Bolinger 2
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2 The received view wird ins Deutsche teils mit der received view (der Standpunkt, etwa Haase,
1995; Wiltsche, 2013), teils mit die received view (die Sicht, etwa Puntel, 2006; Haller, 1986) über-
setzt. Beide Übersetzungen sind gerechtfertigt. Da ich bei meiner eigenen Recherche zunächst
die maskuline Version gefunden habe, werde ich auch folgend diese verwenden.
aber rein göttlich sei, könne die theoretische Lebensform von Menschen nicht er-
reicht werden. Dennoch kommt dem Theorienverständnis damit ein von der Pra-
xis unabhängiges Element zu, wie es bei Platon zuvor noch nicht gegeben war
(Aristoteles, 1907, 1177a ff; Mittelstraß, 1996, S. 259).
Dieser kontemplative Aspekt des aristotelischen bios theoreticos wurde unter
anderem von der hellenistischen sowie der neuplatonischen und neupythagoräi-
schen Philosophie immer wieder aufgegriffen. Theophrast sowie andere Peripa-
tetiker betonten die Bedeutung der theoretischen Lebensform, Philon von Alex-
andria zeichnete sie sogar als asketisch aus. Im Stoizismus und überspitzt im Ky-
nismus wurde die Abkehr vom Weltlichen zur grundlegenden Lebenseinstellung.
Durch Erhebung zur über Spekulation die unmittelbare Schau des Einen (ϵ́ν) er-
möglichenden höchsten Form geistiger Tätigkeit, erhielt die theoretische Lebens-
form über Proklos und Plotin als vita contemplativa Einzug in die mittelalterliche
Philosophie, wo sie unter anderem bei Boethius und Thomas von Aquin von der vi-
ta activa abgegrenzt und über diese erhoben wurde (Thiel, 1996; Gatzmeier, 1996).
Einen bedeutenden Schritt hin zum modernen Theorienverständnis machte
Francis Bacon durch seinen Angriff auf das mittelalterliche Primat des Kontem-
plativen (Klein, 2012; Krohn, 1999). Er kritisierte sowohl die Humanisten der Re-
naissance, die Scholastik, als auch einen strikten Empirismus, wenn er schreibt:
Die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen.
Die Empiriker, gleich den Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Ver-
nunft überbetonen, gleich den Spinnen, schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren
der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder,
behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. (Bacon, 1620, I a95)
Die Aufteilung eines komplizierten Phänomens ist nicht wie eine zusammenhängende in-
terdependente Beweiskette. Wenn ein Glied einer solchen Kette bricht, fällt das Ganze zu
Boden, aber ein Schritt einer Analyse behält seinen Wert, selbst wenn wir niemals in der
Lage sein sollten, einen zweiten zu tun. (Mill, 1859; zitiert nach Scheibe, 2007, S. 305)
Science [. . . ] gradually establishes the fact that macrocosmic and microcosmic existence
obeys, in its origin, life, and decay, mechanical laws inherent in things themselves, discar-
ding every kind of super-naturalism and idealism in the exploration of natural events. There
is no force without matter; no matter without force. (Büchner, 1855; zitiert nach Suppe, 1974,
S. 8)
Dieser eher pragmatische Ansatz war unter Verweis auf die von der damaligen
Psychologie und Physiologie betonte Subjektivität der Sinneswahrnehmungen
unbefriedigend, was zu einer im Laufe der 1870er Jahre immer stärker werdenden
Kritik führte. Eingeleitet von Helmholtz entwickelte sich als Konsequenz auf der
einen Seite eine schnell an Bedeutung gewinnende neukantianische Schule, die
4 Auch wenn das Zitat aus der Zeit nach Einstein und der Entwicklung der Quantenmechanik
stammt, ist es ebenso bezogen auf die Zeit davor zu verstehen. Die von Carnap der Logik beige-
messene Rolle werde ich später noch eingehender untersuchen.
Man könnte nun z.B. in Bezug auf Physik der Ansicht sein, dass es weniger auf Darstellung
der sinnlichen Tatsachen als auf die Atome, Kräfte und Gesetze ankommt, welche gewisser-
maßen den Kern jener sinnlichen Tatsachen bilden. Unbefangene Überlegung lehrt aber,
dass jedes praktische und intellektuelle Bedürfnis befriedigt ist, sobald unsere Gedanken
die sinnlichen Tatsachen vollständig nachzubilden vermögen. Diese Nachbildung ist nun
Ziel und Zweck der Physik, die Atome, Kräfte, Gesetze aber sind nur die Mittel, welche uns je-
ne Nachbildungen erleichtern. Der Wert der letzteren reicht nur so weit als ihre Hilfe. (Mach,
1922, S. 254)
dass wir bei quantitativer Verfeinerung eines Vorgangs Vorstellungen, die wir in einem grö-
beren Stadium als Phänomene gewonnen haben, auch auf die feineren Stadien ausdehnen
sollen, selbst wenn die früheren Erscheinungen verschwunden oder andere geworden sind.
(Scheibe, 2007, S. 75)
By the turn of the century, the three main philosophical positions held in the German
scientific community were mechanistic materialism, neo-Kantianism, and Machian neo-
positivism, with neo-Kantianism being the most commonly held. (Suppe, 1974, S. 10)
Neben diese genuin philosophischen Positionen trat noch ein in weiten Teilen der
Physikergemeinschaft vertretenes realistisches Weltverständnis. Postulat dieses
Realismus war die Existenz von den Erscheinungen unterliegenden Dingen-an-
sich – eine Auffassung, die dem Empirismus diametral gegenübergestellt war. Die
daraus entstandenen Spannungen entluden sich teils heftig, wie beispielsweise in
der Planck-Mach-Debatte (vgl. Scheibe, 2007, S. 51 ff).
Eine Stärke des Realismus war, dass er eine sinnvolle Erklärung für den Er-
folg der Physik vor allem in der Vorhersage von Ereignissen lieferte. Die konkur-
rierenden philosophischen Positionen taten sich demgegenüber schwer, adäquat
auf die Relativitätstheorien und die Quantenmechanik einzugehen und bedurften
dringender Modifikationen.5 Für den mechanischen Materialismus erwies sich
dies aufgrund seines starken Bezugs zur klassischen Mechanik als nicht möglich.
Der Neukantianismus wurde 1910 von Cassirer in einer modifizierten und vertret-
baren Form wiedergegeben (vgl. Suppe, 1974, S. 11). Der Ansatz von Mach fand
Aufnahme in einer die Mittel der Logik betonenden neopositivistischen Position,
die erstmals von einer Gruppe Wiener und Berliner Wissenschaftler vertreten wur-
de.
Die Ursprünge dieser neopositivistischen Bewegung finden sich bereits 1907
in einem Wiener Arbeitskreis bestehend aus dem Physiker Philipp Frank, dem Ma-
thematiker Hans Hahn sowie dem Sozialwissenschaftler Otto Neurath (vgl. Stölz-
ner und Uebel, 2006; Uebel, 2014; Haller, 1993; Carnap, 1929). Nach Berufung von
Moritz Schlick als Nachfolger Boltzmanns auf den ehemaligen Lehrstuhl Machs
und der darauf folgenden Institutionalisierung der regelmäßigen Treffen, gewann
die Gruppe schnell neue Mitglieder, von denen der Fregeschüler Rudolf Carnap
besonders hervorzuheben ist.6 Am 16. September 1929 trat der Wiener Kreis auf
dem fünften deutschen Physikertag und der Tagung der Deutschen Mathematiker-
Vereinigung in Prag erstmals geschlossen in Erscheinung und gewann schnell
weltweit an Einfluss in der philosophischen Landschaft.
Die wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises war deutlich ge-
prägt durch den bereits in der Gesprächsrunde von Frank, Hahn und Neurath
verehrten Mach und den damit zusammenhängenden Positivismus (vgl. Carnap,
1929, S. 305 ff). Die Betonung der Sinnesempfindungen als Basis wissenschaftli-
cher Erkenntnis war für sie ebenso zentral wie das Ziel der Einheitswissenschaft
und eine ablehnende Haltung gegenüber der Metaphysik. Hat sich jedoch Mach
noch gegen die Annahme der Existenz apriorischer Dinge wie Atome zur Wehr ge-
setzt, werden bei den Neopositivisten derartige Aussagen nicht als falsch, sondern
als sinnlos augezeichnet:7
Die Leugnung der Existenz einer transzendenten Außenwelt wäre genauso gut ein metaphy-
sischer Satz wie ihre Behauptung; der konsequente Empirist verneint daher nicht etwa das
Transzendente, sondern erklärt seine Verneinung wie seine Bejahung gleichermaßen als
sinnleer. (Schlick, 1932, S. 30)
Neu war zudem die Hervorhebung der Bedeutung der formalen Logik, die um die
Jahrhundertwende durch den Einfluss von Größen wie Boole, Peano, Frege oder
Whitehead/Russell stark an Bedeutung gewonnen hatte. Sie lieferte den Vertre-
tern des Wiener Kreises die Grundlage zur Begründung der analytischen Philoso-
phie.
Die Verifizierbarkeit von Aussagen diente ihnen – zumindest in den ersten
Jahren ihrer Arbeit – als Demarkationskriterium wissenschaftlicher Theorien.
Dieses stellte sich aber bei genauer Untersuchung als nicht haltbar heraus. Die
Verifizierbarkeit wurde durch die schwächere kognitive Signifikanz ersetzt. Aber
auch diese erwies sich als inadäquat. Auch zeigten sich über die Jahre immer
mehr Schwächen der Position der logischen Positivisten, von denen ein Großteil
mit ihrem Theorienverständnis, dem received view zusammenhing. Im folgen-
Genannten als Zentrum zu verstehen, um das sich der Rest der Gemeinschaft nur herum grup-
pierte. Unter den bisher nicht genannten Mitgliedern waren ebenfalls Größen wie H. Feigl, K.
Gödel, E. Zilsel oder R. Neumann, die aus der Gruppe nicht weg zu denken waren. Dazu kamen
noch bedeutende Vertreter der Berliner Gesellschaft für Wissenschaftsphilosophie, allen voran
H. Reichenbach, K. Grelling oder R.v. Mises sowie eine Vielzahl von Randpersonen und Sympa-
thisanten wie L. Wittgenstein, B. Russell, A. Tarski, C.G. Hempel, A.J. Ayer, E. Nagel, W.V.O. Quine
oder H. Putnam. Es gibt viele Auflistungen der Mitglieder des Wiener Kreises und die Hervor-
hebung der individuellen Beiträge, so dass wir hier nicht mehr weiter darauf eingehen werden.
Für eine Einleitung in die Entstehungsgeschichte des Wiener Kreises siehe Stölzner und Uebel
(2006); Uebel (2014).
7 Zu Mach und der Kontroverse über die Realität von Atomen siehe Scheibe (2007, S. 80 ff).
den Abschnitt werde ich diesen Rekonstruktionsansatz darstellen und auf die
zentralen Kritikpunkte hinweisen.
Eng verbunden mit den Grundlagen der Philosophie des Wiener Kreises ist das
Theorienverständnis, das als „received view“ oder „syntactic approach“ bezeich-
net wird. Aufgrund seiner zentralen Bedeutung für das Programm der logischen
Positivisten und damit für die Wissenschaftsphilosophie des 20ten Jahrhunderts
wundert es kaum, dass der received view über die Jahrzehnte einer starken Kritik
ausgesetzt war, in deren Folge er mehrmals modifiziert wurde. Dies kommt auch
in den vielen Darstellungen dieses Rekonstruktionskonzepts zum Tragen. Zusam-
menfassungen der zentralen Gedanken hinter dem received view finden sich bei
van Fraassen (1987, S. 108 f), Suppes (1967, S. 56), Psillos (2000, S. 158 ff) sowie
Spector (1965, S. 121 ff) und Lutz (2010, S. 2).
Bei meiner Darstellung der Urversion des received view in Unterabschnitt 2.2.1
sowie den Ausführungen zur daran geübten Kritik in den Unterabschnitten 2.2.2
bis 2.2.4 habe ich mich im ersten Ansatz an Suppe (1974, S. 16 ff) orientiert: In
Unterabschnitt 2.2.2 gehe ich auf zentrale Probleme der Beziehung der theoreti-
schen Terme mit den Ausdrücken eines Observablenvokabulars ein. In Unterab-
schnitt 2.2.3 folgt die Auseinandersetzung mit der problematischen Rolle, die wis-
senschaftliche Modelle im received view einnehmen. Unterabschnitt 2.2.4 betont
den Mangel von wirklichen mit dem received view durchgeführten Rekonstruktio-
nen relevanter wissenschaftlicher Theorien. Ich werde aufzeigen, dass diese Kri-
tikpunkte auch mit Blick auf späte Versionen des received view nach Carnap (1956)
oder Hempel (1965) ernst zu nehmen sind. In Unterabschnitt 2.2.5 fasse ich die
vorangegangenen Ausführungen hinsichtlich der sich in Abschnitt 2.3 anschlie-
ßenden Betrachtung des semantic approach zusammen.
Der hinter dem received view stehende Gedanke besagt verkürzt, dass es möglich
ist, jede wissenschaftliche Theorie als Klasse von Aussagen in einem logischen
Formalismus L – inklusive Kalkül K – zu formulieren. Dabei erhält das vorkom-
mende nicht-logische, theoretische Vokabular V t seine Bedeutung durch eine An-
zahl ebenfalls in L formulierter correspondence rules C, welche die theoretischen
Ausdrücke an mit direkten Beobachtungen verknüpfte Ausdrücke eines Observa-
blenvokabulars V o binden (vgl. Carnap, 1956).
Nach Suppe (1974, S. 16) war für L in den ersten Ansätzen des received view
nur die Prädikatenlogik erster Stufe vorgesehen. Erst im Laufe der Jahre, als Folge
lauter werdender Kritik, wäre diese Forderung abgeschwächt worden, so dass in
späten Versionen jede formale Sprache mit einer hinreichenden Stärke „erlaubt“
war. Demgegenüber argumentiert Lutz (2010, S. 82) überzeugend dafür, dass Prä-
dikatenlogik erster Stufe und Russellsche Typentheorie nicht vor 1935 ausdiffe-
renziert waren, die ersten Publikationen zum received view jedoch aus den 1920er
Jahren stammen. Er verweist dazu auf Campbell (1920) sowie Carnap (1923). Hin-
zu käme, dass Gödel seine Unvollständigkeitssätze erst 1930 formuliert hätte (vgl.
Gödel, 1931), die Typentheorie also bis dahin von uneingeschränkter Bedeutung
war. Lutz folgert daraus, dass „given Carnap’s focus on type theory in his rese-
arch on axiomatics, it would be rather surprising if he had demanded first-order
axiomatization.“ (Lutz, 2010, S. 82)
Auch nach der Veröffentlichung von Gödels Unvollständigkeitssatz finden
sich bei Carnap Bezüge zur Typentheorie. So führt Carnap (1934) eine formale
Sprache II ein, die auf der einfachen Typentheorie von Russell und Whitehead
aufbaut (vgl. Russell und Whitehead, 1910, S. 55 ff; Carnap, 1934, S. 74 ff; Carnap,
1931a), und deren Zweck die Erweiterung der zuvor durch eine Sprache I einge-
führte Prädikatenlogik zur Formalisierung der Mathematik ist.8 In der Tat haben
sich die Vertreter des received view in ihren Aussagen bezüglich der zu verwenden-
den Sprache an vielen Stellen allgemein gehalten, weshalb auch ich folgend von
einer nicht weiter spezifizierten formalen Sprache hinreichender Stärke ausgehen
werde. Die Festlegung auf ein bestimmtes System – explizit die Prädikatenlogik
mit eingebetteter Mengentheorie – wird erst in Bezug auf den semantic approach
in Abschnitt 2.3 notwendig werden.
Die Elemente von V o sind entweder Ausdrücke, die als direkt wahrnehmbare
Eigenschaften (z.B. „rot“, „auflösend“, „groß“) bzw. Beziehungen von Ereignis-
sen und Dingen (z.B. „x ist wärmer als y“, „x ist größer als y“, „x liegt auf der Ver-
bindungsstrecke von y und z“) interpretiert werden können, oder als eben diese
makroskopisch wahrnehmbaren Ereignisse und Dinge (z.B. „Mond“, „Die Nadel
dieses Instruments“, „Das Aufleuchten auf dem Bildschirm“; vgl. Carnap, 1956, S.
41; Hempel, 1965, S. 60) . Damit zerfällt L in verschiedene Teilsprachen: Die Obser-
vablensprache L o ist einzig aus logischen Ausdrücken und den Elementen von V o
aufgebaut, die theoretische Teilsprache L t ist analog zusammengesetzt aus logi-
schem Vokabular, möglicherweise Observablenausdrücken, aber mindestens ei-
nem theoretischen Term, also einem Element von V t , wie „Masse“, „Elektron“oder
8 Für einen Vergleich von Carnaps Sprache II mit der axiomatisierten Mengenlehre siehe (Car-
nap, 1934, S. 87 f).
„t“, „m(*)“, „f(*,*)“etc. sind Abkürzungen für die Elemente von V t und haben als
solche zunächst keine Bedeutung im Fregeschen Sinn; die obige Formel (2.1) ist
als bloße Hintereinanderreihung von Zeichen zu verstehen.
Die correspondence rules C sind in einer Teilsprache von L t formuliert, die ne-
ben dem logischen Vokabular jeweils mindestens einen Ausdruck aus V o und V t
enthält und erfüllen drei miteinander verwobene Aufgaben: (1) Sie definieren die
theoretischen Terme durch Ausdrücke des Observablenvokabulars, (2) sie sorgen
für die kognitive Signifikanz der Ausdrücke und (3) sie geben experimentelle Vor-
gehensweisen an, welche die observablen Terme an die Phänomene binden (vgl.
Suppe, 1974, S. 17). In den Diskussionen des Wiener Kreises werden correspon-
dence rules teils auch als koordinierende Definitionen, Wörterbücher, Interpretati-
ve Systeme, Operationale Definitionen, Epistemische Korrelationen oder Interpre-
tationsregeln bezeichnet. Beispielsweise ließe sich die Masse durch den Beobach-
tungsterm „x ist schwerer als y“ und der correspondence rule
bestimmen. Weitere Beispiele finden sich bei Carnap (1956, S. 47 f). In späteren
Fassungen des received view wurde dazu übergegangen, zur Bestimmung theo-
retischer Ausdrücke anstelle von Definitionen sogenannte Reduktionssätze9 her-
anzuziehen (vgl. Carnap, 1936c). Die Gründe hierfür sowie Details werde ich in
Unterabschnitt 2.2.2 ausführen. Zunächst ist relevant, dass in beiden Fällen die
theoretischen Terme in Beziehung zu den observablen Ausdrücken gesetzt wer-
den. Vorausgesetzt dafür ist die Kenntnis der Bedeutung des Definiens, hier der
Aussage „Schwerer als etwas sein“. Ist dies nicht gegeben, muss die Grundlage
anders gewählt werden, in etwa durch Einführung einer alternativen Definition
der Art:
Lege ich p und q jeweils auf eine der Seiten ei-
m(p) > m(q) :↔ ner Balkenwaage, so neigt sich die Seite auf der (2.3)
p liegt nach unten.
9 Dieser Begriff sollte im Rahmen des vorliegenden Abschnitts bezogen auf die kognitive Signi-
fikanz der theoretischen Terme, also auf den hier gegebenen Kontext, verstanden werden und
nicht unmittelbar mit der Bedeutung von „Reduktionen“ im Sinne von Kapitel 3.
Im Regelfall genügen Aussagen der Art (2.2); zur Erfüllung von (3) ist eine Zu-
rückführung auf (2.3) entsprechende correspondence rules streng genommen not-
wendig. Die Frage, wann eine solche Definition ausreichend ist, geht einher mit
der Frage, wie sich observable von theoretischen Termen unterscheiden lassen.
Das Auffinden eines Demarkationskriteriums stellt aber ein nicht-triviales Pro-
blem dar, wie ich noch erkläutern werde.
Der hinter dem received view stehende Grundgedanke ist leicht nachvollzieh-
bar und lässt sich bei gängigen Formalisierungen beispielsweise der Newton-
schen Mechanik in Grundzügen wiederfinden. McKinsey et al. (1953, S. 256 f) füh-
ren die Ausdrücke „Geschwindigkeit“, „Ort“, „Zeit“, „Masse“ und „Kraft“durch
physikalische Interpretationen ein, auf denen sie ihre theoretischen Betrachtun-
gen aufbauen. Hamel (1908, S. 350 f) unterscheidet zwischen der Axiomatisie-
rung einer Newtonschen Mechanik mit Massenpunkten, starren Körpern und
Volumenelementen als Grundbestandteilen und verweist auf die Konsequenzen
für die weitere Verallgemeinerung der Theorie aufgrund des implizierten Anwen-
dungsbereichs. Simon (1954) betont in der Diskussion seiner Axiomatisierung,
dass:
Dies sei nicht nur ein philosophischer Standpunkt, sondern komme auch den Vor-
stellungen der Physiker selbst nahe. Diese hätten „for some time recognised the
necessity, in the axiomatization of a physical theory, for ‚semantic‘, ‚operational‘
or ‚epistemic‘ definitions of concepts to connect them with measurement proce-
dures.“ (Simon, 1954, S. 342) Nicht nur wohlwollend gelesen legt diese Äußerung
Simons Überschneidungen zwischen der Theorienauffassung der logischen Po-
sitivisten und den tatsächlich von Physikern durchgeführten Formalisierungsan-
sätzen nahe – und in der Tat gibt es für diese Annahme Gründe, legt man den
received view nur weit genug aus. Im Folgenden werde ich zunächst von einem sol-
chen weiten Verständnis absehen und stattdessen ein möglichst enges vorausset-
zen, wonach sowohl die correspondence rules explizit in einer formalen Sprache
dargestellt werden müssen als auch eine allgemeine Unterscheidung der Elemen-
te des theoretischen und des observablen Vokabulars gegeben sein muss. Diese
Einschränkung ist dadurch gerechtfertigt, dass sie dem Verständnis einer Viel-
zahl der Kritiker des received view entspricht, deren in Abschnitt 2.3 dargestelltes
10 Simon (1954, S. 349 ff) bezieht sich hier auf seine Axiomatisierung aus dem Jahre 1947.
Ein erster Ansatz zur Formalisierung der Aussage „Das Buch in meiner Hand
ist brennbar“ (vgl. Goodman, 1947) kann wie folgt aussehen:
Das Buch b ist demnach genau dann brennbar (B(*)), wenn es unter der Bedin-
gung, dass ich es anzünde (A(*)) in Flammen aufgeht (F(*)).12 Rein logisch ist
damit aber auch ein von mir nicht angezündeter Stein brennbar: Das Antezedens
des Definiens ist falsch und damit – ex falso quodlibet – die Implikation und ergo
die Brennbarkeitsaussage wahr, obwohl wir den Stein nicht als „brennbar“ be-
zeichnen würden. Als Lösung dieses Problems präsentierte Carnap die in Unter-
abschnitt 2.2.1 bereits angesprochenen Reduktionssätze (vgl. Carnap, 1936c). Mit
zu (2.4) analogen Bezeichnungen ist ein solcher für die Darstellung der Brennbar-
keit eine Allaussage von folgender Form:
Durch diese sei, so Carnap, „tatsächlich die Bedeutung des neuen Begriffes be-
stimmt; denn wir wissen, was wir zu tun haben, um im einzelnen Fall empirisch
festzustellen, ob der neue Begriff einem gegebenen Ding b zukommt oder nicht.“
(Carnap, 1936c, S. 367)
Als Konsequenz müssen die correspondence rules die theoretischen Terme
nicht mehr vollständig definieren, sondern können Teilaspekte angeben. Die
Brennbarkeit ließe sich für das Buch sowohl nachweisen durch Werfen in einen
Kamin (K(x)), als auch durch anzünden mit einem Streichholz (S(x)), so dass an-
stelle des bisherigen Ansatzes auch die folgenden Reduktionssätze herangezogen
werden können:
∀x : K(x) → (B(x) ↔ F(x))
(2.6)
∀x : S(x) → (B(x) ↔ F(x))
12 Das Problem wird hier vereinfacht dargestellt. Natürlich ist streng genommen nicht nur das
Anzünden des Buches vorausgesetzt, sondern noch weitere Randbedingungen, wie zum Beispiel,
dass das Buch zum Zeitpunkt des Anzündens nicht wassergetränkt ist etc.. Eingehen auf diese
Details würde (a) eine Detaildiskussion weit abseits des hier zu behandelnden Themas bedeuten
und ist (b) bereits an anderer Stelle ausführlich geschehen (vgl. Goodman, 1947).
Terms of this kind are not introduced by definition or reduction chains based on observables;
in fact they are not introduced by any piecemeal process of assigning meaning to them indi-
vidually. Rather, the constructs used in a theory are introduced jointly, as it were, by setting
up a theoretical system formulated in terms of them and by giving this system an experi-
mental interpretation, which in turn confers empirical meaning on theoretical constructs.
(Hempel, 1952, S. 32)
Grund hierfür sei, so Hempel weiter, nicht lediglich eine Präferenz der Wissen-
schaftler, sondern die oben beschriebene prinzipielle Unmöglichkeit einer voll-
ständigen Bestimmung theoretischer Terme (vgl. Hempel, 1952; Suppe, 1974, S.
24). Er schließt daraus
that cognitive significance in a system is a matter of degree: Significant systems range from
those whose entire extralogical vocabulary consists of observational terms, through theories
whose formulation relies heavily on theoretical constructs, on to systems with hardly any
bearing on potential empirical findings. (Hempel, 1965, S. 117)
Es gibt Möglichkeiten zur Erwiderungen auf diese Kritik (vgl. Suppe, 1974, S. 24).
Die Auseinandersetzung im Umfeld der logischen Positivisten endete in einer De-
taildebatte, die immer weitere Modifikationen der ursprünglichen correspondence
rules hinter sich her zog. Das Ergebnis waren zusätzliche Abschwächungen der
kognitiven Signifikanz. Fast schon resignierend fasst Carnap das Resultat der Dis-
kussionen zusammen:
Today I think, in agreement with most empiricists, that the connection between the observa-
tion terms and the terms of theoretical science is much more indirect and weak than it was
conceived either in my earlier formulation or in those of operationism. Therefore a criterion
of significance for L t must likewise be very weak. (Carnap, 1956, S. 53)
Ob ein derart schwaches Kriterium noch mit den Grundüberzeugungen der logi-
schen Positivisten vereinbar ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Hier
soll zunächst auf ein weiteres, schwerwiegenderes Problem in Bezug auf die
theoretischen Terme eingegangen werden: Bei den bisherigen Ausführungen ist
grundsätzlich davon ausgegangen worden, dass eine Differenzierung zwischen
theoretischem und observablem Vokabular möglich ist. Was aber, wenn sich kein
‘Observation’ in the relevant sense, involves attending to something, and has the following
characteristics [. . . ]: (1) how many aspects of an item, and which ones, I must attend to be-
fore I can be said to observe it will depend upon my concerns and knowledge; (2) observing
involves paying attention to various aspects and features of the items observed, but does not
always require recognizing the kind of item being observed; (3) it is possible to observe so-
mething even though it is in a certain sense hidden from view – for example, a forest ranger
observes the fire even though he can only see smoke – so observing an item does not ne-
cessarily involve seeing or looking at it; (4) it is possible to observe something when seeing
an intermediary image – for example, when looking at myself in a mirror; (5) it is possible
to describe what I am observing in the sky as a moving speck or an airplane. (Suppe, 1974,
S. 81 mit Verweis auf Achinstein, 1968, S. 160 ff)
What has been shown is not that divisions are impossible but that, using any one of the-
se criteria, many distinctions will emerge; these will be fairly specific ones applicable on-
ly to certain classes of terms employed by scientists; and each will be different, so that a
term classified as observational (or theory-dependent, and so forth) on one criterion will be
nonobservational (or theory-dependent, and so forth) on another. In short, none of these
13 Achinstein geht bei seiner Kritik des logischen Positivismus von einem Beobachtungsver-
ständnis nach Carnap (1936a, 1937) aus. Dieser betont, dass sich observable Ausdrücke in Be-
ziehung zu direkten Beobachtungen setzen lassen müssen.
labels will generate the very broad sort of distinction so widely assumed in the philosophy
of science. (Achinstein, 1968, S. 199)
Das Problem der theoretischen Terme geht damit nahtlos über in das Problem der
Theoriegeladenheit der Beobachtung, wie es von Kuhn (1962) und Hanson (1958)
betont wurde (vgl. Falkenburg, 2007, S. 62 ff; Unterabschnitt 3.1.3 hier) Die Un-
terscheidung, so Achinstein weiter, habe dennoch ihre Rechtfertigung, nämlich
sofern man sich anstelle der Frage, ob ein Term theoretisch bzw. beobachtbar sei,
die Frage stelle, in welcher Weise („In what way“; Achinstein, 1968, S. 200) er
es sei. Daraus ergäben sich interessante philosophische Schlussfolgerungen, die
eine strikte Unterteilung nicht voraussetzten.
Dennoch kann eine solche Relativierung des Beobachtungsbegriffs für einen
Vertreter des received view nicht befriedigend sein. Auf der einen Seite, da die em-
pirische Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis als Konsequenz zerfällt und zu
einer Frage der Konvention wird. Damit zusammenhängend aber auf der anderen
Seite auch, da als Konsequenz jedem von Physikern als Theorie verstandenen Ge-
bilde gleich mehrere formalisierte Theorien entsprächen – je nachdem, wie der
Schnitt zwischen theoretischen und observablen Termen gesetzt wird.
Mit seinem Vorgehen kann Achinstein jedoch nur die Symptomatik einer mög-
lichen Ununterscheidbarkeit aufzeigen, nicht jedoch eine Diagnose stellen. Sei-
ne Untersuchung zeigt die Probleme zuvor getroffener Demarkationskriterien auf,
sagt aber nichts über den Allgemeinfall (vgl. Suppe, 1974, S. 82). Anders ist dies
bei Putnam, dessen Kritik auf die Negation der Existenz genuin observabler Ter-
me sowie den Nachweis der Unschärfe der Klasse der theoretischen Terme ab-
zielt. Nach ihm könnten zunächst observable Terme nicht so charakterisiert wer-
den, dass sie sich ausschließlich auf observable Dinge bezögen, da es keinen ein-
zigen solchen Ausdruck gäbe, der nicht auch ohne Änderung seiner Bedeutung
auf nicht-beobachtbare Dinge anwendbar sei. Putnam (1962) nennt exemplarisch
Newtons Verwendung von „rot“ in der Aussage, rotes Licht bestünde aus roten
Korpuskeln. Folglich könnten observable Ausdrücke nur dadurch charakterisiert
werden, dass sie sich auch auf beobachtbare Dinge anwenden ließen. Damit die
Dichotomie von theoretischen und observablen Ausdrücken bei einem solchen
Verständnis von observablen Termen weiterhin aufrecht gehalten werden kann,
dürften sich theoretische Terme dann aber nie auf beobachtbare Dinge beziehen
(vgl. Putnam, 1962; Suppe, 1974, S. 82 ff). . Dies bedeute aber, dass „many theoreti-
cal terms (for example ‘gravitational attraction’, ‘electrical charge’, ‘mass’) will be
observation terms since, for example, I can determine the presence of electrical
charge by sticking my finger on a terminal.“ (Suppe, 1974, S. 83) Putnam kommt
zu dem Schluss, dass die Differenzierung von theoretischen und observablen Aus-
drücken nicht haltbar ist:
What I mean when I say that the dichotomy is ‘completely broken-backed’ is this:
1. If an ‘observation term’ is one that cannot apply to an unobservable, then there are no
observation terms.
2. Many terms that refer primarily to what Carnap would class as „unobservables“ are not
theoretical terms; and at least some theoretical terms refer primarily to observables.
3. Observational reports can and frequently do contain theoretical terms.
4. A scientific theory, properly so-called, may refer only to observationables (Darwins
theory of evolution, as originally put forward, is one example.)
Auch wenn Putnam seine Kritik ebenfalls auf Carnap (1936a, 1956) aufbaut, ist
sie stärker als die von Achinstein, da sie die Begriffsunterscheidung auf funda-
mentaler Ebene trifft. Als Resumée fasst Suppe das Ergebnis von Putnams Kritik
zusammen:
What these considerations indicate is that the meaning of most nonlogical terms in a natural
scientific language are such that they can be used both with reference to what might plausi-
bly be termed observables and also with reference to what plausibly might be construed as
nonobservables. According there is no natural division of terms into the observable and the
nonobservable. (Suppe, 1974, S. 83)
Die Möglichkeit des Ziehens einer künstlichen bzw. willkürlichen Grenze ist da-
durch nicht untergraben. Eine solche schlägt Suppe mit der Unterteilung des dop-
peldeutigen Vokabulars in zwei Teilvokabulare – einem mit theoretischer, einem
mit observabler Bedeutung – vor, bemerkt aber zugleich, dass das Problem da-
durch auch keine Lösung findet, da diese künstliche Unterteilung das untergrabe,
was er als „epistemologische Relevanz“ des received view bezeichnet. Diese liegt
nach ihm in (1) der kognitiven Signifikanz, die ohne die theoretisch-observablen-
Dichotomie sinnlos wäre, (2) der Unterscheidung von analytischen und syntheti-
schen Sätzen, die mit der empirischen Grundforderung des Aufbaus der Wissen-
schaft auf Beobachtungen zusammenhängt, und (3) der epistemischen Katalogi-
sierung von Termen anhand relevanter Eigenschaften (vgl. Suppe, 1974, S. 80 ff).
Die Unterscheidung von theoretischen und observablen Termen ist damit nach
Suppe obsolet und er folgert: „The observational-theoretical distinction obvious-
ly is untenable. As such most of the epistemological interest of the received view
is lost. Insofar as the observational-theoretical distinction is essential to the recei-
ved view, the received view is inadequate.“ (Suppe, 1974, S. 85 f)
Eine letzte Möglichkeit, das Problem der theoretischen Terme auszuhebeln,
ist die Umformulierung der Frage nach einer Unterscheidung von theoretischen
und observablen Termen im Allgemeinen zu der nach einer Unterscheidung in
Bezug auf eine bestimmte Theorie. Dies jedenfalls ist die bezogen auf den in Ab-
schnitt 2.3 dargestellten semantic approach of theories von Joseph D. Sneed (1971)
vorgeschlagene Lösung, die mit Blick auf das tatsächliche Vorgehen der Physi-
ker ihre Berechtigung findet. Diese wüssten im Einzelfall sehr wohl, welche Aus-
drücke eine direkte empirische Entsprechung besitzen und welche nicht. In die-
sem Sinn hatte schon Hamel geschrieben:
Die Begriffe selbst sind nicht unklar, nur die Bücher drücken sich über sie oft recht metaphy-
sisch und dunkel aus. Und was verschlägt es, wenn die Brauchbarkeit der Begriffe merkwür-
dig ist – vielleicht ein wenig rätselhaft? Wenn die Grundgesetze der Mechanik tiefer sind als
mancher es bequem findet, und sich nicht mit ein paar eleganten Worten, wie Konventionen
und Ökonomie des Denkens, Abstraktion und Idealisierung abtun lassen? (Hamel, 1908, S.
354)
So sei im Prinzip klar, wie sich Masse und Kraft messen ließen und welche Be-
obachtungen zur Bestätigung einer Theorie dienten. Ob der Begriff „rot“ einer
für jede Theorie eindeutig abgrenzbaren observablen Sprache angehört ist irre-
levant, solange nur Einigkeit darüber besteht, dass der farbige Punkt in meiner
Auswertung von Daten für einen bestimmten Detektor einem bestimmten in die
Rechnung einfließenden Wert entspricht (vgl. Abschnitt 2.4.2). Aber selbst bei Ak-
zeptanz dieser Lösung bleibt die Frage nach der epistemologischen Relevanz des
received view offen. Auch wenn es in späten Werken aus dem Umfeld der Positivis-
ten Überlegungen zur Einbettung einer solchen Position gab (vgl. Hempel, 1974),
können diese dem ursprünglich geforderten, starken Erkenntnisanspruch, nicht
gerecht werden.
Auch wenn es noch viel Klärungsbedarf gibt, besteht in der aktuellen philoso-
phischen Debatte zumindest Konsens darüber, dass wissenschaftliche Modelle,
wie das Bohrsche Atommodell, das Billardball-Modell eines Gases oder das MIT-
Bag-Modell, bei der Entwicklung und Anwendung von Theorien von zentraler Be-
deutung sind (vgl. Unterabschnitt 2.3.3). Diese Auffassung musste sich erst ent-
wickeln und kann für weite Teile des 20ten Jahrhunderts nicht als Allgemeingut
angesehen werden. Nach da Costa und French, an deren Arbeit ich mich für die
Darstellung dieses Unterabschnitts orientiert habe, wurde im received view unter
einem Modell eine Interpretation des formalen Apparates einer Theorie T verstan-
den (vgl. daCosta und French, 2000). Dies entspricht dem Modellbegriff, wie er
sich in der modernen Logik in Anlehnung an Tarski entwickelt hat (vgl. Chang
und Keisler, 1990, S. 18 ff). So schreibt Braithwaite, „an [. . . ] explication of model
for a theory can be given by saying that a model is another interpretation of the
theory’s calculus“ (Braithwaite, 1962, S. 225), und bei Nagel findet sich die folgen-
de Textpassage:
Let P be a set of postulates; let P* be a set of statements obtained by substituting for each
predicate variable in P some predicate that is significant for a given class of elements K; and
finally, let P* consist only of true statements about the elements of K. By a model for P we
understand the statements P* , or alternately the system of elements K characterised by the
properties and relations that are designed by the predicates of P* . (Nagel, 1961, S. 96)
What the modelists [. . . ] think necessary is that the correlates, in the model, of the theo-
retical concepts of the theory should be understood, and they may be understood as being
theoretical concepts of a simpler theory which is already understood. Attempts to under-
stand electromagnetic theory by constructing mechanical models for it did not depend upon
supposing that all the mechanical concepts involved e.g. kinetic energy, potential energy,
actions, were observable, but only that the theory of mechanics using these as theoretical
14 Mit Blick auf Suppes als einen der ersten Vertreter des semantic approach unterscheiden sich
der Modellbegriff im received view und im semantic approach in der Tat nicht signifikant vonein-
ander. Der Unterschied ergibt sich vielmehr durch die Verwendung von Modellen in und deren
Bedeutung für wissenschaftliche Theorien (vgl. Abschnitt 2.3).
concepts had been previously understood so that all its concepts were familiar. (Braithwaite,
1962, S. 227)
Auf diese Weise würde sich, so Braithwaite weiter, eine Hierarchie von Theorien
ergeben. Zum Verständnis der theoretischen Konzepte einer Theorie T1 sei das
Verständnis einer weiteren, grundlegenden Theorie T2 erforderlich, deren Ver-
ständnis ggf. eine Theorie T3 erfordert usw.. Dennoch führe die Fortsetzung dieser
Kette dazu, dass am Ende eine Theorie T n stünde, deren theoretisches Vokabular
auf observable Ausdrücke zurückführbar sei.
Vertreter einer modellistischen Auffassung ist Norman R. Campbell (1920),
der von einer wissenschaftlichen Theorie verlangt, intellektuell befriedigend zu
sein. Hierfür liefere der mathematische Formalismus zwar die Grundlage; wirk-
lich zugänglich würde die Theorie aber erst durch ein entsprechendes Modell,
das nach Campbell in einer Analogiebeziehung zum eigentlich zu beschreiben-
den Phänomenen steht. Der Zusammenhang von Analogien und Modellen geht
für Campbell so weit, dass er die zugehörigen Begriffe synonym benutzt:
Analogies are not ‘aids’ to the establishment of theories; they are an utterly essential part of
theories, without which theories would be completely valueless and unworthy of the name.
It is often suggested that the analogy leads to the formulation of the theory, but that once the
theory is formulated the analogy has served its purpose and may be removed or forgotten.
Such a suggestion ist absolutely false and perniciously misleading. (Campbell, 1920, S. 129;
zitiert nach Hesse, 1966, S. 5 f)
For the purpose of analysis, it will be useful to distinguish three components in a theory: (1)
an abstract calculus that is the logical skeleton of the explanatory system, and that ‘implicit-
ly defines’ the basic notions of the system; (2) a set of rules that in effect assign an empirical
content to the abstract calculus by relating it to the concrete materials of observation and
experiment; and (3) an interpretation or model for the abstract calculus which supplies so-
me flesh for the skeletal structure in terms of more or less familiar conceptual or visualizable
materials. (Nagel, 1961, S. 90)
Aber auch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Modelle immer noch aus
dem formalen Apparat der Theorie ableitbar sind und eine grundlegende Rück-
führbarkeit auf theoretische Ausdrücke – wenn auch über andere Theorien – ge-
geben sein muss: Die explizite Aufnahme von Modellen in Nagels Definition ist
lediglich heuristisch begründet.
Briefly, the contextualists hold that the way in which theoretical concepts function in a scien-
tific theory is given by an interpretation of the calculus expressing the theory which works
from the bottom upwards. The final theorems of the calculus are interpreted as expressing
empirically testable generalisations, the axioms of the calculus are interpreted as proposi-
tions from which these generalisations logically follow, and the theoretical terms occurring
in the calculus are given a meaning implicitly by their context, i.e. by their place within the
calculus. So an understanding of a theoretical concept in a scientific theory is an understan-
ding of the role which the theoretical term representing it plays in the calculus expressing
the theory and the empirical nature of the theoretical concept is based upon the empirical
interpretation of the final theorems of the calculus. If such a contextualist account of the
meaning of theoretical terms is adequate, thinking of a model for a theory is quite unne-
cessary for a full understanding of the theory. (Braithwaite, 1962, S. 230 f)
[T]he essential step, philosophically speaking, is the same for the modelist as for the con-
textualist – to interpret the calculus, from the base upward, so that it expresses the theory.
The modelist does this by re-interpreting an originally interpreted calculus which he has
previously disinterpreted; the contextualist does it by interpreting an originally uninterpre-
ted calculus. The modelist does not escape the semantic ascent: he dodges having to speak
explicitly of a calculus by talking of model and theory having the same deductive structure,
but to understand this presupposes a semantic ascent. (Braithwaite, 1962, S. 231)
Sowohl für modellistische als auch für kontextualistische Ansätze gilt also, was
da Costa und French bezogen auf Carnap (1939) formulieren, wenn sie schreiben:
„Models are therefore ultimately dispensable [. . . ]. At best they have an aesthe-
tic, didactic, or heuristic value [. . . ] but are ‘quite unnecessary’ when it comes to
understanding or successfully applying a theory.“ (daCosta und French, 2000, S.
117)
Der Ausgangspunkt für ein Umdenken und damit auch für die Kritik am re-
ceived view findet sich zuerst in den Arbeiten von Mary B. Hesse (1966) und Peter
Achinstein (1968), deren Positionen von Stathis Psillos als „Analogical Approach“
zusammengefasst werden. Die folgende Darstellung beruht teils auf Psillos (1995).
Hesse (1966, S. 1 – 56) setzt mit ihren Überlegungen bei Campbell an. In einem fik-
tiven Dialog stellt sie einen Anhänger der Überzeugung Campbells, Modelle hät-
ten eine Berechtigung in der Wissenschaftsphilosophie, einem überzeugten Du-
[. . . ] I do not deny of course that models may be useful guides in suggesting theories, but I do
not think they are essential, even as psychological aids, and they are certainly not logically
essential for a theory to be accepted as scientific. When we have found an acceptable theory,
any model that may have led us to it can be thrown away. (Hesse, 1966, S. 7)
Hesse differenziert zwischen zwei Arten von Modellen. Ein model1 beinhaltet so-
wohl die positiven als auch die negativen Analogien, womit sich eine dreiwertige
Relation ergibt: „M modelliert ein Zielsystem X auf Basis von Y“. Demgegenüber
steht das physikalisch realisierte System Y, das Hesse als „model2 “ bezeichnet.
Ein Modell vom Typ „model1 “ entspricht damit einem fiktiven Gegenstand. Dies
ist am Beispiel des Billardballmodells
what we imagine when we try to picture gas molecules as ghostly little objects [. . . ]. The
model1 is the imperfect copy (the billiard balls) minus the known negative analogy, so that
we are only considering the known positive analogy, and the (probably open) class of proper-
ties about which it is not yet known whether they are positive or negative analogies. (Hesse,
1966, S. 9)
When a theoretical model M is employed to provide a set of assumptions about the physical
system X, one does not start off with the belief that M provides a literal description of X
[. . . A] theoretical model M of X based on Y is a heuristic tool for the study of X. It is a set of
assumptions about X, where these assumptions have been borrowed from another system Y
on the basis of some substantive similarities between Y and X. However, it is not, and should
not be taken as, representing X fully and in all its aspects. In fact, a theoretical model is open
to all sorts of modifications, in the light of new experience, in an attempt to capture more
accurately the phenomena under investigation. So one can employ a model even though
one believes it to be only an approximation, or even a simplified, inaccurate and, at any
rate, literally false representation of X. [. . . ] a model M of X based on Y represents X only
in certain respects – specified by the positive analogies between X and Y – and to certain
degrees – specified by the conditions of approximation and the idealisation employed in the
model. (Psillos, 1995, S. 114 f)
Psillos bezieht sich bei seiner Aussage bereits auf Achinstein, dessen Position ich
folgend darstellen werde. Der Punkt lässt sich aber auch unverändert auf Hesses
Überlegungen anwenden: Ließen sich alle wissenschaftlich relevanten Modelle
entsprechend der obigen Forderungen ableiten, würde ein und dasselbe physika-
lische Phänomen in der Welt in zwei teils widersprüchlichen Weisen repräsentiert
werden – als Ansammlung von Gasmolekülen oder als Ansammlung von Billard-
bällen. Suppe (1974, S. 98) schreibt sogar von einer „Zweiteilung der Welt“. Dies
ist mit den logischen Grundlagen des received view offensichtlich nicht vereinbar.
Als Konsequenz muss Modellen eine andere Rolle zukommen als die ursprünglich
antizipierte. Welche dies ist, bleibt unklar.
In dieselbe Stoßrichtung geht auch die von Achinstein (1968, S. 203 ff) ange-
führte Kritik. Er verweist auf unterschiedliche Typen wissenschaftlich relevanter
Modelle, die nach ihm keine adäquate Entsprechung im received view finden. Die
von ihm entwickelte Taxonomie von Modellklassen kommt derjenigen von Hes-
se nahe, differenziert allerdings stärker. Damit lieferte er die Grundlage für eine
moderne Taxonomie wissenschaftlicher Modelle (vgl. Frigg und Hartmann, 2012),
auf die ich in Unterabschnitt 2.3.3 zurückgekommen werde.
Achinstein unterscheidet grundlegend drei Arten von Modellen: Bei materiel-
len Modellen handelt es sich um physisch gegebene, vergrößerte oder verkleinerte
Kopien des von ihnen repräsentierten Systems X. Beispiele sind Flugzeugmodelle
zum Test in Windkanälen oder einfach Spielzeugautos. Die Stärke der Überein-
stimmung mit X kann von einer nahezu vollständigen Gleichheit der Eigenschaf-
ten, beim Modell einer Brücke für Stabilitätstests, bis hin zu lediglich einer grund-
legenden strukturellen Übereinstimmung, wie bei einem Schaltplan, variieren.15
Repräsentative Modelle nach Achinstein entsprechen damit Modellen vom Typ
model2 nach Hesse.
Hesses model1 -Klasse findet bei Achinstein eine weitere Differenzierung.
Theoretische Modelle auf der einen Seite stellen ähnlich wie bei Hesse Behaup-
tungen über das Zielsystem X dar und ordnen ihm damit eine durch Vereinfa-
chungen und Approximationen bestimmte innere Struktur zu. Auch Achinstein
hebt das häufige Vorhandensein einer Analogie-Beziehung hervor, die auf einer
weiteren – möglichst intuitiv zugänglichen – Theorie beruhe, wie die klassische
Elektrodynamik und Mechanik beim Bohrschen Atommodell. Nach Achinstein
sind sowohl materielle als auch theoretische Modelle grundlegend von der Ge-
stalt, dass sie ein physikalisches oder zumindest physikalisch mögliches System
– sei es materiell oder nur in der Vorstellung gegeben – darstellen. Dies ist bei
15 Achinstein (1968, S. 209) verwendet statt „material model“ selbst den Begriff „representatio-
nal model“. Mit Blick auf die aktuelle Debatte, nach der es zentrale Eigenschaft aller Modelle ist,
zu repräsentieren, würde der Begriff zu einer Doppeldeutigkeit führen, die hier möglichst vermie-
den werden soll. In Bezug auf die übernommenen Eigenschaften differenziert Achinstein (1968,
S. 209 ff) zudem zwischen true models, adequate models, distorted models und analogue models.
Diese diskrete Unterteilung leuchtet wenig ein, weshalb eine Auflistung von materiellen Model-
len und dem Verweis, dass diese in unterschiedlichen Graden mit dem von ihnen repräsentierten
System übereinstimmen, ohne explizite Grenzen hierfür anzugeben, sinnvoller erscheint.
imaginären Modellen nicht mehr gegeben. Sie sind zwar wie theoretische Modelle
auch Klassen von Aussagen; doch werden Annahmen vorausgesetzt, die logisch,
nicht aber physikalisch erfüllbar sein müssen. Achinstein nennt hier Poincarés
Modell einer nichteuklidischen Geometrie:
Suppose, for example, a world enclosed in a large sphere and subject to the following laws:
The temperature is not uniform; it is greatest at the centre, and gradually decreases as we
move towards the circumference of the sphere, where it is absolute zero. The law of this
temperature is as follows: If R be the radius of the sphere, and r the distance of the point
considered from the centre, the absolute temperature will be proportional to R2 − r2 . Fur-
ther, I shall suppose that in this world all bodies have the same co-efficient of dilatation,
so that the linear dilatation of any body is proportional to its absolute temperature. Finally,
I shall assume that a body transported from one point to another of different temperature
is instantaneously in thermal equilibrium with its new environment. (Poincare, 1952, S. 65;
zitiert nach Achinstein, 1968, S. 219)
Zusammengefasst differenziert Achinstein selbst die Modelle gemäß der von ih-
nen eingenommenen Rolle innerhalb der wissenschaftlichen Forschung:
16 Zur Vermeidung von Überschneidungen mit der Terminologie von Hesse und etwaigen daraus
resultierenden Unklarheiten, habe ich hier den Begriff „analogue“ durch den von Achinstein im
gegebenen Kontext synonym verwendeten Begriff „representative“ ersetzt.
necessary and sufficient for a model or an analogy. What I have argued is that this
theory fails to characterize the cases to which its proponents want to apply it.“
(Achinstein, 1968, S. 256)
Der received view ist also ungeeignet, allen in wissenschaftlichen und physi-
kalischen Theorien vorkommenden Modellen gerecht zu werden. Diese Position
wird auch in jüngster Vergangenheit von Frigg und Hartmann mit den folgenden
Worten vertreten:
If, for instance, we take the mathematics used in the kinetic theory of gases and reinterpret
the terms of this calculus in a way that makes them refer to billiard balls, the billiard balls are
a model of the kinetic theory of gases. Proponents of the syntactic view believe such models
to be irrelevant to science. Models, they hold, are superfluous additions that are at best of
pedagogical, aesthetical or psychological value. (Frigg und Hartmann, 2012, Abschnitt 4.1.)
Dass sich Modelle als integrale Bestandteile wissenschaftlicher Arbeit nicht ohne
Weiteres in den received view, wie von den logischen Positivisten gegeben, inte-
grieren lassen, heißt nicht, dass dies prinzipiell unmöglich ist. Dennoch gab es
diesbezüglich noch keine befriedigende Antwort und DaCosta und French stehen
mit ihrer Meinung nicht allein, wenn sie bezogen auf den received view in der Re-
trospektive schreiben: „A critical factor in [its] death was the apparent failure to
adequately accommodate the nature and role of models in scientific practice.“
(daCosta und French, 2000, S. 116)
Zu Ende von Unterabschnitt 2.2.1 habe ich bereits auf einige von Physikern durch-
geführte Formalisierungen verwiesen und angemerkt, dass die Nähe zum received
view unter Voraussetzung seiner strengen Auslegung trügerisch ist. Bei den auf-
geführten Formalisierungen wurden die genannten semantischen Beziehungen
entweder explizit, aber umgangssprachlich mit einem intuitiven Element, oder
als heuristisches Mittel ohne konkrete Zuweisung von Beobachtungstermen, an-
gegeben, nie jedoch in rigoroser Form, wie vom received view in strenger Ausle-
gung verlangt.17
17 Ersteres machen McKinsey et.al. sowie Simon. Die Auffassung der Grundobjekte als Massen-
punkte, starre Körper und Volumenelemente nach Hamel kann in der Tat als heuristisches Ele-
ment aufgefasst werden, das wie in der Mathematik Hilfestellung bei der Herleitung weiterer
Theoreme gibt, aber nur unter dem Blickwinkel eines strengen Konstruktivismus auf Objekte des
Phänomenbereichs bezogen werden kann.
It must be acknowledged, moreover, that in a few if any of the various scientific disciplines
in active development is this requirement of maximum explicitness fully realized, since in
the normal practice of science it is rarely necessary to spell out in detail all the assumptions
that may be involved in attacking a concrete problem. This requirement of explicitness is
thus an ideal demand rather than a description of the actual state of affairs that obtains at
a given time. (Hempel, 1965, S. 345)
Damit wird aber fraglich, wie glaubwürdig ein formales Theorienverständnis sein
kann, wenn sich an Stelle der expliziten Rekonstruktion einer relevanten Theo-
rie nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in der Regel entweder auf triviale oder
nicht zu Ende geführte Beispiele zurückfallen gelassen wird. So bei Carnap (1956,
S. 47 f), der als Beispiel den Ansatz der Formalisierung einer allgemeinen Raum-
Zeit-Theorie liefert, sich aber bei der Formulierung der correspondence rules wie-
der auf einen allgemeinen Standpunkt zurückzieht. Ähnlich sieht dies Suppes,
wenn er schreibt:
The most striking thing about [the received view] is its highly schematic nature. Concerning
the first part of a theory the logical calculus, it is unheard of to find a substantive example
of a theory actually worked out as a logical calculus in the writings of most philosophers of
science. Much handwaving is indulged in to demonstrate that this working out of the logical
calculus is simple in principle and only a matter of tedious detail, but concrete evidence is
seldom given. (Suppes, 1967, S. 56)
wir finden also zwei Arten von Objekten wissenschaftlicher Untersuchungen: Auf der einen
Seite die Dinge, Vorgänge, Fakten usw., auf der anderen Seite die sprachlichen Formen.
Die Untersuchung der Fakten ist die Aufgabe der realwissenschaftlichen, empirischen For-
schung, die der Sprachformen ist die Aufgabe der logischen, syntaktischen Analyse. Wir
finden keinen dritten Gegenstandsbereich neben dem empirischen und dem logischen. (Car-
nap, 1936b, S. 265)
losophie im Verständnis der Vertreter des Wiener Kreises.18 Ob der Mangel einer
vollständigen Formalisierung als Symptom hierfür gesehen werden soll, sei da-
hingestellt. Fakt ist, dass es kaum bis zum Abschluss durchgeführte Formalisie-
rungen im Sinne des received view gibt und in Anbetracht der zuvor geschilderten
Unklarheiten berechtigte Kritik an der Adäquatheit dieses Theorienverständnis-
ses geäußert werden konnte und auch wurde.
18 Die strenge Forderung der anfangs geforderten logischen Formalisierung auch der Redukti-
onsbeziehung zweier Theorien war der Hauptkritikpunkt von Feyerabend an dem auf dem recei-
ved view aufbauenden Reduktionsverständnis, da aufeinander folgende Theorien nach ihm in-
kompatibel miteinander sind und eine logische Ableitbarkeit hier nicht gegeben ist. Das Problem
wird hier in Abschnitt 3.1 noch im Detail besprochen.
Like Hempel, Carnap does not dismiss theoretical models or questions the usefulness of
analogical models in the context of discovery [. . . ]. He only objects to the demand that eve-
ry formalism be supplied with an analogical model in terms of macroprocesses; that is, he
objects to analogical models as necessary for the theory’s application. (Lutz, 2010, S. 97)
These results counter some of the criticism of the received view, but by no means all of them.
It is noteworthy, however, that it was not even necessary to engage with the content of the
criticism, but only with their presumptions about the received view. Given this comparatively
easy defense, there is hope that the received view can be resurrected as a viable method in
the philosophy of science. In Carnap’s spirit, one would hope that such a resurrection brings
with it improvement and generalizations not only of the received view itself, but also of the
explications that rely on it. (Lutz, 2010, S. 28 f)
Dem ist entgegen zu halten, dass Lutz bei seiner Argumentation auch bezogen auf
Detailfragen von der Existenz des received view ausgeht. Aber gerade bei Detailfra-
gen sind sich die logischen Positivisten gar nicht einig, wie ich bereits zu Beginn
dieses Abschnitts aufgeführt habe Suppe (vgl. auch 1974). Der received view soll-
te deshalb nicht als einheitliches Konzept verstanden werden, sondern als ober-
flächliche Zusammenfassung von Einzelpositionen. Als Folge lässt er sich aber
auch nicht durch einzelne Autoren, selbst wenn es sich um Carnap oder Hempel
handelt, rechtfertigen – dies gilt zumindest so lange, wie sich nicht auf eine ein-
heitliche Formulierung festgelegt wird.
Festzuhalten ist, dass der schon längst tot geglaubte received view (vgl.
daCosta und French, 2000) damit Wiederbelebungsversuchen ausgesetzt ist,
auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll und kann. Mein Ziel war es, die
grundlegende Motivation der Vertreter des semantic approach nachvollziehbar
zu machen und das Fundament für den folgenden Abschnitt zu legen. Dies habe
ich erreicht und es schließt sich eine Darstellung des semantic approach selbst
an.
Die in Abschnitt 2.2 ausgeführte Kritik am received view machte es seinen Ver-
tretern schwierig bis unmöglich, Glaubwürdigkeit zu bewahren. Die Alternative,
wissenschaftliche Erkenntnis als willkürliche, ungeordnete Ansammlung von
He does not view physical theory as, ideally, a kind of Principia Mathematica cum nonlogical
postulates. His approach takes into account the essential role of models in science. In Beth’s
account, the mathematics is not part of the physical theory, but is used to construct the
theoretical frameworks. (van Fraassen, 1970, S. 337)
Die formale Sprache diente bei Beth der Auszeichnung einer Klasse imaginärer
oder realer Systeme bzw. einer Klasse von Modellen, die sich mit der Theorie iden-
tifizieren ließ. Auch wenn seine formale Darstellung nicht ausgereift war, legte
dies den Grundstein für alle folgenden Ausprägungen des semantic approach. In
der Introduction to Logic schließlich verband Suppes diese allgemeinen wissen-
schaftsphilosophischen Überlegungen mit einer mengentheoretischen Rahmen-
konstruktion im Sinne Bourbakis.
Da ich mich beim Abgleich des semantic approach mit dem Theorienverständ-
nis nach Scheibe in Abschnitt 2.4 primär für formale Aspekte interessieren werde,
ist mein Ausgangspunkt die ebenfalls formale Arbeit von Suppes (Unterabschnitt
2.3.1). Diese liefert die Grundlage zum Verständnis der Position von Balzer, Mou-
lines und Sneed (BMS, Unterabschnitt 2.3.2). Den Ansatz von BMS habe ich an-
deren Ausprägungen des semantic approach, etwa nach Bas van Fraassen oder
Frederick Suppe, gegenüber aus drei Gründen vorgezogen: Zunächst ist seine Aus-
arbeitung in An Architectonic for Science (Balzer et al., 1987) sehr detailliert und
weist viele Parallelen zur Rekonstruktion nach Scheibe auf, was meinen späte-
ren Vergleich vereinfachen wird. Darüber hinaus hatten BMS einen sehr starken
Einfluss auf die wissenschaftsphilosophische Landschaft.19 Ihr Rekonstruktions-
ansatz wird damit zu einem idealen Verbindungsstück zwischen Scheibe und ver-
gleichbaren Ansätzen. In Unterabschnitt 2.3.3 werde ich mich der von Cartwright,
Morgan, Morrison und Bailer-Jones (CMMB) aufgeworfenen Kritik widmen und
19 Eine bis in die 90er Jahre reichende Liste von Autoren, die sich weitestgehend auf Sneed be-
rufen findet sich bei Diederich et al. (1989, 1994) sowie Schmidt (2014).
20 Mit der Voraussetzung von Existenzaussagen zur Formalisierung ist auch die Trennung zwi-
schen Kalkül und Objektbereich aufgehoben, was ich schon in Unterabschnitt 2.2.2 in Überein-
stimmung mit Suppe als einen Angriff auf die epistemische Relevanz des received view heraus-
gestellt hatte. Die Wahl von Existenzaussagen zum Ausgangspunkt war nicht zuletzt der Grund
dafür, dass die Principia Mathematica von Whitehead und Russell (1963) zwar eine hervorragende
Grundlegung der Arithmetik lieferte, entgegen Russells Überzeugungen aber keine des Logizis-
musprogramms, da mit Auswahl- und Unendlichkeitsaxiom auch Existenzaussagen mit in die
Reihen der Axiome aufgenommen werden mussten.
some readers may feel that it would be more appropriate to develop the theory of sets axio-
matically rather than intuitively. However, there are good grounds for introducing the con-
cepts of set theory informally. The concepts of arithmetic are familiar to everyone; an axio-
matic presentation of arithmetic may continually call upon familiar facts to guide and mo-
tivate its lines of development. Although the concepts of set theory are logically simpler in
several respects than those of arithmetic, they are not generally familiar. The purpose of [the
following chapters in Suppes’ book] is to provide such familiarisation. (Suppes, 1954, S. 177)
Das Argument ist plausibel, hält man sich vor Augen, dass die Introduction to Lo-
gic als Lehrbuch für die Aussagen- und Prädikatenlogik gedacht war. Die Wahl der
informellen Mengenlehre war also primär didaktisch motiviert. Ziel einer Forma-
lisierung ist für Suppes die Bestimmung eines mengentheoretischen Prädikats,
dessen Extension die Modelle einer Theorie liefert. Der verwendete Modellbegriff
entspricht dem der logischen Positivisten und damit dem der modernen Logik
(vgl. Chang und Keisler, 1990, S. 18 ff), wonach „a model of a theory may be de-
fined as a possible realisation in which all valid sentences of the theory are sa-
tisfied, and a possible realisation of the theory is an entity of the appropriate set-
theoretical structure.“ (Suppes, 1962, S. 24)
Dass dieser Modellbegriff nicht alle physikalisch relevanten Modelle einbe-
zieht, habe ich bereits in Unterabschnitt 2.2.3 gezeigt. In der Tat geht auch die zen-
trale Kritik am semantic approach in diese Stoßrichtung. Ich komme hierauf in Un-
terabschnitt 2.3.3 zurück. Seine Überlegungen verdeutlicht Suppes mit dem Prädi-
kat „. . . ist eine Halbordnung“. A ist dabei genau dann eine Halbordnung, wenn
es eine Menge X und eine zweiwertige Relation ≤ gibt, so dass A = (X, ≤) gilt und ≤
reflexiv, transitiv und antisymmetrisch bezüglich X ist (vgl. Suppes, 1957, S. 250).
Dabei müssten die Reflexivität, die Transitivität und die Antisymmetrie streng ge-
nommen explizit in mengentheoretischer Schreibweise angegeben werden. Da die
Auszeichnung eines mengentheoretischen Prädikats nach Suppes auch ohne die
21 Verkürzt gesagt verbietet die naive Mengenlehre entgegen ZFC und NBG nicht die Bildung der
Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten – {x | x ∈
/ x} (vgl. Frege, 1980, S. 58 ff). Dies
entdeckten nahezu zeitgleich Bertrand Russell und Ernst Zermelo. Da eine gängige Grundlegung
der Mathematik zur damaligen Zeit in der Tat die (naive) Mengenlehre war (bzw. eine logizisti-
sche Begründung von Frege, die aber ebenfalls von der Antinomie betroffen war), diese aber die
obige widersprüchliche Mengenbildung in ihrem Fundament zuließ, resultierte die sogenannte
Grundlagenkrise der Mathematik. Für einen ersten Einblick in die Thematik siehe Horsten (2012).
das Modell einer Halbordnung. Dieses Vorgehen erinnert nicht nur zufällig an die
Arbeit der Bourbaki-Bewegung, die mit ähnlichen Formalisierungen große Erfol-
ge bei der Fundierung der modernen Mathematik verzeichnen konnte (vgl. Bour-
baki, 1968, Kapitel IV). Neu bei Suppes ist die Betonung, dass durch das Offen-
lassen der Bedeutung der Elemente von X die Möglichkeit von mehr als einer rein
mathematischen Anwendung gegeben ist. Steht „X“ für die Menge der Markie-
rungen auf einem Lineal, lassen sich diese mit einer entsprechend festgelegten
Relation ebenfalls als eine Halbordnung auffassen. Suppes schöpft dieses Poten-
tial selbst nicht voll aus, sieht aber bereits dessen Bedeutung für die Entwicklung
realistischer Messtheorien (vgl. Suppes, 1957, S. 260 ff bzw. Unterabschnitt 2.4.2
hier).
Modelle sind im semantic approach, anders als im received view (vgl. Unter-
abschnitt 2.2.3), von zentraler Bedeutung: Schon für Suppes ist die Formulierung
eines mengentheoretischen Prädikats lediglich ein Mittel zum Zweck des Aufzei-
gens der Modelle einer Theorie. Es spräche aber auch Nichts gegen eine Charak-
terisierung mit anderen Mitteln wie der Prädikatenlogik erster Stufe:
When the theory of groups is axiomatized directly in first-order logic, the notion of model is
defined so that the same set-theoretical entities are models for the theory thus formulated,
and similarly for other theories which may be axiomatized either directly in first-order logic
or by defining a set-theoretical predicate: the two axiomatizations have the same entities as
models. (Suppes, 1957, S. 253)
A straightforward answer would be that the claim connected with a theory is the claim that
the entities to which the theory is to be applied actually bear the structure proposed by the
theory. This construal, however would lead to the well-known ‘problem of theoretical terms’
as soon as such terms are involved in the description of the entities to which the theory is to
apply. (Diederich, 1996, S. 16)
Zum Problem der theoretischen Terme aus Sicht des logischen Positivismus habe
ich in Unterabschnitt 2.2.2 bereits ausführlich etwas geschrieben. Bezogen auf den
semantic approach formuliert es Zoglauer damit übereinstimmend wie folgt:
Die Introduction to Logic war also kein abgeschlossenes Opus, sondern die Grund-
lage für ausgeklügeltere Folgeprogramme. Diese Position vertritt auch Stegmüller:
Die mengentheoretischen Axiomatisierungen von Suppes liefern stets nur den allerers-
ten Schritt in der Richtung auf eine Klärung der Struktur physikalischer Theorien. Man
beschränkt sich dabei, so könnte man sagen, auf den rein mathematischen Aspekt einer
physikalischen Theorie und damit auf die Menge M der Modelle dieser Theorie. (Stegmüller,
1987, S. 178)
Suppes hat mit seiner Arbeit den Grundstein für eine Vielzahl von Formalisie-
rungsansätzen gelegt. Im Folgenden werde ich einen von ihnen, nämlich den auf
BMS zurückgehenden, eingehender betrachten.
Σ(X, A, s) := Σ(X1 , . . . , X λ ; A1 , . . . , A µ ; s1 , . . . , s ν )
Die X und A sind Familien sogenannter Basismengen, wobei BMS wie schon Sup-
pes die naive und keine formalisierte Mengenlehre voraussetzen. Konnte Suppes
seine in der Introduction to Logic getroffene Wahl noch didaktisch begründen,
stellen die Architectonic for Science und im Sinn von BMS verfasste Folgeschrif-
ten jedoch Fachbücher dar. Die Wahl dieser Grundlage bleibt damit fragwürdig.
Eine auf NBG basierende, streng formale Grundlegung wurde in jüngerer Vergan-
genheit von Peter Hinst (1996) gegeben.
Die Einteilung der Basismengen in zwei Klassen kommt dem Umstand ent-
gegen, dass Physiker teils auf mathematische Objekte wie Zahlbereiche zurück-
greifen, die als von Seiten der Mathematik gegeben vorausgesetzt werden. Die
Elemente der Klasse der Hilfsbasismengen A entsprechen diesen mathematischen
Objekten. Dem gegenüber steht die Klasse der Hauptbasismengen X. Ihre Elemen-
22 Die folgenden Ausführungen zur Strukturart sind allgemeine Darstellungen und keine, die
speziell auf die Arbeit von BMS beschränkt sind. Sowohl Bourbaki als auch BMS fangen bei ih-
ren Ausführungen eine Ebene tiefer an, nämlich bei der Definition sogenannter k-Typen. Diese
geben ein formal stringent definiertes Verfahren, um eine Auswahl aus einer gegebenen Familie
von Mengen zu treffen. Vgl. für eine detaillierte Darstellung Bourbaki (1968, S. 259 ff) sowie Balzer
et al. (1987, S. 6 ff). Da das so dargestellte Verfahren recht sperrig ist, nehme ich die Operationen
des Bildens einer Potenzmenge sowie eines Kartesischen Produkts als elementar an. Dieses Vor-
gehen ähnelt damit bereits eher dem von Scheibe (1997, S. 63 ff). Auch wenn ich den Ansatz von
Scheibe in Abgrenzung von BMS erst im folgenden Abschnitt 2.4 besprechen werde, ist dies in-
sofern unproblematisch, als dass das strukturalistische Grundgerüst in allen soeben genannten
Fällen als formal gleich verstanden werden kann. Die Unterschiede im Vorgehen sind unter Vor-
aussetzung einer möglichen streng formalen Begründung lediglich als didaktisch zu verstehen.
te sind der empirisch interpretierbare Teil der Theorie, der von außerhalb der
Theorie – in der Regel durch eine Messtheorie – bestimmt wird. Die Elemente
von s werden als „typisierte Terme“ bezeichnet und ihrerseits durch Leitermen-
gen determiniert. Eine solche entsteht durch ein- oder mehrfache Anwendung der
Operationen Potenzmenge bilden und Bilden eines kartesischen Produkts auf der
Familie der Haupt- und Hilfsbasismengen. Formal werden sie dargestellt durch:
φ(X; A)
s i ∈ φ i (X; A)
So ist etwa eine Halbordnung (vgl. auch Unterabschnitt 2.3.1) als zweiwertige Re-
lation im Sinne von BMS typisierbar durch:
≤∈ P(X × X)
Die Zusammenfassung der soeben bestimmten Mengen (X; A; s) wird als „Struk-
tur“ bezeichnet. Damit lassen sich noch keine aus wissenschaftsphilosophischer
Sicht interessanten Theorien behandeln, da weitere Einschränkungen in Form
von Axiomen gefordert werden müssen. Sind α1 , . . . , α m alle für eine Theorie re-
levanten Axiome, erhalten wir eine Strukturart durch Konjunktion der Forderung
ihrer Erfülltheit für die Struktur:
Ähnlich wie bei Suppes ist bei BMS die genaue Wahl der Axiome nicht von Rele-
vanz. Auch hier dient die Mengentheorie lediglich als Mittel zum Zweck der Aus-
zeichnung einer Klasse von Modellen, die dann mit der Theorie identifiziert wird.
Formal äquivalente Axiomensysteme liefern damit ein und dieselbe Theorie:
The choice of the particular axioms to be satisfied by the models of this class, is considered
by structuralism as a relatively unimportant question. It is just a matter of convenience. The
really important matter is that the set of axioms chosen exactly determine the class of models
we need to represent a certain field of phenomena we are interested in for some reason.
(Moulines, 1996, S. 5)
leichteren Verständnis verdeutliche ich den Übergang an einem Beispiel aus der
Architectonic for Science (vgl. Balzer et al., 1987, S. 4 ff).23
Nach BMS kann die folgende Definition einer ausgedehnten Struktur als
Grundlage einer Messtheorie für Volumina, Massen oder Längen der Elemente
von X verstanden werden. x ist danach genau dann eine ausgedehnte Struktur,
wenn es X, , ◦ gibt mit:
1. x = (X, , ◦)
2. X ist eine nicht-leere Menge
3. ≤ ist eine zweiwertige Relation auf X
4. ◦ : X × X → X
5. ∀a, b, c ∈ X : (a b ∧ b c → a c) ∧ ((a b) ∨ (b a))
6. ∀a, b, c ∈ X : (a ◦ (b ◦ c) (a ◦ b) ◦ c) ∧ ((a ◦ b) ◦ c a ◦ (b ◦ c))
7. ∀a, b ∈ X : (a ◦ b b ◦ a) ∧ (b ◦ a a ◦ b)
8. ∀a, b, c, ∈ X : (a b) ↔ (a ◦ c b ◦ c)
9. ∀a, b, c, d ∈ X, ∃n ∈ N : (a b) ∧ ¬(b a) → (na ◦ c nb ◦ d)
Dabei ist:
na := a ◦ ·
· · ◦ a
n−mal
Die durch „“ dargestellte Relation fordert von den Elementen von X die prinzipi-
elle Möglichkeit, sie anzuordnen. Da es sich nach 3. um eine zweiwertige Relation
handelt, ist sie typisiert durch:
∈ P(X × X)
„◦“ stellt eine Abbildung dar, die das Aufaddieren der zu messenden Objekte er-
möglicht. Diese ist eine dreiwertige Relation:
◦ ∈ P((X × X) × X)
23 Um die Anzahl verwendeter Grundzeichen auf ein Minimum zu beschränken, habe ich teils
zu denen von BMS gewählten äquivalente Axiome herangezogen. Auch habe ich die Korrektur
eines Fehlers in der Architectonic for Science, bezogen auf die Reihenfolge der einzelnen Punkte,
vorgenommen, der sich auch auf die die folgenden Ausführungen bezüglich der Einteilung in
aktuelle und potentielle Modelle ausgewirkt hätte. Die entsprechenden in der Architectonic for
Science gemachten Ausführungen sind mit der dort gewählten Nummerierung sinnlos, sofern
nicht die Punkte 4 und 5 vertauscht werden. Diese Vertauschung habe ich hier vorgenommen.
Auf Messtheorien im Allgemeinen werde ich in Abschnitt 2.4 noch zu sprechen kommen. Auch
das hier gegebene Beispiel in Abgleich mit aktuellen Positionen werde ich noch einmal kritisch
hinterfragen.
(∀a, b ∈ X, ∃c ∈ X : a, b, c ∈ ◦) ∧ (∀a, b, c, c′ ∈ X :
(2.7)
(a, b, c) ∈ ◦ ∧ (a, b, c′ ) ∈ ◦ → c = c′ )
Die neun oben aufgeführten Forderungen an eine ausgedehnte Struktur werden
von BMS in zwei Klassen unterteilt. Die erste Klasse wird von den Forderungen
der Punkte 1. bis 4. gebildet. Mit diesen würden im vorliegenden Fall, aber auch
allgemein, lediglich die Hauptbasismengen eingeführt sowie Relationen typisiert
und Funktionen als solche ausgezeichnet werden. Die eigentlichen Axiome folgen
erst danach. Dennoch ist die erste Klasse fundamentaler Forderungen konstitutiv
für eine Menge von Modellen, deren Elemente von BMS als „Potentielle Modelle“
bezeichnet und formal durch „M p “ dargestellt werden. Sie werden unterschieden
von den mit der Menge M gegebenen aktuellen Modellen, die zusätzlich die eigent-
lichen Axiome 5. – 9. erfüllen.24 Potentielle und aktuelle Modelle lassen sich nach
BMS zu einem Modellelement zusammenfassen:
< Mp , M >
Wir können jetzt Sneeds Lösung des Problems der theoretischen Terme nahtlos in
das bisher Gesagte einbetten. Mit den Worten Balzers ist für Sneed „[a] concept
t [. . . ] called theoretical relative to theory T (or just T-theoretical) iff every deter-
mination of (a relation belonging to) T in any application of T presupposes the
existence of at least one actual model of T.“ (Balzer et al., 1987, S. 55) Bei einer ent-
sprechenden Formalisierung der Teilchenmechanik würde beispielsweise zur Be-
stimmung von Kräften bereits die Kenntnis der Axiome der Theorie vorausgesetzt.
„Kraft“ ist also ein theoretischer Term im Sinne von BMS (vgl. Balzer et al., 1987,
24 Die Differenzierung in aktuelle und potentielle Modelle ist nicht so banal, wie es auf den ers-
ten Blick wirkt, da mit ihr auch die Frage nach der Gesetzesartigkeit von Aussagen und somit
ein zentrales Thema der Wissenschaftsphilosophie inklusive einer umfangreichen Debatte an-
gesprochen wird (vgl. Moulines, 2008, S. 94 ff). Was unterscheidet die „richtigen“ Axiome von
Forderungen wie (2.7)? BMS geben das folgende Kriterium: „All the formulas A i of the structure
species determining a potential model will be either typifications or characterisations. The struc-
ture species determining an actual model will contain in addition formulas which are neither
typifications nor characterizations.“ (Balzer et al., 1987, S. 14) Aber auch dabei handelt es sich
um eine willkürliche Festlegung. Der Frage nach der Gesetzesartigkeit von Aussagen muss an
anderer Stelle nachgegangen werden.
Man beachte, dass in der hier gegebenen Messtheorie keine Unterscheidung gemacht wird zwi-
schen den aktuellen Modellen und einer Quantifizierung in Form von Zahlen. Sowohl mathema-
tische als auch physikalische Modelle werden auf einer Ebene behandelt. Wie sinnvoll das ist,
werde ich später in Abschnitt 2.4 diskutieren.
S. 54 f).25 Auf der anderen Seite kann die Länge als Hauptbasismenge auch von
außerhalb der Theorie bestimmt werden, so dass „Länge“ ein nicht-theoretischer
Term ist ebenso wie die in der Definition einer ausgedehnten Struktur mit „X“
gegebenen Größen – jedenfalls bezüglich der dortigen Theorie. Für eine zur Be-
stimmung von „X“ vorausgesetzte weitere Theorie muss dies nicht gelten. Insge-
samt gibt dies BMS Anlass zur Einführung einer weiteren Klasse von Modellen:
„The class of substructures satisfying only the axioms for the ‘T-non-theoretical’
concepts represents the (relative) basis of data for T. These substructures recei-
ve a special name: ‘partial potential models’. Their class is symbolized by ‘M pp ’.“
(Moulines, 1996, S. 7)
Die Klasse der partiell-potentiellen Modelle ergibt sich damit aus derjenigen
der potentiellen Modelle durch Fortlassen der theoretischen Konzepte. Wird die
Klasse der typisierten Terme s in die Teilklassen der nicht-theoretischen Aus-
drücke s1 und der theoretischen s2 separiert, motiviert dies zur Einführung der
wie folgt gegebenen Abbildung:
r : M p → M pp , (X; A; s1 ; s2 ) → (X; A; s1 )
Diese kann erweitert werden auf die entsprechenden Potenzmengen (vgl. Balzer
et al., 1987, S. 83):
Einzelne physikalische Theorien befassten sich aber in der Regel nicht mit dem
gesamten Universum, sondern beschrieben lediglich einen Teil davon.26 Daraus
ergäbe sich ein weiteres, einer Lösung bedürftiges Problem, das BMS wie folgt
formulieren:
25 Nach ebd. ist auch „Masse“ ein theoretischer Term, was verwundert. Dass für jede Bestim-
mung eines theoretischen Konzepts ein aktuelles Modell vorausgesetzt werden muss, ist bei
„Kraft“ einleuchtend, nämlich da zur Berechnung der Kraft eine bestimmte Verknüpfung der mit
den Hauptbasismengen gegebenen Werte vorausgesetzt wird. Hier ist die Forderung notwendig,
da formal. Dass dies aber auch im Fall der Masse gegeben ist, bleibt aufgrund der geforderten Er-
füllung der Allaussage für jedes zukünftige Messverfahren fraglich. Ergibt sich in der Zukunft eine
alternative Massenbestimmung, wird „Masse“ dadurch zu einem nicht-theoretischen Term – und
das, obwohl sich beim eigentlichen theoretischen Teil nichts ändert. Insgesamt stellt sich mit ei-
nem solchen, an keinen Formalismus gebundenen Kriterium, das altbekannte Problem der theo-
retischen Terme erneut. Da im Sinne von BMS eine Sprachunabhängigkeit gegeben sein muss,
liefert dieser Ansatz keine Möglichkeit zur Lösung. Eine syntaktische Rückführung ist nötig, so
wie sie sich letztendlich bei Scheibe wiederfindet. Vgl. hierzu Abschnitt 2.4 für einen alternativen
Ansatz.
26 In wie weit unter dem Blickwinkel strukturalistischer Rekonstruktionen die Kosmologie hier
einen Sonderfall darstellt, ist bestenfalls problematisch. Aber auch wenn es sich um eine Aus-
nahme handelt, beeinflusst dies die folgenden Ausführungen nicht, weshalb ich im Folgenden
Local applications may overlap in space and time, they may influence each other (even if
they are separated in space and time), certain properties of T’s objects may remain the same
if the objects are transferred from one application to another one. Any connection of this sort
will be captured by what we call constraints. Constraints express physical or real connecti-
ons between different applications but they also can express mere conceptual connections.
(Balzer et al., 1987, S. 41)
Die Klasse der constraints einer Theorie stellen sie mit „C“ dar. Aus formaler Sicht
verbinden constraints Elemente aus der Menge der potentiellen Modelle mitein-
ander, womit gilt:
C ⊆ P(M p )
Ein Beispiel ist die Erde, die in der Newtonschen Mechanik sowohl im System
Erde-Sonne als auch im System Erde-Mond auftreten kann, deren Masse aber
in beiden Fällen als gleich vorausgesetzt werden muss. Ähnlich muss auch für
die mit der Definition einer ausgedehnten Struktur gegebene Messtheorie gefor-
dert werden, dass gleichen, in verschiedenen Modellen vorkommenden Objekten
derselbe Wert für die zu messende Größe zugesprochen wird. Solche equality-
constraints gewährleisten eine solche Normierung ohne Einführung eines Koor-
dinatensystems.
Constraints stellen ebenso wie Typisierungen und Axiome Forderungen dar,
die von innen an die Theorie getragen werden. Physikalische Theorien stehen aber
nicht für sich allein, sondern sind in Beziehung zu anderen Theorien zu betrach-
ten. Um dem gerecht zu werden, führen BMS die Klasse L der links ein. Für jedes
λ ∈ L gilt für paarweise verschiedenen Theorien angehörende Modelle M p , M ′p :
λ ⊆ M p × M ′p (2.8)
Allgemein lasse sich in Bezug auf links die folgende Differenzierung vornehmen:
there are two fundamental sorts of links: entailment and determining links. All other links
come out of these two types either by putting some further restrictive conditions on them or
by combining them. Entailment links are ‘global’ in the sense that they relate whole classes
of structures of different theories; determining links are term-to-term connections. Reduc-
tion, equivalence and approximations are clearly made up of special kinds of entailment
nicht weiter hierauf eingehen werde. BMS selbst gehen ähnlich vor, wenn sie schreiben: „The on-
ly example of this sort we can think of is the alleged case of general relativity theory. But even
such an exceptionable case would not put any restriction to the scope of our approach. Since one
big universal application can be regarded as a special case of ‘local’ applications, we shall con-
centrate on the latter case. By ‘local’ we mean ‘bounded to a part of the universe’.“ (Balzer et al.,
1987, S. 41)
links; theoretization and other terms-connecting links with no particular label (like the link
connecting pressure in hydrodynamics with energy and volume in thermodynamics) [. . . ]
are determining links. (Moulines und Polanski, 1996, S. 223)
Durch Verbindung der Hauptbasismenge mit einer Messtheorie liefern die deter-
mining links eine Möglichkeit der gewünschten Bestimmung von Außen. In Ab-
schnitt 2.4 werde ich im Rahmen einer ausführlichen Behandlung von Messtheo-
rien darauf zurück kommen. Entailment-links werden dem gegenüber in Ausein-
andersetzung mit den in Kapitel 3 behandelten Reduktionen noch eine entschei-
dende Rolle spielen.27
Mit den bisherigen Ausführungen können theoretische Modelle ausgezeich-
net werden, d.h. Modelle, deren Aufbau sich an einer gegebenen Theorie orien-
tiert.28 Diese genügen zur Beschreibung einer platonischen Welt. Um die Theori-
en aber auf die empirische Welt anwendbar zu machen, müssen Approximationen
zugelassen werden, denn in der Praxis werden kleinere Abweichungen zwischen
Modellen und Daten ignoriert. So liefert die Newtonsche Mechanik auch bei Be-
rechnungen für beliebig langsame Teilchen streng genommen falsche Ergebnisse.
Trotzdem kann ein geworfener Ball als Modell für ein klassisches Teilchen dienen.
Der Grund ist, dass es für Theorien einen Toleranzbereich gibt, in dem sie von den
exakten Vorhersagen abweichen dürfen.29 BMS tragen dem Rechnung in Form der
Klasse von admissible blurs A, die durch topologische Uniformitäten beschrieben
werden (vgl. Balzer et al., 1987, S. 332): Ist M p eine Klasse potentieller Modelle,
dann ist U genau denn eine Uniformität auf M p , wenn die folgenden Bedingun-
gen erfüllt sind:
1. ∅ = U ⊆ P(M p × M p )
27 Wir werden sehen, dass es angelehnt an die Reduktionsdebatte entgegen der Auffassung von
BMS auch seine Berechtigung hat, die im obigen Zitat separat aufgelisteten Approximationen
und Äquivalenzen als Reduktionen aufzufassen. Die vorangegangene Darstellung von links und
constraints als separate Konzepte entspricht grundsätzlich dem von Balzer et al. (1987). In späte-
ren Arbeiten von Moulines und Polanski (1996), die sich auf Moulines (1992) bezieht, wird eine
andere Herangehensweise gewählt. Constraints und links werden hier jeweils als eine Unterklas-
se von allgemeinen, Modelle verbindenden Brückenprinzipien angesehen, wobei constraints als
Brücken zwischen Modellen ein- und derselben Theorie angesehen werden, links hingegen als
Brücken zwischen Modellen jeweils unterschiedlicher Theorien. Ich werde im Folgenden nicht
dahingehend differenzieren, ob wir beide als verschiedene Ausprägungen ein und desselben
Grundkonzepts betrachten oder als jeweils separat für sich auffassen (Vgl. für eine Definition
von allgemeinen Brückenprinzipien Moulines und Polanski, 1996, S. 220).
28 Ich werde den Begriff eines theoretischen Modells in Unterabschnitt 2.3.3 noch differenzierter
betrachten.
29 Der received view geriet an dieser Stelle mit Blick auf die von Kuhn und Feyerabend geäußerte
Kritik in einen starken Erklärungsnotstand (vgl. Unterabschnitt 3.1.3).
„∆(M p )“ bezeichnet die Diagonale, die Klasse aller Paare identischer Elemente
von M p . Für u, u1 , u2 ∈ U ist weiter:
Mit dieser Definition können BMS beginnen, „topologische Schläuche“ um die ex-
akt bestimmten theoretischen Modelle zu legen. Da die sechs Bedingungen oben
keine metrische, sondern eine topologische Struktur bestimmen, kann dies durch
den direkten Vergleich von Modellen geschehen – also koordinatenunabhängig.
Sei U dazu eine Uniformität auf einer Klasse potentieller Modelle M p einer gege-
benen Theorie (vgl. Balzer et al., 1987, S. 348). Dann ist A die Klasse der admissi-
ble blurs bzw. der zulässigen Unschärfe, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt
sind:
1. (A ⊆ U) ∧ (A = ∅)
2. ∀u ∈ U : (u ∈ A) → (u−1 ∈ A)
3. ∀u, u′ ∈ U : ((u ∈ A) ∧ (r̄(u) = r̄(u′ ))) → (u′ ∈ A)
4. ∀u ∈ A, ∃u s ∈ Bound(A) : u ⊆ u s
Dabei ist:
eine Grenzbedingung, durch die das Maß an Genauigkeit angepasst wird. Der
(theoretische) Kern K einer Theorie kann jetzt nach Moulines (1996, S. 8) bestimmt
werden durch
K = (M p , M, M pp , C, L, A) (2.9)
Hinzu kommt die Domäne der intendierten Anwendungen I, bei der es sich, um ein
Pendant zur Semantic des received view handelt (vgl. Stegmüller, 1980, S. 6). Aus
ontologischer Sicht sei diese
neither ‘pure reality’ nor ‘pure experience’ – whatever these expressions may mean. That
is, the domain in question does not consist of pre-conceptual ‘things-in-themselves’ or of
sense-data. Scientific theories don’t have access to that sort of stuff – if anybody has access
to it at all. Rather, the assumption is that the domain of intended application of a theory
is conceptually determined through concepts already available. The real question is whe-
ther all concepts available or only some of them must be employed to describe that domain.
(Moulines, 1996, S. 8; Hervorhebungen im Original)
Darüber hinaus sei die Bestimmung des Bereichs der intendierten Anwendung
Kontextabhängig:
I is a kind of entity strongly depending on pragmatic and historical factors which, by their
very nature, are not formalizable (at least not by means of presently available formal tools).
It is at this point, at the latest, that structuralism ceases to be a ‘purely formalistic’ or ‘set
theoretical’ view of science. This is seen by structuralism itself neither as an absolute virtue
nor as an absolute fault. It is rather an unavoidable consequence of the nature of theories
and of the tools available to analyze them. (Moulines, 1996, S. 9)
Auch wenn zur Bestimmung des Bereichs der intendierten Anwendung mehr nö-
tig sei als reine Mengentheorie, könne er mit dem theoretischen Kern durch I ⊆
M p bzw. I ⊆ M pp in Beziehung gesetzt werden. Welche dieser Beziehungen zu-
treffend ist, sei Teil der Debatte (vgl. Moulines, 1996, S. 8 f). Die bisherigen Aus-
führungen illustriert Stegmüller am Beispiel:
Eine Theorie ist nur so hilfreich, wie mit ihr prüfbare Aussagen über den Bereich
der intendierten Anwendung formuliert werden können. Zu dem Übergang von
einer mengentheoretischen Rahmenkonstruktion zu entsprechenden Aussagen
schreibt Moulines:
According to structuralism, theories are not sets of statements. But, of course, this is not to
deny that it is very important for science to make statements – things that can be true or false,
that can be verified, falsified or somehow checked. What structuralism maintains is that
theories are not statements but are used to make statements – which, of course, have then to
be checked. The statements made by means of scientific theories are, intuitively speaking, of
the following kind: that a given domain of intended applications may actually be subsumed
under the theory’s principles (laws, constraints, and links). (Moulines, 1996, S. 9)
Dies geschieht durch die Menge Cn(K) des theoretischen Inhalts der Theorie be-
züglich des formalen Kerns (vgl. Moulines, 1996, S. 9 f):
However, one of structuralism’s important claims is that, on a careful analysis, the term
‘theory’ reveals to be polysemic: the knots appear to have different levels of aggregation.
More precisely, an adequate formal representation of the intuitive notion of a theory leads to
at least three different explicants. They are, of course, mutually related, but they are located,
so to speak, on three different structural layers. On the inferior (simpler) level, we encounter
theory-elements; on the medium level, we find theory-nets; and the most complex units are
called theory-holons. The concept of a theory-net is what comes closest to the most frequent
intuitive usage of the term ‘theory’. (Moulines, 2002, S. 4)
Ähnlich äußern sich BMS bereits zuvor in der Architectonic for Science (vgl. Bal-
zer et al., 1987, S. 167): Ein Theoriennetz N sei die Zusammenfassung verschiede-
ner mittels einer Klasse von Spezialisierungen σ i verbundener Theorienelemente
zu einem Ganzen. Ist beispielsweise die Rede von der klassischen Teilchenme-
chanik, ist nicht ein einziges Theorienelement gemeint, sondern ein hierarchisch
geordnetes, einheitliches Netzwerk, dessen Bestandteile durch Hinzufügen ein-
zelner Gesetze, dem Hookschen oder dem dritten Newtonschen Gesetz, zu einer
Reihe fundamentaler Forderungen, wie der Impulserhaltung, entstehen. Eine gra-
phische Darstellung des Theoriennetzes der klassischen Teilchenmechanik nach
BMS findet sich etwa in Balzer et al. (1987, S. 191). Die in ebd. vorgeschlagene Dif-
ferenzierung der klassischen Mechanik in Teiltheorien ist keine Eigenart des Se-
mantic Approach, sondern findet sich auch in Arbeiten zum syntaktischen Theori-
enverständnis (vgl. Spector, 1978, S. 15). Die Entstehung einer Theorie T1 aus einer
anderen T2 stellen BMS wie folgt dar:
T1 σT2
Da sowohl die Klasse der potentiellen als auch die der partiell potentiellen Model-
le beider Theorien nicht von zentralen Axiomen abhängen, entsprechen sie sich.
Damit gilt nach Moulines (1996, S. 11):
Die Beziehung der weiteren Bestandteile der Theorienelemente ist abhängig von
der Art der gestellten Forderung. Es ergeben sich nach Moulines (1996, S. 11) fol-
gende Beziehungen:
M 1 ⊆ M 2 , C1 ⊆ C2 , L1 ⊆ L2 und I 1 ⊆ I 2 (2.13)
Schreibe ich folgend von einer „Theorie“ im Sinne von BMS, meine ich damit,
sofern nicht anders ausgeführt, den Begriff im Sinne von „Theorienelement“.
Bezüglich der Abgrenzung des semantic approach nach BMS vom received view
ist festzuhalten, dass BMS auf die zentralen Kritikpunkte (vgl. Unterabschnitte
2.2.2 bis 2.2.4) reagieren konnten: Dem Problem der theoretischen Terme sind
sie durch Differenzierung in die theoretisch-nichttheoretisch-Dichotomie und die
observabel-nichtobservabel-Dichotomie entgegengetreten und haben die Theo-
retizität von Termen in Abhängigkeit einer Bezugstheorie gesetzt. Bezüglich des
Problems mangelnder Formalisierungen haben sie bereits mit der Architectonic
for Science viele Anwendungen geliefert, die in späteren Arbeiten noch ergänzt
wurden (vgl. Diederich, 1996). Auch haben BMS die Rolle wissenschaftlicher Mo-
delle stärker betont, indem sie Theorien mit Klassen von Modellen identifiziert
haben. Aber gerade dieser letzte Punkt war der Ansatz für die zentrale Kritik am
semantic approach, die ich im folgenden Unterabschnitt darstellen werde.
However, the possibility to reconstruct certain existing scientific theories along the lines of
the Semantic View is no proof that the Semantic View relates to scientific practice. While
providing a tidy formal account is an admirable goal, the chances are that such an account
does not do justice to the great variety of scientific models encountered in scientific practice.
(Bailer-Jones, 2009, S. 131)
Bailer-Jones deutet den Hauptkritikpunkt am semantic approach an, den vor ihr
schon Mary S. Morgan und Margaret Morrison stark gemacht hatten. Danach kann
die Bedeutung von Modellen für die wissenschaftliche Praxis zwar kaum unter-
schätzt werden; die ihnen im semantic approach zugewiesene Rolle sei dennoch
inadäquat (vgl.Morgan und Morrison, 1999b; Morrison 1999; Bailer-Jones 2009, S.
134 ff). Sie seien nicht mit der Theorie identifizierbar, sondern nähmen eine von
dieser und von den Phänomenen teil-unabhängige Rolle ein. In die Literatur ist
dieses Theorie-Modell-Phänomen-Verhältnis unter den Schlagworten „models as
autonomous agents“ und „models as mediators“ eingegangen (vgl. Morgan und
Morrison, 1999a).
Die von Bailer-Jones angeführte „great variety of scientific models“ geht zu-
nächst auf Hesse und Achinstein zurück (vgl. Unterabschnitt 2.2.3), wurde aber
in der Diskussion der Folgejahre noch weiter ergänzt. Die Vielzahl der Positionen
hat dazu geführt, dass „[f]ew terms are used in popular and scientific discourse
more promiscuously than ‘model’.“ (Goodman, 1968, S.171; zitiert nach Beisbart,
2011, S.89) Meine folgende Taxonomie von Modellbegriffen geht zurück auf die
Arbeiten von Frigg und Hartmann (2012) sowie Beisbart (2011, S. 92 ff). Sie legt
den Fokus auf die zentralen Positionen der aktuellen Debatte.
Gemein ist allen Modellen, dass sie ihr Zielsystem X repräsentieren. In Bezug
auf materielle Modelle nach Achinstein bzw. Modelle vom Typ model2 nach Hesse
ändert sich damit nichts. Hier gibt es keine Bedeutungsverschiebung. Nach wie
vor fallen physische Objekte, die einige Eigenschaften mit dem von ihnen reprä-
sentierten System X teilen, in diese Klasse (vgl. Beisbart, 2011, S. 92).
Die von Achinstein getroffene Differenzierung in (kontrafaktische) imaginäre
und (realisierbare) theoretische Modelle ist mittlerweile obsolet. Schon Achinstein
nimmt zur Bestimmung theoretischer Modelle Idealisierungen, Vereinfachungen
und Approximationen vor, durch die der Bezug zum repräsentierten System ge-
schwächt wird. Bezogen auf die Realisierbarkeit liegen damit graduelle Abwei-
chungen und keine diskrete Unterteilung vor. Warum sollte das Bohrsche Atom-
modell realisierbar sein, das Poincaré’sche Modell einer nichteuklidischen Geo-
metrie aber nicht? Beide Klassen fallen zusammen in die Klasse der notational
models (Beisbart, 2011, S. 92) bzw. idealized Models (Frigg und Hartmann, 2012),
deren zentrale Eigenschaft die sprachliche Beschreibung eines Zielsystems ist.30
Darüber hinausgehend führt Beisbart noch mathematische Modelle als eine eigen-
ständige Klasse an:
Mathematical models are mathematical equations with an interpretation that connects them
to their target. Typically, the terms figuring in the equations are supposed to trace the va-
lues that empirical, quantitative characteristics – a particle’s mass, energy and so on – take.
(Beisbart, 2011, S. 93)
30 Die Inhalte dieser Klasse entsprechen wieder Hesses Modellen vom Typ model1 . Frigg und
Hartmann (2012) führen noch eine Klasse von analogen Modellen an, stellen es aber zur Diskus-
sion, inwieweit diese mit der Klasse der idealized models zusammen fällt. Ich setze folgend die
Identität beider Klassen voraus.
Morrison 1999a, S.14 f). Ausgehend von der Periodendauer T sowie der Länge l
des Pendels lässt sich g in einem ersten Ansatz bestimmen durch:
4π2 l
g= (2.14)
T2
Gleichung (2.14) liefert nach Morgan und Morrison ein notationales Modell, des-
sen Verhalten gegenüber dem des materiellen Pendels eine Idealisierung darstel-
le. Für eine genauere Bestimmung der Gravitationsbeschleunigung müssten aber
noch Korrekturen angefügt werden. So erhalte das Pendel nach dem Archimedi-
schen Prinzip aufgrund der von ihm verdrängten Luft Auftrieb. Das in die Rech-
nung einfließende Gewicht der Pendellinse müsse also reduziert werden um das
Gewicht der verdrängten Luft. Als Korrekturterm ergäbe sich:
∆T 1 m a
= ·
T 2 m
wobei „m“ die Masse der Pendellinse darstellt sowie „m a “ die Masse der verdräng-
ten Luft. Darüber hinaus ließe sich für kleine Fehler ∆θ der Pendelauslenkung
zusammen mit der Gleichung zur Bestimmung der Schwingung eines Pendels im
Vakuum
.. g
θ + sin θ = 0
l
als zusätzlicher Korrekturterm der Periode der folgende Ausdruck bestimmen:
∞ 2
∆T (2n)! 2n ∆θ 1 11 4
= sin = (∆θ)2 + θ +...
T 22n (n!)2 2 16 3072 0
n=1
Newtonian mechanics provides all the necessary pieces for describing the pendulum’s mo-
tion but the laws of the theory cannot be applied directly to the object. The laws describe
various kinds of motion in idealised circumstances, but we still need something separate
that allows us to apply these laws to concrete objects. The model of the pendulum plays this
role; it provides a more or less idealised context where theory is applied. From an initially
idealised model we can then build in the appropriate corrections so that the model becomes
an increasingly realistic representation of the real pendulum. (Morgan und Morrison, 1999a,
S. 14 f)
Das Modell erfahre seine Autonomie von der Theorie dadurch, dass es nicht nur
aus deren Postulaten ableitbar sei. Die Autonomie von den Phänomenen rühre
von den Idealisierungen, die bei der Anwendung des Formalismus zugelassen
werden.31 Ein weiteres Beispiel eines autonomen Modells ist das MIT-bag-model
des quark confinement. In einer frühen Phase ihrer Entwicklung konnte die Quan-
tenchronodynamik nicht begründen, warum Quarks nicht einzeln beobachtbar
waren. Zieht man aber einzelne Terme aus der Theorie heran, so argumentiert
Hartmann (1999), ließe sich eine sinnvolle Erklärung finden. Als ad-hoc-Annahme
eingeführt, war das MIT-bag-model ursprünglich Teil einer vorläufigen Physik: Es
diente als Substitut einer antizipierten theoretischen Untermauerung und ist als
solches unabhängig von der Theorie entstanden.32
Eine zweite Klasse von Modellen vorläufiger Physik sind Patchworkmodelle,
für die es keine einheitliche theoretische Grundlage gibt (vgl. Cartwright, 1999a).
Ein Beispiel ist das Bohrsche Atommodell, das auf Quantenpostulaten sowie Ele-
menten der klassischen Mechanik beruht (vgl. Bohr, 1913a,b,c). Auch eine Viel-
zahl der Modelle der Astroteilchenphysik (ATP) sind nach Falkenburg und Rho-
de (2007) Patchworkmodelle. Die ATP ist ein junges Teilgebiet der Physik, in dem
von der kosmischen Strahlung auf deren Quellen zurück geschlossen wird. Dazu
stützt sie sich neben dem Standardmodell der Kosmologie, das auf der allgemei-
nen Relativitätstheorie beruht, auch auf die Teilchen- und damit auf die Quan-
tenphysik. Ich werde in den Abschnitten 4.2 und 4.3 die Existenz von zwei Arten
von Patchworkmodellen in der ATP nachweisen. Die Modelltypen zeichnen sich
durch die Rolle aus, die Reduktionsbeziehungen in ihnen einnehmen. Auch die
ATP untermauert damit die folgende Aussage von Morgan und Morrison:
The lesson we want to draw from these accounts is that models, by virtue of their construc-
tion, embody an element of independence from both, theory and data (or phenomena): it is
because they are made up from a mixture of elements, including those from outside the ori-
ginal domain of investigation, that they maintain this partially independent status. (Morgan
und Morrison, 1999a, S. 14; Hervorhebung im Original)
31 Nicht alle wissenschaftlichen Modelle müssen autonom in diesem Sinn sein. Der harmoni-
sche Oszillator der Quantenmechanik oder ein Wechselstromkreis in der Elektrodynamik sind
Beispiele für Modelle, die echte Modelle von Theorien sind. Für die Argumentation hier inter-
essiert allerdings nur, dass es Fälle von autonomen Modellen gibt, die nicht ignoriert werden
dürfen, will man eine adäquate Rekonstruktion der Physik gewährleisten.
32 Weitere Beispiele von Modellen, die kaum mehr sind als phänomenologische Gesetze, beru-
hen auf den Keplerschen und Galileischen Gesetzen. Vor deren Einbettung in die Newtonsche
Mechanik waren die auf beiden Gesetzesklassen aufbauenden Modelle in dem Sinne autonom,
dass es für sie keine theoretische Grundlage gab.
den (1) beitragen zur Entwicklung und Untersuchung von Theorien33 und seien
(2) potentielle Hilfestellungen für Messungen, wie das oben modellierte Pendel.
Schließlich gelte, dass Modelle (3) in Bezug auf die Entwicklung konkret verwend-
barer Technologien eine andere Rolle einnähmen:
A paradigm case of this is the use of various kinds of optics models in areas that range from
lens design to building lasers. Models from geometrical optics that involve no assumptions
about the physical nature of light are used to calculate the path of a ray so that a lens can be
produced that is free from aberration. (Morgan und Morrison, 1999a, S. 23)
Ein ähnlicher Ansatz stammt aus der Feder von Daniela Bailer-Jones. Auch sie ver-
ortet Modelle zwischen Phänomenen und Theorie, kritisiert aber die von Morgan
und Morrison verwendeten Metaphern:
I find the talk of autonomy of models misleading. There is no denying that there always
exists some relationship between a model and some theory from which the model draws,
and between a model and the phenomenon of which it is a model. (Bailer-Jones, 2009, S.
135; Hervorhebung im Original)
Models are positioned between theories and phenomena. They customize theory in a way
that makes theory applicable to phenomena. So one could say that models ‘mediate’ bet-
ween theories and phenomena, but this claim has not quite the same connotations as in
Morrison’s work. (Bailer-Jones, 2009, S. 152; Hervorhebung im Original)
33 So hatte beispielsweise das Bohrsche Atommodell einen starken Einfluss auf die Entwicklung
der Quantenmechanik genommen und das MIT-bag-Modell trage zur Untersuchung der QCD bei
(vgl. Morgan und Morrison, 1999a, S. 18 ff).
34 Bailer-Jones (2009) stellt die Entwicklung von Cartwrights Überlegungen zum Modellbegriff
ausgehend von der Darstellung von models as fictions (Cartwright, 1983) über die Darstellung
von models as fables (Cartwright, 1991), der toolbox of science (Cartwright et al., 1995) und der
Position, Modelle seien repräsentativ (Cartwright, 1999b) bis hin zur Auffassung von models in a
dappled world (Cartwright, 1998). Die von Bailer-Jones gegebene Darstellung, welche sich ebenso
bei Bailer-Jones (2008) findet, liefert eine sinnvolle Zusammenfassung der Positionen von Cartw-
right, weshalb sich hier lediglich auf die für den hier als Grundlage dienenden Ansatz von Bailer-
Jones selbst unmittelbar relevanten Teile konzentriert wird.
Fables have a moral that is abstract and they tell a concrete story that instantiates that moral,
or ‘fits out’ that moral. A moral of a fable may be ‘the weaker is prey to the stronger’, and a
way to ‘fit out’ (Cartwright’s formulation) this abstract claim is to tell the story of concrete
events of the marten eating the grouse, the fox throttling the marten, and so on. Similarly, an
abstract physical law, such as Newton’s force law, F = ma, can be fitted out by different more
concrete situations: a block being pulled by a rope across a flat surface, the displacement
of a spring from the equilibrium position, the gravitational attraction between two masses.
Thus Newton’s law may be fitted out by ‘different stories of concrete events’. (Bailer-Jones,
2009, S. 138)
Phenomena involve properties. Abstraction I take to be a process where properties are ‘taken
away’ from a phenomenon and ignored. That which is abstract lacks certain properties that
belong to any concrete phenomenon. To put it very crudely, something concrete becomes
abstract when certain properties that belong to the ‘real thing’ (and that make it concrete)
are taken away from it. (Bailer-Jones, 2009, S. 146)
Am Beispiel bedeutet dies, dass sich ein empirisches Pendel durch eine unüber-
schaubare Anzahl von Eigenschaften auszeichnet. Damit eine Theorie hierauf
angewendet werden kann, muss zunächst ein Modell entwickelt werden. Dies
geschieht nach Bailer-Jones, indem auf der Erfahrung unterschiedlicher Anwen-
dungsfälle aufgebaut wird:
Das Modell selbst entstünde durch einen von dieser Erfahrung bedingten Idea-
lisierungsprozess. Neben irrelevanten Eigenschaften wie der Farbe im Falle des
Pendels, könnten auch Eigenschaften beiseite gelassen werden, die den Modellie-
rungsprozess erschweren. Welche Eigenschaften dies sind, sei kontextabhängig.
Im Fall des Pendels ließen sich das Gewicht des Fadens, der Luftwiderstand, etc.
zunächst vernachlässigen und je nach Bedarf im Nachhinein modellieren (vgl.
oben bzw. Bailer-Jones, 2009, S. 149).
Den Ansätzen sowohl von Morgan, Morrison, Bailer-Jones und Cartwright
(CMMB) ist die Etablierung dreier Ebenen gemein: Die in der Welt gegebenen
Phänomene werden repräsentiert von Modellen, die ihrerseits in Beziehung zu
(abstrakten) Theorien stehen (vgl. auch Abbildung 2.2 später). Dem gegenüber
identifiziert aber der semantic approach sowohl nach Suppes (vgl. Unterabschnitt
2.3.1) als auch nach BMS (vgl. Unterabschnitt 2.3.2) eine Theorie mit der Klasse
ihrer Modelle. Dies ist unverträglich mit der Position von CMMB, die durch die
praxisnahen Beispiele stark gestützt ist. Bailer-Jones äußert damit zurecht den
„concern [. . . ] to what extend the Semantic view can capture and do justice to the
role models play in scientific practice.“ (Bailer-Jones, 2009, S. 151) Noch schärfer
formuliert Morrison ihre Kritik:
my claim is that if we want to broaden understanding of the role models play in provi-
ding scientific knowledge or even an account of theory structure, then the logical/model-
theoretic apparatus of the semantic view(s) doesn’t really help us, especially in identifying
and differentiating crucial aspects of theories and models. Because the use and construction
of theories/models in scientific contexts bears little, if any, resemblance to model-theoretic
structures, it becomes difficult to see how the latter aid in understanding the former. (Mor-
rison, 2007, S. 202 f)
Die Kritik trifft nicht nur die Ansätze von Suppes und BMS, sondern nahezu alle
Varianten des semantic approach. Bei der Darstellung seines eigenen Theorien-
verständnisses betont beispielsweise auch van Fraassen als ein weiterer Vertreter
des semantic approach im folgenden Zitat den Primat der Modelle gegenüber der
sprachabhängigen Formulierung einer Theorie:
The syntactic picture of a theory identifies it with a body of theorems, stated in one parti-
cular language chosen for the expression of that theory. This should be contrasted with the
alternative of presenting a theory in the first instance by identifying a class of structures as
its models. In this second, semantic, approach the language used to express the theory is
neither basic nor unique; the same class of structures could well be described in radically
different ways, each with its own limitations. The models occupy centre stage. (van Fraas-
sen, 1980, S. 44)
Wie beim received view wird auch für den semantic approach fraglich, inwieweit er
wissenschaftliche Theorien adäquat formalisieren kann. Die Rolle von Modellen,
die weder derjenigen von Theorien noch derjenigen von Phänomenen entspricht,
ist kaum von der Hand zu weisen. Aus der Kritik folgt allerdings unmittelbar ein
schwerwiegendes Problem: Wenn sich Theorien weder nach dem received view
noch nach dem semantic approach adäquat darstellen lassen, wie sollen sie dann
verstanden werden?
Bei CMMB habe ich hierauf bisher keine befriedigende Antwort gefunden. Die
vagen von ihnen gegebenen Formulierungen können kaum eine formale Rekon-
struktion ersetzen. Dies gilt sowohl für die Auszeichnung von Theorien als ab-
strakt, als auch als Moral einer Fabel. Hinzu kommt, dass die Kritik die Ansätze
der Kritiker selbst trifft: Wie können Modelle als mediators (Morgan und Morrison,
1999a) verstanden werden, wenn der Theorienbegriff als eine der beiden Dinge,
zwischen denen sie vermitteln, unklar bleibt? Wovon sind Modelle als autono-
mous agents (vgl. ebd.) autonom? Ohne einen adäquaten Theorienbegriff müssen
auch diese Ausdrücke unklar bleiben. Zumindest Morrison ist sich des Problems
im Klaren, wenn sie schreibt:
Although the recent emphasis on models in philosophy of science has been an important
development, the consequence has been a shift away from more traditional notions of theo-
ry. Because the semantic view defines theories as families of models and because much of
the literature on “scientific” modeling has emphasized various degrees of independence
from theory, little attention has been paid to the role that theory has in articulating scienti-
fic knowledge. This paper is the beginning of what I hope will be a redress of the imbalance.
(Morrison, 2007, Abstract)
Bisher habe ich gezeigt, dass CMMB überzeugend für die Inadäquatheit der Iden-
tifikation von Theorien mit Klassen von Modellen argumentiert hatten. Wissen-
schaftliche Modelle seien autonomous agents bzw. mediators (Morgan und Morri-
son, 1999a), die weder ganz der Phänomen- noch der Theorienebene angehörten,
sondern dazwischen angesiedelt seien (Bailer-Jones, 2009). Mit Scheitern von so-
wohl semantic approach (Unterabschnitt 2.3.3) als auch received view (Unterab-
schnitte 2.2.2 bis 2.2.4) musste aber die Ausgangsfrage, was eine physikalische
Theorie sei, unbeantwortet bleiben. Die Ausführungen der Kritiker gaben hier-
über keinen Aufschluss.
Ich werde folgend eine alternative Rekonstruktionsmöglichkeit vorstellen, die
auf dem Ansatz Erhard Scheibes beruht. Erste Arbeiten zu seinem Theorienver-
ständnis hat er bereits in den 1970er und 1980er Jahren verfasst (Scheibe, 1979,
1980, 1982, 1984).35 Bei meiner Darstellung habe ich mich neben älteren Arbeiten
von Scheibe (1979) auch an der jüngeren Darstellung in dessen Reduktion physi-
kalischer Theorien (Scheibe, 1997, S. 45 ff) orientiert.
Auch wenn Erhard Scheibe in einer strukturalistischen Rahmenkonzeption
arbeitet, ist die Behauptung, er stehe„in der Tradition der strukturalistischen
Schule der Wissenschaftstheorie, die im Wesentlichen von Sneed (1971) begrün-
det und später von Stegmüller, unter anderem in Stegmüller (1976), weiterentwi-
ckelt und popularisiert wurde“ (Gutschmidt, 2009, S. 46; die Literaturverweise
wurden von mir angepasst) fragwürdig. Sneed und Scheibe bauen beide auf
Bourbaki (1968) auf, weshalb formale Übereinstimmungen kaum verwundern.
Warum Scheibe aber dadurch direkt in der Tradition von Sneed stehen soll, ist
nicht ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als sich BMS in der Literaturliste des ersten
Kapitels ihrer Architectonic for Science (Balzer et al., 1987) explizit auf Scheibe
(1979) beziehen und nicht anders herum.
Scheibe selbst sieht sich dem semantic approach zwar nahe, grenzt sich an
zentraler Stelle aber auch explizit von diesem ab. Trotz einiger Unklarheiten in
seiner Schrift sind Theorien für ihn gerade keine Klassen von Modellen. Damit ver-
meidet er die Kritik von CMMB. Ich werde zeigen, dass es entgegen dem vereinheit-
lichenden Denken von Gutschmidt sinnvoller ist, ähnlich wie Schmidt (2014), den
semantic approach in mehrere Strömungen aufzugliedern. Ich werde dafür argu-
mentieren, dass eine Differenzierung in strukturalistische und modelltheoretische
Rekonstruktionsansätze den relevanten Unterschied begrifflich sinnvoll wieder-
gibt.
In Unterabschnitt 2.4.1 werde ich das Theorienkonzept von Scheibe in Abgren-
zung von BMS darstellen und zeigen, dass Scheibe eine formale von einer Ebene
der Phänomene unterscheidet. Damit ergibt sich die Frage, wie diese beiden Ebe-
nen zusammenhängen. Ich werde in Unterabschnitt 2.4.2 zeigen, dass eine Ant-
wort durch Erörterung der Rolle der Hauptbasismengen gegeben werden muss.
Hilfreich wird hier die Arbeit von Brigitte Falkenburg sein, die mir als Grundla-
ge einer elaborierten Antwort dient. Physikalische Modelle können sinnvoll in
Scheibes Theorienkonzept eingebaut werden. Dieses Ergebnis stelle ich in Unter-
abschnitt 2.4.3 noch einmal dar.
Ich habe bereits zuvor auf die Ähnlichkeit der Grundlagen der Theorienkonzepte
von BMS und Scheibe hingewiesen. So ist auch für Scheibe eine Strukturart nach
Bourbaki
Σ(X, A, s) := Σ(X1 , . . . , X λ ; A1 , . . . , A µ ; s1 , . . . , s ν )
Für die typisierten Terme sei diese Forderung unproblematisch. Dasselbe gelte
aber nicht für jede über eine Strukturart formulierbare Aussage α. So ließe sich
nach Scheibe (1997, S. 66) etwa über zwei Hauptbasismengen aussagen, sie hät-
ten kein Element gemeinsam. Eine solche Forderung wäre inkompatibel mit der
Transportabilität, weshalb diese als zusätzliche Forderung an die Axiome gestellt
werden müsse. Angelehnt an (2.15) formuliert Scheibe (vgl. 1997, S. 66) diese For-
derung entsprechend dem folgenden Ausdruck:
′ ′ ′
(X; A; s) ∼
= (X ; A; s ) → (α(X; A; s) ↔ (α(X; a; s ))
Die Transportabilität grenzt damit zwei Klassen von über Strukturen getroffene
Aussagen voneinander ab. Man könne sagen „that canonical invariance is a very
36 Sowohl Bourbaki als auch Ludwig bezeichnen die verlangte Eigenschaft als „Transportabili-
tät“, während Scheibe durchwegs von der kanonische Invarianz spricht. Ich werde beide Begriffe
im Folgenden synonym verwenden.
weak condition of lawlikeness of the physical axioms, and this would be desira-
ble at any rate.“ (Scheibe, 1994a, S. 505) Das Kriterium selbst wird auch von BMS
aufgeführt, die dessen Relevanz allerdings zurückweisen:
The general concept of a structure species goes back to Bourbaki’s foundational work on ma-
thematics. However, note that our definition of a structure species is weaker then Bourbaki’s
in that we do not require the formulas [. . . ] to be ‘invariant under canonical transformati-
ons’. (Balzer et al., 1987, S. 11)
Sie begründen den Schritt mit der Unbeweisbarkeit der kanonischen Invarianz
aus der Mengentheorie heraus und den Einschränkungen, die sie der Rekonstruk-
tion von Theorien auferlege:
In the present set-theoretical frame this kind of invariance cannot be proved, for set-theoretic
formulas in general do not preserve their truth-value under bijective mappings (consider
’x ⊆ y’ as an example). In spite of the formal attraction exerted by this invariance condition
we choose not to impose it in general for this would represent a strong formal restriction of
the way in which theories have to be represented. (Balzer et al., 1987, S. 12)
Die Kritik lässt sich auch so formulieren, dass die Transportabilität als willkür-
lich erscheinendes notwendiges Demarkationskriterium von gesetzesartigen und
nicht-gesetzesartigen Aussagen noch nicht absehbare Konsequenzen hätte. Die-
se gelte es möglichst zu vermeiden. Aber auch die Ablehnung der kanonischen
Invarianz löst das Differenzierungsproblem nicht, sondern verschiebt es nur: So
taucht es bei BMS bei der Unterscheidung von aktuellen und potentiellen Model-
len wieder auf, der ebenfalls ein willkürliches Kriterium unterliegt (vgl. Unterab-
schnitt 2.3.2). Aber auch abgesehen davon ist fraglich, wie nicht-invariante Axio-
me mit der strukturalistischen Rahmenkonzeption vereinbar sind, da sie Aussa-
gen über die als von außerhalb der Theorie bestimmt angenommenen Basismen-
gen treffen müssten. Die Basismengen wären damit variabel, was im klaren Wi-
derspruch zur mengentheoretischen Grundlagen steht.
Ein zweiter sowohl formaler als auch begrifflicher Unterschied von BMS und
Scheibe betrifft physikalische Invarianzforderungen, mit denen sich Scheibe
(1994a) an anderer Stelle auseinander setzt. Die Transportabilität ist für ihn eine
bedingungslose Invarianz. Sie sei unabhängig von den sonstigen bezüglich einer
Theorie geltenden Axiomen und unterscheide sich von einer durch die Axiome
bedingten, nur die Basismengen und typisierten Terme betreffenden, Invarianz.
Da die Basismengen von außerhalb der Theorie bestimmt werden, sei diese Eigen-
schaft für sie grundsätzlich erfüllt. Bezeichnen wir die so invarianten Bestandteile
einer Theorie mit hochgestelltem „◦“, ist:
X = X ◦ und A = A◦
Für die typisierten Terme könne dies nicht vorausgesetzt werden und es gelte zu
differenzieren:
s = (s◦ , s′ ),
wobei s′ der nicht-invariante Teil der typisierten Termen von T ist. Beispiele sind
Galilei und Lorenzinvariante Größen in der Physik sowie geometrische Formen
unter Symmetrieabbildungen in der Euklidischen Geometrie. Die Zusammenfas-
sung der invarianten Größen einer Theorie
(X ◦ ; A◦ ; s◦ ) = (X; A; s◦ )
bezeichnet Scheibe (1997, S. 67) als den Kern einer Theorie und die Axiome, die
nur etwas über den Kern aussagen, als Kernaxiome. Bei dem Kern handele es sich
um jenen Teil der Theorie, der allen Systemen, welche der Theorie genügen, ge-
meinsam ist. Im Falle der Newtonschen Mechanik, so Scheibe (1997, S. 52), seien
etwa Raum und Zeit inklusive ihrer metrischer Strukturen Kernbestandteile.
Der Kern nach Scheibe ist nicht zu verwechseln mit dem theoretischen Kern
nach BMS aus Formel (2.9). So impliziert der Kern nach BMS den intendierten An-
wendungsbereich, der auf diese Weise zum integralen Theorienbestandteil wird.
Scheibe (1997, S. 75) äußert sich bezüglich der Rolle des Anwendungsbereichs hin-
gegen neutral. So sei es nicht klar, in wiefern er Bestandteil der respektiven Theo-
rie sei, da er sich im Laufe der Zeit ändern könne. Eine Theorie würde dem ge-
genüber eine größere Beständigkeit aufweisen: Nicht jede Änderung des Anwen-
dungsbereichs impliziere auch den Übergang von einer Theorie zu einer anderen.
Schlussendlich sei „[d]as größte mit dem fraglichen Begriff zusammenhängende
Problem [. . . ] aber die Beantwortung der Frage, wie ein Anwendungsbereich zu
kennzeichnen ist.“ (Scheibe, 1997, S. 75)
Mit Blick auf die Kritik am semantic approach besteht der Hauptunterschied
zwischen Scheibe und alternativen Ansätzen darin, dass Scheibe durchwegs über
Strukturen spricht, nicht jedoch über Modelle. Bei der im Folgenden formulierten
Kritik bezieht er sich explizit auf Suppe (1974), van Fraassen (1980) und Balzer
et al. (1987):
It has become fashionable to replace the syntactical approach of (the earlier) Carnap by a
so called ‘semantical’ approach [. . . ]. Apart from the elimination of some irrelevancies I can
see no essential advantage of this approach. If we come down to special cases, it is hard to
see how we can do without having to resort to the languages. (Scheibe, 1993, S. 354, Fußnote)
Scheibe verlangt also nach einer stärkeren Betonung der verwendeten Sprache.
Ebenfalls mit Bezug auf die oben genannten Autoren schreibt er einige Jahre spä-
ter:
Man ersetze eine formale Theorie zunächst durch die Klasse ihrer Modelle und rede dann in
einem weiteren Schritt nur noch von Strukturklassen ohne Rücksicht auf ihre formale Her-
kunft. Dies ist eine grandiose (in Wahrheit noch viel weiter getriebene) Verallgemeinerung,
aber mit Semantik hat es nichts zu tun, solange man nicht doch wieder zu Formalisierungen
auf Objektebene zurückkehrt.
Eben diese Rückkehr ist für dieses Buch [Gemeint ist die Reduktion physikalischer Theori-
en] beabsichtigt, und unser Unternehmen könnte daher zurecht als ein ‚semantic approach‘
bezeichnet werden. (Scheibe, 1997, S. 47)
Für eine bestmögliche Differenzierung werde ich den Ansatz nach Scheibe sowie
zu diesem artverwandte Positionen folgend als „strukturalistische Positionen“ be-
zeichnen und von den „modelltheoretischen Auffassungen“ im Sinne von BMS,
van Fraassen, Stegmüller et al. abgrenzen. In der Literatur sind beide Begriffe
ebenfalls bekannt, werden aber bisher synonym verwendet. Neben Scheibe und
Bourbaki, der sich lediglich für mathematische Strukturen interessiert, gehören
auch die Ansätze von Ludwig (1970, 1978) sowie Ludwig und Thurler (2006) in
diese Kategorie. Scheibe betont an mehreren Stellen die Nähe seines Ansatzes zu
dem von Ludwig. Die zentralen Aspekte von Ludwigs Position lassen sich wie folgt
pointieren:
His underlying ‘philosophy’ is the view that there are real structures in the world which are
‘pictured’ or represented, in an approximate fashion, by mathematical structures, symbo-
lically PT = W (-) MT. The mathematical theory MT used in a physical theory PT contains
as its core a ‘species of structure’ Σ. This is a meta-mathematical concept of Bourbaki which
Ludwig introduced into the structuralistic approach. The contact between MT to some ‘do-
main of reality’ W is achieved by a set of correspondence principles (-), which give rules
for translating physical facts into certain mathematical statements called ‘observational re-
ports’. These facts are either directly observable or given by means of other physical theories,
called ‘pre-theories’ of PT. In this way a part G of W, called ‘basic domain’ is constructed.
But it remains a task of the theory to construct the full domain of reality W, that is, the mo-
re complete description of the basic domain that also uses PT-theoretical terms. (Schmidt,
2014, Abschnitt 4.2.1., Hervorhebungen im Original)
Eine explizite Diskussion der Details von Ludwigs Ansatz würde hier zu weit ge-
hen und ist mit Blick darauf, dass ich in Abschnitt 3.2 ein Reduktionskonzept vor-
stellen werde, das auf Scheibe und nicht auf Ludwig beruht, auch nicht nötig. Ich
werde mich folgend auf die Auseinandersetzung mit der Arbeit von Scheibe kon-
zentrieren.37
Ein wie oben verstandener Strukturalismus zeichnet sich also dadurch aus,
dass er statt über Klassen von aktuellen, potentiellen oder partiell potentiellen
37 Für den Ansatz eines Abgleichs der Arbeiten von Scheibe und Ludwig (aber auch BMS) siehe
Schmidt (2014).
d2 x i αf i (x)
= , i = 1, 2, 3 (2.16)
dt2 m
38 Der Schritt zurück ist historisch zu verstehen. Bei Lektüre des Literaturverzeichnisses der ers-
ten beiden Kapitel der Arbeit von Balzer et al. (1987, S. 34 f / 93 f) sind frühe Arbeiten von Scheibe
(1979) und Ludwig (1978) angegeben. Während BMS also durch Einführung einer Metaebene eine
bewusste Erweiterung von Scheibe vornehmen, lehnt Scheibe dies ebenso bewusst ab.
m entspricht der Masse eines Teilchens, x i (t) den Ortskoordinaten zur Zeit t, α ei-
nem weiteren, vom Teilchen abhängigen Parameter wie der Ladung, und f i (x) der
Kraftkomponente am Ort x. Da die beschriebenen Bewegungen im Euklidischen
Raum stattfinden, gilt es zunächst, einen solchen zu axiomatisieren. Ausgangs-
punkt hierfür sind eine Punktmenge S, die mit einer Abstandsstruktur d versehen
wird:
(S; R; d)
Der Einfachheit halber werde ich die Abstände nicht physikalisch interpretieren,
sondern unmittelbar auf die reellen Zahlen abbilden. Da bei einer Abstandsbe-
stimmung allgemein zwei Punkten von S eine reelle Zahl zugeordnet wird, ist d
typisiert durch:
d ∈ P(S × S × R)
Damit diese Abstandsstruktur Euklidisch wird, muss sie noch axiomatisiert wer-
den. Scheibe unterscheidet eine direkte von einer indirekten Axiomatisierung. Bei
einer indirekten Axiomatisierung werden die Axiome bezüglich eines zuvor für S
geforderten Koordinatensystems φ formuliert. Dies entspricht einem Isomorphis-
mus:
φ : S → R3 (2.17)
Dass es sinnvoll ist, hier von einer Isomorphie zu sprechen, werde ich in Unter-
abschnitt 2.4.3 noch verdeutlichen. Unter Voraussetzung eines entsprechenden
Koordinatensystems ist eine Euklidische Abstandsstruktur nach Scheibe (1997, S.
50) bestimmbar durch das Axiom:
d(x, y) = (y φi − x φi )2 (2.18)
i=1,2,3
φ φ
x i und y i sind die Koordinaten von x und y in φ. Es ist bereits impliziert, dass
es sich bei d um eine Funktion handelt. Die Formulierung einer direkten Axio-
matisierung ist komplizierter, liefert aber einen leichteren Zugang zur physikali-
schen Interpretation (vgl. Scheibe, 1997, S. 82 f). In der Tat gibt es eine Redundanz
zwischen einer physikalischen, koordinatenunabhängigen Darstellung und einer
mathematischen Beschreibung, auf die ich in 2.4.2 zurückkommen werde. Bis da-
hin werde ich beide Möglichkeiten zur Axiomatisierung als gleichwertig auffas-
sen. Einzelne geometrische Objekte lassen sich jetzt bestimmen über:
M i ∈ P(S)
Ein Kreis ist also nicht ein Kreis für sich, sondern ein Kreis relativ zu einem ge-
gebenen Raum mit einer bestimmten Metrik. Da räumliche Bewegungen von Kör-
pern in einer kinematische Struktur in der Zeit verlaufen, muß mit „T“ eine zweite
Hauptbasismenge für alle möglichen Zeitpunkte eingeführt werden, die ebenfalls
mit einer Abstandsstruktur e zu versehen ist. Da die Zeit nur in eine Richtung ver-
läuft, kommt noch eine Ordnungsstruktur e1 hinzu. Auch die Zeitabstände sollen
direkt auf die reellen Zahlen abgebildet werden. Ausgangspunkt der Typisierung
ist damit das Quadrupel:
(T, R, e, e i )
e ∈ P(T × T × R)
und zur linearen Anordnung der Zeitpunkte ist e1 zunächst allgemein bestimmt
mittels:
e1 ∈ P(T × T)
φ:T→R
Es ist mit i) für e wie zuvor für d implizit gefordert, dass es sich um eine Funktion
handelt. t φi sind die Koordinaten von t i ∈ T in φ. Im nächsten Schritt wird das
Kraftfeld f bestimmt. In der Newtonschen Mechanik entspricht dies einer Funk-
tion, die jedem Punkt des Raumes eine bestimmte Kraft zuordnet. Wir führen die
neue Hauptbasismenge K ein, die der Menge aller möglichen Feldstärken ent-
spricht. Das Kraftfeld f wird dann typisiert durch:
f ∈ P(S × K)
F ∈ P(P(S × R3 ) × P(K × R3 ))
Sei ψ ein weiteres Koordinatensystem auf S, so muss erfüllt sein, dass für jede
Koordinatentransformation auf S mit
xψ
i = a ij x φj + a i
i=1,2,3
m, α ∈ R+ und (2.19)
x ∈ P(T × S) (2.20)
Dass m und α direkt den reellen Zahlen entstammen, entspricht unmittelbar dem
Vorgehen von Scheibe (1997, S. 54), der die Redundanz bezüglich mathematischer
und physikalischer Objekte betont. So müssten neben den bisherigen Hauptbasis-
mengen streng genommen noch weitere Hauptbasismengen eingeführt werden,
welche den physikalischen Werten entsprächen. Die Masse hätte sich beispiels-
weise ebenfalls typisieren lassen via
m ∈ M,
x ∈ P(P(S × R3 ) × P(R × R3 ))
Dabei sei x eine stetige Funktion. Dieses Vorgehen, das Scheibe (1997, S. 54) zu-
treffend als „hoch redundant“ bezeichnet, ist die Grundlage dafür, die Beschleu-
nigung aufbauend auf x zu bestimmen über:
d2 x
: R → R3
dt2
Um die Redundanz ein wenig aufzulösen, ließe sich eine Transformation mit Hilfe
der auf S und T gegebenen Koordinatensysteme durchführen. Sei B die Zusam-
menfassung dieser Koordinatensysteme auf Raum und Zeit und weiter φ ∈ B, so
könne nach (Scheibe, 1997, S. 54) unter Verwendung einer rein physikalischen In-
terpretation von x eine koordinatenabhängige Funktion definiert werden durch:
Das Redundanzproblem ist damit noch nicht gelöst, sondern lediglich verscho-
ben auf die Frage, ob T und S als physikalisch oder mathematisch zu verstehen
sind. Ich werde später dafür argumentieren, dass aufgrund der gegebenen Iso-
morphismen und des damit einfachen Wechsels zwischen beiden Auffassungen,
eine Entscheidung nicht notwendig ist (vgl. Unterabschnitt 2.4.2).
Das wie bisher bestimmte Axiomensystem sei nach Scheibe (1997, S. 55) je-
doch noch nicht wahrheitsfunktional. Vielmehr handele es sich bei ihm um ei-
ne Aussagenform, die erst auf einen intendierten Anwendungsbereich A bezogen
werden müsse. Steht „Σ“ für die Zusammenfassung der Axiome, so ist die resul-
tierende All-Aussage gegeben mit:
∀a : a ∈ A → Σ(S, T, K, d, . . . , m a , α a , x a )
topologische Schlauch wird hier in Bezug auf die Frage nach der Art von Bezie-
hungen von Theorien untereinander relevant sowie der von Theorien und Daten
im Kontext explanatorischer Reduktionen, weshalb ich in Abschnitt 3.2.1 hierauf
noch einmal zurückkommen werde.
Zuvor werde ich der Frage nachgehen, wie sich abgesehen von dieser Unge-
nauigkeit die theoretische, sprachabhängige Ebene in Beziehung zum Anwen-
dungsbereich setzen lässt. Es sollte bereits ersichtlich geworden sein, dass der
Ansatzpunkt dafür die Hauptbasismengen sein werden. Im folgenden Unter-
abschnitt werde ich zunächst Scheibes Ausführungen hierzu wiedergeben und
dann mit Hilfe eines Ansatzes von Brigitte Falkenburg über diese hinausgehen.
Dadurch ergibt sich eine neue Sicht auf die Rekonstruktion physikalischer Theori-
en, die zwischen received view und semantic approach eine Antwort auf die Kritik
von CMMB geben kann.
Die Formalisierung physikalischer Theorien nach Scheibe geschah auf rein syn-
taktischer Ebene. Wie aber lässt sich diese in Beziehung zu den Phänomenen bzw.
den Daten bringen? Eine erste in Anbetracht der durch ZFC gegebenen Grundlage
plausibel erscheinende Auffassung ist das Verständnis der durch sie ausgewiese-
nen Strukturen als rein mathematisch. Dies würde auch den Ansatz einer Brücke
zu den in Abschnitt 2.3.3 dargestellten Positionen liefern. Dort hatte Bailer-Jones
(2009) Theorien im Verhältnis zu den Phänomenen, auf die sie sich beziehen, als
„abstrakt“ bezeichnet. Dies stimmt überein mit strukturalistischen Positionen aus
der Philosophie der Mathematik, nach denen „mathematics is concerned princi-
pally with the investigation of structures of various types in complete abstraction
from the nature of individual objects making up those structures.“ (Hellman, 1989,
S. vii; zitiert nach Heck und Price, 2000, S.341)
Leider ist es nicht ganz so einfach. Gegen eine Gleichsetzung dieser syntak-
tischen Ebene mit allein mathematischen Strukturen spricht, dass unter dieser
Voraussetzung nicht mehr von physikalischen, sondern nunmehr von mathema-
tischen Theorien die Rede sein muss; die Grenzen zwischen beiden Wissenschaf-
ten würden verwischt werden. Die einzige Möglichkeit, dem argumentativ entge-
gen zu wirken, scheint es zu sein, eine für die Physik (wie auch immer zu verste-
hende) stärkere Bedeutung des Anwendungsbereichs zu betonen. Aber auch dies
hilft nicht weiter, da dieser als nach Voraussetzung von außerhalb der Theorie
kommend für ein formales Theorienverständnis auch keinen Unterschied macht.
Ihn andersherum als zur Theorie gehörig zu verstehen, ist kaum weniger pro-
blematisch. Bereits oben habe ich Scheibe angeführt, nach dem es „fraglich ist, ob
That there is something like the mathematical structure of physical theory is perhaps ob-
vious from any modern textbook in theoretical physics. In opening such a book the over-
whelming impression of what is going on there is that of more or less complicated mathe-
matical reasoning. (Scheibe, 1979, S. 161)
Es muss eine Lesart gefunden werden, in der die mathematische Struktur einer
physikalischen Theorie zwar klar als solche aufgezeigt werden kann, dies aller-
dings nicht in Form eines separat beschriebenen Theorienbestandteils geschieht,
dessen Verbindung mit Modellen und Anwendungsbereich als ebenfalls separate
Bestandteile eine allgemeine Beschreibung erfährt. Mit anderen Worten: Die ma-
thematische Struktur einer physikalischen Theorie muss aufgezeigt werden, ohne
jedoch als solche eine eigenständige Rolle zu spielen.
Das zu behandelnde Problem verlangt damit nach einer Antwort auf die Frage
des Zusammenhangs von sprachabhängiger Strukturebene und Phänomenebene.
Ist diese Antwort gefunden, lässt sich in einem zweiten Schritt überlegen, ob und
wo sich wissenschaftliche Modelle verorten lassen. Als Ausgangspunkt der Suche
bietet sich eine Betrachtung der Hauptbasismengen an. Scheibe charakterisiert
sie wie folgt:
Die X µ sind physikalischer, die A λ mathematischer und die s ν , je nach ihrer Bildung [. . . ]
ebenfalls physikalischer, mathematischer oder gemischter Natur. Die jeweilige Natur der s ν
braucht also nicht eigens gefordert zu werden, da sie sich von selbst ergibt. Zu fordern ist
aber
ph(X µ ), ma(A λ ) (2.22)
(Scheibe, 1997, S. 64; die Nummerierung ist der vorliegenden Arbeit angepasst.)
Even in a book on theoretical physics the language used is not entirely mathematical. Rather
it contains such general physical terms as ‘particle’, ‘field’, ‘state’, ‘quantity’, ‘probability’
etc. and very often also more special terms such as ‘time’, ‘space’, ‘position’, ‘energy’, ‘tem-
perature’ etc. The use of such terms indicates that the book is not just about mathematical
entities but also and mainly about the real world. (Scheibe, 1993, S. 161)
Die Begriffe sind nicht als observable Begriffe im Sinne des received view zu verste-
hen. Scheibe kannte das Problem der Theoriegeladenheit der Beobachtung, wes-
halb er sicherlich nicht in einen schnöden Positivismus zurückgefallen ist – zu-
mal er seine eigene Position als „between rationalism and empiricism“ sah (vgl.
Scheibe, 1994b). So schreibt er über die Verortung der Physik in Bezug auf ratio-
nalistische und empiristische Elemente:
it seems that our accomplishments can only be represented as compromises between extre-
mes, extremes which cannot be realized simultaneously, even though each for itself would
represent a considerable value. And the more frequently we arrive at this conclusion the
more it seems reasonable to suspect that with these extremes we are allowing ourselves to
be guided by traditional categories which are wholly inadequate to what we can actually
accomplish. (Scheibe, 1994b, S. 86)
Wie aber lässt sich die Beziehung von Theorie und Phänomenen über die Rolle
der Hauptbasismengen beschreiben? Für Scheibe ist hier die von ihm getroffene
Differenzierung zwischen Anwendungsbereich und physikalischer Interpretation
einer Theorie zentral, wie sie in der folgenden Passage deutlich hervortritt:
In this respect my own use of the term ‘physical interpretation’ would be such that it does
not yet include the actual or possible referents of a theory. Rather it is confined to whatever
is necessary in order to identify the intended referent by physical means, e.g. measuring in-
struments. The intended or actual application of a physical theory are better viewed under
a separate aspect: As compared with a physical interpretation in the sense indicated the an-
nouncement of a range of intended or actual referents of a theory is a new logical step. Its
distinction from a mere physical interpretation approximately mirrors the general distincti-
on between meaning and fact. (Scheibe, 1979, S. 161)
Eine physikalische Interpretation im obigen Sinn lässt sich als theoretisches Mo-
dell einer Theorie verstehen. Zusammen mit dem Anwendungsbereich liefert dies
die gewünschte Dreiteilung in eine Theorie-, eine Modell- und eine Phänomene-
bene. Wie aber hängen diese Ebenen miteinander zusammen und wie lassen sich
materielle Modelle hier einordnen? Wer sich eine Darstellung der Beziehungen
von Scheibe selbst erhofft, wird enttäuscht. Abgesehen von der Etablierung die-
ser grundsätzlich wünschenswerten Dreiteilung finden sich schwerlich Arbeiten
von ihm, die das Verhältnis näher beleuchten. Ein ausschlaggebender Grund hier-
für dürfte sein, dass Scheibes Theorienverständnis für seine Arbeit ein Mittel zum
Zweck war. In seinen Ausführungen zur Reduktion physikalischer Theorien (vgl.
Scheibe, 1993, 1997, 1999 sowie Unterabschnitt 3.2) kommt es ihm auf den Zusam-
menhang der theoretischen Bestandteile einer Theorie an, nicht jedoch auf ein
Verständnis der von Modellen eingenommenen Rolle.
Bei der folgenden Untersuchung der Beziehung von Phänomen-, Modell-, und
Theorienebene gehe ich über die Arbeit von Scheibe hinaus. Dennoch werden
sich keine Widersprüche zu zentralen Aspekten von Scheibes Überlegungen er-
geben. Die folgenden Seiten sind damit als Ergänzungen zu verstehen. Ausgangs-
punkt zur Bestimmung der physikalischen Natur der Hauptbasismengen ist ein
Vorschlag von Brigitte Falkenburg (2007), Messungen als Grundlage zur Bildung
von Äquivalenzklassen zu verstehen. In ihrem Buch Particle Metaphysics (ebd.)
schreibt sie:
Bemerkenswert ist, dass auch Falkenburg Anlass zur Etablierung dreier Ebenen
gibt, deren unterste aus den Phänomenen besteht. Diese werden durch konkrete
Messverfahren in Klassen eingeteilt, von denen jede einem physikalischen Wert
entspricht. Die Messung selbst muss auf einer Messtheorie beruhen, zu der weiter
unten noch Ausführungen folgen. Werden die Werte-Klassen skaliert und in eine
Ordnung gebracht, entspricht das Ergebnis einer physikalischen Größe. Für einen
nahtlosen Anschluss an die Arbeit Scheibes sind noch einige über das bisher Ge-
sagte hinausgehende Erläuterungen nötig.
Die Durchführung einer Messung dient zunächst dem Versuch, Phänomene
bzw. gewisse ihrer qualitativen Eigenschaften durch den Vergleich mit einer Norm
quantitativ zu erfassen. Dies ist jedoch nicht für jede sinnvoll abgrenzbare Phä-
nomenklasse möglich. So ist beispielsweise die Schönheit einer Person eine Ei-
genschaft, die in Zahlen zu verstehen (wenn überhaupt) nur über eine komple-
xe zusätzlichen Theorie möglich ist und es abgesehen von dieser theoriegelade-
nen Messung keine weitere Möglichkeit einer objektiven Bestimmung gibt (vgl.
Lesche, 2011, S. 1).40
Damit eine bestimmte Phänomenklasse als messbar angesehen werden kann,
muss für die mit einer bestimmten Messmethode erhaltenen Werte also eine re-
lationale Struktur postuliert werden. Die Aufgabe der Axiomatisierung dieser
Struktur kommt der formalen Messtheorie zu. Die in Unterabschnitt 2.3.2 gegebe-
ne Grundlage einer solchen im Sinne von BMS kann hier zwar als (historisches)
Beispiel dienen, ist aber noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Dies gilt umso
mehr, als unklar ist, wie auf den unterliegenden modelltheoretischen Ansatz,
dessen Probleme es hier ja schließlich zu vermeiden gilt, verzichtet werden kann.
Abgesehen davon sollten aber ohnehin über die Betrachtung von Beispielen hin-
aus möglichst allgemeine Eigenschaften von Messtheorien aufgezeigt werden.
Wie dies aussehen kann findet sich im Appendix A von Falkenburgs Particle
Metaphysics (Falkenburg, 2007, S. 343 ff), wonach mit der Definition grundlegen-
der operationaler Beziehungen aus dem Phänomenbereich, der derselben sowie
einer numerischen Repräsentation die Festlegung dieser relationalen Struktur
(D Q , ⊕, ) in drei Schritten vonstatten geht:
1. For a class D Q of empirical objects or processes, two empirical operations are defined:
i) a concatenation ⊕ (e.g., combining rods along a straight line), and
ii) a comparison (e.g., setting two rods parallel to each other and observing whe-
ther one of them is longer).
40 Mit den weiter unten folgenden Anmerkungen lässt sich der Unterschied zwischen als mess-
bar angenommenen physikalischen Größen wie der Masse und anderen, nicht messbaren wie der
Schönheit auch so formulieren, dass es für die ersten eine objektive Grundlage gibt, von der aus
extrapoliert wird. So ist die Messung unseres Abstands von Sternen über die Rotverschiebung
zwar ebenfalls hochgradig theoriegeladen. Dennoch lässt sie sich über weitere Messverfahren in
Verbindung bringen mit direkten Messungen über den Vergleich mit dem Standard-Meter. Eine
solche direkte Vergleichsmöglichkeit gibt es für die Schönheit nicht. Deren Messverfahren stellt
keine Extrapolation von objektiven Vergleichsverfahren dar.
2. A set of axioms is chosen. They fix the algebraic structure with an ordering relation that
defines equivalence classes on D Q :
∀a, b ∈ D Q : a ∼ b ↔ a b ∧ b a (2.23)
from the structure (D Q , ⊕, ) to the real numbers R with their usual arithmetic struc-
ture. In particular:
i) a unit is chosen, i.e., an element 1* ∈ Q D that maps to 1 (e.g. the standard meter).
ii) to the other elements of the empirical structure, numbers r ∈ R are assigned that
express their magnitude in multiples of the unit. (Falkenburg, 2007, S. 343 f; No-
tationen und Nummerierungen wurden angepasst)
Die folgende Darstellung beruht zu weiten Teilen auf (Falkenburg, 2007, S. 343
ff). Im vorangegangenen Zitat ist D Q der Anwendungs- bzw. der Objektbereich der
Messtheorie, d.i. die Unterklasse derjenigen Phänomene, für die eine Messung der
Größe V Q erst sinnvoll ist. Sein Inhalt ist abhängig von der Erfahrung sowohl des
einzelnen Forschers im Speziellen als auch von der Erfahrung der wissenschaft-
lichen Gemeinschaft im Allgemeinen. Mit Blick auf das Folgende bedarf es aber
noch weiterer Konkretisierungen sowie Modifikationen. So ist die Bezeichnung
von (D Q , ⊕, ) als „Struktur“ für den ersten Schritt missverständlich bis unzu-
treffend. Natürlich wird bereits der Grundstein für die spätere Formalisierung ge-
legt. Dennoch darf die Betonung noch nicht auf den Zeichen „⊕“ und „“ liegen,
sondern vielmehr auf die durch diese dargestellten Messtechniken. Andernfalls
würden auch hier die Phänomene ebenfalls nur als empirische Strukturen und
damit als Modelle verstanden werden können. Mit der Theorie würde lediglich
über Modelle gesprochen werden, womit die Kritik am semantic approach nicht
ausgehebelt wäre.
Zur unmissverständlichen Differenzierung von operationalen Messverfahren
und mengentheoretischen Relationen sollten im ersten Punkt „⊕“ und „“ durch
die Zeichen „⊕* “ und „* “ ersetzt werden, wobei die letzten für operationale Be-
ziehungen stehen, die entsprechend durch keine Axiomatik bestimmt sind. „⊕“
und „“ sind hingegen mengentheoretische Objekte. Ähnliches gilt mit Blick auf
die hier bisher erbrachte Vorarbeit für Relation (2.23), welche die Grundlage zur
Bestimmung der als Werte zu verstehenden Äquivalenzklassen liefert. „“ und
„⊕“ bezeichnen ausdrücklich bereits axiomatisierte Relationen, womit die Phä-
nomene auch bei Bildung der Äquivalenzklassen lediglich als Strukturen in die
Theorie einfließen würden. Damit ist auch hier die obige Messtheorie nichts an-
deres als eine Umformulierung des in der Definition nach BMS in Unterabschnitt
∀a, b, ∈ D Q : a ∼* b ↔ a * b ∧ b * a (2.25)
41 Die Klassenbildung beruht hier im Wesentlichen auf einer naiven Mengentheorie, nicht auf
einer axiomatisierten nach ZFC. Der zentrale Unterschied ist, dass die mengentheoretischen Sym-
bole nicht innerhalb der Theorie bestimmt werden, sondern von außerhalb.
Bei einer Vielzahl von Messungen gilt, dass die gesuchten Werte nur indirekt be-
stimmt werden können. Dies geschieht über physikalische Größen, die zu der ei-
gentlich zu bestimmenden Größe nur über eine komplizierte Hilfs-Theorie in Be-
ziehung gesetzt werden können. Die Komplexität solcher Hilfs-Theorien kann, wie
bei der zur Triangulation vorausgesetzten Euklidischen Geometrie, auf der einen
Seite recht niedrig sein, auf der anderen Seite aber auch, wie bei den zur Auswer-
tung astroteilchenphysikalischer Experimente verwendeten Computerprogram-
men, nahezu beliebig hoch. Die Äquivalenz von Messverfahren liefert auch hier
eine Erklärung dafür, warum ein solches Vorgehen zumeist gerechtfertigt ist und
im Allgemeinen nicht hinterfragt wird: Komplexe Messverfahren mussten sich zu-
nächst im Abgleich mit anderen, „vertrauenswürdigen“ Verfahren bewähren und
konnten davon ausgehend ihre Eigenständigkeit rechtfertigen.
Die Klasse V Q der so durch äquivalente Messverfahren als unabhängig von
konkreten Messungen verstehbaren Werte einer physikalischen Größe kann
axiomatisiert werden. Bei der folgenden Darstellung einer Messtheorie und der
Aufstellung einer Werte-Algebra habe ich mich an der Arbeit von Lesche (2011,
2014) orientiert. Die folgenden Gleichungen habe ich unter formalen Anpassun-
gen weitestgehend ebd. entnommen. Ausgangspunkt ist bei mir allerdings eine
Ordnungs- und keine Äquivalenzrelation. Bereits mit Blick auf eine Darstellung
durch reelle Zahlen werden für Eigenschaften Q a , Q b ∈ V Q mit dazugehörigen
Phänomenen a, b ∈ D Q , das Relationszeichen „“ sowie das Operationszeichen
„⊕“ in Bezug zu den operationalen Relationen gesetzt:
a * b ↔ Q a Q b (2.26)
Q a⊕* b = Q a ⊕ Q b (2.27)
Q a = Q a′ ∧ Q b = Q b′ → Q a ⊕ Q b = Q a′ ⊕ Q b′ (2.28)
Zu Bedingung (2.28) vgl. Lesche (2011, S. 2). Das Gleichheitszeichen „=“ ist ent-
sprechend (2.23) festgelegt durch:
∀a, b ∈ D Q : Q a = Q b :↔ Q a * Q b ∧ Q b * Q a
Forderung (2.26) sorgt für die gleiche Reihenfolge der Ordnung von Messung und
Wert, (2.27) fordert zudem, dass es sich bei der Abbildung von einem Phänomen
auf seine Äquivalenzklasse um einen Homomorphismus handelt. (2.28) sichert
die Unabhängigkeit der Operation von der Wahl des Repräsentanten. Alle drei
Forderungen sind keine Axiome, sondern als Postulate Grundvoraussetzung ei-
ner sinnvollen Anwendung mathematischer Methoden. Unter einem Postulat ver-
stehe ich eine induktiv gewonnene Annahme, deren Allgemeingültigkeit als not-
wendig für einen wissenschaftlichen Zugang zur Welt vorausgesetzt werden muss.
Für die Axiomatisierung von Theorien folgt, dass Postulate in diesem Sinn still-
schweigend vorausgesetzt werden, ohne explizit Aufnahme in die Axiome zu fin-
den. Dasselbe gilt für die folgenden Forderungen (2.29) bis (2.38), mit denen V Q
mit einer algebraischen Struktur versehen wird. Zunächst sind dazu die Kommu-
tativität und die Assoziativität festzuhalten (vgl. Lesche, 2011, S. 2):
Qa ⊕ Qb = Qb ⊕ Qa (2.29)
Q a ⊕ (Q b ⊕ Q c ) = (Q a ⊕ Q b ) ⊕ Q c (2.30)
Forderung (2.27) ermöglicht jetzt den Übergang zu Repräsentanten aus D Q , die ei-
ne durch die Messverfahren motivierte physikalische Interpretation der auf V Q le-
diglich formal definierten Relation nahelegen. Werden beispielsweise a ∈ Q a und
b ∈ Q b als Stäbe unterschiedlicher Länge interpretiert, liegt eine Auslegung der
entsprechenden operationalen Relation „⊕* “ als deren Hintereinanderreihung
entlang einer geraden Linie nahe. Die Kommutativität (2.30) würde sodann in-
terpretiert bedeuten, dass es keinen Unterschied macht, welcher Stab als erstes
hingelegt wird und welcher als zweites.
Nicht für jede Klasse zusammengehöriger Repräsentanten muss es eine ent-
sprechend naheliegende Interpretation geben. Bei der Messung mit einem Laser-
sensor ist eine Interpretation der Kommutativität nicht ebenso offensichtlich. An-
ders herum kann ein im Rahmen der Messgenauigkeit ohne Zeitverlust zurückge-
worfener Strahl als sinnvolle Motivation zur Einführung eines additiv neutralen
Elements via
∀Q a ∈ V Q : Q a ⊕ 0 := Q a , (2.31)
dienen (vgl. Lesche, 2011, S. 2). Wird als Messverfahren allerdings eine mathema-
tisch interpretierte Triangulation gewählt, ist es schwer, die Messung in Einklang
mit der grundlegenden Euklidischen Geometrie zu bringen. Die Unabhängigkeit
der physikalischen Größen von einem bestimmten Messverfahren liefert damit die
Möglichkeit zwischen Interpretationen der formal bestimmten Operationen und
Relationen zu wechseln. Anders herum können einzelne Messverfahren auch for-
male Relationen induzieren. Insgesamt ergibt sich die Möglichkeit der Einfüh-
rung der für eine spätere Mathematisierung notwendigen Axiome. In diesem Sin-
ne lässt sich auch ein additiv inverses Element bestimmen über (vgl. Lesche, 2011,
S. 3):
∀Q a ∈ V Q , ∃ − Q a : Q a ⊕ (−Q a ) = 0 (2.32)
Im Fall aneinandergereihter Stäbe lässt sich das Anfügen eines additiv neutralen
Elements als die Anreihung in umgekehrte Richtung verstehen bzw. die Wegnah-
me eines entsprechenden Stabes. Auch für die Triangulation ist eine sinnvolle In-
terpretation möglich, indem ausgehend von einer gegebenen Grundseite Dreiecke
in beide Richtungen angetragen werden. Die Messung mit einem Lasersensor auf
der anderen Seite beruht auf einer Zeitmessung, womit eine entsprechende Aus-
legung im Rahmen eines Experiments nicht möglich ist. Über das bisher Gesagte
hinaus lässt sich für n ∈ N mit „“ über „⊕“ eine multiplikative Verknüpfung
definieren (vgl. Lesche, 2011, S. 3):
n Q a := Q a ⊕ · · · ⊕ Q a (2.33)
n-mal
∀Q a , Q b , Q c ∈ V Q : Q a (Q b Q c ) = (Q a Q b ) Q c (2.34)
* * *
∀ Q a ∈ V Q , ∃1 ∈ V q : Q a 1 = 1 Q a = Q a (2.35)
∀Q a ∈ V Q , ∃Q−1
a ∈ VQ : Qa Q−1
a = Q−1
a * Qa = 1 *
(2.36)
∀Q a , Q b ∈ V Q : Q a Q b = Q b Q a (2.37)
a (b ⊕ c) = a b ⊕ b c (2.38)
die Distributivität gefordert (vgl. Lesche, 2011, S. 3 f), ergibt sich insgesamt mit
(V Q , ⊕, )
(V Q ; ⊕; ) ∼
= (Q; +, ≤) (2.39)
Damit haben wir sowohl mehr als auch weniger erreicht als beabsichtigt. „Mehr“
deswegen, weil mit (2.24) lediglich ein Homomorphismus gefordert wird. Durch
die Isomorphie (2.39) folgt, dass neben zumindest theoretisch messbaren Werten
auch solche relevant werden, die sich jeder Messung entziehen, wie Temperatu-
ren unter 0K oder Werte unterhalb der Plancklänge. Dies ist unproblematisch: Der
Wertebereich selbst ist vor-theoretisch und auf ihn getroffene Einschränkungen
ergeben sich, wie zu erwarten, erst durch theoretische Überlegungen.
Weniger erreicht haben wir, da (2.24) auf eine Abbildung in die reellen Zahlen
abzielt, die Grundlage vieler physikalischer Berechnungen sind. Von (V Q ; ⊕; )
muss somit noch die Ordnungsvollständigkeit gefordert werden (vgl. Amann und
Escher, 2002, S. 98). Dazu muss die physikalische Größe um einen „irrationalen“
Teil ergänzt werden. Dieser hat keine Entsprechung in D Q , da hierfür eine faktisch
unendliche Messgenauigkeit notwendig wäre. Mehr noch als zuvor werden diese
Ergänzungen bei einer Vielzahl von Berechnungen, etwa bei der Bestimmung von
Integralen, vorausgesetzt. Insgesamt führt dies zur folgenden, ebenfalls als Pos-
tulat zu verstehenden, Voraussetzung:
(V Q ; ⊕; ) ∼
= (R; +, ≤)
Wo lässt sich im Vorangegangenem die Rolle von Modellen verorten und wie
kann der Ansatz von Erhard Scheibe adäquat auf die Kritik von CMMB eingehen?
In Unterabschnitt 2.3.3 habe ich zwischen drei Klassen von Modellen, nämlich
mathematischen-, theoretischen- und materiellen Modellen, unterschieden. Ich
konnte zeigen, dass die Identifikation von Theorien mit Klassen von Modellen
in modelltheoretischen Ansätzen mehr Fragen aufwarfen, als sie beantwortete.
Folgend weise ich nach, dass in einem strukturalistischen Rahmenkonzept be-
rechtigte Hoffnung besteht, eine Lösung des Problems zu finden. Dazu baue ich
auf dem Ansatz von Scheibe (vgl. Unterabschnitt 2.4.1) und dessen Erweiterung
(Unterabschnitt 2.4.2) auf.
Zur Verdeutlichung greife ich das Beispiel zur klassischen Beschreibung der
Bewegung eines Teilchens in einem allgemeinen Feld aus Unterabschnitt 2.4.1 auf.
Die Formalisierung baute dort auf den Hauptbasismengen S, T und K zur Darstel-
lung von Raum- und Zeitpunkten sowie möglicher Kräften, auf. Hinzu kamen op-
tional die Menge M zur Darstellung aller möglicher Massenwerte und die Menge
D aller möglicher Abstände.
Grundlage für den physikalischen Gehalt der Menge S sind i von einem
vorausgesetzten Fixpunkt ausgehende räumliche Abstandsmessungen. „i“ ent-
spricht der Dimension des sich ergebenden Raumes. S ist damit die abkürzende
Schreibweise eines Ausdrucks der Art:
S1 × · · · × S i
O := {s ∈ S | d(s, s1 ) = d1 } (2.40)
Diese Beschreibung der Menge O aller Punkte s, die von einem gegebenen Punkt
s1 bezüglich d denselben Abstand d1 haben, werden zusammengefasst auch als
„topologischer Ball“ bezeichnet (vgl. Amann und Escher, 2002, S. 160 ff) bzw. in
den Fällen i = 2, 3 auch als „Kreis“ oder „Kugel“. All diese Anschauung darf aber
nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich dennoch nur um eine rein abstrakte
Darstellung in einem formalen Kalkül handelt. Damit bleibt die Frage offen, wo
diese Begriffe herkommen und warum ihre Verwendung kaum überrascht.
Betrachten wir den zweidimensionalen Fall und setzen eine vormathemati-
sche Kenntnis eines Kreises voraus, liegt der erfragte Grund in der physikalischen
Interpretation der Mengen S und D. S lässt sich verstehen als eine zweidimensio-
nale Ebene, deren Punkte im Rahmen einer Fehlertoleranz durch Angabe zweier
Koordinaten beschrieben werden. Ein solcher Punkt s1 kann damit überall dort fix
gesetzt werden, wo eine solche Angabe auf Basis eines bestimmten Messverfah-
rens möglich ist – so auf einem DinA4-Blatt, auf dem mit einem Geodreieck von
einer Ecke jeweils entlang der Kanten gemessen wird, oder ein Pixel auf einem
Bildschirm. Definition (2.40) beschreibt dann ein Objekt in dieser Ebene, dessen
Bestandteile alle einen bestimmten Abstand von s1 haben, oder anders ausge-
drückt: Man erhält einen Repräsentanten von O, indem alle Punkte der gewählten
Ebene ausgezeichnet werden, die unter Voraussetzung ein- und desselben Mess-
verfahrens zur selben Werteklasse führen – durch das Zeichnen mit einem Zirkel
auf Basis eines hierauf beruhenden Verständnisses gleicher Länge. Und auch dies
geht nur soweit, wie es die Genauigkeit der Messung zulässt. So hat die gezeich-
nete Linie eine bestimmte Breite, als deren Folge am Ende kein mathematischer
Kreis steht. Dennoch liegt das Resultat im Rahmen dieses Messfehlers in der ent-
sprechenden Äquivalenzklasse, die dann durch reelle Zahlen repräsentiert wer-
den kann.
Der Gedanke, den es folgend auch für die Newtonsche Bewegungstheorie zu
verallgemeinern gilt, ist, dass Modelle durch Verbindung einzelner Repräsentan-
ten unterschiedlicher zusammengehöriger Äquivalenzklassen gebildet werden.
Es ist der Wahl der einzelnen Repräsentanten zunächst keine Grenze gesetzt, so-
lange nur die entsprechenden durch die Theorie vorgegebenen physikalischen
Größen herangezogen werden. Es müssen die gewählten Repräsentanten keine
Anwendungsfälle für die entsprechende Theorie sein; wird ein theoretisches Mo-
dell aus heuristischen Zwecken aufgestellt, kann es beliebig abstrakt sein: Billard-
bälle verhalten sich nicht wie Gase; dennoch erfüllen sie die grundlegende Eigen-
schaft, räumlich und zeitlich gegeben zu sein, so dass das Billardballmodell seine
Berechtigung hat.
Angewendet auf die obigen Ausführungen bedeutet dies, dass der konkrete
mit einem Zirkel gezeichnete Kreis ein materielles Modell für einen Kreis in der
Euklidischen Geometrie ist, das über ein Messverfahren und der dadurch entste-
henden abstrakten physikalischen Größe in Beziehung zum Kalkül steht. Da auf
der einen Seite Messfehler unumgänglich sind, genügt es, wenn die Bestimmung
der Werte im Rahmen einer vorausgesetzten Fehlertoleranz geschieht. Auf der an-
deren Seite gibt es aber auch Werte, die bei exakter Prüfung nie bestätigt werden
könnten. So ließe sich ein Kreis mit einem Radius von π als Modell angeben bzw.
auch zuvor in der Theorie berechnen. Ein solcher Kreis kann dann lediglich als
imaginärer Gegenstand, als ein theoretisches Modell, verstanden werden. Ein ent-
sprechendes materielles Modell lässt sich hier wiederum nur unter Verweis auf
eine bestimmte Fehlertoleranz finden.
Da theoretische Modelle durch die Theorie bestimmt sind, verlangen sie nach
einer exakten Erfüllung der Vorgaben einer Theorie. Für Kreise mit einem Radi-
us von π bedeutet dies eine beliebig dünne Kreislinie, die aber auch für die Vor-
zulässig sind. Darüber hinaus scheint es aber abgesehen von individuellen Vor-
lieben der Modellierenden und einer gewissen Pragmatik mit Blick auf die An-
wendung keine grundsätzlichen Regeln für die Wahl der Repräsentanten zu ge-
ben. Diese können beliebig abstrakt oder konkret sein. Der Vorstellung sind keine
Grenzen gesetzt – solange der repräsentierte Wert unangetastet bleibt.
Soll beispielsweise einem Schüler die zuvor dargestellte Theorie erklärt wer-
den, lässt sich dies mit Hilfe des durch die folgende Geschichte gegebenen Mo-
dells machen: „Stelle Dir einen gelben Tennisball in Raum und Zeit mit einer Mas-
se von 57g vor, den ich zu Boden fallen lasse. Nach einem Meter, seinem Abstand
vom Boden, bewegt er sich dann mit dieser und jener Beschleunigung. Er schlägt
dann mit einer bestimmten Kraft auf dem Boden auf, die diese und jene Auswir-
kung hat.“ Der Mittelpunkt des Tennisballs entspricht dem bewegten Masseteil-
chen; er ist also in einer bestimmten Äquivalenzklasse bezüglich der Masse eben-
so wie in einer bestimmten Äquivalenzklasse bezüglich seiner Bewegungsbahn.
Die Werteklasse hinsichtlich der Kraft wird dann von der Theorie vorgegeben – es
ist unvereinbar mit der Theorie, die Geschichte damit enden zu lassen, dass die
auf den Tennisball wirkende Kraft dazu ausreicht, um einen Krater zu schlagen.
Der wie oben beschriebene Tennisball liefert lediglich ein theoretisches Mo-
dell, das dann mit möglichen materiellen Modellen verglichen werden kann. Die
relevanten Eigenschaften des Modell-Tennisballs sind seine Bewegung und seine
Masse, die eine bestimmte wie-auch-immer manifestierte Kraft beim Aufschlag
ausüben; weitere Eigenschaften – wie Farbe oder Form – sind beliebig austausch-
bar und für die Modellbildung von untergeordnetem Interesse. Anstelle des Ten-
nisballs ließe sich die Theorie ebenso auf ein rotes Buch oder einen blauen Qua-
der anwenden, solange nur Gleichung (2.16) erfüllt ist. Wir können weitere Re-
präsentanten mit möglichst wenigen bzw. allgemeinen Eigenschaften wählen –
also farblose Billardbälle statt rote Bücher, um ausgehend von dem Modell über
weitere Berechnungen zusätzliche positive Analogien zu bestimmen. Je spezieller
der Repräsentant gewählt ist, desto eingeschränkter sind auch die mit ihm mögli-
chen Verallgemeinerungen. Modelle müssen nicht immer sinnvoll sein. Eine sich
im Gravitationsfeld der Sonne bewegende Zwiebel mit der Masse der Erde ist eben-
falls ein Modell der Gravitationstheorie - wenn auch ein nicht realisierbares.
Insgesamt konnten die zuvor genannten Modellklassen sinnvoll in Bezug
zur formalen Ebene einer Theorienrekonstruktion nach Scheibe gesetzt werden:
Theoretische Modelle sind danach aus Repräsentanten der Werteklassen zusam-
men gesetzte imaginäre oder realisierte Veranschaulichungen, die sprachlich
repräsentiert werden. Welche physikalischen Größen verwendet werden und
welche Werteklassen miteinander kombinierbar sind, wird von der Theorie vor-
gegeben. Abgesehen davon sind den Möglichkeiten bei der Modellierung aber
kaum Grenzen gesetzt. Mathematische Modelle ergeben sich aufgrund des Postu-
lats der Isomorphie von R zu einer gegebenen physikalischen Größe. Sie erlauben
die Anwendung formaler mathematischer Verfahren, wobei über die Hauptbasis-
mengen zumeist eine Rückführung auf eine physikalische Größe und damit eine
physikalische Interpretation möglich ist. Materielle Modelle lassen sich durch
Abgleich mit theoretischen Modellen bestimmen. Dieser Abgleich ist umso ein-
facher, je mehr Eigenschaften des materiellen Modells im theoretischen Modell
gedacht werden. Der folgende Abschnitt fasst die zentralen Ergebnisse dieses
Kapitels noch einmal zusammen.
Im vorliegenden Kapitel habe ich in Abschnitt 2.1 einen Einblick in die histori-
schen Ursprünge des Theorienbegriffs seit der griechischen Antike gegeben sowie
eine Antwort auf die Frage, was in empirischer Tradition seit der Neuzeit unter ei-
ner (physikalischen) Theorie verstanden wird. Auch wenn ich keinen Anspruch
auf Vollständigkeit erhoben habe, sind zentrale Positionen zu Wort gekommen,
die in den Ursprüngen des logischen Positivismus im 20ten Jahrhundert münde-
ten.
In der Auseinandersetzung mit dem received view of theories in Abschnitt 2.2
habe ich aufgezeigt, dass der logische Positivismus eine kaum zu unterschätzen-
de Rolle bei der Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie gespielt hatte. Den-
noch ist der received view kein tragfähiges Formalisierungskonzept. Der Grund
ist eine Vielzahl von Kritikpunkten, von denen ich mit dem Problem der theoreti-
schen Terme, dem Mangel an tatsächlich durchgeführten Rekonstruktionen zen-
traler wissenschaftlicher Theorien sowie der unklaren Rolle von Modellen nur die
zentralen Problemfelder angesprochen habe.
Als historische Konsequenz habe ich in Abschnitt 2.3 den semantic approach
of theories als alternative Rekonstruktionsmöglichkeit dargestellt. Dabei habe ich
mich auf die Arbeiten von Patrick Suppes und die Darstellung nach Wolfgang Bal-
zer, Joseph D. Sneed und Ulisses C. Moulines (BMS) beschränkt. Ausschlaggebend
für diese Wahl war die detaillierte formale Ausarbeitung, an die ich später an-
knüpfen konnte. Ich habe aufgezeigt, wie der semantic approach einen Großteil
der Kritik am received view vermeiden konnte: Neben einer Vielzahl von durch-
führbaren Formalisierungen konnte auch das Problem der theoretischen Terme
von Sneed ausgehebelt werden. Lediglich die zentrale Rolle von Modellen stell-
te sich weiterhin als ein Problem heraus: Aufbauend auf einer mengentheoreti-
schen Axiomatik im Sinne Bourbakis identifizieren BMS Theorien mit Klassen von
Abb. 2.2. Links entspricht der Rolle von Modellen im received view: Zwar konnte hier eine Ebe-
ne der (logischen) Modelle ausgezeichnet werden; diese wurde aber als irrelevant angesehen.
Die Darstellung in der Mitte entspricht dem semantic approach, nach dem der Unterschied
zwischen Theorien- und Modellebene verwischt wird. Die rechte Darstellung spiegelt die Posi-
tion von Morgan und Morrison wider, wonach Modelle eine eigene Ebene einnehmen, die nach
Bailer-Jones als zwischen Theorien und Phänomenen verstanden werden muss.
Aber auch an den Kritikern zog die eigene Kritik nicht spurlos vorüber. Schon an
den soeben aufgezeigten Schlagworten wird deutlich, dass sie die Rolle von Mo-
dellen lediglich in Abhängigkeit eines vorausgesetzten Theorienverständnisses
bestimmten. Was aber ist eine Theorie, wenn sowohl received view als auch se-
mantic approach inadäquat sind? Ohne eine Antwort muss auch die Rede von Mo-
dellen als mediators oder autonomous agents leer bleiben. Positionen, die Theori-
en wie Cartwright als „morals of fables“ oder wie Bailer-Jones als „abstrakt“ ver-
stehen, sind ebenfalls zu allgemein und greifen nicht weit genug.
In Abschnitt 2.4 habe ich auf der Suche nach einer Lösung des Problems den
Rekonstruktionsansatz nach Erhard Scheibe herangezogen. Dieser kann in gewis-
ser Weise als dem semantic approach nahe verstanden werden: Den Blick einzig
auf physikalische Theorien gerichtet, verwendet auch Scheibe einen mengentheo-
retischen Ausgangspunkt im Sinne Bourbakis und übernimmt so die damit zu-
sammenhängenden Vorteile gegenüber dem received view. Andererseits grenzt er
sich durch das Verständnis seiner Rekonstruktionen als sprachabhängig explizit
von einer Vielzahl von Ausprägungen des semantic approach ab. Theorien werden
hier nicht mehr als Klassen von Modellen verstanden, sondern als durch men-
gentheoretische Strukturen gekennzeichnete Formeln. Einen Bezug zur Welt stellt
Scheibe durch die „physikalische Natur“ der Hauptbasismengen her. Die Ausfüh-
rungen gaben Anlass zur begrifflichen Differenzierung von strukturalistischen Po-
sitionen im Sinne Scheibes und modelltheoretischen Ansätzen nach BMS et al.
Allein aus Scheibes Arbeit wurde jedoch nicht klar, was wir unter der „phy-
sikalische Natur“ verstehen sollen. Zur Klärung des Begriffs habe ich die Haupt-
basismengen über einen an Brigitte Falkenburg angelehnten Ansatz in Verbin-
dung mit der Messung physikalischer Größen gebracht. Ich habe herausgestellt,
dass Messungen Anlass zur Etablierung von durch operationale Äquivalenzrela-
tionen induzierte Klassen von Phänomenen geben, die jeweils als ein physika-
lischer Wert verstanden werden können. An diese abstrakten Wertklassen habe
ich dann Forderungen in Form von für eine Mathematisierung notwendige Pos-
tulate herangetragen. Durch diese Forderungen erfährt die Menge der auf Mes-
sungen beruhenden Werte eine Erweiterung um „irrationale Werte“, denen keine
Messung zugrunde liegen kann bzw. muß. Die so erhaltene Klasse (V Q ; ⊕; ) ist
damit isomorph zu (R; +; ≤). Der Wertebereich kann durch eine Theorie Σ(X; A; S)
eingeschränkt werden, wobei V Q die Rolle von X übernimmt. Jede der resultieren-
den Klassen aus Werteklassen ließ sich als eine physikalische Größe verstehen.
Die Phänomenebene blieb damit unabhängig von der Axiomatisierung, womit sie
nicht als aus Modellen bestehend verstanden werden musste.
Verfahren, die so zur Etablierung teils gleicher Werteklassen führten, habe ich
als „äquivalente Messverfahren“ bezeichnet. Sie lieferten eine Erklärung für die
Verwendung der gleichen Skala sowohl im Mikro- als auch im Makroskopischen:
Von einem zur Etablierung der Äquivalenz grundlegenden Phänomenbereich, auf
den mehrere Verfahren angewendet werden können, lässt sich auf einen Bereich
extrapolieren, in dem nur noch eines oder wenige der Verfahren anwendbar sind.
Im konkreten Fall habe ich für Längenmessungen Verbindungen vom Atto- bis
zum Yotta-Meter-Bereich aufgezeigt (vgl. Abbildung 2.1).
Theoretische Modelle waren in diesem Bild zusammengesetzt aus Repräsen-
tanten der Elemente von V Q . Die Theorie gab die zu verwendenden physikalischen
Größen sowie die erlaubten Kombinationen von Werten vor – die Wahl des einzel-
nen Repräsentanten lag beim Modellierenden. Mathematische Modelle konnten
dann aufgrund der für die Mathematisierung postulierten Äquivalenz der Werte-
menge zu den reellen Zahlen als eine Verdopplung der theoretischen Modelle an-
genommen werden. Materielle Modelle waren darüber hinaus als unter Vorbehalt
von Messfehlern bestimmte Wertklassen repräsentierende physikalische Objekte.
Ich konnte zeigen, dass es bei der Modellierung möglich war, zwischen ver-
schiedenen Skalenbereichen zu wechseln, indem durch die vorausgesetzte Äqui-
valenz von Messverfahren Messungen aus einem Bereich für andere Bereiche
als „theoretisch möglich“angenommen wurden. Ein Beispiel war die Darstellung
eines 10−15 m großen Protons durch einen wie im mesoskopischen vorstellbaren
Billardball. So aufgefasst nehmen theoretische Modelle in der Tat die von CMMB
geforderte vermittelnde Rolle ein: Während sich Theorien auf der einen Seite
ausschließlich auf abstrakte Wertklassen beziehen, sind die Phänomene eine un-
strukturierte Gesamtheit. Beides kann erst vermittelt durch Modelle aufeinander
bezogen werden.
Die bisherigen Ausführungen gelten lediglich für Modelle, die auch eine ein-
heitliche theoretische Grundlage besitzen. In Unterabschnitt 2.3.3 habe ich bereits
auf Patchwork-Modelle, wie das Bohrsche Atommodell oder die Modelle der Astro-
teilchenphysik, hingewiesen. Diese lassen sich in einer wie oben dargestellten
Modellierung nicht rekonstruieren. Ich werde in Kapitel 4 zeigen, dass für die Be-
schreibung des Zusammenhangs solcher Modelle teils die von Erhard Scheibe als
„Reduktionen“ bezeichneten Theorienbeziehungen notwendig sind. Zuvor wer-
de ich aber im folgenden Kapitel Scheibes Ansatz zur Reduktion physikalischer
Theorien darstellen.