszusetzende Interesse an der Übermittlung ei-


ner referentiell zu beziehenden 'Botschaft' - im vorliegenden Fall: das Wohlbefinden
der beiden Ehemänner - dominiert, ist mithin 'poetisches' Interesse im doppelten
Sinne: Zum einen aufgrund der Dominanz, die hier die Nachricht als solche gewinnt;
zum anderen aufgrund der Tatsache, daß gerade sie, die - im Normalfall automati-
sierte - materielle Seite des Zeichens, seitens des Cronopiums zum eigentlichen Feld
der semiotischen Produktivität erhoben wird - einer Produktivität freilich, die sich
ausschließlich auf die äußere, 'ästhetische' Form dessen bezieht, was im herkömmli-
chen Kommunikationsmodell 'Brief lediglich die Funktion eines untergeordneten
Mittels besitzt, die Briefmarke. Die intendierte Umfunktionierung des Zeichens er-
scheint vom Standpunkt geordneter Nachrichtenübermittlung aus gesehen als sinnlos
- ebenso wie diese, die Übermittlung referentieller Botschaften, aus der Perspektive
poetischer Produktivität als überflüssige Redundanz erscheint. Wenn auch die freie
poetische Produktivität des Cronopiums - im vorliegenden wie in den meisten Texten
der Sammlung - an der Intervention der personifizierten sozialen Autorität des Zei-
chens (»el jefe de correos«) scheitert, so zeigt sich im Scheitern nichtsdestoweniger
die Richtung, in welche die den Cronopien eigentümliche Aktivität sich bewegt:
Das 'Jenseits der Zeichen', auf welches die Aktivität abzielt, ist mitnichten eine der
Zweideutigkeit aller Zeichenkonstellation enthobene 'Realität' - also keinesfalls ein
Jenseits traditionellen Zuschnitts im Sinne einer Über-Welt bzw. eines Ding-an-sich.
Es ist vielmehr ein Jenseits immer in Bezug auf eine etablierte, durch soziale Sank-
tionen gefestigte Welt von Zeichen, ein Jenseits mithin dieser (bestimmten) Welt,
konstituiert indessen - wie diese - durch signifikantes Material. Das Moment der
Freiheit der Cronopien - ihre eigentümliche Produktivität - gegenüber der etablierten
Zeichenwelt liegt mithin nicht in der Schaffung neuer Signifiants, sondern in der Zu-
rückweisung, der Transgression sowie der produktiven Umgestaltung der sozial eta-
blierten Regeln ihres Gebrauchs, ihrer Syntax und folglich - ihrer Semantik. Die Ak-
tivität der Cronopien ist in diesem Sinne »Arbeit am Signifiant«. Sie ist - was das
gleiche sagt - eine wesentlich »poetische« 45 Aktivität.

45 Es ist dies jene Aktivität, die J. Mukarovsky der »ästhetischen Funktion« zuweist, wenn er - in einer möglichen
Mißverständnissen gegenüber nicht gefeiten Formulierung - diese dadurch charakterisiert, daß sie »in sich das
Ganze widerspiegelt«. (Mukarovsky 1974: 129ff.)

Das könnte Ihnen auch gefallen